ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 458

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

57. Jahrgang
19. Dezember 2014


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Inhalt

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I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

501. Plenartagung des EWSA vom 10./11. September 2014

2014/C 458/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Struktur und Organisation des sozialen Dialogs im Rahmen einer echten Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) (Sondierungsstellungnahme)

1

2014/C 458/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses Die europäische Einwanderungspolitik (Sondierungsstellungnahme)

7

2014/C 458/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Investitionen mit sozialen Auswirkungen (Initiativstellungnahme)

14

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

501. Plenartagung des EWSA vom 10./11. September 2014

2014/C 458/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter COM(2014) 212 final — 2014/0120 (COD)

19

2014/C 458/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Gasverbrauchseinrichtungen COM(2014) 258 final — 2014/0136 (COD)

25

2014/C 458/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zur Strategie der Europäischen Union für die Region Adria-Ionisches Meer COM(2014) 357 final und zum Thema EU-Strategie für die Region Adria-Ionisches Meer: Forschung, Entwicklung und Innovation in den KMU (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des italienischen Ratsvorsitzes)

27

2014/C 458/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einführung eines Rundreise-Visums und zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen sowie der Verordnungen (EG) Nr. 562/2006 und (EG) Nr. 767/2008 COM(2014) 163 final — 2014/0095 (COD) und dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Visakodex der Union (Visakodex) COM(2014) 164 final — 2014/0094 (COD)

36

2014/C 458/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung einer Europäischen Plattform zur Stärkung der Zusammenarbeit bei der Prävention und Abschreckung von nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit COM(2014) 221 final — 2014/0124 (COD)

43

2014/C 458/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Verbot der Treibnetzfischerei und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 850/98, (EG) Nr. 812/2004, (EG) Nr. 2187/2005 und (EG) Nr. 1967/2006 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 894/97 des Rates COM(2014) 265 final — 2014/0138 (COD)

52

2014/C 458/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch über Mobile-Health-Dienste (mHealth) COM(2014) 219 final

54

2014/C 458/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der EU-Strategie für maritime Sicherheit

61

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

501. Plenartagung des EWSA vom 10./11. September 2014

19.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 458/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Struktur und Organisation des sozialen Dialogs im Rahmen einer echten Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)

(Sondierungsstellungnahme)

(2014/C 458/01)

Berichterstatter:

Georgios DASSIS

Das Europäische Parlament beschloss am 5. Februar 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Struktur und Organisation des sozialen Dialogs im Rahmen einer echten Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)

Sondierungsstellungnahme.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 27. August 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 501. Plenartagung am 10./11. September 2014 (Sitzung vom 10. September) mit 169 gegen 1 Stimme bei 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen und Schlussfolgerungen

1.1

Der soziale Dialog der Gemeinschaft ist ein inhärenter Bestandteil des europäischen Aufbauwerks sowie der politischen Strategien und Maßnahmen zur Überwindung der Krise und zur Wiederankurbelung von Wachstum und Beschäftigung, die notwendigerweise auf den vielfältigen Ergebnissen des sozialen Dialogs auf allen Ebenen beruhen müssen: auf nationaler, branchenspezifischer, territorialer und betrieblicher Ebene.

1.2

Der soziale Dialog — zwischen den Sozialpartnern — ist bilateral und wird durch die dreiseitige Konzertierung mit den europäischen politischen Institutionen und Einrichtungen sowie durch die verschiedenen Konsultationsformen auf europäischer und nationaler Ebene ergänzt.

1.3

Es ist klar zwischen dem sozialen Dialog, um den es in dieser Stellungnahme geht, und dem zivilen Dialog zu unterscheiden: Beide existieren. Sie können nicht miteinander verschmolzen werden, da auf europäischer Ebene im Vertrag Teilnehmer, Befugnisse und Verfahren für den sozialen Dialog festgelegt sind, wobei die Sozialpartner die Rolle von Quasi-Gesetzgebern für die Arbeitsbedingungen im weitesten Sinne des Wortes erhalten. Die beiden Formen des Dialogs dürfen jedoch auch nicht vollkommen voneinander abgeschottet werden. Die europäischen Sozialpartner selbst haben ihren Aktionsbereich durch einen offenen Ansatz bereits erweitert und führen auf ihre Weise Maßnahmen mit bestimmten europäischen Verbänden und NRO durch.

1.4

Die Sozialpartner müssen sich auch weiterhin um eine Stärkung ihrer Autonomie und den Ausbau ihrer Kapazitäten für die Tarifverhandlungen bemühen. Ihre gemeinsame Erklärung über die wirtschaftspolitische Steuerung vom Oktober 2013 (1) muss von den europäischen Institutionen berücksichtigt werden. Diesen Institutionen und insbesondere der Kommission obliegt es, den europäischen sozialen Dialog zu erleichtern und die konkrete Umsetzung seiner Errungenschaften sowohl branchenübergreifend als auch in einzelnen Branchen zu unterstützen.

1.5

Darüber hinaus müssen die Sozialpartner die Wirksamkeit der Anwendung ihrer autonomen Vereinbarungen erhöhen, damit diese in allen Mitgliedstaaten greifen und allen Arbeitnehmern und Unternehmen auf dem Gebiet der Europäischen Union eine gemäß den nationalen Rechtsvorschriften und Praktiken korrekte Anwendung der in diesen Vereinbarungen festgeschriebenen Rechte garantiert wird.

1.6

Die Komplexität und das Ausmaß der durch die Krise sowie die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen entstandenen Herausforderungen machen stellenweise eine Zusammenarbeit mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren im Rahmen ihres jeweiligen Verantwortungs- und Zuständigkeitsbereichs erforderlich.

2.   Von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zur WWU: Die Bedeutung der Sozialpartner und des sozialen Dialogs für das europäische Einigungswerk

2.1

Das Engagement der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände für das europäische Aufbauwerk hat sich nicht aus einer Notwendigkeit, sondern über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg aus der Überzeugung heraus entwickelt, dass die Europäische Gemeinschaft der einzige Weg ist, die Völker in Europa durch Frieden, Demokratie, Wirtschaftswachstum und sozialen Fortschritt zu einen. Die bisherige Beteiligung der Sozialpartner am europäischen Aufbauwerk — von der EGKS zur WWU — ist durch dieses grundlegende Engagement gekennzeichnet, und die Geschichte macht deutlich, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände bislang einen entscheidenden Beitrag geleistet haben und auch in der jetzigen Lage der WWU wichtige Funktionen erfüllen müssen, um den konjunkturellen Herausforderungen der Krise und den strukturellen Veränderungen in den Mitgliedstaaten gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund muss die WWU eine nachhaltige, auf die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze ausgerichtete wirtschaftliche und soziale Erholung in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gewährleisten. Sie muss alle Akteure in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich einbeziehen. Die europäische Dimension des sozialen Dialogs muss auch die Globalisierung berücksichtigen und die EU in die Lage versetzen, an der weltweit notwendigen Regulierung mitzuwirken, um — wie es der EWSA in seiner Stellungnahme vom Mai 2007 (2) formuliert hat — die „menschliche Dimension der Globalisierung wie auch der europäischen Integration“ zu gewährleisten, damit sie eine „Sache der Bürger und der organisierten Zivilgesellschaft“ werden.

2.2

Der Beratende Ausschuss der EGKS hat mit seiner einschlägigen Erfahrung seine Effizienz für jeden der Teilbereiche, die für Industrielle und Arbeitnehmer gleichermaßen von Interesse sind, unter Beweis gestellt: Industriepolitik, Marktentwicklung, Instrumente für die soziale Intervention sowie Technologie- und Sozialforschung. Deshalb war es angemessen, in den Verträgen einerseits Bestimmungen zur Industriepolitik und andererseits Instrumente zur sozialen Konzertierung beizubehalten — und es sollten noch weitere entwickelt werden. So kann ein Instrument wie der EWSA im Rahmen seiner Zuständigkeiten eine wichtige begleitende und antizipierende Rolle spielen, wie das mit seiner Stellungnahme zur „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“ (1989) (3) der Fall war.

2.3

1985 entwickelte sich der soziale Dialog mit der Einführung eines zweiseitigen sozialen Dialogs, der von Kommissionspräsident Jacques Delors gefördert wurde, auf Gemeinschaftsebene zu einem echten europäischen Verhandlungsraum.

2.4

Einen entscheidenden Schritt nach vorn machten die Sozialpartner mit ihrer am 31. Oktober 1991 geschlossenen Vereinbarung, die in das Sozialprotokoll des Vertrags von Maastricht (4) aufgenommen wurde. Damals bekräftigten sie ihre Bereitschaft, an der sozialpolitischen Steuerung der EU mitzuwirken und sich durch Verhandlungen an der Regulierungsarbeit im Zuge des Rechtsetzungsprozesses zu beteiligen.

2.5

Subsidiarität: Der Grundsatz der Subsidiarität im üblichen Sinn besagt, dass die höhere Ebene — die Europäische Union — dann tätig wird, wenn ein Ziel auf niedrigerer Ebene — also auf Ebene der Mitgliedstaaten — nicht so effizient verwirklicht werden kann (Art. 5 EU-Vertrag). Die Praxis, den Sozialpartnern die Befugnis zuzugestehen, im Rahmen des sozialen Dialogs die Probleme, für die sie die Kompetenz haben, selbst zu lösen, kann als eine weitere Anwendung eben dieses Grundsatzes der Subsidiarität (5) angesehen werden. Diese Befugnis wird den Sozialpartnern ausdrücklich über die Artikel 154 und 155 AEUV erteilt. Solche Bestimmungen, die das Entscheidungszentrum bürgernäher machen, sofern sie tatsächlich und regelmäßig zur Anwendung kommen und sofern sie angemessen propagiert werden, können die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft ganz allgemein fördern und dem schlechten Bild der „fernen Macht“, das die Bürgerinnen und Bürgern von der Union und ihren Institutionen haben, entgegenwirken.

3.   Eine immer stärkere währungspolitische Verflechtung, aber immer noch Schwächen bei der wirtschaftspolitischen Steuerung und der sozialen Integration

3.1

Aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise, von der die meisten Länder der Union betroffen sind, besteht die Tendenz, die Wettbewerbsfähigkeit vor allem über die unmittelbaren Produktionskosten (Kosten für Löhne, Rohstoffe usw.) zu sichern, obwohl Europa große Anstrengungen unternehmen sollte, über die von den unmittelbaren Kosten unabhängige Wettbewerbsfähigkeit zu brillieren: Qualität der Produkte und Dienstleistungen, Forschung und Innovation, Qualität der Arbeit und der sozialen Beziehungen, Arbeitsorganisation und soziale Verantwortung, Bildung und Ausbildung usw.

3.2

Um die Krise zu überwinden und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen, muss die Wirtschaft jetzt sowohl auf europäischer als auch auf einzelstaatlicher Ebene durch öffentliche, private und soziale Investitionen (siehe Stellungnahme des EWSA (6) wirklich angekurbelt werden mit dem Ziel, auf diese Weise eine nachhaltige und innovative, auf die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze und sozialen Fortschritt ausgerichtete Entwicklung zu fördern sowie gesunde und nachhaltige gesamtwirtschaftliche Bedingungen zu gewährleisten.

3.3

Im Oktober 2013 verabschiedeten die Sozialpartner zehn allgemeine Grundsätze ihrer Einbeziehung in die wirtschaftspolitische Steuerung der EU (7). Der zweite Grundsatz lautet wie folgt: „Der soziale Dialog und gut entwickelte Arbeitsbeziehungen auf allen Ebenen sind zentraler Bestandteil des Europäischen Sozialmodells und der demokratischen Regierungsführung. Eine angemessene Beteiligung der Sozialpartner an der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik ist daher von ausschlaggebender Bedeutung.“

3.4

Im fünften Grundsatz heißt es: „Der soziale Dialog kann die treibende Kraft hinter erfolgreichen Wirtschafts- und Sozialreformen sein. Die Sozialpartner können dazu beitragen, das Bewusstsein für die Auswirkungen wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen auf die Systeme der sozialen Sicherung und die Arbeitsmärkte zu schärfen. Darüber hinaus können sie eine tragende Rolle bei der Schaffung beschäftigungsfördernder Voraussetzungen übernehmen, insbesondere durch die Belebung der Konjunktur sowie die berufliche und soziale Eingliederung.“

3.5

Der soziale Dialog muss demnach mit Blick auf seine Unabhängigkeit und die Bedeutung seiner Beiträge gestärkt werden, um so den derzeitigen Herausforderungen Rechnung tragen zu können.

3.6

Der europäische soziale Dialog muss auf den vielfältigen Ergebnissen des nationalen sozialen Dialogs auf den verschiedenen Ebenen beruhen — auf branchenübergreifender, branchenspezifischer, territorialer und betrieblicher Ebene. Allerdings wird der Geltungsbereich der Tarifvereinbarungen auf diesen Ebenen in einem erheblichen Teil der Länder zurzeit kleiner — insbesondere aufgrund europäischer Eingriffe im Rahmen der wirtschaftspolitischen Steuerung, was die Situation der Arbeitnehmer schwächt und Ungleichheiten Vorschub leistet.

3.7

Es sollte ein neues Konzept eingeführt werden, das der territorialen Dimension besser Rechnung trägt, um insbesondere sinnvoll auf die Folgen der Umstrukturierungen zu reagieren, die zu Entlassungen und Standortschließungen führen. Diese Situationen haben oft dramatische lokale und regionale Auswirkungen, nicht nur auf Arbeitnehmer und ihre Familien, sondern auch auf die lokalen Gebietskörperschaften und die Unternehmen, die selbst direkt oder indirekt von dem betroffenen Standort abhängen.

3.8

In dieser schwierigen Zeit des Wandels und der Anpassungen könnten von der Eurozone zukunftsweisende Impulse ausgehen, da hier die wirtschaftspolitische Steuerung weiter fortgeschritten ist und die Kohärenz der Maßnahmen stärker sein könnte. Diese Dynamik muss der Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in der gesamten Europäischen Union Rechnung tragen. Angesichts der Risiken aufgrund der bereits vorhandenen sozialen Ungleichheiten sollte ein Mechanismus eingeführt werden, um die Auswirkungen dieser Divergenzen zu beobachten und gegebenenfalls zu korrigieren. Diese Beobachtung müsste auf einer verstärkten Überwachung fußen und die Abhängigkeit der Beschäftigungssysteme untereinander berücksichtigen. Sie könnte der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen übertragen werden oder sich auf die Arbeiten des Beschäftigungsausschusses stützen, der den „Anzeiger für die Leistungen im Beschäftigungsbereich“ entwickelt hat.

4.   Die verschiedenen Arten der Konzertierung, der Anhörung und des sozialen Dialogs: Die Herausforderung für eine neue wirtschaftspolitische Steuerung

4.1

Von der Erklärung von Laeken über den sozialen Dialog (2001) bis zur gemeinsamen Erklärung der Sozialpartner zur wirtschaftspolitischen Steuerung (2013) folgt die Entwicklung einer durchgängigen Logik:

4.1.1

Festlegung genauer Definitionen: Hier ist auf den Beitrag der Sozialpartner zum Gipfel von Laeken (Dezember 2001) (8) zu verweisen:

UNICE/UEAPME, CEEP und EGB betonen nachdrücklich, dass bei den Tätigkeiten der Sozialpartner drei Arten klar unterschieden werden müssen:

1.

die dreiseitige Konzertierung bezeichnet den Austausch zwischen den Sozialpartnern und den europäischen Behörden;

2.

unter Anhörung der Sozialpartner sind die Tätigkeit der Beratenden Ausschüsse und die offiziellen Konsultationen gemäß Artikel 153 AEUV zu verstehen;

3.

der soziale Dialog ist die zweiseitig geführte Arbeit der Sozialpartner, die sich aus den offiziellen Anhörungen seitens der Kommission auf der Grundlage der Artikel 153 und 154 AEUV ergeben kann, aber nicht muss.

4.1.2

Stärkung der Stellung der Sozialpartner in der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU: In der wichtigen, für den Dreigliedrigen Sozialgipfel verfassten gemeinsamen Erklärung der Sozialpartner vom 24. Oktober 2013 (9) zur „Einbindung der Sozialpartner in die wirtschaftspolitischen Steuerung“ wird hervorgehoben, dass der soziale Dialog auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene von entscheidender Bedeutung sei und der erweiterte Bereich, in dem die Sozialpartner zu konsultieren sind, konsolidiert werden müsse (Jahreswachstumsbericht, nationale Reformprogramme, länderspezifische Empfehlungen, Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten, Arbeitsmarktindikatoren).

4.1.3

Vertiefung des sozialen Dialogs insbesondere im Hinblick auf eine vertragliche Festschreibung: In einer schwierigen Zeit sollten alle Instrumente (in Richtlinien umgesetzte oder eigenständig durchgeführte Vereinbarungen, Aktionsrahmen, gemeinsame Erklärungen usw.) genutzt werden, um Vorschläge zur Standardisierung sowie für Maßnahmen zu unterbreiten, die vor allem auf die Beschäftigungsförderung und die Qualität der Arbeit ausgerichtet sind.

4.1.4

Konsolidierung der Ergebnisse des sozialen Dialogs: Verschiedene Evaluierungen sowohl seitens der Sozialpartner selbst (siehe die gemeinsamen Schlussberichte zu den Themen Telearbeit vom Juni 2006 (10), Stress vom Juni 2008 (11), Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz vom Oktober 2011 (12) und inklusive Arbeitsmärkte vom Juni 2014) als auch seitens der Kommission (siehe Bericht (13)) haben deutlich gemacht, dass es bei der Umsetzung autonomer Vereinbarungen große Unterschiede gibt, was die Wirksamkeit dieser Vereinbarungen beeinträchtigt und ihre Tragweite im Vergleich zu den Rechtsakten verringert sowie zu rechtlichen Ungleichheiten zwischen den Arbeitnehmern und Unternehmen in Europa führt. Es liegt auf der Hand, dass die autonomen Vereinbarungen die Verpflichtung zu ihrer Umsetzung — in welcher rechtlichen oder vertraglichen Form auch immer — nach sich ziehen müssen. Es ist Aufgabe der Sozialpartner, die geltenden Bestimmungen zu vertiefen und neue Regelungen zu erarbeiten, um innerhalb der von ihnen festgelegten Frist eine wirksame Umsetzung ihrer europaweiten Vereinbarungen zu gewährleisten, an die nicht nur die unterzeichneten europäischen Organisationen, sondern auch deren satzungsgemäße Mitglieder auf nationaler Ebene gebunden sind. Diese nach Artikel 155 AEUV geschlossenen Vereinbarungen müssen selbstverständlich alle Teil des gemeinschaftlichen Besitzstands sein.

4.1.5

Stärkung der Autonomie und Synergie mit der EU-Politik: Die Autonomie der Sozialpartner muss gestärkt und weiterentwickelt werden (siehe nachstehend den Hinweis auf die gemeinsame Erklärung der Sozialpartner über die wirtschaftspolitische Steuerung vom Oktober 2013), doch entbindet dies die Europäische Kommission nicht davon, notwendige und dringend erforderliche soziale Initiativen zu ergreifen. Das gilt für die Bereiche Umstrukturierungen, Gesundheit und Sicherheit, Mobilität sowie Strukturreformen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, um die Schaffung von Arbeitsplätzen zu fördern. Der Ausbau der Autonomie der Sozialpartner darf nicht zu Lasten des Initiativ- und Vorschlagsrechts der Kommission gehen, ganz im Gegenteil — sie sollten Synergien schaffen und einander ergänzen. Die Sozialpartner haben bereits Fortschritte bei der Durchführung des sozialen Dialogs sowohl auf branchenübergreifender Ebene als auch in einzelnen Branchen erzielt, insbesondere durch die Aushandlung von Zweijahresprogrammen. In ihrer Erklärung vom Oktober 2013 über die wirtschaftspolitische Steuerung (14) haben sie einen weiteren wichtigen Schritt unternommen. Im Zuge der Vertiefung dieser Autonomie könnten die Sozialpartner, wenn sie das möchten, versuchsweise ein bilateral zusammengesetztes ständiges Sekretariat für den sozialen Dialog einrichten. Der EWSA hatte diesen Gedanken bereits in seinen Stellungnahmen vom 24. November 1994 und 29. Januar 1997 (15) geäußert.

4.1.6

Ausweitung der Anhörung: Aufgrund der zunehmenden Komplexität unserer Gesellschaften sollten — in ihrem jeweiligen Verantwortungs- und Zuständigkeitsbereich — Vertreter der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände, gemeinnütziger Vereine und der Sozialwirtschaft sowie Vertreter des öffentlichen Interesses an den Anhörungen über die politischen Strategien und Projekte der EU beteiligt werden. Die Sozialpartner nehmen bereits häufig an europäischen öffentlichen Anhörungen teil, wodurch der Austausch mit den übrigen Teilen der Zivilgesellschaft verbessert wird. Dieser Austausch findet auch im Rahmen des Vierer-Forums zur sozialen Verantwortung von Unternehmen (Corporate Social Responsibility — CSR) statt. Allerdings sollten die praktischen Modalitäten der Anhörungen, vor allem bei einer elektronischen Anhörung, mit Vorsicht gehandhabt sowie den Kompetenzen und der Repräsentativität der verschiedenen Redner je nach Thematik Rechnung getragen werden: Bei den Sozialpartnern werden bereits regelmäßig Untersuchungen zur Repräsentativität durchgeführt.

5.   Die verschiedenen Dimensionen des sozialen Dialogs

5.1

Branchenübergreifend: Das Arbeitsprogramm 2012-2014 ermöglichte es insbesondere, den Aktionsrahmen für Jugendbeschäftigung festzulegen. Die Sozialpartner haben sich verpflichtet, Verhandlungen über ein neues gemeinsames Arbeitsprogramm 2015-2017 aufzunehmen, das für die kommenden drei Jahre von großer Bedeutung sein wird. Sie werden alle ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen müssen, um Rechte festzulegen und konkrete politische Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die den aktuellen Herausforderungen Rechnung tragen.

5.2

Branchenspezifisch: Es gibt insbesondere dank der branchenspezifischen Ausschüsse für den sozialen Dialog ein beträchtliches Potenzial, um die fortlaufenden Veränderungen zu antizipieren und besser zu bewältigen. Im Rahmen der Industriepolitik und namentlich der branchenspezifischen Politik können vor allem die Europäischen Betriebsräte in Zusammenarbeit mit ihren Berufsverbänden einen wertvollen Beitrag leisten und ihre Fachkenntnisse und Erfahrungen einbringen, um Vorschläge und Alternativen auf dem Gebiet der Industriepolitik zu erarbeiten.

5.3

Europäische Betriebsräte: Vor dem Hintergrund der Globalisierung und ständig voranschreitender technologischer Innovationen sehen sich die Unternehmen und Arbeitnehmer in allen EU-Mitgliedstaaten mit raschen und fortwährenden Veränderungen der Arbeitsorganisation und der Produktion konfrontiert. In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Europäischen Betriebsräte der Unternehmensführung und den Arbeitnehmern dabei behilflich sein können, eine Unternehmenskultur aufzubauen und sich an Veränderungen in sich rasch entwickelnden Unternehmen und grenzübergreifend tätigen Konzernen anzupassen, wenn diese Änderungen die Strategie des Unternehmens betreffen und sich auf mehrere Niederlassungen eines Konzerns in verschiedenen Ländern auswirken. Zudem tragen die Europäischen Betriebsräte im Fall weltweit tätiger Unternehmen maßgeblich dazu bei, der Globalisierung auf Grundlage der demokratischen und sozialen Werte der Europäischen Union eine menschliche Dimension zu verleihen und die Normen der ILO zu fördern. Sie können in die Umsetzung europäischer oder internationaler Rahmenabkommen oder auch von Vereinbarungen über die soziale Verantwortung der Unternehmen einbezogen werden (16).

5.4

KMU: Die Struktur der europäischen Industrie muss so wiederhergestellt werden, dass die KMU mehr Raum zur Entfaltung erhalten sowie ihr Wohlstand und ihre Stabilität gesichert werden. Dazu müsste sich der soziale Dialog auf eine Politik der Ressourcenbündelung stützen können, vor allem bei der Ausbildung sowie der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz.

5.5

Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften und soziale Unternehmen: Ihre Besonderheiten und ihre Entwicklung, die sich auf Solidarität, Zusammenarbeit und die Verteilung des durch das Unternehmen erwirtschafteten Wohlstands gründet, machen sie zu wichtigen Akteuren für Wachstum und Beschäftigung. Deshalb ist es selbstverständlich, dass ihren Besonderheiten im Rahmen des sozialen Dialogs Rechnung getragen und auf das geachtet wird, was ihre Entwicklung fördern kann.

5.6

Grenzüberschreitend: Die Grenzregionen der EU sind neue Regionen für Mobilität und wirtschaftliche Entwicklung. Für diese grenzüberschreitenden regionalen Räume sollten an die regionale Situation angepasste Modalitäten für den sozialen Dialog eingeführt werden, die Beschäftigung, Gleichbehandlung und die Gewährleistung der Voraussetzungen für die grenzüberschreitende Mobilität fördern.

6.   Gesellschaftliche Herausforderungen: Entwicklung von Synergien und Komplementarität zwischen sozialem und zivilem Dialog  (17)

6.1

Unsere Gesellschaft ist komplexer geworden, und die sozialen und ökologischen Probleme sind heute stärker miteinander verwoben. Für die Unternehmen besteht eine Verbindung zwischen dem, was „intern“ und dem, was „extern“ ist: Einbeziehung der territorialen Dimension in ihre Entwicklung; Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft; eine Politik der nachhaltigen Entwicklung, die Akteure des öffentlichen und des genossenschaftlichen Sektors zusammenbringt; Eingliederung der Arbeitslosen insbesondere durch Mentoring-Programme, in denen sich Angehörige von Unternehmen gemeinsam mit den Verbänden um eine wirtschaftliche Eingliederung der Arbeitslosen bemühen; soziale Verantwortung der Unternehmen insbesondere mit Blick auf Unterauftragnehmer in Entwicklungsländern usw.

6.2

Sozialer Dialog und ziviler Dialog — beide existieren nebeneinander. Sie können nicht miteinander verschmolzen werden, sie können aber auch nicht vollkommen voneinander abgeschottet werden. Der zweiseitige soziale Dialog ist auf Löhne, Beschäftigung, Arbeitsorganisation, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz usw. ausgerichtet und findet in Form von Kollektivverhandlungen auf allen Ebenen statt. Der zivile Dialog umfasst eine Vielfalt von Themen in den Bereichen Umwelt, Verbrauch, Familienpolitik, Diskriminierung, Bekämpfung der Armut und Menschenrechte und ist darauf ausgerichtet, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Die Sozialpartner haben ihren Aktionsbereich durch einen offeneren und bürgerfreundlicheren Ansatz bereits erweitert. Deutlich machen dies ihre Rahmenvereinbarung über integrative Arbeitsmärkte vom März 2010 (18) sowie die Maßnahmen, die sie mit europäischen Verbänden und NRO in den Bereichen Umweltschutz, Verbraucherschutz, Schutz von Menschen mit Behinderungen, Verteidigung der Frauenrechte, Geschlechtergleichstellung, Bekämpfung der Armut, soziale Inklusion usw. durchführen.

Angesichts dieser Komplexität und der Vielfalt der Akteure sollten die zwischen dem sozialen und dem zivilen Dialog bestehenden Verbindungen gestärkt werden, um zu gewährleisten, dass unter Wahrung der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der einzelnen Akteure Synergien freigesetzt werden und sich die Maßnahmen gegenseitig ergänzen.

Brüssel, den 10. September 2014.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  http://ec.europa.eu/europe2020/pdf/2014/socjointcontrib_ags2014.pdf

(2)  ABl. C 175 vom 27.7.2007, S. 57.

(3)  http://europa.eu/legislation_summaries/human_rights/fundamental_rights_within_european_union/c10107_de.htm

(4)  ABl. C 191 vom 29.07.1992, S. 90.

(5)  Manchmal als „horizontale“ Subsidiarität bezeichnet.

(6)  Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Auswirkungen von Sozialinvestitionen auf die Beschäftigung und die öffentlichen Haushalte“, ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21.

(7)  http://www.etuc.org/sites/www.etuc.org/files/other/files/layout_declaration_governance_21_10_13_clean_3.pdf

(8)  Gemeinsamer Beitrag der Sozialpartner zum Europäischen Rat von Laeken. Seither ist die UNICE in BUSINESSEUROPE umbenannt worden, und die Artikel 137 und 138 EGV wurden durch die Artikel 153 und 154 AEUV ersetzt.

(9)  Siehe Fußnote 7.

(10)  http://www.ueapme.com/docs/joint_position/061010_telework_implementation_report_final.pdf

(11)  http://www.ueapme.com/IMG/pdf/Stress_Final_Implementation_report_231108.pdf

(12)  http://www.etuc.org/sites/www.etuc.org/files/BROCHURE_harassment7_2_.pdf

(13)  Framework Agreement on Telework (SEC(2008) 2178; Framework Agreement on Work-related Stress (SEC2011) 0241.

(14)  Siehe Fußnote 7.

(15)  ABl. C 89 vom 19.3.1997, S. 27; ABl. C 397 vom 31.12.1994, S. 40.

(16)  Vgl. die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine neue EU-Strategie (2011-14) für die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR)“ (COM(2011) 681 final), ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 77.

(17)  Im Juni 2003 veranstaltete der EWSA in Zusammenarbeit mit Notre Europe ein wichtiges Seminar, an dem auch Jacques Delors teilnahm, zum Thema: „Sozialer und ziviler Dialog in Europa: Unterschiede und Komplementarität“ (http://www.notre-europe.eu/media/semi19-fr.pdf)

(18)  In dieser Vereinbarung wird die Notwendigkeit für die Sozialpartner anerkannt, „mit dem ‚dritten Sektor‘ zusammenzuarbeiten, um jene zu unterstützen, die besondere Schwierigkeiten in Bezug auf den Arbeitsmarkt haben“. (http://resourcecentre.etuc.org/linked_files/documents/DE%20Version%20Framework%20Agreement%20ILM%20_BDA_DGB%20_endg_clean_.pdf)


19.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 458/7


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses Die europäische Einwanderungspolitik

(Sondierungsstellungnahme)

(2014/C 458/02)

Hauptberichterstatter:

Giuseppe IULIANO

Der italienische EU-Ratsvorsitz beschloss am 3. Juni 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um eine Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

Die europäische Einwanderungspolitik

(Sondierungsstellungnahme).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Außenbeziehungen am 8. Juli 2014 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten (Art. 59 GO) bestellte der Ausschuss auf seiner 501. Plenartagung am 10./11. September 2014 (Sitzung vom 11. September) Giuseppe IULIANO zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 161 gegen 6 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die neue Phase der europäischen Einwanderungspolitik muss strategisch auf mittel- bis langfristige Sicht angelegt sein und vor allem dem Ziel dienen, auf ganzheitliche und umfassende Weise offene und flexible legale Einwanderungskanäle bereitzustellen. Ausgehend von der vom EWSA und vom Europäischen Integrationsforum geleisteten Arbeit werden in dieser Stellungnahme die Vertreter der EU-Institutionen und nationalen Regierungen dazu aufgerufen, der zentralen Rolle der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft, die bei der europäischen Einwanderungspolitik für eine soziale Perspektive und einen Mehrwert sorgen, Rechnung zu tragen und die Auswirkungen dieser Politik auf den Arbeitsmarkt, die Lebens- und Arbeitsbedingungen und die Grundrechte zu berücksichtigen.

1.2

Fünfzehn Jahre nachdem mit dem Aufbau einer europäischen Einwanderungspolitik begonnen wurde, ist es nach Ansicht des EWSA an der Zeit, die im Lissabon-Vertrag verankerten Werte und Grundsätze mit konkreten und spezifischen politischen Maßnahmen, die über Zuständigkeitsdiskussionen zwischen der EU und den nationalen Regierungen hinausgehen, in die Praxis umzusetzen. Der EWSA hält konkrete Ergebnisse für erforderlich, um eine wahrhaft gemeinsame und gemeinschaftliche Politik im Bereich Einwanderung, Asyl und Außengrenzen zu entwickeln.

1.3

Die EU kann durch eine gemeinsame Einwanderungspolitik einen wertvollen Beitrag leisten. Der EWSA plädiert dafür, dabei vorrangig die Hindernisse und die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt anzugehen. Die EU benötigt einen gemeinsamen europäischen Einwanderungskodex und ein Handbuch mit gemeinsamen europäischen Leitlinien, um dessen Umsetzung und Zugänglichkeit zu gewährleisten. Dies muss Hand in Hand mit einer europäischen Strategie gehen, die die EU für Talente attraktiv macht und die Hindernisse im Bereich der Qualifikationen ausräumt. Die EU sollte eine ständige europäische Plattform für die Migration von Arbeitnehmern einrichten. Der EWSA bietet sich hierfür als Forum an, das den Sozialpartnern zur Erörterung und Analyse der nationalen Strategien für die Arbeitsmigration und zum Austausch bewährter Verfahren dient.

1.4

Die EU hat die zweite Phase des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) eingeleitet. In den Mitgliedstaaten gibt es noch immer unterschiedliche Verfahren und Schutzniveaus. Es gilt, den Grundsatz der Solidarität und der gemeinsamen Verantwortung umzusetzen, um eine ausgewogenere Verteilung der Asylanträge auf die einzelnen Mitgliedstaaten zu erreichen. Das Dubliner Übereinkommen muss durch ein solidarischeres System ersetzt werden, das dem Wunsch der Asylbewerber Rechnung trägt und eine angemessenere Verteilung der Verantwortung gewährleistet. Außerdem müssen die Zuständigkeiten des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) ausgeweitet werden, wobei besonderes Gewicht auf dessen operative Unterstützungstätigkeiten gelegt werden sollte sowie auf gemeinsame Unterstützungsteams für Asylfragen in den Mitgliedstaaten, die besonderer oder dringender Unterstützung bedürfen. Die EU sollte unbedingt dafür sorgen, dass die Mitgliedstaaten — wie im gemeinsamen Visakodex festgelegt — auf einheitlichere, kohärentere, unabhängigere und flexiblere Weise Gebrauch von humanitären Visa machen.

1.5

Die europäische Grenzpolitik muss auf mehr gemeinsamer Verantwortung für die Grenzkontrolle und -überwachung sowie die Wahrung der Grundsätze und Rechte bei der Grenzverwaltung fußen. Die Mitgliedstaaten an der gemeinsamen EU-Außengrenze sind mit schwierigen Situationen in Bezug auf Migrationsströme und Asylsuchende konfrontiert. Die EU muss Verfahren der finanziellen, operativen und aufnahmebezogenen Solidarität auf den Weg bringen. FRONTEX muss eine stärkere Rolle spielen und zu einem gemeinsamen europäischen Grenzschutzdienst werden, der sich aus einem europäischen Kontingent von Grenzschutzbeamten zur Unterstützung der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Dies muss mit der Entwicklung eines wirksameren und systematischeren Systems der Rechenschaftslegung (accountability) über seine Aktivitäten und die Anwendung der Verordnung 656/2014 zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der von der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierten operativen Zusammenarbeit einhergehen.

1.6

Die EU sollte sich für einen internationalen Rechtsrahmen für Migration und auch aktiv für die Ratifizierung und Anwendung internationaler Menschenrechtsstandards und -instrumente für Einwanderer durch die Mitgliedstaaten einsetzen. Die EU sollte ein strategisches Bündnis mit anderen internationalen Akteuren eingehen, die u. a. für Fragen der Mobilität von Personen und der Menschenrechte zuständig sind, wie die Vereinten Nationen oder der Europarat.

1.7

Die Herausforderungen der grenzüberschreitenden Mobilität von Personen lassen sich nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der „Auslagerung“ der Grenzkontrollen und -überwachung angehen. Der Gesamtansatz für Migration und Mobilität muss vor diesem Hintergrund weiterentwickelt werden. Die EU muss diesen Ländern und ihren Staatsangehörigen mittels legaler, flexibler und transparenter Verfahren weitere Möglichkeiten für die Einwanderung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit und zu Bildungszwecken eröffnen. Die Mobilitätspartnerschaften müssen ausgewogener und für die Parteien rechtlich bindend sein. Der Europäische Auswärtige Dienst sollte für eine bessere Koordinierung zwischen den Prioritäten der Außenpolitik und jenen der Einwanderungspolitik sorgen und dabei einen Ansatz verfolgen, bei dem die Menschenrechte eine tragende Säule bilden.

2.   Einleitung: Auf dem Weg zu einer neuen Einwanderungs-, Asyl- und Grenzpolitik für 2020

2.1

Der italienische Ratsvorsitz hat den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) um eine Sondierungsstellungnahme zur künftigen europäischen Einwanderungs-, Grenz- und Asylpolitik ersucht. Der EWSA möchte zu diesem Zweck auf der Grundlage früherer Stellungnahmen zu Fragen der Einwanderung strategische Vorschläge unterbreiten (1). In der Debatte im Vorfeld der nächsten Phase der europäischen Einwanderungspolitik 2020 müssen die Rolle der Sozialpartner und Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft sowie der soziale Dialog durchgehend berücksichtigt werden. Die „soziale Perspektive“ ist von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, den Mehrwert dieser Politik sicherzustellen und ihre Verhältnismäßigkeit und Wirkung zu bestimmen.

2.2

Der EWSA hat bereits bei zahlreichen Gelegenheiten darauf hingewiesen, dass die europäische Einwanderungspolitik strategisch auf mittel- bis langfristige Sicht angelegt sein muss. Außerdem muss sie vor allem dem Ziel dienen, auf ganzheitliche und umfassende Weise offene und flexible legale Einwanderungskanäle bereitzustellen, sicherstellen, dass die Grundrechte gewahrt werden, dauerhafte und solidarische Lösungen für den Zugang zu internationalem Schutz bieten, der Lage auf dem Arbeitsmarkt Rechnung tragen und die mit der Einwanderungspolitik verbundenen Herausforderungen und ihre Auswirkung auf schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen, den Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit angehen.

2.3

Der Ausschuss bemüht sich nachdrücklich darum, die Migranten in die Umsetzung der Einwanderungspolitik einzubeziehen, insbesondere im Rahmen des Europäischen Integrationsforums  (2), das die Kommission 2009 mit Sitz im EWSA eingerichtet hat. Das Forum hat sich als europäische Plattform zur Förderung eines vielgestaltigen Dialogs und der aktiven Mitwirkung der Organisationen der Zivilgesellschaft und der Migranten an Schlüsseldebatten über die europäische Integrationspolitik etabliert. Das Forum wird derzeit umstrukturiert, um sich künftig mit der gesamten Einwanderungspolitik zu beschäftigen. Auf der Grundlage einer Bewertung seiner Arbeitsweise und Ergebnisse möchte der EWSA stärker in dem Forum tätig werden und insbesondere seine Kontakte zu den Migrantenorganisationen ausbauen, einen Beitrag zur Überwachung der politischen Maßnahmen leisten und die Zusammenarbeit mit dem Parlament und dem Ausschuss der Regionen verbessern.

3.   Eine gemeinsame Einwanderungspolitik

3.1

Seit den ersten Schritten zum Aufbau einer gemeinsamen Einwanderungs-, Asyl- und Grenzpolitik im Rahmen des Vertrags von Amsterdam von 1999 sind mittlerweile fünfzehn Jahre vergangen. Der EWSA hält es für notwendig, bei der Konzipierung der künftigen europäischen Einwanderungsagenda zu den im Jahr 1999 im Programm von Tampere festgelegten Gründungsprinzipien  (3) zurückzukehren; insbesondere handelt es sich hierbei um die Prinzipien der fairen und gleichen Behandlung von Drittstaatsangehörigen, den Grundsatz der Solidarität und der gemeinsamen Verantwortung sowie die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit. Der Vertrag von Lissabon dient als gemeinsamer Leitfaden für die Arbeit. Diese in den Verträgen niedergelegten allgemeinen Grundsätze müssen in vollem Umfang angewandt werden.

3.2

Der EWSA ist der Auffassung, dass sich die europäischen Ziele und Werte häufig auf große Worte beschränken, die dann von den Verfahren und Gesetzen in der Praxis widerlegt werden (4). Der EWSA ruft den Rat und die Vertreter der Mitgliedstaaten auf zu entschiedenen Schritten, die über die Rhetorik und Grundsatzerklärungen hinausgehen, und zu konkreten Initiativen, deren Umsetzung zu tatsächlichen Ergebnissen führt. Dies muss nicht nur in enger interinstitutioneller Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament erfolgen. Auch die Sozialpartner und die organisierte Zivilgesellschaft sind hier wichtige Verbündete.

3.3

Die mit der Migration zusammenhängenden Herausforderungen im Mittelmeerraum und an den gemeinsamen Außengrenzen der EU sind hinreichend dokumentiert und Gegenstand von Debatten in den Medien und politischer Diskussionen, die häufig ans Irrationale und nationalistischen Populismus grenzen. Der EWSA fordert eine sachliche Debatte auf der Grundlage objektiver und unabhängiger Daten und Studien. Es muss ganz klar dem Vorrang gegeben werden, was tatsächlich notwendig ist, um eine wahrhaft gemeinsame und einheitliche Politik im Bereich Einwanderung, Asyl und Außengrenzen zu entwickeln und zu konsolidieren. Der EWSA ist der Ansicht, dass es an der Zeit ist, eine neue europäische Strategie für die gemeinsame europäische Einwanderungspolitik zu konzipieren, die mit der Europa-2020-Strategie verknüpft ist und auf die Anwendung von Grundsätzen ausgerichtet ist.

3.4

Bei Themen, bei denen die Vertreter der Mitgliedstaaten derart große politische Interessen vertreten, ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die Grundrechte aller dieser Politik unterliegenden Drittstaatsangehörigen (einschließlich Einwanderer ohne gültige Papiere) den Eckpfeiler jeglicher künftiger Politik bilden (5). Es muss den Herausforderungen im Zusammenhang mit der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Millionen Arbeitsmigranten in der EU Vorrang gegeben werden (6). Besondere Bedeutung misst der EWSA den Fragen in Bezug auf die Auswirkungen der Einwanderungspolitik auf die Sozial- und Beschäftigungspolitik bei. Er hat für einen Ansatz plädiert, bei dem die Beschäftigung und die Auswirkungen der Migrationspolitik in Bezug auf die soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung oder Integration der Arbeitnehmer und ihrer Familien analysiert werden (7).

3.5

Die Politik in Bezug auf die Einreise- und Aufenthaltsbedingungen von Drittstaatsangehörigen fällt in die geteilte Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und der EU. Im Lissabon-Vertrag ist festgelegt, dass die EU eine gemeinsame Einwanderungspolitik in all ihren Phasen entwickeln muss. Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU einen großen Mehrwert erzielen kann, wenn sie anstelle sektorspezifischer Vorschriften (8) bei Fragen in Bezug auf Beschäftigung und Bildung für eine gemeinsame Politik und gemeinsame Rechtsvorschriften mit einem hohen Harmonisierungsgrad und einem horizontalen Ansatz sorgt. Der derzeitige Rechtsrahmen ist fragmentiert, undurchsichtig und uneinheitlich. Diese Situation führt zu Rechtsunsicherheit und politischer Inkohärenz, denen so schnell wie möglich entgegengewirkt werden muss.

3.6

Der EWSA hält eine Konsolidierung der bestehenden Rechtsvorschriften in Form eines Einwanderungskodexes für erforderlich. Der Kodex sollte mehr Transparenz und rechtliche Klarheit über die Rechte und Freiheiten von in der EU ansässigen Drittstaatsangehörigen bringen und die Rechtsvorschriften im Wege eines einheitlichen und transparenten Rahmens gemeinsamer Rechte und Standards, einschließlich derjenigen, die für Einwanderer ohne gültige Papiere gelten, konsolidieren (9). Außerdem sollte mit dem Kodex auch die soziale und wirtschaftliche Situation von in der EU aufhältigen Drittstaatsangehörigen angegangen werden (10). Eine weitere Priorität sollte ein besserer Zugang zu den europäischen Rechten und Standards und die Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus auf dem Arbeitsmarkt mit Hilfe eines Handbuchs gemeinsamer europäischer Leitlinien sein.

3.7

Darüber hinaus muss eines der für viele Einwanderer und Unternehmen in Europa größten Probleme gelöst werden, nämlich die Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen  (11). Der EWSA fordert die Entwicklung einer europäischen Strategie zur Steigerung der Attraktivität der EU für Talente auf internationaler Ebene und spricht sich dafür aus, in deren Mittelpunkt die Überwindung ungerechtfertigter Hindernisse für berufliche und akademische Qualifikationen zu stellen. Dies sollte mit dem Erlass horizontaler Rechtsvorschriften (12) einhergehen.

3.8

In diesem Zusammenhang ist der demografischen Situation und der Bevölkerungsalterung sowie der Altersstruktur der Arbeitsmärkte in den Mitgliedstaaten sorgfältig Rechnung zu tragen. In der Sondierungsstellungnahme von 2011 (13) zur Rolle der Einwanderung vor dem Hintergrund der demografischen Situation in Europa hebt der EWSA hervor, dass in den nächsten Jahren die Zuwanderung von Arbeitnehmern und Familien aus Drittländern zunehmen muss. Die EU benötigt offene und flexible Rechtsvorschriften, die die Einwanderung von sowohl hochqualifizierten Arbeitnehmern und solchen mit mittleren Qualifikationen als auch solchen, die einfachen Beschäftigungen nachgehen, auf legalen und transparenten Wegen ermöglichen, unter der Voraussetzung, dass die Mitgliedstaaten weiterhin selbst bestimmen können, wie viele Drittstaatsangehörige in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen. Der EWSA plädiert dafür, vorrangig die Hindernisse und die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt im Hinblick auf schutzbedürftige Arbeitsmigrantengruppen wie z. B. Frauen anzugehen. Gleichzeitig muss anerkannt werden, dass Einwanderung nicht die einzige Antwort auf Arbeitsmarktengpässe sein muss und dass die Mitgliedstaaten weitere ergänzende Lösungen in Betracht ziehen können, die möglicherweise geeigneter sind.

3.9

Die EU sollte eine ständige europäische Plattform für die Arbeitsmigration im EWSA einrichten, die den Sozialpartnern, öffentlichen Arbeitsverwaltungen der Mitgliedstaaten, Arbeitsvermittlungsagenturen und weiteren beteiligten Akteuren zur Erörterung und Analyse der nationalen Strategien für die Arbeitsmigration und zum Austausch bewährter Verfahren dienen, mit dem Ziel, die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts und die vorhandenen Hemmnisse für eine gleichberechtigte soziale und wirtschaftliche Integration zu ermitteln. Der EWSA bekräftigt, dass er die Kommission hierin unterstützt (14), und schlägt dem Rat vor, ihn im Hinblick auf die Einrichtung dieser Plattform um Ausarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu ersuchen.

4.   Eine gemeinsame europäische Asylpolitik: das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS)

4.1

Der EWSA begrüßt die Einleitung der zweiten GEAS-Phase. Auch wenn die Rechtsvorschriften bereits in hohem Maße harmonisiert wurden, gibt es im Rahmen der nationalen Rechtsvorschriften immer noch allzu große Ermessensspielräume, was den Mitgliedstaaten ermöglicht, sehr unterschiedliche Strategien und Anschauungen zu verfolgen (15). Die unterschiedlichen Traditionen sind beibehalten worden, und das Schutzniveau variiert nach wie vor stark von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat (16). Die EU muss einem hohen Schutzniveau, bei dem die derzeitigen Ermessensspielräume reduziert werden, und dem Zugang zu einem wirksamen Rechtsbehelf für Asylbewerber Vorrang geben, sodass die Rechte und Grundsätze auch in der Praxis zugänglich sind.

4.2

Das Dubliner Übereinkommen bestimmt, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung des jeweiligen Asylantrags zuständig ist. Nach Ansicht des EWSA ist dieses System aber nicht Ausdruck von Solidarität unter den EU-Mitgliedstaaten. Es wurde unter der Prämisse konzipiert, dass die Asylsysteme der Mitgliedstaaten einander ähneln (was aber bis heute nicht der Fall ist). Das Dubliner Übereinkommen muss durch ein System mit mehr Solidarität innerhalb der EU ersetzt werden, das dem Wunsch der Asylbewerber Rechnung trägt und eine angemessenere Verteilung der Verantwortung auf die Mitgliedstaaten gewährleistet (17).

4.3

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) in Malta braucht mehr Kapazitäten, um die Asyllage in der EU (18) und die Unterschiede zwischen den Asylverfahren und Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten besser ermitteln und bewerten und die erforderlichen spezifischen Änderungen am GEAS vorschlagen zu können. Das EASO sollte noch stärker zu einem Zentrum für die Überwachung und Analyse der Ergebnisse der zweiten GEAS-Phase in enger Zusammenarbeit mit der Grundrechteagentur (FRA) entwickelt werden. Der EWSA empfiehlt, die Zuständigkeiten des EASO auszuweiten, damit es die Behörden derjenigen Mitgliedstaaten dauerhaft technisch und operationell unterstützen kann, die bei ihren Asyl- und Aufnahmesystemen besonderer oder dringender Unterstützung durch gemeinsame Unterstützungsteams für Asylfragen (asylum support teams) bedürfen.

4.4

Der Ausschuss hat bei verschiedenen Gelegenheiten vorgeschlagen, dass die EU gemeinsam mit den Nachbarstaaten und in enger Zusammenarbeit mit den Organisationen der Zivilgesellschaft (19) im Einklang mit den Leitlinien des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) (20) EU-finanzierte regionale Schutz- und Aufnahmeprogramme auf den Weg bringt. Vor einer Weiterführung dieser Politik sollten all diese Programme — und die für ihre Umsetzung vorgesehene Finanzierung — einer unabhängigen Bewertung unterzogen werden, bevor sie ausgeweitet und zu einem neuen EU-Instrument umgestaltet werden. In den bestehenden Programmen scheint es mehr darum zu gehen, die Einreise von Asylbewerbern in die EU und den internationalen Schutz zu verhindern, als darum, für eine tatsächliche Verbesserung des Flüchtlingsschutzes zu sorgen (21).

4.5

Verstärkt werden könnten diese regionalen Programme mit Neuansiedlungsprogrammen zur Einrichtung eines Systems für die Aufnahme von durch Drittstaaten als Flüchtlinge anerkannten Personen zum Zweck ihrer dauerhaften Niederlassung in einem EU-Mitgliedstaat. Auch hier muss der Einführung dieser Programme unbedingt eine Analyse der Erfahrungen der organisierten Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen vorangehen. Der EWSA schlägt vor, die Solidarität und Verantwortung innerhalb der EU dank einer angemessenen Pflichtenaufteilung und der Umsetzung von Umsiedlungsprogrammen zu verbessern. Dies sollte mit einer Analyse in Bezug auf die Einrichtung eines Systems zur gemeinsamen Bearbeitung von Asylanträgen innerhalb der EU und der Möglichkeit, bei den genehmigten Asylanträgen den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung anzuwenden, sowie in Bezug auf die Freizügigkeit der Begünstigten der Schutzmaßnahmen einhergehen.

4.6

Der EWSA ist der Auffassung, dass außerdem die Einreise schutzbedürftiger Personen in die EU erleichtert werden muss, und empfiehlt, dass die Mitgliedstaaten — wie im gemeinsamen Visakodex festgelegt — auf einheitlichere, kohärentere, unabhängigere und flexiblere Weise Gebrauch von humanitären Visa machen, ein Mechanismus zur Überwachung der praktischen Umsetzung dieses Instruments geschaffen und den Antragstellern im Falle einer Visumverweigerung Zugang zu wirksamem Rechtsmitteln und das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gewährt wird (22). Der EWSA befürwortet den neuen Vorschlag der Kommission zur Überarbeitung des Visakodexes (23) und fordert, mit den Verhandlungen die Verwendung humanitärer Visa sicherzustellen.

5.   Eine gemeinsame Grenzpolitik

5.1

Die Schaffung des Schengen-Raums gehört zu den größten Errungenschaften der europäischen Integration. Die EU-Außengrenzen sind allen Schengen-Staaten gemein, daher muss es sich auch bei der Grenzkontrolle und -überwachung sowie der Wahrung der Grundsätze und Rechte bei der Verwaltung der Grenzen um eine gemeinsame Verantwortung handeln. Die aufgrund ihrer geografischen Lage die gemeinsame EU-Außengrenze bildenden Mitgliedstaaten sind mit schwierigen Situationen in Bezug auf Migrationsströme und Asylsuchende konfrontiert. Der EWSA hebt hervor, wie wichtig der in Artikel 80 AEUV verankerte Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten ist. Die EU muss Verfahren der finanziellen, operationellen und aufnahmebezogenen Solidarität auf den Weg bringen und dabei der wirtschaftlichen und sozialen Situation der verschiedenen Mitgliedstaaten und der Unterstützung der Mitgliedstaaten, deren Asylsysteme besonders hohem Druck ausgesetzt sind, Rechnung tragen.

5.2

Der Schengener Grenzkodex regelt den Grenzübergang und die Kontrollen unter Berücksichtigung der Anforderungen, die die Drittstaatsangehörigen für die Einreise und den Aufenthalt erfüllen müssen. Die EU erstellt Listen von Ländern, deren Drittstaatsangehörige ein Visum benötigen, und verfügt über eine im Visakodex festgelegte gemeinsame Politik für Kurzzeitvisa. Der EWSA empfiehlt, der kohärenten, flexiblen und wirksamen Anwendung beider Kodizes Vorrang zu geben und dafür zu sorgen, dass die für Drittstaatsangehörige vorgesehenen Rechte und Garantien zugänglich sind.

5.3

Die EU muss bei der Kontrolle der Außengrenzen eine größere Verantwortung übernehmen. Die Rolle von FRONTEX (Grenzschutzagentur) muss gestärkt werden, nicht nur vom finanziellen Standpunkt aus, sondern auch im Hinblick auf die Zuständigkeiten und unter operativen Gesichtspunkten. Der EWSA bekräftigt seine Empfehlung, FRONTEX (24) zu einem gemeinsamen europäischen Grenzschutzdienst  (25) weiterzuentwickeln, der sich aus einem europäischen Kontingent von Grenzschutzbeamten zur Unterstützung der Mitgliedstaaten zusammensetzt (26). Dies muss mit der Entwicklung eines wirksameren Systems zur Rechenschaftslegung (accountability) über die Aktivitäten von FRONTEX, seine gemeinsamen Operationen und seinen Informationsaustausch, einschließlich im Rahmen von EUROSUR (System zur Überwachung der Außengrenzen), einhergehen. Vorgesehen werden sollten auch eine stärkere Rolle des Konsultationsforums für die Grundrechte (27) und die Einführung eines Beschwerdeverfahrens (complaints mechanism) (28).

5.4

Der EWSA hat im Zusammenhang mit der Errichtung intelligenterer Grenzen, insbesondere dem Einreise-/Ausreisesystem (EES) und dem Programm für registrierte Reisende (RTP), bereits seine Unterstützung signalisiert (29). Bevor weitere umfassende Informationssysteme entwickelt werden, sollte eine unabhängige Bewertung des Visa-Informationssystems (VIS) und des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II) vorgenommen werden (30). Es ist nicht klar, wie diese Systeme mit dem Paket „intelligente Grenzen“ in Verbindung stehen, und es muss unbedingt von der Entwicklung weiterer Systeme abgesehen werden, die nicht nachweislich notwendig, verhältnismäßig und mit den Grundrechten vereinbar sind (31).

5.5

Die Regeln für bei Grenzüberwachungseinsätzen auf See möglicherweise erforderlich werdende Such- und Rettungsaktionen stellen eine große gemeinsame Herausforderung dar. Die Mitgliedstaaten haben nach internationalem Recht Verpflichtungen, die die Achtung der Menschenrechte der Asylbewerber und Einwanderer ohne gültige Papiere erfordern. Der EWSA begrüßt die Verabschiedung und das Inkrafttreten der Verordnung zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der von FRONTEX koordinierten operativen Zusammenarbeit (32). Seines Erachtens muss der wirksamen praktischen Anwendung dieser Regeln für Hilfs- und Rettungsaktionen Priorität eingeräumt werden.

5.6

Beim Kampf gegen Menschenschmuggel und -handel muss immer der Opferschutz gemäß den internationalen humanitären Bestimmungen und europäischen Menschenrechtskonventionen gewährleistet sein. Der Ausschuss vertritt die Ansicht, dass Personen „ohne Papiere“ nicht mit Personen ohne Rechte oder Kriminellen gleichzusetzen sind. Die EU und die Mitgliedstaaten müssen ihre Grundrechte schützen. Für Migranten mit einem irregulären Verwaltungsstatus sollte nicht der Begriff „illegale Einwanderung“ verwendet werden. Die zwischen irregulärer Einwanderung und Kriminalität hergestellte Verbindung sät Angst und leistet Fremdenfeindlichkeit Vorschub.

6.   Die auswärtige Dimension der Einwanderungs- und Asylpolitik

6.1

Der EWSA hat vorgeschlagen (33), dass sich die EU für einen internationalen Rechtsrahmen für die Migration einsetzen sollte, der auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte und dem Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte fußt. Dieser internationale Rechtsrahmen muss die wichtigsten ILO-Konventionen und die Internationale Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen umfassen, die von den EU-Mitgliedstaaten noch nicht ratifiziert worden ist (34).

6.2

Der EWSA ruft die europäischen Institutionen dazu auf, ein strategisches Bündnis mit anderen internationalen Akteuren einzugehen, die u. a. für Fragen der Mobilität von Personen und der Menschenrechte zuständig sind, wie die Vereinten Nationen oder der Europarat. Die EU muss sich im Rahmen von Organisationen wie der UNO, dem Europarat und der ILO für gemeinsame internationale Standards einsetzen, die von diesen internationalen Organisationen erlassen werden und sich auf die Rechte und Freiheiten von Einwanderern, Asylbewerbern und Flüchtlingen erstrecken.

6.3

Der EWSA hat wiederholt den Gesamtansatz für Migration und Mobilität (GAMM)  (35) und den Abschluss verschiedener Mobilitätspartnerschaften (MP) befürwortet. Die Herausforderungen der grenzüberschreitenden Mobilität von Personen lassen sich nicht ausschließlich auf den Gesichtspunkt der Grenzkontrolle oder „Auslagerung“ dieser Kontrollen an Drittstaaten reduzieren. Der EWSA hat bei zahlreichen Gelegenheiten für den GAMM als den am besten geeigneten Rahmen plädiert. Die gemeinsame Einwanderungspolitik muss einen umfassenden Ansatz verfolgen, der über einen sicherheitsorientierten oder polizeilichen Ansatz hinausgeht, der die Mobilität von Personen als Verbrechen ansieht und sie künstlich mit anderen Bedrohungen für die EU verknüpft.

6.4

Bei den Mobilitätspartnerschaften müssen auf umfassendere und ausgewogenere Weise die Aspekte der legalen Mobilität und Migration, die zu ihren wichtigsten Prioritäten gehören sollte, berücksichtigt werden. Der EWSA befürwortet zwar die MP, die mit einigen Herkunftsländern (36) geschlossen wurden, schlägt jedoch vor, diese Partnerschaften ausgewogener zu gestalten und für die Parteien rechtsverbindlich zu machen. Bisher lag der Schwerpunkt auf Sicherheit, Rückkehr, Rückübernahme irregulärer Einwanderer und Grenzüberwachung. Die EU muss diesen Ländern und ihren Staatsangehörigen mittels legaler, flexibler und transparenter Verfahren auch Möglichkeiten für die Einwanderung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit und zu Bildungszwecken eröffnen.

6.5

Insbesondere schlägt der EWSA vor, dass die EU den Partnerländern die Öffnung von Kanälen zur Erleichterung der Mobilität von Personen, der Erteilung von Visa und der Aufnahme neuer Einwanderer anbietet. Der Ausschuss spricht sich dafür aus, weitere Aspekte in den neuen MP zu berücksichtigen, wie z. B.:

besserer Zugang zu Informationen über Stellenangebote in der EU;

Verbesserung der Kapazitäten, um Arbeitskräfteangebot und -nachfrage in Einklang zu bringen;

Anerkennung akademischer und beruflicher Fähigkeiten und Qualifikationen;

Erarbeitung und Anwendung von Rahmenregelungen, mit denen die Übertragung von Rentenansprüchen verbessert werden kann;

Maßnahmen für eine bessere Zusammenarbeit im Bereich Kompetenzen und Ausgleich von Arbeitskräfteangebot und -nachfrage;

flexiblere Gestaltung der Rechtsvorschriften über die Aufnahme und den Status langfristig Aufenthaltsberechtigter, um eine freiwillige Rückkehr ohne Verlust des Aufenthaltsrechts zu begünstigen.

6.6

Die Einwanderungs- und Asylpolitik muss eine bessere Koordinierung zwischen den Prioritäten der Außenpolitik und der Einwanderungspolitik der EU sicherstellen. Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) muss seiner Rolle gerecht werden und die politischen Maßnahmen in den Bereichen Einwanderung, Asyl und Grenzkontrolle berücksichtigen, um sie über die Sicht der einzelstaatlichen Innenministerien hinaus besser miteinander zu verzahnen. Darüber hinaus ist die Rolle des Parlaments in diesen Bereichen im Hinblick auf eine bessere demokratische Kontrolle zu stärken (37).

Brüssel, den 11. September 2014.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  EWSA, Immigration: Integration and Fundamental Rights, 2012, http://www.eesc.europa.eu/resources/docs/qe-30-12-822-en-c.pdf

(2)  http://ec.europa.eu/ewsi/de/policy/legal.cfm

(3)  Schlussfolgerungen des Europäischen Rats, Programm von Tampere, 15./16. Oktober 1999, SN 200/99.

(4)  CESE 343/2009 — SOC/320 (ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 78).

(5)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 29.

(6)  Europäischer Gewerkschaftsbund, Migrationsaktionsplan, am 5./6. März 2013 vom Exekutivausschuss des EGB verabschiedet, http://www.etuc.org/documents/action-plan-migration#.U_MOE-JU3To

(7)  Stellungnahme des EWSA vom 17.3.2010, CESE 450/2010 (ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 16).

(8)  ABl. C 286 vom 17.11.2005, S. 20.

(9)  Stellungnahme des EWSA vom 15.9.2010, SOC/373 (ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 6). Der EWSA befürwortet darin die Notwendigkeit einer EU-weiten Angleichung der Rechte von Einwanderern ohne gültige Papiere. Siehe Ziffer 11.2 der Stellungnahme.

(10)  Europäischer Gewerkschaftsbund, am 5./6. März 2013 vom Exekutivausschuss des EGB verabschiedeter Migrationsaktionsplan, S. 15, http://www.etuc.org/documents/action-plan-migration#.U_MOE-JU3To

(11)  Stellungnahme des EWSA vom 15.9.2010, SOC/373 (ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 6).

(12)  ABl. C 80 vom 3.4.2002, S. 37. Stellungnahme des EWSA vom 15.9.2010, SOC/373 (ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 6).

(13)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 6.

(14)  Stellungnahme des EWSA vom 4.11.2009, SOC/352, Ziffer 4.4.14 (ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 80). Die Kommission hat mit ihrer Mitteilung vom 11.3.2014 (COM(2014) 154 final) die vom Rat im Rahmen des Stockholmer Programms abgelehnte Plattforminitiative erneut vorgelegt.

(15)  http://www.unhcr.org/pages/49c3646c4d6.html

(16)  Siehe Stellungnahme des EWSA vom 12.3.2008 zum „Grünbuch über das künftige Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE), ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 77, Ziffer 1.1.

(17)  Siehe Stellungnahme des EWSA vom 12.3.2008 zum „Grünbuch über das künftige Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE), ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 77.

(18)  http://easo.europa.eu/wp-content/uploads/EASO-AR-final1.pdf

(19)  Siehe Stellungnahme des EWSA vom 25.2.2008, SOC/320, ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 78.

(20)  UNHCR Resettlement Handbook (Neuansiedlungshandbuch des UNHCR), Juli 2011 (überarbeitete Fassungen von 2013 und 2014), verfügbar unter: http://www.unhcr.org/4a2ccf4c6.html

(21)  Ebenda, Ziffer 7.2.2.

(22)  Artikel 19 Absatz 4 und Artikel 25 Absatz 1 des Visakodexes. Verordnung (EG) Nr. 810/2009 vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex), ABl. L 243 vom 15.9.2009, S. 1.

(23)  Europäische Kommission, Vorschlag für eine Verordnung über den Visakodex der Union (Visakodex) (Neufassung) {SWD(2014) 67 final}, {SWD(2014) 68 final}, COM(2014) 164 final, 1. April 2014, Brüssel.

(24)  ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 162.

(25)  S. Carrera (2010), Towards a Common European Border Service, CEPS Working Documents, Zentrum für europäische politische Studien (CEPS), Brüssel.

(26)  In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 26./27. Juni 2014 wurde als Ziel festgelegt, die Möglichkeit und Machbarkeit der Einführung eines solchen Verfahrens als eine politische Priorität für die künftige Agenda des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) bis 2020 zu analysieren. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, Tagung vom 26./27. Juni 2014, EUCO 79/14, Brüssel, 27. Juni 2014.

(27)  http://frontex.europa.eu/news/first-annual-report-of-the-frontex-consultative-forum-on-fundamental-rights-published-WDPSJn

(28)  http://www.ombudsman.europa.eu/en/cases/specialreport.faces/en/52465/html.bookmark

(29)  ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 97.

(30)  Siehe Stellungnahme des EWSA vom 11.7.2012, SOC/456, Ziffer 16.2, ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 108.

(31)  http://ec.europa.eu/bepa/european-group-ethics/docs/publications/ege_opinion_28_ethics_security_surveillance_technologies.pdf Siehe Bericht des Europäischen Rechnungshofs http://www.eca.europa.eu/lists/ecadocuments/sr14_03/sr14_03_de.pdf

(32)  Verordnung (EU) Nr. 656/2014 vom 15. Mai 2014 zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der von der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierten operativen Zusammenarbeit, 27.6.2014, ABl. L 189 vom 27.6.2014, S. 93.

(33)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 91.

(34)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 302 vom 7.12.2004, S. 49.

(35)  REX/351, ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 134.

(36)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die europäische Einwanderungspolitik und die Beziehungen zu den Drittländern“ (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht.

(37)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die europäische Einwanderungspolitik und die Beziehungen zu den Drittländern“ (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht.


19.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 458/14


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Investitionen mit sozialen Auswirkungen

(Initiativstellungnahme)

(2014/C 458/03)

Hauptberichterstatterin:

Ariane RODERT

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 5. Juni 2014, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Investitionen mit sozialen Auswirkungen

(Initiativstellungnahme).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch am 3. Juni 2014 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten beschloss der Ausschuss auf seiner 501. Plenartagung am 10./11. September 2014 (Sitzung vom 11. September), Ariane RODERT zur Hauptberichterstatterin zu bestellen, und verabschiedete mit 176 gegen 37 Stimmen bei 19 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt das Interesse an Investitionen mit sozialen Auswirkungen, betont indes, dass diese im Kontext des Sozialinvestitionspakets (SIP) und der Initiative für soziales Unternehmertum (SBI) gesehen werden sollten.

1.2

Der EWSA ist der Auffassung, dass es bei Investitionen mit sozialen Auswirkungen darum geht, verschiedene sektorübergreifende Ressourcen zu bündeln, um eine soziale Wirkung zu erzielen; sie sind eine Komponente der sozialorientierten Finanzwelt.

1.3

Sozialwirksame Investitionen sollten nicht darauf abzielen, die Verantwortung der öffentlichen Hand für die Finanzierung von Kernaufgaben des Sozialbereichs zu ersetzen. Sie können vielmehr andere Finanzierungsquellen ergänzen. Der EWSA unterstützt die Diskussion der Kommission, im Sinne der goldenen Finanzierungsregel („golden rule“) auch Sozialinvestitionen im Kontext des fiskalischen Regelwerks der WWU aus der Berechnung staatlicher Nettodefizite auszunehmen.

1.4

Davon ausgehend, dass der Zugang zu Finanzmitteln ein allgemeines Problem für alle KMU ist, sollten maßgeschneiderte, den verschiedenen Unternehmensformen entsprechende Finanzierungssysteme konzipiert werden. Der EWSA betont jedoch, dass Investitionen mit sozialen Auswirkungen nicht auf die soziale Verantwortung der Unternehmen abzielen, sondern vielmehr Investitionen in Sozialunternehmen gemäß der Definition der Initiative für soziales Unternehmertum zum Gegenstand haben.

1.5

Bezüglich der Messung der sozialen Wirkung als Teil der Anlagerendite fordert der EWSA, dass die Interessenträger auf die bereits in diesem Bereich von der Kommission geleistete Arbeit und festgelegten Grundsätze aufbauen, anstatt neue Methoden zu erfinden.

1.6

Nach Auffassung des EWSA sind Hybridkapitallösungen am besten für sozialwirkungsorientierte Investitionen geeignet, wie z. B. gemischtes geduldiges Kapital, häufig mit einem garantierten Bestandteil. Die Kommission sollte den breiten Bereich derzeit entstehender innovativer Finanzierungsinstrumente untersuchen und ihre möglichen positiven Auswirkungen auf die Finanzierung von Unternehmen der Sozialwirtschaft und von sozialpolitischen Innovationen überprüfen.

1.7

Um den Zugang zu hochwertigen Dienstleistungen und ihre Kontinuität zu gewährleisten, müssen bei der Entwicklung neuer Anlageinstrumente die Besonderheiten sozialwirtschaftlicher Unternehmen berücksichtigt werden.

1.8

Da die Sozialwirtschaft und sozialwirtschaftliche Unternehmen in vielen Mitgliedstaaten schwach ausgeprägt sind, ist die Entwicklung eines Marktes für Sozialinvestitionen zweitrangig gegenüber der vollständigen Umsetzung der Initiative für soziales Unternehmertum auf nationaler Ebene, die aus gleichermaßen wichtigen Komponenten — dem Kapazitätsaufbau, der Anerkennung und der Sichtbarkeit — besteht.

1.9

Sozialwirtschaftliche Unternehmen sind eng mit der Zivilgesellschaft verbunden. Die Anerkennung und Wahrung der in diesem Bereich geleisteten Arbeit sowie der spezifischen Formen der Sozialwirtschaft sind von zentraler Bedeutung für den Aufbau des dringend benötigten Vertrauens und innovativer Partnerschaften zwischen den Sektoren.

2.   Einleitung

2.1

Europa erholt sich viel zu langsam von einer beispiellosen Krise und steht vor erheblichen gesellschaftlichen Herausforderungen, die sozialer Innovation, eines Strukturwandels und stabiler und tragfähiger Sozialsysteme bedürfen. Dies macht die Mobilisierung sämtlicher gesellschaftlicher Akteure und Ressourcen erforderlich, um neue nachhaltige Lösungen zur Unterstützung und Verbesserung der sozialen Lage in Europa zu konzipieren.

2.2

In diesem Zusammenhang verdeutlicht das Sozialinvestitionspaket (SIP) (1) der Kommission die Bedeutung gut konzipierter Sozialsysteme, die Unternehmen und Unternehmende (2) der Sozialwirtschaft als Pioniere von Wandel und Innovation in Ergänzung des öffentlichen Engagements unterstützen.

2.3

In der Initiative für soziales Unternehmertum (SBI) (3) der Kommission wird außerdem der Schaffung eines günstigen Umfelds für die Entstehung und Entwicklung von Sozialunternehmen und der Sozialwirtschaft in Europa Priorität eingeräumt. Der EWSA hat in diesem Bereich im Laufe der Jahre spezifischen Sachverstand eingebracht (4). In diesen beiden Strategierahmen der EU wird eindeutig festgestellt, dass sozialwirtschaftliche Unternehmen — wie KMU im Allgemeinen — einen besseren Zugang zu maßgeschneiderten Finanzierungen benötigen.

2.4

Des Weiteren besteht ein wachsendes Interesse seitens der Anleger, eine finanzielle Anlagerendite mit einem sozialen oder ökologischen Nutzen zu verbinden (5). Im Juni 2013 wurde auf dem Social Impact Investment Forum der G8 eine Taskforce „Social Impact Investment“ (6) eingesetzt, die die Entwicklung eines Marktes für sozialwirksame Investitionen vorantreiben soll. Diese Taskforce arbeitet derzeit an einem Bericht mit Schlussfolgerungen, der voraussichtlich im September 2014 veröffentlicht wird.

2.5

In dieser Stellungnahme werden die Perspektiven sozialwirtschaftlicher Unternehmen und sozialwirkungsorientierter Investitionen untersucht. Denn sie sind gut geeignet, auf soziale Bedürfnisse einzugehen und das öffentliche Engagement zur Stärkung der Sozialpolitik zu ergänzen. Die Stellungnahme trägt zur Arbeit der Taskforce Social Impact Investment bei. Gleichzeitig soll aber auch ein Beitrag zur breiteren Debatte über den Zugang von Unternehmen der Sozialwirtschaft zu Finanzmitteln geleistet werden.

3.   Investitionen mit sozialen Auswirkungen

3.1

Der EWSA begrüßt das Interesse an sozialwirkungsorientierten Investitionen, betont indes, dass diese im Kontext von SIP und SBI gesehen werden und auf die Unterstützung sozialer Innovation zur Erfüllung sozialer Bedürfnisse anstatt auf die Erzielung finanzieller Erträge ausgerichtet sein sollten. Der EWSA empfiehlt, zunächst von sozialen Bedürfnissen auszugehen, dann die besten Lösungen auszumachen und als dritten Schritt die beste Finanzierung zu finden.

3.2

Der EWSA ist der Auffassung, dass es bei Investitionen mit sozialen Auswirkungen darum geht, verschiedene sektorübergreifende Ressourcen — die der öffentlichen und privaten Wirtschaft sowie der Sozialwirtschaft — zu bündeln mit dem Ziel, soziale Wirkung zu erzielen. In dieser Perspektive sind sozialwirkungsorientierte Investitionen eine Komponente der sozialen Finanzwelt.

3.3

Da es sich hier aber um einen neu entstehenden Bereich handelt, legt der EWSA den verschiedenen Akteuren nahe, den Bereich nicht zu schnell oder zu eng zu definieren. Vielmehr sollten gemeinsame Merkmale herausgearbeitet und die Entwicklung dieses Bereichs in den Mitgliedstaaten beobachtet werden. Es ist ganz wichtig, dass mit privaten sozialen Investitionen nicht das Ziel verfolgt wird, die staatliche Verantwortung für die Finanzierung von Kernaufgaben des Sozialbereichs nach Maßgabe des Sozialrechts und gesetzlicher Ansprüche auszuhöhlen.

3.4

Das Interesse an Investitionen mit sozialen Auswirkungen ist zwar derweil eine Tatsache, aber es ist immer noch neu und in der Entwicklung begriffen. Ein erstes Problem besteht darin, das Konzept und die beabsichtigten Investitionsziele zu beschreiben. In der gegenwärtigen Diskussion im Rahmen der G8 sind die Sozialunternehmen die Hauptadressaten, daneben sind verschiedene Untergruppen auszumachen. Soziale Zielsetzungen treten dabei in unterschiedlichen Kombinationen mit Gewinnorientierung auf: als Hauptzweck (Sozialunternehmen — mit sozialer Ausrichtung) oder als Nebenzweck (KMU — Gewinnerzielung in Verbindung mit sozialen Zwecken). Es gilt festzuhalten, dass Sozialunternehmen trotz ihrer spezifischen Merkmale normaler Bestandteil der Wirtschaft sind.

3.5

Da viele Unternehmen heute auf die eine oder andere Weise sozial oder ökologisch engagiert sind, können sie nicht alle als Sozialunternehmen klassifiziert werden. Einige Unternehmen sind im Bereich der sozialen Unternehmensverantwortung (CSR) engagiert, die von der Kommission definiert wird als die Verantwortung der Unternehmen für ihre Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt (7) — ein freiwilliges Engagement von in erster Linie gewinnorientierten Unternehmen.

3.6

Der EWSA betont daher, dass jede Initiative in diesem Bereich der SBI-Definition für Sozialunternehmen entsprechen muss, da sie die unterschiedlichen Modelle von Sozialunternehmen in den Mitgliedstaaten beinhaltet. Gemäß SBI „zählen für die Sozialunternehmen als Akteure der Sozialwirtschaft eher die gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Arbeit als die Erwirtschaftung von Gewinnen für ihre Eigentümer oder Partner“, und sie erfüllen drei Hauptkriterien (8).

3.7

Vor diesem Hintergrund hält es der EWSA für entscheidend, maßgeschneiderte Finanzsysteme anzubieten mit einer breiten Palette von Instrumenten, Modellen und Produkten für alle verschiedenen Formen und Strukturen — von sozial verantwortlichen Unternehmen bis hin zu im Sozialbereich tätigen Unternehmen der Sozialwirtschaft, wobei zu berücksichtigen ist, dass sie nicht alle gleich sind. Wenngleich Initiativen für sozialwirksame Investitionen vorwiegend auf letztere abzielen, so haben doch KMU ähnliche Probleme in puncto Kreditzugang, die auch einer umfassenden Lösung zugeführt werden müssen.

3.8

Nach Auffassung des EWSA muss die Finanzierung sozialer Innovation das gesamte Spektrum der Finanzierungsquellen mit verschiedenen Renditeerwartungen — von Subventionen bis hin zu Investitionen — umfassen, wobei die bestehenden Geschäftsmodelle von Sozialunternehmern zu berücksichtigen sind. Dies steht im Widerspruch zu der am häufigsten verwendeten Definition der GIIN (9), derzufolge Investitionen mit sozialen Auswirkungen Investitionen in Unternehmen, Organisationen und Fonds sind mit der Absicht, neben finanzieller Rendite einen messbaren sozialen und ökologischen Nutzen zu erzielen. Der EWSA ist der Ansicht, dass diese Definition weder der bereits bestehenden und noch weiter auszubauenden Vielfalt sozialer Investitionen gerecht wird noch dem Ziel der Erschließung neuer Finanzquellen zum Zwecke des sozialen Fortschritts. Soziale Investitionen werden bei dieser Definition vorwiegend aus der Perspektive privater Anleger gesehen, die Verbindung zu sozialpolitischen Innovationen fehlt.

3.9

Ein entscheidender Aspekt von Investitionen mit sozialen Auswirkungen betrifft die Messung der sozialen Wirkung der Investitionen. In seiner Stellungnahme zum Thema „Social Impact Measurement — Messung der sozialen Wirkung“ (10) vertritt der EWSA die Auffassung, dass die Messung der sozialen Wirkung die soziale Aufgabe unterstützen, verhältnismäßig sein und der Tatsache Rechnung tragen sollte, dass die Wirkung mit einer Vielzahl unterschiedlicher Methoden gemessen werden kann und von den Aktivitäten der Unternehmen abhängt. Ähnliche Grundsätze werden in dem im Juni 2014 von der Untergruppe GECES angenommenen Bericht postuliert (11). Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten und die einschlägigen Interessenträger auf, diese europäischen Arbeiten und Praktiken zur Grundlage zu nehmen, anstatt neue Methoden zu erfinden. Außerdem sollten jedwede neue Vorschriften zur Unterstützung des Europäischen Fonds für soziales Unternehmertum verhältnismäßig sein und den Bedürfnissen und begrenzten Mitteln von Sozialunternehmen, in die investiert werden soll, Rechnung tragen.

4.   Die Perspektive der Sozialunternehmen

4.1

Für die umfassende Erschließung der Potenziale der Sozialwirtschaft bedarf es eines vernetzten Finanzsystems, das auf dem bestehenden ethischen und alternativen Finanzsystem aufbaut — und nicht mit herkömmlichen Finanzinstrumenten operiert und nicht in erster Linie auf die Perspektive der Anleger konzentriert ist.

4.2

Wie in einer früheren Stellungnahme bereits ausgeführt (12), besteht die Gefahr, dass als Eigenkapitalinstrument konzipierte soziale Investitionen für viele Unternehmen der Sozialwirtschaft schwer zugänglich sind, da Eigentum und Kontrolle mit den Modellen, Werten und Rechtsformen sozialwirtschaftlicher Unternehmen evtl. nicht kompatibel sind.

4.3

Deshalb ist der EWSA der Auffassung, dass bei sozialwirkungsorientierten Investitionen hybride Kapitallösungen bevorzugt werden sollten. Bei diesen Modellen gemischten Kapitals werden Finanzhilfen mit langfristigen, „geduldigen“ Darlehen u.Ä. kombiniert, wobei staatliche Beteiligungen bzw. staatliche Garantien für Langfristigkeit und Dauerhaftigkeit sorgen.

4.4

Der EWSA fordert die Kommission auf, als ersten Schritt in diesem neuen Bereich bewährte Verfahren in Bezug auf die verschiedenen Modelle sozialwirksamer Investitionen und Finanzierungen, die derzeit entwickelt werden, zu fördern. Bei dieser Überprüfung könnten die Chancen und Herausforderungen spezifischer Instrumente und Kapitalformen und ihrer Anbieter — wie die derzeit diskutierten Sozialanleihen (13), „Community Reinvestment Acts“ (CRA) oder die italienischen Sozialanleihen (14) — bewertet werden.

4.5

Da es diese innovativen Finanzierungsinstrumente derzeit vorwiegend auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene gibt, besteht nur ein begrenztes grenzübergreifendes Interesse. Der EWSA ist deshalb der Auffassung, dass die EU zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine weiteren Anreize für einen europäischen Markt für sozialwirkungsorientierte Investitionen setzen muss.

4.6

Weitere spezifische Merkmale von Sozialunternehmen müssen im Zusammenhang mit sozialwirksamen Investitionen berücksichtigt werden, u. a.: Veräußerung, langfristige statt kurzfristige Anlagen, Auswirkungen auf die Kontinuität der Dienstleistungserbringung, Auswirkungen auf den sozialen Auftrag sozialwirtschaftlicher Unternehmen usw.

4.7

Anreize wie z. B. steuerliche Anreize sollten als Teil des Ertragsmodells ebenfalls gründlicher untersucht werden, ebenso wie die Frage, wie ein Gleichgewicht zwischen den Anreizen für die Anleger und der Marktrendite, die sie erwarten, erzielt werden kann. Die Renditen sollten bei Beteiligung öffentlicher Mittel oder Anreize die aktuellen Marktrenditen nicht übersteigen dürfen. Die Kommission sollte einen Überblick über die verschiedenen Arten von Investitionsanreizen und die finanziellen und/oder sozialen Renditen in den Mitgliedstaaten erstellen. Es könnte sinnvoll sein, die Pensionsfonds aufzufordern, solche Investitionen als Teil eines diversifizierten Portfolios in Erwägung zu ziehen.

4.8

Ferner ist wichtig, dass die Kommission den Fortschritt von Investitionen mit sozialen Auswirkungen regelmäßig überwacht um sicherzustellen, dass die Hauptzielgruppen der Sozialunternehmen und der Sozialwirtschaft effektiv einen besseren Zugang zu geeignetem Kapital haben.

5.   Weitere Überlegungen zu Investitionen mit sozialen Auswirkungen und den politischen Rahmenbedingungen

5.1

Angesichts der Bedeutung des Zugangs zu angemessenen Finanzmitteln über den gesamten Lebenszyklus eines Unternehmens müssen alle Entwicklungen in einem politischen Rahmen für soziale Finanzierungen und Investitionen stattfinden, der sozialwirtschaftliche Unternehmen auf Ebene der Mitgliedstaaten unterstützt. Dadurch soll vermieden werden, dass einige Mitgliedstaaten, anstatt breite politische Rahmenbedingungen zu schaffen, lediglich einzelne Instrumente erproben.

5.2

Ebenso wichtig ist es, allen Arten von — öffentlichen, privaten und zivilgesellschaftlichen — Anlegern Rechnung zu tragen. Um bestmögliche Partnerschaften und Ergebnisse sicherzustellen, müssen ihre individuellen Motive und Erwartungen berücksichtigt werden. Am wichtigsten ist indes, dass die Schaffung einer Infrastruktur für Investitionen mit sozialen Auswirkungen die Sozialstaatsmodelle in Europa positiv beeinflusst. Die Maßnahmen sollten behutsam im nationalen Kontext entwickelt werden und das Ziel verfolgen, dass sozialwirtschaftliche Unternehmen und der öffentliche Sektor gemeinsam die Sozialsysteme stärken, während gleichzeitig der allgemeine Zugang zu hochwertigen und erschwinglichen Dienstleistungen sichergestellt wird.

5.3

In diesem Zusammenhang spielen die Regierungen eine zentrale Rolle als „Käufer“ sozialer Auswirkungen, aber primär sind sie die Hauptverantwortlichen für die Wahrung sozialer Rechte. Initiativen für die Schaffung eines Marktes für Sozialinvestitionen müssen von der Perspektive eines positiven Beitrags für das Gemeinwohl ausgehen. Das heißt nicht, dass sich die Regierungen aus ihrer Verantwortung stehlen dürfen, sozialpolitische Maßnahmen durchzuführen, für soziale Sicherheit zu sorgen und soziale Dienstleistungen zu erbringen.

5.3.1

Der EWSA unterstützt die Diskussion der Kommission, im Sinne der goldenen Finanzierungsregel („golden rule“) auch Sozialinvestitionen im Kontext des fiskalischen Regelwerks der WWU aus der Berechnung staatlicher Nettodefizite auszunehmen (15).

5.4

Die Stellungnahme des EWSA zum Sozialinvestitionspaket und damit verbundene Arbeiten (16) sollten in diesem Kontext berücksichtigt werden. Darin werden innovative Finanzierungsmöglichkeiten gefordert und es wird anerkannt, dass gut konzipierte, effiziente und wirksame Sozialinvestitionen die sozialen Auswirkungen maximieren, und dass Investitionen in den Wohlfahrtsstaat sozialen Fortschritt bringen und künftige soziale Kosten senken.

5.5

Investitionen in sozialwirtschaftliche Unternehmen sind besonders komplex, da die erbrachten Dienstleistungen häufig hilfsbedürftige Menschen betreffen. Der Erfolg der Maßnahmen hängt ab von den Ressourcen, der Flexibilität bei der Anpassung an sich verändernde Bedingungen und der Gewährleistung der Dienstleistungskontinuität. Der Einsatz herkömmlicher Investitionen und die Anwendung der Marktlogik wollen in diesem Bereich sorgsam überlegt sein, um negative Auswirkungen für die zentrale Zielgruppe, die Endnutzer, zu vermeiden.

5.6

Investitionen mit sozialen Auswirkungen müssen auch im breiteren Kontext der Finanzierung des öffentlichen Beschaffungswesens und der öffentlichen Auftragsvergabe gesehen werden. Sozialwirksame Investitionen zur Förderung der Innovation machen ein anderes Verhältnis zwischen den Interessenträgern erforderlich, das auf Partnerschaftlichkeit beruht und bei dem die Behörden eine zentrale Rolle spielen.

5.7

Da die Sozialwirtschaft in vielen Staaten immer noch schwach entwickelt ist, will jede Initiative im Bereich der Investitionen mit sozialen Auswirkungen sorgsam überlegt sein. Ein Markt für Sozialinvestitionen braucht Angebot und Nachfrage — und deshalb eine gut entwickelte Sozialwirtschaft. Die Schaffung einer nachhaltigen Sozialwirtschaft kommt vor der Entwicklung eines Marktes für Sozialinvestitionen.

5.8

In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass Sozialunternehmen in einem zivilgesellschaftlichen Kontext entstehen. Die Unterstützung einer unabhängigen und nachhaltigen Zivilgesellschaft ist daher von zentraler Bedeutung für die Entwicklung von Sozialunternehmen — ebenso wie der Dialog mit der Sozialwirtschaft in allen Phasen.

5.9

Selbst wenn geeignete Finanzierungen (Investitionen mit sozialen Auswirkungen o.Ä.) zur Verfügung stehen, wird dieser Markt ohne einen Kapazitätsaufbau im Bereich Messung der sozialen Wirkung und ohne Programme zur Förderung der Investitionsbereitschaft nicht voll funktionstüchtig sein. Die Entstehung von Erbringern solcher Dienstleistungen im Bereich Kapazitätsaufbau, die häufig selbst sozialwirtschaftliche Unternehmen sind, sollte gefördert werden. Es gilt auch, Schnittstellen zwischen Sozialunternehmen und der Welt der Investitionen mit sozialen Auswirkungen herzustellen, wobei spezielle Intermediäre eine zentrale Rolle spielen. Der EWSA warnt indes davor, zu viele Zwischenebenen oder übergreifende Akteure einzuschalten. Denn echte soziale Innovationspartnerschaften basieren auf direkten und engen Kontakten zwischen den (häufig im kleinen und lokalen Rahmen tätigen) Interessenträgern, um Vertrauen aufzubauen, und sie tun dies nicht über Intermediäre.

5.10

Der EWSA unterstreicht, dass eindeutig unterschieden werden muss zwischen der sozialen Wirkung eines Sozialunternehmens als solches und den sozialen Auswirkungen infolge einer spezifischen Tätigkeit oder eines Programms des Unternehmens. Sozialunternehmen sollten stets arbeitsrechtliche Vorschriften, Arbeitnehmerrechte und einschlägige Tarifverträge einhalten.

5.11

Die Unterstützung für die Sozialwirtschaft und Sozialunternehmen erfordert einen holistischen Ansatz bezüglich des Ursprungs, der Triebkräfte und der Weiterentwicklung großer Ideen. Bei all diesen Punkten sind die Regierungen und die privaten Anleger gefordert, über den Tellerrand zu schauen und Investitionskapital bereitzustellen, um die sozialwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Potenziale voll auszuschöpfen. Für die Schaffung eines günstigen Umfelds für die Sozialwirtschaft in Europa sind neben dem Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten weitere Schlüsselkomponenten erforderlich. Der EWSA appelliert daher an die Mitgliedstaaten, die Möglichkeiten im Rahmen der Initiative für soziales Unternehmertum (SBI) zu nutzen und nationale Unterstützungspläne für den Sektor zu entwickeln. Er fordert die Kommission auf, ein federführendes Referat damit zu beauftragen, eine zweite Phase der SBI für die kommenden Jahre zu konzipieren.

Brüssel, den 11. September 2014.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2013) 83 final.

(2)  In der auch als „dritter Sektor“ bezeichneten Sozialwirtschaft sind nichtstaatliche Akteure tätig, wie zum Beispiel örtliche Vereine, Freiwilligenorganisationen und Sozialunternehmen, deren Aktivitäten auf sozialen Nutzen ausgerichtet sind. Bei Sozialunternehmen handelt es sich um Unternehmen, die vorrangig soziale Ziele verfolgen und ihre Überschüsse in der Regel wieder in das Unternehmen oder in die Gemeinschaft investieren, anstatt die Gewinne an Eigentümer und Anteilseigner auszuschütten.

(3)  COM(2011) 682 final.

(4)  ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 22, ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 1, ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 44, ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 55 und ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 18.

(5)  Dieses Interesse besteht auch seitens privater Anleger von der Risikokapitalbranche bis hin zu Pensionsfonds, öffentlichen und privaten Banken und Netzen wie TONIIC, EVPA und das Ashoka Support Netzwerk.

(6)  https://www.gov.uk/government/groups/social-impact-investment-taskforce

(7)  http://ec.europa.eu/enterprise/policies/sustainable-business/corporate-social-responsibility/index_en.htm

(8)  COM(2011) 682 final, S. 2.

(9)  Definition des Global Impact Investment Networks, http://www.thegiin.org/cgi-bin/iowa/aboutus/index.html

(10)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 18.

(11)  http://ec.europa.eu/internal_market/social_business/docs/expert-group/social_impact/140605-sub-group-report_en.pdf

(12)  ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 55.

(13)  https://www.gov.uk/social-impact-bonds

(14)  http://www.ubibanca.com/page/ubicomunita-social-bond

(15)  ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21.

(16)  ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 91 und ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

501. Plenartagung des EWSA vom 10./11. September 2014

19.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 458/19


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter

COM(2014) 212 final — 2014/0120 (COD)

(2014/C 458/04)

Berichterstatter:

Oliver RÖPKE

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 16. April bzw. 6. Mai 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 50 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter

COM(2014) 212 final — 2014/0120 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 15. Juli 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 501. Plenartagung am 10./11. September 2014 (Sitzung vom 10. September) mit 127 gegen 50 Stimmen bei 15 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie über Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter (Societas Unius Personae — SUP)  (1) soll die grenzüberschreitende Tätigkeit von KMU erleichtern. In seiner derzeitigen Form erscheint der Vorschlag dem EWSA nicht ausgereift, da eine Vielzahl von Bestimmungen ernsthafte potenzielle Risiken für den seriösen Geschäftsverkehr im Binnenmarkt und für die Interessen von Gläubigern, Verbrauchern und Arbeitnehmern birgt. Der EWSA empfiehlt der Kommission daher nachdrücklich, die in dieser Stellungnahme enthaltenen Vorschläge zu berücksichtigen und umzusetzen.

1.2

Die gewählte Rechtsgrundlage (Art. 50 AEUV) ist nicht überzeugend und scheint vor allem den Zweck zu verfolgen, das Einstimmigkeitserfordernis im Rat zu umgehen und ein Scheitern wie bei der Europäischen Privatgesellschaft (EPG) zu vermeiden. Auch wenn die SUP formell als alternative Gesellschaftsform in den nationalen Rechtsordnungen verankert sein soll, werden die wesentlichen Wesensmerkmale der SUP eindeutig durch supranationales Recht vorgegeben. Die zutreffende Rechtsgrundlage wäre deshalb Art. 352 AEUV.

1.3

Der EWSA unterstützt das Anliegen, vor allem den KMU eine möglichst einfache Gründung einer Gesellschaft zu ermöglichen. Das vorgeschriebene Mindeststammkapital für eine SUP in Höhe von 1 Euro und das Verbot einer Verpflichtung zur Rücklagenbildung stellen aber de facto eine Haftungsbeschränkung zum „Nulltarif“ dar. Sie könnten die Marktteilnehmer dazu veranlassen, vom Inhaber des Unternehmens persönliche Garantien zu fordern, um so Sicherheiten für Dritte (Verbraucher, Lieferanten, Gläubiger) zu erhalten, welche die Vorteile der Haftungsbeschränkung aufheben.

1.4

Der EWSA unterstreicht das Erfordernis, die Schaffung gesunder Unternehmen zu fördern, und schlägt deshalb vor, ein substantielles und dem Geschäftszweck angemessenes Stammkapital in Form einer „Seriositätsschwelle“ für die SUP vorzuschreiben, um auch den Interessen von Gläubigern, Verbrauchern, Arbeitnehmern und der Allgemeinheit Rechnung zu tragen und eine Gefährdung des Geschäftsverkehrs zu vermeiden. Hierbei könnte auch auf Erfahrungen in einigen Mitgliedstaaten zurückgegriffen werden, in denen eine Herabsetzung des sofort einzuzahlenden Stammkapitals durch ein „Ansparmodell“ kompensiert wird, bei dem in den folgenden Jahren Rücklagen zu bilden sind, um eine dauerhafte Unterkapitalisierung zu verhindern. Im Sinne der „Firmenklarheit“ sollte dem Namen einer SUP auch der Hinweis auf die Haftungsbeschränkung sowie auf das Land der Eintragung hinzugefügt werden.

1.5

Der EWSA ist der Ansicht, dass eine SUP nicht an einem Ort registriert werden soll, an dem sie keinerlei wirtschaftliche Tätigkeit ausübt (Briefkastenfirmen). Die erstmals für eine europäische Gesellschaftsform vorgesehene Trennung von Satzungs- und Verwaltungssitz stellt deshalb einen Präzedenzfall dar, der beim EWSA auf Bedenken stößt. Gemeinsam mit der Vorschrift, dass für die SUP das Recht jenes Staates gelten soll, in dem sie eingetragen ist, kann sie zu einer Gefährdung der Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer führen, aber auch zur Umgehung nationaler steuerrechtlicher Regelungen.

1.6

Durch eine formale Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes und dem daraus folgenden Wechsel des Gesellschaftsstatuts ist eine Aushebelung der Mitbestimmungsrechte in den Unternehmensorganen (Aufsichtsrat oder Verwaltungsrat) nicht auszuschließen. Der EWSA spricht sich deshalb ausdrücklich für die Einheit von Satzungs- und Verwaltungssitz der SUP aus, wie sie auch für andere supranationale Rechtsformen vorgesehen ist (SE, Europäische Genossenschaft). Außerdem ruft der EWSA dazu auf, die Mitbestimmungsrechte eines Mitgliedstaates zu gewährleisten, in dem eine SUP ihre wesentliche wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, und unfairem Wettbewerb nachdrücklich entgegenzuwirken. Der EWSA erachtet es daher für erforderlich, die SUP auch in Bezug auf die Arbeitnehmermitbestimmung einheitlich zu regeln.

1.7

Im Sinne der Unternehmensgründer erscheint dem EWSA die Sicherstellung einer raschen Gesellschaftsgründung innerhalb eines angemessenen Zeitraumes wichtig. Die Registrierung einer SUP im reinen Online-Verfahren kann jedoch Probleme und Gefahren aufwerfen, wenn keine Identitätskontrolle des Gesellschaftsgründers erfolgt. Der Wegfall von Identitätsprüfungen würde die Intransparenz hinsichtlich der Geschäftspartner fördern, die Seriosität des Rechtsgeschäftsverkehrs untergraben und die Interessen der Verbraucher schwächen. Das Entstehen von „Briefkastenfirmen“ sowie von Scheinselbständigkeit würde gefördert und erleichtert. Um dem Wunsch nach einer Online-Registrierung dennoch Rechnung zu tragen, sollte den Mitgliedstaaten freigestellt werden, sie fakultativ vorzusehen. In diesem Fall muss sie aber mit einer Vorprüfung der Identität sowie einer Aufklärung und Beratung des Gründers durch die zuständige Behörde und/oder Notare verbunden werden.

1.8

Der EWSA begrüßt die Absicht, vor allem den KMU (einschließlich Start-up- und Mikrounternehmen) das Agieren im Binnenmarkt durch eine neue Gesellschaftsrechtsform zu erleichtern. Um eine Förderung der KMU im Rahmen des Richtlinienvorschlags sicherzustellen, bedarf es einer Beschränkung des Geltungsbereichs der Richtlinie auf diese Unternehmen. Dieses Instrument ist nicht dafür gedacht, international agierenden Konzernen die Möglichkeit zu eröffnen, Tochtergesellschaften mit hunderten oder tausenden Arbeitnehmern als SUP zu führen. Der EWSA schlägt deshalb vor, dass die SUP nur Unternehmen offenstehen soll, die die Kriterien von Art. 3 Abs. 2 (2) der Richtlinie 2013/34/EU (Rechnungslegungsrichtlinie) (3) erfüllen. Dies würde bedeuten, dass eine SUP ab einer bestimmten Größe eine andere Unternehmensform annehmen muss.

1.9

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei einer Verabschiedung des Richtlinienvorschlags nationale Grundsätze des Gesellschaftsrechts für Kapitalgesellschaften in zahlreichen Mitgliedstaaten in Frage gestellt würden. Im Zusammenhang mit der gewählten Rechtsgrundlage zweifelt der EWSA an der Vereinbarkeit des Vorschlags mit dem Subsidiaritätsprinzip. Aus diesem Grund fordert der EWSA, dass die SUP nur von grenzüberschreitend tätigen Unternehmen in Anspruch genommen werden darf, die zum Zeitpunkt der Eintragung in mindestens zwei Mitgliedstaaten tätig sind oder glaubhaft nachweisen, dass sie spätestens binnen eines bestimmten Zeitraums (etwa zwei Jahren) nach ihrer Registrierung in mindestens zwei Mitgliedstaaten tätig sein werden. Der Verordnungsvorschlag über das Statut der Europäischen Stiftung (FE) (4) sowie der Zwischenbericht des Europäischen Parlaments dazu können hierfür als Vorbild dienen.

1.10

Aus den dargelegten Gründen würdigt der EWSA zwar die gesellschaftsrechtlichen Bemühungen der Kommission für die KMU, sieht aber noch erheblichen Diskussionsbedarf hinsichtlich des konkreten Inhalts der Richtlinie. Um zu einer positiven Beurteilung des Vorschlags zu kommen, sieht es der EWSA als unerlässlich an, dass die in dieser Stellungnahme gemachten Vorschläge umgesetzt werden. Insbesondere sollte nun in enger Abstimmung mit den betroffenen Interessenträgern, die im Vorfeld leider nicht gleichermaßen von der Kommission konsultiert wurden, eine ausgewogene Lösung gefunden werden.

2.   Allgemeine Bemerkungen zu dem Richtlinienvorschlag

2.1

Bereits 2008 wollte die EU-Kommission mit dem Vorschlag für ein Statut der Europäischen Privatgesellschaft (EPG) (5) den KMU ein einfaches, flexibles und in allen Mitgliedstaaten einheitliches Instrument zur Erleichterung grenzüberschreitender Tätigkeiten zur Verfügung stellen. Diese Initiative scheiterte letztlich im Rat, worauf die Kommission im Rahmen des REFIT-Programms die Zurückziehung des EPG-Vorschlags ankündigte (6).

2.2

In einer allgemeinen öffentlichen Konsultation zur Zukunft des Gesellschaftsrechts (Februar 2012) und einer ausführlicheren Online-Konsultation zu Einpersonengesellschaften (Juni 2013) gab die Kommission interessierten Kreisen die Möglichkeit zur Stellungnahme. Anschließend fand am 13. September 2013 ein Treffen der GD Binnenmarkt und Dienstleistungen mit Wirtschaftsvertretern zur geplanten Initiative der Kommission statt. Daran nahmen nach Kommissionsangaben unter anderem Businesseurope, die European Small Business Alliance, Industrie- und Handelskammern sowie Eurochambers teil. Offenbar waren weder Arbeitnehmervertreter eingeladen noch fanden gleichwertige Beratungen mit den Gewerkschaften und Verbraucherverbänden statt.

2.3

Die Kommission stellte daraufhin am 9. April 2014 ihren Vorschlag für eine Richtlinie über Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter vor (SUP), der ausdrücklich als Alternative zur EPG bezeichnet wird. Ziel ist es, den KMU die Gründung von Gesellschaften im Ausland zu erleichtern.

2.4

Die Mitgliedstaaten sollen in ihren Rechtsordnungen nationale Gesellschaftsformen vorsehen, für die in der gesamten EU dieselben Vorschriften und die unionsweite Abkürzung SUP (Societas Unius Personae) gelten würden. Explizites Ziel des Vorschlags ist die Senkung von Einrichtungs- und Betriebskosten. Vorgesehen sind ein erleichtertes Online-Eintragungsverfahren und der fast gänzliche Verzicht auf ein Mindestgründungskapital. Die Gläubiger sollen durch die Pflicht des/der Geschäftsführer zur Kontrolle der Gewinnausschüttungen geschützt werden.

2.5

Die Mitgliedstaaten sollen nicht mehr vorschreiben dürfen, dass sich der satzungsmäßige Sitz und die Hauptverwaltung der Gesellschaft in demselben Mitgliedstaat befinden müssen. Damit wird erstmals für eine europäische Gesellschaftsform die Sitztrennung für zulässig erklärt. Dabei soll auf die SUP das Recht jenes Mitgliedstaates angewendet werden, in dem sie eingetragen ist. Die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer werden im Kommissionsvorschlag mit keinem Wort angesprochen.

2.6

Die Kommission hält fest, dass mit dem vorliegenden Entwurf keine „neue supranationale Rechtsform für Einpersonengesellschaften“ vorgeschlagen werde, sondern „Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit“ schrittweise aufgehoben werden sollen. Deswegen stützt sie den Vorschlag auf Art. 50 Absatz 2 Buchstabe f AEUV.

3.   Einleitende Feststellungen

3.1

Die Erfahrungen in einzelnen Mitgliedstaaten zeigen, dass es in einigen Branchen für einzelne Unternehmen attraktiver ist, eine selbständige „Ich-AG“ zu beauftragen, als eine Person als Arbeitnehmer zu beschäftigen. Nicht selten werden dadurch nationale Tarifverträge umgangen. Die vorgeschlagene Richtlinie würde durch die leichte Gründungsmöglichkeit der SUP bei gleichzeitiger Haftungsbeschränkung ohne Kapitaleinsatz sowie möglicher Trennung von Satzungs- und Verwaltungssitz der Scheinselbstständigkeit noch weiter Vorschub leisten. Dies trifft typischerweise auch diejenigen, die eine schwache Position am Arbeitsmarkt haben und für die der Schutz des Arbeitsrechts und der Kollektivverträge am wichtigsten ist.

3.2

Der EWSA erkennt an, dass sich die überwältigende Mehrheit der Unternehmen und Arbeitnehmer in der EU an die für sie geltende Rechtsordnung hält. Aufgrund der Ausgestaltung der SUP sieht der EWSA im vorgeschlagenen Konstrukt aber die potenzielle Gefahr, dass Unternehmensbetrug, andere kriminelle Machenschaften (z. B. Geldwäsche) oder Scheinselbstständigkeit zunehmen werden. So können etwa Personen ihren „virtuellen“ Registersitz nach Belieben wählen, verschieben oder durch europaweit verzweigte Schachtelkonstruktionen ihre Identität verschleiern. Der Richtlinienentwurf steht somit auch im Widerspruch zu den europäischen Bemühungen zur Bekämpfung der Geldwäsche.

3.3

Es ist zu bezweifeln, dass die positiven Bemühungen der Kommission, die grenzüberschreitende Tätigkeit von KMUs zu fördern, mit diesem Richtlinienentwurf erreicht werden. Der EWSA ist der Auffassung, dass einige Mitgliedstaaten bereits früher, im Rahmen der Verhandlungen zur Europäischen Privatgesellschaft, für ein substanzielles Mindestkapital, die Einheit von Satzungs- und Verwaltungssitz sowie einheitliche Mitbestimmungsstandards eingetreten sind. Der EWSA erachtet es als nicht zielführend, dass die berechtigten Forderungen jener Mitgliedstaaten im nun vorliegenden Entwurf nicht beachtet wurden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Rechtsgrundlage und Anwendungsbereich

4.1.1

Die Kommission will mit dem neuen Richtlinienvorschlag über Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter faktisch die Europäische Privatgesellschaft auf diesem Weg erreichen. Die Regelungsdichte der neuen Rechtsform, SUP, ist im Wesentlichen identisch mit jener, wie sie für die Europäische Privatgesellschaft vorgesehen war. Die SUP soll nicht nur einen einheitlichen europäischen Namen haben, sondern darüber hinaus sind auch alle wesentlichen Merkmale der SUP (Gründung, Mindeststammkapital, Registersitz, Satzung) durch supranationales Recht zwingend vorgegeben. In materieller Hinsicht muss die SUP wohl als supranationale Rechtsform bezeichnet werden, für die Art. 352 AEUV die zutreffende Rechtsgrundlage wäre.

4.1.2

Wenngleich es auch im Rahmen des SUP-Vorschlags letztlich 28 verschiedene SUP geben soll, so ist das kein Indiz für eine nationale Rechtsform. Auch die SE hat 28 unterschiedliche Ausprägungen, und ihr supranationaler Charakter wird nicht in Frage gestellt. Die Richtigkeit der von der Kommission für das Vorhaben verwendeten Rechtsgrundlage des Artikels 50 AEUV muss daher stark in Frage gestellt werden.

4.1.3

Der Vorschlag der Kommission entspricht auch nicht dem im Unionsvertrag verankerten Subsidiaritätsprinzip, weil er im Gegensatz zur SE oder SCE keine grenzüberschreitenden Voraussetzungen fordert und somit nicht nur für grenzüberschreitende sondern auch für rein nationale Sachverhalte konzipiert ist. Das heißt, auch wer beabsichtigt, sein Unternehmen ausschließlich im Inland zu betreiben, soll eine SUP ex nihilo gründen können. Auch eine Umwandlung der nationalen Rechtsform in eine SUP ohne grenzüberschreitenden Bezug soll durch die Richtlinie ermöglicht werden. Das Gemeinschaftsrecht schafft somit eine neue nationale Gesellschaftsform, die in direkter Konkurrenz zu den nationalen Rechtsformen steht. Unabhängig vom Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip, sieht schon Art. 50 Abs. 2 Buchst. f AEUV die Notwendigkeit von Standorten in unterschiedlichen Mitgliedstaaten vor. Aus diesem Grund fordert der EWSA, dass die SUP nur von grenzüberschreitend tätigen Unternehmen in Anspruch genommen werden darf, die zum Zeitpunkt der Eintragung in mindestens zwei Mitgliedstaaten tätig sind oder glaubhaft nachweisen, dass sie spätestens binnen eines bestimmten Zeitraums (etwa zwei Jahren) nach ihrer Registrierung in mindestens zwei Mitgliedstaaten tätig sein werden. Der Verordnungsvorschlag über das Statut der Europäischen Stiftung (FE) (7) sowie der Zwischenbericht des Europäischen Parlaments dazu können hierfür als Vorbild dienen.

4.1.4

Die Kommission betont, durch den Richtlinienvorschlag den KMU grenzüberschreitende Tätigkeiten und die Gründung von Tochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten zu erleichtern. Die Kommission verabsäumt allerdings, durch eine Eingrenzung des Geltungsbereichs die beabsichtigte KMU-Förderung entsprechend abzusichern. Um eine Förderung der KMU im Rahmen des Richtlinienvorschlags sicherzustellen, sollte daher der Geltungsbereich der Richtlinie auf KMU beschränkt werden. Als Abgrenzungskriterium eignet sich hierbei die Richtlinie 2013/34/EU (Rechnungslegungsrichtlinie) (8). Diese gilt für alle Kapitalgesellschaften und findet in der gesamten Union Anwendung. Nur Unternehmen, welche die Größenkriterien von Art. 3 Abs. 2 (9) der Richtlinie 2013/34/EU (10) erfüllen, sollten im Rahmen der SUP firmieren können. Dies würde bedeuten, dass eine SUP ab einer bestimmten Größe eine andere Unternehmensform annehmen muss. Aufgrund der Offenlegungsverpflichtungen kann die Einhaltung der Kriterien einfach überprüft und kontrolliert werden.

4.2   Online-Gründung und Mindeststammkapital

4.2.1

Das von der Kommission vorgesehene obligatorische elektronische Eintragungsverfahren kann die Intransparenz der SUP fördern, wenn keine Identitätskontrolle des Gründers vorgeschrieben wird. Aber auch für die Gründer ist eine Beratung über die mit einer Gesellschaftsgründung verbundenen Rechte und Pflichten von eminenter Bedeutung. Auf elektronischem Wege ist es schwer möglich, die Identität der Personen zu überprüfen. Die Bemühungen der Kommission zur Bekämpfung der Geldwäsche würden bei Online-Gründungen ohne Identitätsprüfung ebenfalls konterkariert.

4.2.2

Im Interesse der KMU erscheint dem EWSA die Festlegung einer „angemessenen Dauer“ für die Gründung einer SUP wichtig. Den Mitgliedstaaten sollte es freigestellt werden, ob sie eine Registrierung der SUP im Online-Verfahren vorsehen wollen. In diesem Fall sollte das elektronische Eintragungsverfahren aber mit einer Vorprüfung verbunden werden. Dadurch könnten die zuständigen Behörden und/oder Notare vor allem die Identität des Gründers überprüfen und ihn über wichtige Rechtsfolgen aufklären.

4.2.3

Durch die Abschaffung des Mindestkapitals bei gleichzeitiger beschränkter Haftung des Gesellschafters wird dem Gründer signalisiert, dass das unternehmerische Risiko von der Allgemeinheit übernommen wird. Dieses Signal ist falsch und widerspricht im höchsten Maße dem marktwirtschaftlichen Prinzip. Das Mindestkapital hat aber auch als Seriositätsschwelle große Bedeutung, weil es den Unternehmensgründern signalisiert, dass für die Inanspruchnahme einer Haftungsbeschränkung ein substanzieller Risikobeitrag zu leisten ist und somit Chancen und Risiken von Projekten sorgfältig abgewogen werden müssen. Ein substantielles und dem Geschäftszweck der Gesellschaft angemessenes Mindestkapital ist daher ein wesentliches Element eines jeden Unternehmens. Eine verpflichtende Rücklagenbildung wäre zudem eine geeignete Maßnahme, um die Eigenkapitalausstattung im Sinne einer Insolvenzprophylaxe zu stärken.

4.2.4

Nach Auffassung des EWSA kann eine Solvenzbescheinigung des Geschäftsführers kein substanzielles Mindestkapital mit entsprechenden Kapitalerhaltungsvorschriften ersetzen, zumal die Solvenzbescheinigung jedenfalls mit Unsicherheiten behaftet ist und das Risiko einer Fehlprognose zu Lasten der Gläubiger geht. Die Solvenzbescheinigung sollte von einem unabhängigen, externen Wirtschaftsprüfer unterzeichnet werden.

4.3   Registersitz

4.3.1

Durch die Trennung von Satzungs- und Verwaltungssitz kann sich die SUP sehr leicht jener Rechtsordnung entziehen, in deren Geltungsbereich sie tatsächlich tätig ist. Verschiedene Beispiele zeigen, dass dies zu Lasten des Gläubiger- und Konsumentenschutzes, aber auch der Arbeitnehmermitbestimmung geht, die dadurch leicht umgangen werden kann. Eine völlig freie, ohne örtlichen Tätigkeitsbezug losgelöste Wahl des Registersitzes fördert zudem die Missbrauchsgefahr, u. a. auch weil es jedenfalls viel leichter möglich sein wird, sich dem behördlichen Zugriff zu entziehen. Die Mitbestimmungsrechte eines Mitgliedstaates, in dem die SUP ihre wesentliche wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, dürfen nicht durch die Wahl des Registersitzes in einem anderen Mitgliedstaat umgangen werden. Es fehlt auch bislang ein einheitliches europäisches Unternehmensregister. Es wäre daher dringend notwendig, dies zu verbessern, bevor über weitere Liberalisierungen nachgedacht wird.

4.3.2

Bei einem Auseinanderfallen des satzungsmäßigen Sitzes und der Hauptverwaltung erschwert sich auch die Durchsetzung von Ansprüchen, weil allenfalls die Zustellung der Klage am satzungsmäßigen Sitz notwendig sein könnte bzw. ein rechtskräftig zugesprochener Anspruch im Land des Registersitzes vollstreckt werden müsste. Nach den bisherigen Erfahrungen ist die internationale Zustellung trotz der europarechtlichen Regelungen (EuZVO, VollstrTitelVO) schwierig, so dass sowohl die gerichtliche Geltendmachung als auch die Vollstreckung eines Anspruches beträchtlich mehr Zeit in Anspruch nehmen und sich schwieriger gestalten würde. Die Richtlinie sollte daher unbedingt die Identität von Satzungs- und Verwaltungssitz vorschreiben, wie dies vom Unionsgesetzgeber auch in den Fällen der Europäischen Gesellschaft (SE) und der Europäischen Genossenschaft (SCE) vorgesehen wurde.

4.4   Mitbestimmung und Corporate Governance

4.4.1

Eine Rechtsform, die unionsweit den gleichen Namen trägt und unionsweit die gleichen zentralen Eckpunkte aufweist, muss auch unionsweit je nach Unternehmensgröße einheitliche Mindeststandards in Bezug auf Einrichtung eines Aufsichtsorgans und die Arbeitnehmermitbestimmung aufweisen. Es sollten daher einheitliche Regelungen in Bezug auf die Notwendigkeit der Einrichtung eines Aufsichtsorgans (Aufsichtsrat bzw. nicht geschäftsführende Verwaltungsratsmitglieder) sowie der Arbeitnehmermitbestimmung (im Falle der Umwandlung analog zur SE-Regelung) in der SUP eingeführt werden. Ansonsten forciert der Richtlinienvorschlag ein „Forum-shopping“ und damit einen Wettbewerb in Richtung Aufweichung und Zerschlagung nationaler gesellschaftsrechtlicher Standards sowie Umgehung der Arbeitnehmermitbestimmung. Die Arbeitnehmermitbestimmung im Aufsichtsrat ist wesentlicher Baustein des europäischen Sozialmodells, Teil der europäischen Corporate Governance und muss vor Umgehungskonstruktionen geschützt werden. Im Sinne der „Firmenklarheit“ sollte jede SUP in ihrem Namen einen Hinweis auf die Haftungsbeschränkung und das Land ihrer Eintragung enthalten.

Brüssel, den 10. September 2014.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2014) 212 final.

(2)  Zwei der drei folgenden Größenmerkmale werden am Bilanzstichtag nicht überschritten: Bilanzsumme: 4 0 00  000 Euro; Nettoumsatzerlöse: 8 0 00  000 Euro; durchschnittliche Zahl der während des Geschäftsjahres Beschäftigten: 50.

(3)  ABl. L 182 vom 29.6.2013, S. 19.

(4)  COM(2012) 35 final.

(5)  COM(2008) 396 final.

(6)  Siehe Anhang zu COM(2013) 685 final.

(7)  Siehe Fußnote 4.

(8)  Siehe Fußnote 3.

(9)  Zwei der drei folgenden Größenmerkmale werden am Bilanzstichtag nicht überschritten: Bilanzsumme: 4 0 00  000 Euro; Nettoumsatzerlöse: 8 0 00  000 Euro; durchschnittliche Zahl der während des Geschäftsjahres Beschäftigten: 50.

(10)  Siehe Fußnote 3.


19.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 458/25


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Gasverbrauchseinrichtungen

COM(2014) 258 final — 2014/0136 (COD)

(2014/C 458/05)

Berichterstatter:

Pierre-Jean COULON

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 22. Mai 2014 bzw. am 3. Juli 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Gasverbrauchseinrichtungen

COM(2014) 258 final — 2014/0136 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 15. Juli 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 501. Plenartagung am 10./11. September 2014 (Sitzung vom 10. September) mit 142 gegen 1 Stimme bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Dieser Vorschlag steht im Einklang mit den Bemühungen der Europäischen Kommission, durch neue Impulse den freien Warenverkehr in der Union zu fördern.

1.2

Der EWSA begrüßt, dass hier die Rechtsform einer Verordnung gewählt wurde, wodurch dieses Thema, das die große Mehrheit der Unionsbürger direkt angeht, einen besonderen Stellenwert erhält und darüber hinaus die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in der EU gestärkt wird.

1.3

Der EWSA unterstreicht mit Nachdruck, dass die Sicherheit für Personen, Tiere und Güter in der gesamten Wertschöpfungskette an oberster Stelle steht — von der Konzipierung über die Herstellung, den Vertrieb und die Installierung bis hin zur Nutzung der betreffenden Geräte.

1.4

Vor dem Hintergrund möglicher Produktfälschungen fordert der EWSA zu erhöhter Wachsamkeit auf — insbesondere mit Blick auf Geräte, die in Drittstaaten hergestellt wurden.

1.5

Die Sanktionsvorschriften sind in diesem Zusammenhang strikt einzuhalten, und die Art und das Mindestmaß dieser Sanktionen müssen präzisiert werden.

1.6

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Bestimmungen bezüglich der Gasversorgungsbedingungen in den einzelnen Mitgliedstaaten besonders aufmerksam zu verfolgen. Zu diesem Zweck ist eine wirksame Koordinierung unter den einzelnen Generaldirektionen erforderlich.

2.   Der Verordnungsvorschlag, seine Folgen, Überlegungen

2.1

Die Richtlinie 2009/142/EG ist die kodifizierte Fassung der Richtlinie 90/396/EWG über Gasverbrauchseinrichtungen und stellt eine der ersten Harmonisierungsrichtlinien nach den Grundsätzen des „neuen Konzepts“ dar.

2.2

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Vorschlag das Vertrauen der Verbraucher in die Qualität der Produkte auf dem Markt gewährleistet und der Bedeutung einer stärkeren Marktüberwachung Nachdruck verleiht.

2.3

Aufgrund der vorliegenden Erfahrungen mussten einige der Bestimmungen der Richtlinie aktualisiert und klarer gefasst werden, ohne ihren Geltungsbereich dabei zu ändern: In Einzelnen geht es dabei um sektorspezifische Definitionen, den Inhalt und die Form der Mitteilungen aus den Mitgliedstaaten über ihre Gasversorgungsbedingungen und das Verhältnis zu anderen der Harmonisierung dienenden EU-Rechtsvorschriften, die für Gasverbrauchseinrichtungen gelten. Die vorgeschlagene Verordnung stützt sich selbstredend auf Artikel 114 des Vertrags.

2.4

Der EWSA befürwortet den Ersatz der derzeit geltenden Richtlinie durch eine Verordnung, die darauf abzielt, einige der Bestimmungen zu aktualisieren und klarzustellen, eine einheitliche Durchführung der vorgeschlagenen Rechtsvorschrift in der ganzen Union sicherzustellen und die Ungleichbehandlung der Wirtschaftsakteure in der EU zu beenden.

2.5

Darüber hinaus müssen die verbindlichen wesentlichen Anforderungen und die von den Herstellern einzuhaltenden Verfahren zur Konformitätsbewertung in allen Mitgliedstaaten identisch sein.

2.6

Gemäß dem Vorschlag soll die Richtlinie 2009/142/EG zudem an den NLF-Beschluss 768/2008/EG über einen neuen europäischen Rechtsrahmen und an das 2008 angenommene „Binnenmarktpaket für Waren“ (häufig als „Verheugen-Paket“ bezeichnet) angeglichen werden. In dem Vorschlag werden darüber hinaus die Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 sowie der Vorschlag der Kommission vom 13. Februar 2013 für eine Verordnung über die Marktüberwachung von Produkten berücksichtigt, der darauf abzielt, ein einziges Rechtsinstrument zu Marktüberwachungstätigkeiten einzuführen, welches für alle Gebrauchsgüter gelten soll.

2.7

Der Vorschlag umfasst in erster Linie:

die Streichung des Temperaturgrenzwerts von 105 oC,

die Einführung derzeit fehlender Begriffsbestimmungen in der Richtlinie 2009/142/EG sowie die Harmonisierung von Inhalt und Form für alle Mitgliedstaaten.

Der Vorschlag wird zu einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen führen.

2.8

Eine bessere Übersicht über die Versorgung der EU-Mitgliedstaaten mit Erdgas

2.8.1

Die bislang vorliegenden Informationen sind nicht ausreichend. In dem Vorschlag werden die Parameter festgelegt, die in den Mitteilungen enthalten sein sollten, damit die Kompatibilität der Geräte mit den verschiedenen Arten von Gas, mit dem die Mitgliedstaaten beliefert werden, besser gewährleistet ist, und er enthält ein einheitliches Formular für diese Mitteilungen. Der EWSA misst dieser Frage eine große Bedeutung bei, da einerseits der Zugang der Verbraucher zu Gas erleichtert werden soll, andererseits aber auch die Diversifizierung der Versorgung in den Mitgliedstaaten vorangetrieben werden muss. Zur Lösung dieser Frage ist eine wirksame Koordinierung unter den einzelnen Generaldirektionen (Unternehmen, Energie etc.) erforderlich.

2.9

Inverkehrbringen von Geräten und Ausrüstungen, Verpflichtungen der Wirtschaftsakteure, CE-Kennzeichnung, freier Verkehr:

In Übereinstimmung mit dem NLF-Beschluss enthält der Vorschlag die typischen Bestimmungen für produktbezogene Harmonisierungsrechtsvorschriften der Union, und es werden darin die Verpflichtungen der betreffenden Wirtschaftsakteure (Hersteller, Bevollmächtigte, Einführer, Händler etc.) festgelegt.

Die bestehende Bestimmung, nach der Ausrüstungen keine CE-Kennzeichnung tragen, wird in der vorgeschlagenen Verordnung beibehalten. Die Bescheinigung jedoch, die einer Ausrüstung beiliegen muss, wird künftig als „Konformitätsbescheinigung für Ausrüstungen“ bezeichnet, wodurch ihr Inhalt umfassender und besser definiert wird.

2.10

Harmonisierung, Notifizierung, Konformität

2.10.1

In der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 wird ein horizontaler Rechtsrahmen für die Normung festgelegt. Deshalb wurden die Bestimmungen der Richtlinie 2009/142/EG, die ebendiese Aspekte regeln, aus Gründen der Rechtssicherheit nicht erneut aufgenommen. Durch den Vorschlag, der in diesem Punkt dem NLF-Beschluss folgt, werden die Notifizierungskriterien für notifizierte Stellen verschärft und besondere Anforderungen an die notifizierenden Behörden eingeführt. Die Verfahren zur Konformitätsbewertung werden beibehalten. Es sei daran erinnert, dass sich aus der Konformität eine Haftung ergibt. Dadurch wird ein hohes Niveau beim Schutz der öffentlichen Interessen erreicht (Sicherheit, rationelle Energienutzung, Verbraucherschutz usw.).

2.11

Mit Blick auf die Verpflichtungen der Hersteller fordert der EWSA:

die Pflicht — und nicht nur die Möglichkeit —, ein Verzeichnis der Beschwerden über Geräte und der Rückrufe zu führen,

Verfahren zur Überprüfung der rationellen Energienutzung. Die betreffenden Geräte müssen im Einklang mit der Energiespar- und Energieeffizienzpolitik der EU stehen, die der EWSA nachdrücklich unterstützt.

2.12

Die vorgeschlagene Verordnung wird zwei Jahre nach ihrem Inkrafttreten anwendbar, um den Herstellern, den notifizierten Stellen, den Mitgliedstaaten und den europäischen Normungsgremien genügend Zeit für die Umstellung auf die neuen Anforderungen einzuräumen.

Brüssel, den 10. September 2014.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


19.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 458/27


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zur Strategie der Europäischen Union für die Region Adria-Ionisches Meer

COM(2014) 357 final

und zum Thema

EU-Strategie für die Region Adria-Ionisches Meer: Forschung, Entwicklung und Innovation in den KMU

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des italienischen Ratsvorsitzes)

(2014/C 458/06)

Berichterstatter:

Stefano PALMIERI

Die Europäische Kommission beschloss am 14. März 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zur Strategie der Europäischen Union für die Region Adria-Ionisches Meer

COM(2014) 357 final.

Mit Schreiben vom 3. Juni 2014 ersuchte der italienische Ratsvorsitz den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum Thema:

Die EU-Strategie für die Region Adria-Ionisches Meer: Forschung, Entwicklung und Innovation in den KMU

Das Präsidium des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt am 25. Februar 2014 bzw. 8. Juli 2014 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 501. Plenartagung am 10./11. September 2014 (Sitzung vom 11. September) Stefano PALMIERI zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 163 gegen 5 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Strategie der Europäischen Union für die Region Adria-Ionisches Meer (EUSAIR) (1) und hält diese für ein brauchbares Mittel, um die Wettbewerbsfähigkeit und das Beschäftigungswachstum zu unterstützen und zu fördern und dadurch den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt in der Region zu gewährleisten.

1.2

Der EWSA unterstreicht, dass die Region Adria-Ionisches Meer durch kulturelle, soziale und wirtschaftliche Unterschiede geprägt ist, die die Umsetzung von EUSAIR erheblich verkomplizieren. Deshalb muss eine Mehrebenen-Steuerung konzipiert werden, mit der die „vertikale Dimension“ (Beteiligung der Zentralregierungen, Regionen und Kommunen) und die „horizontale Dimension“ (Beteiligung der Zivilgesellschaft) wirksam miteinander verbunden werden können. Diesbezüglich ist nach Auffassung des EWSA die Einrichtung eines ständigen Forums zu erwägen.

1.3

Der EWSA ist der Auffassung, dass die deutliche Ausrichtung von EUSAIR auf den Balkan und den Donauraum mit einer ebenso bedeutsamen Berücksichtigung der anderen Gebiete des Mittelmeers — insbesondere mit Blick auf die Einbeziehung auch der Regionen rund um das Tyrrhenische und das Ägäische Meer in die Strategie — einhergehen muss. Ihre Einbeziehung würde den strategischen Wert und den Umfang der Entwicklungsmöglichkeiten steigern.

1.4

Der EWSA hält es für notwendig, EUSAIR um zwei weitere Strategien für den westlichen und den östlichen Mittelmeerraum zu ergänzen. Durch die Integration dieser drei Strategien würde die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des gesamten Mittelmeerraums effektiv gewährleistet werden.

1.5

Der EWSA begrüßt die starke politische Unterstützung für EUSAIR und hält diese für grundlegend, um die Strategie Europa 2020, die europäische Erweiterungspolitik und die Strategien zur regionalen Entwicklung wirksam miteinander zu verzahnen.

1.6

Der EWSA macht deutlich, dass sich die Beteiligung an der Programmplanung und Vorbereitung von EUSAIR nicht in allen betroffenen Gebieten gleichmäßig entwickelt hat. Hinzuweisen ist auf spezifische Probleme in den Balkanstaaten, insbesondere bezüglich der Beteiligung und Einbeziehung der KMU, der Gewerkschaften und der repräsentativen Verbände gesellschaftlicher Interessen.

1.7

Der EWSA ist der Auffassung, dass es sinnvoll wäre, den öffentlichen und privaten Wirtschaftsakteuren, den sozialen Akteuren und den verschiedenen Gruppen der organisierten Zivilgesellschaft in den verschiedenen Phasen der Umsetzung von EUSAIR eine angemessene Unterstützung und Begleitung mittels Programmen im Bereich der diesbezüglichen Ausbildung sowie organisatorischen und technischen Unterstützung zu gewähren.

1.8

Der EWSA begrüßt, dass EURAIR und die „Meeresstrategie für das Adriatische und das Ionische Meer“ einander ergänzen. Diese Strategien wurden wirksam mit den Prioritäten und Entwicklungschancen für die Gebiete im Landesinnern verknüpft. Derartige übergreifende Verknüpfungen sollten verstärkt gefördert werden, da sie einen Mehrwert bieten für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der KMU, den Umweltschutz und die Lebensqualität der Bürger.

1.9

Der EWSA stellt fest, dass die Beteiligung der Zivilgesellschaft an EURAIR mehr Gewicht haben muss, insbesondere in Bezug auf Kapazitätsaufbau und Governance. Die Koordinierung zwischen den bestehenden Mechanismen der Zusammenarbeit und Finanzierung muss unbedingt verbessert werden.

1.10

Der EWSA hält die Aktivitäten der Europäischen Kommission in der Vorbereitungs- und Präsentationsphase von EUSAIR für nützlich und ist der Auffassung, dass ihre Einbeziehung auch für die Unterstützung der Umsetzung der Strategie nötig ist — unter umfassender Wahrung der den beteiligten Staaten zugewiesenen institutionellen Aufgaben.

1.11

Der Ausschuss hält Struktur und Ziele von EUSAIR zwar für angemessen, um die Partner in der Region zu unterstützen und Herausforderungen anzugehen, die mit den herkömmlichen Mitteln nicht bewältigt werden können. Gleichwohl erachtet er eine diesbezügliche Aufwertung und Verstärkung für erforderlich.

1.12

KMU bedürfen unbedingt spezifischerer Unterstützung, insbesondere in Bezug auf ihren Kreditzugang. Es muss ein Verfahren konzipiert werden, um die Komplementarität und die Synergien zwischen den verschiedenen Finanzierungsprogrammen zu verbessern. Ferner muss ein Querschnittsansatz über alle vier Säulen festgelegt werden für Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen, der Gleichstellung der Geschlechter sowie der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen und von Zuwanderern.

1.13

Im Rahmen des „blauen Wachstums“ sind spezifische Maßnahmen erforderlich, die stärker auf die Schaffung neuer wirtschaftlicher Möglichkeiten und neuer Arbeitsplätze ausgerichtet sind.

1.14

In Bezug auf die Säule „Anbindung der Region“ müssen die Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit des Seeverkehrs, der Verbindung zwischen Meeres- und Küstengebieten und Gebieten im Hinterland sowie dem Ausbau und der Verknüpfung der Energienetze mehr Gewicht bekommen.

1.15

Was die „Umweltqualität“ betrifft, sollten bei den Maßnahmen mehr Verknüpfungen zwischen den verschiedenen (marinen und terrestrischen) Lebensräumen und den Zielen (Schutz der Fauna, Gesundheit und Sicherheit der Menschen) vorgesehen werden.

1.16

Bezüglich des nachhaltigen Fremdenverkehrs gilt es, Maßnahmen zur touristischen Nutzung der in der Region vorhandenen Schätze (natürliches, kulturelles und künstlerisches Erbe) zu fördern.

1.17

Der EWSA stellt fest, dass die sich aus den in der EUSAIR vorgesehenen Forschungs- und Innovationsaktivitäten ergebenden Chancen für KMU nicht ausreichen, um die Ankurbelung der Wettbewerbsfähigkeit und die Schaffung neuer Arbeitsplätze in der Region zu gewährleisten. Deshalb hält er es für nötig, Maßnahmen zu ergreifen, die es KMU erleichtern, Kreditzugang zu bekommen, private Investitionen anzuziehen, an Finanzierungsprogrammen der EU teilzunehmen und mit Forschungszentren und Universitäten zusammenzuarbeiten.

1.17.1

Zwecks Nutzung der Möglichkeiten im Bereich Forschung und Innovation hebt der EWSA folgende Prioritäten hervor:

Einrichtung einer transnationalen Plattform für Forschung, Entwicklung und Innovation (FEuI), an der KMU, Universitäten, Forschungszentren, Technologieinkubatoren und Unternehmen gemeinsam aktiv beteiligt sind. Ziel ist es, die Wettbewerbsfähigkeit von KMU mittels Umsetzung innovativer Ideen in marktgängige Produkte zu stärken;

Konzipierung von Analysen zur intelligenten Spezialisierung auf transnationaler Ebene zur Erkennung von Innovations- und Unternehmenspotenzialen;

Förderung einer größeren Beteiligung der Unternehmer am Entscheidungsprozess bezüglich FEuI-Maßnahmen;

Schaffung einer „Matchmaking-Plattform für die Region Adria-Ionisches Meer“ schaffen, um den Zugang von KMU und Jungunternehmern zur Innovationsfinanzierung zu erleichtern.

1.18

Der EWSA kritisiert, dass in der EUSAIR keine spezifischen Maßnahmen zur Aufwertung der sozialen Dimension in der Region vorgesehen wurden. Es sollten Prioritäten und Maßnahmen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen, zur Vorbeugung gegen Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft, des Alters, der sexuellen Ausrichtung oder des Geschlechts, sowie zur Bewältigung der sozialen Probleme aufgrund der irregulären Zuwanderung, die vor allem den Süden der Region betrifft, vorgesehen werden.

1.18.1

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Berücksichtigung und Stärkung der sozialen Dimension in der EUSAIR — im Einklang mit den Vorschlägen der Kommission — mittels der Förderung sozialer Investitionen und der sinnvollen Modernisierung der Sozialschutzsysteme erfolgen sollte, um:

sicherzustellen, dass die Sozialschutzsysteme den Bedürfnissen der Menschen in kritischen Lebenssituationen entsprechen;

angemessene und tragfähige Sozialschutzsysteme zu realisieren;

die Strategien der aktiven Inklusion zu optimieren.

1.19

Nach Ansicht des EWSA sollten spezifische Indikatoren festgelegt werden, die die Überwachung, Durchführung und Bewertung der Programme und Maßnahmen im Rahmen von EUSAIR ermöglichen.

2.   Die EU-Strategie für die Region Adria-Ionisches Meer: Allgemeine Bemerkungen

2.1

Ziel dieser Stellungnahme ist es, die Strategie der Europäischen Union für die Region Adria-Ionisches Meer (EUSAIR) und den zugehörigen Aktionsplan aus der Sicht der organisierten Zivilgesellschaft zu bewerten. Die Stellungnahme basiert auf den Schlussfolgerungen der Anhörung vom 27. Mai 2014 in Palermo (2) sowie anderen, vom EWSA verabschiedeten Stellungnahmen (3).

2.2

Der Start von EUSAIR findet zu einer Zeit statt, die durch die negativen Auswirkungen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft und durch strukturelle Veränderungen auf wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Ebene gekennzeichnet ist. Darauf muss reagiert werden, um die wirtschaftliche Entwicklung und das Wohlergehen der Bürger zu fördern.

2.3

EUSAIR zeichnet sich durch eine deutliche Ausrichtung auf den Balkan und den Donauraum aus. Wenngleich in der Strategie auch Regionen berücksichtigt werden, die am Ionischen und am Ägäischen Meer liegen, fehlt eine Verknüpfung mit der Entwicklungs- und Kohäsionspolitik für andere Regionen des Mittelmeers. Die Tatsache, dass eine wirksame Ausrichtung auf die Entwicklungspolitik für den gesamten Mittelmeerraum fehlt, birgt die Gefahr einer fortschreitenden Marginalisierung der Region Adria-Ionisches Meer.

2.4

EUSAIR darf nicht nur als ein Mittel zur Unterstützung des Prozesses der Integration der Balkanstaaten in die EU gesehen werden. Ihr strategischer Wert liegt vielmehr in der Möglichkeit, die europäische makroökonomische Politik, die Erweiterungspolitik und die regionalen Entwicklungsstrategien besser aufeinander abzustimmen.

2.5

Nicht alle öffentlichen, wirtschaftlichen und sozialen Akteure sind in der Lage, sich entsprechend an der Planung von EUSAIR zu beteiligen, so z. B. KMU, Gewerkschaften und soziale Interessenverbände auf dem Balkan.

2.6

Die Herausforderungen, die in der Region Adria-Ionisches Meer in den nächsten Jahren zu bewältigen sind, erfordern neben einer starken politischen Unterstützung eine größere Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Steuerung und der Umsetzung von EUSAIR — sowie eine Stärkung der Unternehmenswelt mittels Maßnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von KMU.

2.6.1

In diesem Kontext wäre es sinnvoll, den öffentlichen und privaten Wirtschaftsakteuren, den sozialen Akteuren und den verschiedenen Gruppen der organisierten Zivilgesellschaft in den verschiedenen Phasen der Umsetzung von EUSAIR eine angemessene Unterstützung und Begleitung mittels Programmen zur spezifischen Ausbildung sowie zur organisatorischen und technischen Unterstützung zu gewähren.

3.   Die EU-Strategie für die Region Adria-Ionisches Meer: Analysen und Bewertungen

3.1

Die Struktur von EUSAIR ist mit der der Ostsee- (4) und der Donaustrategie (5) vergleichbar. Sie ist abgestimmt auf die „Meeresstrategie für das Adriatische und das Ionische Meer“ (6), wobei die maritime Zusammenarbeit um die terrestrische Zusammenarbeit erweitert wird und so neue Entwicklungsmöglichkeiten zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und des Zusammenhalts der Region bietet.

3.2

Die in der EUSAIR aufgelisteten Herausforderungen beziehen sich auf: die sozioökonomischen Disparitäten, die die Region kennzeichnen; die Defizite bei den Verkehrsinfrastrukturen; die Überlastung des Seeverkehrs; den unzureichenden Verbund der Stromnetze; die fehlende Vernetzung zwischen Forschung und Unternehmen zur Unterstützung von KMU; die Überfischung; die Umweltgefahren aufgrund von Verschmutzung; die Notwendigkeit, eine extrem vielgestaltige Meeresumwelt zu schützen; die negativen Auswirkungen des Klimawandels und auf die unzureichenden institutionellen und administrativen Kapazitäten.

3.3

Die Region Adria-Ionisches Meer bietet erhebliche Entwicklungschancen, die zur Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenhalt genutzt werden sollten: blaue Wirtschaft, insbesondere die nachhaltige Erzeugung und der nachhaltige Verbrauch von Meeresfrüchten, der Meeres- und Küstentourismus, blaue Technologien, erneuerbare Energien, die Anbindung des Hinterlands an das Meer, der intermodale Verkehr sowie das natürliche, historische und kulturelle Erbe.

3.4

Der EWSA erachtet es nach der Analyse der vier prioritären Säulen und der beiden Querschnittsthemen für notwendig, EUSAIR durch verschiedene Ergänzungen aufzuwerten, damit die Strategie zu einem Erfolgsfaktor in puncto Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und des Zusammenhalts der gesamten Region wird.

3.4.1

Damit die Chancen, die die blaue Wirtschaft bietet, auch effektiv für die Entwicklung genutzt werden können, müssen Maßnahmen zur Erleichterung des Zugangs von KMU zu Krediten und öffentlichen Mitteln ergriffen, die Mobilität gefördert, die Qualifizierung der Arbeitskräfte verbessert und eine nachhaltige und verantwortungsbewusste Fischerei gefördert werden.

3.4.2

Die Verkehrsinfrastrukturen und die Verbindungen zwischen dem Meeres- und Küstenbereich und dem Hinterland sowohl im Güter- wie im Personenverkehr müssen ausgebaut werden.

3.4.3

Meeresumwelt und Hinterland müssen unbedingt im Rahmen integrierter Maßnahmen stärker geschützt werden, da der Schutz des Meeresökosystems durch nicht umweltgerechte Aktivitäten im Hinterland unterminiert werden kann.

3.4.3.1

Angesichts der geologischen Beschaffenheit des von EUSAIR betroffenen maritimen Raumes müssen neue Aktivitäten zur Exploration und Ausbeutung von Kohlenwasserstofflagerstätten sorgsam bewertet und von allen betroffenen Staaten gemeinsam beschlossen werden. Es muss eine strategische Umweltprüfung durchgeführt werden.

3.4.4

Der Tourismus muss besser mit dem natürlichen, kulturellen und künstlerischen Erbe der Region Adria-Ionisches Meer verbunden werden, um das territoriale Kapital in puncto Wettbewerbsfähigkeit und stabile Arbeitsplätze zu nutzen.

3.4.5

Die Hindernisse, die die Möglichkeiten der KMU bezüglich Forschung und Innovation einschränken, müssen überwunden und ihre Fähigkeit zur Mobilisierung privater Investitionen gefördert werden.

3.4.6

Es ist vordringlich, beim Kapazitätsaufbau nicht nur die öffentlichen Verwaltungen, sondern auch die Vertreter der Zivilgesellschaft einzubeziehen. Dies kann mittels Einrichtung eines ständigen Forums zur Vertretung der Sozial- und Wirtschaftspartner im Einklang mit den bereits für die Universitäten (7), Handelskammern (8) und Städten (9) geschaffenen Strukturen erfolgen.

3.4.7

Damit EUSAIR zwecks Berücksichtigung neuer Themen, Probleme und Entwicklungstendenzen aktualisiert werden kann, muss der Prozess des Kapazitätsaufbaus durch ein wirkungsvolles Überwachungssystem ergänzt werden, mit dem die Fortschritte und notwendigen Anpassungen der Strategie auf der Grundlage qualitativer und quantitativer Untersuchungen der Ergebnisse bewertet werden können. Deshalb ist es von grundlegender Bedeutung, Ad-hoc-Indikatoren festzulegen, die die Überwachung, Anpassung und Bewertung der EUSAIR-Programme und -Maßnahmen ermöglichen.

3.4.8

Unter Bezugnahme auf die Mitteilung über die Governance makroregionaler Strategien (10) muss die Steuerung von EUSAIR auf mehreren Ebenen über eine wirksame horizontale Dimension (Beteiligung der Zivilgesellschaft) verfügen, die die vertikale Dimension (Beteiligung der Regionen und Kommunen) ergänzt und aufwertet, unter umfassender Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (11).

3.4.9

Angesichts der mit der Ostsee- und Donaustrategie gemachten Erfahrungen ist es von zentraler Bedeutung, dass die technische Unterstützung durch die Europäische Kommission über die Planungsphase hinaus auch in der Phase der Umsetzung der Strategie gewährt wird.

3.4.10

EUSAIR muss unbedingt mit den zum Erreichen der Ziele notwendigen finanziellen Mitteln ausgestattet werden. Neben den Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI) (12) und dem Instrument für Heranführungshilfe (IPA) 2014-2020 (13) werden folgende Fonds und Programme der EU von Bedeutung sein:

Blaues Wachstum: Europäischer Meeres- und Fischereifonds (EMFF) (14) und Horizont 2020 (15);

Anbindung der Region: Fazilität „Connecting Europe“ (2014-2020) (16);

Umweltqualität: LIFE-Programm (17);

Nachhaltiger Fremdenverkehr: COSME-Programm (18).

3.4.11

Es gibt noch weitere Finanzierungsquellen, insbesondere den Investitionsrahmen für die westlichen Balkanstaaten (WBIF) (19), die Europäische Investitionsbank (EIB) (20) und weitere internationale Finanzinstitutionen. Diese Finanzierungen und Instrumente können eine beträchtliche Hebelwirkung haben, und sie können weitere private Investoren anziehen.

3.4.12

Ebenso müssen die nationalen, regionalen und lokalen Behörden Maßnahmen ergreifen, um optimale Bedingungen für die Anziehung privater Investitionen sicherzustellen, insbesondere mittels: Konzipierung angemessener Maßnahmen des territorialen Marketing; Verbesserung der Leistungsfähigkeit und Effizienz der Verwaltungsverfahren, Unterstützung von Initiativen zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit, zur Korruptionsbekämpfung, zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und der Schwarzarbeit.

3.5

Der EWSA begrüßt den Aktionsplan, ist indes der Auffassung, dass einige der im Rahmen der vier Säulen vorgesehenen Maßnahmen verstärkt und weiterentwickelt werden sollten.

3.5.1

Bezüglich des blauen Wachstums hält es der EWSA im Sinne der Eröffnung neuer wirtschaftlicher Möglichkeiten und der Schaffung neuer Arbeitsplätze für erforderlich:

den Kreditzugang für KMU zu erleichtern und die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Unternehmen zu stärken;

die bestehenden Cluster mittels verstärkter Internationalisierung aufzuwerten;

neue Governance-Modelle festzulegen für maritime Räume und Landgebiete, die auf die nachhaltige Entwicklung von Fischerei und Aquakultur ausgerichtet sind;

die Infrastrukturen der Fischereihäfen bzw. der Häfen für die Vermarktung von Fischereierzeugnissen auszubauen und aufzuwerten.

3.5.2

Um Entwicklung, Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit des Seeverkehrs zu fördern, intermodale Verbindungen zwischen Küstengebieten und Hinterland zu verbessern und einen vernetzten makroregionalen Energiemarkt zu schaffen, hält es der EWSA in Bezug auf die Säule „Anbindung der Region“ für erforderlich:

die Infrastrukturen in und zwischen den Häfen des adriatisch-ionischen Beckens in puncto Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit und Sicherheit an die Entwicklung des Marktes anzupassen;

die Integration zwischen See- und Landverkehr im Einklang mit den Kriterien für eine nachhaltige Mobilität zu fördern;

die intermodale Anbindung und die Interoperabilität zwischen den Verkehrsträgern zu stärken, auch mittels Anpassung strategischer Infrastrukturen auf transnationaler Ebene in Bezug auf das europäische TEN-V-Netz (21);

das Potenzial der Regionalflughäfen zu erschließen, indem ihre Zugänglichkeit verbessert und intermodale Verbindungen gefördert werden;

die Schaffung intelligenter Energienetze und intelligenter Speichersysteme in Anbindung an die Anlagen zur Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen zu unterstützen;

in jedem Gebiet eine Kartierung der verfügbaren erneuerbaren Energieressourcen durchzuführen, um die Nutzungs-, Verknüpfungs- und Ergänzungsmöglichkeiten zwecks optimalem Ressourceneinsatz auszumachen.

3.5.3

Damit die Belastung der Meeres- und Küstenökosysteme reduziert und die Gefahren für die Gesundheit und Sicherheit der Menschen begrenzt werden, hält es der EWSA in Bezug auf die Umweltqualität für erforderlich:

das Engagement für den Schutz der Meeresbiodiversität und die Erprobung nachhaltiger Fischereimodelle zu steigern;

Maßnahmen zum Schutz der Küsten, zur Anpassung an den Klimawandel und zum Risikomanagement (in hydrologischer und hydrogeologischer Hinsicht sowie in puncto Erosion) zu fördern;

Maßnahmen zum Schutz, zur Aufwertung und zur Verbindung der natürlichen (Meeres-, Küsten- und Berg-) Gebiete von strategischer Bedeutung durchführen, einschließlich der Ausweisung und dem Schutz ökologischer Korridore.

3.5.4

In Bezug auf den nachhaltigen Fremdenverkehr hält es der EWSA zur Aufwertung des natürlichen, kulturellen und künstlerischen Erbes der Region für erforderlich:

Erzeugnisse der Landwirtschaft, der Fischerei und des für das Herkunftsgebiet in besonderem Maße charakteristischen Handwerks touristisch zu vermarkten;

die touristisch noch am wenigsten erschlossenen Bereiche zu vermarkten, auch mittels Ausbau der Verbindungen zwischen Gebieten im Hinterland und dem Wasser- und Kreuzfahrttourismus, und historische, kulturelle und religiöse Touristenrouten aufzuwerten;

die Zusammenarbeit und den Zusammenschluss von Unternehmen — auch in Form von öffentlich-privaten Partnerschaften — zu fördern, um Fremdenverkehrsprojekte zu realisieren;

den Einsatz von IKT zur Förderung des Tourismus auszubauen;

Forschung, Weiterbildung, Bildung und Sensibilisierung im Rahmen des nachhaltigen und verantwortungsbewussten Tourismus zu fördern.

3.5.5

Es muss ein Referenzmainstreaming festgelegt werden, um in allen vier Säulen die Planung von Querschnittsmaßnahmen in puncto Arbeitsbedingungen, Geschlechtergleichstellung, Menschen mit Behinderungen und Zuwanderern vorzusehen. Es sollten Maßnahmen ergriffen werden, um:

die Einhaltung der Normen für menschenwürdige Arbeit zu gewährleisten und die Anpassungsfähigkeit der Arbeitskräfte an den laufenden technologischen Wandel und an die Veränderung der Produktionsverfahren mittels Umschulung und beruflicher Weiterbildung sicherzustellen, um die in der Region vorhandenen Humanressourcen besser zu nutzen;

die Berücksichtigung, die Wahrung und die Aufwertung der Geschlechterdimension insbesondere mit Blick auf den Arbeitsmarkt zu gewährleisten;

möglichst umfassend sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen tatsächlich gleiche Bedingungen und Chancengleichheit gewährt werden;

alle Aspekte im Bereich der Zuwanderung zu berücksichtigen, die ihren positiven Beitrag zur Förderung des Wirtschaftswachstums und des sozialen Zusammenhalts in der Region stärken können.

4.   Die EU-Strategie für die Region Adria-Ionisches Meer: Besondere Bemerkungen

4.1

Der EWSA hält EUSAIR zwar für ein nützliches Instrument, um die Herausforderungen anzugehen, die die Region kennzeichnen und die aufgrund ihrer Komplexität von den einzelnen Staaten oder Regionen nicht zufriedenstellend bewältigt werden können. Gleichwohl verweist er auf spezifische Probleme in Bezug auf Forschung, Entwicklung und Innovation in KMU sowie bezüglich der sozialen Dimension der Strategie.

4.2

Forschung, Entwicklung und Innovation in KMU — Trotz der Bemühungen im Rahmen der Ausführung der Programme im Planungszeitraum 2007-2013 und bei der Konzipierung des Programmplanungszeitraums 2014-2020 zeitigt der Zugang der KMU zu Wachstumschancen aufgrund von Innovation nur geringe Erfolge in puncto Wettbewerbsfähigkeit und Schaffung von Arbeitsplätzen.

4.2.1

Das System der Förderung von Forschung und Innovation in der Region Adria-Ionisches Meer ist nach wie vor zu komplex und hält Kleinst- und Kleinunternehmen davon ab, sich insbesondere an EU-Projekten zu beteiligen. Neben komplizierten und zeitraubenden Verwaltungsauflagen bestehen auch erhebliche Unterschiede bei den Verfahrensweisen zwischen Programmen auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene.

4.2.2

Die Ursachen hierfür liegen in erster Linie in Schwierigkeiten beim Kreditzugang, bei der geringen Zusammenarbeit zwischen KMU und den „Erbringern“ von Forschung, Entwicklung und Innovation, und dem Fehlen angemessener Entwicklungsmaßnahmen, um private Investitionen anzuziehen.

4.2.3

Der Zugang zu Finanzierungen ist insbesondere für innovative Kleinunternehmen aufgrund unzureichender Risikokapitalfonds immer noch schwierig. Trotz der erheblichen Möglichkeiten, die die „Innovationsförderung durch öffentliche Aufträge“ bietet, wird auf die Instrumente zu ihrer Umsetzung wie z. B. die vorkommerzielle Auftragsvergabe immer noch zu wenig zurückgegriffen, um spürbare positive Auswirkungen auf die KMU haben zu können.

4.2.4

Um die Potenziale von Forschung und Innovation für die Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliche Entwicklung zu nutzen, muss eine moderne Unternehmenskultur gefördert und die Entwicklung der KMU gemäß dem Small Business Act  (22) und dem Aktionsplan Unternehmertum 2020 (23) gefördert werden.

4.2.5

In dem von EUSAIR abgedeckten Raum bestehen weitere Entwicklungsmöglichkeiten in Bezug auf:

den öffentlichen Sektor: Innovation kann die Effizienz der öffentlichen Verwaltung steigern, was positive Auswirkungen hat in puncto Kostensenkung, Ausgeglichenheit der öffentlichen Haushalte und Qualität der Dienstleistungen für Bürger und Unternehmen;

den sozialen Bereich: Innovation kann die öffentlichen und privaten Interessenträger dabei unterstützen, Maßnahmen zur Förderung des sozialen Unternehmertums und der Sozialwirtschaft zu konzipieren.

4.2.6

Es ist von zentraler Bedeutung, die Zusammenarbeit zwischen den KMU und den Einrichtungen der Forschung, Entwicklung und Innovation auszubauen sowie Unternehmensneugründungen im Bereich des Forschungs- und Innovationstransfers und Aktivitäten im Bereich der Beratung und der Beschaffung von Finanzierungskapital zu unterstützen. Ebenso müssen die spezifischen, für den Technologietransfer zu den KMU sowie die Nutzung der Forschungs- und Innovationsergebnisse erforderlichen Kompetenzen gefördert werden.

4.2.7

Zwecks Überwindung der Schwächen und Probleme, die einer Nutzung der Möglichkeiten der Innovation durch KMU entgegenstehen, wurden folgende prioritäre Maßnahmen ausgemacht:

Einrichtung einer transnationalen Plattform für Forschung, Entwicklung und Innovation, an der KMU, Universitäten, Forschungszentren, Technologieinkubatoren und Unternehmen gemeinsam und aktiv beteiligt sind. Ziel ist dabei, die Wettbewerbsfähigkeit von KMU mittels Umsetzung innovativer Ideen in marktgängige Produkte zu stärken;

Konzipierung von Analysen zur intelligenten Spezialisierung auf transnationaler Ebene zur Erkennung von Innovations- und Unternehmenspotenzialen;

Förderung einer größeren Beteiligung der Unternehmer am Entscheidungsprozess bezüglich FEuI-Maßnahmen;

Schaffung einer „Matchmaking-Plattform für die Region Adria-Ionisches Meer“, um den Zugang von KMU und Jungunternehmern zur Innovationsfinanzierung zu erleichtern, indem neue Strukturen für transnationale Ko-Investitionen und neue Möglichkeiten des Fundraising geschaffen werden.

4.3

Soziale Dimension — Die Wirtschaftskrise hat nicht nur die Realwirtschaft und die Lebensbedingungen von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern beeinträchtigt. Sie hat auch die Notwendigkeit öffentlicher Interventionen deutlich gemacht, um mittels verstärkter Maßnahmen im Bereich Soziales und Wohlfahrt die für den Abschwung verantwortlichen Faktoren einzudämmen und die Lebensbedingungen und das Wohlergehen der Bürger zu schützen.

4.3.1

Der EWSA ist der Auffassung, dass die soziale Dimension von EUSAIR mehr Gewicht bekommen muss. Es gilt, ein Wachstumsmodell zu entwickeln, das Wettbewerbsfähigkeit, gleichzeitig aber auch soziale Inklusion und sozialen Schutz gewährleisten kann, wobei insbesondere auf die am meisten schutzbedürftigen und benachteiligten Gruppen zu achten ist.

4.3.2

Die Berücksichtigung und Stärkung der sozialen Dimension im Rahmen von EUSAIR muss im Einklang mit der Mitteilung der Europäischen Kommission über Sozialinvestitionen für Wachstum und sozialen Zusammenhalt erfolgen (24). Darin werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, Sozialinvestitionen oberste Priorität einzuräumen und die Sozialschutzsysteme mittels Maßnahmen zu modernisieren, die auf die drei folgenden spezifischen Aktionslinien ausgerichtet sind:

sicherzustellen, dass die Sozialschutzsysteme den Bedürfnissen der Menschen in kritischen Lebenssituationen entsprechen;

die Sozialpolitik zu vereinfachen und auf die tatsächlichen Zielgruppen auszurichten, um angemessene und tragfähige Sozialschutzsysteme zu realisieren;

die Strategien der aktiven Inklusion zu optimieren.

4.3.3

Von zentraler Bedeutung sind Maßnahmen, um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu fördern und die Diskriminierung aus Gründen der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Alters, der sexuellen Ausrichtung oder des Geschlechts zu verhindern. Die Zugänglichkeit von Infrastrukturen, Technologien und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen muss deutlich erleichtert werden, da sie eine grundlegende Voraussetzung für inklusives Wachstum darstellt.

4.3.4

Im Rahmen von EUSAIR müssen außerdem Maßnahmen zur Bewältigung der sozialen Probleme im Zusammenhang mit den irregulären Migrationsströmen vor allem im südlichen Teil der Region konzipiert werden.

Brüssel, den 11. September 2014.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2014) 357 final.

(2)  Anhörung der mit der Erarbeitung der vorliegenden Stellungnahme beauftragten Studiengruppe „EU-Strategie für die Region Adria-Ionisches Meer“ vom 27. Mai 2014 in Palermo.

(3)  Stellungnahmen: Entwicklung einer makroregionalen Strategie im Mittelmeerraum — die Vorteile für die Inselstaaten der EU, ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 1; Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zum Mehrwert makroregionaler Strategien, ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 63; Entwicklung einer makroregionalen Strategie zur Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts im Mittelmeerraum, ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 1; EU-Strategie für die Region Adria-Ionisches Meer (EUSAIR), ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 32.

(4)  http://www.balticsea-region-strategy.eu

(5)  http://www.danube-region.eu

(6)  COM(2012) 713 final.

(7)  http://www.uniadrion.net

(8)  http://www.forumaic.org

(9)  http://www.faic.eu/index_en.asp

(10)  Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Governance makroregionaler Strategien, COM(2014) 284 final.

(11)  Europäischer Verhaltenskodex für Partnerschaften im Rahmen der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (C (2013) 9651 final).

(12)  Verordnung (EU) Nr. 1300/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über den Kohäsionsfonds, ABl. L 347 vom 20.12.2014, S. 281.

(13)  Durchführungsverordnung (EU) Nr. 447/2014 der Kommission vom 2. Mai 2014 mit spezifischen Vorschriften für die Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 231/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Instruments für Heranführungshilfe (IPA II), ABl. L 132 vom 3.5.2014, S. 32.

(14)  Verordnung (EU) Nr. 508/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über den Kohäsionsfonds, ABl. L 149 vom 20.5.2014, S. 1.

(15)  Verordnung (EU) Nr. 1290/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Regeln für die Beteiligung am Rahmenprogramm für Forschung und Innovation „Horizont 2020“ (2014-2020), ABl. L 347 vom 20.12.2013, S. 81.

(16)  Verordnung (EU) Nr. 1315/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes, ABl. L 348 vom 20.12.2013, S. 1.

(17)  Verordnung (EU) Nr. 1293/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufstellung des Programms für die Umwelt- und Klimapolitik (LIFE), ABl. L 347 vom 20.12.2013, S. 185.

(18)  Verordnung (EU) Nr. 1287/2013 über ein Programm für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und für kleine und mittlere Unternehmen (COSME) (2014-2020), ABl. L 347 vom 20.12.2013, S. 33.

(19)  http://www.wbif.eu

(20)  http://www.eib.org

(21)  Verordnung (EU) Nr. 1315/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes, ABl. L 348 vom 20.12.2013, S. 1.

(22)  Vorfahrt für KMU in Europa — Der „Small Business Act“ für Europa, COM(2008) 394 final/2.

(23)  Aktionsplan für unternehmerische Initiative 2020 — Neubewertung des Unternehmergeistes in Europa, COM(2012) 795 final.

(24)  Sozialinvestitionen für Wachstum und sozialen Zusammenhalt — einschließlich Durchführung des Europäischen Sozialfonds 2014-2020, COM(2013) 83 final.


19.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 458/36


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einführung eines Rundreise-Visums und zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen sowie der Verordnungen (EG) Nr. 562/2006 und (EG) Nr. 767/2008

COM(2014) 163 final — 2014/0095 (COD)

und dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Visakodex der Union (Visakodex)

COM(2014) 164 final — 2014/0094 (COD)

(2014/C 458/07)

Berichterstatter:

Antonello PEZZINI

Mitberichterstatter:

Luis Miguel PARIZA CASTAÑOS

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 3. April 2014 bzw. am 21. Mai 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einführung eines Rundreise-Visums und zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen sowie der Verordnungen (EG) Nr. 562/2006 und (EG) Nr. 767/2008

COM(2014) 163 final — 2014/0095 (COD).

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 3. Juli 2014 bzw. am 21. Mai 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Visakodex der Union (Visakodex)

COM(2014) 164 final — 2014/0094 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 27. August 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 501. Plenartagung am 10./11. September 2014 (Sitzung vom 10. September) mit 175 Stimmen bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA unterstützt nachdrücklich die beiden Verordnungsvorschläge, mit denen Rundreise- und Mehrfachvisa eingeführt und das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen geändert (erster Vorschlag) sowie der Visakodex im Zuge einer Nachbesserung (zweiter Vorschlag) zur Ankurbelung von Wachstum und Beschäftigung neugefasst werden soll.

1.2

Der EWSA befürwortet uneingeschränkt die Empfehlungen des Europäischen Rates vom 23. Juni 2014 im Hinblick auf die notwendige Modernisierung der gemeinsamen Visumpolitik, indem der legale Reiseverkehr und die verstärkte konsularische Schengen-Zusammenarbeit vor Ort unter Beibehaltung eines hohen Sicherheitsniveaus erleichtert und das neue Schengen-Governance-System umgesetzt wird.

1.3

Der EWSA ist davon überzeugt, dass alle Verfahren — auch die Visumpolitik — zur Erleichterung und reibungslosen Gestaltung der Einreise von Personen, die über die entsprechenden Rechte und Mittel verfügen und aus einem rechtmäßigen Grund in die EU kommen möchten, unterstützt werden sollten.

1.4

Europa ist Teil einer globalisierten und vernetzten Welt, in der die internationale Mobilität weiter zunehmen wird: Deshalb müssen bessere Synergieeffekte mit anderen strategischen Bereichen, wie z. B. Handel, Tourismus und Kultur gewährleistet und legitime und sichere Einreisen auf der Grundlage uneingeschränkter Gegenseitigkeit gefördert werden.

1.5

Besonderes Augenmerk müssen die Behörden den jungen Menschen aus Drittstaaten widmen, damit die EU mittels entsprechender Finanzhilfen und Verfahrenserleichterungen ihre Werte unter den jungen Generationen verbreiten kann, damit Respekt und Toleranz unter den Völkern um sich greift und jede Form von Extremismus unterbunden wird.

1.6

Im Interesse einer sicheren und verantwortungsvollen Aufnahmepolitik muss die EU zu dem Ort werden, wo sich der konkrete Traum von Frieden, Fortschritt, Demokratie und Achtung aller Bürger, aber auch von Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit dank des Integrationsprozesses, der von den Mitgliedstaaten nach den dramatischen Ereignissen der ersten Hälfte des „kurzen“ 20. Jahrhunderts engagiert eingeleitet und verfolgt wurde, Realität wird.

1.7

Die logische Konsequenz des Friedensnobelpreises, den die EU als greifbares Symbol für ihre Errungenschaften im Bereich der Menschenrechte, der Gleichstellung, des Menschen als intelligenter Verbraucher, der nachhaltigen Entwicklung, der Verteidigung und Achtung religiöser Überzeugungen und sexueller Ausrichtung aller und der Sicherheit der Unionsbürger erhielt, muss eine intelligente Einreisepolitik in diesen europäischen Raum der Freiheit und des Rechts sein.

1.8

Der EWSA ist als Forum der Zivilgesellschaft der Ansicht, dass die Prozesse zur intelligenten und sicheren Vereinfachung des Zugangs verschiedener Drittstaatsangehöriger zum Gebiet der EU einen Beitrag zu Wachstum und wirtschaftlichem und sozialem Wohlstand leisten und vor allem ermöglichen müssen, dass die Werte, auf denen das Zusammenleben der Unionsbürger basiert, in die Welt getragen werden.

1.9

Der EWSA ist davon überzeugt, dass die kulturellen und politischen Gründe allmählich hinfällig werden, die zur Einrichtung von Botschaften der einzelnen Mitgliedstaaten geführt haben. Eine einzige Vertretung der EU in den Drittländern würde einen Qualitätssprung im Auftreten gegenüber dem Rest der Welt darstellen und dem Einigungsprozess des europäischen Kontinents — auch unter dem Gesichtspunkt der Einreisepolitik — einen entscheidenden Impuls geben. Gleichzeitig würden viele Probleme im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Verfahren der Visavergabe gelöst und die Wertschätzung und Achtung für eine vollständige politische Integration der Union steigen.

1.10

Der EWSA spricht der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat somit folgende Empfehlungen aus:

Harmonisierung der Belege für den Visumantrag;

Gewährleistung präziserer Datenerhebungen für eine angemessene statistische Überwachung;

Einführung eines Rundreisevisums und von Mehrfachvisa zur Erleichterung von Tourismus, Veranstaltungen, Kultur und Wirtschaft;

Ausbau einfacher, schlanker und überall einheitlich anzuwendender Verfahrensgarantien;

Ermöglichung von Online-Anträgen über die Errichtung einer Website für Schengen-Visa;

Festlegung verbindlicher Vorschriften zur Bestimmung verschiedener Gruppen von Antragstellern, um im Falle bereits früher gestellter Anträge Flexibilität in Bezug auf die Belege zu ermöglichen;

Ermöglichung einer angemessenen Flexibilität bei der Vergabe von Visa an den Grenzen für Seeleute und einzelne Kurzzeitaufenthaltstitel im Tourismus;

Festlegung eines sicheren Rechtsrahmens, der die Ausstellung von Visa für Familienbesuche erleichtert;

Ausbau der Zusammenarbeit zwischen den Konsulaten, um mehr Flexibilität zu gewährleisten und im Hinblick auf die Einführung des Grundsatzes einer obligatorischen Vertretung konkrete Schritte in Richtung einer einzigen EU-Vertretung zu unternehmen.

2.   Einleitung

2.1

Eine gemeinsame Visumpolitik ist ein grundlegendes Element für die Schaffung eines einheitlichen Raums ohne Binnengrenzen und integraler Bestandteil von Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe a) und Artikel 79 AEUV. Diese übertragen der EU unter Titel V AEUV „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ in Bezug auf Visa und Aufenthaltstitel im Rahmen eines rechtmäßigen Aufenthalts in den EU-Mitgliedstaaten Handlungsbefugnis.

2.2

Der Schengener Besitzstand in Bezug auf Visa entstand im Rahmen der zwischenstaatlichen Schengen-Zusammenarbeit und wurde anschließend in den institutionellen und rechtlichen Rahmen der EU eingefügt: Derzeit erstrecken sich der Visakodex und die gemeinsame Visumpolitik nur auf kurzfristige Aufenthalte (Schengen-Visa für Aufenthalte von höchstens 90 Tagen in einem Gesamtzeitraum von 180 Tagen) und betreffen Visa, die von 22 Mitgliedstaaten und vier assoziierten Staaten ausgestellt wurden. Er gilt nicht für Bulgarien, Irland, Kroatien, Rumänien, das Vereinigte Königreich und Zypern (1).

2.3

2013 haben die gegenwärtig 26 Schengen-Staaten — bei 1 7 2 04  391 Anträgen — über 16,1 Millionen Schengen-Visa ausgestellt. Die Landgrenzen des Schengen-Raumes sind 7  702 km lang, die Seegrenzen 41  915 km, während es 644 Grenzübergangsstellen in Flughäfen gibt. Jüngsten Studien (2) zufolge haben im Jahr 2012 insgesamt 6,6 Millionen potenzielle Reisende auf die Einreise in die EU verzichtet, weil die Visaverfahren zu komplex sind. Dadurch fiel die Zunahme bei den Einreisen zwischen 30 und 60 % niedriger aus, was Einnahmeausfällen von bis zu 130 Mrd. EUR entspricht.

2.4

Die wichtigsten Maßnahmen im Rahmen von Schengen umfassen u. a.:

Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen;

gemeinsame Vorschriften für Personenkontrollen an den Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten;

Harmonisierung der Voraussetzungen für die Einreise und für die Gewährung von Kurzzeitvisa;

Stärkung der polizeilichen Zusammenarbeit, einschließlich des Rechts auf Beobachtung und grenzüberschreitender Nacheile;

Ausbau der justiziellen Zusammenarbeit durch schnellere Auslieferung und bessere Übertragung der Vollstreckung von Strafurteilen;

Aufbau und Entwicklung des Schengener Informationssystems (SIS).

2.5

Der Visakodex (3), der harmonisierte Verfahren und Bedingungen für die Ausstellung von Kurzaufenthaltstiteln festlegt, ist das Ergebnis der „Neufassung“ und Konsolidierung sämtlicher Rechtsakte, in denen die Verfahren und Bedingungen für die Ausstellung dieser Visa festgelegt werden und hat die veralteten Teile des Schengener Besitzstandes abgelöst.

2.6

Das erklärte Ziel des Visakodex besteht darin, die Kohärenz der gemeinsamen Visumpolitik zu steigern, um ihre Transparenz und Rechtssicherheit zu erhöhen. Die Verfahrensgarantien und Gleichbehandlung der Visumantragsteller sollen gestärkt werden, indem hochwertige Dienste gewährleistet und das Prinzip der einzigen Anlaufstelle für die Einreichung der Anträge verfolgt werden. Legales Reisen soll erleichtert, illegaler Zuwanderung vorgebeugt und die öffentliche Ordnung und Sicherheit aufrechterhalten werden.

2.7

Die Stärkung des Schengen-Gebiets, das Abkommen über ein gemeinsames europäisches Asylverfahren, die Verbesserung der gemeinsamen Visumpolitik, die Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und ihrer für den Menschen gefährlichsten Formen (Terrorismus, Menschenhandel, Cyberkriminalität etc.) sind insgesamt wichtige, aber noch unzureichende Ergebnisse. Es bedarf einer stärkeren Zusammenarbeit innerhalb des Schengen-Gebiets und mit den Drittstaaten. Ziel der gemeinsamen Visumpolitik ist es auch:

gemeinsame Vorschriften für die Kontrollen an den Außengrenzen festzulegen;

die Kontrollen an den Binnengrenzen abzuschaffen.

2.8

Ein spezifischerer Zusammenhang besteht mit der EU-Grenzpolitik, da Drittstaatsangehörige, für die Visumpflicht besteht, bei der Prüfung ihres Visumantrags einer ersten Überprüfung unterzogen werden, ob sie die Bedingungen für eine Einreise in die EU erfüllen.

2.9

Bei der Anwendung der Bestimmungen des Visakodex wurden verschiedene Defizite festgestellt. Dazu gehören:

die nicht erfolgte Ausnahme der Antragsteller von der Verpflichtung, den Visumantrag persönlich einzureichen, wenn bestimmte Belege vorgelegt werden, aufgrund der Tatsache, dass die Beurteilung der Integrität und Zuverlässigkeit Dritten übertragen wurde;

fehlende allgemeine Verfahrenserleichterungen auch für Erstantragsteller, unter Beibehaltung eines hohen Sicherheitsniveaus;

fehlende Annahme- und Bearbeitungsstellen für die Visumanträge in vielen Drittländern;

mangelnde Erleichterungen für die Mobilität von Personen bei Besuchen von Familienangehörigen;

mangelnde Erleichterungen für die Ausstellung von Mehrfacheinreisevisa mit längerer Geltungsdauer.

2.10

Europa ist Teil einer globalisierten und vernetzten Welt, in der die internationale Mobilität immer weiter zunehmen wird. Deshalb müssen bessere Synergieeffekte mit anderen strategischen Bereichen, wie z. B. Handel, Tourismus, Kultur, gewährleistet und kurzfristige Reisen von hochqualifizierten Dienstleistungserbringern gefördert werden. Die Zahl potenzieller Reisenden, die aus berechtigten Gründen in einem Zeitraum von180 Tagen über 90 Tage bleiben möchten, ohne länger in einem Schengen-Staat wohnen zu wollen, wird steigen.

2.10.1

Vor allem müssen junge Menschen die rechtlichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten bekommen, problemlos in ein Europa einzureisen, das in der Welt nicht mehr als Festung, sondern als Hort der Demokratie und Toleranz verstanden wird.

2.11

Die neue Governance des Schengen-Systems muss bewirken, dass die Freizügigkeit innerhalb des grenzfreien Schengen-Raums auch weiterhin ihre Vorteile für die Unionsbürger und die europäische Wirtschaft zum Tragen bringt, indem sie durch Nachbesserung der Visumpolitik und Umsetzung der Initiative „Intelligente Grenzen“ legales Reisen fördert, gleichzeitig das hohe Sicherheitsniveau bewahrt, aber auch den legitimen Erwartungen der Antragsteller gerecht wird.

2.12

Angesichts eines voraussichtlichen Anstiegs der Anträge wird das Visum, ein ordnungsgemäßes Funktionieren des Schengener Informationssystems (SIS) und des Visa-Informationssystems (VIS) maßgeblich dafür sein, ob es gelingt, die Möglichkeit zu begrenzen, dass ein Antragsteller den einfachsten Zugang zum Schengen-Raum sucht und sich an die Staaten wendet, die als weniger streng gelten oder wo zumindest die Verfahren schneller und schlanker sind.

3.   Die Vorschläge des neuen Visapakets

3.1

Die wichtigsten Elemente des von der Kommission vorgeschlagenen Visapakets lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Verkürzung der Frist von 15 auf 10 Tage für die Bearbeitung des Visumantrags und der einschlägigen Entscheidung;

Möglichkeit, den Visumantrag beim Konsulat eines anderen EU-Mitgliedstaates einzureichen, wenn der für die Bearbeitung des Antrags zuständige Mitgliedstaat in dem Gebiet des Antragstellers nicht präsent oder vertreten ist;

Möglichkeit erheblicher Erleichterungen für regelmäßig Reisende, einschließlich der obligatorischen Ausstellung eines drei Jahre gültigen Mehrfachvisums;

Einführung eines vereinfachten Antragsformulars;

Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, spezifische Regelungen für die Ausstellung von Visa an der Grenze, die für maximal 15 Tage und für einen einzigen Schengen-Staat gültig sind, einzuführen;

Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, die Ausstellung von Visa an Reisende, die an herausragenden Veranstaltungen teilnehmen, zu erleichtern;

Einführung einer neuen Visumsart — des Rundreise-Visums — mit dem legal Reisende innerhalb des Schengen-Raums für die Höchstdauer eines Jahres (maximal 90 Tage in einem Zeitraum von 180 Tagen in demselben Mitgliedstaat) reisen können;

Einführung eines Mehrfachvisums und der Möglichkeit, Visa an der Grenze auszustellen;

Befreiung von der Visumgebühr für bestimmte Kategorien und Erleichterungen für Seeleute und Kreuzfahrtbedienstete.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA sieht in einer gemeinsamen Visumpolitik einen grundlegenden Bestandteil für die Schaffung eines gemeinsamen Raumes ohne Binnengrenzen: Auf diese Weise wird der Schengener Besitzstand zur Visumpolitik, die im Rahmen der zwischenstaatlichen Schengener Zusammenarbeit eingeführt wurde, in den institutionellen und rechtlichen Rahmen der EU nach Maßgabe des Vertrags aufgenommen.

4.2

Eine erstrebenswerte stärkere Zusammenarbeit zwischen den Konsulaten muss zu einer größeren Interoperabilität und konkreten Schritten in Richtung einer einzigen EU-Vertretung in vielen Staaten weltweit führen. Gleichzeit wäre dies ein klares Signal für die weitere politische Einigung. Neben der Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahren könnten ferner auch erhebliche Kosteneinsparungen erzielt werden.

4.2.1

Im Übrigen umfasst der seit Januar 2011 tätige Europäische Auswärtige Dienst (EAD) neben dem Sitz in Brüssel weltweit 140 Delegationen. Er zählt 3  292 Bedienstete und verfügt über Finanzmittel in Höhe von 519 Millionen EUR im Jahr 2014.

4.3

Die Zusammenfassung aller Rechtsvorschriften zur Bearbeitung von Visumanträgen für Kurzaufenthalte in einem einzigen Kodex und die Änderung der Ausstellung von Visa hat eindeutig zur Vereinfachung der Gesetzgebung, größerer Transparenz und erhöhter Rechtssicherheit beigetragen.

4.4

Der Ausschuss begrüßt das allgemeine Ziel des Visakodex, zu gewährleisten, dass die gemeinsame Visumpolitik auch tatsächlich ihrem Namen gerecht wird und dank eines Bündels an Rechtsvorschriften und Durchführungsbestimmungen von allen Staaten überall auf dieselbe Weise angewandt wird.

4.5

Der EWSA betont, wie wichtig im Interesse des Wirtschaftswachstums und der Schaffung von Arbeitsplätzen wirtschaftliche Vorteile sind, die sich aus der Erleichterung des legalen Reiseverkehrs innerhalb eines klaren Rechtsrahmens nicht nur für Aufenthalte bis zu 90 Tagen in einem Zeitraum von 180 Tagen ergeben.

4.6

Auch Antragsteller aus Drittstaaten, die berechtigte Gründe für Aufenthalte über diese Grenze hinaus haben — wie Künstler, Unternehmer, Lehrer, Wissenschaftler, Studierende, Rentner —, die länger als 90 Tage im Schengen-Raum bleiben möchten, ohne mehr als 90 Tage im selben Land zu verweilen, sollten unter Wahrung eines hohen Sicherheitsniveaus dazu die Möglichkeit haben können.

4.7

Nach Auffassung des EWSA müssen die Maßnahmen — wenn sie erst einmal verabschiedet sind — nicht nur Wirtschaftswachstum in der EU ermöglichen. Sie müssen auch überall in der Welt die folgenden gemeinsamen Grundsätze der europäischen Rechtsvorschriften, wie sie im Vertrag und der Grundrechtecharta formuliert sind, propagieren und

eine soziale Marktwirtschaft vertreten;

die Rolle der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft fördern und anerkennen;

die Konzertierung und die einvernehmliche Suche des Gemeinwohl begünstigen;

die Funktion der Bürger als Verbraucher achten;

die Kultur der Zusammenarbeit unterstützen;

sich für die Gleichstellung von Männern und Frauen einsetzen;

freie und persönliche Entscheidungen im religiösen und sexuellen Bereich gewährleisten;

die sozialen Strukturen an Menschen mit Behinderungen anpassen.

4.8

Der EWSA unterstützt in Anbetracht der Erleichterungen für die Reisenden den Vorschlag für ein Mehrfachvisum. Die Ausstellung einer größeren Zahl von Mehrfachvisa würde überdies den Verwaltungsaufwand sowohl für die Antragsteller als auch für die Konsulate verringern und auch dank des Visa-Informationssystems (VIS) zu erheblichen Kosteneinsparungen führen.

4.9

Daher befürwortet der EWSA die Vorschläge der Kommission in Bezug auf:

die Verringerung der Verwaltungslasten für Antragsteller und Konsulate unter uneingeschränkter Inanspruchnahme des VIS für die unterschiedliche, nach klaren und objektiven Kriterien zu erfolgende Behandlung von bekannten oder regelmäßigen Reisenden und unbekannten Antragstellern;

die Vereinfachung und vollständige Harmonisierung der Verfahren, indem die Bestimmungen, die derzeit im Ermessen der Konsulate stehen, verbindlich geregelt werden;

die Überarbeitung des aktuellen Rahmens für die konsularische Zusammenarbeit, um einen Zugang zu einfacheren Antragsverfahren für Schengen-Visa in möglichst vielen Stellen zu gewährleisten;

die Aufnahme in den Visakodex eines Artikels, der unter genau festgelegten Bedingungen die Erteilung befristeter Visa an den Grenzen ermöglicht;

die Erleichterung der Visumserteilung für Familienmitglieder, insbesondere für Personen, die unter die Richtlinie 2004/38/EG fallen;

Bestimmungen, um die Lücke zwischen den für Kurzaufenthalte geltenden Rechtsvorschriften und den Bestimmungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen in den Mitgliedstaaten zu schließen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Der EWSA unterstützt den Vorschlag für verbindliche Bestimmungen zur Harmonisierung der Belege für den Visumantrag im Rahmen der konsularischen Schengen-Zusammenarbeit vor Ort bei gleichzeitiger Ausarbeitung eines jährlichen einschlägigen Berichts über die allgemeine Lage an die Gesetzgeber, um Kohärenz und Transparenz zu gewährleisten. Diese Bestimmungen müssen für identische Anforderungen in den einzelnen Konsulaten sorgen.

5.2

Der EWSA hält die Gewährleistung einer genaueren Datenerhebung mittels Überarbeitung des Verzeichnisses der erhobenen und von den Mitgliedstaaten vorgelegten Daten für unverzichtbar, um eine angemessene statistische Überwachung und eine bessere Analyse der einzelnen Punkte, Typen und Visumserteilungsverfahren zum Zwecke einer angemessenen Bewertung im Hinblick auf künftige Zielsetzungen sicherzustellen.

5.3

Der EWSA begrüßt die Einführung des Rundreise-Visums als Rechtsinstrument, das es nach rationalen Kriterien Personen ermöglicht, aus verständlichen und legalen Gründen in einem Zeitraum von 180 Tagen mehr als 90 Tage in mehreren Mitgliedstaaten des Schengen-Raums zu bleiben, wenn sie nicht mehr als 90 Tage im selben Land bleiben.

5.4

Eine bessere Definition von „zuständiger“ Staat und eine Vereinfachung des Formulars werden nach Ansicht des EWSA die Verfahrensgarantien stärken und lange Bearbeitungszeiten und Komplikationen vermeiden.

5.5

Der EWSA erachtet die Abschaffung des Grundsatzes des „persönlichen Erscheinens“ als einen positiven Schritt — mit Ausnahme der Bestimmungen zur Erfassung der Fingerabdrücke von Erstantragstellern — aber mit der Möglichkeit eines Gesprächs, ebenso wie die Möglichkeit, Anträge online bis zu sechs Monate vor dem geplanten Einreisezeitpunkt einzureichen: Der Vorschlag ist ganz besonders sinnvoll für regelmäßig Reisende, die bereits Visa beantragt haben, die für die Einreise in den Schengen-Raum noch gültig sind.

5.5.1

Neben einem hohen Maß an Sicherheit empfiehlt der EWSA ein ebenso hohes Niveau für den Schutz personenbezogener und biometrischer Daten sowie der „sensiblen“ Daten, zu denen der EWSA schon Stellung genommen hat (4). Daher fordert der EWSA die Agentur eu-LISA auf, den uneingeschränkten Schutz der Daten aus den Systemen VIS und SIS II zu gewährleisten.

5.6

Die Einführung von Elementen, die Rechtssicherheit bringen und die maximale Bearbeitungsfrist dadurch reduzieren, dass eine erschöpfende vereinfachte Liste von Belegen erarbeitet wurde, welche die Reisekrankenversicherung ausschließt, hält der EWSA für ausgesprochen begrüßenswert, insbesondere für Reisende, deren Zuverlässigkeit und Integrität belegt sind.

5.7

Der Vorschlag, durch objektive und klar umrissene Kriterien verbindliche Vorschriften zur Unterscheidung der verschiedenen Gruppen von Antragstellern aufzustellen, muss es den Antragstellern mit einer positiven „Visum-Vorgeschichte“, die in den VIS-Datenbanken in den 12 Monaten vor der Beantragung registriert ist, ermöglichen, in Bezug auf die Belege eine größere Flexibilität zu genießen: Nach Ansicht des EWSA wird dies einen reibungsloseren Ablauf und Kostenersparnisse auch für Mehrfachvisa sowie für jene Visa bringen, die über die Gültigkeitsdauer des Reisedokuments hinausgehen.

5.8

Die Freistellung von der Visumgebühr — die verbindlich und einheitlich in allen Mitgliedstaaten unabhängig vom Ort der Antragstellung gilt — für bestimmte Gruppen, insbesondere Minderjährige, Studierende und Erasmus-Mundus-Teilnehmer entspricht den Kriterien der Gleichheit und Nichtdiskriminierung und den Grundsätzen der Rechtssicherheit.

5.9

Der EWSA empfiehlt unter Wahrung der Sicherheitsspielräume eine angemessene Flexibilität bei der Überarbeitung der Kriterien zur Erteilung von Visa an den Grenzen für Seeleute und einzelne Kurzaufenthaltstitel im Tourismus bei gleichzeitiger Überprüfung der Bestimmungen des einschlägigen Visakodexes.

5.10

Desgleichen begrüßt der EWSA die Überarbeitung der Bestimmungen für Flughafentransitvisa im Interesse einer größeren Verhältnismäßigkeit, wodurch dem restriktiven Ansatz der Mitgliedstaaten ein Ende gesetzt wird.

5.11

In Bezug auf die Erteilung von Visa an Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige besuchen, welche Bürger eines EU-Mitgliedstaates sind und dort ihren Wohnsitz haben, sollten diese nach Auffassung des EWSA zumindest von denselben Bestimmungen profitieren, die für die Unionsbürger nach Maßgabe der Richtlinie 2004/38/EG über die Freizügigkeit gelten, mit denen familiäre Bindungen aufrechterhalten, die Verfahren vereinfacht und von den Visumgebühren befreit werden.

5.12

Bezüglich der Überarbeitung der aktuellen Definitionen von konsularischer Zusammenarbeit im Interesse einer größeren Flexibilität und im Hinblick auf die Einführung des Prinzips der obligatorischen Vertretung muss diese Überarbeitung nach Ansicht des EWSA eine Kostenersparnis und eine bessere Abdeckung und Interoperabilität des Konsularnetzes mit sich bringen.

5.13

In diesem Zusammenhang ist der EWSA davon überzeugt, dass eine einzige Vertretung viele Probleme im Zusammenhang mit unterschiedlichen Visumvergabeverfahren lösen und erhebliche Einsparungen ermöglichen würde. Nicht zuletzt würde die EU dann auch in diesem Bereich mit einer Stimme sprechen.

Brüssel, den 10. September 2014.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Dänemark kann, obwohl es das Übereinkommen von Schengen unterzeichnet hat, frei darüber entscheiden, ob es die neue Maßnahme auf der Grundlage von Titel V AEUV anwendet.

(2)  Folgenabschätzungsstudie Sostenere la revisione della politica dei visti dell'Unione europea per facilitare i viaggi legittimi, 18.7.2013.

(3)  ABl. L 243 vom 15.9.2009, S. 1.

(4)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 123.


19.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 458/43


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung einer Europäischen Plattform zur Stärkung der Zusammenarbeit bei der Prävention und Abschreckung von nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit

COM(2014) 221 final — 2014/0124 (COD)

(2014/C 458/08)

Berichterstatter:

Stefano PALMIERI

Mitberichterstatterin:

Ana BONTEA

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 16. April 2014 bzw. am 29. April 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 153 Absatz 2 Buchstabe a und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung einer Europäischen Plattform zur Stärkung der Zusammenarbeit bei der Prävention und Abschreckung von nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit

COM(2014) 221 final — 2014/0124 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 27. August 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 501. Plenartagung am 10./11. September 2014 (Sitzung vom 10. September) mit 172 gegen 88 Stimmen bei 22 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)

1.1

hält die nicht angemeldete Erwerbstätigkeit für ein Problem, das in sämtlichen Mitgliedstaaten — wenn auch in unterschiedlichem Maße — die europäischen Ideale der Rechtmäßigkeit, Sicherheit, Solidarität, sozialen und steuerlichen Gerechtigkeit sowie des freien Wettbewerbs und der Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU beeinträchtigt;

1.2

ist der Ansicht, dass die Bekämpfung von Schwarzarbeit, d. h. nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit, mit Hilfe angemessener Präventions-, Kontroll- und Bekämpfungsmaßnahmen eine grundlegende strategische Entscheidung darstellt, um irreguläre Beschäftigung zu regularisieren und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschafts- und Sozialsystems der Europäischen Union entsprechend den in der Europa-2020-Strategie festgelegten Prioritäten und Leitlinien zu stärken;

1.3

begrüßt den Vorschlag zur Einrichtung einer Europäischen Plattform für die Stärkung der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit. Dieser Vorschlag stimmt mit den verschiedenen Erklärungen überein, in denen das Europäische Parlament, der Rat und der EWSA selbst in den letzten Jahren die Notwendigkeit betont haben, eine Strategie zur Schaffung von Arbeitsplätzen, für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum und zur verstärkten Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Schwarzarbeit umzusetzen, die auf europäischer Ebene koordiniert wird. Damit soll auf Ebene der EU eine Lücke geschlossen werden, da das Problem der nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit bislang auf uneinheitliche und unzureichend koordinierte Weise angegangen worden ist;

1.4

begrüßt den Vorschlag, eine europäische Plattform mit obligatorischer Beteiligung sämtlicher Mitgliedstaaten einzurichten, und ist der Ansicht, dass eine gemeinsame und koordinierte Teilnahme aller EU-Länder es ermöglicht, die grenzüberschreitenden Aspekte und die Probleme in Zusammenhang mit der Präsenz irregulärer nicht angemeldeter Erwerbstätiger aus Drittstaaten anzugehen;

1.5

erkennt zwar an, dass die nicht angemeldete Erwerbstätigkeit und die falsch deklarierte selbstständige Erwerbstätigkeit — bzw. Scheinselbstständigkeit — zwei verschiedene Konzepte sind, hält es jedoch für richtig, auch die Scheinselbstständigkeit zu den nicht angemeldeten Formen zu zählen, zu deren Prävention, Abschreckung und Bekämpfung die Plattform dient, angesichts ihrer negativen Folgen für i) die Rechte und Garantien der Arbeitnehmer, ii) einen reibungslosen freien Wettbewerb und iii) die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU;

1.5.1

hofft, dass es dank der Arbeiten der Plattform — unter Achtung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Verfahrensweisen — gelingen wird, auf der Grundlage einer Bewertung der in den Mitgliedstaaten gesammelten Erfahrungen und durch die Definition der Scheinselbstständigkeit eine effiziente Strategie zur Bekämpfung dieses Phänomens zu erarbeiten;

1.6

stimmt zwar voll und ganz den Funktionen und Aufgaben der Plattform zu, ist jedoch der Ansicht, dass ihr Mandat ausgeweitet werden könnte, sodass sie Empfehlungen zu Rechtsvorschriften auf EU- oder Mitgliedstaatsebene aussprechen kann, um die Umsetzung einer effizienteren Strategie zu garantieren (beispielsweise indem eine verstärkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei den Inspektionen zur Überwachung und Bekämpfung vorgeschlagen wird);

1.7

ist der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten bei der Benennung der nationalen Anlaufstelle zwingend die Sozialpartner einbeziehen und die Organisationen der Zivilgesellschaft beteiligen müssen, die dank ihrer spezifischen Kenntnisse über die nicht angemeldete Erwerbstätigkeit bei der Strategie zur Bekämpfung dieses Phänomens einen tatsächlichen Mehrwert gewährleisten;

1.7.1

hält es für sinnvoll, dass die Sitzungen der europäischen Plattform durch Vorbereitungs- und Informationssitzungen angemessen vorbereitet werden, die die Verbreitung der Arbeitsergebnisse der Plattform ermöglichen (und somit eine vollständige Transparenz ihrer Aktivitäten gewährleisten);

1.8

ist der Ansicht, dass die Maßnahmen zur Prävention und Abschreckung der nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit verschiedene Instrumente umfassen müssen, wobei Kontrollen und Sanktionen durch Maßnahmen für eine intelligente Rechtsetzung flankiert werden, um einen stabilen und verlässlichen Rechtsrahmen zu gewährleisten. In diesem Rahmen müssen die Kosten für die Anwendung der Rechtsvorschriften gesenkt und eine übermäßige Besteuerung von Arbeit vermieden sowie wirksame Maßnahmen angewandt werden, um Arbeitgeber zur Anmeldung von Beschäftigungsverhältnissen und Einhaltung des Gesetzes anzuhalten — hierzu zählen etwa finanzielle Anreize und vereinfachte Systeme zur Zahlung von Steuern und Sozialabgaben —, und es sollten steuerliche Anreize zur Förderung der Regularisierung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit eingeführt werden;

1.9

hat sich in den letzten Jahren im Rahmen der von der EU festgelegten Strategie zur Bekämpfung von Schwarzarbeit stets dafür eingesetzt, den Austausch einschlägiger Instrumente, Maßnahmen und vorbildlicher Verfahrensweisen zu fördern und anzuregen, um sowohl auf die Wirtschaftsfaktoren als auch den kulturellen und sozialen Kontext einzuwirken. Aus diesem Grund hofft der EWSA, dass bei der Einsetzung der Plattform seine Rolle offiziell anerkannt und er als Beobachter der Plattform aufgenommen wird;

1.10

ist der Ansicht, dass im Rahmen der Sensibilisierung der Öffentlichkeit die Kapazität der Einbeziehung der Zivilgesellschaft gestärkt werden muss, insbesondere durch eine gemeinsame Maßnahme des EWSA und der nationalen Wirtschafts- und Sozialräte im Rahmen der Aktivitäten des Lenkungsausschusses der Europa-2020-Strategie und anderer Gremien des EWSA;

1.11

hofft, dass innerhalb der Plattform die potenzielle Rolle folgender Organisationen anerkannt wird:

Eurostat für Schätzungen zur Ermittlung des Umfangs und der Dynamik der Schattenwirtschaft und der nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit in der EU;

Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound) bezüglich der Einrichtung einer interaktiven Datenbank mit bewährten Verfahren bei den Maßnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit auf europäischer Ebene;

die OECD bezüglich der Bereitstellung technischer Unterstützung zur Erfassung des Phänomens;

1.12

hält es für angemessen, dass die Plattform mit einem Kontroll- und Bewertungssystem mit „Ad-hoc“-Indikatoren und kommissionsexternen Gutachtern ausgestattet wird.

2.   Das Phänomen der Schwarzarbeit bzw. nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit in der Europäischen Union

2.1

Auf EU-Ebene ist die Schwarzarbeit bzw. nicht angemeldete Erwerbstätigkeit definiert als „jedwede Art von bezahlten Tätigkeiten, die von ihrem Wesen her keinen Gesetzesverstoß darstellen, den staatlichen Behörden aber nicht gemeldet werden, wobei in den einzelnen Mitgliedstaaten jedoch unterschiedliche gesetzliche Rahmenbedingungen gegeben sind“ (1). Unter diese Definition fällt auch die falsch deklarierte Erwerbstätigkeit oder Scheinselbstständigkeit, die vorliegt, wenn der Erwerbstätige auf der Grundlage eines Dienstleistungsvertrags formell als selbstständig gemeldet wird, de facto jedoch nach nationalem Recht und nationaler Praxis als abhängig Beschäftigter tätig ist (2).

2.2

Die nicht angemeldete Erwerbstätigkeit und die Scheinselbstständigkeit sind verschiedene Aspekte desselben Phänomens, das sich negativ auf die Rechte und Garantien der Arbeitnehmer, auf den reibungslosen Wettbewerb auf dem freien Markt und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU auswirkt. Die Zuordnung der Scheinselbstständigkeit zu den nicht angemeldeten Formen der Erwerbstätigkeit, die mit der Plattform bekämpft werden sollen, ist absolut logisch, da es sich um irreguläre Verhältnisse handelt, die im Zuge der zunehmenden Verbreitung der Schwarzarbeit im Dienstleistungssektor immer stärker um sich greifen und die Arbeitnehmer ähnlich wie die Schwarzarbeit um ihre Rechte und Garantien bringen (3).

2.2.1

Wie der EWSA bereits betonte (4), gibt es auf EU-Ebene momentan keine einheitliche Definition der Kategorie der selbstständigen Erwerbstätigkeit; folglich bezieht sich jede zuständige Behörde auf den nationalen Rechtsrahmen, wodurch die Umsetzung einer Strategie zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit auf europäischer Ebene — insbesondere im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Erwerbstätigkeit — erschwert wird.

2.2.2

In diesem Zusammenhang hat sich der EWSA bereits für eine Bewertung der verschiedenen in den einzelnen Mitgliedstaaten gesammelten Erfahrungen ausgesprochen, um daraus eine Reihe von Schlussfolgerungen zu ziehen und Empfehlungen für eine effiziente Strategie zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit oder falsch deklarierten selbstständigen Erwerbstätigkeit auszusprechen. In seiner Stellungnahme zum Thema „Missbrauch des Status der Selbstständigkeit“ (5) betont der EWSA die Notwendigkeit, mit Hilfe einer Definition der Scheinselbstständigkeit, mit der die selbstständigen Erwerbstätigen und die redlichen Mikrounternehmen vor den Risiken des unlauteren Wettbewerbs auf den Märkten geschützt werden können, für zuverlässige Rechtsvorschriften zu sorgen.

2.2.2.1

Diese Position steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der mit dem Ziel, ein reibungsloses Funktionieren der Märkte und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sicherzustellen, bei gleichzeitiger Bekräftigung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Definition der Begriffe abhängiger Beschäftigter und selbstständiger Erwerbstätiger, mittels Normen Leitlinien für eine allgemeine Definition vorgegeben hat, um eine einheitliche Anwendung der Bestimmungen der Verträge zu gewährleisten (6).

2.2.2.2

Der EWSA ist der Ansicht, dass durch diese Leitlinien die soziale und wirtschaftliche Rolle der Selbstständigkeit weiter aufgewertet würde, da nur „echte“ Selbstständige in diese Kategorie aufgenommen würden. Dadurch bliebe für jeden, der sich selbst dafür entscheidet, auf eigene Rechnung zu arbeiten, der legitime Status des selbstständigen Erwerbstätigen gewahrt. In diesem Bereich beschränkt sich der EWSA darauf, den Mitgliedstaaten eine Orientierungshilfe an die Hand zu geben und auf bewährte Verfahren hinzuweisen.

2.3

Das Phänomen der Schwarzarbeit oder falsch deklarierten Erwerbstätigkeit ist heterogen und komplex und betrifft viele grundverschiedene Personen: Arbeitnehmer ohne Sozialversicherung, ohne Arbeitsvertrag oder jene, die teilweise in bar entlohnt werden, mithelfende Familienangehörige, Arbeitnehmer, die eine zweite Beschäftigung nicht anmelden, Selbstständige, die ihre Tätigkeit nicht anmelden, Scheinselbstständige, irreguläre Einwanderer, die einer nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit nachgehen, Arbeitnehmer in die EU-Mitgliedstaaten beliefernden Drittländern, die außerhalb der Mindestnormen für menschenwürdige Arbeit tätig sind (7). Diese Verschiedenartigkeit erschwert eine Bekämpfung der Schwarzarbeit und erfordert spezifische Strategien.

2.4

Das Problem der Schwarzarbeit betrifft sämtliche Mitgliedstaaten und ist ein Phänomen, das den europäischen Idealen der Rechtmäßigkeit, Sicherheit, Solidarität, sozialen und steuerlichen Gerechtigkeit sowie des freien Wettbewerbs und der Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU zuwiderläuft.

2.4.1

Es ist unabdingbar, entschieden gegen die nicht angemeldete Erwerbstätigkeit vorzugehen, da sie vielfältige Auswirkungen sowohl auf die Unternehmen als auch die Arbeitnehmer und den öffentlichen Haushalt hat:

die Konkurrenz zwischen den Unternehmen wird aufgrund des unlauteren Wettbewerbs zwischen jenen Wirtschaftsbeteiligten verzerrt, die sich an die Vorschriften halten und denjenigen, die gegen sie verstoßen und Tätigkeiten nachgehen, die wahrscheinlich vom Markt verdrängt würden. Darüber hinaus entsteht eine dynamische Ineffizienz, wenn die Unternehmen nicht wachsen, um in der Schattenwirtschaft zu verbleiben, über keinen Zugang zu Finanzmitteln verfügen und nicht die von öffentlichen Aufträgen gebotenen Möglichkeiten nutzen können;

die Arbeitnehmer sind physisch sowie einkommens-, arbeits- und sozialversicherungsrechtlich unsicheren Bedingungen ausgesetzt, was sich nicht nur vom ethischen Standpunkt aus auf ihre Würde, sondern auch unter beruflichen Gesichtspunkten auswirkt, da jegliche Möglichkeiten in den Bereichen lebenslanges Lernen, berufliche Fortbildung sowie Weiterentwicklung der Aufgaben, der Produktionsverfahren und der Produkte fehlen;

den öffentlichen Haushalten werden infolge des geringeren Aufkommens an Steuern und Sozialabgaben Mittel entzogen, was wiederum zu einer ungerechten Verteilung der Kosten für öffentliche Dienstleistungen und für den Wohlfahrtstaat führt (Trittbrettfahrer-Problem).

2.4.2

Derzeit ist das Phänomen der nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit in der EU in den verschiedenen Sektoren in unterschiedlicher Intensität anzutreffen: Landwirtschaft, Baugewerbe, verarbeitendes handwerkliches Gewerbe (Textil, Bekleidung, Schuhe usw.), Einzelhandel, Hotelgewerbe, Gaststättengewerbe, Wartungs- und Instandsetzungsdienstleistungen, Dienstleistungen für Betreuung bzw. Pflege und in privaten Haushalten (8).

2.5

Die Schätzungen hinsichtlich der nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit unterscheiden sich stark voneinander, und die statistische Quantifizierung des Phänomens auf EU-Ebene ist recht komplex. Dieses Problem wird auch durch die Ergebnisse der jüngsten Erhebungen (9) verdeutlicht. Diese mangelnde Transparenz wirkt sich selbstverständlich direkt auf die Fähigkeit zur Umsetzung wirksamer Maßnahmen aus, die gezielte sektorspezifische Aktionen erfordern würden.

2.5.1

In einer jüngsten Untersuchung von Eurofound erklärten 18,6 % der Befragten in den 27 Mitgliedstaaten der EU, im Jahr 2008 eine nicht angemeldete Erwerbstätigkeit ausgeübt zu haben (10). Davon waren 31,3 % abhängig Beschäftigte, die einen Teil ihres Lohnes (im Allgemeinen ca. ein Viertel) vom Arbeitgeber als Schwarzgeld in bar erhielten; 14,4 % abhängig beschäftigte Arbeitnehmer, die überhaupt nicht angemeldet waren und 14,4 % Selbstständige, die nicht angemeldet waren, und 39,7 % entfielen auf bar vergütete Dienstleistungen zwischen Personen mit familiärer, sozialer, freundschaftlicher o.ä. Bindung. Bei der neuesten Eurobarometer-Umfrage (11) von 2013 (12) gaben nur 4 % der Befragten zu, dass sie eine nicht angemeldete Erwerbstätigkeit ausüben. Jedoch räumten 11 % ein, dass sie im vergangenen Jahr Waren oder Dienstleistungen erworben hatten, die wahrscheinlich mit nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit in Zusammenhang standen. Es gibt hier große Unterschiede in der EU (13).

2.5.2

Noch ist ungewiss, wie sich die Schwarzarbeit im Verlauf der Krise entwickeln wird. In den Erwerbszweigen und Beschäftigungsbereichen, in denen sie bereits vorhanden ist, droht sie zuzunehmen und auf andere Bereiche überzugreifen (zum Beispiel im Zuge der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien) (14).

2.6

Der Prozess der Globalisierung und der soziodemografische Wandel schaffen darüber hinaus mehr Spielraum für die Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit. Deshalb sind die politischen Bekämpfungsmaßnahmen so zu gestalten, dass sie entsprechend weiterentwickelt werden können. In diesem Zusammenhang ist der Handlungsspielraum der einzelnen Länder gewiss begrenzt. Dies ist besonders offenkundig bei den grenzüberschreitenden Aspekten nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit.

2.7

Die Beteiligung nicht regulärer Einwanderer an nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit ist ein ernstes Problem, das im Rahmen der umfassenden Strategie zur Bekämpfung der nicht regulären Einwanderung anzugehen ist. Viele nicht reguläre Einwanderer kommen um die nicht angemeldete Erwerbstätigkeit gar nicht herum, sie bildet für sie eine Überlebensstrategie. Außerdem kann Schwarzarbeit die irreguläre Einwanderung befeuern.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Beschluss zur Einrichtung einer europäischen Plattform ist das Ergebnis eines langwierigen Bewusstwerdungsprozesses hinsichtlich der Schwere des Phänomens und wurde sorgfältig von den wichtigsten europäischen Institutionen erarbeitet (15).

3.2

Der Vorschlag, eine europäische Plattform einzurichten, an der sämtliche Mitgliedstaaten zwingend teilnehmen müssen, ist eine folgerichtige Initiative der EU, da das Problem der nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit alle Mitgliedstaaten betrifft — zwar in unterschiedlichem Ausmaß, aber mit bestimmten Gemeinsamkeiten.

3.2.1

Die Einrichtung dieser Form der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ist umso wichtiger, als die Wahrung und Achtung der europäischen Ideale der Solidarität und sozialen Gerechtigkeit, der freien Marktwirtschaft und der Grundsätze der Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU gewährleistet sein müssen und den Fragen in Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Aspekten nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit sowie den Herausforderungen in Zusammenhang mit der beruflichen Mobilität zu begegnen ist.

3.2.2

Die Einrichtung der Plattform soll eine bessere Koordinierung der verschiedenen Gremien und Arbeitsgruppen in den Mitgliedstaaten sicherstellen und dadurch eine Lücke auf EU-Ebene schließen, wo die nicht angemeldete Erwerbstätigkeit bislang auf uneinheitliche und unzureichend koordinierte Weise angegangen wurde.

3.2.3

Die gemeinsame und koordinierte Teilnahme aller EU-Länder ist wesentlich für ein stärkeres Engagement bei der Bekämpfung verschiedener Formen nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit (einschließlich der Scheinselbstständigkeit) sowie für die Behandlung der grenzüberschreitenden Aspekte und Probleme in Zusammenhang mit der Präsenz irregulärer nicht angemeldeter Erwerbstätiger aus Drittländern.

3.3

Es ist zu begrüßen, dass mit dem Vorschlag für eine europäische Plattform vollständig die in der EU geltenden Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden; dies sollte auch in Zukunft so sein.

3.3.1

Die Maßnahmen zur Prävention und Abschreckung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit verbleiben in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die nicht strafrechtlichen (verwaltungs- und nicht verwaltungsrechtlichen) und die strafrechtlichen Sanktionen werden auf der Grundlage des Prinzips der Rechtmäßigkeit unter Achtung der in jedem Staat geltenden Verfahren und Rechtsvorschriften verhängt.

3.4

Die Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit stellt eine grundlegende strategische Entscheidung der EU dar. Mit dieser Strategie kann die irreguläre Erwerbstätigkeit als wesentlicher Faktor für Wirtschaftswachstum regularisiert werden, um die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschafts- und Sozialsystems der EU auf der Grundlage der in der Europa-2020-Strategie festgelegten Leitlinien zu stärken.

3.5

Die Maßnahmen zur Prävention und Abschreckung der nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit müssen auf die tatsächlichen Ursachen dieses Phänomens ausgerichtet werden sowie auf die Notwendigkeit, die Instrumente zur Bekämpfung der nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit — mittels Kontrollen und Sanktionen bei unlauteren, missbräuchlichen und nicht angemeldeten Handels- und Unternehmenspraktiken — mit Maßnahmen für eine intelligente Rechtsetzung im Interesse eines stabilen und verlässlichen Rechtsrahmens zu verknüpfen.

3.5.1

Es ist wünschenswert, günstige Rahmenbedingungen für Unternehmen und Arbeitnehmer zu schaffen, indem die Kosten für die Anwendung der Rechtsvorschriften gesenkt, die Verwaltungs- und Steuerverfahren reformiert und vereinfacht und die Vorschriften über Beschäftigung, Arbeitsschutz, Saison- und Gelegenheitsarbeit und über neue Arbeitsformen verbessert werden.

3.5.2

Bei der Prävention und Abschreckung nicht angemeldeter Beschäftigung können Steuervergünstigungen eine wichtige Rolle spielen, mit denen die Regelkonformität belohnt und die Regularisierung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit, einschließlich Hausarbeit sowie Betreuung und Pflege, gefördert wird.

3.6

Bei der Einführung der europäischen Plattform müssen Überschneidungen mit bereits bestehenden Initiativen und Kooperationsformen sowie für die Lösung der Probleme unwirksame und damit überflüssige Anmeldepflichten vermieden werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Angesichts der — oftmals lückenhaften — Informationen über das Ausmaß und die Dynamiken der nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit liegt es auf der Hand, dass die Bekämpfungsmaßnahmen der nationalen Behörden durch die unmittelbaren Kenntnisse der Sozialpartner, der KMU-Verbände, der freien Berufe und der Sozialwirtschaft sowie allgemeiner der Organisationen der Zivilgesellschaft verstärkt würden. Ein solcher Informationsfluss ist nämlich die beste Garantie für eine wirksamere Ausrichtung der Arbeit der Plattform.

4.2

Bei der Benennung der einzigen Anlaufstelle sollten die Mitgliedstaaten die Sozialpartner zwingend einbeziehen müssen und die zivilgesellschaftlichen Organisationen konsultieren, die auf nationaler Ebene eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung von Schwarzarbeit spielen.

4.2.1

Es ist wesentlich, dass die Sitzungen der europäischen Plattform in jedem Mitgliedstaat — im Rahmen einer Vorbereitungssitzung — angemessen vorbereitet und mit einer Sitzung auf nationaler Ebene nachbereitet werden, um die Schlussfolgerungen der Arbeiten der Plattform zu verbreiten.

4.3

Der EWSA hat unterstrichen, dass eine verstärkte Bekämpfung der Schwarzarbeit im Wege „eines systematischen Austauschs von Informationen, Daten und Bewertungen auf Unionsebene erfolgen muss, an dem die zuständigen Behörden und die betroffenen Sozialpartner beteiligt werden und zusammenarbeiten“ (16).

4.3.1

Der EWSA hat sich stets dafür eingesetzt, den Austausch von Instrumenten, Maßnahmen und vorbildlichen Verfahren zu fördern und anzuregen, um auf die Wirtschaftsfaktoren wie auf den kulturellen und sozialen Kontext einzuwirken. Aus diesem Grunde fordert der EWSA, dass bei der Einsetzung der Plattform seine Rolle offiziell anerkannt und er als Beobachter der Plattform aufgenommen wird.

4.4

Die von der Plattform vorgesehene Arbeit zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit ist für alle Mitgliedstaaten eine gute Gelegenheit, die Maßnahmen zur Prävention, Reduzierung und Abschreckung der Schwarzarbeit zu stärken. Hierbei sollte die Einbeziehung der Zivilgesellschaft nicht unterschätzt werden, die durch eine gemeinsame Maßnahme des EWSA und der nationalen Wirtschafts- und Sozialräte im Rahmen der Aktivitäten des Lenkungsausschusses der Europa-2020-Strategie und weiterer Gremien des EWSA eingeleitet wurde.

4.4.1

Die nationalen Behörden haben eine unzureichende Rolle bei der Prävention, Information und Konsultation gespielt (17), und es ist wichtig, dass die Plattform Maßnahmen dieser Art diskutiert, auch im Rahmen gemeinsamer Aktivitäten wie europäischer Kampagnen, die im Übrigen in Artikel 4 Buchstabe i) vorgesehen sind.

4.5

Der EWSA stimmt voll und ganz mit der Festlegung der Funktionen und Aufgaben der Plattform überein. Der Austausch von Informationen und bewährten Verfahren sowie die Entwicklung von Analysen, Studien und Kompetenzen (über gemeinsame Fortbildungsmaßnahmen) sind gewiss der erste Schritt, um koordinierte grenzüberschreitende Maßnahmen auf den Weg zu bringen. In diesem Bereich spricht sich der Ausschuss dafür aus, das Mandat der Plattform zu erweitern, sodass sie auch Empfehlungen zu Rechtsvorschriften auf EU- oder Mitgliedstaatsebene aussprechen kann, um eine effizientere Strategie zur Bekämpfung der Schwarzarbeit umzusetzen (beispielsweise indem eine verstärkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei den Inspektionen zur Überwachung und Bekämpfung vorgeschlagen wird).

4.6

Wie der EWSA bereits in seiner früheren Stellungnahme verdeutlicht hat, sollte die Plattform die Voraussetzungen für eine quantitative und qualitative Bewertung folgender Aspekte fördern: i) des Phänomens nichtregulärer Erwerbstätigkeit (das sich von einem zum anderen Mitgliedstaat stark unterscheidet); ii) der negativen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen, die ihrerseits je nach strukturellen Voraussetzungen und Kontext in den Mitgliedstaaten unterschiedlich durchschlagen; iii) der Effizienz der in den Mitgliedstaaten ergriffenen Bekämpfungsmaßnahmen.

4.6.1

Vor diesem Hintergrund ist die Schaffung der Plattform besonders wichtig, und es ist wünschenswert, dass Eurostat und Eurofound innerhalb der Plattform eine bedeutende Rolle spielen.

Eurostat könnte die technische Unterstützung für die Lösung methodischer Probleme bei den Schätzungen hinsichtlich Ausmaß und Entwicklung der Schattenwirtschaft und der nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit liefern, die immer noch unvollständig und umstritten sind.

Eurofound könnte die aktuelle Datenbank zur Unterstützung der Arbeiten der Plattform zu einer interaktiven Datenbank (Interactive knowledge bank) für bewährte Verfahren bei der Bekämpfung von Schwarzarbeit ausbauen.

4.7

Bei der OECD gibt es seit vielen Jahren ein spezifisches Projekt zur Schwarzarbeit (18), weshalb der EWSA es für sinnvoll hält, die OECD als Beobachter zur Teilnahme an der europäischen Plattform aufzufordern.

4.8

Die Tätigkeit der Plattform muss nicht nur kontinuierlich beobachtet und begleitet werden — was sich nicht auf eine vierjährliche Prüfung beschränken darf —, sondern bei der Auswahl der Ergebnis- und Auswirkungsindikatoren und bei der Bewertung des Programms der Plattform muss eine tatsächliche Einbeziehung externer Gutachter sichergestellt werden.

Brüssel, den 10. September 2014.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2007) 628.

(2)  COM(2014) 221 final.

(3)  Europäisches Parlament (2013), Social protection rights of economically dependent self-employed workers. Studie; Floren, B. (2013), Fake Self-employment in the EU — A comparison between the Netherlands and the UK. Tilburg University.

(4)  CES2063-2012_00_00_TRA_PA.

(5)  ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 14-19.

(6)  Wie Floren, B. (2013), a.a.O., anmerkt, wird der abhängige Beschäftigte im Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 3.7.1986 in der Rechtssache C-66/85, Lawrie-Blum/Land Baden-Württemberg, folgendermaßen definiert: „jemand, der während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält“. Da diese Definition in jüngeren Urteilen des Gerichtshofs (verbundene Rechtssachen C-22/08 und C-23/08, Athanasios Vatsouras und Josif Koupatantze gegen Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Nürnberg 900; Urteil vom 20.11.2001 in der Rechtssache C-268/99, Jany u. a.) übernommen wurde, wurden mit ihr — nach dem Ausschlussprinzip — auch implizit die Bedingungen für die Definition der selbstständigen Erwerbstätigkeit festgelegt. Hiervon zeugt die Tatsache, dass der Gerichtshof in dem vorgenannten Urteil in der Rechtssache C-268/99 ausdrücklich bekräftigt, dass „eine Tätigkeit, die jemand nicht im Rahmen eines Unterordnungsverhältnisses ausübt, als selbständige Erwerbstätigkeit [...] anzusehen [ist].“

(7)  Europäische Kommission (2014), Undeclared work in the EU. Eurobarometer-Sondererhebung 402; A.T. Kearney, VISA, Schneider, F., (2013), The Shadow Economy in Europe.

(8)  Europäische Kommission (2014), a.a.O.; Europäische Kommission (2013), Employment and Social Development in Europe; Hazans, Mihails (2011), Informal Workers across Europe: Evidence from 30 European Countries. Weltbank; Koettl, Johannes; Packard, Truman; Montenegro, Claudio E. (2012), In from the shadow: integrating Europe's informal labor. Washington, DC: Weltbank.

(9)  Siehe insbesondere die Berichte der Eurofound (2013) zur Bekämpfung der nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit in der EU „Tackling undeclared work in 27 European Union Member States and Norway: Approaches and measures since 2008“ (2013) und „Tackling undeclared work in Croatia and four EU candidate countries“ (2013) und die Eurobarometer-Sondererhebung 402 „Undeclared work in the European Union“ vom März 2014.

(10)  Eurofound (2013) [b].

(11)  Sämtliche Zahlen stammen aus direkten Erhebungen, die auf persönlichen Befragungen von EU-Bürgerinnen und -Bürgern basieren. Das Bewusstsein für die Problematik, nationale Definitionen, Transparenz von nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit und Vertrauen in die interviewende Person sind demnach wichtige Faktoren, die bestimmen, ob die betreffenden Bürgerinnen und Bürger angeben, eine nicht angemeldete Erwerbstätigkeit ausgeführt oder in Anspruch genommen zu haben.

(12)  Eurobarometer-Sondererhebung 402, „Undeclared work in the European Union“, 2013.

http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_402_en.pdf

(13)  COM(2014) 221 final.

(14)  Europäische Kommission (2013), a. a. O.

(15)  Siehe folgende Dokumente: COM(2010) 2020, COM(2012) 173, Beschluss 2010/707/EU des Rates vom 21. Oktober 2010, vom Europäischen Parlament am 14. Januar 2014 verabschiedete Entschließung 2013/2112(INI) — 14/01/2014.

(16)  ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 9-14.

(17)  Im Rahmen der länderspezifischen Empfehlungen 2014 wurden folgenden Ländern spezifische Empfehlungen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit unterbreitet: Bulgarien, Kroatien, Ungarn, Italien, Lettland, Rumänien und Spanien.

(18)  OECD, 2002, Measuring the Non-Observed Economy — A Handbook; OECD, 2014, The Non-Observed Economy in the System of National Accounts, Gyomai, G:, van de Ven, P., Statistics Brief, No 18.


ANHANG

zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 1.5

Ändern:

erkennt zwar an stellt fest, dass die nicht angemeldete Erwerbstätigkeit und die falsch deklarierte selbstständige Erwerbstätigkeit — bzw. Scheinselbstständigkeit zwei verschiedene Konzepte sind., hält es jedoch für richtig, auch die Scheinselbstständigkeit zu den nicht angemeldeten Formen zu zählen, zu deren Prävention, Abschreckung und Bekämpfung die Plattform dient, angesichts ihrer negativen Folgen für i) die Rechte und Garantien der Arbeitnehmer, ii) einen reibungslosen freien Wettbewerb und iii) die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU Wie der EWSA bereits in der Vergangenheit hervorgehoben hat  (1) , ‚werden in diesem Bereich zuverlässigere Nachweise gebraucht‘; er hat empfohlen, ‚die Lösung des spezifischen Problems der Selbstständigkeit zum Gegenstand der Verhandlungen im sozialen Dialog zu machen — sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene — und so die Teilnahme der Verbände zu ermöglichen, die die Interessen der Selbstständigen im sozialen Dialog vertreten‘.

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen

:

107

Nein-Stimmen

:

153

Enthaltungen

:

12

Ziffer 1.5.1

Ändern:

„hofft, dass es dank der Arbeiten der Plattform — unter Achtung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Verfahrensweisen — gelingen wird, auf der Grundlage einer Bewertung der in den Mitgliedstaaten gesammelten Erfahrungen die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten durch Initiativen zu fördern, die die Verbesserung des Wissensstands, die Entwicklung des Austauschs von Informationen und bewährten Verfahren, die Förderung innovativer Ansätze und die Bewertung von Erfahrungen zum Ziel haben und durch die Definition der Scheinselbstständigkeit eine effiziente Strategie zur Bekämpfung dieses Phänomens zu erarbeiten;“

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen

:

113

Nein-Stimmen

:

149

Enthaltungen

:

10

Ziffer 1.6

Ändern:

stimmt zwar voll und ganz den Funktionen und Aufgaben der Plattform zu, ist jedoch der Ansicht, dass ihr Mandat ausgeweitet werden könnte, sodass sie Empfehlungen zu Rechtsvorschriften auf EU- oder Mitgliedstaatsebene aussprechen kann, um die Umsetzung einer effizienteren Strategie zu garantieren (beispielsweise indem eine verstärkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei den Inspektionen zur Überwachung und Bekämpfung vorgeschlagen wird) stimmt den Funktionen und Aufgaben der Plattform zu, da sie lediglich richtungsweisenden Charakter haben;“

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen

:

114

Nein-Stimmen

:

150

Enthaltungen

:

9

Ziffer 2.1

Ändern:

„Auf EU-Ebene ist die Schwarzarbeit bzw. nicht angemeldete Erwerbstätigkeit definiert als ‚jedwede Art von bezahlten Tätigkeiten, die von ihrem Wesen her keinen Gesetzesverstoß darstellen, den staatlichen Behörden aber nicht gemeldet werden, wobei in den einzelnen Mitgliedstaaten jedoch unterschiedliche gesetzliche Rahmenbedingungen gegeben sind‘  (2) . Unter diese Definition fällt auch die falsch deklarierte Erwerbstätigkeit oder Scheinselbstständigkeit, die vorliegt, wenn der Erwerbstätige auf der Grundlage eines Dienstleistungsvertrags formell als selbstständig gemeldet wird, de facto jedoch nach nationalem Recht und nationaler Praxis als abhängig Beschäftigter tätig ist (3).

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen

:

104

Nein-Stimmen

:

142

Enthaltungen

:

6

Ziffer 2.2

Ändern:

„Die nicht angemeldete Erwerbstätigkeit und die Scheinselbstständigkeit sind verschiedene Aspekte desselben Phänomens, das sich negativ auf die Rechte und Garantien der Arbeitnehmer, auf den reibungslosen Wettbewerb auf dem freien Markt und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU auswirkt. Die Scheinselbstständigkeit wird im einzelstaatlichen Recht sowie durch die rechtliche Definition geregelt, mit der eine Trennlinie zwischen abhängiger und selbstständiger Erwerbstätigkeit gezogen wird; für die Annahme von Maßnahmen zur Einhaltung der Verpflichtungen zur Zahlung von Steuern und Sozialabgaben sind die Mitgliedstaaten zuständig. Das Thema Scheinselbstständigkeit kann nicht auf EU-Ebene behandelt werden, ohne auf die Vielfalt der einzelstaatlichen Definitionen und den unterschiedlichen Status der Selbstständigkeit zu verweisen. Die Zuordnung der Scheinselbstständigkeit zu den nicht angemeldeten Formen der Erwerbstätigkeit, die mit der Plattform bekämpft werden sollen, ist absolut logisch muss bekämpft werden, da es sich um irreguläre Verhältnisse handelt, die im Zuge der zunehmenden Verbreitung der Schwarzarbeit im Dienstleistungssektor immer stärker um sich greifen und die Arbeitnehmer ähnlich wie die Schwarzarbeit um ihre Rechte und Garantien bringen6.“

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen

:

112

Nein-Stimmen

:

142

Enthaltungen

:

10

Ziffer 2.2.1

Ändern:

„Wie der EWSA bereits betonte4gibt es auf EU-Ebene momentan keine einheitliche Definition der Kategorie der selbstständigen Erwerbstätigkeit; folglich bezieht sich jede zuständige Behörde auf den nationalen Rechtsrahmen, wodurch die Umsetzung einer Strategie zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit auf europäischer Ebene — insbesondere im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Erwerbstätigkeit erschwert wird. Er unterstrich Folgendes  (4) : ‚[d]as Konzept der Selbstständigkeit wird in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich definiert‘ und ‚[d]ie Definitionen unterscheiden sich nicht nur von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat, sondern auch im EU-Recht‘.

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen

:

115

Nein-Stimmen

:

151

Enthaltungen

:

5

Ziffer 2.2.2

Ändern:

In diesem Zusammenhang hat sich der EWSA bereits für eine Bewertung der verschiedenen in den einzelnen Mitgliedstaaten gesammelten Erfahrungen ausgesprochen, um daraus eine Reihe von Schlussfolgerungen zu ziehen und Empfehlungen für eine effiziente Strategie zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit oder falsch deklarierten selbstständigen Erwerbstätigkeit auszusprechen. In seiner Stellungnahme zum Thema ‚Missbrauch des Status der Selbstständigkeit‘5 betonte der EWSAdie Notwendigkeit, mit Hilfe einer Definition der Scheinselbstständigkeit, mit der die selbstständigen Erwerbstätigen und die redlichen Mikrounternehmen vor den Risiken des unlauteren Wettbewerbs auf den Märkten geschützt werden können, für zuverlässige Rechtsvorschriften zu sorgen , dass ‚zuverlässigere Nachweise gebraucht [werden], um die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer und die kritischsten Grenzen zu bestimmen‘, weshalb ‚stärker fachlich geforscht werden‘ sollte. Er empfahl dabei, ‚die Lösung des spezifischen Problems der Selbstständigkeit zum Gegenstand der Verhandlungen im sozialen Dialog zu machen — sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene — und so die Teilnahme der Verbände zu ermöglichen, die die Interessen der Selbstständigen im sozialen Dialog vertreten.‘

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen

:

113

Nein-Stimmen

:

156

Enthaltungen

:

9

Ziffer 3.3

Ändern:

Es ist zu begrüßen, dass mit dem Der Vorschlag für eine europäische Plattform muss voll und ganz mit dem gemeinschaftlichen Besitzstand vollständig die in der EU geltenden sowie dem Grundsätze der Subsidiaritätsprinzip und dem r Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen gewahrt werden; dies sollte auch in Zukunft so sein.“

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen

:

105

Nein-Stimmen

:

152

Enthaltungen

:

13


(1)  ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 14-19.

(2)  COM(2007) 628.

(3)  COM(2014) 221 final.

(4)  ABl C 161 vom 6.6.2013, S. 14-19.


19.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 458/52


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Verbot der Treibnetzfischerei und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 850/98, (EG) Nr. 812/2004, (EG) Nr. 2187/2005 und (EG) Nr. 1967/2006 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 894/97 des Rates

COM(2014) 265 final — 2014/0138 (COD)

(2014/C 458/09)

Berichterstatter:

Thomas McDONOGH

Der Rat beschloss am 22. Mai 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Verbot der Treibnetzfischerei und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 850/98, (EG) Nr. 812/2004, (EG) Nr. 2187/2005 und (EG) Nr. 1967/2006 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 894/97 des Rates

COM(2014) 265 endg. — 2014/0138 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 18. Juli 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 501. Plenartagung am 10./11. September 2014 (Sitzung vom 10. September) mit 150 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

In Anbetracht der Umweltschäden und der laxen Kontrolle dieses Sektors durch die Mitgliedstaaten sollte die Kommission stufenweise ein vollständiges Verbot der Treibnetzfischerei einführen.

1.2

Der Ausschuss ist sich darüber im Klaren, dass ein solches Verbot negative Folgen für die Beschäftigung in einigen Mitgliedstaaten hat. Als Vertreter der Zivilgesellschaft möchte der EWSA seiner Besorgnis über jeglichen Einkommensverlust Ausdruck verleihen und die Kommission auffordern, entsprechende Maßnahmen zur Lösung dieses Problems zu finden.

1.3

Der Ausschuss schlägt vor, zur Unterstützung des Übergangs zu anderen Fangmethoden den Europäischen Meeres- und Fischereifonds zu nutzen.

2.   Hintergrund

2.1

Die Kommission beabsichtigt, die Verordnungen (EG) Nr. 850/98, Nr. 812/2004, Nr. 2187/2005 und Nr. 1967/2006 des Rates zu ändern sowie die Verordnung (EG) Nr. 894/97 des Rates aufzuheben.

2.2

Anfang der 90er Jahre wurde in spezifischen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen ein Moratorium für die pelagische Fischerei mit großflächigen Treibnetzen (d. h. Fanggeräten von mehr als 2  500 Metern Länge) auf hoher See gefordert, woraufhin die EU Rechtsvorschriften für die Treibnetzfischerei erarbeitete.

2.3

Es hat sich jedoch gezeigt, dass der bestehende EU-Rechtsrahmen für die Treibnetzfischerei Schwächen aufweist, da die bestehenden Vorschriften leicht zu umgehen sind. Aufgrund des Fehlens von EU-Vorschriften über die Merkmale der Fanggeräte (z. B. maximale Maschengröße, maximale Garnstärke, Einstellungsfaktor usw.) und den Einsatz der Fanggeräte (z. B. Entfernung zur Küste, Stellzeit, Fangsaison usw.) in Verbindung mit der Möglichkeit, andere Fanggeräte an Bord mitzuführen, konnten Fischer illegal Treibnetze für den Fang von Arten einsetzen, die nicht mit diesem Fanggerät gefangen werden dürfen, und vorgeben, diese Arten beispielsweise mit einem anderen Fanggerät (z. B. Langleinen usw.) gefangen zu haben. Gemeinsame Aktionen der Fischer machten den Einsatz von Fanggeräten von weit mehr als 2  500 Metern Länge leicht möglich.

2.4

Es liegen Berichte vor über ungewollte Beifänge (bzw. ein hohes Risiko der Beeinträchtigung) von streng geschützten Arten wie Stören, Meeresschildkröten, Meeresvögeln und Walen.

2.5

Überdies gehen jedes Jahre, insbesondere bei starkem Sturm, große Teile der Treibnetze im Meer verloren. Da die Netze aus synthetischem Material hergestellt werden, das sich kaum zersetzt, verfangen sich noch über Jahre hinweg Fische, Haie, Säugetiere, Vögel, Schildkröten und andere Tiere in diesen so genannten Geisternetzen. Über den Umfang dieses Problems ist nur wenig bekannt, aber es besteht kein Zweifel, dass es sich hierbei um eine der Haupttodesursachen für Meerestiere wie Ostsee-Wildlachs, Thunfisch, Tintenfisch, Schwertfisch u. a. handelt.

2.6

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass im Zusammenhang mit dem Einsatz dieser Fanggeräte nach wie vor schwerwiegende Bedenken hinsichtlich des Umweltschutzes und der Bestandserhaltung bestehen.

2.7

Die meisten Fischer betreiben lediglich wenige Monate pro Jahr Treibnetzfischerei, einige setzen Treibnetze sogar weniger als einen halben Monat jährlich ein. Somit ist nicht davon auszugehen, dass das Verbot von Treibnetzen zu einem entsprechenden Rückgang der Zahl der Fischer führen wird, da diese mit anderen Fanggeräten, für die sie bereits im Besitz einer Fangerlaubnis sind, weiterhin Fischfang betreiben werden.

Brüssel, den 10. September 2014.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


19.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 458/54


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch über Mobile-Health-Dienste („mHealth“)

COM(2014) 219 final

(2014/C 458/10)

Berichterstatterin:

Isabel CAÑO AGUILAR

Die Europäische Kommission beschloss am 10. April 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Grünbuch über Mobile-Health-Dienste („mHealth“)

COM(2014) 219 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 1. September 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 501. Plenartagung am 10./11. September 2014 (Sitzung vom 10. September) mit 180 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstreicht die Bedeutung der mobilen Gesundheitsdienste (auch: Mobile Health bzw. mHealth). Sie erfüllen vielfältige Funktionen im Zusammenhang mit der Gesundheitsfürsorge und sind eine weltweit immer weiter verbreitete Zukunftstechnologie.

1.2

Der EWSA befürwortet das Grünbuch wegen des Beitrags, den die mobilen Gesundheitsdienste zu den europäischen Gesundheitssystemen leisten können, welche mit wachsenden Herausforderungen wie der demografischen Alterung konfrontiert sind.

1.3

Für den EWSA muss die Priorität darin bestehen, die Gesundheitsversorgung zu verbessern, und nicht, Kosten zu reduzieren. Der Erfolg der mobilen Gesundheitsdienste erfordert die Beteiligung der Angehörigen der Gesundheitsberufe, den Dialog mit Patientenverbänden, die Förderung des gegenseitigen Vertrauens zwischen Patienten und Gesundheitsfachkräften sowie Anreize und Ausbildungsprogramme für Letztere. Es muss ebenfalls ein Dialog mit den Akteuren der Branche hergestellt werden.

1.4

Der EWSA empfiehlt die Durchführung von Informationskampagnen über sämtliche Aspekte der mobilen Gesundheitsdienste.

1.5

Durch den neuen Rechtsrahmen wird der Schutz personenbezogener Daten im Einklang mit der Charta der Grundrechte der EU wesentlich verbessert, wobei es bisher jedoch keine Technologien gibt, die den unberechtigten Zugang zu mobilen Kommunikationsdiensten verhindern können.

1.6

Die Massendatenverarbeitung ist für die medizinische Forschung von grundlegender Bedeutung. Der EWSA ist der Ansicht, dass a) die Anonymität der Patienten gewahrt werden muss, b) es zweckmäßig ist, Programme zur themenbezogenen Datensuche (Data Mining) zu fördern, c) das Verbot der Patentierung und Kommerzialisierung der Massendatenverarbeitung erwogen werden muss und d) auch Technologien und Vorschriften für Metadaten festgelegt werden sollten.

1.7

Mittels einer Verordnung sollten folgende Aspekte geregelt werden: a) die „Gesundheitsversorgung“ gemäß Richtlinie 2011/24/EU, b) die Anwendungen (Apps) für Sicherheit und Wohlbefinden und c) die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, die in den geltenden Rechtsvorschriften nicht vorgesehen ist.

1.8

In den Vorschriften müssen die Standardisierung, die Zertifizierung und die behördliche Genehmigung der Mobile-Health- und Wellness-Systeme festgelegt werden.

1.9

Die Kommission sollte die Aufstellung verbindlicher nationaler Strategien erwägen, um den gleichberechtigten Zugang zu mobilen Gesundheitsdiensten zu gewährleisten.

1.10

Die technische und semantische Interoperabilität im Rahmen der Europäischen Interoperabilitätsstrategie ist für die allgemeine Anwendung mobiler Gesundheitsdienste von großer Bedeutung.

1.11

Die angemessene Kenntnis der Vorschriften und die Verwendung zertifizierter Geräte werden dazu beitragen, die Haftung der Hersteller und Gesundheitsfachkräfte abzuschwächen.

1.12

Zu den Prioritäten der internationalen Zusammenarbeit im Bereich der mobilen Gesundheitsdienste unter Beteiligung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) müssen die Erstellung einer Liste mit Geräten zur medizinischen Verwendung, ethische Grundsätze, Datenschutz und Interoperabilität zählen. Es sollte erwogen werden, die mobilen Gesundheitsdienste auf die Tagesordnung der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen den USA und der EU zu setzen.

1.13

Es ist erforderlich, die Beseitigung der regulatorischen, wirtschaftlichen, strukturellen und technologischen Hürden anzugehen, die der europäischen Industrie schaden. Die KMU spielen bei den mobilen Gesundheitsdiensten eine herausragende Rolle.

2.   Wesentlicher Inhalt des Grünbuchs

2.1

Gemäß WHO versteht man unter mobilen Gesundheitsdiensten bzw. Mobile Health (mHealth) „medizinische Verfahren und Praktiken der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, die durch Mobilgeräte wie Mobiltelefone, Patientenüberwachungsgeräte, persönliche digitale Assistenten (PDA) und andere drahtlos angebundene Geräte unterstützt werden“.

2.2

Mobile-Health-Dienste bieten ein Potenzial für die Gesundheitsfürsorge, sind sie doch auf Vorbeugung und Lebensqualität, eine effizientere und nachhaltigere Gesundheitsfürsorge und aufgeklärtere und aktivere Patienten ausgerichtet.

2.3

Angesichts des enormen Anstiegs der Zahl der Nutzer mobiler Endgeräte (weltweit 6 Mrd. Menschen) haben mobile Gesundheitsdienste auch ein Marktpotenzial (schätzungsweise 23 Mrd. USD für das Jahr 2017).

2.4

Die geschätzten Einsparungen an Gesundheitskosten in der EU können bis 2017 99 Mrd. EUR betragen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der mobilen Gesundheitsdienste. Sie erfüllen vielfältige Funktionen im Zusammenhang mit der Gesundheitsfürsorge und sind eine weltweit immer weiter verbreitete Zukunftstechnologie.

3.2

Der EWSA befürwortet das Grünbuch, denn die mobilen Gesundheitsdienste können die europäischen Gesundheitssysteme verbessern, die wegen der demografischen Alterung und der Notwendigkeit, die Behandlung chronischer Krankheiten, Fettleibigkeit (ein zunehmendes Problem in der EU), Rauchen u.v.m. anzugehen, vor wachsenden Herausforderungen stehen.

3.3

Obwohl die EU eine wesentliche Koordinierungs- und Unterstützungsfunktion wahrnehmen wird, erinnert der EWSA daran, dass die Verantwortung für die Einrichtung und Verwaltung der Gesundheitssysteme bei den Mitgliedstaaten liegt, von denen viele mit schwerwiegenden Haushaltsbeschränkungen konfrontiert sind.

3.4

In den Industrieländern ist der Hauptgrund für die allgemeine Anwendung der mobilen Gesundheitsdienste die „zwingende Notwendigkeit“, die Kosten der Gesundheitsversorgung zu reduzieren. Für den EWSA muss die Priorität jedoch darin bestehen, die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu verbessern.

3.5

Vorschläge des EWSA für ein Gelingen der mobilen Gesundheitsdienste:

Beteiligung der Angehörigen der Gesundheitsberufe an ihrer Umsetzung;

Dialog mit den Patientenverbänden;

Dialog mit der Branche der App-Entwickler;

Aus- und Weiterbildung des Gesundheitspersonals in der Nutzung der mobilen Technologien und Schaffung von Anreizen, um die Beschäftigten zu motivieren;

Förderung des gegenseitigen Vertrauens zwischen Patienten und Gesundheitsfachkräften, wobei die Gefahr der „Unpersönlichkeit“ und der mangelnden Beachtung psychologischer und sozialer Faktoren vermieden werden sollte (1).

3.6

Der EWSA empfiehlt, für die Bürgerinnen und Bürger Informationskampagnen über die mobilen Gesundheitsdienste durchzuführen, in denen auch die Grenzen dieser Dienste sowie die Notwendigkeit der korrekten Verwendung der Apps für Gesundheit und Wohlbefinden thematisiert werden. Die Bevölkerung muss wissen, dass sie sowohl mit Risiken als auch mit neuen Chancen verbunden sind.

3.7

Der EWSA zeigt sich besorgt über die Auswirkungen der Sparmaßnahmen und die Reduzierung des Gesundheitspersonals, um Krankenhausausgaben zu verringern. Er unterstreicht zudem die Notwendigkeit, die öffentlichen Systeme der kollektiven Solidarität nicht zu schwächen.

4.   Besondere Bemerkungen — Beantwortung der Fragen

4.1   Datensicherheit

4.1.1   Welche besonderen Sicherheitsvorkehrungen in Mobile-Health-Lösungen würden helfen, eine unnötige und unbefugte Verarbeitung von Gesundheitsdaten im Zusammenhang mit Mobile-Health-Diensten zu verhindern?

4.1.2

Der Mangel an Sicherheit behindert die Verbreitung der mobilen Gesundheitsdienste.

4.1.3

Es gibt keine Lösungen, die den unberechtigten Zugang zu Gesundheitsdaten „verhindern“ können, wenngleich Verschlüsselung und Authentifizierungsmechanismen das Risiko ein Stück weit verringern können. Auf dem Markt werden Datenschutztechnologien angeboten; ihre Zuverlässigkeit ist allerdings nicht gewährleistet.

4.1.4

Der geltende Rechtsrahmen für den Datenschutz in der EU (2) wird derzeit überarbeitet (3). Die neue Verordnung, die voraussichtlich 2015 in Kraft treten wird, ist ein bedeutsamer Fortschritt beim Schutz personenbezogener Daten, der in der Charta der Grundrechte der EU (Art. 8) und im AEUV (Art. 16 Abs. 2) verankert ist (4).

4.1.5

Der EWSA vertritt folgende Ansichten:

Die Einführung wirksamer Datenschutztechnologien erfordert mehr öffentliche und private Investitionen und Forschung. Unter der dritten Säule der Digitalen Agenda (Vertrauen und Sicherheit) müssen Fortschritte in diese Richtung gemacht werden.

Obwohl die Daten zu Gesundheit und Wohlbefinden in den allgemeinen Vorschriften enthalten sind, sollte die Aufnahme eines spezifischen Kapitels zu diesen Fragen erwogen werden.

Die EU muss dafür sorgen, dass die Sicherheitsnorm ISO 27001 international angewandt wird.

4.1.6   Wie könnten in Mobile-Health-Apps die Grundsätze der „Datenminimierung“ sowie des „Datenschutzes durch Technik“ (data protection by design) und der „datenschutzfreundlichen Voreinstellungen“ (data protection by default) von den App-Entwicklern am besten implementiert werden?

4.1.7

Die genannten Grundsätze werden im Rahmen der kommenden Vorschriften angemessen angegangen — entscheidend ist, ihre strikte Einhaltung zu fordern. Was die „Minimierung“ betrifft, müssen die App-Entwickler Transparenz hinsichtlich der von ihnen angebotenen Produkte walten lassen.

4.2   Massendatenverarbeitung

4.2.1   Welche Maßnahmen sind nötig, um das Potenzial der großen Datenmengen, die durch Mobile-Health-Anwendungen generiert werden, vollständig auszuschöpfen, ohne gegen rechtliche Bestimmungen und ethische Vorgaben zu verstoßen?

4.2.2

Massendaten (Big Data), deren Umfang stetig steigt, spielen in der medizinischen Forschung und Praxis eine grundlegende Rolle.

4.2.3

Der EWSA vertritt folgende Ansichten:

Um das unverzichtbare Vertrauen der Patienten zu sichern, ist es erforderlich, ihnen die angemessenen Informationen über die Nutzung der Daten bereitzustellen.

Die Anonymität der Patienten muss in jedem Fall gewahrt werden.

Zu den Zielen der von der EU finanzierten Forschungsprogramme sollte die Entwicklung von Technologien für das Data Mining gehören.

Es sollte ein Verbot der Patentierung oder Kommerzialisierung von Massendaten erwogen werden.

Massendaten sollten den Wissenschaftlern zur freien Verfügung stehen.

Es ist ebenfalls notwendig, Technologien und Vorschriften zu Metadaten festzulegen.

4.3   Rechtsrahmen

4.3.1   Werden Sicherheits- und Leistungsanforderungen an Lifestyle- und Gesundheits-Apps im gegenwärtigen EU-Rechtsrahmen angemessen berücksichtigt?

4.3.2

Der geltende Rechtsrahmen für „medizinische Geräte“ (5) wird derzeit überarbeitet. Die Kommission hat bestimmte Leitlinien für Softwareentwickler und Gerätehersteller bezüglich der Frage erlassen, was darin nach Maßgabe der geltenden Normen aufgenommen werden darf (oder nicht).

4.3.3

Eine Begriffsbestimmung von „System“ gibt es nicht, doch existieren spezifische Anforderungen an die auf den Markt gebrachten Produkte, die in den Normen berücksichtigte und nicht berücksichtigte Apps kombinieren.

4.3.4

Ebenso wenig gibt es eine klare Unterscheidung zwischen Apps, die das Wohlbefinden fördern (Mobile Wellness Apps), und ausschließlich medizinischen Apps (Mobile Medical Apps).

4.3.5

Infolgedessen ist es erforderlich,

mittels Verordnungen folgende Aspekte zu regeln: a) die mobilen Gesundheitsdienste entsprechend der bereits festgelegten Definition von „Gesundheitsversorgung“ (6) und b) die Apps für Sicherheit und Wohlbefinden.

Da sie in den geltenden Rechtsvorschriften bisher nicht vorgesehen ist, sollte die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung ebenfalls Eingang in die Vorschriften finden.

Ziele: a) den Herstellern Rechtssicherheit bieten, b) den Fachkräften und Nutzern Garantien geben, c) das Inverkehrbringen ineffizienter oder schädlicher Produkte vermeiden.

4.3.6   Besteht die Notwendigkeit, die Durchsetzung der für Mobile-Health-Dienste geltenden EU-Rechtsvorschriften durch die zuständigen Behörden und Gerichte zu verbessern? Wenn ja, warum und wie?

4.3.7

Ja, um eine effiziente Nutzung der mobilen Gesundheitsdienste sicherzustellen. Die Kontrolle der Durchsetzung der Rechtsvorschriften ist eine komplexe Aufgabe, da es mehr als 40  000 Gesundheits- und Wellness-Apps gibt. Die Koordinierung und Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten ist daher unabdingbar.

4.4   Patientensicherheit und Transparenz der Informationen

4.4.1   Welche politischen Maßnahmen sollten gegebenenfalls ergriffen werden, um die Wirksamkeit von Mobile-Health-Lösungen zu gewährleisten bzw. zu überprüfen?

4.4.2

In den Vorschriften müssen in Bezug auf Apps zwingend folgende Aspekte geregelt werden:

Normung,

Zertifizierung, und

behördliche Genehmigung.

4.4.3   Wie kann dafür gesorgt werden, dass Bürgerinnen und Bürger, die ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden mit Hilfe von Mobile-Health-Lösungen einschätzen, dies auch auf sichere Weise tun können?

4.4.4

Die Apps für das persönliche Wohlbefinden müssen dieselben Anforderungen wie die Gesundheits-Apps erfüllen, da auch sie Informationen über die Gesundheit der betreffenden Person enthalten.

4.5   Rolle der Mobile-Health-Dienste in den Gesundheitssystemen und beim gleichberechtigten Zugang

4.5.1   Haben Sie Belege für den Einsatz von Mobile-Health-Lösungen in den EU-Gesundheitssystemen? Welche bewährten Verfahren gibt es bei der Organisation der Gesundheitsfürsorge zur Maximierung eines möglichst umfassenden Einsatzes von Mobile-Health-Diensten für eine höhere Versorgungsqualität (z. B. klinische Leitlinien zur Nutzung der Mobile-Health-Dienste)? Haben Sie Belege für den möglichen Beitrag, den Mobile-Health-Dienste zur Eindämmung oder Dämpfung der Gesundheitskosten in der EU leisten könnten?

4.5.2

In dem von der Kommission genannten Bericht von PwC wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, „mehr Belege“ für den langfristigen wirtschaftlichen und klinischen Nutzen mobiler Gesundheitsdienste beizubringen (S. 21).

4.5.3   Welche Maßnahmen wären auf EU-Ebene wie auch auf nationaler Ebene angemessen, um mit Mobile-Health-Diensten den gleichberechtigten und barrierefreien Zugang zur Gesundheitsfürsorge zu fördern?

4.5.4

Nach Maßgabe der Verträge und der gemeinsamen Werte der EU sollte die Kommission politische Maßnahmen für den gleichberechtigten Zugang zu mobilen Gesundheitsdiensten vorbereiten und die Mitgliedstaaten dazu verpflichten, nationale Strategien für die medizinische Fernversorgung aufzustellen, in denen der gleichberechtigte Zugang ebenfalls thematisiert wird.

4.5.5

Die mobilen Gesundheitsdienste müssen fester Bestandteil des Gesundheitssystems sein. Sie müssen der gesamten Bevölkerung offenstehen, nicht nur Menschen mit höherem Bildungsniveau oder höherem Einkommen.

4.5.6

Der EWSA bringt seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass die Einführung der mobilen Gesundheitsdienste die Ungleichheiten bei Zugang zur Gesundheitsversorgung verstärken könnte, u. a. aus folgenden Gründen:

der digitalen Kluft,

der ungleichen territorialen Einrichtung von Breitbandnetzen,

des Fehlens spezifischer Maßnahmen für Personen mit unterschiedlichen Behinderungen,

des hohen Preises der Geräte, über die der Patient verfügen muss (Smartphones, Tablet-Computer usw.).

4.5.7

Im Hinblick auf die allgemeine Anwendung der mobilen Gesundheitsdienste ist es unerlässlich, Maßnahmen durchzuführen, die zur Erleichterung der Inklusion in die digitale Gesellschaft dienen, sowie Maßnahmen zugunsten von Personen mit einem höheren Bedarf an erschwinglicher Gesundheitsversorgung wie ältere Menschen, chronisch Kranke und Menschen mit einer Behinderung.

4.6   Interoperabilität

4.6.1   Was sollte — zusätzlich zu den im Aktionsplan für elektronische Gesundheitsdienste bereits vorgeschlagenen Maßnahmen — ihrer Meinung nach gegebenenfalls unternommen werden, um die Interoperabilität von Mobile-Health-Lösungen zu verbessern?

4.6.2

Es sollten zuverlässige und sichere Mechanismen für die Übertragung medizinischer Daten mithilfe medizinischer Geräte eingerichtet werden.

4.6.3   Meinen Sie, dass Arbeiten zur Gewährleistung der Interoperabilität von Mobile-Health-Apps und elektronischen Patientenakten durchgeführt werden müssten?

4.6.4

Ja. Das Volumen der Gesundheitsdaten verdoppelt sich alle 18 Monate, und dieser Wachstumsrhythmus macht Normen unverzichtbar. Normen haben unterschiedliche Funktionen innerhalb der einzelnen Gesundheitsversorgungsbereiche; Interoperabilitätsnormen sind jedoch der Dreh- und Angelpunkt für die Schaffung von Nutzerschnittstellen zwischen unterschiedlichen Systemen.

4.6.5

Es ist wichtig, in der semantischen Frage im Rahmen von SNOMED CT (Systematized Nomenclature of Medicine — Clinical Terms) voranzuschreiten.

4.6.6   Falls ja, wie und von wem?

4.6.7

Die Europäische Interoperabilitätsstrategie, an der die Kommission und die Mitgliedstaaten (von denen einige bereits Normen festgelegt haben) beteiligt sind, scheint der angemessene Rahmen zu sein.

4.7   Haftung

4.7.1   Was sollte Herstellern von Gesundheitslösungen und Angehörigen der Gesundheitsberufe empfohlen werden, um die mit der Nutzung und Verschreibung von Mobile-Health-Lösungen verbundenen Risiken zu begrenzen?

4.7.2

Der geltende Rechtsrahmen: Haftung (vertraglich oder außervertraglich) bei der grenzüberschreitenden Erbringung medizinischer Leistungen: Rechtsvorschriften des Behandlungsmitgliedstaats (Richtlinie 2011/24/EU Art. 4 Abs. 1); fehlerhafte Produkte: Richtlinie 85/374/EWG, in der das Prinzip der verschuldensunabhängigen Haftung festgelegt ist.

4.7.3

Angehörige der Gesundheitsberufe: Einhaltung der festgelegten Protokolle und Verwendung zertifizierter Geräte und Verfahren; Hersteller: angemessene Kenntnis der gesetzlichen Anforderungen. In beiden Fällen muss festgelegt werden, wer die Versicherungskosten trägt.

4.8   Forschung und Innovation im Mobile-Health-Bereich

4.8.1   Können Sie konkrete Themen nennen, die sich auf EU-Ebene als Priorität für die Forschung und Innovation im Bereich der Mobile-Health-Dienste eignen?

4.8.2

In technischer Hinsicht erstrecken sich die Programme, die im Rahmen von Horizont 2020 bereits existieren, auf die wichtigsten Forschungsgebiete.

4.8.3

Der EWSA schlägt vor, auch die sozialen Auswirkungen der mobilen Gesundheitsdienste zu untersuchen, insbesondere im Fall von älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen, Einwanderern und einkommensschwächeren Personen.

4.8.4   Meinen Sie, dass Satellitenanwendungen, die auf den EU-Satellitennavigationssystemen (EGNOS und Galileo) basieren, bei der Verbreitung innovativer Mobile-Health-Lösungen hilfreich sein könnten?

4.8.5

Die Fortschritte im Bereich der Geolokalisierung und die Verbesserung der Kommunikation werden die Effizienz der mobilen Gesundheitsdienste zweifellos verbessern.

4.9   Internationale Kooperation

4.9.1   Welche Probleme sollten (vorrangig) im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit angegangen werden, um die Verbreitung von Mobile-Health-Diensten zu steigern? Wie sollte dies geschehen? Welche gute Praxis, die sich in anderen großen Märkten (z. B. USA und Asien) bereits bewährt hat, könnte in der EU übernommen werden, um die Verbreitung von Mobile-Health-Diensten voranzutreiben?

4.9.2

Auf der Tagesordnung der im Juli 2013 aufgenommenen Verhandlungen über das TTIP zwischen den USA und der EU sollten auch die mobilen Gesundheitsdienste stehen.

4.9.3

Vorrangige Bereiche der internationalen Zusammenarbeit unter Beteiligung der WHO:

regelmäßig aktualisierte Liste der Apps, die als Gesundheits-Apps erachtet werden,

ethische Grundsätze,

Datenschutz gemäß ISO-Norm 27001,

Interoperabilität.

4.10   Zugang von Webunternehmern zum Mobile-Health-Markt. Der Apps-Markt

4.10.1   Ist der Zugang zum Mobile-Health-Markt für Webunternehmer schwierig? Falls ja, wo liegen die Probleme? Wie und von wem können sie gelöst werden? Wie könnte die Kommission nötigenfalls das Engagement der Branche und der Unternehmer für Mobile-Health-Dienste fördern, z. B. mit Initiativen wie „Startup Europe“ oder der Europäischen Innovationspartnerschaft für Aktivität und Gesundheit im Alter?

4.10.2

Es werden folgende Hindernisse für die Branche ausgemacht:

regulatorische (Fehlen eindeutiger Normen),

wirtschaftliche (Notwendigkeit, die Nutzen für das Gesundheitssystem weiter zu untersuchen und das System der Gesundheitsanreize zu verändern),

strukturelle (fehlende Einbindung in die verschiedenen Ebenen der Gesundheitsverwaltung), und

technologische (Qualitätsstandards, Zertifizierungssysteme, Interoperabilität).

4.10.3

Die Probleme müssen auf der entsprechenden Zuständigkeitsebene angegangen werden, und zwar:

auf der Ebene der Mitgliedstaaten, was die Organisation des Gesundheitssystems auf ihrem Hoheitsgebiet betrifft,

auf EU-Ebene in Bezug auf die Marktfragmentierung und das Fehlen an Normenklarheit.

4.10.4

Der EWSA unterstreicht die Notwendigkeit, die europäischen KMU zu unterstützen, da sie auf dem Markt der mobilen Gesundheitsdienste eine herausragende Rolle spielen können.

4.10.5

Start-ups brauchen in Europa bessere Finanzierungsquellen, und zwar über traditionelle Kanäle (Banken) und sonstige Kanäle (u. a. Crowdfunding). Die in Horizont 2020 vorgesehene Risikofinanzierung und die Systeme öffentlich-privater Partnerschaften müssen zur Stärkung der europäischen Industrie beitragen.

Brüssel, den 10. September 2014.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Elektronische Gesundheitsdienste“ (TEN/509, 2013), ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 122.

(2)  Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl. L 281 vom 23.11.1995, S. 31.

(3)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (Datenschutz-Grundverordnung), COM(2012) 11. http://ec.europa.eu/justice/data-protection/document/review2012/com_2012_11_de.pdf

(4)  EWSA-Stellungnahme (SOC/455) vom 23. Mai 2012, ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 90.

(5)  Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte, ABl. L 169 vom 17.7.1993, S. 1. Ebenfalls Richtlinie 98/79/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 1998 über In-vitro-Diagnostika, ABl. L 331 vom 7.12.1998, S. 1, und Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 20. Juni 1990 über aktive implantierbare medizinische Geräte, ABl. L 189 vom 20.7.1990, S. 17.

(6)  Siehe Art. 3 Abs. a) der Richtlinie 2011/24/EU über grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, ABl. L 88 vom 4.4.2011, S. 45.


19.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 458/61


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der EU-Strategie für maritime Sicherheit

(2014/C 458/11)

Berichterstatterin:

Anna BREDIMA

Die Europäische Kommission beschloss am 20. November 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 AEUV um Stellungnahme zu der folgenden gemeinsamen Mitteilung zu ersuchen:

Für einen offenen und sicheren globalen maritimen Bereich: Elemente einer Strategie der Europäischen Union für maritime Sicherheit

JOIN(2014) 9 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 17. Juli 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 501. Plenartagung am 10./11. September 2014 (Sitzung vom 11. September 2014) mit 142 Stimmen gegen 1 Stimme bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den politischen Willen der EU, die maritime Sicherheit als dringende politische Frage zu behandeln. Die in der gemeinsamen Mitteilung dargelegten Elemente einer europäischen Strategie für maritime Sicherheit (EMSS) finden ebenso seine Zustimmung wie der ganzheitliche Ansatz zum Umgang mit den vielfältigen Bedrohungen der maritimen Sicherheit. Die Zivilgesellschaft Europas ist direkt von dieser Strategie betroffen. Der EWSA befürwortet für die maritime Sicherheit einen strategischen, sektorübergreifenden Ansatz, der von dem bereits Erreichten ausgeht, ohne neue Strukturen zu schaffen. Dieser Ansatz wird in Übereinstimmung mit der Wachstumsstrategie „Europa 2020“ Arbeitsplätze schaffen und den Seemannsberuf wieder attraktiver machen.

1.2

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagenen Synergien zwischen der Europäischen Kommission, dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD), der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (EMSA), Europol, FRONTEX, der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA), dem Militärstab der EU und der Direktion Krisenbewältigung und Planung. Er unterstützt die Bemühungen um länderübergreifende Synergien maritimer Tätigkeiten in Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip. Ein umfassender Ansatz der EU, einschließlich einer gemeinsamen Lagebeurteilung, wird eine effizientere Nutzung der Mittel durch bessere Koordinierung der Überwachungstätigkeiten sicherstellen.

1.3

Der EWSA fordert die EU auf, bestehende NATO-Ressourcen aktiver zu nutzen. Er begrüßt die positiven Ergebnisse einer Zusammenlegung verschiedener operativer Hauptquartiere in Northwood und empfiehlt auf der Grundlage der Erfahrungen von FRONTEX und dem Europäischen Grenzpatrouillennetz eine engere Zusammenarbeit mit dem Forum der Marinebefehlshaber Europas (CHENS), den nationalen Küstenwachen und dem Europäischen Küstenwachenforum.

1.4

Der EWSA begrüßt die „Pooling-and-Sharing“-Initiative für die Bündelung und gemeinsame Nutzung von Ausrüstungskapazitäten und für militärisch-zivile Einsätze, die jedoch eine Angleichung der Standards bei den maritimen Fähigkeiten und Flottenkapazitäten voraussetzt. Durch Zusammenarbeit und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten kann die Nutzung der bestehenden Infrastruktur optimiert und die Kosteneffizienz sichergestellt werden.

1.5

Die Ratifizierung und Umsetzung des UN-Seerechtsübereinkommens (UNCLOS) von 1982 und des Übereinkommens zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen (SUA) von 1988 sowohl durch die Mitgliedstaaten der EU als auch durch andere Länder auf der ganzen Welt bilden die rechtliche Grundlage für eine strafrechtliche Verfolgung. Der EWSA bekräftigt die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit mit der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) bei der Umsetzung ihrer Übereinkommen zur Sicherheit im Seeverkehr.

1.6

Die Umsetzung des internationalen Kodex für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen (ISPS-Kodex) sollte sowohl in den Häfen der EU als auch in Häfen von Drittländern (z. B. in Westafrika) zur Vorbeugung gegen Piraterie, bewaffneten Raub und Frachtdiebstahl vorangetrieben werden. Die Einhaltung des ISPS-Kodex ist eine Voraussetzung für das Scannen von Containern, die in Häfen als trojanische Pferde missbraucht werden können.

1.7

Der EWSA unterstreicht, dass die Wege von Geldern aus Piraterie und anderen illegalen Tätigkeiten auf See in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen, der NATO und den USA systematischer verfolgt werden müssen.

1.8

Es bestehen Zweifel daran, dass die Lehrgänge, die seit dem 1. Januar 2014 notwendiger Teil der Sicherheitsausbildung für Seeleute sind, rechtzeitig eingeführt und überall auf der Welt entsprechend den Bestimmungen angeboten werden können. Es wird begrüßt, dass die Internationale Schifffahrtsorganisation der Hafenstaatkontrolle für die Erfüllung der Anforderungen für die Befähigungsnachweise nach Regel VI/6 des STCW-Übereinkommens eine Übergangsfrist vom 1. Januar 2014 bis zum 1. Juli 2015 zugesteht. Hinsichtlich der freiwilligen Überprüfungen, inwieweit man an Bord eines Schiffes auf einen Überfall von Piraten vorbereitet ist, könnte sich die EU an einer bewährten Verfahrensweise in den USA orientieren, den Anti-Piracy Assessment Teams.

1.9

Der EWSA stellt fest, dass die abschreckende Wirkung von Strafprozessen gegen Piraten durch die erheblichen Unterschiede im Strafmaß verloren geht. Um ein internationales Verbrechen wie die Piraterie bekämpfen und der Nichtahndung von Straftaten ein Ende setzen zu können, ist ein harmonisiertes Piraterierecht erforderlich.

1.10

Ein Beispiel für ein erfolgreiches Vorgehen ist die Operation „Horn von Afrika“, mit der die Ursachen für Piraterie an Land bekämpft werden und die mutatis mutandis als Modell für andere Regionen dienen kann. Wenn an Land angemessene Lebensbedingungen herrschten, würde sich ein Dasein als Pirat weniger lohnen. Der EWSA spricht sich dafür aus, den NATO-Einsatz „Ocean Shield“ und die Operation „Atalanta“ auszuweiten, wenn über deren Verlängerung entschieden werden muss.

1.11

Angesichts der Zunahme von Piratenüberfällen in Westafrika fordert der EWSA die EU-Organe nachdrücklich auf, politischen und diplomatischen Druck auszuüben. Das ECOWAS-Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der EU und 16 afrikanischen Staaten, das Cotonou-Abkommen und die Partnerschaft EU-Afrika können hier als Hebel eingesetzt werden. Der Handel zwischen der EU und der ECOWAS kann nur erleichtert werden, wenn sichere Handels- und Verkehrswege existieren. Nigeria sollte beim Ausbau seiner Küstenwache Unterstützung angeboten und darin bestärkt werden, bewaffneten Sicherheitskräften anderer Nationen das Befahren seiner Hoheitsgewässer zu gestatten.

1.12

Der EWSA begrüßt die Schlussfolgerungen des Rates zum Golf von Guinea vom 17. März 2014, die in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden müssen. Die örtliche Zivilgesellschaft sollte eingebunden werden, um ein besseres Bild der Bedingungen vor Ort zu erhalten, und sie sollte unterstützt werden, damit Druck auf die jeweilige Regierung entsteht, die Sicherheitsprobleme im Golf von Guinea zu lösen.

1.13

Wie auch beim Horn von Afrika sollte ein eigener EU-Vertreter für Westafrika benannt werden. Positiv bewertet wird die UN-Resolution zu der Piratenabwehrstrategie in Westafrika (November 2013). Die Zusammenarbeit der Küstenwachen Ost- und Westafrikas sollte intensiviert werden.

1.14

Es sollten internationale Standards für auf See tätige Sicherheitsunternehmen eingeführt werden. Der Standard ISO/PAS 28007 gewährleistet weltweit gleiche Ausgangsbedingungen für private Unternehmen, die bewaffnete Sicherheitskräfte zur Verfügung stellen.

1.15

Der EWSA begrüßt die Intensivierung der Seeraumüberwachung, die durch die verstärkte Zusammenarbeit zwischen EMSA, FRONTEX und der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) eine zeitnahe Feststellung von illegalen Tätigkeiten auf See ermöglicht. Die Erforschung und Entwicklung der maritimen Sicherheit sollte in Zusammenarbeit mit der GFS vorangetrieben werden.

1.16

Angesichts des Ausmaßes der menschlichen Tragödie, die die irreguläre Einwanderung auf dem Seeweg bedeutet, bekräftigt der EWSA folgende Notwendigkeiten:

Entwicklung einer europäischen Einwanderungspolitik unter Berücksichtigung sowohl der externen als auch der internen Dimension;

Abkommen mit den Ländern, aus denen Einwanderer stammen bzw. die sie durchqueren, um Menschenhändlerringe zu bekämpfen und Straftaten in Zusammenarbeit mit Europol/Interpol zu verfolgen;

Erstellung einer Liste der größten Schmuggler und Menschenhändler (in Anlehnung an die Liste von Personen, die Piraterie finanzieren), um gegen Geldwäscherei vorzugehen;

Stärkung und finanzielle Ausstattung von FRONTEX, damit sie eine echte europäische Grenzschutzagentur werden kann;

Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Herkunftsländern, um potenzielle irreguläre Einwanderer von ihrem lebensgefährlichen Vorhaben abzubringen;

Weiterentwicklung der Küstenwachenaktivitäten in den Bereichen Patrouillenfahrten und Rettung von Migranten; und

Intensivierung einer effektiven Kontrolle der Seeaußengrenzen durch das Europäische Grenzüberwachungssystem (EUROSUR).

1.17

Der EWSA hält es für geboten, die grundlegenden Menschenrechte und die im EU-Recht verankerten Grundsätze und Werte bei der Umsetzung der europäischen Strategie für maritime Sicherheit zu berücksichtigen und in Drittländern zu propagieren.

1.18

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten Partnerschaften zwischen allen Interessenträgern im Bereich der maritimen Sicherheit zu schaffen und dabei die Industrie, die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft einzubeziehen. Die Umsetzung bestehender Rechtsvorschriften in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern sollte zu einem kostengünstigeren Ansatz im Bereich der maritimen Sicherheit führen.

2.   Einleitung

2.1

Im Zuge der Globalisierung ist die Bedeutung der Warenströme, die weltweit auf dem Seeweg vonstattengehen, für die EU gewachsen. Illegale Handlungen auf See haben an Häufigkeit und Komplexität zugenommen. Die EU gerät dadurch in Zugzwang, einen ganzheitlichen Ansatz für dieses Problem zu finden. Die Seeraumüberwachung ist jedoch angesichts der Weite der Küsten und Meere der EU eine schwierige Aufgabe.

2.2

Diese Verantwortung muss international gemeinsam getragen werden. Dazu bedarf es starker Partnerschaften mit Drittländern und regionalen Organisationen. Die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) nimmt — abgesehen von der Einstufung der Piraterie als Bedrohung — keinerlei Bezug auf die maritime Dimension. Die europäische integrierte Meerespolitik (IMP) geht zwar auf maritime Fragen ein, berührt dabei aber kaum den Bereich der Sicherheit. Die EMSS ist eine Reaktion darauf, dass die EU dringend einen neuen Ansatz zur Gefahrenabwehr in der Schifffahrt brauchte.

2.3   Die gemeinsame Mitteilung

2.3.1

Die gemeinsame Mitteilung „Für einen offenen und sicheren globalen maritimen Bereich: Elemente einer Strategie der Europäischen Union für maritime Sicherheit“ der Europäischen Kommission und des Europäischen Auswärtigen Dienstes vom 6. März 2014 ist der erste, durch einen Aktionsplan umzusetzende Schritt in Richtung einer europäischen Strategie für maritime Sicherheit.

2.3.2

Laut der Mitteilung erfordert die maritime Sicherheit einen strategischen, sektorübergreifenden Ansatz. Zu den Bedrohung der maritimen Sicherheit gehören: Meeresgebietsstreitigkeiten, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Piraterie, Terrorismus, grenzüberschreitendes und organisiertes Verbrechen (Waffen- und Drogenschmuggel, Menschenhandel), ungemeldete und unregulierte Fischerei sowie Naturkatastrophen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die gemeinsame Mitteilung über Elemente einer europäischen Strategie für maritime Sicherheit, mit der ein ganzheitlicher, umfassender Ansatz zum Umgang mit den Bedrohungen und Möglichkeiten auf See sichergestellt werden soll. Die Befassung durch den Europäischen Auswärtigen Dienst ist eine willkommene Gelegenheit zur Stärkung der Beziehungen zwischen dem EAD und dem EWSA. Der Schwerpunkt der EMSS liegt auf der Abstimmung zwischen allen für die maritime Sicherheit relevanten europäischen Akteuren und Mitgliedstaaten. Außerdem sollen die Mängel der europäischen integrierten Meerespolitik (2007) behoben werden.

3.2

Auf EU-Ebene ist ein integrierter Ansatz nötig, der zivile und militärische Instrumente vereint und der interne und externe Aspekte der maritimen Sicherheit abdeckt. Seefahrernationen sollten eine regionale maritime Integration vorantreiben, bei der entscheidend wichtige Marineressourcen gebündelt und gemeinsam genutzt werden, damit die EU eine ausreichende Kapazität zusammenbringt.

3.3

Der EWSA hat sich in mehreren Stellungnahmen (1) mit möglichen Bedrohungen der maritimen Sicherheit (z. B. Piraterie, irreguläre Einwanderung auf dem Seeweg, Gefahrenabwehr in Häfen) auseinandergesetzt. Bedrohungen der maritimen Sicherheit haben Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft; dazu gehören Seeleute, Reeder, Fischer, Exporteure und Importeure, Touristen, Verbraucher und Bewohner der Küstengebiete und Inseln der EU. Was für enorme Folgekosten die Verbraucher aufgrund der Seepiraterie zu tragen haben, darüber existieren Schätzungen. Dagegen sind die Kosten der vielfältigen Bedrohungen der maritimen Sicherheit für die Verbraucher erst noch zu beziffern.

3.4

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten für die Allgemeingültigkeit des UN-Seerechtsübereinkommens eintreten und auf seiner einheitlichen Umsetzung bestehen. Dieses Abkommen bietet einen rechtlichen Rahmen für maritime Tätigkeiten und kann als Leitschnur für die friedliche Lösung von Seestreitigkeiten dienen.

3.5

Die EU-Strategie für das Horn von Afrika sollte als Modell für einen umfassenden Ansatz dienen, der politische, diplomatische, soziale und wirtschaftliche Instrumente einschließt, in dem die verschiedenen Initiativen, Agenturen und Instrumente der EU miteinander koordiniert werden und der auch auf die Ursachen für Piraterie eingeht. Der EWSA befürwortet den strategischen Rahmen für das Horn von Afrika, der aktuell drei GSVP-Missionen in der Region umfasst (EU NAVFOR Atalanta, die Ausbildungsmission der EU in Somalia und EUCAP Nestor).

3.5.1

Verbände der Reeder und Seeleute (ICS, ECSA, ITF/ETF und der Zusammenschluss SOS „Save our seafarers“) machen gemeinsam auf die menschlichen und wirtschaftlichen Kosten der Piraterie aufmerksam. Das gemeinsame ECSA/ETF-Papier zur Piraterie im Golf von Guinea (September 2013) hat erneut die Besorgnis der Sozialpartner gezeigt. Wie der EWSA feststellt, ist Piraterie einer der Gründe, die vom Ergreifen des Seemannsberufs abhalten, und untergräbt Kampagnen zur Nachwuchswerbung für diesen Beruf.

3.5.2

Der EWSA wiederholt, dass alle Bemühungen darauf gerichtet sein sollten, die Seeleute, die Opfer von Piratenangriffen werden, vor körperlichen und psychischen Schäden zu bewahren. Zur Unterstützung betroffener Seeleute und ihrer Familien hat die Internationale Schifffahrtskammer (ICS) für die Reedereien einen Leitfaden mit Beispielen für eine gute Vorgehensweise zusammengestellt.

3.6

Die EU sollte den Aufbau von Kapazitäten zur Gefahrenabwehr im Golf von Guinea fördern. Sichere Handelswege sind eine Voraussetzung für die Entwicklung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Maritime Sicherheit ist als Teil der EU-Politik zur Förderung der lokalen Entwicklung und des lokalen Handels zu sehen.

3.7

An der Küste Westafrikas nehmen die kriminellen Aktivitäten — Drogen-, Menschen- und Waffenhandel — zu. 13 % der Öl- und 6 % der Gasimporte der EU stammen aus Anrainerländern des Golfs von Guinea, wobei auf Nigeria 5,8 % der Ölimporte der EU entfallen. Durch die Öl- und Gasvorkommen, die vor Kurzem vor der Küste entdeckt wurden, wird die Region noch weiter an Bedeutung gewinnen. Die Ausbildung von Küstenwachen im Rahmen des Programms „Kritische Seeverkehrswege im Golf von Guinea“ (CRIMGO) wird begrüßt. Zwischen EU-Agenturen und Akteuren außerhalb der EU sollten Synergien im Bereich der Interpretation von Satellitenfotos von Schiffen angestrebt werden. Die Lageerfassung ist ein zentraler Punkt. Private Akteure sollten staatliche Stellen darin unterstützen, ein vollständigeres Bild eines Meeresgebiets zu gewinnen. Im Golf von Guinea sollte ein verlässliches Berichtsystem über Vorfälle geschaffen werden.

3.8

Auch im Mittelmeer gibt es Herausforderungen für die Sicherheit im Seeverkehr (z. B. Terrorismus, illegaler Handel und illegale Einwanderung). Investitionen in eine regionale maritime Zusammenarbeit müssen auch die Bereiche Informationsbeschaffung, Überwachung, Patrouillenfahrten und Küstensicherung berücksichtigen.

3.9

Die Errichtung ausschließlicher Wirtschaftszonen im Einklang mit dem UNCLOS-Übereinkommen würde zur friedlichen Lösung von Gebietsstreitigkeiten beitragen und Konflikte um Kohlenwasserstofflagerstätten in Küstennähe im östlichen Mittelmeer vermeiden.

3.10

Zur Sicherstellung der Energieversorgungssicherheit und der Diversifizierung der Energiequellen hat die EU ein strategisches Interesse an der Deeskalation regionaler Konflikte im Schwarzmeerraum.

3.11

Zwar ist grundsätzlich eine Verbesserung bei den Sicherheitsstandards in den Häfen der EU zu beobachten, dennoch sollte die Sicherheit im Bereich Container und Hafeneinrichtungen durch eine entschiedenere Umsetzung des ISPS-Kodex erhöht werden. In einem französischen Bericht über den Waffenhandel auf dem Seeweg vom 10. Februar 2014 wird aufgezeigt, auf welchen Wegen konventionelle Waffen in Containerschiffen illegal transportiert werden. Die Erfahrungen in den USA zeigen jedoch, dass ein 100 %-iges Container-Scanning unmöglich ist. Es gibt keine absolute Sicherheit in einer unsicheren Welt.

3.12

Der EWSA schließt sich uneingeschränkt der in der Mitteilung geäußerten Ansicht an: „Die Öffnung möglicher Transportrouten durch die Arktis und die Ausbeutung ihrer Natur- und Bodenschätze wird besondere ökologische Herausforderungen stellen, die mit äußerster Sorgfalt behandelt werden müssen, wobei die Zusammenarbeit mit Partnern von vordringlicher Bedeutung sein wird.“

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die von den Schifffahrtsunternehmen an Bord ergriffenen Schutzmaßnahmen (Best Management Practices) sowie die internationalen Standards für die Anwesenheit privater bewaffneter Sicherheitskräfte an Bord.

4.2

Die „Pooling-and-Sharing“-Initiative, die sich auf das Programm LeaderSHIP 2020 stützt, wird die Vernetzung der Marktbeteiligten in der Schiffbau- und Reparaturbranche fördern.

4.3

Die Mitgliedstaaten und die Industrie sollten Normen harmonisieren, um die europaweite operative Kompatibilität der maritimen Fähigkeiten und Flottenressourcen, einschließlich ihrer Kommunikationssysteme und -technik, sicherzustellen.

4.4

Der Arbeitsbereich Meeresüberwachung (MARSUR), die Entwicklungen der EMSA und das Copernicus-Programm sollten umgesetzt werden. Bei der EMSA befinden sich Meeresüberwachungsanwendungen wie SafeSeaNet, LRIT, CleanSeaNet und THETIS. Die Arbeit im Rahmen des gemeinsamen Informationsraums (CISE), die darauf abzielt, die Kapazität für eine effektive europäische Meeresüberwachung aufzubauen, wird positiv bewertet.

4.5

Auf See gerettete Personen sind sicherheitsrelevant, weil sie an Land gebracht und erfasst werden müssen. Der Such- und Rettungsdienst auf See (SAR) ist auf Schiffe angewiesen, die ihn unterstützen. Rettungseinsätze können durch Satellitenkommunikation entscheidend unterstützt werden. Die einschlägigen Konventionen der Internationalen Schifffahrtsorganisation und die Leitlinien für die Behandlung von aus Seenot geretteten Personen, die bezüglich der Pflichten von Staat und Kapitän eine Orientierung bieten, sollten von den Mitgliedstaaten angewandt werden.

4.6

Der EWSA bekräftigt die Notwendigkeit einer Umsetzung der bestehenden rechtlichen Bestimmungen über Notliegeplätze für Schiffe in Seenot, die eine Gefahr für die Schifffahrt und eine Bedrohung von Menschenleben und Umwelt darstellen. Mehrere Fälle einer verzögerten Bereitstellung von Notliegeplätzen belegen, wie wichtig ein schnelles Handeln der Küstenstaaten ist. Den Rechtsrahmen bilden die IMO-Richtlinien über Notliegeplätze (Entschließung A.949 (23)), die IMO-Richtlinien über die Kontrolle von Schiffen in Notfällen (2007) und das Überwachungs- und Informationssystem für den Schiffsverkehr der EU (VTM-Richtlinie 2002/59 in der durch die Richtlinie 2009/17 geänderten Fassung). Eine Ratifizierung und Umsetzung dieser Rechtsinstrumente durch alle Küstenstaaten ist unerlässlich.

4.7

Der EWSA begrüßt das Bekenntnis der EU zu einer nachhaltigen Nutzung der Fischereiressourcen, da illegale, unregulierte und nicht gemeldete Fischerei, unabhängig davon, wo sie praktiziert wird, eine globale kriminelle Tätigkeit darstellt. Der EWSA begrüßt den kürzlich von der EU gefassten Beschluss, den aus illegaler Fischerei stammenden Erzeugnissen dreier Länder, die sich nicht an das UN-Seerechtsübereinkommen halten, den Marktzugang zu verwehren.

4.8

Der EWSA betont, dass die Artenvielfalt und die Meeresressourcen (sowohl Fischerei- als auch Mineralressourcen) in den Hoheitsgewässern der EU vor möglichen Bedrohungen geschützt werden müssen. Außerdem hängt die Effizienz der Telekommunikation von der Sicherung der Unterwasserkabel und die Energieeffizienz von der Sicherung der Rohrleitungen ab.

4.9

Zur maritimen Sicherheit gehört auch der Schutz des Meerwassers vor Kontamination durch Atomunfälle, illegale Einleitung von Chemikalien oder Schadstoffeintrag nach einem schweren Unfall. Die EU wird nachdrücklich aufgefordert, für den Erhalt der ökologischen Unversehrtheit der Meere einzutreten.

Brüssel, den 11. September 2014.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Europäische Einwanderungspolitik und die Beziehungen zu Drittstaaten (im Amtblatt veröffentlicht).

ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 32-46.

ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 87-92.

ABl. C 76 vom 14.3.2013, S. 15-19.

ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 64-67.

ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 173-177.

ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 131-135.

ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 103-109.

ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 31-36.

ABl. C 168 vom 20.7.2007, S. 57-62.

ABl. C 32 vom 5.2.2004, S. 21-27.

ABl. C 61 vom 14.3.2003, S. 174-183.

Bericht und Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. September 2013 zu maritimen Aspekten der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.