ISSN 1977-088X

doi:10.3000/1977088X.C_2013.161.deu

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 161

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

56. Jahrgang
6. Juni 2013


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

488. Plenartagung am 20. und 21. März 2013

2013/C 161/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Erfordernisse und Methoden der öffentlichen Beteiligung im Bereich der Energiepolitik (Sondierungsstellungnahme)

1

2013/C 161/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Bürger erfolgreich in den Mittelpunkt eines inklusiven digitalen Binnenmarkts stellen: ein Aktionsplan (Initiativstellungnahme)

8

2013/C 161/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Missbrauch des Status der Selbstständigkeit (Initiativstellungnahme)

14

2013/C 161/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Der Binnenmarkt und staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung (Initiativstellungnahme)

20

2013/C 161/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Berufsausbildung und lebensbegleitende berufliche Bildung: die Rolle der Wirtschaft für die Bildung in der EU (Initiativstellungnahme)

27

2013/C 161/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Mitwirkung und Beteiligung der Arbeitnehmer als Grundpfeiler guter Unternehmensführung und ausbalancierter Wege aus der Krise (Initiativstellungnahme)

35

2013/C 161/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses: Der soziale Dialog in den Ländern der Östlichen Partnerschaft (Initiativstellungnahme)

40

2013/C 161/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Der Beitrag der Zivilgesellschaft zu einer Strategie zur Vermeidung und Verringerung von Lebensmittelverlusten und –verschwendung (Initiativstellungnahme)

46

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

488. Plenartagung am 20. und 21. März 2013

2013/C 161/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission — Regionen in äußerster Randlage der Europäischen Union: Auf dem Weg zu einer Partnerschaft für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum — COM(2012) 287 final

52

2013/C 161/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 723/2009 des Rates über den gemeinschaftlichen Rechtsrahmen für ein Konsortium für eine europäische Forschungsinfrastruktur (ERIC) — COM(2012) 682 final — 2012/0321 (NLE)

58

2013/C 161/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch Ein integrierter Paketzustellungsmarkt für das Wachstum des elektronischen Handels in der EU — COM(2012) 698 final

60

2013/C 161/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Auflegung eines Unionsprogramms zur Unterstützung spezieller Tätigkeiten im Bereich Rechnungslegung und Abschlussprüfung für den Zeitraum 2014-2020 — COM(2012) 782 final — 2012/0364 (COD)

64

2013/C 161/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Junge Menschen in Beschäftigung bringen — COM(2012) 727 final

67

2013/C 161/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang zu genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile in der Europäischen Union — COM(2012) 576 final — 2012/0278 (COD)

73

2013/C 161/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über ein allgemeines Umweltaktionsprogramm der EU für die Zeit bis 2020 Gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten — COM(2012) 710 final — 2012/0337 (COD)

77

2013/C 161/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Sozialschutz in der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union — COM(2012) 446 final

82

2013/C 161/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Blaues Wachstum — Chancen für nachhaltiges marines und maritimes Wachstum — COM(2012) 494 final

87

2013/C 161/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Schiffsausrüstung und zur Aufhebung der Richtlinie 96/98/EG — COM(2012) 772 final — 2012/0358 (COD)

93

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

488. Plenartagung am 20. und 21. März 2013

6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Erfordernisse und Methoden der öffentlichen Beteiligung im Bereich der Energiepolitik“ (Sondierungsstellungnahme)

2013/C 161/01

Berichterstatter: Richard ADAMS

Die Europäische Kommission beschloss am 13. November 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

Erfordernisse und Methoden der öffentlichen Beteiligung im Bereich der Energiepolitik

(Sondierungsstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 27. Februar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 183 gegen 2 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung und Empfehlungen

1.1

Die Europäische Kommission hat den Vorschlag des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses aufgegriffen, die Einrichtung eines zivilgesellschaftlichen Dialogs zu Energiefragen zu beleuchten. Die Beteiligung der Bürger, die Förderung ihres Bewusstseins und ihrer Akzeptanz für die verschiedenen notwendigen Veränderungen in unserem Energiesystem in den kommenden Jahrzehnten sind unverzichtbar. Hier kommt dem Dialog mit der Zivilgesellschaft eine Schlüsselstellung zu, und der Ausschuss, in dessen Zusammensetzung sich die europäische Gesellschaft widerspiegelt, verfügt über gute Voraussetzungen, die Bürger und Interessenträger in den Mitgliedstaaten zu erreichen und ein umfassendes Programm aufzustellen, das sich durch partizipative Demokratie und praktisches Handeln auszeichnet.

1.2

Nach ersten Konsultationen mit Mitgliedstaaten, regionalen und kommunalen Behörden, Sozialpartnern, NGO, dem Energiesektor und Bürgerorganisationen empfiehlt der Ausschuss, die unter Ziffer 7 dieser Stellungnahme unterbreiteten Vorschläge umzusetzen.

1.3

Kurz gefasst:

Der Ausschuss wird beim Aufbau eines europäischen Energiedialogs in Form eines koordinierten, handlungsorientierten Multi-Level-Diskurses, der in allen Mitgliedstaaten und mitgliedstaatenübergreifend stattfindet, die Führung übernehmen.

Das Programm wird ehrgeizig und professionell gestaltet und durch Interessenträger der Energieversorgungskette gefördert und finanziert werden; es wird bei bestehenden Initiativen ansetzen und soll ein gesellschaftliches Markenimage als vertrauenswürdiger Prozess, der den Bedürfnissen und Anliegen der Bürger gerecht wird, erlangen.

Der europäische Energiedialog wird für verlässliche Informationen über Energie stehen und eine Art Verhandlungsforum bieten, in dem Umsetzungsfragen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Auswirkungen und Akzeptanz, Investitionserwägungen und Ressourcenstrategie und von anderen politischen Überlegungen erörtert werden können.

Ausschlaggebend für den Erfolg des Programms wird sein, dass es in den Mitgliedstaaten übernommen wird, einen messbaren Einfluss auf die energiepolitische Gestaltung ausübt, als Konvergenz fördernd auf EU-Ebene anerkannt und mit der Energie- und Klimaschutzpolitik nach 2020 vernetzt wird.

Der Ausschuss empfiehlt daher, dem vorgeschlagenen europäischen Energiedialog starken politischen und verwaltungstechnischen Rückhalt zu geben, die interne Strategie der Europäischen Kommission anzupassen und den Schwerpunkt auf Dialog und Diskurs zu legen.

Der Ausschuss empfiehlt eine finanzielle Unterstützung für den europäischen Energiedialog im Rahmen des kommenden Finanzierungszeitraums 2014-2020.

2.   Kontext

2.1

Um die für 2050 gesetzten Klimaziele zu erreichen, kommt es, unabhängig vom jeweiligen Energiemix, vor allem auf Energieeffizienz an. Wenn die Mitgliedstaaten bei der Festlegung ihres Energiemixes eine gewisse Flexibilität behalten sollen, dann muss in jedem Fall auch rechtzeitig in die Modernisierung, den Ausbau und den Verbund des Energiebinnenmarkts investiert werden. Zusammen mit der verstärkten Nutzung von Elektrizität sind dies die mehr oder weniger unstrittigen Elemente der EU-Energiepolitik, wobei es allerdings in Bezug auf Kosten, Finanzierung, Umsetzungsgeschwindigkeit und Wirkung nach wie vor offene Fragen gibt. Mittlerweile werden die Zusammensetzung des Energiemixes, die Möglichkeiten zur Verbesserung der Energieeffizienz und zur Finanzierung der dazu erforderlichen Investitionen in den Mitgliedstaaten zunehmend kritisch unter die Lupe genommen. Im Gegensatz zu diffusen nationalen Alleingängen würde ein gemeinsamer europäischer Ansatz aller Voraussicht nach zu niedrigeren Kosten und größerer Versorgungssicherheit führen; indes dreht sich die öffentliche Debatte nach wie vor überwiegend um den anhaltenden Anstieg der Verbraucherpreise und die zunehmenden Auswirkungen von Infrastrukturen und Erzeugungsverfahren. Die Mitgliedstaaten führen zwar hier oder da womöglich auch einmal eine nationale Debatte über Aspekte der Energiewende durch, ein öffentlicher Diskurs wird aber auf keinen Fall von allein stattfinden, sondern muss gefördert werden.

2.2

Da die europäischen öffentlichen Wertvorstellungen im Zusammenhang mit der energiepolitischen Zukunft im Wandel begriffen sind und einschlägige politische Maßnahmen vor allem auf EU-Ebene angeregt werden dürften, müssen die EU-Institutionen über die Förderung der öffentlichen Beteiligung im Rahmen eines strukturierten Dialogs daran mitwirken, zwischen institutionellen und nichtinstitutionellen zivilgesellschaftlichen Interessenträgern und politischen Akteuren das gegenseitige Verständnis zu fördern und Vertrauen aufzubauen. Dadurch kann die wichtige Unterscheidung getroffen werden zwischen dem, was technisch und wirtschaftlich möglich ist, und dem, was praktisch machbar und für die Interessenträger sozial vertretbar ist. Gleichzeitig wird damit an einem praktischen Beispiel partizipative Demokratie bei einem Anliegen von allgemeinem Interesse veranschaulicht.

2.3

Diese Sondierungsstellungnahme zu den Erfordernissen und Methoden der öffentlichen Beteiligung im Bereich der Energiepolitik veranschaulicht, wie solch ein umfassender und inklusiver Dialog an der Schnittstelle zwischen europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene ausgestaltet und entwickelt werden könnte. Solch ein Dialog sollte auch praktische Schritte aufzeigen, die die Bürger unternehmen können, sowie Innovationen und Reaktionen der Versorgungsunternehmen und Behörden anregen.

3.   Der politische Rahmen

3.1

Die EU-Energiepolitik hat zum Ziel, die Energiesicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit zu gewährleisten. An der geplanten Verringerung des Klimagasausstoßes bis 2050 um mindestens 80 % im Vergleich zum Stand von 1990 wird als quantitativem, wenn auch noch nicht rechtsverbindlichem Ziel festgehalten. Für andere Nachhaltigkeitsaspekte aber wie den Anteil erneuerbarer Energieträger am Energiemix liegt für die Zeit nach 2020 immer noch kein Konzept vor. Desgleichen werden sich auch ein vertretbares Maß an Energieabhängigkeit oder eine akzeptable Energiepreisdifferenz im Vergleich zu wichtigen Konkurrenten auf dem Weltmarkt kaum konkret beziffern lassen. Diesen Unwägbarkeiten muss in der EU-Politik Rechnung getragen werden – die jüngsten Entwicklungen verdeutlichen, dass die schwankenden globalen Energiepreise und die Folgen unvorhersehbarer Ereignisse eine Energiepolitik erforderlich machen, die flexibel ist und auf komplexe externe Sachverhalte reagieren kann.

3.2

Den politischen Maßnahmen der EU zur Herbeiführung der Energiewende gebricht es häufig daran, dass die Mitgliedstaaten nicht wirklich Verantwortung für ihren Erfolg übernehmen und dass die Bürger nicht über Zielkonflikte und Präferenzen aufgeklärt werden. Die Entwicklung von Szenarien wie im Energiefahrplan 2050 ist ein vernünftiger Ansatz angesichts sich ständig verändernder Rahmenbedingungen. Dieser Ansatz als Grundlage für Politikgestaltung scheitert aber an besagter fehlender Selbstverantwortung der Mitgliedstaaten und den Zweifeln einer Öffentlichkeit, deren Energieinformationen bzw. -interesse sich im Allgemeinen auf Energiepreise und in einigen Mitgliedstaaten dazu noch auf die Versorgungssicherheit beschränken. Die Dokumente über die politischen Maßnahmen der EU richten sich vor allem an die Mitgliedstaaten und wichtige institutionelle und industrielle Interessenträger, und so fehlt ihnen teilweise ein Bezug zu den Anliegen der Bürger. Das in dieser Stellungnahme erörterte Partizipationskonzept beinhaltet notwendigerweise die "Übersetzung" komplexer Energiezusammenhänge in eine allgemeinverständliche Sprache. Wesentlicher Impulsgeber ist dabei das Bewusstsein, dass die Berücksichtigung der Ansichten und Werte einer aufgeklärten Öffentlichkeit es allen Beteiligten besser ermöglicht, sich auf eine im Wandel begriffene Welt einzustellen und darauf entsprechend zu reagieren. Zu den drei Säulen der Energiepolitik – Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit – sollte sich eine vierte gesellen – Partizipation.

3.3

Das ist kein leichtes Unterfangen. Der Versuch, Solidarität und Zusammenarbeit innerhalb der EU auf der einen und das Recht der Mitgliedstaaten, ihre Energiepolitik selbst zu bestimmen, auf der anderen Seite miteinander zu vereinbaren, hat zu einer verwässerten Politik sowie vor allem für die Bürger Ungewissheit und dadurch zu schwerwiegenden Missverständnissen geführt.

3.4

Die Einbeziehung der Bürger auf nationaler Ebene und die anschließenden Einbettung der nationalen Energiepolitik in einen breiteren EU-Kontext ist eine Möglichkeit, die Kluft zu überwinden und Klarheit zu schaffen (in Entwicklung befindlichen nationalen Initiativen wie der nationalen Debatte über "la transition énergétique" in Frankreich oder über "die Energiewende" in Deutschland oder dem "Spanish Energy Mix Forum" (SEMF) würde eine verstärkte Ausrichtung an einer europäischen Dimension zugute kommen). Nationale Entscheidungsträger benötigen ein politisches Mandat von aufgeklärten Wählern in Kenntnis der Sachlage, die bereit sind, in Partnerschaft mit der Politik einen schwierigen Weg einzuschlagen. Wenn kein offener und inklusiver öffentlicher Diskurs über eine kooperative europaweite energiepolitische Zukunft stattfindet, bleibt der Eindruck haften, dass nur nationale Denkweisen gesellschaftlich akzeptabel sind. Angesichts dieser nationalen Denkweisen haben verschiedene Akteure die EU-Energiepolitik bereits als weder kohärent noch glaubwürdig bezeichnet. Die Ungewissheit schränkt die Fähigkeit ein, eine kohärente emissionsarme Energiepolitik zur Bewältigung des Klimawandels auf den Weg zu bringen – und die Zeit drängt.

3.5

Überall in Europa haben die Bürger ihre Unzufriedenheit mit dem Funktionieren des Energiebinnenmarkts zum Ausdruck gebracht (s. Verbraucherbarometer, 8. Ausgabe, in engl. Sprache – http://ec.europa.eu/consumers/consumer_research/editions/docs/8th_edition_scoreboard_en.pdf); wenn darauf nicht eingegangen wird, werden weitere Bemühungen um ein gemeinsames Handeln der EU zur Bewerkstelligung der Energiewende womöglich im Sande verlaufen. Die Bürger müssenüber ihre Rolle als Energienutzer hinauswirksamer in die strategische Ausrichtung wichtiger politischer Entscheidungen eingebunden werden, da die Vorbereitung der Energiewende weit über wichtige Marktbelange hinausgeht. In vielen Mitgliedstaaten nimmt auch die Unzufriedenheit mit dem politischen Prozess – der "Politik" – zu. Auf der kritischen EU-Ebene findet ein Politikprozess entweder nicht statt oder führt zu keinem Ergebnis, und die EU-Dimension hat sich häufig in unkoordinierten nationalen Energiepolitikdebatten aufgelöst. Um das zu ändern, müssen die Bürger, wesentlichen Interessenträger und politischen Entscheidungsträger miteinander die Verantwortung für unsere gemeinsame Energiezukunft übernehmen.

3.6

Es gibt zahlreiche lokale, regionale und nationale Initiativen zur Beteiligung der Öffentlichkeit an verschiedenen Aspekten der Energieplanung; gleichwohl herrscht eine reale praktische Notwendigkeit, Partizipation, Sachverstand und Kompetenzen zu kanalisieren und orientieren. Es fehlt an einem geeigneten Rahmen für einen Dialog zwischen Bürgern/Interessenträgern/zivilgesellschaftlichen Organisationen über die Beschaffung, den Transport und die Nutzung von Energie. Ein solcher Dialog, der in die EU-Politikgestaltung einfließen und die europäische Dimension in die nationalen Debatten einbringen kann, wird dringend benötigt. Ein umfassendes, ehrgeiziges, koordiniertes Programm für öffentliche Beteiligung sollte eine sachkundige, niveauvolle, von Verständnisbereitschaft geprägte Diskussion anstoßen, die den politischen Entscheidungsträgern (sofern sie zuhören und reagieren) als Grundlage für zuversichtliches Handeln dienen kann. In dieser Stellungnahme werden die für ein solches Programm erforderlichen Voraussetzungen und Maßnahmen aufgezeigt. Dabei stützt sie sich auf eine vom Ausschuss in Auftrag gegebene und im Dezember 2012 veröffentlichte Studie über "Szenarien für künftige nationale Energiemixe: Verfahren für die Beteiligung der Öffentlichkeit in der EU und anderswo", die in englischer Sprache unter http://www.eesc.europa.eu/?i=portal.en.events-and-activities-energy-futures-civil-society-publications abgerufen werden kann.

4.   Verbesserung und Ausbau bestehender Partizipationsmechanismen

4.1

Seit 1997 sind verschiedene Energieforen eingerichtet worden, um technische, regulatorische, verbraucherrelevante und politische Fragen zu erörtern: drei Regulierungsforen (das Florenzer Forum für Elektrizitätsregulierung, das Madrider Forum für Erdgasregulierung und das Bürgerforum "Energie" in London) sowie das Berliner Forum für fossile Brennstoffe, das Bukarester Forum für nachhaltige Energie) und das Europäische Kernenergie-Forum. Zwar sollen all diese Foren das Funktionieren des Energiebinnenmarkts verbessern, doch hat keines von ihnen einen ausreichend umfassenden Auftrag, um der Art von Energiedialog, wie er in dieser Stellungnahme vorgeschlagen wird, gerecht zu werden. Das Bürgerforum "Energie" hebt, wie sein Name vermuten lässt, auf Wettbewerbsfähigkeit, Energieeffizienz und Fairness in den Endkundenmärkten ab und bietet somit eine Plattform für die Stärkung der Handlungskompetenz der Verbraucher und die bessere Durchsetzung der Rechte der Energieverbraucher. All diese Foren spielen eine Rolle im Energiedialog. Es wäre wünschenswert, sie über eine gezielte Koordinierung im Rahmen eines Gremiums oder einer Plattform stärker zu integrieren. In der Struktur des nachfolgend umrissenen ehrgeizigen europäischen Energiedialogs könnte solch ein Gremium auch die Energie-Interessen der Europäischen Kommission vertreten.

4.2

Ferner könnten Nachbarländer, insbesondere diejenigen, die schon der Energiegemeinschaft angehören, einbezogen werden. Dies stünde im Einklang mit dem in der Kommissionsmitteilung zur Energieversorgungssicherheit und internationalen Zusammenarbeit "Die EU Energiepolitik: Entwicklung der Beziehungen zu Partnern außerhalb der EU" (COM(2011) 539 final) vorgeschlagenen Ansatz.

4.3

Als beratende Institution, deren Hauptaufgabe darin besteht, die organisierte Zivilgesellschaft enger in das europäische Einigungswerk einzubeziehen, bringt der Ausschuss die geeigneten Voraussetzungen mit, um die Ausarbeitung des zivilgesellschaftlichen Beitrags zur Politikgestaltung zu begleiten. Der Ausschuss hat Stellungnahmen zu allen wichtigen EU-Rechtsvorschriften und Strategien im Energiebereich abgegeben, zahlreiche Konferenzen zu Energiefragen für die Zivilgesellschaft organisiert und im Rahmen von Fachexkursionen in Mitgliedstaaten auf allen Ebenen Kontakte zu Interessenträgern im Energiebereich aufgebaut. Seine grundsätzliche Befürwortung einer europäischen Energiegemeinschaft und sein Plädoyer für einen begleitenden gesellschaftlichen Dialog sind in der gemeinsamen Erklärung mit Notre Europe - Jacques Delors Institute vom 21. Februar 2012 festgehalten (http://www.eesc.europa.eu/resources/docs/declaration-de.pdf).

4.4

Wesentliche Voraussetzung für einen produktiven Dialog ist Vertrauen. Vertrauen in Interessenträger und Vertrauen unter Interessenträgern ist nicht von vornherein gegeben – im Gegenteil. Eines der Ziele des Dialogs ist daher der Aufbau von Vertrauen unter den Teilnehmern. Um dies zu erreichen, muss der Ausschuss, wenn er denn eine gestaltende Rolle dabei übernehmen soll, offen und vertrauenswürdig und unvoreingenommen sein.

4.5

Die Einstellung der Menschen in den Mitgliedstaaten zum Thema Energie ist gesellschaftlichen Wertvorstellungen verhaftet. Auf Ebene der Bürger sind dabei Energiesicherheit, Energiearmut und der Zugang sozial schwacher Gruppen zu einer erschwinglichen Energieversorgung wichtige Erwägungen. Auf nationaler Ebene spielen Bedenken hinsichtlich Energieabhängigkeit und Gefährdung der Unabhängigkeit eine Rolle. Die Debatte muss daher neben einer wirtschaftlichen auch eine deutliche ethische Dimension haben, wie die Europäische Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der neuen Technologie (EGE) in ihrer Stellungnahme zu den ethischen Aspekten des Energiemixes vom Januar 2013 betont. Diese Stellungnahme sollte als wesentlicher Ansatzpunkt für die Debatte betrachtet werden. Darin wird die Aufstellung eines Ethikrahmens für alle Energieträger sowie für die Beschlussfassung über Energiemixe gefordert und auf die Einbeziehung der Zivilgesellschaft durch demokratische Partizipation und Transparenz gedrängt. Es bleibt noch einiges zu tun, um diese Ansätze auf Mitgliedstaatenebene umzusetzen, und eine Aufgabe des Ausschusses wird es sein, nationale Sensibilitäten zu erkennen und einen Weg zu mehr Konvergenz und Zusammenarbeit zu finden.

4.6

Ein wesentliches Element einer globalen, sozial vertretbaren und ethischen Energiestrategie, die die EU unterschreiben sollte, ist es, eine Benachteiligung der "stimmlosen" Regionen in der Welt, die im Wettbewerb um Energieressourcen nicht bestehen können, zu vermeiden.

4.7

Eine wirksame Beteiligung kann insbesondere erreicht werden, wenn informelle nichtinstitutionelle zivilgesellschaftliche Netze über die notwendige Handlungskompetenz verfügen, um mit formelleren institutionellen Netzen zusammenzuarbeiten. Partizipationsgetriebene Innovation kann ein wirksames Mittel sein, um mit geringerem öffentlichem Kosten- und Verwaltungsaufwand als bei herkömmlichen Verfahrensweisen nationale, regionale oder lokale strategische Ziele zu vereinbaren bzw. umzusetzen. Es gibt bislang nur wenige Mechanismen, um die Partizipation auf städtischer, nationaler und EU-umspannender Ebene im Zusammenhang mit der energiepolitischen Zukunft zu integrieren. Indes veranschaulichen Initiativen zur Förderung von Energieeffizienz und erneuerbaren Energieträgern wie der Bürgermeisterkonvent, was machbar ist. In den Mitgliedstaaten oder mitgliedstaatenübergreifend gibt es noch keine Formate für die strukturelle Verknüpfung dieser Beteiligung mit der Politikgestaltung und Entscheidungsfindung.

5.   Öffentliche Beteiligung im Wege eines europäischen Energiedialogs

5.1

Als Arbeitstitel für den erörterten Partizipationsprozess wurde der europäische Energiedialog gewählt, doch wären auch andere Titel wie europäische Energiekampagne denkbar, um das Erfordernis konkreten Handelns zum Ausdruck zu bringen. Der europäische Energiedialog würde nicht bestehende Strukturen überlagern, sondern bei laufenden Initiativen ansetzen und sie durch die Beteiligung von Energie-Interessenträgern und Bürgern ergänzen. Ein wichtiges Ziel wäre es, den politischen Prozess durch die Gestaltung des Zusammenspiels der Beteiligten, die Bereitstellung angemessener Informationen, die Förderung der Selbstverantwortung sowie die Stärkung der Legitimation und des Rückhalts für politische Entscheidungen auf nationaler und europäischer Ebene zu verbessern. Theoretisch dürften alle Energiefragen in seinen Tätigkeitsbereich fallen: Infrastruktur, Energiequellen und Ressourcen, Märkte, Verbraucherfragen, Technologien, politische und ökologische Aspekte usw.

5.2

Der Europäische Energiedialog muss die Erfordernisse und Anliegen von institutionellen wie auch nichtinstitutionellen Interessenträgern, d.h. der an der Energieversorgungskette beteiligten Gruppen wie auch der Investoren, Verbraucher, Regulatoren und Gesetzgeber, einbeziehen. Im Zusammenhang mit den auf nationaler, EU- und globaler Ebene festgelegten Prioritäten müssen insbesondere mit Blick auf Ressourcenverbrauch, Umweltverschmutzung und Klimawandel auch Vertreter der Generationengerechtigkeit als Interessenträger einbezogen werden.

5.3

Der europäische Energiedialog wäre nicht an der operationellen oder technischen Umsetzung beteiligt, sondern würde als eine Art Verhandlungsforum fungieren, in dem Umsetzungsfragen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Auswirkungen und Akzeptanz, Investitionserwägungen und Ressourcenstrategie und anderen politischen Überlegungen erörtert werden können. Allerdings sollte eine Verbindung zu ganz konkreten Maßnahmen hergestellt werden, mit denen sich die Bürger in der Praxis auseinandersetzen können wie intelligente Messsysteme und Energieeffizienz. Theorie, Bildungsarbeit und praktische Maßnahmen müssen ineinandergreifen.

6.   Verwirklichung eines europäischen Energiedialogs

6.1

Erste Zielsetzungen wären:

Maßnahmen ausloten und priorisieren, um Sachkunde und Handlungskompetenz der Zivilgesellschaft in Energiefragen zu gewährleisten;

Interessenträger – u.a. industrielle und private Energieverbraucher, Energieversorger, Arbeitnehmer und Gewerkschaften sowie andere Interessengruppen – nach ihren Anliegen, ihrem Wissensstand und ihrer Ressourcenkapazität einteilen;

die zentralen Fragestellungen so strukturieren, dass ein konstruktiver Austausch zwischen Laien und Experten möglich ist;

ein flexibles, in allen Mitgliedstaaten anwendbares Diskursformat entwickeln, das eine bürgernähere Entscheidungsfindung ermöglicht.

6.2

Verbesserte Konsultations- und Partizipationsmechanismen sind unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Energiewende. Ein sachkundiger, strukturierter, inklusiver und verantwortlicher Dialog auf EU-Ebene ist auch notwendig, um sicherzustellen, dass Politikgestaltung und Umsetzung strategisch, stimmig und inklusiv sind und demzufolge als glaubwürdig und effizient erachtet werden.

6.3

Letztlich muss durch öffentliche Beteiligung das Fundament für einen wissensbasierten, partizipativen und kosteneffizienten Übergang zu einem CO2-armen Energiesystem bis 2050 gelegt werden. Durch die öffentliche Beteiligung könnte die Legitimation der EU-Maßnahmen im Energiebereich erhöht werden, während die Bürger ihre Ansichten und Präferenzen auf nationaler Ebene und EU-weit zu Gehör bringen könnten.

6.4

Mit jeder ermittelten Interessengruppe wäre – nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit – zu klären,

was sie von einer Teilnahme am Dialog erwarten und

welcher Beitrag zum Dialog von ihnen erwartet wird.

6.5

Wenn der Dialog auf längere Sicht erfolgreich sein soll, müssen die Anliegen, das Wissen und die Werte der Mitgliedstaaten und der gesamteuropäischen Zivilgesellschaft berücksichtigt werden. Und dazu wieder ist es notwendig, dass die Interessenträger ihrerseits

ergebnisorientierte Strategien entwerfen und Kompromiss- und Anpassungsmodalitäten vereinbaren;

ein Verfahren für die Umsetzung dieser Strategien entwickeln; und

die Kompetenz entwickeln, um diesen Prozess flankieren zu können.

6.6

Damit der Dialog seinen Zweck erfüllen kann, sind eine Reihe grundlegender Fragen zu stellen:

Strategien: Welche Strategien sind notwendig, um die Beteiligung der Interessenträger aus dem Energiebereich und der Zivilgesellschaft zu fördern?

Prozesse: Welche kritischen Prozesse müssen entwickelt oder überarbeitet werden, um diese Strategien umzusetzen?

Kompetenzen: Welche Kompetenzen werden in dem Dialog benötigt, um diese Prozesse auszuführen und weiterzuentwickeln?

Beitrag der Interessenträger aus dem Energiebereich und der Zivilgesellschaft: Welchen Beitrag zur Entwicklung, Aufrechterhaltung und Verbesserung dieser Kompetenzen sollte der Dialog von den teilnehmenden Interessenträgern und Bürgern erwarten?

7.   Praktische Schritte und Empfehlungen

7.1

Es wird vorgeschlagen, dass bis 2016 Interessenträger aus dem Energiebereich, Bürger und organisierte Zivilgesellschaft in den europäischen Energiedialog in Form eines koordinierten Multi-Level-Diskurses, der in allen Mitgliedstaaten und mitgliedstaatenübergreifend stattfindet, eingebunden sind. In Anbetracht von Umfang, Größenordnung und Dringlichkeit des Vorhabens muss der Prozess zur Beteiligung der Energie-Interessenträger und Öffentlichkeit ehrgeizig angelegt, gut ausgestattet und wirksam sein; dabei sollte die in Ziffer 6 dargelegte taktische Herangehensweise gewählt werden. Der Energiedialog muss für Vertrauensbildung zwischen den Teilnehmern und für Offenheit sowie für die Entwicklung von Lösungen bzw. die Übernahme der zahlreichen erörterten Fragen oder Standpunkte stehen. Er sollte

EU-weit angelegt sein und auf EU-Ebene zusammenführende und integrierende Arbeit leisten;

national angelegt sein und in unterschiedlichen kulturellen Umfeldern und Vorstellungen von der Energiezukunft stattfinden;

sich über verschiedene Ebenen innerhalb eines Landes erstrecken, die nationale, regionale, städtische und kommunale Ebene einschließen und der Wichtigkeit der Bürger und Verbraucher für die Politik gerecht werden;

handlungsorientiert sein, indem sich alle Teilnehmer selbst und gegenseitig fragen, was für eine bessere Energiezukunft getan werden kann.

7.2

Der Europäische Energiedialog soll nicht an die Stelle der Debatte treten, die zwischen den Institutionen einer repräsentativen Demokratie stattfinden muss, sondern diese Debatte bereichern, indem er Laienwissen, -erfahrungen und -auffassungen mit technischem Fach- und Sachverstand zusammenbringt. Partizipative Demokratie zeigt sich hier als eine notwendige Ergänzung der repräsentativen Demokratie.

7.3

Der Ausschuss könnte ein auf nationalen Initiativen aufbauendes Dreijahresprogramm aufstellen, an dessen Ende ein unabhängiger europäischer Energiedialog steht. Dies würde folgendes umfassen:

Forschung – Weiterentwicklung der bisherigen Erforschung der öffentlichen Beteiligung mit Blick auf die einschlägigen komplexen Energiefragen, die den Bürgern vermittelt werden müssen;

Aufbau von Bündnissen mit allen Beteiligten (Mitgliedstaaten und der rotierende EU-Ratsvorsitz, zivilgesellschaftliche Organisationen, Industrie, Gewerkschaften, Stiftungen, akademische Einrichtungen usw.), um eine grundlegende Ressourcenkapazität, die im Verhältnis zu den angestrebten Zielen steht, sicherzustellen;

eine große Auftaktveranstaltung, bei der aktive Pilot-/Demonstrationsprogramme in bis zu fünf Mitgliedstaaten angekündigt werden, in denen jeweils im Rahmen einer nationalen Veranstaltung 2014 nationale Dialoge lanciert werden;

Herstellung von Verbindungen zwischen dem europäischen Energiedialog und den bestehenden Foren wie bspw. der Energiegemeinschaft Südosteuropa und der Östlichen Partnerschaft, soweit dies möglich und angebracht ist;

eine Präsentation und eine Debatte über den europäischen Energiedialog im Rahmen des Bürgerforums "Energie" im November 2013 und ggf. bei anderen Energieforen und Veranstaltungen;

Überwachung der Entwicklung des Dialogs durch die Ständige Studiengruppe Europäische Energiegemeinschaft des Ausschusses und Einrichtung einer repräsentativen Lenkungsgruppe.

7.4

Bei der Strukturierung eines öffentlichen Dialogs sind Entscheidungshilfeinstrumente sinnvoll, insbesondere bei der Analyse von "Was wäre wenn"-Fragen und den damit verbundenen Zielkonflikten, Risiken und Ergebnissen. Zu nennen wären u.a. Entwicklung von Szenarien und Modellen, Multi-Kriterien-Analysen unter Beteiligung der verschiedenen Interessengruppen, Virtual-Reality-Techniken (einschl. 3D-Visualisierungstechnik und GIS (geografische Informationssystemtechniken)-Kartierung), Ökobilanzen und quantitative Umweltbewertung. Die Entwicklung von Szenarien hat sich als am leichtesten zugängliches Instrument erwiesen, das es den Menschen auf interaktive Weise ermöglicht, die Größenordnung der Problemstellung zu erfassen, ihre Präferenzlösungen auszuloten und zu prüfen und in die Praxis zu übertragen. So wurden im EU-Energiefahrplan 2050 Szenarien entwickelt, um die Bürger besser zu informieren und ihnen die verschiedenen Optionen zu vermitteln.

7.5

Damit die Energiedebatte im Alltag ankommt, in Cafes und Bars, Küchen und Klassenzimmern, ist mehr nötig als moderne Kommunikationstechnologien. Große Ausstellungen und Veranstaltungen, die Einbindung der Wissenschaftsgemeinschaft und Interesse seitens der nationalen Medien tut Not. Dazu wieder ist es erforderlich, professionell zu planen und für den Dialog ein anerkanntes und vertrauenswürdiges europäisches gesellschaftliches Markenimage aufzubauen.

7.6

Ein Dialog über die Energiezukunft erfordert klare, transparente und nachvollziehbare Governanceverfahren. Der Organisator sollte unabhängig von jedweden Interessenträgern, Institutionen oder Interessengruppen sein, das Vertrauen aller Teilnehmer haben, als zuverlässig gelten, angesehen sein und nach einvernehmlich festgelegten, auf gemeinsamen Werten beruhenden sozialen und ethischen Grundsätzen handeln.

7.7

Der Ausschuss wird eine gestaltende Rolle übernehmen und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der europäische Energiedialog Realität wird. Der Ausschuss begleitet zunächst die ersten Planungen und den Dialog der Interessenträger und wird dann als Teil der Gruppe, die mit den wesentlichen anfänglichen Entwicklungsaufgaben betraut ist, seine Unterstützung fortsetzen, während der europäische Energiedialog sich eigenständig entwickelt, und bei der Mobilisierung der umfangreichen benötigten Ressourcen als Katalysator wirken.

7.8

Wesentliche Aufgabenstellungen für den europäischen Energiedialog sind:

Aufstellung eines gemeinsamen Energiedialog-Rahmens;

Aufbau eines allgemeinen europäischen Markenimages für den Dialog und Konzipierung flankierender Lizenzsysteme und Verwaltungsmechanismen;

Entwicklung einer vereinbarten wissensbasierten "Bibliothek" über praktische Energiefragen;

Einrichtung eines Forums für eine offene Energiepolitikdebatte zwischen den Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene;

Bereitstellung von Finanzmitteln oder wesentlicher Unterstützung für nationale und regionale Initiativen;

Forschungsdurchführung oder Forschungsvergabe zur Schließung von Wissenslücken;

Zusammenstellung von Leitlinien zu bestehenden oder anstehenden Energie-Fragestellungen unter Berücksichtigung gesellschaftlicher, ökologischer, ethischer und wirtschaftlicher Aspekte;

Zusammenarbeit mit nationalen und regionalen Organisationen;

Förderung der Vernetzung von Organisationen innerhalb der Mitgliedstaaten.

7.9

Der europäische Energiedialog kann auch als großangelegte praktische Übung in partizipativer Demokratie angesehen werden, die die repräsentative Demokratie in einem für alle Beteiligten grundlegend wichtigen Anliegen faktisch ergänzt. Organisationsprinzip ist die Subsidiarität im Wege von Franchise-Konzepten oder Lizenz-Systemen, d.h., der europäische Energiedialog wird bei bestehenden Verfahrensweisen ansetzen und sie ausbauen. In der "Gründungsphase" des europäischen Energiedialogs werden im Wege einer inklusiven Partizipation von Bürgern und Interessenträgern einvernehmlich Dialogprozesse festgelegt, die dann auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene kopiert werden können. So können die Ressourcen, Kenntnisse und Fähigkeiten vielfältiger Organisationen, die sich bereits mit Energiefragen auseinandersetzen, einfließen. Dazu gehören bspw. Kommunal- und Regulierungsbehörden, Energie- und andere Unternehmen, Gewerkschaften, NGO und Verbraucherorganisationen sowie EU-Institutionen (Europäische Kommission, Europäisches Parlament und Ausschuss der Regionen). Ziel wäre es, eine Art Verhandlungsforum zu errichten, in dem Umsetzungsfragen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Auswirkungen und Akzeptanz, Investitionserwägungen und Ressourcenstrategie und von anderen politischen Überlegungen erörtert werden können. In diesem Forum könnte auf der Grundlage fortwährend bereitgestellter objektiver Informationen und der praktischen Erfahrungen der Bürger ausgelotet werden, inwieweit eine Annäherung in den durch den Energiedialog "gerahmten" Energie-Fragestellungen möglich ist.

7.10

Es müssen gemeinsame Grundsätze für diesen Dialog festgelegt werden. Die Herausforderung besteht darin, Politik und Handeln im Energiebereich bestimmte "universelle" Verpflichtungen zur Wahrung gemeinsamer Werte der Menschheit zugrunde zu legen. Diese Art Verpflichtungen sind bereits im EU-Vertrag enthalten, in dem die Mitgliedstaaten die Wahrung der Menschen- und Grundrechte festgeschrieben haben. Diese Solidarität zwischen Nationen und Völkern, ein Grundprinzip der EU, ist im Sinn einer ethischen Verallgemeinerung auf die Energiepolitik übertragbar.

7.11

Die vier ethischen Grundprinzipien – Zugang zu Energie, Nachhaltigkeit, Sicherheit und Zuverlässigkeit der Energieversorgung –, die die Europäische Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der neuen Technologie (EGE) in ihrer Stellungnahme zu einem Ethikrahmen für Energie vorschlägt (http://ec.europa.eu/bepa/european-group-ethics/publications/opinions/index_en.htm), überschneiden sich offenkundig mit den drei Säulen der EU-Energiepolitik und machen eine genaue Analyse erforderlich. In der EGE-Stellungnahme wird betont, dass Partizipation Voraussetzung für soziale und politische Gerechtigkeit ist, und somit die im Energiefahrplan 2050 getroffene Feststellung – "die Einbeziehung der Öffentlichkeit ist von entscheidender Bedeutung" – bekräftigt (vgl. Ziffer 3.4).

7.12

Bevor der europäische Energiedialog lanciert wird, muss zunächst ein grundsatzorientierter Ansatz für die Beteiligung der Bürger entwickelt werden, und dabei kann der Ausschuss praktische Unterstützung leisten. In diesem Zusammenhang werden zunächst fünf Leitfragen vorgeschlagen:

Wie können wir gewährleisten, dass jeder, Privatpersonen und Unternehmen, sich die benötigte Energie leisten kann?

Tragen wir bei Energieerzeugung und -verbrauch den Auswirkungen auf die künftigen Generationen und ihren Bedürfnissen Rechnung?

Haben wir alle kurz- und mittelfristigen Risiken in Verbindung mit Energieerzeugung und -verbrauch analysiert und ausgeglichen?

Können wir sicher sein, dass unsere Energieversorgung in Anbetracht ihrer zentralen Bedeutung ausreichend stabil und sicher ist?

Wie kann unser persönlicher Beitrag aussehen?

7.13

Um auf Energiemärkten langfristige Handlungslinien zu ermöglichen, bedarf es mehr Sicherheit und wirksamerer Zusammenarbeit. Der notwendige Wandel zur Verwirklichung der Ziele kann bei unveränderten Rahmenbedingungen (Business-as-usual) nicht im gebotenen Tempo und Ausmaß stattfinden. Deshalb müssen alle Interessenträger – Bürger, Energiesektor, Regierungen – ihren Teil beitragen, um den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu bewerkstelligen. Dabei wird der europäische Energiedialog die Möglichkeit bieten, Vertrauen aufzubauen, die Bürger auf nationaler Ebene einzubeziehen und dann die nationalen Energiepolitiken in einen breiteren EU-Kontext einzubetten.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Bürger erfolgreich in den Mittelpunkt eines inklusiven digitalen Binnenmarkts stellen: ein Aktionsplan“ (Initiativstellungnahme)

2013/C 161/02

Berichterstatterin: Anna Maria DARMANIN

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. Januar 2012, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Bürger erfolgreich in den Mittelpunkt eines inklusiven digitalen Binnenmarkts stellen: ein Aktionsplan

(Initiativstellungnahme).

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 7. März 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 69 Stimmen bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der digitale Binnenmarkt birgt ein großes Potenzial für die Förderung von Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand im Allgemeinen. Allerdings gibt es immer noch Bürger, die keine Möglichkeit haben, dieses Potenzial zu nutzen. Die Gründe für ihre Ausgrenzung sind im soziologischen, kulturellen und auch gesetzlichen Bereich zu suchen. Der Ausschuss hat ermittelt, welche Probleme und Hemmnisse den Bürgern ihren Platz im Mittelpunkt des digitalen Binnenmarkts verwehren:

a)

Infrastrukturprobleme;

b)

ein unklarer Rechtsrahmen;

c)

die Rechte der Bürger sind nicht genau definiert;

d)

Streitbeilegungsverfahren, sowohl für die individuelle als auch die kollektive Konfliktlösung, sind immer noch nicht durchgängig eingeführt;

e)

Abweichungen im Verbraucherrecht in unterschiedlichen Mitgliedstaaten;

f)

Sicherheit im Internet;

g)

das elektronische Beschaffungswesen und die elektronische Signatur werden noch nicht flächendeckend genutzt;

h)

elektronische Behördendienste haben noch nicht den gewünschten Verbreitungsgrad entwickelt;

i)

die Umsetzung im Binnenmarkt ist zu verbessern.

1.2

Der Ausschuss schlägt daher eine Reihe von Maßnahmen vor, um die Bürger erfolgreich in den Mittelpunkt des digitalen Binnenmarkts zu stellen:

a)

freier und universeller Zugang;

b)

Offenes Internet und Netzneutralität

c)

Prävention von Missbrauch;

d)

IKT-Normung;

e)

Interoperabilität und Interkonnektivität;

f)

Cloud Computing;

g)

Preiskontrolle, d.h. Mindestpreise;

h)

Bildung und Ausbildung;

i)

Schutz vor Internetbetrug und Internetkriminalität (wie Internetpiraterie und Fälschungen im Internet);

j)

Sicherheit (u.a. Datenschutz und Privatsphäre, Schutz von Kindern, älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen);

k)

eine Charta der digitalen Rechte (1);

l)

Anwendung der Verbraucherrechterichtlinie auf digitale Inhalte;

m)

Überprüfung der Rechtsvorschriften über den elektronischen Geschäftsverkehr, den elektronischen Zahlungsverkehr, Mobiltelefonie usw.;

n)

Überarbeitung der Rundfunkpolitik;

o)

Informationskampagnen;

p)

Partizipation und Einbeziehung der Zivilgesellschaft auf allen Ebenen der politischen Entscheidungsfindung;

q)

Veröffentlichung eines EU-Leitfadens für elektronische Dienste.

2.   Die Bürger im Mittelpunkt des digitalen Binnenmarkts: Die Bürger als wirtschaftliche, soziale und politische Akteure im Einklang mit den vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes

2.1

Förderung der wirtschaftlichen Potenziale der Bürger: Die digitale Revolution hat einige Arbeitsplätze zerstört. McKinsey (2) zufolge sind jedoch für jeden verloren gegangenen Arbeitsplatz 2,6 neue geschaffen worden. Die Gesellschaft muss sich anpassen und ihre Potenziale mobilisieren. Bestimmte Arbeitsplätze werden verschwinden. Die jüngeren Generationen müssen sich umstellen und die digitale Revolution als Beschäftigungsmotor begreifen. Initiativen wie die vom MIT Media Lab entwickelte Programmiersprache Scratch bieten Mehrwert durch die Förderung des Selbstvertrauens. Als weiteres Beispiel wäre das "Skunk Works Lab" der NASA zu nennen, mit dem nach Einstellung des Space Shuttle-Programms die Kreativität gefördert wurde.

2.2

Förderung der politischen Potenziale der Bürger: Menschen müssen frei sein, um ihre Ideen verbreiten zu können, was durch das Internet enorm erleichtert wird – wobei die jüngeren Generationen ungeachtet ihrer "Internetverbundenheit" ohnehin auch mehr reisen. Das Internet fördert die Kommunikation. Die digitale Technologie hat eine neue Art der Freizügigkeit begründet.

2.2.1

In Europa und weltweit gibt es anschauliche Beispiele dafür, wie Bürger sich mobilisieren, um ihrer Meinung Gehör zu verschaffen und auf demokratische Weise politischen Einfluss zu nehmen. Die Stimme der Bürger muss in der Politikgestaltung in jedem Fall wirkungsvoller zu Gehör gebracht werden. Auch der demokratische Prozess muss an die Digitalisierung angepasst werden.

2.3

Die Bürger als gesellschaftliche Akteure: eSkills beinhalten nicht nur die Fähigkeiten zum Umgang mit dem Internet, sondern auch die Nutzung des Internet zum Vorteil der Gemeinschaft und der persönlichen Entfaltung. Deshalb müssen Gemeinschaften das Potenzial des Internet besser ausschöpfen. Allerdings muss die persönliche Entscheidung eines jeden Bürgers, das Internet zu nutzen oder auch nicht, umfassend respektiert werden.

2.4

Wie in den Entschließungen des Europäischen Parlaments zur Vollendung des digitalen Binnenmarkts (3) und zum Binnenmarkt für die europäischen Bürger (4) hervorgehoben wurde, verhindern diverse Mängel, dass die Bürger wirklich im Mittelpunkt des Binnenmarkts stehen. Diese Mängel sind gesetzlicher wie auch soziologischer Art und führen dazu, dass die Verbraucher das Potenzial des Binnenmarkts immer noch nicht umfassend ausschöpfen können.

3.   Allgemeine Überlegungen und Maßnahmen zur Förderung der Nutzung der digitalen Medien durch die Bürger, Argumente für einen Aktionsplan

Zugang, E-Kompetenz und Vertrauen sind grundlegende Voraussetzungen, damit die Bürger das Internet nutzen und sich das digitale Umfeld zueigen machen.

3.1   Zugang

Alle EU-Bürger müssen die gleichen Zugangsvoraussetzungen haben. Dies gilt für Infrastruktur, Hardware, Software und Orgware (5).

Zugang durch Infrastruktur

3.1.1

Jeder EU-Bürger muss die gleichen Netzzugangsmöglichkeiten haben (6). Außerdem ist es wesentlich, dass für die Kosten pro Mbit/s sowohl im Fest- als auch im Mobilfunknetz EU-weit eine Höchstgrenze festgelegt und eingeführt wird.

3.1.1.1

Nach Angaben des Gremiums Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) haben die meisten nationalen Regulierungsbehörden Beschwerden von Verbrauchern über eine Diskrepanz zwischen den beworbenen und den tatsächlichen Geschwindigkeiten von Internet-Anschlüssen erhalten. Als Voraussetzung für einen echten digitalen Binnenmarkt muss durch eine strenge öffentliche Kontrolle sichergestellt werden, dass alle in der EU tätigen Netzbetreiber die nominale Bandbreite im Einklang mit der Breitband-Säule der Digitalen Agenda für Europa (DAE) gewährleisten.

3.1.1.2

Vor allem der derzeit uneinheitliche mobile Internetzugang steht einem echten digitalen Binnenmarkt im Wege, zumal mit der raschen Verbreitung von Smartphones und Tablet-PC die wirtschaftliche Bedeutung mobiler, internetbasierter Dienste für Bürger (elektronischer Geschäftsverkehr, eHealth usw.) immer mehr zunimmt. Diesbezüglich zielt die Aktion 101 der Digitalen Agenda darauf ab, die Preisdifferenz zwischen Inlands- und Roaminganrufen innerhalb der EU bis 2015 an Null anzunähern.

3.1.1.3

Außerdem sollte eine flächendeckende Infrastrukturversorgung in der gesamten EU sichergestellt werden, damit die Einwohner ländlicher Gebiete nicht benachteiligt werden. Der Ausschuss ist sich bewusst, dass die Industrie womöglich aus Rentabilitätsgründen vom Ausbau der erforderlichen Infrastruktur absehen wird. Doch sollte dies kein unüberwindliches Hindernis sein. Als Lösung für ländliche Gebiete kämen u.a. ÖPP in Betracht. Auch Inhalteanbieter sind als Partner bei Infrastrukturinvestitionen denkbar, da sie im Anschluss häufig von der flächendeckenden Versorgung profitieren.

WLAN-Hotspots in den Städten

3.1.2

Ein kostenloser WLAN-Zugang sollte grundlegendes Recht eines jeden EU-Bürgers sein. Nach Ansicht des Ausschusses (7) würden die Einrichtung kostenloser öffentlicher WLAN-Hotspot-Zugänge in den Städten und die Bereitstellung offener Daten (Open-Data-Konzept 2.0) und freier, offener Software (Open Source) Möglichkeiten eröffnen, zu kommunizieren oder nach Arbeit zu suchen.

3.1.3

Ein flächendeckender Internetzugang sollte keine zwingende Voraussetzung sein, doch muss es in jeder Ortschaft mindestens einen WLAN-Hotspot geben. Ein gangbarer Ansatz wäre es, proportional zur Einwohnerzahl eine Mindestanzahl kostenloser Hotspots zu garantieren; jede nationale Regulierungsbehörde könnte im Einklang mit EU-Leitlinien eigene Regeln festlegen.

3.1.4

Zwar wird Internetzugang und universeller Breitbandversorgung ungemeine Bedeutung beigemessen, doch hat die Europäische Kommission darauf hingewiesen (8), dass sich kein Konsens über die künftige Rolle des Universaldienstes bei der weiteren Verfolgung der europäischen Breitbandziele abzeichnet.

3.1.5

Bislang haben Finnland, Spanien und Malta Vorschriften erlassen, mit denen ein Breitbandanschluss in den Umfang des Universaldienstes aufgenommen wurde. Am 5. Juli 2011 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung (9) an, in der es die große Bedeutung der Universaldienstverpflichtungen als Sicherheitsnetz für die soziale Integration hervorhob.

Hardware

3.1.6

Ein digital integrierter europäischer Bürger kann das Internet nutzen, d.h., er verfügt über die geeignete Hardware und Software für den Zugang zum Internet.

3.1.6.1

Grundlegende Hardware  (10) sollte in allen EU-Staaten zu einem allgemein erschwinglichen Preis erhältlich sein. Der Ausschuss plädiert darum nachdrücklich dafür, im Rahmen von "Horizont 2020" ein spezifisches Projekt zu entwickeln, um grundlegende Hardware in Europa zu wirklich erschwinglichen Preisen zu fertigen. Bedauerlicherweise hat der Rat das geplante Budget für Horizont 2020 jüngst gekürzt.

Software

3.1.6.2

Die Software  (11) sollte als Open-Source-Software ohne Zusatzkosten erhältlich sein und allgemeine, gängige, freie Anwendungen für die Bearbeitung und Weitergabe von Dokumenten bieten. Außerdem sollte sie barrierefrei sein. Open-Source-Software sollte andere Mainstream-Software ergänzen.

3.2   Offenes Internet und Netzneutralität

3.2.1

Der Ausschuss hat bereits darauf hingewiesen (12), dass es aus Sicht der Bürger darauf ankommt, dass alle Nutzer Zugang zum öffentlichen Internet haben, ohne dass Staaten oder Internetdiensteanbieter Einschränkungen mit Blick auf Inhalte, Websites, Plattformen, Art der gegebenenfalls zugehörigen technischen Ausrüstung sowie Art und Weise der zulässigen Kommunikation vornehmen können. Diesen Grundsatz beinhaltet das Konzept "Offenes Internet", ein grundlegendes Recht des "digitalen Bürgers".

3.2.2

Ferner sollten Internetprovider in der EU alle Quellen vergleichbarer Internetdaten gleich behandeln und nicht aus kommerziellen Gründen zwischen verschiedenen Arten von Datenverkehr unterscheiden.

3.2.3

Das GEREK wies in einem ersten Bericht über Datenverkehrsmanagement in Europa darauf hin, dass das Sperren oder die Erhebung zusätzlicher Gebühren für die Erbringung von VoIP-Diensten (13) gängige Praxis ist (14).

3.2.4

Die EU-Regulierungsbehörden haben festgestellt, dass Internetanwendungen wie VoIP (Skype) vor allem von Mobilfunkanbietern gesperrt werden. Auch der Peer-to-Peer-Datenverkehr, der Filesharing zwischen Internetnutzern ermöglicht, wird ebenfalls regelmäßig seitens der Festnetz- und Mobilfunkanbieter gedrosselt oder gesperrt.

Je mehr Dienste ins Netz verlagert werden, desto mehr scheinen die Netzbetreiber versucht zu sein, Dienste von Konkurrenten oder nicht besonders gewinnträchtige Dienste zu diskriminieren und praktisch ein Zwei-Klassen-Netz aus schnellen und langsameren Diensten zu schaffen. Das stellt eine echte Gefahr für die Netzneutralität dar.

3.2.5

Der Grundsatz der Netzneutralität bedeutet nämlich, dass kein Internetprovider aus kommerziellen Gründen bestimmtem Datenverkehr Vorrang einräumen darf. Vielmehr muss jeder Anwender auf die bestmögliche Leistung des Internetproviders zählen können.

Der Begriff der Netzneutralität ist in der Mitteilung der Europäischen Kommission zur Digitalen Agenda überhaupt nicht enthalten. Der Ausschuss betont, dass der Grundsatz der Netzneutralität als Bekräftigung der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthaltenen Bürgerrechte in den EU-Rechtsvorschriften eindeutig definiert und verankert werden sollte.

3.3   Orgware

3.3.1   Technologie allein genügt nicht, um das Potenzial des digitalen Binnenmarkts auszuschöpfen. Orgware – Kenntnisse, Kompetenzen und Bewusstsein der Anwender – ist ebenso relevant. Deshalb erachtet der Ausschuss Kenntnisse bzw. E-Kompetenz und eine kritische Abwägung von Vorteilen und Gefahren der Internetnutzung als wichtig.

3.3.2   Knowhow

Orgware ist eine wesentliche Voraussetzung für das erforderliche Knowhow, um das Internet möglichst vorteilhaft nicht nur zum Freizeitvergnügen, sondern auch für die persönliche und gemeinschaftliche Entwicklung einzusetzen.

3.4   eSkills sicherstellen

3.4.1

Damit die EU-Bürger wirklich im Mittelpunkt des digitalen Binnenmarkts stehen können, benötigen sie bessere E-Kompetenzen und fortgeschrittene Medienkompetenz, damit die digitale Kluft verringert und ihre digitale Inklusion vertieft werden kann.

3.4.1.1

Digitale Inklusion beinhaltet vor allem eine gleichberechtigte Teilhabe aller EU-Bürger, insbesondere (15):

der älteren Menschen;

der Menschen mit Behinderungen;

der einkommensschwachen Personen;

der Personen mit niedrigem Bildungsstand;

der Minderheiten.

Es ist deshalb wesentlich, EU-weite Indikatoren für E-Kompetenzen und Medienkompetenz (16) vorzuschlagen und schleunigst in allen Mitgliedstaaten langfristige Maßnahmen zur Förderung von eSkills und digitaler Kompetenz aufzulegen (17). Dazu ist es geboten, dass lokale bzw. regionale Akteure der Zivilgesellschaft kohäsionspolitische Mittel insbesondere aus dem ESF nutzen können, um E-Kompetenz aufzubauen.

3.5   Digitale Schulen

3.5.1

Der Ausbau der digitalen Gesellschaft in Europa muss über die Schulen – Lehrer wie Schüler - laufen. Es müssen die Mittel für echte digitale Schulen bereitgestellt werden, die sich durch eine zunehmend digitalisierte Verwaltung und Pädagogik auszeichnen und gleichzeitig zum Umweltschutz beitragen.

3.5.2

Schüler sind im Allgemeinen mit den neuen Technologien besser vertraut und benötigen somit Hilfe und Anleitung bei der Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten; die älteren Generationen dagegen weisen eine hohe Rate an "Computer-Analphabetismus" auf. Zur Schaffung einer digitalen Schule und einer digitalen Gesellschaft ist es daher notwendig, den Lehrern eSkills zu vermitteln, um ein Miteinander der Generationen zu ermöglichen.

3.5.3

Die Lehrmethoden müssen überdacht werden. Die Lehrer müssen sich der ständigen Herausforderung stellen, die richtige Kombination aus traditionellen Lehrkonzepten und neuen Technologien zu finden.

3.5.4

Um die Kluft zwischen der herkömmlichen Pädagogik und den neuen Technologien zu schließen, sollten außerdem Online-Lehrmittel entwickelt werden, um allen überall gleichwertige und zuverlässige Lernprozesse zugänglich zu machen. Im Rahmen der Aktionen 61 (18) und 68 (19) der Digitalen Agenda für Europa scheint Entsprechendes geplant zu werden. Es muss aber berücksichtigt werden, dass nicht alle künftigen Endnutzer über den gleichen IKT-Wissensstand verfügen werden. Benutzeroberflächen und Inhalte sollten daher an verschiedene Lernniveaus angepasst werden können, um sowohl grundlegende Nutzeranforderungen zu erfüllen als auch fortgeschrittenen Nutzern gerecht zu werden.

3.6   Der Europäische Computerführerschein

3.6.1

Der Europäische Computerführerschein (European Computer Driving License – ECDL) sollte offiziell in allen Mitgliedstaaten eingeführt und fortlaufend an die neuesten Software- und Hardware-Entwicklungen angepasst werden.

3.6.1.1

Voraussetzung für die Erteilung des ECDL, dem eine freie Software zugrunde liegen sollte, sollte eine EU-weit harmonisierte Prüfung sein. Er sollte außerdem Gegenstand aller Sekundarschullehrpläne sein, damit alle Schüler in der EU über das gleiche IT-Grundwissen verfügen.

3.6.2

Der Inhalt muss im Einklang mit den Mitteln umgesetzt werden. Im Rahmen ihrer Digitalisierungsbestrebungen sollte die EU die Verfügbarkeit von digitalen Ressourcen wie E-Books erhöhen. In diesem Zusammenhang begrüßt der Ausschuss die Absicht der Kommission, die Online-Bibliothek Europeana  (20) weiterzuentwickeln, befürchtet jedoch, dass diese potenziell bahnbrechende Entwicklung vielerorts weitgehend unbekannt ist und besser beworben werden muss, vor allem im Bildungsbereich.

3.7   Vertrauen

3.7.1

Vertrauen ist unerlässlich, damit das Internetpotenzial im Binnenmarkt zum Tragen gebracht werden kann. Die Bürger müssen deshalb die Sicherheit haben, dass durch geeignete Systeme der Schädigung von Personen oder Gemeinschaften vorgebeugt, ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet, Internetkriminalität so wie Verbrechen in der realen Welt verfolgt und für eine geeignete Regulierung des Internet sowie ihre Durchsetzung gesorgt wird.

3.8   Prävention

3.8.1

Die Vermittlung der wichtigsten Möglichkeiten und Gefahren des Internet ist grundlegend wichtig. Zielorientierte, auf die verschiedenen Nutzergruppen abgestimmte Aufklärungs- bzw. Bildungskampagnen können wirkungsvoll zur Prävention beitragen.

3.8.2

Auch Regulierung leistet einen wichtigen Beitrag zur Prävention. Zwar ist die Internetregulierung äußerst schwierig, doch hat der Schutz vor jedweder Art von Gefahr für die europäischen Bürger höchste Bedeutung. Der Ausschuss empfiehlt daher nachdrücklich, auf europäischer Ebene einen rechtswirksamen grundlegenden Regulierungsrahmen aufzustellen.

3.8.3

Aufbauend auf bspw. der Charta der Grundrechte könnten die Internetprovider nach dem Vorbild der erfolgreichen Selbstregulierung in der Werbeindustrie mehr Verantwortung übernehmen. Damit würde der mangelnden Regulierung abgeholfen, sofern der Gesetzgeber eine regelmäßige Bewertung und Überwachung sowie Sanktionen vorsieht.

3.9   Schutz

3.9.1

Die Bürger müssen sich im Internet ausreichend geschützt fühlen. In Verbindung mit elektronischen Diensten sollte daher immer klar und deutlich das gewährleistete Schutzniveau angegeben werden. Die Anbieter von Inhalten beispielsweise könnten den auf ihren Websites gewährten Schutz veranschaulichen, indem sie spezifische Leitlinien einhalten (21).

3.9.2

Identitätsdiebstahl ist eine der größten Sorgen der Nutzer. Deshalb sollte erforscht werden, wie der Schutz persönlicher Daten im Internet gewährleistet werden kann.

3.9.3

Für die EU-Bürger ist es von wesentlicher Bedeutung, dass der Breitbandausbau nicht zu Lasten der öffentlichen Gesundheit erfolgt. Insbesondere sollte jeder Mitgliedstaat im Rahmen entsprechender EU-Vorschriften für nachstehende grundlegende Voraussetzungen sorgen:

unbedenkliches Belastungsniveau durch elektromagnetische Strahlung;

Verbot gefährlicher Chemikalien in IT-Produkten;

umweltverträglicher Netzausbau;

Ausrichtung öffentlicher Ausschreibungen auf Energie sparende Erzeugnisse.

3.10   Strafverfolgung

3.10.1

Internetkriminalität ist ebenso ernst zu nehmen wie Kriminalität in der realen Welt und sollte entsprechend verfolgt werden. Die Mitgliedstaaten müssen mehr Ressourcen bereitstellen, um eine wirksame, effiziente und zeitnahe Handhabung und Strafverfolgung von Internetkriminalität zu ermöglichen.

3.11   Charta der digitalen Rechte

3.11.1

Der Ausschuss fordert die Kommission auf, eine "Charta der digitalen Rechte" der Bürger aufzustellen (22), um die Bürger wirklich zu schützen und das Vertrauen im digitalen Binnenmarkt zu fördern.

4.   Besondere Erwägungen

4.1   Elektronische Behördendienste

4.1.1

eGovernment erleichtert insbesondere Bürgern und KMU die Nutzung elektronischer Behördendienste. Interoperabilität ist die Voraussetzung für wirksame und leistungsfähige elektronische Behördendienste. Die Bürger ihrerseits müssen die Kontrolle über ihre Daten haben, darauf zugreifen können und in der Lage sein, sie zwar nicht ändern zu können, aber doch sehen zu können, wer rechtmäßig oder unrechtmäßig Zugang dazu hatte. Es muss den Bürgern jedoch freigestellt sein, die Behördendienste elektronisch oder aber in herkömmlicher Weise zu nutzen.

4.1.2

Die elektronische Abwicklung aller Behördendienste ist allerdings aus Kostengründen und im Interesse von weniger Verwaltungsaufwand und mehr Effizienz erstrebenswert. Die Mitgliedstaaten sollten allesamt als Beitrag zur Förderung der Mobilität der Bürger auf elektronische Dienste setzen.

4.2   KMU und das Enterprise Europe Network

4.2.1

In seiner Stellungnahme zu der Mitteilung der Kommission "Kleine Unternehmen — große Welt: Eine neue Partnerschaft, um KMU zu helfen, ihre Chancen im globalen Kontext zu nutzen"  (23) vermisst der Ausschuss "Maßnahmen zur Unterstützung des elektronischen Handels, der sich zu einem wichtigen Faktor zur Internationalisierung der KMU entwickeln könnte". Die Umsetzung der Digitalen Agenda für Europa hat auch für KMU vorderste Priorität. Mit Blick auf das Beschäftigungspotenzial von KMU ist es daher strategisch wichtig, zentrale Anlaufstellen für Mehrwertsteuer einzurichten sowie die elektronische Rechnungsstellung und Cloud Computing zu fördern. Die intelligente Nutzung von IKT, die Entwicklung der eSkills in KMU, die verstärkte Nutzung der elektronischen Beschaffung seitens der KMU und ihr umfassender Zugang zu Breitbandinfrastrukturen sind ebenso unverzichtbar wie das Netz zur Unterstützung von KMU beim elektronischen Geschäftsverkehr (eBSN), das Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (CIP) und das Programm für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und für KMU (COSME).

4.2.2

Der Ausschuss begrüßt die Absicht der Europäischen Kommission, die Verwaltung des Enterprise Europe Network (EEN) zu überprüfen und den KMU den Weg zur Digitaltechnik zu ebnen. Auch ist Vertrauen in einen digitalen Binnenmarkt eine wichtige Voraussetzung, und ein basisorientierter Ansatz unter Einbeziehung der Sozialpartner könnte von zusätzlichem didaktischem Nutzen sein.

4.2.3

Das Enterprise Europe Network (EEN) hat zum Ziel, kleine und mittelständische Unternehmen in Europa dabei zu unterstützen, neue Märkte zu entwickeln, neue Technologien einzuführen und Zugang zu EU-Fördermitteln zu erhalten.

4.2.4

Die Rolle des EEN sollte gestärkt werden, um die allgemeine digitale Integration aller europäischen KMU sicherzustellen und alle EU-Bürger in die Lage zu versetzen, auf alle verfügbaren offenen Daten zugreifen zu können, so dass schrittweise ein EU-weites digitales Networking möglich ist.

4.2.5

Die Wirksamkeit der EEN-Tätigkeiten sollte fortwährend von der Europäischen Kommission überwacht werden, indem sie Feedback seitens der europäischen KMU und der Unionsbürger einholt, die EEN-Dienste in Anspruch genommen haben.

4.3   Natürliche Hemmnisse für den digitalen Binnenmarkt

4.3.1

Eines der herausragendsten natürlichen Hemmnisse auf dem Binnenmarkt – ob digital oder nicht – sind die Sprachbarrieren.

4.3.2

Das Recht, nicht am digitalen Binnenmarkt und seinen realen Vorteilen teilzuhaben, wirkt sich gleichzeitig als Hemmnis aus.

4.3.3

Zwar überwindet der digitale Binnenmarkt geografische Barrieren und Isolation, doch an den Schnittstellen zwischen virtueller und realer Welt, bspw. beim Warentransport, bleiben geografische Lage und Abgelegenheit nach wie vor ein natürliches Hemmnis.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Die Europäische Kommission hat jüngst die bestehenden, im EU-Recht verankerten grundlegenden Rechte und Prinzipien im Kodex der EU-Online-Rechte zusammengefasst: https://ec.europa.eu/digital-agenda/en/code-eu-online-rights.

(2)  McKinsey Global Institute: "Internet matters, the net's sweeping impact on growth, jobs and prosperity", Mai 2011.

(3)  Berichterst. Pablo Arias Echeverría, 2012/2030 (INI), 11.12.2012.

(4)  Berichterst. António Fernando Correia de Campos, 2010/2278 (INI), 6.4.2011.

(5)  "Oberbegriff für alle organisatorischen, methodischen und personellen Maßnahmen und Konzepte im Bereich Organisation und Datenverarbeitung eines Unternehmens" (Gabler Wirtschaftslexikon).

(6)  In der Digitalen Agenda sind die drei wesentlichen Breitbandziele bereits festgeschrieben: Bis 2013 sollen alle EU-Bürger einen Basisbreitbandzugang mit 2Mbit/s haben, und bis 2020 soll allen Europäern ein Anschluss von mindestens 30 MBit/s und der Hälfte aller Haushalte Leitungen mit 100 MBit/s zur Verfügung stehen.

(7)  Siehe Fußnote 2.

(8)  Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Universaldienst im Bereich der elektronischen Kommunikation: Bericht über die Ergebnisse der öffentlichen Konsultation und die dritte regelmäßige Überprüfung des Umfangs des Universaldienstes in elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten gemäß Artikel 15 der Richtlinie 2002/22/EG (COM(2011) 795 final vom 23.11.2011).

(9)  Entschließung P5_TA(2011)0306.

(10)  Hardware ist ein Desktop PC, ein Laptop, ein Netbook, ein Smartphone, ein Tablet-PC oder ein anderes elektronisches Gerät mit Internetzugang.

(11)  Software: Dazu gehören vor allem ein Webbrowser und eine Anwendung für die Erstellung von Dokumenten.

(12)  ABl. C 24 vom 28.01.2012, S. 139.

(13)  Telefonieren über Computernetzwerke mittels des Internet-Protokolls (IP).

(14)  Das ist das Ergebnis einer Erhebung, die GEREK über einen Zeitraum von mehreren Monaten bei 250 Festnetzbetreibern und 150 Mobilfunkbetreibern in ganz Europa durchführte.

(15)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9.

(16)  DAE-Aktion 62.

(17)  DAE-Aktion 66.

(18)  Entwicklung eines Online-Werkzeugs zur Verbraucherinformation über neue Medientechnologien.

(19)  Das elektronische Lernen in nationalen Maßnahmen zur Modernisierung des Bildungssystems zum Leitthema machen.

(20)  DAE-Aktion 79: Vorschlag eines tragfähigen Finanzierungsmodells für die öffentliche EU-Online-Bibliothek Europeana.

(21)  Solange es keine Regulierung gibt, könnten die Inhalteanbieter nach dem Vorbild zahlreicher anderer Sektoren einen Verhaltenskodex festlegen (mehr dazu unter http://www.eesc.europa.eu/?i=portal.en.self-and-co-regulation-enter-the-database).

(22)  Siehe Fußnote 1.

(23)  ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 49.


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/14


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Missbrauch des Status der Selbstständigkeit“ (Initiativstellungnahme)

2013/C 161/03

Berichterstatter: Martin SIECKER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. Januar 2012 gemäß Artikel 29 Absatz 2, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Missbrauch des Status der Selbstständigkeit

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 7. März 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 21. März) mit 157 gegen 17 Stimmen bei 35 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Noch gibt es keine eindeutige Definition, mit der EU-weit zwischen redlichen Selbstständigen, die auf eigene Rechnung arbeiten, und Scheinselbstständigen unterschieden wird. Jede einzelne zuständige Behörde legt einen eigenen Rechtsrahmen bzw. Rechtsvorschriften zugrunde, die je nach den Zuständigkeiten in dem jeweiligen Bereich (Steuerrecht, soziale Sicherheit, Unternehmensrecht, Arbeitsmarkt, Versicherungen) unterschiedlich sein können. Die auftretenden Fälle von Missbrauch reichen von der Hinterziehung von Sozialabgaben über Steuerhinterziehung und arbeitsrechtlichen Missbrauch bis hin zu illegaler Arbeit. Dies führt zu einer ernsthaften Wettbewerbsverzerrung für echte Selbstständige, Mikrounternehmen und KMU.

1.2

Die Europäische Kommission stellte 2006 in ihrem Grünbuch Ein moderneres Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts die Frage, ob bei den in den Mitgliedstaaten geltenden juristischen Definitionen von Beschäftigung und Selbstständigkeit größere Klarheit erforderlich ist, um "bona-fide"-Übergänge zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit und umgekehrt zu erleichtern. In der im Nachgang zum Grünbuch durchgeführten Konsultation wurde anerkannt, dass das Fehlen einer EU-weiten Definition insbesondere bei grenzüberschreitender Arbeit (bzw. bei der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen) Probleme hervorrufen kann.

1.3

Die Empfehlung der ILO aus dem Jahr 2006 enthält einen weit gefassten Ansatz für den Begriff "Beschäftigungsverhältnis", um gegen Scheinselbstständigkeit vorgehen zu können. Für die Feststellung, ob es sich um ein Beschäftigungsverhältnis handelt, müssen zunächst die Umstände der Tätigkeit und der Entlohnung des Arbeitnehmers betrachtet werden, und zwar ungeachtet dessen, wie das Verhältnis z.B. in vertraglichen Bestimmungen beschrieben wird. Ein verschleiertes Beschäftigungsverhältnis liegt vor, wenn der Arbeitgeber einen Beschäftigten auf eine Weise behandelt, die den wahren Rechtsstatus als Arbeitnehmer verschleiert, und wenn eine Situation entstehen kann, in der Arbeitnehmern durch vertragliche Bestimmungen der Schutz, auf den sie Anspruch haben, genommen wird.

1.4

Mehrere Mitgliedstaaten haben bereits Versuche unternommen, um auf der Grundlage bestimmter vorab festgelegter Kriterien zu einer schlüssigen Definition für die genaue Abgrenzung zwischen Selbstständigen und Arbeitnehmern zu gelangen. Wegen der Vielschichtigkeit der verschiedenen dabei ins Spiel kommenden konkreten Sachverhalte stoßen sie in der Praxis dann aber immer wieder auf Probleme, wenn es um eine schlüssige Definition und einen entsprechenden Beschluss geht. Der EWSA ist sich dieser Tatsache bewusst und schlägt daher vor, die verschiedenen in den Mitgliedstaaten gesammelten Erfahrungen auszuwerten und anhand dessen bestimmte Schlussfolgerungen zu ziehen und Empfehlungen für einen stärker zielführenden Ansatz vorzutragen.

1.5

Der Position redlicher Selbstständiger und von Mikrounternehmen käme eine gewisse Regulierung und Abgrenzung zur Scheinselbstständigkeit zugute. Die Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit muss durch eine bessere Registrierung und Kontrolle der tatsächlichen Stellung auf dem Arbeitsmarkt verstärkt werden. Wirtschaftliche Abhängigkeit von einem Auftraggeber (häufig der frühere Arbeitgeber) deutet auf ein Fortbestehen eines Beschäftigungsverhältnisses hin.

1.6

Der Auf- und Ausbau eines guten Sozialschutzes für Selbstständige in allen Mitgliedstaaten wird – unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Selbstständigenstatuts – dazu beitragen, dass gegen möglichen Missbrauch vorgegangen bzw. dieser verhindert werden kann.

1.7

Arbeitnehmer, die sich wirklich selbstständig machen, sind ein normaler Bestandteil des Arbeitsmarktes und der Wirtschaft. Daher sollte geprüft werden, wie sie von gemeinsamen Einrichtungen profitieren können, wie etwa durch die Beteiligung an vorhandenen KMU- oder Wirtschaftsverbänden, Kammern und Arbeitsmarktorganisationen und durch die Aufnahme in verschiedene Teile der Sozialversicherungs- und Rentensysteme. Ferner müssen die Vorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz ausnahmslos gelten, der Zugang zu Einrichtungen für die Berufsfachausbildung muss ermöglicht werden.

1.8

Der EWSA unterstreicht den gesellschaftlichen und sozioökonomischen Wert und die Bedeutung des Selbstständigenstatuts. Wichtig ist jedoch auch, dass sich die Bürger auf freiwilliger Basis und in ausreichender Kenntnis der Sachlage für oder gegen den Schritt in die Selbstständigkeit entscheiden können.

1.9

Einige Programme von Mitgliedstaaten zur Förderung von Unternehmertum könnten zu Wettbewerbsverzerrungen für wirklich Selbstständige, Mikrounternehmen und KMU führen. Daher wäre eine Folgenabschätzung für diese Kategorien wichtig. Der EWSA schlägt vor, an die Mitgliedstaaten die Empfehlung zu richten, besonders problematische Bereiche auszumachen und Mindeststundenlöhne festzulegen, die sogar innerhalb der verschiedenen Regionen eines Mitgliedstaats unterschiedlich sein können.

Grundlegend wichtig ist, dass dieser Schritt bei der öffentlichen Beschaffung auf der Ebene der Mitgliedstaaten berücksichtigt wird, um als gutes Beispiel voranzugehen und weiter gegen Ungerechtigkeit vorzugehen.

2.   Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt

2.1

Selbstständigkeit ist ein rechtmäßiger Status auf dem Arbeitsmarkt, und jeder hat das Recht, eine selbstständige Erwerbstätigkeit auszuüben. Der EWSA hat diesen Standpunkt in mehreren Stellungnahmen, in denen er sich mit dem Thema Selbstständigkeit auseinandersetzte, vertreten. Die Selbstständigkeit hat jedoch auch eine Schattenseite, mit der sich der Ausschuss bislang nicht beschäftigt hat. In seiner jüngsten Stellungnahme äußerte er ausdrücklich: "Es wird somit nicht versucht, die Frage der nichtgemeldeten Erwerbstätigkeit (‧Schwarzarbeit‧) oder der sog. ‧Scheinselbstständigen‧ zu behandeln, auch wenn beide Phänomene gelegentlich in einem augenscheinlichen oder tatsächlichen Zusammenhang mit den wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen stehen" (1). In der vorliegenden Stellungnahme sollen diese Themen nun endgültig angegangen werden.

2.2

In den vergangenen Jahrzehnten waren neben dem "klassischen" Typus des Selbstständigen und des Kleinunternehmers große Verschiebungen bei der Zusammensetzung der Gruppe der Selbstständigen zu beobachten. Im heutigen Kontext hat sich herausgestellt, dass überprüft werden sollte, ob die geltenden Rahmenbedingungen den Selbstständigen ausreichenden Schutz bieten. Der EWSA verweist auf seine frühere Stellungnahme (2), in der er Folgendes empfahl:

eine Erhebung von Daten zur sogenannten "wirtschaftlich abhängigen selbstständigen Erwerbstätigkeit" in der EU;

Ermittlung von Aspekten, die sich in der Definition von Beschäftigten in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten decken;

die Förderung von Untersuchungen, die eine genaue Analyse der nationalen Erfahrungen insbesondere in grenzüberschreitenden Gebieten ermöglichen.

2.3

Das Konzept der Selbstständigkeit wird in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich definiert. In einigen Ländern (Niederlande) ist selbstständig, wer auf eigene Rechnung arbeitet, meist als Subunternehmer einer anderen Firma. In anderen Mitgliedstaaten (Frankreich) ist der Status der Selbstständigkeit einem Unternehmer vorbehalten, der nicht selbst Angestellter seiner Firma ist, aber sehr wohl Angestellte haben kann. Selbstständigkeit ist nicht auf die Annahme von Unteraufträgen beschränkt, da auch Verbraucher Auftraggeber sein können. Unterschiedliche Definitionen von Beschäftigung und Selbstständigkeit haben nicht nur für das Arbeitsrecht, sondern auch für die Sozialgesetzgebung und das Steuerrecht große Bedeutung.

2.4

Die Entwicklung des Binnenmarkts und die hiermit verbundene Einführung der Freizügigkeit und des freien Warenverkehrs haben zu der in Ziffer 2.2 beschriebenen Entwicklung beigetragen und dazu geführt, dass die Selbstständigkeit in den anfälligsten Teilen unserer Arbeitsmärkte eingesetzt wird. Zahlreiche Arbeitskräfte werden heute (über alle möglichen Arten von Agenturen) nicht als Arbeitnehmer, sondern als "selbstständige Dienstleistungserbringer" beschäftigt. Die beschäftigte Person erhält keinen Arbeitsvertrag, da sie im Rahmen ihrer selbstständigen Tätigkeit eine spezielle Dienstleistung auf eigene Rechnung erbringt. Eine billige Arbeitskraft kann "auf Rechnung" eingesetzt werden, ohne dass die nationalen Arbeitsnormen eingehalten werden müssten (3). Die Frage, ob es sich bei dieser neuen Form des Status der Selbstständigkeit um echte Selbstständigkeit handelt oder nicht, ist berechtigt.

2.5

Vor allem im grenzüberschreitenden Kontext zeichnen sich viele problematische Beschäftigungsverhältnisse ab (4). Diese Verhältnisse weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit einem traditionellen Tagelöhnerverhältnis auf – einer Form der Arbeit mit "Gangmastern" ("Arbeitsvermittlern"), die eigentlich der Vergangenheit anzugehören schien (5). Auf diese Weise ist es in einigen Ländern möglich, von jetzt auf gleich als Selbstständiger auf eigene Rechnung eine Tätigkeit auszuüben, für die von Menschen mit einer Festanstellung normalerweise eine mehrjährige Berufsausbildung gefordert wird. Spezialisierte Arbeitsvermittler und Vermittlungsagenturen für Lohnarbeiten sind entstanden, die Dienste von Selbstständigen anbieten. So können Unternehmen leicht auf Verträge umstellen, durch die Selbstständige die Tätigkeiten ausüben, die zuvor von angestellten Arbeitnehmern ausgeübt wurden. Es werden zuverlässigere Nachweise gebraucht, um die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer und die kritischsten Grenzen zu bestimmen, daher sollte stärker fachlich geforscht werden.

2.6

Neben privaten Auftraggebern setzen zunehmend auch größere Unternehmen und der öffentliche Sektor regelmäßig Selbstständige ein. Von den Unternehmen, die mit Selbstständigen arbeiten, nennt ein Viertel das Wissen und die Erfahrung als wichtigsten Grund für die Beschäftigung. Die Selbstständigen werden eingesetzt, um Spitzen im Produktionsprozess und einen Mangel an Fachkräften auszugleichen. Ein weiterer wichtiger Grund für die Arbeitgeber ist Flexibilität bei der Personalpolitik.

2.7

Wenn es sich hierbei um Selbstständige handelt, die aus eigenem Antrieb auf eigene Rechnung ein Unternehmen führen, spricht nichts dagegen. Wenn diese Umstellung jedoch nicht auf einer wirklich freien Entscheidung für die Selbstständigkeit basiert, werden de facto soziale Risiken vom Unternehmen auf den einzelnen Erwerbstätigen übertragen. Die hierbei auftretenden Fälle von Missbrauch reichen von der Hinterziehung von Sozialabgaben über Steuerhinterziehung und arbeitsrechtlichen Missbrauch bis hin zu illegaler Arbeit (6). Dies führt zu einer ernsthaften Wettbewerbsverzerrung für echte Selbstständige, Mikrounternehmen und KMU. Außerdem könnten einige Programme von Mitgliedstaaten zur Förderung von Unternehmertum (der Fall des "auto-entrepreneur" in Frankreich) zu Wettbewerbsverzerrungen zwischen wirklich Selbstständigen und dieser neuen Kategorie von Selbstständigen führen.

2.7.1

Der EWSA schlägt vor, an die Mitgliedstaaten die Empfehlung zu richten, besonders problematische Bereiche auszumachen und Mindeststundenlöhne festzulegen, die sogar innerhalb der verschiedenen Regionen eines Mitgliedstaats unterschiedlich sein können.

Grundlegend wichtig ist, dass dieser Schritt bei der öffentlichen Beschaffung auf der Ebene der Mitgliedstaaten berücksichtigt wird, um als gutes Beispiel voranzugehen und weiter gegen Ungerechtigkeit vorzugehen.

2.8

Der Anteil der Selbstständigen ist in den 1980er Jahren EU-weit angestiegen, während in den 1990er Jahren wieder ein leichter Rückgang zu verzeichnen war. In den jüngsten Jahrzehnten präsentiert sich die Lage in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich. In einigen Ländern steigt die Selbstständigkeit wieder, in anderen Ländern bleibt der Anteil stabil, bzw. ist eine leicht rückläufige Tendenz zu beobachten (OECD-Beschäftigungsausblick 2005 und "Die OECD in Zahlen und Fakten 2006"). Seit dem Beginn der Finanzkrise ist der Anteil der Selbstständigen insgesamt nicht gestiegen. Manche Selbstständige sind mittlerweile Teil der "flexiblen" Rahmenbedingungen des Arbeitsmarkts geworden: Beschäftigungsverhältnisse ohne große Stabilität, die bei einem Konjunkturrückgang schnell aufgelöst werden können, um dann bei zaghaften Aussichten auf Wachstum wieder reaktiviert zu werden.

2.9

Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und die Einhaltung von Umweltschutznormen haben bei Selbstständigen einen niedrigeren Stellenwert als bei abhängig Beschäftigten. Eine Möglichkeit der Abhilfe wäre die Einrichtung von Dienstleistungszentren für Selbstständige, die für Letztere diese Aufgaben und Leistungen übernehmen würden.

3.   Definition der Selbstständigkeit

3.1

Der Begriff der Selbstständigen ist in Rechtsvorschriften oder Gesetzen nicht einheitlich geregelt (7). Gelegentlich wird der Begriff für freiberuflich Tätige, gelegentlich für alle Selbstständigen verwendet, die selbstständig erwerbstätig sind. Der Status impliziert, dass sie keinen Arbeitsvertrag haben, sondern auf der Grundlage eines Werkvertrags Dienstleistungen für Kunden oder Auftraggeber erbringen.

3.2

Die Gruppe der Selbstständigen wird oft anhand von zwei Extremen unterteilt (Europäische Stiftung, 1996). An einem Ende befinden sich die hochqualifizierten Fachkräfte mit Erfahrung, die ihren Marktwert gut kennen, wissen, was sie wert sind und auf eigene Rechnung tätig sein möchten. Meistens handelt es sich bei dieser ersten Gruppe um ältere, gut bezahlte Kräfte, die ihre Arbeit selbst planen und organisieren. Am anderen Ende befinden sich Menschen, bei denen mit dem Status der Selbstständigkeit nur das eine Ziel verfolgt wird, die administrative und finanzielle Belastung für den Auftraggeber zu verringern. Menschen in dieser Lage sind Scheinselbstständige, denen wenig bzw. keine Wahl bleibt: sie sind wirtschaftlich vollkommen von ihrem Auftraggeber abhängig. Aus der Fachliteratur geht hervor, dass diese Situation häufig auf zwei der fünf Kategorien der Selbstständigen zutrifft, die in einer jüngeren Studie definiert wurden (8).

3.3

Aus rechtlicher Sicht ist die Ausgangslage für Selbstständige nicht immer gleich gut wie für Arbeitnehmer. Eine 2010 vom EIM im Auftrag des niederländischen Sozial- und Arbeitsministeriums durchgeführte Untersuchung zeigt, wie Selbstständige mit Risiken umgehen. Sie haben keinen Anspruch auf Leistungen aus kollektiven Arbeitnehmerversicherungen und müssen sich daher gegen Risiken selbst versichern, was in vielen Fällen jedoch nicht geschieht. Sie verfügen zwar relativ oft über eine Haftpflichtversicherung (72 %), eine Krankenversicherung (20 %) oder Arbeitsunfähigkeitsversicherung (36 %) hat jedoch ein weitaus geringerer Anteil. Nur ca. jeder zweite Selbstständige baut Rücklagen für die Altersversorgung auf. Im Ergebnis laufen sie Gefahr, im Ruhestand in Armut zu geraten. In der Landwirtschaft bzw. im Baugewerbe sind sie häufiger gegen Risiken versichert, im Baugewerbe und bei Unternehmensdienstleistungen ist häufiger eine Rentenversicherung gegeben. Der EWSA empfiehlt, dass die Selbstständigen gleich bei der Antragstellung für die Zuerkennung des Status der Selbstständigkeit über die Folgen geringer Beiträge zur Sozial- und Krankenversicherung sowie über die weiteren Bedingungen und Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Aufnahme einer unternehmerischen Tätigkeit ordnungsgemäß informiert werden sollten.

4.   Spannungen und Missbrauch des Status

4.1

Ob es sich um ein Beschäftigungsverhältnis handelt und welche Rechte und welcher Schutz mit diesem Status verbunden sind, ist als Frage in den letzten Jahren in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten erneut ins Zentrum des Interesses gerückt. Begründet ist dies durch bedeutende Veränderungen bei der Funktionsweise von Unternehmen (mit zunehmendem Outsourcing und mehr Ausschreibungen), während die Forderung nach Flexibilisierung und einem Abbau administrativer Lasten beim Gesetzgeber auf sehr offene Ohren gestoßen ist, was zu Deregulierung und einer Politik geführt hat, die auf die Abschaffung der "traditionellen" Formen der Beschäftigungssicherheit ausgerichtet ist.

4.2

Aus rechtlicher Sicht haben sich mehrere Mitgliedstaaten um eine Abgrenzung bemüht, indem die Definition eines Beschäftigungsverhältnisses anhand verschiedener Kriterien weiterentwickelt wurde. Es handelt sich hierbei um ein Verhältnis, das durch die Verrichtung einer bezahlten Tätigkeit im Tausch gegen ein Entgelt gekennzeichnet ist, wobei der (mögliche) Ertrag dieser bezahlten Arbeit an den Auftraggeber geht. Wichtige Indikatoren sind diesbezüglich das Faktum, dass die Arbeit im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses von einer anderen Partei durchgeführt wird und die Verfügbarkeit des Arbeitnehmers erfordert. Jedoch auch, dass das Entgelt das alleinige oder zumindest wichtigste Einkommen des Arbeitnehmers ist sowie das Fehlen eines wirtschaftlichen Risikos für den Arbeitnehmer.

4.3

Der EWSA beschränkt sich darauf, den Mitgliedstaaten eine Orientierungshilfe an die Hand zu geben und auf bewährte Verfahren hinzuweisen. Ein solches gutes Beispiel ist das maltesische Modell, das sich als äußerst erfolgreich erwiesen hat.

Bei der Prüfung, ob bei einer Person, die nach außen hin selbstständig und dem ersten Anschein nach nicht als abhängig beschäftigt zu betrachten ist, ein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, ist davon auszugehen, dass ein Beschäftigungsverhältnis vorliegt und dass die Person, für die die Dienstleistung erbracht wird, der Arbeitgeber ist, wenn mindestens fünf der folgenden Kriterien auf die Person, die die Arbeit durchführt, zutreffen:

(a)

Abhängigkeit von einer einzigen Person, für die die Dienstleistung erbracht wird und die während des Zeitraums von einem Jahr für 75 % des Einkommens sorgt;

(b)

Abhängigkeit von der Person, für die die Dienstleistung erbracht wird, in Bezug auf die Festlegung, den Zeitpunkt und die Art der durchzuführenden Arbeit;

(c)

Ausführung der Arbeit mit den Geräten, Werkzeugen oder Materialien, die von der Person bereitgestellt werden, für die die Dienstleistung erbracht wird;

(d)

die Person, für die die Dienstleistung erbracht wird, legt die (Mindest-)Arbeitszeiten fest;

(e)

keine Möglichkeit, die Arbeit an andere zu vergeben oder sie von einem Vertreter ausführen zu lassen;

(f)

Eingliederung in die Abläufe des Produktionsprozesses, die Arbeitsorganisation oder die Hierarchie des Unternehmens oder einer anderen Organisation;

(g)

die Tätigkeit der Person ist ein wesentliches Element innerhalb der Organisation und für das Verfolgen der Ziele der Person, für die die Dienstleistung erbracht wird;

(h)

es werden Tätigkeiten ausgeführt, die mit der Tätigkeit von vorhandenen abhängig Beschäftigten vergleichbar sind – bzw. wird im Falle von Outsourcing eine Aufgabe ausgeführt, die zuvor von abhängig Beschäftigten ausgeführt wurde.

4.4

Die Definitionen unterscheiden sich nicht nur von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat (9), sondern auch im EU-Recht. Diese Unklarheit bereitet in Fällen mit grenzüberschreitendem Charakter große Probleme. Die mangelnde Abstimmung des nationalen auf den europäischen Rechtsrahmen bezüglich der Unterscheidung zwischen der Annahme von Arbeit und der Erbringung von Dienstleistungen macht den Begriff "Selbstständige" insbesondere im grenzüberschreitenden Kontext zu einem problematischen Thema.

4.5

Aus internationaler Sicht wird die Feststellung, ob es sich um ein Beschäftigungsverhältnis handelt, immer schwieriger. Dies ist der Fall, wenn die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien nicht klar und deutlich festgelegt sind oder wenn durch Flexibilisierung und Deregulierung die Kontrolle der Vermutung eines Beschäftigungsverhältnisses erschwert wird. Aber auch wenn der Gesetzgeber diverse Zwischenformen schafft oder wenn dieser die Möglichkeit, von einem Tag auf den anderen als Selbstständiger tätig zu werden, einfach als eine der neuen Arten unternehmerischer Tätigkeit ansieht.

4.6

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) warnte bereits in einem frühen Stadium vor einem möglichen Missbrauch der Selbstständigkeit, der die Umgehung von Arbeitnehmerrechten und des rechtlichen Schutzes zur Folge haben kann, die normalerweise mit einem Beschäftigungsverhältnis verbunden sind. Die ILO spricht von möglichem Missbrauch durch eine Kombination von Faktoren: die Gesetzeslage ist entweder zu eingeschränkt oder wird zu eingeschränkt ausgelegt, die Rechtsvorschriften sind so formuliert, dass ihre Reichweite und Wirkung minimal sind, es handelt sich zwar um ein Beschäftigungsverhältnis, aber es ist nicht klar, wer der Arbeitgeber ist, Formen von Scheinselbstständigkeit wird nicht nachgegangen, und es herrscht allgemein ein Mangel an Kontrolle bezüglich der Einhaltung von Vorschriften.

4.7

In der Internationalen Klassifikation des Beschäftigtenstatus (International Classification of Status in Employment) wird die selbstständige Erwerbstätigkeit als eine Tätigkeit definiert, bei der die Entlohnung direkt abhängig von dem Gewinn ist, der mit der Erbringung von Dienstleistungen bzw. der Herstellung von Gütern erzielt wird. Dabei wird historisch gesehen zwischen drei großen Gruppen von Selbstständigen unterschieden: Mikrounternehmen, kleine Unternehmen und freiberuflich Tätige. Auf der Internationalen Arbeitskonferenz im Juni 2006 wurde eine Empfehlung betreffend das Beschäftigungsverhältnis verabschiedet (Empfehlung (Nr. 198)) (10). Das wesentliche Ziel dieser Empfehlung ist eine Verbesserung der nationalen Politik zum Schutz der Rechte von Arbeitnehmern, die sich in einem Beschäftigungsverhältnis befinden (Artikel 1 Absatz 4).

4.8

Zugleich hat sich die ILO im Zeitraum 2005-2007 mit der weiteren Ausarbeitung der verwendeten Begriffe beschäftigt. Neben der genannten Empfehlung wurden mehrere Dokumente erstellt, die u.a. einen Überblick über die bestehenden nationalen Rechtsvorschriften enthalten. Aus diesen Übersichten geht deutlich hervor, dass die Notwendigkeit eindeutigerer Definitionen immer dringlicher wird, um endlich eine Unterscheidung treffen zu können zwischen legitimen Formen der Selbstständigkeit und betrügerischen Praktiken, die nur der Umgehung von arbeitsrechtlichen Vorschriften und anderen rechtlichen Bestimmungen dienen.

4.9

Der EWSA empfiehlt, die Lösung des spezifischen Problems der Selbstständigkeit zum Gegenstand der Verhandlungen im sozialen Dialog zu machen – sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene – und so die Teilnahme der Verbände zu ermöglichen, die die Interessen der Selbstständigen im sozialen Dialog vertreten.

Brüssel, den 21. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 44.

(2)  Ebda.

(3)  Eine jüngere Veröffentlichung belegt, dass der Status der Selbstständigkeit auch genutzt wird, um die Beschränkungen auf dem Arbeitsmarkt im Zuge der Erweiterung zu umgehen. Béla Galgóczi zufolge ist "eines der kontroversesten Themen in der Debatte über die Arbeitsmobilität in der EU vor allem im Kontext der Übergangsmaßnahmen, die von einigen Mitgliedstaaten verhängt wurden, der mögliche Ersatz von Beschäftigten durch Selbstständige, indem die Dienstleistungsfreiheit genutzt wird, um Beschränkungen zu umgehen, die als Übergangsmaßnahme über die nichtselbstständige Beschäftigung verhängt wurden". (S. 23). Auf aggregierter Ebene ist kein übermäßiger Rückgriff auf die (Schein-)Selbstständigkeit zu verzeichnen, jedoch wird in Ländern, für die Beschränkungen durch Übergangsmaßnahmen gelten, "deutlich eine Anpassungsstrategie angewandt" (S. 25). Der Anteil der Selbstständigen aus EU-2-Ländern ist seit 2008 angestiegen und wies 2011 große Unterschiede in Deutschland, Belgien und Österreich im Vergleich zu Selbstständigen aus EU-Mitgliedstaaten und EU-8-Ländern auf. Zwar gelten im Vereinigten Königreich noch Beschränkungen für rumänische Arbeitnehmer, aber ein hoher Prozentsatz gelangt mit dem Status der Selbstständigkeit auf die Britischen Inseln (ca. 45 %). Arbeitnehmer aus den EU-8-Ländern benötigen im Durchschnitt keine Genehmigung mehr, der prozentuale Anteil an Selbstständigen unter ihnen ist auf den britischen Durchschnitt zurückgegangen. Belege für diese Umgehung lassen sich in Italien finden, wo es keine Einschränkungen im Pflegebereich und im Bausektor für E-2-Arbeitsmigranten gibt, die hauptsächlich aus Rumänien stammen und vor allem in diesen Sektoren arbeiten: Im Durchschnitt ist der Anteil der Selbstständigkeit bei ihnen geringer als bei Italienern bzw. anderen Migranten aus der EU und aus Nicht-EU-Ländern (EU Labour Migration in Troubled Times - Skills Mismatch, Return and Policy Responses von Béla Galgóczi, Janine Leschke, Andrew Watt (Hrsg.), Ashgate, 2012).

(4)  Im Supiot-Bericht wurde bereits 1999 festgestellt, dass diese "neue" Selbstständigkeit in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten vorkam, und diese Entwicklung aus zwei Gründen als problematisch eingestuft: Erstens kann die Selbstständigkeit als Mittel zur Umgehung der Pflichten des Arbeitgebers eingesetzt werden und zweitens entscheiden sich jüngere und gut ausgebildete Arbeitskräfte mit der Selbstständigkeit dafür, sich aus der Solidarität der Systeme der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer auszuklinken. Gleichzeitig hat diese "neue" Selbstständigkeit aber auch eine positive Seite. Die Selbstständigkeit kann den Fähigkeiten wirklich selbstständiger und im Allgemeinen hochqualifizierter Arbeitskräfte mehr Raum geben und somit zu einer Steigerung der Qualität der Arbeit und Innovation bei der Arbeitsorganisation beitragen. Bezeichnungen wie "Scheinselbstständigkeit" oder "abhängige Selbstständigkeit" werden verwendet, um die dunkle Seite dieser Form der Selbstständigkeit hervorzuheben. Die Bezeichnung "Scheinselbstständigkeit" soll darauf hinweisen, dass es sich in diesem Falle kaum um echte Selbstständigkeit handelt, "abhängige Selbstständigkeit" soll zeigen, dass bei dieser so genannten Selbstständigkeit nicht von Unabhängigkeit die Rede sein kann, weder im wirtschaftlichen Sinne noch in Bezug auf die Möglichkeit, Einfluss auf die Beschäftigungsbedingungen auszuüben (M. Westerveld, http://www.uva-aias.net/news_agenda/agenda/522).

(5)  In Frankreich wird diese archaische Form als "marchandage de main-d'œuvre" bezeichnet. Die ersten Rechtsakte für das Verbot dieser Art von Arbeitsvermittlung wurden in Frankreich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts aufgestellt.

(6)  Die Europäische Kommission beschreibt einige Arten von Missbrauch: "In Frankreich wurde der neue Rechtsstatus eines "auto-entrepreneur" von einigen Arbeitgebern missbraucht, so dass sie weniger Steuern für Beschäftigte zahlen müssen, die dazu gezwungen werden, den neuen Rechtsstatus zu akzeptieren. In verschiedenen Mitgliedstaaten, darunter die Niederlande und Belgien, gibt es Fälle von Scheinselbstständigkeit, die sich auf vermeintlich Selbstständige beziehen, deren Rechtsstatus (selbstständig oder angestellt) unklar ist. Theoretisch sind sie selbstständig (der Arbeitgeber zahlt nur eine Pauschale, über die der Arbeitnehmer seine Versicherung und andere Ausgaben selbst finanzieren muss), praktisch besteht jedoch kein Unterschied zwischen ihnen und jedem anderen Beschäftigten, der dieselbe Arbeit verrichtet (Europäische Kommission, European Employment Observatory Review, Self-employment in Europe 2010, S. 29).

(7)  Die Kommission (ebda., S. 6) weist darauf hin, dass es in den einzelnen Ländern verschiedene Auffassungen und Definitionen des Begriffs der Selbstständigkeit gibt, für die auch einige Unterkategorien festgelegt wurden: z.B. je nach der Rechtsform des Unternehmens, dem Vorhandensein von Angestellten (Arbeitgeber im Vergleich zu selbstständig Erwerbstätigen) und/oder dem Sektor, in dem das Unternehmen tätig ist (z.B. Landwirtschaft). Einige Länder unterscheiden auch zwischen dem Rechtsstatus der Selbstständigkeit und der "abhängigen Selbstständigkeit" (z.B. Spanien, Italien), bei der der selbstständig Erwerbstätige für einen einzigen Auftraggeber arbeitet. Andere verstehen Selbstständigkeit auch als Tätigkeit, die neben einer Erwerbstätigkeit ausgeübt wird (z.B. Belgien).

(8)  "Self-employed workers: industrial relations and working conditions". EIRO, 2009.

(9)  Aus rechtlicher Sicht wurden mehrere Kriterien in den EU-Mitgliedstaaten für die Definition eines Beschäftigungsverhältnisses aufgestellt: Abhängigkeit von einem Entleihunternehmen; Befolgung von Befehlen und Anweisungen bei der Ausübung der Tätigkeit; Einbindung in ein (kollektives) Planungs-, Ausführungs- und Kontrollschema, das von anderen aufgestellt wurde; wirtschaftlich und sozial ist der Beschäftigte von der Arbeit abhängig, die er für ein und in einem Unternehmen leistet, das einem anderen gehört; finanzielle Abhängigkeit von einem einzigen Arbeitgeber (http://www.clr-news.org/CLR-News/CLR%20News %202-2007%20ISSN.pdf, S. 35).

(10)  Die Empfehlung wurde mit 71 % der abgegebenen Stimmen angenommen. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Delegation der Arbeitgeber an der Vorbereitung der Erklärung mitgewirkt hatte, letztlich aber beschloss, sich der Stimme zu enthalten.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen (Artikel 54 Absatz 3 der Geschäftsordnung):

Ziffer 1.3

Ändern:

Die Empfehlung der ILO aus dem Jahr 2006 enthält einen weit gefassten Ansatz für den Begriff "Beschäftigungsverhältnis", um gegen Scheinselbstständigkeit vorgehen zu können. Für die Feststellung, ob es sich um ein Beschäftigungsverhältnis handelt, müssen zunächst die Umstände der Tätigkeit und der Entlohnung des Arbeitnehmers betrachtet werden, und zwar ungeachtet dessen, wie das Verhältnis z.B. in vertraglichen Bestimmungen beschrieben wird. Ein verschleiertes Beschäftigungsverhältnis liegt vor, wenn der Arbeitgeber einen Beschäftigten auf eine Weise behandelt, die den wahren Rechtsstatus als Arbeitnehmer verschleiert, und wenn eine Situation entstehen kann, in der Arbeitnehmern durch vertragliche Bestimmungen der Schutz, auf den sie Anspruch haben, genommen wird. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Empfehlungen der ILO an die nationalen Regierungen gerichtet sind und nicht and die EU.

und Ziffer 4.6

Ändern:

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) warnte die nationalen Regierungen bereits in einem frühen Stadium vor einem möglichen Missbrauch der Selbstständigkeit, der die Umgehung von Arbeitnehmerrechten und des rechtlichen Schutzes zur Folge haben kann, die normalerweise mit einem Beschäftigungsverhältnis verbunden sind. Die ILO spricht von möglichem Missbrauch durch eine Kombination von Faktoren: die Gesetzeslage ist entweder zu eingeschränkt oder wird zu eingeschränkt ausgelegt, die Rechtsvorschriften sind so formuliert, dass ihre Reichweite und Wirkung minimal sind, es handelt sich zwar um ein Beschäftigungsverhältnis, aber es ist nicht klar, wer der Arbeitgeber ist, Formen von Scheinselbstständigkeit wird nicht nachgegangen, und es herrscht allgemein ein Mangel an Kontrolle bezüglich der Einhaltung von Vorschriften.

Begründung

Der Berichterstatter stützt seine Argumentation für Maßnahmen auf EU-Ebene zum Teil auf die ILO-Empfehlung (Nr. 198) betreffend das Arbeitsverhältnis aus dem Jahre 2006. Die ILO beschränkt den Geltungsbereich ihrer Empfehlung aber ausdrücklich auf die nationale Politikgestaltung und die nationalen Rechtsvorschriften. Außerdem sei darauf verwiesen, dass diese Empfehlung alles andere als im Konsensweg angenommen wurde (eine bei der ILO gängige Praxis), im Gegenteil: der Vorschlag wurde lediglich von 71 % der abgegebenen Stimmen unterstützt, die Arbeitgebergruppe lehnte ihn geschlossen ab.

Gemäß Artikel 51 Absatz 4 der Geschäftsordnung wurden diese beiden Änderungsanträge zusammen behandelt.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

73

Nein-Stimmen

:

122

Enthaltungen

:

12


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/20


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der Binnenmarkt und staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung“ (Initiativstellungnahme)

2013/C 161/04

Berichterstatter: Edgardo Maria IOZIA

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 12. Juli 2012 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Der Binnenmarkt und staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 7. März 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 21. März) mit 156 gegen 6 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Angesichts des bevorstehenden Wandels des Systems der staatlichen Beihilfen hält es der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) für zweckmäßig, in einer Initiativstellungnahme die staatlichen Beihilfen mit regionaler Zielsetzung aus Sicht der Zivilgesellschaft zu beleuchten und auf ihre Berücksichtigung im Rahmen der Grundprinzipien des Binnenmarkts einzugehen.

1.2

In Zeiten der Krise und einer weitverbreiteten wirtschaftlichen Rezession, die flexibler und mit den Wettbewerbsregeln im Einklang stehender Unterstützungs- und Interventionsmaßnahmen bedarf, kommt diesem überaus wichtigen Thema zentrale Bedeutung zu. In den vergangenen Jahren hat die Kommission vorläufige Interventionsrahmen angenommen, um eine angemessene Unterstützung für Banken und Unternehmen zu ermöglichen.

1.3

Da die staatlichen Beihilfen mit regionaler Zielsetzung speziell für Probleme benachteiligter Regionen Abhilfe schaffen und folglich darauf abzielen, den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union insgesamt zu fördern, sind sie ein wertvolles Instrument, das zur Bewältigung der Krise und zur Ankurbelung der Wirtschaft in den Regionen Europas beitragen kann. Für die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) ist es besonders wichtig, dass diese Instrumente effizient und wirksam sind: Der Zugang zu diesem spezifischen Beihilfesystem sollte durch eine Vereinfachung der Zugangsbedingungen, eine flexiblere Gestaltung des Instruments und angemessene Informationen über die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gefördert werden.

1.4

Der EWSA begrüßt folglich, dass die Kommission im Rahmen des von Kommissionsmitglied Joaquín Almunia eingeleiteten Prozesses der Modernisierung der staatlichen Beihilfen (1) auch dieses Regelungspaket aktualisieren und modernisieren will, mit dem öffentliche Interventionen in Maßnahmen zur Förderung von Unternehmen in benachteiligten Gebieten gelenkt werden sollen. Der EWSA hält es für erforderlich, dass bei dieser Modernisierung auf Kohärenz zwischen Regional- und Wettbewerbspolitik geachtet und der Subsidiarität Rechnung getragen wird.

1.5

Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission folglich, Unionspolitiken und Wettbewerbspolitik stärker aufeinander abzustimmen, damit die Wettbewerbspolitik das Erreichen der Ziele von gemeinsamem europäischem Interesse (z.B. einheitliche und integrierte Entwicklung der Regionen Europas) nicht behindert, sondern vielmehr die Chance bietet, die regionalen Wirtschaftsräume des Binnenmarkts nach der Krise anzukurbeln.

1.6

Am 14. Januar 2013 hat die Kommission eine öffentliche Anhörung zum Entwurf der Leitlinien für Regionalbeihilfen 2014-2020 (2) eingeleitet: Das Dokument entspricht in seinem Ansatz weitgehend dem informellen Dokument, das den Mitgliedstaaten bereits im Dezember 2011 übermittelt wurde. Es war bereits Gegenstand einer ersten multilateralen Sitzung, in der die Europäische Kommission angedeutet hat, dass sie für einige Vorschläge der Mitgliedstaaten, z.B. bezüglich einem prozentualen Höchstsatz der förderfähigen Bevölkerung auf europäischer Ebene, offen sei. In diesem Zusammenhang vermittelt der EWSA der Kommission in dieser strategisch wichtigen Stellungnahme seinen Standpunkt.

1.7

In diesem Zusammenhang spricht sich der EWSA dafür aus, dass den Mitgliedstaaten mit den neuen Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung ein flexibles Instrument für horizontale Maßnahmen zur Erreichung der Ziele der Europa-2020-Strategie an die Hand gegeben wird. Erfolgen soll dies durch die Nutzung regionaler Spitzenleistungen, unabhängig vom Wirtschaftssektor bzw. von der Größe der Unternehmen, die an Investitionsvorhaben zur Förderung der Entwicklung benachteiligter Regionen beteiligt sind.

1.8

Das jetzige System ist seit über 40 Jahren im Wesentlichen unverändert geblieben. Es ist unangemessen und starr und beruht auf einer geografischen Untergliederung des Territoriums der Union. Wenn die jetzige Methode in dem neuen wirtschaftlichen und sozialen Umfeld der Union weiterhin angewandt wird, könnte sie die Entwicklung des Binnenmarktes konterkarieren.

1.9

Der EWSA empfiehlt der Kommission, auf flexiblere Bezugsparameter zurückzugreifen, die einem sich stark wandelnden wirtschaftlichen Umfeld besser gerecht werden. Dabei sollten die Zielregionen für den Mitteleinsatz auf der Grundlage von Prioritäten, Anforderungen, der territorialen Verteilung der wirtschaftlichen Ineffizienzen und sozialen Ausgrenzungsfallen und dem institutionellen Kontext bestimmt werden – unabhängig von den Verwaltungsgrenzen.

1.10

Der EWSA betont deshalb, dass es notwendig ist, das Instrument der staatlichen Beihilfen mit regionaler Zielsetzung im Rahmen des umfassenden Modernisierungsprozesses an die Dynamik und das Tempo der Wirtschaftsentwicklung nach der Krise anzupassen, die eine größere Flexibilität bei der Ermittlung der regionalen Nachteile verlangen. Die Bestimmung der benachteiligten Regionen anhand einer geografischen Karte, die für die gesamte Programmlaufzeit (7 Jahre) starr festgelegt ist, ist nicht länger angemessen.

1.11

Der EWSA spricht sich dafür aus, die benachteiligten Regionen im Sinne von Art. 107 Abs. 3 Buchstabe c) nicht einfach nur dadurch zu ermitteln, dass die nach Maßgabe von Art. 107 Abs. 3 Buchstabe a) geförderten Regionen von der geförderten Gesamtbevölkerung (ausgedrückt als Prozentsatz der europäischen Bevölkerung) abgezogen werden, was jeder Grundlage entbehrt. Vielmehr sollten die Mitgliedstaaten für die Feststellung der regionalen Nachteile über eine umfassende Palette an Parametern verfügen können.

1.12

Nach Auffassung des EWSA ist es verfehlt, die großen Unternehmen von der Unterstützung für Investitionsprojekte zur Förderung der regionalen Entwicklung und des Zusammenhalts auszuschließen. Dies birgt nämlich die große Gefahr, das Entwicklungspotenzial zu vergeuden, das sich ausschließlich aus den Synergieeffekten und der horizontalen Integration des gesamten Unternehmensgefüges ergibt, unabhängig von der Größe der Unternehmen.

1.13

Der EWSA ruft die Kommission auf, einen Mechanismus einzuführen, der den potenziellen negativen Auswirkungen der Regionalbeihilfen im Vorfeld Rechnung trägt (z.B. erhebliche Arbeitsplatzverluste in Unternehmen innerhalb der EU), und zwar nicht nur im Rahmen der vergleichenden Bewertung, die die Kommission während des Anmeldeverfahrens durchführt und die derzeit lediglich große Investitionsprojekte betrifft (3), sondern auch im Rahmen der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung.

1.14

Der EWSA betont, dass das Instrument der staatlichen Beihilfen mit regionaler Zielsetzung derart gestaltet sein muss, dass Verdrängungs- und Verlagerungseffekte ausgeschlossen werden, die auf beträchtliche Unterschiede in der Beihilfeintensität zwischen angrenzenden und in geografischer Nähe zueinander liegenden Regionen zurückzuführen sind und den Binnenmarkt durch sogenannte Subventionswettläufe fragmentieren.

1.15

Der EWSA empfiehlt der Kommission,

die beabsichtigte Reduzierung der Beihilfeintensität für große Unternehmen von 40 % auf 30 % und 25 % zu überdenken. Die vorgeschlagene Reduzierung würde die Attraktivität für Auslandsinvestitionen beeinträchtigen;

die Beihilfeintensität nicht auf die Höhe der Mehrkosten zu beschränken, und von einer Verschärfung der Bestimmungen für den Nachweis der Anreizeffekte der Beihilfen durch große Unternehmen abzusehen;

zu gewährleisten, dass die Fähigkeit von Regionen der Kategorie a), Auslandsinvestitionen anzuziehen und neue Arbeitsplätze und Werte zu schaffen, nicht beeinträchtigt wird, und dass diesen Regionen im Vergleich zu anderen Regionen außerhalb Europas, deren Beihilferegelungen oftmals viel großzügiger sind, keine Wettbewerbsnachteile entstehen.

1.16

Gleichzeitig sollte die Kommission in einer gesonderten Schutzklausel festlegen, dass insbesondere die großen Unternehmen, die für die Errichtung einer neuen Betriebsstätte oder den Erwerb von unmittelbar mit einer Betriebsstätte verbundenen Vermögenswerten Beihilfen mit regionaler Zielsetzung erhalten, in den fünf Folgejahren nach der Beihilfegewährung Folgendes sicherstellen müssen:

Erhalt des Beschäftigungsniveaus in den anderen in den Mitgliedstaaten ansässigen Betriebsstätten als jenen, für die das Unternehmen einen Antrag auf Beihilfen mit regionaler Zielsetzung im Sinne von Art. 107 Abs. 3 Buchstabe a) stellt oder

Gewährleistung, dass eine Senkung des Beschäftigungsniveaus in den anderen in den Mitgliedstaaten ansässigen Betriebsstätten als jenen, für die das Unternehmen einen Antrag auf Beihilfen mit regionaler Zielsetzung im Sinne von Art. 107 Abs. 3 Buchstabe a) stellt, aufgrund und gemäß einer einvernehmlichen Einigung mit den Sozialpartnern der regionalen bzw. gegebenenfalls nationalen Ebene der betroffenen Mitgliedstaaten erfolgt.

1.17

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Senkung der Beihilfeintensität stärker schrittweise, längerfristig und ausgewogener zu vollziehen als im Vorschlag vorgesehen. Die Senkung sollte der festzulegenden Reduzierung der Beihilfen entsprechen, die die Regionen im Bereich der Kohäsionspolitik erhalten haben.

1.18

Der EWSA schlägt vor, das Pro-Kopf-BIP (derzeit der einzige Parameter, der die reelle regionale Wirtschaftsentwicklung allerdings nicht widerspiegelt) um weitere Parameter zu ergänzen, so z.B. die Arbeitslosenquote, das Verhältnis zwischen dem Rückgang der Erwerbstätigen und der Gesamtzahl der Erwerbstätigen und andere Parameter, die der reellen Situation besser Rechnung tragen können.

2.   Das veränderte wirtschaftliche Umfeld nach der Krise

2.1

Im Bereich der Wettbewerbspolitik ist die Kontrolle der staatlichen Beihilfen ein notwendiges Instrument, um zu gewährleisten, dass der Binnenmarkt auf den Grundsätzen des freien Handels und der Wettbewerbsfähigkeit fußt und der Notwendigkeit gerecht wird, gleiche Bedingungen für alle Unternehmen zu sichern, die auf dem europäischen Binnenmarkt tätig sind. Gemäß Artikel 107 AEUV dürfen die Mitgliedstaaten deshalb keine staatlichen Beihilfen gewähren, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen, den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, bestimmten Unternehmen ungerechtfertigte selektive Vorteile verschaffen und so dazu führen, dass wettbewerbsfähigere Unternehmen nicht von den Kräften des Markts profitieren, was die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft insgesamt untergräbt.

2.2

Dennoch sieht der Vertrag mögliche Ausnahmen von diesem Verbot vor, wenn die Beihilfen der Erreichung von Zielen von gemeinsamem europäischem Interesse dienen, die durch die Marktkräfte allein nicht erreicht werden können. In den Absätzen 2 und 3 des Artikels 107 werden die wichtigsten Fehlentwicklungen des Marktes sowie die Ausnahmefälle aufgelistet, in denen bestimmte Beihilfen mit dem Binnenmarkt "vereinbar sind" oder "als vereinbar angesehen werden können", auf der Grundlage von Kriterien, die ausschließlich von der Europäischen Kommission vorgegeben werden.

2.3

Gemäß Artikel 107 Absatz 3 Buchstaben a) und c) können Beihilfen zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmter benachteiligter Gebiete innerhalb der Europäischen Union (sogenannte "Beihilfen mit regionaler Zielsetzung") von der Kommission als mit dem gemeinsamen Markt vereinbar angesehen werden. Dabei handelt es sich um Beihilfen, die in erster Linie für große Unternehmen als Investitionsbeihilfen und zur Förderung der Schaffung von Arbeitsplätzen oder unter ganz bestimmten Umständen als Betriebsbeihilfen gewährt werden. Beide Beihilfen sind für spezifische Regionen vorgesehen und dienen zum Ausgleich regionaler Unterschiede, insbesondere durch die Förderung der Ansiedlung neuer Betriebe.

2.4

Da die staatlichen Beihilfen mit regionaler Zielsetzung speziell für Probleme benachteiligter Gebiete Abhilfe schaffen, fördern sie den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union insgesamt: Die Ziele der staatlichen Beihilfen entsprechen jenen der Strukturfonds, die neben den nationalen Haushalten eine der möglichen Finanzierungsquellen für die Umsetzung der regionalen Entwicklungspolitik sind.

2.5

Der EWSA bekräftigt, dass es absolut notwendig ist, das System zur Kontrolle der staatlichen Beihilfen, die die ordnungsgemäße Funktionsweise des Binnenmarktes stark gefährden können, aufrechtzuerhalten und in einigen Fällen auch zu stärken. Es muss jedoch gewährleistet werden, dass die Vorschriften im Bereich der staatlichen Beihilfen nicht zu einer Fragmentierung führen, und dass das erhöhte Risiko der Wettbewerbs- und Handelsverzerrung aufgrund der unterschiedlichen Kapazitäten der Mitgliedstaaten zur Gewährung von Investitionsbeihilfen ausgeräumt wird.

2.6

Gleichzeitig hält er es für notwendig, die Wirksamkeit und Flexibilität der für Noteinsätze zur Verfügung stehenden Instrumente zu gewährleisten, um Krisengebiete zu unterstützen und Krisensituationen zu bewältigen.

2.7

Das derzeitige System der Leitlinien für die staatlichen Beihilfen mit regionaler Zielsetzung weist aufgrund seiner starren Struktur, die auf einer geografischen Unterteilung des Gemeinschaftsgebiets beruht, offenkundige Mängel auf und entspricht nicht in vollem Umfang den in Artikel 107 Absatz 3 Buchstabe c) des Vertrags genannten Zielen, da es wettbewerbsverzerrende Auswirkungen haben kann. Wenn das geltende System in dem veränderten wirtschaftlichen und sozialen Umfeld der Union zum Tragen kommt, könnte es die Entwicklung des Binnenmarktes beeinträchtigen.

2.8

Die Modernisierung der staatlichen Beihilfen muss auch dieses wichtige Instrument umfassen, das die Bandbreite der möglichen Maßnahmen zur Unterstützung benachteiligter Regionen ergänzt. Es ist zumindest merkwürdig, dass die Kommission nicht nur das System aus dem Jahr 1971 mit den späteren Änderungen beibehalten, sondern seine Anwendung an noch strengere Bestimmungen koppeln will. Die von der Kommission mehrmals bekräftigten Ziele Wachstum und Schaffung von Arbeitsplätzen werden durch inkohärente Politiken konterkariert, die das Potenzial einer zielgerichteten Reform der Leitlinien einschränken.

2.9

Die Europäische Kommission anerkennt in der Europa-2020-Strategie, dass sich die wirtschaftliche Situation schneller ändert als die Politik und dass Europa folglich einen neuen Ansatz benötigt, der sich auf die thematische und prioritäre Konzentration der Ressourcen stützen muss, um nach der Krise erneut ein nachhaltiges Wachstum sowie nachhaltige öffentliche Finanzen zu gewährleisten. Wie die GD Wettbewerb unlängst in einem Diskussionspapier (4) vom 23. Februar 2012 bekräftigt, geschieht dies durch miteinander verzahnte Reformen in den verschiedenen Sektoren, im Rahmen einer Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten und den betroffenen Akteuren, um ein breites und ausgewogenes Einvernehmen in Bezug auf den einzuschlagenden Weg zu erzielen.

2.10

Der EWSA begrüßt diesen Ansatz und hält ihn für flexibler, dynamischer und somit auch angemessener, um die rasch und kontinuierlich fortschreitende Krise in der EU zu bewältigen. Er spricht sich dafür aus, diesen Ansatz auch und insbesondere bei der Ausgestaltung der Ausnahmen zu verfolgen, die der Vertrag in Bezug auf die staatlichen Beihilfen mit regionaler Zielsetzung vorsieht.

3.   Kohärenz zwischen der regionalen Kohäsionspolitik und der Wettbewerbspolitik

3.1

Der EWSA erinnert daran, dass die Kommission seit der ersten Systematisierung der Grundsätze der staatlichen Beihilfen mit regionaler Zielsetzung, die mit den Leitlinien von 1998 (5) auf den Weg gebracht wurde, stets betont hat, dass die Konzentration und die Kohärenz der Regionalpolitik und der Wettbewerbspolitik gestärkt werden müssen (6).

3.2

Dieser Ansatz hat die Kohärenz zwischen den beiden Systemen bis zur Programmplanung 2000-2006 gewährleistet, mit der aus politischen und wirtschaftlichen Gründen die Karten der EU-Regionen, die im Rahmen der damaligen Ziele 1 und 2 für die Strukturförderung in Frage kamen, an die Karten der Regionen angeglichen wurden, die unter die Ausnahmeregelung für die Beihilfen mit regionaler Ausrichtung fielen. Seit der Programmplanung 2007-2013 wird dies nicht mehr so gehandhabt.

3.3

Einerseits war die Entwicklung der regionalen Politik von der Notwendigkeit eines multidisziplinären oder integrierten Konzepts geprägt, das die Feststellung der besonderen Probleme, die bei unterschiedlichen geografischen Gegebenheiten auftreten, ermöglicht und zur Schaffung einer umfassenden Strategie beiträgt, die einen Rahmen für spezielle Ziele und Maßnahmen absteckt, für die entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt werden  (7). Mit der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 (8) wurde anschließend das neue Modell der Durchführung von Strukturmaßnahmen vor Ort festgelegt. Dementsprechend werden die auf der geeigneten territorialen Ebene durchzuführenden Maßnahmen vom jeweiligen Mitgliedstaat festgelegt, und zwar auf der Grundlage der einschlägigen Bestimmungen und der sozioökonomischen Besonderheiten und Anforderungen.

3.4

Andererseits werden im Rahmen der Wettbewerbspolitik die unter die Ausnahmeregelung für die Beihilfen mit regionaler Zielsetzung fallenden Regionen mithilfe einer auf sieben Jahre ausgelegten Karte im Voraus bestimmt. Ein ebenso flexibles Wettbewerbsinstrument steht für die Regional- und die Kohäsionspolitik somit nicht zur Verfügung, was die Integrität des Binnenmarktes beeinträchtigt und zu asymmetrischen Politiken geführt hat, die jedoch dasselbe Kohäsionsziel verfolgen.

3.5

Im Grünbuch zum territorialen Zusammenhalt von 2008 (9) hat die Kommission anerkannt, dass in der Strukturpolitik über die Förderfähigkeit in erster Linie auf regionaler Ebene entschieden werden muss. Dabei war sie sich zunehmend bewusst, dass es für eine bessere Durchführung der Kohäsionspolitik unabdingbar ist, "sie flexibler zu machen, sie besser auf die jeweils geeignete territoriale Ebene abzustimmen, sie besser auf die besonderen Vorteile der Gebiete abzustimmen und sie besser mit anderen Politikfeldern zu koordinieren, und zwar auf allen Ebenen unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips".

3.6

Darüber hinaus gelangte die Kommission zu dem Schluss, dass zur wirksamen Bewältigung der Probleme im Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum der EU in einer globalisierten Weltwirtschaft "politische Maßnahmen auf verschiedenen geografischen Ebenen erforderlich" sind (10).

3.7

Wenn – wie die Kommission feststellt – "die Wettbewerbspolitik […] die territoriale Verteilung der Wirtschaftsaktivität [beeinflusst], indem Regionalbeihilfen auf die am stärksten benachteiligten Gebiete konzentriert werden und die zulässige Beihilfeintensität an die Art und den Umfang der Probleme angepasst wird" (11), dann kann sie nicht von der Entwicklung absehen, die die Regionalpolitik bereits vollzogen hat. Diese beruht auf Maßnahmen, die sich auf die thematische Konzentration der EU und die geografische Konzentration mit variabler Skalierung stützt. Folglich muss die Kommission die in Artikel 107 Absatz 3 festgelegte Methode zur Ermittlung der Regionen, die für die regionalen Ausnahmeregelungen in Frage kommen, überarbeiten.

4.   Gründe für die Unangemessenheit der derzeitigen Methode zur Bestimmung benachteiligter Regionen

4.1

Der EWSA verweist darauf, dass bei der Methode der Kommission zur Ermittlung der EU-Regionen, die für die Ausnahmen gemäß Artikel 107 Absatz 3 in Frage kommen, den Regionen mit den schwerwiegendsten Problemen (im Sinne von Buchstabe a)) Vorrang eingeräumt wird, die auf der Grundlage des BIP/KKS im Vergleich zum gesamten europäischen Durchschnitt ermittelt werden. Diese Methode sollte durch weitere Kriterien zur Feststellung hoher Unterbeschäftigungsraten ergänzt werden, auf die im Vertrag ausdrücklich verwiesen wird: Anhand des von der Kommission verwendeten Kriteriums lässt sich zwar eine außergewöhnlich niedrige Lebenshaltung feststellen, erhebliche Unterbeschäftigungsraten kommen dabei aber nicht immer zum Tragen. Die Arbeitslosenquote könnte ein zweckmäßiger BIP-Berichtigungsfaktor sein. Der EWSA fragt die Kommission, aus welchem Grund die Ermittlung der benachteiligten Regionen im Sinne von Buchstabe c) lediglich dadurch erfolgt, dass die Regionen im Sinne von Art. 107 Abs. 3 Buchstabe a) von der Gesamtbevölkerung des jeweiligen Staates abgezogen werden. Dies bedeutet, dass die effektive Möglichkeit zur Förderung der benachteiligten Gebiete im Sinne von Buchstabe c) vom Umfang der benachteiligten Gebiete im Sinne von Buchstabe a) abhängt. Dadurch kommt es zu großen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten, ohne dass diese Unterschiede auf einer im Vorfeld durchgeführten vergleichenden Bewertung der Probleme der ausgewählten Regionen basieren würden.

4.2

Auf diese Weise entstehen de facto unfaire Wettbewerbsbedingungen: In einigen Ländern werden nämlich Regionen für förderfähig befunden, deren Entwicklungsstand weit über jenem von Regionen in anderen Ländern liegt, für die keine regionale Förderung gewährt werden kann, da für ihr Land in Bezug auf Art. 107 Abs. 3 Buchstabe c) niedrige Grenzwerte gelten. Die Handelsverzerrung, die durch jegliche Form von Beihilfe entsteht, würde nicht nur dem gemeinsamen Interesse zuwiderlaufen, sondern wäre ebenso umfassend wie ungerechtfertigt.

4.3

Der EWSA betont, dass es wichtig ist, bei der Bestimmung der Regionen der Kategorie c) auch weiterhin einen Vergleich mit dem nationalen Entwicklungsstand anzustellen, da die Mitgliedstaaten nur auf der Grundlage des Parameters des internen Vergleichs die internen regionalen Unterschiede angehen und regionalpolitische Maßnahmen auf nationaler Ebene durchführen können, die der Fragmentierung des Inlandsmarktes entgegenwirken könnten.

4.4

In einem völlig globalisierten Kontext und in einem Europa, in dem die inneren Schranken allmählich fallen, sind die internen Unterschiede der Europäischen Union zunehmend auf regionaler statt auf nationaler Ebene sichtbar, in Gebieten, deren soziale und wirtschaftliche Probleme über die Verwaltungsgrenzen hinausreichen und in spezifischen und systematischen Strukturschwächen eher wirtschaftlicher als politischer Art verwurzelt sind.

4.5

Ein auf sieben Jahre ausgelegtes starres Planungssystem, in dessen Rahmen die Bestimmung der "schwachen" Regionen anhand einer geografischen Karte erfolgt, die sich auf Durchschnittsangaben von 2008-2010 stützt, ist angesichts des sich rasch verändernden wirtschaftlichen und sozialen Umfelds gänzlich anachronistisch.

4.6

Darüber hinaus könnte der Versuch, die räumliche Verteilung der Wirtschaftstätigkeit mithilfe von Investitionen in den am meisten benachteiligten Regionen auszugleichen, zu einer "Verzerrung" führen, die nicht dem echten Potenzial dieser Regionen entspricht. Dadurch würde ferner die Entstehung leistungsfähiger Gruppierungen in Regionen der Kategorie c) behindert und es würden sogenannte "lokale Subventionsjäger" in Regionen der Kategorie a) begünstigt werden. Die statische Festlegung a priori der benachteiligten Regionen ist der Wettbewerbsfähigkeit und der Innovation gänzlich abträglich und behindert die Entstehung von Innovationsclustern, die in der Europa-2020-Strategie als Schlüsselfaktoren für die intelligente Spezialisierung zur Förderung des regionalen Wachstums genannt werden, und deren Unterstützung und Entwicklung die Europäische Kommission fördert: "Die Unterstützung ihrer Entwicklung muss sich auf Gebiete mit komparativem Vorteil konzentrieren" (12), d.h. auf solche Wirtschaftszweige, in denen die Maßnahmen das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen.

4.7

Es wurde auch bereits mehrmals hervorgehoben (13), dass eine regionale Entwicklungspolitik, die im Wesentlichen darauf abzielt, die regionalen Unterschiede im Zusammenhang mit der Produktivitätskluft auszugleichen, die sich mit anderen Worten auf die Umverteilung der Finanzmittel von den reicheren auf die ärmeren Regionen beschränkt, die Mobilität und wirksamen Prozesse zur Bildung von Clustern stark einschränkt. Ein derartiger Ansatz muss unbedingt Raum für eine sogenannte standortbezogene Entwicklungsstrategie lassen, bei der die geografische Unterteilung nicht an die administrativen Grenzen gebunden ist und sich im Laufe der Zeit ändern kann.

5.   Notwendigkeit der Änderung der Methode zur Bestimmung der benachteiligten Regionen: Vorschläge

5.1

Der EWSA ist der Auffassung, dass es im Rahmen der Kartierung der sogenannten "benachteiligten Regionen" den einzelnen administrativen Regionen ermöglicht werden muss, in allen Gebieten tätig zu werden, die im Laufe der Programmplanung Anzeichen von Nachteilen aufweisen, die wiederum mithilfe von vorab festgelegten, anerkannten und gemeinsamen Parametern festgestellt wurden.

5.2

Der EWSA begrüßt das von Fabrizio Barca im Bericht zur Kohäsionspolitik 2009 (14) vorgeschlagene Modell zur Modernisierung der Regionalpolitik. In diesem Modell werden die Zielregionen für den Fondseinsatz auf der Grundlage von Prioritäten und Anforderungen sowie der territorialen Verteilung der wirtschaftlichen Ineffizienzen und sozialen Ausgrenzungsfallen bestimmt – im institutionellen Kontext, aber unabhängig von den Verwaltungseinheiten.

5.3

Der EWSA schlägt der Kommission vor, diesen Ansatz auch bei der Wettbewerbspolitik zu verfolgen und eine neue Methode zur Bestimmung der "Wirtschaftsgebiete" im Sinne von Art. 107 Abs. 3 Buchstabe c) einzuführen, bei der die geografisch-administrativen Grenzen keine Rolle spielen und vielmehr die tatsächlichen Bedingungen berücksichtigt werden, denen die verschiedenen Regionen bisweilen unterliegen.

5.4

Nach Auffassung des EWSA sichert ein solches Modell sowohl die Ziele der regionalen Entwicklung – dank der thematischen Konzentration – als auch die Grundsätze des Wettbewerbs und der Integrität des Marktes, da es eine Obergrenze der Mittel vorsieht, die für das Instrument der staatlichen Beihilfen mit regionaler Ausrichtung bereitgestellt werden können. Diese Deckelung wird pro Mitgliedstaat und NUTS-II-Region (Nomenclature of Territorial Units for Statistics) festgelegt, wie dies bereits beispielsweise im Rahmen des Mechanismus der nationalen Obergrenze für De-Minimis-Beihilfen im Fischerei- und Agrarsektor der Fall ist.

5.5

Der EWSA schlägt vor, neben der Obergrenze auch Bewertungsparameter für Krisensituationen festzulegen, um sicherzustellen, dass die Maßnahmen zur Unterstützung von Unternehmen dem Ziel der Förderung schwacher Regionen gerecht werden. Überdies schlägt er vor, die Regionen, in denen von Zeit zur Zeit Förderungsmaßnahmen mit regionaler Zielsetzung durchgeführt werden sollen, auf der Grundlage einer umfassenden Sammlung von Indikatoren und entsprechenden Mindestgrenzen zu ermitteln, denen die Europäische Kommission im Vorfeld zugestimmt hat.

5.6

Kohärenter und zweckmäßiger ist nach Auffassung des EWSA eine Methode zur Ermittlung der benachteiligten Regionen, bei der die tatsächlichen wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten des Gebiets zum Tragen kommen. Dies könnte durch die Ermittlung von NUTS-III-Regionen erfolgen, in denen die Arbeitslosenraten über dem nationalen Durchschnitt liegen. Die Einwohnerzahl dieser ermittelten NUTS-III-Regionen sollte mithilfe eines im Einvernehmen mit der Europäischen Kommission festgelegten Multiplikators in die Obergrenze für die Gewährung von Beihilfen an in diesen NUTS-III-Regionen ansässige Unternehmen umgerechnet werden.

5.7

Nach Auffassung des EWSA kann die Kommission mithilfe dieser Methode den Wettbewerb wirksamer schützen als jetzt, da die Methode zum einen den in den Leitlinien festgelegten Kompatibilitätsanforderungen entspricht und zum anderen eine effektive Obergrenze für die Beihilfen festlegt, die die Mitgliedstaaten einer bestimmten Region gewähren können. Dabei wird vermieden, dass wohlhabendere Länder im Vergleich zu anderen Ländern ihre eigenen Unternehmen unverhältnismäßig stark unterstützen. Im Rahmen der geltenden Bestimmungen hingegen können die Mitgliedstaaten die Beihilfen in einem solchen Umfang auf ein bestimmtes förderfähiges Gebiet konzentrieren, dass es angesichts des Gesamtbeihilfebetrags zur Wettbewerbsverzerrung kommen kann.

6.   Notwendigkeit der Beibehaltung von Beihilfen auch für Großunternehmen in Gebieten nach Art. 107 Abs. 3 Buchstabe c)

6.1

Der EWSA erinnert daran, dass die staatlichen Beihilfen mit regionaler Zielsetzung von Anfang an als Unterstützung für Großunternehmen gedacht waren, deren strategische Rolle bei der Entwicklung der regionalen Wirtschaftsräume die Kommission in ihrer Mitteilung zur Regionalpolitik und Wettbewerbspolitik von 1998 (15) deutlich hervorgehoben hat. Darin betont sie die Notwendigkeit einer Kohärenz zwischen diesen beiden Politikbereichen, um Investitionen von Großunternehmen anzuziehen, während gerade diese Investitionen "durch ihre Anstoßwirkungen und den durch sie eröffneten Zugang zum Weltmarkt von besonderem Interesse für die Regionalentwicklung sind".

6.2

Mit Blick auf die vorgenannten Überlegungen ist der EWSA der Auffassung, dass die Möglichkeit der Gewährung regionaler Beihilfen auch für Großunternehmen in Gebieten nach Art. 107 Abs. 3 Buchstabe c) unter den in den einschlägigen Leitlinien genannten Bedingungen beibehalten werden muss.

6.3

Der EWSA macht die Europäische Kommission auf folgendes aufmerksam: Werden die Beihilfen mit regionaler Zielsetzung den Großunternehmen in Gebieten nach Buchstabe c) vorenthalten, so kann dies die öffentlichen Ressourcen in den Gebieten nach Buchstabe a) stark aus dem Gleichgewicht bringen, und zwar in einigen Ländern, die nicht nur beträchtliche Beihilfebeträge erhalten, sondern insbesondere über umfangreiche Gemeinschaftsmittel verfügen und weitaus niedrigere Arbeitskosten verzeichnen. Dies würde unweigerlich zu einer Verzerrung des Wettbewerbs führen.

6.4

Dank der Liberalisierung der Finanzmärkte und der Ausweitung des Binnenmarkts können die Unternehmen heute Strategien zur Minimierung ihrer Steuerabgaben verfolgen und bei der Suche nach dem steuerlich attraktivsten Standort Aufsichtsarbitrage betreiben (16). In Erwartung einer Steuerharmonisierung, die den schädlichen Steuerwettbewerb einschränken würde, sollte die Kommission nach Auffassung des EWSA jene Beihilfeformen und -regelungen vorziehen (z.B. langfristige Steuererleichterungen, die auf in ausreichendem Maße "verbindlichen" Bedingungen beruhen), mit denen sich Marktverzerrungen besser bekämpfen lassen als durch Senkung der Beihilfen. Der Rechtsrahmen der neuen Programmplanung sollte die Vorschriften im Bereich der Betriebsverlagerung verschärfen und angemessene Koordinierungskanäle für solche Fälle gewährleisten, in denen die Verwendung der EU-Mittel und die Gewährung der staatlichen Beihilfen ein- und dasselbe Unternehmen betreffen.

6.5

Der EWSA ruft die Kommission nachdrücklich auf, sich eingehend mit dem Regelungsmodell zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung benachteiligter Regionen eines unserer größten Wettbewerber, den USA, auseinanderzusetzen (Code of Federal Regulations, Titel 13, Business credit and assistance). Bei der Bestimmung der förderfähigen Regionen werden dabei die wirtschaftlichen Entwicklungsgebiete (economic development districts) und die wirtschaftlich benachteiligten Gebiete (economic distressed areas) ermittelt und Entwicklungsprojekte ausgewählt, wobei nicht von den geografischen und administrativen Einheiten ausgegangen wird, sondern von Maßnahmenzielen und Prioritäten sowie mehreren Parametern, die auf föderaler Ebene festgelegt werden und die jeder Staat weiter ausarbeitet und an die eigene Wirtschaftsstruktur anpasst.

7.   Der Standpunkt der Interessenträger

7.1

An der öffentlichen Anhörung am 29. Januar 2013 zu den staatlichen Beihilfen mit regionaler Zielsetzung haben Vertreter einiger europäischer Regionen (Spaniens, Deutschlands und Italiens: Andalusien, Bayern und Emilia-Romagna), lokaler und nationaler Unternehmerverbände und des Europäischen Parlaments teilgenommen. Der Sachverständige des AdR-Berichterstatters hat zudem die von der beratenden EU-Einrichtung am 1. Februar 2013 verabschiedete Stellungnahme vorgestellt (17). Darin werden an die Kommission Fragen und Vorschläge gerichtet, die weitgehend mit der Notwendigkeit einer Modernisierung der Vorschriften im Bereich der staatlichen Beihilfen mit regionaler Zielsetzung zusammenhängen.

7.2

Sowohl die Regionen als auch die Unternehmen haben – wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Sichtweisen – auf die Mängel des Kommissionsvorschlags hingewiesen, der keine ausreichenden und nachvollziehbaren Antworten auf die vielen Fragen der Modernisierung und Optimierung des Systems der staatlichen Beihilfen mit regionaler Zielsetzung liefert, insbesondere in der jetzigen Zeit der akuten Krise. Der Vertreter des Europäischen Parlaments hat dem in der vorliegenden Stellungnahme enthaltenen Vorschlag zugestimmt und befunden, dass er angemessener sei und der Notwendigkeit eines neuen territorialen Gleichgewichts Rechnung trage. Vorgebracht wurden ferner interessante Vorschläge zur Ausweitung des BIP-Kriteriums, auf dessen Grundlage die Differenz zum europäischen Durchschnitt ausgerechnet und die Förderfähigkeit von Regionen unter Art. 107 Abs. 3 Buchstabe a) ermittelt wird, so z.B. um die Arbeitslosenquote einer Region. Diesen Vorschlägen hat der EWSA in vollem Umfang zugestimmt.

7.3

Schließlich haben die Unternehmen, sowohl aus lokaler als auch nationaler Sicht, die Notwendigkeit eines flexiblen Instruments hervorgehoben: Über die Gewährung von Regionalbeihilfen sollte auf der Grundlage der Qualität der Investition, der voraussichtlichen Auswirkungen auf die Wirtschaft und der Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit und nicht auf der Grundlage der Unternehmensgröße entschieden werden. Darüber hinaus wurde bekräftigt, dass für eine wirksamere Abschätzung der wettbewerbsspezifischen Auswirkungen der Beihilfen für Unternehmen oberhalb der Größenordnung von KMU die Parameter zur Bestimmung der Unternehmensgröße laut Empfehlung der Kommission von 2003 (18) aktualisiert werden müssten. Unter die Kategorie "Nicht-KMU" fallen zahlreiche Unternehmen, die keine großen multinationalen Unternehmen sind und die diesen nicht gleichgestellt werden dürfen, da sie weitaus kleiner sind.

8.   Notwendigkeit, die Beihilfeintensität für große Unternehmen in Regionen, die unter Artikel 107 Absatz 3 Buchstabe a) fallen, beizubehalten

8.1

Der Ausschuss fordert die Kommission nachdrücklich auf, die beabsichtigte Reduzierung der Beihilfeintensität von 40 % auf 35 % und 25 % zu überdenken. Die Argumente der Kommission für eine Beihilfereduzierung sind nicht stichhaltig. Die vorgeschlagene Reduzierung würde de facto zu einer Abschaffung der staatlichen Beihilfen in Regionen der Kategorie a) führen, die Auslandsinvestitionen anziehen sollen.

8.2

Der Ausschuss ist ferner ernsthaft besorgt über die Absicht der Kommission, die Beihilfeintensität auf die Höhe der Mehrkosten zu beschränken und das Verfahren für den Nachweis der Anreizwirkung der Beihilfe durch große Unternehmen zu verschärfen.

8.3

Die vorgenannten Maßnahmen würden de facto dazu führen, dass die Fähigkeit von Regionen der Kategorie a), Auslandsinvestitionen anzuziehen und neue Arbeitsplätze und Werte zu schaffen, beeinträchtigt würde und diesen Regionen im Vergleich zu anderen Regionen außerhalb Europas, deren Beihilferegelungen oftmals viel großzügiger sind, Wettbewerbsnachteile entstehen.

Brüssel, den 21. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 49.

(2)  http://ec.europa.eu/competition/consultations/2013_regional_aid_guidelines/explanatory_note_de.pdf.

(3)  2009/C 223/02, S. 54.

(4)  Comp/DG/2012/012588 vom 23. Februar 2012.

(5)  ABl. C 90 vom 26.3.1998, S. 3.

(6)  Mitteilung der Kommission an die Mitgliedstaaten über die Regionalpolitik und die Wettbewerbspolitik – Die Konzentration und Kohärenz dieser Politikbereiche verstärken, 98/C 90/03, Ziffer 1.

(7)  Mitteilung der Kommission "Die Kohäsionspolitik im Dienste von Wachstum und Beschäftigung - Strategische Leitlinien der Gemeinschaft für den Zeitraum 2007-2013", COM(2005) 299 vom 5. Juli 2005, Ziffer 5.

(8)  Verordnung des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999, Artikel 12.

(9)  COM(2008) 616 final vom 6. Oktober 2008, Ziffer 1.

(10)  Ebd. Ziffer 2.3.

(11)  Ebd. Ziffer 2.3.

(12)  COM(2010) 553 final vom 6. Oktober 2010, Regionalpolitik als Beitrag zum intelligenten Wachstum im Rahmen der Strategie Europa 2020, Punkt 3.1.

(13)  Siehe Fußnote 14.

(14)  Eine Agenda für eine reformierte Kohäsionspolitik – Eine ortsgerichtete Entwicklungspolitik zur Bewältigung der Herausforderungen und Erfüllung der Erwartungen der Europäischen Union – Unabhängiger Bericht von 2009, erstellt von Fabrizio Barca im Auftrag von Danuta Hübner, für Regionalpolitik zuständiges Kommissionsmitglied.

(15)  S. Fußnote 5.

(16)  "A new strategy for the Single Market – at the service of Europe's economy and society" – Bericht von Mario Monti an den Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso vom 9. Mai 2010.

(17)  http://www.toad.cor.europa.eu/corwipdetail.aspx?folderpath=COTER-V/034&id=21792.

(18)  Empfehlung der Kommission 2003/361/EG vom 6. Mai 2003 betreffend die Definition der Kleinstunternehmen sowie der kleinen und mittleren Unternehmen. (ABl. L 124 vom 20.5.2003).


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/27


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Berufsausbildung und lebensbegleitende berufliche Bildung: die Rolle der Wirtschaft für die Bildung in der EU“ (Initiativstellungnahme)

2013/C 161/05

Berichterstatterin: Vladimíra DRBALOVÁ

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 12. Juli 2012 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Berufsausbildung und lebensbegleitende berufliche Bildung: die Rolle der Wirtschaft für die Bildung in der EU.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 26. Februar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 83 gegen 1 Stimme bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt den aktiven Einsatz der Arbeitgeber und Unternehmer für eine europaweite Mobilität, um die Entwicklung von Kompetenzen zu fördern und sie auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes abzustimmen mit dem Ziel, das Wirtschaftswachstum wieder anzukurbeln, Arbeitsplätze zu schaffen und vor allem die Lage der jungen Menschen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.

1.2

Allgemeine und berufliche Bildung sind kostenintensiv, kommen jedoch zahlreichen Menschen zugute. In Europa gibt es viele Modelle, nach denen Systeme zur Kostenteilung eingeführt werden können. Die Arbeitgeber sollten nach Maßgabe der innerstaatlich üblichen Praktiken und Bedingungen daran beteiligt werden.

1.3

Der Ausschuss fordert die Arbeitgeber und Unternehmer dazu auf, den Grundsatz der Partnerschaft und Zusammenarbeit aller Beteiligten zu unterstützen, um die Reform der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung und die Entwicklung von Strategien für ein lebenslanges Lernen voranzutreiben. In diesem Zusammenhang erkennt der Ausschuss die Bedeutung des sozialen Dialogs und die bisherigen Ergebnisse aus der Zusammenarbeit der Sozialpartner auf allen Ebenen an.

1.4

Der Ausschuss ruft die Arbeitgeber und Unternehmer dazu auf, im Interesse der Aufrechterhaltung und Verbesserung der Stellung der europäischen Industrie einen Beitrag zur Verbesserung des Ansehens der Industrie, der technischen Berufe und der Qualifikationen in den MINT (1)-Fächern zu leisten, den Bedarf der einzelnen Branchen zu analysieren und zu antizipieren, darüber zu informieren und auf diese Weise aktiv zu einer besseren Abstimmung der Kompetenzen auf die Erfordernisse des Arbeitsmarktes beizutragen.

1.5

Arbeitgeber und Unternehmensverbände sollten gleichzeitig auch die spezifischen Bedürfnisse kleiner und kleinster Unternehmen berücksichtigen, die über ein großes Potenzial zur Schaffung von Arbeitsplätzen verfügen, und ihnen bei der Erstellung von Verzeichnissen behilflich sein, aus denen die Arbeitsweise dieser Unternehmen, die sich durch eine größere Flexibilität und Dynamik auszeichnen, detailliert hervorgeht.

1.6

Der Ausschuss empfiehlt den Unternehmen und den übrigen Akteuren auf dem Arbeitsmarkt, enger mit den Schulen und Bildungseinrichtungen zusammenzuarbeiten und sich mit Blick auf die erhofften Ergebnisse aktiv an der Erstellung der Lehrpläne und Ausbildungsgänge für die berufliche Bildung zu beteiligen. Im Zuge dieser Zusammenarbeit sollte auch dafür Sorge getragen werden, dass in der beruflichen Ausbildung die erforderlichen Berufsschullehrer und praktischen Ausbilder zur Verfügung stehen.

1.7

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass eine wirksamere Zusammenarbeit der Unternehmen mit den öffentlichen und privaten Arbeitsverwaltungen zu einer größeren Kohärenz der Ausbildung im Unternehmen mit den Grundsätzen der aktiven Beschäftigungspolitik und damit auch zu einer stärkeren Beteiligung am lebenslangen Lernen führen wird.

1.8

Im Rahmen der vorgeschlagenen Europäischen Allianz für Lehrlingsausbildung sollten sich die Arbeitgeber und Unternehmen dazu verpflichten, hochqualitative Lehrlingsausbildungen zu fördern sowie das Ansehen und die Attraktivität der betrieblichen Ausbildung in Europa zu erhöhen. Sie sollten Verantwortung übernehmen und auf Grundlage des dualen Ausbildungssystems, durch das die Schulbildung mit dem Unternehmensalltag verknüpft wird, in ausreichender Zahl Praktikumsplätze und Lehrstellen sowie weitere Möglichkeiten zum Erwerb praktischer Erfahrungen und Kompetenzen schaffen. Dazu müssen jedoch für die Unternehmen auf nationaler Ebene geeignete Voraussetzungen und Instrumente zur Motivationsförderung geschaffen werden.

1.9

Der Ausschuss ist sich dessen bewusst, wie viele Arbeitgeber auf nationaler Ebene an der sozialen Partnerschaft zur Entwicklung und Durchführung europäischer Instrumente wie EQF (2), ESCO (3), ECVET (4), Europass u.a. beteiligt sind, und weist erneut auf die Notwendigkeit hin, diese Instrumente auf kleine und kleinste Unternehmen sowie Handwerksbetriebe abzustimmen.

1.10

Der Ausschuss ruft die Arbeitgeber und Unternehmer auch dazu auf, das Potenzial der Frauen stärker zu entwickeln und Frauen insbesondere in den MINT-Studiengängen zu unterstützen, um auf diese Weise ihre Beschäftigungsfähigkeit zu erhöhen und ihnen den Eintritt in den Arbeitsmarkt zu erleichtern.

1.11

Der Ausschuss ruft die Arbeitgeber und Unternehmer dazu auf, die europäischen Strukturfonds – EFRE, ELER und vor allem den ESF neuer Generation (5) sowie Erasmus – für alle effizienter zu nutzen. Gleichzeitig ruft er dazu auf, die für die Programme COSME und HORIZONT zur Verfügung stehenden Mittel aufzustocken.

2.   Einführung

2.1

Die vorliegende Stellungnahme knüpft unmittelbar an die Stellungnahme des EWSA zur Europa-2020-Strategie und den entsprechenden Leitinitiativen (6) sowie an die Stellungnahmen zur Entwicklung von Kompetenzen und zur Rolle der allgemeinen und beruflichen Bildung (7) an.

2.2

In der Stellungnahme wird der Aufruf der Kommission (8) zur Schließung starker Vertrauenspartnerschaften mit allen Interessenträgern positiv aufgenommen und die Bedeutung der Zivilgesellschaft und der Autonomie der Sozialpartner (9) respektiert. In diesem Sinne ist die Stellungnahme eine Ergänzung zu den Stellungnahmen des Ausschusses zu diesem Thema (10).

2.3

Mit dieser Stellungnahme will der EWSA auf den aktiven Beitrag der Arbeitgeber und Unternehmer zur Durchführung der auf europäischer Ebene ergriffenen Maßnahmen in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und Chancen für die Jugend hinweisen. Es geht also darum, in gewisser Weise die Politik und die getroffenen politischen Maßnahmen mit den Bedingungen und Anforderungen in der Wirklichkeit in den Unternehmen zu konfrontieren. Die Unternehmen in Europa sind zentrale Akteure in dem Bemühen, die Arbeitsmarktkrise zu überwinden (11).

2.4

Europa muss alle Quellen des Wachstums mobilisieren, wozu unter anderem auch qualifizierte Arbeitskräfte gehören, die in ihrer Struktur und ihrer Zahl den aktuellen Anforderungen des Arbeitsmarktes genügen. Der Schwerpunkt muss daher auf praktischen beruflichen Qualifikationen (Ergebnisse), beruflicher Bildung, Lehrlingsausbildung und auf technischen Fachrichtungen liegen.

2.5

Der EWSA hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt für eine effizientere Ausrichtung der Bildungssysteme auf die Anforderungen der Arbeitswelt (12) eingesetzt mit dem Ziel, die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitskräfte zu erhöhen, den Zugang der Unternehmen zu höher qualifizierten Arbeitskräften zu verbessern und einen reibungslosen Übergang von der Schule ins Erwerbsleben zu gewährleisten. Dazu hat er eine Reihe Empfehlungen an Arbeitgeber und Unternehmer gerichtet:

im Rahmen der dreiseitigen Verhandlungen mit der Regierung und des sozialen Dialogs Mitwirkung an der Reformierung des Arbeitsmarktes und der Modernisierung der Bildungssysteme;

gemeinsame Teilnahme an der Antizipierung künftiger Arbeitsmarktanforderungen;

Beitrag zur Erarbeitung wirksamer Strategien für ein lebenslanges Lernen;

gemeinsam mit den übrigen Akteuren auf dem Arbeitsmarkt Initiierung und Konsolidierung der Zusammenarbeit von Unternehmen mit Schulen und Bildungseinrichtungen;

Förderung der Anerkennung der Ergebnisse nicht formalen und informellen Lernens;

Zusammenarbeit der Arbeitsmarkteinrichtungen, insbesondere der öffentlichen und privaten Arbeitsverwaltungen sowie aktive Teilnahme an den Systemen zur Laufbahnberatung für Jugendliche und Arbeitssuchende;

Verbesserung des Ansehens insbesondere der industriellen Branchen und verbessertes Angebot an Plätzen für Lehrlingsausbildungen sowie für innerbetriebliche Ausbildungen und Praktika;

Gewährleistung von Praktika für Lehrkräfte und Ausbilder in den Unternehmen;

Zusammenarbeit mit Familien und Einzelpersonen und Beitrag zur Abstimmung ihrer beruflichen Ambitionen mit den reellen Erfordernissen der Unternehmen;

Schaffung der erforderlichen Strukturen und Voraussetzungen, um es den Beschäftigten zu ermöglichen, ihr Wissen und ihre Erfahrung an Lehrlinge und Praktikanten weiterzugeben oder zeitlich befristet als Berufsschullehrer tätig zu werden;

Beitrag zur Verbesserung der Mobilität von Arbeitnehmern, Lernenden und Lehrenden innerhalb der Einrichtungen der Aus- und Weiterbildung und zwischen den Ländern (durch Anwendung der Instrumente EQF, ECVET, EQAVET, Europass usw.);

Beteiligung an den Initiativen zur Einführung nationaler Qualifizierungssysteme und nationaler Lehrpläne;

Nutzung der europäischen Fonds zur Förderung der Ausbildung und Mobilität von Schülerinnen und Schüler in Europa;

Förderung der Freiwilligentätigkeit in der Ausbildung und Vorbereitung der Auszubildenden;

effiziente Nutzung der Mittel aus den Strukturfonds, insbesondere des ESF.

3.   Die bestehenden Initiativen auf EU-Ebene

3.1

Im Mittelpunkt der Agenda für neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten steht die Notwendigkeit, in die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung zu investieren, den Kompetenzbedarf vorherzusehen und das lebenslange Lernen zu verbessern. Sie enthält zudem den Vorschlag, komplexe Strategien für ein lebenslanges Lernen zu konzipieren.

3.2

Kernpunkte der Initiative Jugend in Bewegung  (13) sind dagegen eine qualitativ hochwertige Bildung, eine erfolgreiche Eingliederung in den Arbeitsmarkt und eine größere Mobilität. Es wird vorgeschlagen, die Attraktivität, die Vielfalt des Angebots und die Qualität der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu erhöhen, den Zugang zu hochwertigen Praktika zu erleichtern und die Unternehmen dazu anzuhalten, die Praktikanten gut zu betreuen.

3.3

Die Mitteilung Einen arbeitsplatzintensiven Aufschwung gestalten  (14) ist auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere in Wirtschaftszweigen mit einem hohen Wachstumspotenzial, auf die Wiederherstellung der Dynamik auf den Arbeitsmärkten und auf die Entwicklung des lebenslangen Lernens sowie auf Beschäftigungssicherheit und die Schaffung von Chancen für junge Menschen ausgerichtet.

3.4

In einer Zeit wachsender Arbeitslosigkeit und unzureichenden Wirtschaftswachstums ist es dringend erforderlich, neue Lernangebote auch außerhalb des formalen Systems zu nutzen. Daher ist der Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Validierung der Ergebnisse des nichtformalen und informellen Lernens (15) ein Beitrag auf europäischer Ebene zur Beschleunigung der Reformen.

3.5

Die Mitteilung der Europäischen Kommission Kompetenzen überdenken: Investitionsplan in künftige Kompetenzen für bessere wirtschaftliche und soziale Ergebnisse  (16) enthält eine Reihe konkreter Vorschläge und innovativer Ansätze auch auf dem Gebiet der beruflichen Aus- und Weiterbildung, der Lehre sowie der Förderung des Unternehmergeistes und der Mobilität. Das System der beruflichen Aus- und Weiterbildung in Europa muss gestärkt werden, damit es weltweit eine Spitzenposition in diesem Bereich einnehmen kann, und zwar sowohl im Bereich der anvisierten Standards, als auch im Bereich seiner tatsächlichen Leistungen (17).

3.6

Die Mitteilung der Kommission Junge Menschen in Beschäftigung bringen  (18) beruht auf den bislang vorgelegten Vorschlägen wie dem Europäischen Qualitätsrahmen für Praktika (19) und den Garantien für die Jugend und enthält die Aufforderung zur Schaffung einer Europäischen Allianz für Lehrlingsausbildung (20).

3.7

Der Aktionsplan 2020 zur Förderung des Unternehmertums "Neubewertung des Unternehmergeistes in Europa" betrifft die Ausbildung und Vorbereitung der Unternehmer sowie die europaweite Initiative zum unternehmerischen Lernen (21), die darauf ausgerichtet ist, unternehmerische Kenntnisse, Fähigkeiten und Ansätze aufzubauen.

4.   Die Rolle der Arbeitgeber und Unternehmer

4.1

Das Bemühen um eine Erhöhung des Stellenwerts der Industrie und der dazugehörigen Dienstleistungen in Europa erfordert auf Grundlage klar definierter Ergebnisse eine Änderung der Qualifikationsstrukturen und der entsprechenden Kompetenzen quer durch alle Wirtschaftszweige.

4.2

Die Umstrukturierung einiger Branchen als integraler Bestandteil dynamischer Volkswirtschaften geht mit einem Verlust von Arbeitsplätzen einher, führt jedoch auch zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die Zahl dieser neuen Arbeitsplätze bleibt jedoch weit hinter der Zahl der verloren gegangenen Arbeitsplätze zurück (22). Für die Arbeitgeber bedeutet dies, dass sie in Zusammenarbeit mit der Regierung und im Rahmen des sozialen Dialogs in der Lage sein müssen, Änderungen vorherzusehen und zu steuern, um so die negativen sozialen Folgen des Wandels in Grenzen zu halten und die positiven Auswirkungen der Umstrukturierung zu verstärken. Das wiederum bedeutet, dass sie sich in beachtlichem Maße an den Investitionen in die berufliche Ausbildung und Umschulung beteiligen müssen.

4.3

Daher ist die Antizipierung der künftigen Arbeitsmarktanforderungen so wichtig. Obwohl internationale Untersuchungen belegen, dass eine glaubwürdige Antizipierung der langfristigen Erfordernisse des Arbeitsmarktes angesichts der großen Dynamik der globalen Entwicklung ausgesprochen schwierig ist, sollten die Arbeitgeber- und Unternehmerverbände die Lage in den einzelnen Wirtschaftszweigen auf kurze und mittlere Sicht analysieren, regionale Unterschiede ermitteln und auf den sich ändernden Bedarf der Unternehmen an qualifizierten Arbeitskräften entsprechend reagieren. Diese Analysen und Prognosen betreffen alle Wirtschaftsteilnehmer einschließlich der Genossenschaften und Handwerksbetriebe.

4.3.1

Am besten gelingt das durch die Festlegung strategischer Ziele und die Erarbeitung von Aktionsplänen. Bestandteile derartiger Pläne sind ein verstärktes Marketing in der jeweiligen Branche, der Entwurf von Bildungskonzepten und die Festlegung von Anforderungen, geteilte Verantwortung und die wirtschaftliche Beteiligung des Staates und der übrigen interessierten Kreise an der Bildung und Ausbildung der Absolventen, eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Schulen und weiterer interessierter Kreise in dem Bemühen, Theorie und Praxis stärker miteinander zu verknüpfen, ein Konzept zur Vorbereitung der Studierenden in den Unternehmen sowie die Schaffung einer Kultur der Unternehmensmobilität.

4.3.1.1

Das Bildungskonzept kann folgende Punkte umfassen; eine Bewertung der Qualifikation der Absolventen in den einzelnen Fächern, die für einen gegebenen Wirtschaftszweig in Frage kommen, eine Spezifizierung der Berufe, die durch eine Umschulung gesichert werden können, eine branchenübergreifende Zusammenarbeit mit anderen Wirtschaftszweigen, die Zusammenstellung einer Liste der kooperierenden Primar- und Sekundarschulen, die Einschaltung von Laufbahnberatern, eine Umfrage mit Fragebogen zur Motivation der Studierenden in den letzten Studienjahren und zu ihren Vorstellungen von der beruflichen Laufbahn.

4.3.1.2

Von großer Bedeutung ist die Ausbildung der Studierenden in den Unternehmen, die folgendes beinhaltet: Aufstellung von Ausbildungsprogrammen für die Studenten, Schaffung eines geeigneten Umfelds, um sie in den Arbeitsablauf des Unternehmens einzubinden, und schließlich Festlegung von Regeln zur Bewertung der Wirksamkeit der studentischen Ausbildung. Die Unternehmen sollten die Mobilität der Studierenden und Auszubildenden unterstützen und Austauschprogramme organisieren.

4.3.1.3

Allgemeine und berufliche Bildung sind kostenintensiv, kommen jedoch zahlreichen Menschen zugute (23). Die staatlichen Behörden sind maßgeblich an der Finanzierung von Maßnahmen beteiligt, die darauf ausgerichtet sind, Erwachsene beim Erwerb grundlegender Kenntnisse sowie der für den (Wieder)Eintritt in den Arbeitsmarkt erforderlichen Qualifikationen und Kompetenzen zu unterstützen. Von den Arbeitgebern wird erwartet, dass sie primär die finanzielle Verantwortung für die Entwicklung der für den jeweiligen Arbeitsplatz erforderlichen Qualifikationen übernehmen. Der Einzelne sollte ebenfalls die Verantwortung für die Erlangung und Weiterentwicklung seiner Beschäftigungsfähigkeit und seiner persönlicher Kompetenzen tragen.

4.3.1.4

In vielen Mitgliedstaaten beteiligt sich der Staat – auch finanziell – an der Durchführung von Ausbildungs- und Umschulungsprogrammen. Eine derartige verantwortungsvolle Regierungsführung ist unerlässlich und könnte durch die Gewährleistung einer möglichen Finanzierung aus den EU-Fonds oder durch die Möglichkeit, die durchgeführten Projekte zu nutzen bzw. sich an ihnen zu beteiligen, weiter verbessert werden. Eine Finanzierung mit öffentlichen Mitteln kann jedoch niemals ein Ersatz für die Verantwortung aller interessierten Kreise einschließlich der Arbeitgeber sein.

4.4

Im Rahmen des sozialen Dialogs sollten die Unternehmer effizienter in die Konzipierung und Durchführung der nationalen Bildungspolitik eingebunden werden, durch die der Zugang zur vorschulischen Erziehung verbessert sowie die sekundäre und tertiäre berufliche Aus- und Weiterbildung modernisiert und rehabilitiert werden soll.

4.4.1

Eine qualitativ hochwertige und leicht zugängliche Betreuung der Kinder im Vorschulalter ist Bestandteil der allgemeinen Grundbildung. Arbeitgeber aus den unterschiedlichsten Wirtschaftszweigen können im Schulterschluss mit den Kompetenzzentren und Eltern mit vorschulischen Einrichtungen zusammenarbeiten und die Entwicklung von Talenten fördern (beispielsweise technisches Spielzeug zur Verfügung stellen).

4.4.2

Ein Teil des Unterrichts sollte bereits von der Grundschule an darin bestehen, mit den grundlegenden praktischen Fertigkeiten der unterschiedlichsten – auch technischen – Berufe vertraut zu machen und dabei die Perspektiven der einzelnen Wirtschaftszweige und Dienstleistungsbereiche sowie die aktuellen Qualifikations- und Kompetenzanforderungen aufzuzeigen. Ohne Fortschritte in den MINT-Fächern und im Bereich der praktischen Fähigkeiten wird es schwer werden, die berufliche Aus- und Weiterbildung sowie die Lehrlingsausbildung zu verbessern. Dies wäre eine Möglichkeit, die Eingliederung junger Menschen in den heutigen Arbeitsmarkt zu erleichtern.

4.4.3

Die neueste Studie des CEDEFOP (24) hat unlängst gezeigt, dass eine Reihe europäischer Staaten bereits Maßnahmen zur Erhöhung der Attraktivität der beruflichen Aus- und Weiterbildung ergriffen hat. Dennoch zeigt die Untersuchung, dass die Bemühungen in einigen wichtigen Bereichen zu wünschen übrig lassen – Verbesserung der Durchlässigkeit zwischen der beruflichen Aus- und Weiterbildung und der höheren Bildung, Überarbeitung und Modernisierung der Lehrpläne, Ausbau der Infrastruktur in den beruflichen Bildungseinrichtungen, Zugang zu bestimmten Gruppen, Durchführung struktureller Änderungen und Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Ebenen, Verbesserung des Systems der Lehrlingsausbildung und insbesondere stärkere Einbeziehung der Arbeitgeber und der Sozialpartner.

4.4.4

Das Potenzial der europäischen Hochschulinstitute, ihre Aufgabe in der Gesellschaft zu erfüllen und einen Beitrag zum Wohlstand Europas zu leisten, wird bisher nur unzulänglich genutzt (25). Die wissensbasierte Wirtschaft braucht Menschen mit der richtigen Mischung an Kompetenzen, darunter Querschnittskompetenzen, elektronische Kenntnisse für das digitale Zeitalter, Kreativität und Flexibilität sowie ein grundlegendes Verständnis für den gewählten Fachbereich. Daher müssen entsprechend ausgewählte Schulen und Unternehmen auch auf der Ebene der Hochschulbildung zusammenarbeiten. Die Arbeitgeber können nicht ruhig abwarten, dass die Schulen ihnen Absolventen nach Maß liefern. Die Arbeitgeber sollten sich ihren Kompetenzen entsprechend in die Gestaltung der Lehrpläne einbringen und das Ausstattungsniveau der Schulen erhöhen. Gleichzeitig muss jedoch die Autonomie der Schulen respektiert werden, die weitere wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen haben.

4.5

Unzureichende Kenntnisse in den MINT-Fächern werden sich einmal als größtes Hindernis für das Wirtschaftswachstum erweisen. Die Arbeitskräfte werden immer älter, und in einer Reihe der MINT-Berufe kommt es demnächst zu einem Generationswechsel, wenn die erfahrenen Mitarbeiter der Unternehmen in Rente gehen. Die Schulsysteme werden jedoch in den kommenden Jahren noch nicht so angepasst sein, dass Arbeitskräfte mit den dringend erforderlichen technischen Kenntnissen auf den Arbeitsmarkt entlassen werden können.

4.5.1

Daher müssen die Arbeitgeber gegen den Mythos ankämpfen, dass Kenntnisse in diesen MINT-Fächern keine Zukunft hätten. Sie müssen vielmehr nachweisen, dass ein Ausbau des Unterrichts in diesen Fächern in allen Schulformen gleichbedeutend ist mit besseren Chancen und mehr Flexibilität der Absolventen beim Aufbau ihrer künftigen beruflichen Laufbahn. Sie müssen besser darüber informieren, welche Qualifikationen künftig in den Unternehmen gebraucht werden, und sie müssen einen Beitrag zur lebenslangen Fortbildung der Lehrkräfte leisten (26).

4.5.2

Doch nicht nur in den Bildungssystemen selbst sind Mängel zu finden. Die Arbeitgeber müssen künftige Entwicklungen rechtzeitig erkennen, auf globale und technologische Herausforderungen reagieren, ihre Betriebe modernisieren und für Absolventen Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen, durch die Qualifikationen von Weltniveau erworben werden können.

4.5.3

Die Arbeitgeber sollten des Weiteren gegen die irrige Vorstellung angehen, dass Frauen für bestimmte Wirtschaftszweige nicht geeignet seien, und das Potenzial der Frauen besser nutzen, beispielsweise durch die Förderung der Laufbahnentwicklung von besonderen Talenten, die Betreuung durch Mentoren, Sponsorenverträge, Berufsbildungsmaßnahmen und Beispiele für bewährte Verfahrensweisen. Nach wie vor gibt es große Unterschiede zwischen den Bildungswegen der Frauen und denen der Männer. Immer noch sind Frauen in den MINT-Fächern nur unzureichend vertreten.

4.5.4

Zusammen mit den technischen Schulen schwinden auch die entsprechend ausgebildeten Berufsschullehrer. Daher ist es erforderlich, für eine ausreichende Zahl an Lehrkräften und Ausbildern Sorge zu tragen. Sie sollten mit den sich ändernden Anforderungen des Arbeitsmarktes vertraut und in der Lage sein, den Schülern technische Kenntnisse zu vermitteln. Lebenslanges Lernen und die Absolvierung von Praktika für Lehrkräfte und Ausbilder in Unternehmen sollten gefördert werden. Daher sollten die Arbeitgeber es geeigneten Interessenten aus den Reihen ihrer Beschäftigten ermöglichen, die Aufgaben einer innerbetrieblichen Lehrkraft für Auszubildende und Praktikanten zu übernehmen, und sie sollten dafür Sorge tragen, dass diese Interessenten entsprechend pädagogisch und psychologisch geschult werden.

4.6

Im Rahmen der Sozialpartnerschaft müssen die Arbeitgeber vor allem in die Erarbeitung der nationalen Strategien für lebenslanges Lernen und die Schaffung der Voraussetzungen zur Anerkennung der Ergebnisse nicht-formalen und informellen Lernens einbezogen werden. Fertigkeiten und Kompetenzen, die durch nicht-formale und informelle Bildung gewonnen wurden, sollten gefördert und anerkannt werden, um die Kapazitäten junger Menschen zu erhöhen und ihre Rolle auf dem Arbeitsmarkt zu stärken (27)  (28). In den Strategien für lebenslanges Lernen sollte im Einklang mit den Strategien zur Entwicklung des ländlichen Raums berücksichtigt werden, dass auch Interessenten aus ländlichen Gebieten Zugang zu Weiterbildung und Umschulung erhalten müssen.

4.6.1

Die Arbeitgeber erwarten vom Bildungssystem zu Recht, dass die Absolventen die Bereitschaft mitbringen, sich weiterzubilden, und dass sie über eine ausreichend breit angelegte Kompetenzgrundlage verfügen, damit ihre betriebliche Ausbildung weder langwierig noch kostspielig ist und gleichzeitig durch Fortbildungsmaßnahmen immer weiter vervollständigt werden kann.

4.6.2

Die Arbeitgeber müssen ihren Teil der Verantwortung für jenen Teil der beruflichen Ausbildung tragen, der betriebsspezifisch ist oder mit einer zeitlich begrenzten Nachfrage nach Qualifikationen für enger definierte Berufsbilder zusammenhängt.

4.6.3

Kleinstunternehmen, kleine Unternehmen und Handwerksbetriebe brauchen darüber hinaus ein dynamischeres und flexibleres Bildungssystem, das je nach den tatsächlichen Gegebenheiten sowohl auf die Bedürfnisse von Berufsanfängern als auch auf die älterer Arbeitnehmer reagieren kann, die an einer weiteren Ausbildung oder Schulung teilnehmen wollen oder müssen (lebenslanges Lernen).

4.6.4

Die geringe Resonanz auf das lebenslange Lernen ergibt sich auch aus der fehlenden Kohärenz zwischen der betrieblichen Ausbildung und den Grundsätzen der aktiven Beschäftigungspolitik einerseits sowie den gegenwärtigen Umschulungsmethoden und den Bedürfnissen der Arbeitgeber andererseits. Die Unzulänglichkeiten im Bereich der Fortbildung schränken die Möglichkeit zur Anpassung an das zunehmende Tempo des technologischen Wandels ein, der zu Veränderungen in der technischen Ausstattung der Betriebe führt und sich auch auf die relativen wirtschaftlichen Vorteile des Unternehmens gegenüber Konkurrenten auswirkt.

4.6.5

Eine ständige Zusammenarbeit der Arbeitgeber mit den Arbeitsverwaltungen ist unerlässlich. Die Kapazität, die Infrastruktur und die Methoden der Arbeitsverwaltungen sind ein wichtiges Element, um die Nachfrage nach Fortbildung zu unterstützen, und sie haben auch Auswirkungen auf das Fortbildungsangebot.

4.7

Um den Einfluss der Arbeitgeber auf die Effizienz des Bildungssystems, das für mehr Wachstum und Beschäftigung sorgen soll, zu erhöhen und um dieses System an die Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen, können je nach den gegebenen Möglichkeiten und den nationalen Gepflogenheiten ganz unterschiedliche Wege beschritten werden.

4.7.1

Im Rahmen der Sozialpartnerschaft arbeiten die Arbeitgeber entweder mit öffentlichen oder privaten Schulen in einer Region oder einer Gemeinde in Form gemeinsamer Foren von Schulen und Unternehmen oder regionaler bzw. brancheneigener Räte und Übereinkünfte zusammen, um Beschäftigung und Qualifikationen zu fördern, oder sie schließen sich zusammen, um schulische Einrichtungen und Ausbildungsstätten für Auszubildende zu gründen, oder sie richten ihre eigenen innerbetrieblichen Schulen oder Ausbildungsstätten ein.

4.7.2

Dies betrifft alle Wirtschaftsteilnehmer einschließlich Kleinstunternehmen, kleiner Unternehmen, Genossenschaften und Handwerksbetriebe. Diese Initiativen müssen also auf der Ebene, auf der sie ihre Wirksamkeit am stärksten entfalten, entwickelt und in Abstimmung mit den nationalen, regionalen und lokalen Behörden durchgeführt werden, denn es geht immer auch um die Wahrung des öffentlichen Interesses, die Mitwirkung an einer aktiven Beschäftigungspolitik und die Erhaltung anspruchsvoller und nachhaltiger Arbeitsplätze.

4.8

Einen wichtigen Bestandteil des Bildungsweges bilden Praktika in Unternehmen.

4.8.1

Für die Arbeitgeber ist das Praktikum eine Möglichkeit, den jungen Menschen Erfahrungen mit dem Arbeitsumfeld und den üblichen Abläufen zu vermitteln. Es liegt im Interesse der Unternehmen, jungen Menschen den Übergang vom Bildungssystem zum Arbeitsmarkt zu erleichtern, ihre Stellung als Praktikanten nicht zu missbrauchen, ihnen Arbeiten zu geben, die im Einklang mit den Zielen der praktischen Ausbildung stehen, und ihnen entsprechende Arbeitsbedingungen zu bieten.

4.8.2

Daher begrüßt der EWSA die Erstellung des Aktionsplans für die Beschäftigung junger Menschen im Rahmen des gemeinsamen Programms der europäischen Sozialpartner (29), in dem vor dem Hintergrund der gemeinsam festgelegten Prioritäten auch Praktika, Erfahrungen am Arbeitsplatz und Lehrlingsausbildung behandelt werden.

4.9

Die durch nicht-formales und informelles Lernens im Rahmen einer Freiwilligentätigkeit erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen können dazu beitragen, die Kreativität und Innovationskapazität der Arbeitskräfte zu erhöhen, was sich wiederum positiv auf ihre Beschäftigungsfähigkeit auswirkt und ihnen die Möglichkeiten zum Eintritt in den Arbeitsmarkt erleichtert. Im Rahmen ihrer Strategien zur sozialen Verantwortung fördern die Unternehmen die freiwillige Tätigkeit ihrer Beschäftigten. Das Fehlen eines Rechtsrahmens sowie von Instrumenten zur Bewertung und Anerkennung der durch eine Freiwilligentätigkeit erworbenen Qualifikationen, vor allem aber finanzielle und steuerliche Barrieren hindern die Arbeitgeber daran, die Freiwilligentätigkeit systematisch zu unterstützen (30).

5.   Der Beitrag der Arbeitgeber zur Anwendung der europäischen Instrumente auf nationaler Ebene

5.1

Die Arbeitgeber sind im Rahmen der Sozialpartnerschaft an der Konzipierung und Umsetzung gemeinsamer europäischer Grundsätze (Beratung, Identifizierung und Validierung nicht-formalen und informellen Lernens) und Instrumente (31) (EQR, ECVET, EQAVET, Europass) beteiligt. Diese Grundsätze und Instrumente zielen darauf ab, die Mobilität von Arbeitnehmern, Lernenden und Lehrenden innerhalb der verschiedenen Aus- und Weiterbildungsinstitutionen und zwischen den Ländern zu verbessern.

5.2

Die EU-Mitgliedstaaten haben den Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR)  (32) angenommen, in dem mittels verallgemeinerter Kenntnisse, Qualifikationen und Kompetenzen acht Qualifikationsniveaus definiert werden. Jeder Mitgliedstaat hat die Aufgabe, alle seine Qualifikationen einem dieser acht Niveaus zuzuordnen.

Die Arbeitgebervertreter können – beispielsweise mit Hilfe von Branchenbeiräten – gemeinsam mit weiteren Akteuren Qualifikationsbeschreibungen für die jeweiligen Arbeitsplätze in ihrer Branche erarbeiten. Diese nationalen Qualifikationsrahmen (-systeme) bzw. die in ihnen festgelegten Standards bilden die Grundlage für die Ausbildung und enthalten die Kriterien für die Anerkennung von Qualifikationen. Sie sind Ausgangspunkt für die Konzipierung der nationalen Bildungsprogramme für Sekundarschulen und der Programme weiterer Bildungseinrichtungen. Daran anknüpfend können nationale Berufsklassifizierungen erarbeitet werden, um die Anforderungen an die Ausübung der einzelnen Berufe auf dem Arbeitsmarkt zu verfolgen und zu erfassen. Die nationale Berufsklassifizierung wird damit zu einer wichtigen Informationsquelle auf dem Gebiet der Humanressourcen und der Berufsausbildung in all ihren Phasen.

5.3

Eine der in der Agenda für neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten vorgeschlagenen Maßnahmen bestand darin, bis Ende 2012 die europäische Klassifizierung für Fähigkeiten, Kompetenzen und Berufe (ESCO) als gemeinsam genutzte Schnittstelle zwischen den Bereichen Beschäftigung, allgemeine und berufliche Bildung fertig zu stellen. Das Projekt ESCO sollte die bestehenden nationalen und internationalen Branchenklassifikationen ersetzen oder ergänzen und sich zu einem Instrument entwickeln, dass die Schaffung dynamischer Arbeitsmärkte erleichtert, die durch einen reibungslosen Übergang insbesondere von einem Arbeitsplatz zum anderen bzw. von der Ausbildung in den ersten Beruf gekennzeichnet sind.

5.3.1

ESCO ist jedoch für Kleinstunternehmen und kleine Unternehmen nicht von Belang, da die ESCO-Standards implizieren, dass alle Personen, die einen bestimmten Beruf ausüben und über dieselben Qualifikationen verfügen, alle die gleichen Aufgaben erfüllen, ganz gleich, in welchem Unternehmen sie tätig sind. In der heutigen Zeit mit ihren sich rasch ändernden Arbeitsplatzanforderungen bedeuten Änderungen in der Technologie, bei den Kundenanforderungen, den Arbeitsabläufen und den zur Verfügung stehenden qualifizierten Arbeitskräften, dass die Aufgaben, die den Beschäftigten übertragen werden, von diesen eine gewisse Flexibilität bei der Ausübung ihrer Tätigkeit sowie die Bereitschaft abverlangen, ihre Arbeitsabläufe an die in stetigem Wandel begriffene technische und IKT-Welt anzupassen, in der die Unternehmen sich bewegen.

5.3.2

Arbeitgeber und Unternehmensverbände müssen die besonderen Bedürfnisse von Kleinstunternehmen und kleinen Unternehmen berücksichtigen und ihnen bei der Erstellung von Aufstellungen behilflich sein, aus denen die Arbeitsweise dieser Unternehmen, die sich durch eine größere Flexibilität und Dynamik auszeichnen, detailliert hervorgeht. Diese Verzeichnisse müssen gewährleisten, dass die Ergebnisse als Aufgaben und nicht als allgemeine Funktionen dargestellt werden. Die Planung der beruflichen Ausbildung und Qualifizierung kann dann auf den in diesen Verzeichnissen aufgeführten Aufgaben aufbauen und auf diese Weise einen klaren Prüfpfad vom Arbeitsplatz bis hin zu den Qualifikationen schaffen.

5.4

Die Arbeitgeber, Unternehmen und die übrigen Wirtschafsakteure sollten alle aus nationalen Quellen und aus den Strukturfonds der EU, insbesondere die aus dem ESF und dem Programm "Erasmus für alle" finanzierten Projekte nutzen. Im Rahmen der aktiven Beschäftigungspolitik rufen die Mitgliedstaaten gegenwärtig eine Reihe von Projekten ins Leben, um die Beschäftigung zu sichern, die Qualifikationen der Arbeitnehmer zu aktualisieren bzw. zu erhöhen und den Eintritt junger Leute in den Arbeitsmarkt zu fördern (33). Darüber hinaus gehen mit der Annahme des neuen mehrjährigen Finanzrahmens einige neue Programme zur Förderung von Bildung, Mobilität und Innovation an den Start (Erasmus für alle, Programm für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und für KMU – COSME, Horizont 2020).

6.   Perspektiven und Herausforderungen des dualen Ausbildungssystems in Europa

6.1

Europa setzt völlig zu Recht große Hoffnungen in die Förderung und Entwicklung des dualen Ausbildungssystems. Daher liegt es auf der Hand, dass die Mitgliedstaaten, die langfristig auf dieses System setzen, mit guten Ergebnissen aufwarten und eine Jugendarbeitslosigkeitsrate vorweisen können, die weit unter dem EU-Durchschnitt liegt (34).

6.2

In seiner Stellungnahme zum Beschäftigungspaket macht der EWSA deutlich, dass eine der Möglichkeiten zur Überbrückung der Kluft zwischen den Erfordernissen des Arbeitsmarktes, der Ausbildung und den Erwartungen junger Menschen darin besteht, die Entwicklung derartiger hochqualitativer Systeme zur Lehrlingsausbildung zu fördern.

6.3

In einer Studie der Europäischen Kommission über die Situation in der Lehrlingsausbildung in der EU (35) wird auch auf die Herausforderungen hingewiesen, auf die mit diesen Modellen der Berufsausbildung reagiert wird. Beispielsweise bringt ein rascher Übergang von der Schule zum Beruf nur vorübergehende Vorteile, doch auf lange Sicht treten die Beschäftigungsperspektiven weniger klar zutage. Weitere Fragen betreffen die "Übertragbarkeit" gewonnener Erfahrungen und Qualifikationen in ein anderes Unternehmen (derselben oder einer anderen Branche).

6.4

In der Studie wird auch darauf verwiesen, dass im Jahr 2008 als Folge der weltweiten Wirtschaftskrise die Zahl der Auszubildenden zugenommen, die Zahl der angebotenen Lehr- und Praktikumsstellen in einigen Mitgliedstaaten aufgrund des unsicheren Unternehmensklimas dagegen jedoch abgenommen hat. Dies ist ein Ansporn zur Mobilisierung aller Akteure und zur Wahrnehmung ihrer gemeinsamen Verantwortung, damit neue Lehrstellen in den Unternehmen geschaffen oder alternative staatliche geförderte Lösungen gefunden werden.

6.5

Die auf die konkrete Praxis auf nationaler Ebene bezogene Untersuchung von BUSINESSEUROPE (36) verdeutlicht den unterschiedlichen Ansatz bei der Schaffung von Modellen, um die Schulbildung mit der Wirklichkeit in den der Unternehmen zu verknüpfen. Die Untersuchung führte zu einer Reihe von Empfehlungen, darunter auch Empfehlungen an die Arbeitgeber selbst:

Sie sollten sich an der Steuerung des dualen Berufsausbildungssystems beteiligen und einen Beitrag dazu leisten, die entsprechenden Lehrpläne zu erstellen und jeweils rechtzeitig anzupassen, damit sie – auch vor dem Hintergrund der derzeitigen bürokratischen Hürden für Unternehmen – im Einklang mit den Anforderungen des Arbeitsmarktes stehen.

Die Unternehmen sollten informiert und dazu motiviert werden, sich am dualen Ausbildungssystem zu beteiligen. Es wäre ratsam, eine Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen zu organisieren.

6.6

Die Arbeitgeber begrüßen daher den Aufruf der Kommission zur Bildung dieser Allianz für Qualitätsförderung, für die Verbesserung des Ansehens und die Erhöhung der Attraktivität der Lehrlingsausbildung in Europa. Sie sind bereit, ihren Teil der Verantwortung für die Schaffung von Lehrstellen auf Grundlage des dualen Ausbildungssystems zu tragen, durch das die Schulbildung mit dem Unternehmensalltag verknüpft wird (37).

6.7

Die Förderung der Lehrlingsausbildung erleichtert den Arbeitgebern die Auswahl künftiger Bewerber auf neue Stellen und bietet darüber hinaus auch erhebliche wirtschaftliche Vorteile auf lange Sicht. Gleichzeitig ist sie ein Ausdruck sozialer Verantwortung.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  MINT-Fächer: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik.

(2)  Europäischer Qualifikationsrahmen.

(3)  Europäische Klassifizierung für Fähigkeiten, Kompetenzen und Berufe.

(4)  Europäisches Leistungspunktesystem für die Berufsausbildung; Dieses System trägt dazu bei, berufliche Qualifikationen und Kompetenzen nachzuweisen, anzuerkennen und zu sammeln.

(5)  Europäischer Fonds für regionale Entwicklung, Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums, Europäischer Sozialfonds.

(6)  COM(2010) 682 final, 23.11.2010, COM(2010) 477 final, 15.9.2010, COM(2010) 614 final, 28.10.2010 usw.

(7)  ABl. C 68, 6.3.2012, S. 1–10, ABl. C 318, 29.10.2011, S. 142–149, ABl. C 68, 6.3.2012, S. 11–14, ABl. C 132/55, 3.5.2011.

(8)  COM(2012) 727 final.

(9)  Rahmenvereinbarung über integrierte Arbeitsmärkte (2010) und Aktionsrahmen für die lebenslange Entwicklung von Kompetenzen und Qualifikationen (2002).

(10)  ABl. C 143, 22.5.2012, S. 94–101, ABl. C 318, 29.10.2011, S. 69–75, ABl. C 11, 15.1.2013, S. 65–70.

(11)  ABl. C 11, 15.1.2013, S. 65–70.

(12)  Der EWSA hat eine Reihe von Maßnahmen initiiert, die auf vorbildliche Beispiele für die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Unternehmen, für das Verhältnis der beruflichen Bildung zur Praxis sowie für die Unterstützung kleiner Unternehmen ausgerichtet sind: Nunc Thermo Fisher Scientific, Roskilde, Dänemark, 6.2.2012 – "Aus der Schule in die Arbeitswelt", Polytechnika Guarda, Portugal, 5.6.2012 – "Forum für das neue Jahrtausend". ESC Versaille, Frankreich, 29.8.2012 – Konferenz zum Thema "Die Jugend Europas: Hoffnung oder Entzauberung der neuen Generation?", oder Foren zur Unterstützung junger Unternehmer und Frauen als Unternehmerinnen.

(13)  COM(2010) 477 final, 15.9.2011.

(14)  COM(2012) 173 final, 18.4.2012.

(15)  "Empfehlung des Rates zur Validierung der Ergebnisse nichtformalen und informellen Lernens", COM(2012) 485 final, 5.9.2012.

(16)  "Neue Denkansätze für die Bildung: bessere sozioökonomische Ergebnisse durch Investitionen in Qualifikationen", COM(2012) 669 final.

(17)  "Berufliche Aus- und Weiterbildung für mehr Kompetenzen, Wachstum und Arbeitsplätze", SWD(2012) 375.

(18)  "Junge Menschen in Beschäftigung bringen", COM(2012) 727 final, inkl. SWD(2012) 406 zum Qualitätsrahmen für Praktika.

(19)  Am 5.12.2012 wurde die zweite Phase der Anhörung der europäischen Sozialpartner gemäß Art. 153 Abs. 5 AEUV eingeleitet.

(20)  Die Bildungsminister kamen am 10./11. Dezember 2012 in Berlin zusammen und verabschiedeten zur Förderung der Allianz ein Memorandum mit zehn konkreten Vorschlägen mit dem Ziel, die Attraktivität und Qualität der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu erhöhen und die Entwicklung des dualen Ausbildungssystems voranzutreiben.

(21)  "Aktionsplan für unternehmerische Initiative 2020 – Neubewertung des Unternehmergeistes in Europa", COM(2012) 795 final, 9.1.2013.

(22)  Eurofound – Europäisches Beobachtungsinstrument für Umstrukturierungen (ERM): Von Juli bis September 2012 wurden 274 Fälle von Umstrukturierung erfasst, durch die 105 076 Arbeitsplätze verlorengingen und 30 520 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden.

(23)  http://adult-learning-investment.eu/docs/BackgroundReport.pdf.

(24)  Workshop am 9./10. Oktober 2012 in Brüssel zur Attraktivität der beruflichen Aus- und Weiterbildung, Studie des Forschungsinstituts SKOPE, Universität Oxford; www.cedefop.org.

(25)  "Wachstum und Beschäftigung unterstützen – eine Agenda für die Modernisierung von Europas Hochschulsystemen", COM(2011) 567 final, 20.9.2012.

(26)  Vgl. die Publikation von BUSINESSEUROPE: "Plugging the skills gap: the clock is ticking" (Kompetenzlücke füllen: die Zeit läuft) aus dem Jahr 2011.

(27)  CEDEFOP: "Guidelines on validation of non-formal and informal learning [Leitlinien zur Anerkennung nicht-formalen und informellen Lernens]".

(28)  ABl. C 181, S. 154, 21.6.2012: "Der EWSA [plädiert] für eine operative und deutliche Definition des lebenslangen Lernens sowie für einen leichteren Zugang für jede Gruppe von Lernenden".

(29)  Gemeinsames mehrjähriges Programm der europäischen Sozialpartner 2012-2014, das auch die Erarbeitung eines Aktionsrahmens für die Beschäftigung junger Menschen enthält.

(30)  "Mitteilung zu EU-Politik und Freiwilligentätigkeit", COM(2011) 568 final, 20.9.2011.

(31)  EQR (Europäischer Qualifikationsrahmen), ECVET (Europäisches Leistungspunktesystem für die Berufsausbildung), EQAVET (Europäischer Bezugsrahmen für die Qualitätssicherung in der beruflichen Aus- und Weiterbildung), EUROPASS (eine Sammlung von Dokumenten zur Förderung der beruflichen und geografischen Mobilität).

(32)  Der jüngste Bericht (2012) über die Umsetzung des Bologna-Prozesses macht deutlich, dass nur die wenigsten EU-Mitgliedstaaten bereits vollumfänglich die dem Europäischen Qualifikationsrahmen entsprechenden innerstaatlichen Qualifikationen eingeführt haben.

(33)  In der Tschechischen Republik waren dies beispielsweise die Projekte: "Bildung ist eine Chance", "Bilden Sie sich fort für mehr Wachstum", "Praktikum in Unternehmen".

(34)  Beispiel für ein bewährtes Vorgehen: Gemeinsames Seminar der Ständigen Vertretung Österreichs bei der EU und der Wirtschaftskammer Österreichs (WKÖ): "Duales Ausbildungssystem: Das funktioniert" in Brüssel, 3.12.2012, als Beitrag der Arbeitgeber zur europäischen und nationalen Debatte über die Beschäftigungsperspektiven der Jugendlichen in Europa.

(35)  Studie der Europäischen Kommission: Apprenticeship supply in the Member States of the European Union, Januar 2012, IKEI Research & Consultancy, http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=738&langId=en.

(36)  Veröffentlichung von BUSINESSEUROPE: "Schaffung von Chancen für junge Menschen: Wie können die Attraktivität und das Image der Berufsausbildung verbessert werden", März 2012.

(37)  Auf globaler Ebene kann diese Verpflichtung ihren Ausdruck in einem gemeinsamen Projekt der Internationalen Arbeitgeberorganisation (IOE) mit dem Beratenden Wirtschafts- und Industrieausschuss (BIAC) finden: "Weltweite Allianz für Lehrlingsausbildung".


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/35


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Mitwirkung und Beteiligung der Arbeitnehmer als Grundpfeiler guter Unternehmensführung und ausbalancierter Wege aus der Krise“ (Initiativstellungnahme)

2013/C 161/06

Berichterstatter: Wolfgang GREIF

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 12. Juli 2012 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Mitwirkung und Beteiligung der Arbeitnehmer als Grundpfeiler guter Unternehmensführung und ausbalancierter Wege aus der Krise

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 26. Februar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 85 gegen 3 Stimmen bei 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung

1.1

Die Finanzkrise ist in den Unternehmen angekommen. Ihre Überwindung im Interesse aller davon betroffenen Gruppen, Investoren, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Regionen ("multistakeholder"-Ansatz), erfordert gemeinsame Anstrengungen und übereinstimmend empfundene Ziele (wie etwa langfristige Unternehmensentwicklung) und einen funktionieren sozialen Dialog in einem Klima des Vertrauens sowie eine positive Grundhaltung. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss möchte einen Anstoß geben, hier neue Wege zu beschreiten, auch was den europäischen Rahmen zur Unternehmensführung ("Corporate Governance") betrifft.

1.2

Der EWSA ist davon überzeugt, dass "gute" und in diesem Sinn auch "nachhaltige" Unternehmensführung auf den am Binnenmarkt bewährten rechtlichen Strukturen und Praktiken der Mitwirkung der Arbeitnehmer durch Unterrichtung, Anhörung, und wo anwendbar, auch der Mitbestimmung bauen muss.

1.3

Nachhaltigkeit soll dabei durch die Vereinbarkeit von ökonomischer Effizienz mit sozialen und ökologischen Zielen entstehen. Voraussetzung ist, dass ein Unternehmen als Institution begriffen wird, in der die verschiedenen Stakeholder zusammenwirken und in der alle Beteiligten gemeinsam nach einer dauerhaften Geschäftsperspektive, ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit und sozialem Ausgleich suchen und ihr Handeln danach ausrichten. Der EWSA bringt dafür das Unternehmensführungskonzept der "Sustainable Company" ins Gespräch. Dazu gehört es auch, dass "die Stimme" der Arbeitnehmer bei Unternehmensentscheidungen respektiert wird.

1.4

Unternehmen können mit diesem Konzept erfolgreich geführt werden, wenn ihre Unternehmensführung auf dem Prinzip der "Fair Relationship" zwischen Arbeitnehmern, dem Management und den Eigentümern beruht und somit allen Stakeholdern gesicherte Pfade eröffnet werden, zielführend und problemlösend, ohne in das Direktionsrecht des Managements eingreifen zu wollen, den Wandel mit zu gestalten. Dafür steht bereits heute ein Bündel an Instrumenten zur verbindlichen Beteiligung der Arbeitnehmervertretungen auf nationaler und europäischer Ebene zur Verfügung, die es effektiv zu nutzen gilt. Restrukturierungen im Unternehmen lassen sich auf diese Weise gerade in Krisenzeiten nachgewiesenermaßen besser bewältigen und antizipieren.

1.5

Um das vorgestellte Leitbild in der Praxis zu verankern und stark zu machen, sieht der EWSA auch die europäische Politik gefordert, im Rahmen ihrer Kompetenzen zur Gestaltung des Binnenmarktes entsprechende Anreize zu schaffen und den dafür notwendigen europäischen Rechtsrahmen zu verbessern, ohne in nationale Kompetenzen einzugreifen. In diesem Sinn unterbreitet der EWSA Vorschläge, das bestehende europäische Grundrecht der Arbeitnehmerbeteiligung im nationalen Recht umzusetzen sowie im europäischen Recht besser auszugestalten.

1.6

Dabei sollten die Mitwirkungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer an der strategischen Orientierung von Unternehmen ein durchgängiges Element des europäischen Gesellschaftsrechts werden, das nach den Plänen der EU-Kommission in nächster Zukunft zur Weiterentwicklung ansteht. Des Weiteren sollten die Bestimmungen zur obligatorischen Arbeitnehmermitwirkung im EU-Recht auf Basis erreichter Standards zusammengefasst und generalisiert werden sowie insbesondere die Definitionen zur Information, Anhörung und Beteiligung vereinheitlicht werden.

1.7

Eine vorläufig neue Etappe dieser Debatte markiert die Entschließung des EP vom 15.1.2013. Mit großer Mehrheit wird darin unter anderem ein Rechtsrahmen mit Mindeststandards bei Restrukturierungen gefordert, um soziale und wirtschaftliche Kosten zu minimieren und Antizipation zu fördern. Dazu sollen unter anderem Verpflichtungen zu einer strategischen Planung sowie zu präventiven Schritten in der Aus- und Weiterbildung gehören, Maßnahmen, die bei Restrukturierungen den Erhalt von Arbeitsplatz und Arbeitskraft verfolgen sowie Bestimmungen, die Unternehmen im Fall von Restrukturierungen zum präventiven Zusammenwirken mit regionalen Stellen (v.a. Verwaltung, Arbeitsmarktstellen) und lokalen Zulieferketten anhalten.

2.   Einleitung

2.1

Mit dieser Stellungnahme will der EWSA aufzeigen, wie Unternehmen und Investoren zusammen mit ihren Arbeitnehmern ausbalancierte und nachhaltige Wege aus der Finanz- und Wirtschaftskrise und der Bewältigung der Klimawende finden. Weiters wird dargestellt, welche gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen diese Akteure dafür brauchen und wo zu diesem Zweck unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Situationen und Regelungen auf nationaler Ebene auch der europäische Rechtsrahmen verbessert werden muss.

2.2

An langfristiger Entwicklung orientierte Unternehmensführung fußt auf rechtlich abgesichertem vertrauensvollem Dialog zwischen Management und Arbeitnehmern. Der EWSA sieht dafür einen tief in der Geschichte der europäischen Integration verankerten politischen Konsens zwischen Regierungen, Sozialpartnern und Zivilgesellschaft: Die obligatorische Beteiligung der Arbeitnehmer am Wirtschaftsgeschehen ist – wie auch in zahlreichen europäischen Richtlinien festgelegt – unverzichtbares Element gesellschaftlich verantwortlichen Wirtschaftens. Tausende Interessenvertreter in den Unternehmen und Betrieben Europas sowie rund 17 000 Interessenvertreter in rund 1 000 Europäischen Betriebsräten zeigen, dass dieses Prinzip beteiligungsorientierter Unternehmensführung in der Praxis gelebt wird.

2.3

Verschiedene, in unterschiedlichen historischen Phasen entstandene europäische Rechtsquellen spiegeln diesen politischen Konsens wider: Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer ist nicht nur auf nationaler Ebene – hier auch im KMU-Bereich – durch EU Recht vorgegeben (1), sondern auch auf transnationaler Ebene (2), wo darüber hinaus auch die mögliche Beteiligung der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene, Standard in Europäischen Aktiengesellschaften (SE) und Genossenschaften (SCE), zur Anwendung kommt (3). Zahlreiche weitere EU-Richtlinien (4), auch im Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie im Europäischen Gesellschaftsrecht, schreiben Unterrichtung und Anhörung vor. Artikel 27 der EU-Grundrechtecharta macht das individuelle Grundrecht auf Unterrichtung und Anhörung zu einem verbindlichen Bestandteil des Gemeinschaftsrechts. Die obligatorische Beteiligung der Arbeitnehmer am Wirtschaftsgeschehen gehört somit ohne Zweifel zur rechtlichen Grundausstattung von Europas Demokratie.

2.4

Es gilt, diese gefestigte und im wirtschaftlichen Alltag effiziente Ressource im Interesse des wirtschaftlichen Erfolgs, aber auch und besonders im Interesse des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Europa, für die Überwindung der gegenwärtigen Krise zu stärken. Denn Unternehmen, die nicht nur für ihre Investoren da sind, sondern auch einen Beitrag für die Gesellschaft erbringen sollen, sind heute Rahmenbedingungen ausgesetzt, die unsicherer geworden sind:

Wertschöpfungsketten sind wegen der notwendigen Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten transnationaler geworden. Unternehmen sind dadurch schwerer zu steuern. Restrukturierungen oder Verlagerungen sind für die Betroffenen, insbesondere für die Arbeitnehmer, schwerer nachvollziehbar.

Unternehmensfinanzierungen durch reine Finanzinvestoren sind vorwiegend auf kurzfristige Gewinnerzielung gerichtet und schränken die langfristige Zukunftsplanung in Unternehmen ein. Partnerschaftliche Vertrauensbeziehungen der Unternehmensleitungen mit ihren Arbeitnehmern werden dadurch enorm behindert.

Ambitionierte Klimaziele erfordern Innovation und grundsätzlich neue Produkte und Dienstleistungen. Das erzwingt einen oft radikalen Strukturwandel, der betroffene Arbeitnehmer und Unternehmen in große Anspannung versetzt und sie vor neuartige Gestaltungsaufgaben stellt.

Unterstützt durch europäisches Gesellschafts- und Finanzmarktrecht bewegen sich heute Unternehmen immer müheloser über nationale Grenzen hinweg am europäischen Binnenmarkt. Nationale Beteiligungsrechte in Unternehmensorganen und Praktiken vertrauensvoller Zusammenarbeit können dabei auf der Strecke bleiben, wenn sie nicht gleichermaßen über die nationalen Grenzen mitziehen.

2.5

All das unterstreicht die Notwendigkeit eines Korrektivs gegen die Aushebelung von Unternehmenswerten durch ein Kurzfristdenken. Es ist geboten, Wege der europäischen Politik aufzuzeigen, wie der derzeit vorherrschende Ansatz, einseitig Transparenz der Unternehmen für ihre Aktionäre zu schaffen, durch ein breiteres Verständnis des Unternehmens als "Sustainable Company" im Interesse einer langfristigen Unternehmensentwicklung überwunden werden kann (5).

2.6

Krisenbewältigung, langfristige Orientierung, gute Unternehmensführung, Fähigkeit zur Innovation und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf der Grundlage obligatorischer Beteiligungsrechte gehören zu ein- und demselben Kontext für die Zukunft Europas. Der EWSA schlägt vor, das Konzept der "Sustainable Company" als neues Leitbild in der europäischen Politik zu verankern und stark zu machen. Damit sollen neue Horizonte für Gesetzgebung sowie betriebliche und politische Maßnahmen geöffnet werden, um handelnden Praktikern Motivation und Orientierung zur Umsetzung nachhaltiger Unternehmensführung zu geben. Über die Elemente der "Sustainable Company" muss Einigkeit bestehen. Ihre konkrete Ausführung muss der jeweiligen Situation im Unternehmen entsprechen. Sie wird in der Praxis von Land zu Land variieren.

3.   Das Leitbild der "Sustainable Company"

3.1

Das Leitbild der "Sustainable Company" (6) ist geeignet, die Vorgaben der europäischen Politik in eine ganzheitliche Methode zur Unternehmensführung umzusetzen, in der ökonomische Effizienzziele mit sozialen und ökologischen Zielen in einem kohärenten Konzept kombiniert werden. Die "Sustainable Company" folgt dem Konzept, dass Unternehmen "soziale Organisationen" sind, in der "die Stimme" der Arbeitnehmer zu respektieren ist. Unternehmensentscheidungen werden dadurch für beide Seiten – und auch die Kunden – kalkulierbarer. Sie sind weniger anfällig für externe Interventionen, die lediglich auf kurzfristige Renditenerwartungen zielen.

3.2

Die "Sustainable Company" kann durch folgende Kernelemente beschreiben werden (7):

1)

Das Konzept bezieht sich auf einen "multi-stakeholder"-Ansatz: Besitzer eines Unternehmens wirken gemeinsam mit anderen wesentlichen Akteuren, wie Arbeitnehmer oder die Akteure der Region, in der das Unternehmen aktiv ist.

2)

Beschreibung von Unternehmenszielen und ihrer Umsetzung sind Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen von Arbeitnehmern und Management, ohne in das Direktionsrecht des Managements eingreifen zu wollen; dafür stehen verschiedenartige Formen der Arbeitnehmermitwirkung zu Verfügung, die sich in der Praxis bewährt haben.

3)

Die Unternehmensführung ist an Langfristigkeit orientiert. Die Zielbeschreibung des Unternehmens ist mit seinen Nachhaltigkeitszielen kohärent.

4)

Das Management benötigt für die Leitung einer "Sustainable Company" ein vollständiges Bild über das Unternehmen. Vorgaben für das System der Berichterstattung müssen verbindlich die verschiedenen Dimensionen nachhaltiger Unternehmensführung beinhalten (8).

5)

Die Vergütung von Managern und Führungskräften muss daran gebunden sein, Nachhaltigkeitsziele erfolgreich umsetzen zu wollen. Dazu gehören auch soziale Anstrengungen etwa beim Arbeits- und Gesundheitsschutz, der beruflichen Aus- und Weiterbildung oder der Chancengleichheit.

6)

Die "Sustainable Company" benötigt Investoren, die eher an langfristig orientierten Renditezielen interessiert sind.

3.3

Die "Sustainable Company" kann nur erfolgreich funktionieren, wenn sie einem besonderen Führungsprinzip folgt: Der "Fair Relationship": Für alle Beteiligten (Management, Arbeitnehmervertretung, Investoren und betroffene Regionen) wird die Möglichkeit eröffnet, zielführend und problemlösend, ohne in das Direktionsrecht des Managements eingreifen zu wollen, den Wandel von Unternehmen mit zu gestalten. Restrukturierung lässt sich auf diese Weise gerade in Krisenzeiten besser bewältigen und antizipieren.

3.4

Dieses Konzept der "Fair Relationship" fußt bei Verkäufen und Übernahmen auf bindenden Übereinkünften zwischen den betroffenen Parteien über langfristige Geschäftsperspektiven sowie die soziale Dimension, die soweit möglich den Erhalt von Standorten und Arbeitsplätzen von Unternehmen sicherstellt. Gerade auch beim Kaufen und Verkaufen von Unternehmen bzw. Unternehmensanteilen über nationale Grenzen hinweg und bei Umstrukturierungen gelten folgende Eckpunkte dabei als Grundlage:

ein nachvollziehbares langfristig angelegtes betriebswirtschaftliches und industrielles Konzept,

verbindliche Zusicherungen über Investitionen, Erhalt von Standorten und Beschäftigung,

bei Restrukturierungen Prüfung aller Alternativen zu Entlassungen,

den Erhalt bereits erworbener sozialer Errungenschaften und Kollektivverträge,

die Möglichkeit der Überprüfung, ob die Vereinbarungen und Zusagen auch umgesetzt werden.

3.5

Die Verwirklichung der "Sustainable Company" und die verbindliche Mitwirkung der Arbeitnehmer durch Unterrichtung, Anhörung und, wo vorhanden, auch die Beteiligung in Unternehmensorganen auf nationaler und transnationaler Ebene gehen Hand in Hand. Die Erfahrung hat in diesem Sinn auch gezeigt, dass Länder mit starken Beteiligungsrechten der Arbeitnehmer und funktionierenden Beziehungen zwischen den Sozialpartnern besser aus der letzten Krise herauskamen als andere. Deren Nutzung zur langfristigen Unternehmensentwicklung setzt voraus, dass die europäische Politik im Rahmen ihrer Kompetenz zur Gestaltung des Binnenmarktes entsprechende Anreize und rechtliche Verpflichtungen im Rahmen der Corporate Governance setzt.

4.   Europäischer Handlungsbedarf – Politische Empfehlungen

4.1   Rechtsrahmen im Geist nachhaltiger Unternehmensführung verbessern

4.1.1

Arbeit, Investitionen und Unternehmertum müssen sich in Europa lohnen. Die "Sustainable Company" bietet dafür das geeignete Leitbild. Sie verfolgt gleichermaßen langfristig ökonomische, soziale und ökologische Ziele. Ein solches Unternehmen wird nach dem Prinzip der "Fair Relationship" geleitet, in der Wandel als herausfordernde und lohnende unternehmerische Aufgabe angesehen wird und dabei die sozialen Errungenschaften und Rechte ihrer Arbeitnehmer nicht in Frage gestellt werden.

4.1.2

Der EWSA sieht die europäische Politik gefordert, weiterhin die Basis für das Zusammenwirken der wichtigsten Gruppen der Ökonomie zu stärken und würde es begrüßen, wenn die EU-Kommission neuerlich aktiv wird, um aufbauend auf den erreichten Standards der Arbeitnehmerbeteiligung in Europa, die Rechte der Arbeitnehmer und ihrer Vertretungen den Realitäten im europäischen Binnenmarkt anzupassen und zu festigen. Dazu gehören auch gesetzgeberische Initiativen, um die Handlungsgrundlagen für die Praktizierung des skizzierten neuen Leitbilds zu verbessern.

4.1.3

Unternehmen, in denen das "Fair Relationship"-Prinzip Praxis ist, können den strukturellen Wandel besonders gut antizipieren und gestalten. Es ist daher auch ein Gebot ökonomischer Vernunft, die Beteiligung der Arbeitnehmer an der Gestaltung und der Antizipation des Wandels zu stärken. Der europäische Rechtsrahmen muss dafür verbessert werden. Im Sinne der Nachhaltigkeitsstrategie der EU-2020-Strategie würde mit solchen Maßnahmen das Zusammenwirken der wichtigsten Gruppen der Ökonomie im Interesse der europäischen Demokratie und erfolgreichen Konkurrenzfähigkeit der europäischen Wirtschaft gefördert werden.

4.2   Europäische Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zusammenfassen und umsetzen

4.2.1

Um die Niederlassungsfreiheit und die Mobilität von Unternehmen innerhalb des Binnenmarktes zu verbessern, wird kontinuierlich das europäische Gesellschaftsrecht ausgebaut. Zunehmend werden Regeln für Unternehmensführung (corporate governance) auf europäischer Ebene geschaffen. Der EWSA sieht die europäische Politik gefordert, in der europäischen Rechtsetzung allen relevanten Wirtschaftsakteuren (Unternehmen, Investoren und Arbeitnehmern) denselben Stellenwert für ihr Handeln auf nationaler und transnationaler Ebene einzuräumen (9). Der durch die EU-Kommission angekündigte "Fitness-Check" europäischer Richtlinien zur obligatorischen Arbeitnehmerbeteiligung darf nicht als Alibi für unterlassene substanzielle politische Initiativen dienen. In diesem Kontext schließt sich der EWSA der Sicht des Europäischen Parlaments an, wonach es neuer politische Anstrengungen mit dem Ziel bedarf, die Beteiligungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer auf transnationaler Ebene am Arbeitsplatz und im Unternehmen zu stärken.

4.2.2

In diesem Zusammenhang ist es für den EWSA notwendig, das europäische Grundrecht der Arbeitnehmerbeteiligung im nationalen Recht umzusetzen sowie im europäischen Recht besser auszugestalten, insbesondere sind die Bestimmungen zur obligatorischen Arbeitnehmermitwirkung in der europäischen Rechtsetzung auf der Basis des bereits Erreichten zusammenzufassen (10).

Das Europäische Parlament hat kürzlich eine Studie in Auftrag gegeben, in der vorgeschlagen wird, die EU-Rahmenrichtlinie zur Unterrichtung und Anhörung (2002/14/EG) generell um eine Beteiligung von Arbeitnehmervertretungen in Unternehmensorganen zu ergänzen.

Bereits bestehende Richtlinien zur Mitwirkung von Arbeitnehmern im Fall von Betriebsübergängen und Übernahmen (11), zu den Standards für Unterrichtung und Anhörung (12), zur Errichtung Europäischer Betriebsräte (13) und zur Beteiligung der Arbeitnehmer an der Europäischen Gesellschaft/Europäischen Genossenschaft (SE/SCE) (14) entstanden zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Der EWSA regt an, ernsthaft zu prüfen, inwiefern eine Konsolidierung in einer Europäischen Rahmenrichtlinie zumindest eine Vereinheitlichung der unterschiedlichen Definitionen zur Information und Konsultation, sowie wo vorhanden auch zur Beteiligung in Unternehmensorganen voranbringen könnte.

4.2.3

Solche Maßnahmen würden den europäischen Rechtsrahmen verbessern. Es würde einfacher, in Europa zu investieren, zu produzieren und zu arbeiten. Der EWSA begrüßt daher diese Empfehlungen ausdrücklich und erwartet ein baldiges Aktivwerden der Europäischen Institutionen zur Umsetzung dieser Vorschläge.

Bestehende obligatorische Mitwirkungsrechte würden damit auch bei künftiger Rechtsetzung standardmäßig generalisiert und wären in nationales Recht umzusetzen (15). Damit gäbe es mehr Rechtssicherheit für Unternehmen.

Damit könnte auch der notwendigen Kohärenz im europäischen Rechtsbestand zum Durchbruch verholfen werden. Denn das Prinzip der Arbeitnehmermitwirkung hat sich in mehreren EU-Richtlinien niedergeschlagen. Sie sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden und enthalten voneinander abweichende Definitionen von Unterrichtung, Anhörung sowie wo vorhanden auch von Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Unternehmensorganen.

4.2.4

Der EWSA tritt für eine Konsolidierung der Bestimmungen zur Arbeitnehmermitwirkung im gesamten EU-Rechtsbestand ein, wobei den jeweiligen Themen Rechnung zu tragen ist. Hinsichtlich des Gehalts dieser Rechte müssen folgende Rechtsakte als Maßstab gelten: die neugefasste Richtlinie 2009/38/EG zu den Europäischen Betriebsräten (insbesondere in Bezug auf die Definition von Unterrichtung und Anhörung sowie Strukturänderungen) sowie die Rahmenrichtlinie 2002/14/EG zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gesellschaft (bezüglich der Mitbestimmung in Unternehmensorganen).

4.2.5

Bei all diesen Maßnahmen muss europäisches Recht aus Sicht des EWSA bestehende nationale Mitwirkungsrechte und bestehende europäische Bestimmungen absichern und festigen. Das betrifft besonders die Partizipation von Arbeitnehmern in Unternehmensorganen. Allerdings wäre es angesichts der Vielfalt der Situationen und der unterschiedlichen Regelungen auf nationaler Ebene nicht ratsam und kontraproduktiv, ein einheitliches europäisches Modell der Arbeitnehmerbeteiligung einzuführen.

Europäisches Recht, das den grenzübergreifenden Wechsel des Unternehmenssitzes bzw. Zusammenschlüsse regelt, sowie europäische Gesellschaftsformen schafft, darf nicht zur "Flucht aus der Unternehmensmitbestimmung" führen.

Es gibt gute Gründe für eine generelle Einführung obligatorischer Beteiligung von Arbeitnehmern als Standardausstattung im Europäischen Gesellschaftsrecht, wobei das jeweils unterschiedliche nationale Unternehmensrecht zu berücksichtigen ist.

4.3   Mindeststandards bei Restrukturierungen verbindlich festlegen

4.3.1

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Intensität an Umstrukturierungen (16) und eines aggressiver gewordenen Umfelds der Unternehmensfinanzierung sind aus Sicht des EWSA auf nationaler und europäischer Ebene innovative Wege gefordert, die einerseits die Offenheit und Attraktivität Europas für Investoren signalisieren, anderseits aber auch – wie in der Stellungnahme des Ausschusses zum Grünbuch "Umstrukturierung und Antizipierung von Veränderungen" betont – sowohl Unternehmen als auch Beschäftigte auf die Bewältigung neuer Herausforderungen vorbereiten, um negative soziale Folgen des Wandels zu minimieren und die Aussichten auf eine erfolgreiche Umstrukturierung zu maximieren (17).

4.3.2

Die Finanzkrise hat gezeigt, dass ein neuer Ansatz nötig ist, um in Unternehmen das Ziel einer nachhaltigen Wertschaffung gegenüber einem kurzfristorientierten Gewinnstreben in den Vordergrund zu rücken. Für eine wirksame Antwort der Politik auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit Umstrukturierungen ist ein integrierter Ansatz unter Einbeziehung mehrerer Politikbereiche (z.B. Beschäftigung, Bildung, Innovation und Industriepolitik) erforderlich. Dabei sind auch die Interessen von Arbeitnehmern zu berücksichtigen, wenn diese von Unternehmensentscheidungen betroffen sind. Das Konzept der "Sustainable Company" ist an Langfristigkeit orientiert und gibt eine praktisch umsetzbare Antwort auf diese Anforderung der europäischen Politik, Unternehmen bei der Schaffung eines "nachhaltigen Wachstums" zu unterstützen.

4.3.3

Den Wandel antizipieren, das geht aus Sicht des EWSA nur, wenn ein Klima des gegenseitigen Vertrauens geschaffen wird und sowohl die Sozialpartner als auch die organisierte Zivilgesellschaft konsequent einbezogen werden (18). Dazu gehört auch, dass Arbeitnehmer im Vorfeld von Unternehmensentscheidungen mitwirken können, indem sie ihre Unterrichtungs- und Anhörungsrechte wahrnehmen und für effektive Problemlösungen im lokalen Kontext nutzen (19). Die Richtlinie über Europäische Betriebsräte von 2009 räumt in diesem Sinn übrigens auch die zeitgerechte Mitwirkung an grenzüberschreitenden Angelegenheiten ein.

4.3.4

Der angemessene Umgang mit Restrukturierung ist Gegenstand bereits lang anhaltender Debatten auf europäischer Ebene, an der sich neben der Kommission vor allem die europäischen Sozialpartner und das Europäische Parlament sowie der EWSA intensiv beteiligen.

4.3.5

Eine vorläufig neue Etappe dieser Debatte markiert die Entschließung des EP vom 15.1.2013. Mit großer Mehrheit wird darin unter anderem ein Rechtsrahmen mit Mindeststandards bei Restrukturierungen gefordert, um soziale und wirtschaftliche Kosten zu minimieren und Antizipation zu fördern (20). Dazu sollen unter anderem Verpflichtungen zu einer strategischen Planung sowie zu präventiven Schritten in der Aus- und Weiterbildung gehören, Maßnahmen, die bei Restrukturierungen den Erhalt von Arbeitsplatz und Arbeitskraft verfolgen sowie Bestimmungen, die Unternehmen im Fall von Restrukturierungen zum präventiven Zusammenwirken mit regionalen Stellen (v.a. Verwaltung, Arbeitsmarktstellen) und lokalen Zulieferketten anhalten.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Richtlinie 2002/14/EG.

(2)  Richtlinie 2009/38/EG zum Europäischen Betriebsrat.

(3)  Richtlinien 2001/86/EG und Richtlinie 2003/72/EG (zur Arbeitnehmerbeteiligung in der SE/SCE).

(4)  U.a. Richtlinie 77/187/EWG (Massenentlassung) und die Richtlinie 2001/23/EG (Betriebsübergang).

(5)  Siehe auch: Barnier, Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistung: "We need to reduce harmful short-term tendencies. Sound corporate governance can help achieving this." Rede zur Eröffnung der 11. European Corporate Governance Conference, Warschau, 15.11.2011.

(6)  Vitols, Sigurt /Norbert Kluge (Hg.) (2011): The Sustainable Company: a new approach to corporate governance. Brüssel, ETUI.

(7)  Vgl. Vitols, S. (2011): "What is the Sustainable Company?", in: Vitols, S. und N. Kluge (Hg.): The Sustainable Company: a new approach to corporate governance. Brüssel, S. 15-37.

(8)  Als ambitioniertes Beispiel ist der Nachhaltigkeitsbericht 2011 der Volkswagen AG; http://www.volkswagen.de/de/Volkswagen/nachhaltigkeit.html.

(9)  Vgl. Europäisches Parlament (2012): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14.6.2012 zur Zukunft des europäischen Gesellschaftsrechts.

(10)  Siehe auch EP 2012/2061.

(11)  (Richtlinie 2001/23/EG).

(12)  (Richtlinie 2002/14/EG).

(13)  (Richtlinie 2009/38/EG).

(14)  (Richtlinie 2001/86/EG, und Richtlinie 2003/72/EG).

(15)  Siehe auch die Studie: Relations between company supervisory bodies and the management. National systems and proposed instruments at the EU level with a view to improving legal efficiency. (Europäisches Parlament (2012) PE PE 462.454), http://www.europarl.europa.eu/committees/en/juri/studiesdownload.html?languageDocument=EN&file=75509.

(16)  Eurofound 2012, Bericht des "European Restructuring Monitor" (ERM): After restructuring: labour markets, working conditions and life satisfaction.

(17)  Stellungnahme des EWSA vom 11.7.2012 zu dem Thema "Umstrukturierung und Antizipierung von Veränderungen", (ABl. C 299 vom 4.10.2012), Punkt 1.3.

(18)  Stellungnahme des EWSA vom 11.7.2012 zu dem Thema "Umstrukturierung und Antizipierung von Veränderungen", (ABl. C 299 vom 4.10.2012), Punkt 1.3.

(19)  Europäische Sozialpartner: Orientierungsleitfaden für die Bewältigung des Wandels und dessen soziale Konsequenzen, verabschiedet am 16.10.2003

http://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=2750&langId=en.

(20)  Entschließung des Europäischen Parlamentes vom 15.1.2013 mit Empfehlungen an die Kommission zur Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern, Antizipation und Management von Umstrukturierungen, P7_TA-PROV(2013)005.


6.6.2013   

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Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/40


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses: „Der soziale Dialog in den Ländern der Östlichen Partnerschaft“ (Initiativstellungnahme)

2013/C 161/07

Berichterstatter: Veselin MITOV

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 18./19. Januar 2012 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Der soziale Dialog in den Ländern der östlichen Partnerschaft.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 21. Februar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 91 Ja-Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Ausschuss unterstützt die Östliche Partnerschaft, deren Ziel es ist, zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der östlichen EU-Nachbarstaaten beizutragen, demokratische Institutionen zu festigen und eine gemeinsame Basis von Normen und Werten zu fördern, die für das gemeinsame europäische Projekt von grundlegender Bedeutung sind.

Er weist unter diesem Gesichtspunkt auf die Bedeutung der Teilnahme der Zivilgesellschaft sowie die unverzichtbare Rolle des sozialen Dialogs hin, an dem die Sozialpartner (Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften) mitwirken, um nach Lösungen zu suchen, die den unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Interessen von Unternehmen und Arbeitnehmern gerecht werden.

1.2

Der Ausschuss unterstreicht den besonderen Charakter des sozialen Dialogs, der auf den verschiedenen Ebenen sowie in den verschiedenen Bereichen zu führen ist, in denen die Sozialpartner berechtigte Interessen geltend machen können. Er muss parallel und ergänzend zum bürgerschaftlichen Dialog stattfinden, dessen Ziel die Förderung der partizipativen Demokratie im weiteren Sinne ist. Der Ausschuss weist darauf hin, dass sowohl der soziale als auch der bürgerschaftliche Dialog auf der Unabhängigkeit der Sozialpartner und der zivilgesellschaftlichen Organisationen beruhen, und fordert die Wahrung dieser Unabhängigkeit als eines der Menschenrechte und sozialen Grundrechte, wie sie von internationalen und europäischen Organisationen definiert wurden.

1.3

Der Ausschuss fordert, dass die Einhaltung dieser Grundrechte, insbesondere der Versammlungsfreiheit und des Rechts auf Tarifverhandlungen, im Rahmen der Östlichen Partnerschaft umfassend berücksichtigt wird. Er fordert die betreffenden Länder auf, die erforderlichen Anstrengungen zu unternehmen, um bei der Übernahme europäischer und internationaler Normen, wie sie in der Charta der Grundrechte der EU, der Europäischen Sozialcharta (des Europarates) und von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) festgelegt wurden, sowie bei der Umsetzung eines "sozialen Rechtsstaates" Fortschritte zu erzielen. Die Einhaltung dieser Normen muss deshalb zu den Kriterien gehören, die bei der Ausarbeitung und Bewertung der Assoziierungsabkommen förmlich festgelegt werden. Die Östliche Partnerschaft könnte sich dabei an der Vorgehensweise der Kommission bei der Ausarbeitung des Allgemeinen Präferenzsystems (APS+) auf Handelsebene orientieren.

1.4

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Östliche Partnerschaft wirksam zur Stärkung des sozialen Dialogs in den Partnerländern beitragen sollte, und fordert zu diesem Zweck, die bestehenden Konzertierungsstrukturen sowohl bei der Vorbereitung als auch bei der Bewertung der Assoziierungsabkommen regelmäßig zu konsultieren. Der Ausschuss verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass sich die von der Östlichen Partnerschaft vorgeschlagenen Aktionspläne auf eine Reihe von energiepolitischen Themen, verschiedene Bereiche des wirtschaftlichen Lebens und die Rolle der öffentlichen Dienstleistungen erstrecken, die die Interessen der Arbeitnehmer und der Wirtschaftsakteure ganz unmittelbar betreffen und eine Konzertierung nicht nur auf wirtschaftspolitischer Ebene generell, sondern auch in den unterschiedlichen Sektoren und betroffenen Gebieten rechtfertigen.

1.5

Der Ausschuss begrüßt den Beschluss des Forums der Zivilgesellschaft, eine fünfte Arbeitsgruppe für den sozialen Dialog einzurichten, die zum ersten Mal im November 2012 in Stockholm zusammengekommen ist.

1.6

Der Ausschuss fordert die Überprüfung der Geschäftsordnung und der Kriterien für die Auswahl der zivilgesellschaftlichen Organisationen des Forums der Zivilgesellschaft, so dass Vertreter der Sozialpartner entsprechend den von ihren Organisationen in den jeweiligen Ländern vertretenen Inhalten teilnehmen können. Er unterstreicht, dass die Repräsentativität des Forums der Zivilgesellschaft und seine Legitimität als Gesprächspartner der an der Östlichen Partnerschaft teilnehmenden nationalen und europäischen Stellen durch eine ausgewogene Vertretung der Sozialpartner und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen (unter Bezugnahme auf die drei Gruppen des Ausschusses) gestärkt würde.

1.7

Der Ausschuss spricht sich für eine Koordinierung zwischen dem Forum, seinen nationalen Plattformen und den nationalen Gremien für den sozialen Dialog aus, damit unnötiger und hinderlicher Wettbewerb zwischen ihnen vermieden wird. Die in den nationalen Plattformen organisierten Vertreter der Sozialpartner könnten die Beziehungen zwischen diesen Plattformen und den bestehenden zwei- oder dreigliedrigen Strukturen sicherstellen.

1.8

Der Ausschuss schlägt vor, innerhalb der Östlichen Partnerschaft ein Fachgremium für das Thema Sozial- und Beschäftigungspolitik einzurichten. Dieses Fachgremium sollte unter der Leitung der GD Beschäftigung, Soziales und Integration der Kommission stehen und sich zunächst damit befassen, ein systematisches Programm umzusetzen, mit dem der Austausch zwischen der EU und den Partnerländern über die von der thematischen Plattform II (Wirtschaftliche Integration und Konvergenz mit der EU-Politik) für die Sozial- und Beschäftigungspolitik aufgestellten Ziele gefördert und bewährte Verfahren in diesem Bereich ermittelt werden. Langfristig könnte dieses Fachgremium nach Auffassung des Ausschusses zu einer thematischen Plattform ausgebaut werden. Diese fünfte Plattform würde es gestatten, Fragen der Sozial- und Beschäftigungspolitik umfassend zu behandeln und sie damit im Hinblick auf ihre Bedeutung den anderen vier Prioritäten der Östlichen Partnerschaft gleichzustellen.

1.9

Der Ausschuss begrüßt die Einrichtung einer Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft und eines Europäischen Fonds für Demokratie und fordert, letzteren schnellstmöglich ins Leben zu rufen. Es ist ihm ein Anliegen, dass die Mittel dieser Fonds durch Festlegung objektiver und transparenter Kriterien wirklich zur Stärkung der Zivilgesellschaft und ihrer Arbeit, insbesondere zur Stärkung des sozialen Dialogs in den betreffenden Ländern, beitragen. Im Rahmen der Programme dieser Fazilität könnte auch eine Studie über die Situation des sozialen Dialogs in den einzelnen Ländern finanziert werden, die es gestattet, die Ziele und Indikatoren für Fortschritte beim sozialen Dialog zu bestimmen. Zudem fordert der Ausschuss für die Länder der Östlichen Partnerschaft ein umfassendes Programm nach dem Vorbild der Initiative für den sozialen Zusammenhalt in den Ländern Südosteuropas.

2.   Die Östliche Partnerschaft und der Beitrag der Zivilgesellschaft: Vorgeschichte

2.1

Die Östliche Partnerschaft wurde zur Vertiefung der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) mit Blick auf die östlichen Nachbarländer der EU (Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Republik Moldau, Ukraine) ins Leben gerufen, um zur politischen Assoziierung und zur wirtschaftlichen Integration der sechs Partnerländer beizutragen (1). Sie ist damit vergleichbar der Union für den Mittelmeerraum, die den Ausbau der ENP gegenüber den südlichen Nachbarstaaten der EU zum Ziel hat. Die Östliche Partnerschaft wurde am 7. Mai 2009 in Prag anlässlich des Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs der sechs Partnerländer, der Vertreter der EU und der Mitgliedstaaten offiziell ins Leben gerufen.

2.2

Mit der Östlichen Partnerschaft werden zwei Strategien verfolgt: Erstens soll auf "bilateraler Ebene […] eine engere Beziehung zwischen der EU und jedem der Partnerländer geschaffen werden" und zweitens soll auf multilateraler Ebene ein neuer Rahmen "zur Bewältigung der gemeinsamen Herausforderungen" geschaffen werden. Die Kommission hat zu diesem Zweck vier thematische Plattformen vorgeschlagen, an denen Vertreter der Partnerländer sowie der EU-Mitgliedstaaten und deren Organe teilnehmen und die folgende Themen behandeln sollen: (1) Demokratie, verantwortungsvolle Regierungsführung und Stabilität; (2) wirtschaftliche Integration und Konvergenz mit der EU-Politik; (3) Energieversorgungssicherheit und (4) direkte Kontakte zwischen den Menschen. Zudem sind zu der vorgeschlagenen Strategie Vorreiterinitiativen und Programme für den Institutionenaufbau vorgesehen.

2.3

"Neben Vertretern der Regierungen und der Europäischen Kommission" sollen an der Arbeit der Östlichen Partnerschaft "andere EU-Institutionen, internationale Organisationen (wie die OSZE und der Europarat), internationale Finanzinstitutionen, Parlamente, Unternehmensvertreter, lokale Behörden und viele verschiedene in den Arbeitsbereichen der thematischen Plattformen tätige Akteure" beteiligt werden (2). Ebenfalls vorgeschlagen wurde die Einrichtung eines zivilgesellschaftlichen Forums, durch das die Kontakte der zivilgesellschaftlichen Organisationen untereinander gefördert und ihr Dialog mit den öffentlichen Behörden erleichtert werden sollten.

2.4

Dieses Forum der Zivilgesellschaft sollte für die Mitwirkung eines breiten Spektrums von Akteuren sorgen und Gewerkschaften, Arbeitgeberorganisationen, Berufsverbände, NGO, Think-tanks, gemeinnützige Stiftungen, zivilgesellschaftliche Organisationen, nationale und internationale Netzwerke sowie andere geeignete zivilgesellschaftliche Akteure umfassen (3). Nach einem von Kommission und Rat organisierten Verfahren zur Auswahl der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die an einer Teilnahme interessiert waren, trat das Forum der Zivilgesellschaft im November 2009 in Brüssel zum ersten Mal zusammen. Bei diesem Treffen gab sich das Forum eine Geschäftsordnung, legte seine Arbeitsmodalitäten fest und wählte einen Lenkungsausschuss. Seitdem tritt das Forum jedes Jahr zu seiner Vollversammlung zusammen (Berlin: November 2010, Posen: November 2011, Stockholm: November 2012) und hat im Hinblick auf die Dezentralisierung seiner Aktionen auf der Ebene der sechs Partnerländer die Einrichtung nationaler Plattformen vorangetrieben.

2.5

Die Östliche Partnerschaft, die der Ausschuss von Beginn an unterstützt hat (4), besteht inzwischen seit vier Jahren und hat zahlreiche außerordentlich wichtige Reformen in den Bereichen Wirtschaft, Handel, Energie und freier Personenverkehr unterstützt. Mit Blick auf den Beitrag der Zivilgesellschaft zur Östlichen Partnerschaft, vor allem in Form des Forums der Zivilgesellschaft, bedauert der Ausschuss die abnehmende Beteiligung der Vertreter der Zivilgesellschaft der EU-Mitgliedstaaten an der Arbeit des Forums der Zivilgesellschaft und fordert, dass sowohl im Forum als auch in der Kommission Maßnahmen geprüft und ergriffen werden, um diesem Misstand abzuhelfen. In seiner Stellungnahme vom 16. Juni 2011 (5) bedauerte der Ausschuss zudem, dass Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und andere Verbände aus Wirtschaft und Gesellschaft (z.B. der Landwirte, Verbraucher und KMU) auf nationaler Ebene nicht oder nur geringfügig in die Tätigkeit des Forums der Zivilgesellschaft einbezogen werden.

2.6

Der Ausschuss übernahm somit bestimmte Anliegen, die bereits mehrfach von europäischen und internationalen Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften geäußert worden waren. Der damalige Präsident des Ausschusses, Mario Sepi, verwies in einem Schreiben vom Mai 2010 an den Lenkungsausschuss des Forums der Zivilgesellschaft darauf, dass der Begriff "Zivilgesellschaft" nicht nur NGO und lokale Basisorganisationen umfasst, sondern auch die Arbeitsmarktparteien (Gewerkschaften und Arbeitgeber) und Vertretungsorganisationen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich, die nicht Sozialpartner im engeren Sinn sind (z.B. Verbraucherorganisationen) (6).

2.7

Als Reaktion hierauf erklärte sich das Forum damit einverstanden, erstens die Regeln für die Auswahl der zivilgesellschaftlichen Organisationen etwas zu lockern, da die Teilnahme von Organisationen an Versammlungen des Forums auf zwei Mandate von jeweils einem Jahr beschränkt war und dies längerfristig zum Ausschluss der aktivsten Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften führen würde, und zweitens eine fünfte Arbeitsgruppe einzurichten, die sich mit dem sozialen Dialog befassen und ohne Ausnahme für Vertreter von Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften offen sein soll. Diese Arbeitsgruppe wurde auf der Vollversammlung des Forums im November 2012 in Stockholm einrichtet.

2.8

Das Forum der Zivilgesellschaft hat sich auf seiner Vollversammlung im November 2011 (Posen) bereits mit der Frage beschäftigt, wie seine Position gefestigt und seine Arbeit ausgebaut werden können. Es wurde beschlossen, zum einen eine Vereinigung mit anerkanntem Rechtsstatus ins Leben zu rufen, die dem Forum die Teilnahme an den Kooperationsprogrammen ermöglicht, die die Kommission für die Östliche Partnerschaft geöffnet hat, und zum anderen für die Koordinationsaufgaben des Forums ein ständiges Sekretariat einzurichten. Überdies hat das Forum die Bereitstellung einer Fazilität zur Unterstützung der Zivilgesellschaft und der zivilgesellschaftlichen Organisationen gefordert. Eine weitere Forderung war die uneingeschränkte und vollberechtigte Teilnahme seiner Vertreter an den verschiedenen Aktivitäten der Östlichen Partnerschaft – angefangen von den Sitzungen der multilateralen Plattformen bis hin zu Ministertreffen.

3.   Wechselseitige Ergänzung des sozialen Dialog und des Dialogs mit der Zivilgesellschaft

3.1

Der soziale Dialog ist der direkte Dialog zwischen den Vertreterorganisationen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bzw. der Dialog zwischen diesen beiden einerseits und der Regierung oder deren Vertretern (einschließlich der regionalen und/oder lokalen Gebietskörperschaften) andererseits, der zum Ziel hat, den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu befördern und eine konstruktive Lösung bei Konflikten im Zusammenhang mit unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Interessen zu unterstützen. Ergebnis des sozialen Dialogs ist in der Regel die Erstellung eines rechtlichen Rahmens, entweder in Form von Rechtstexten bzw. Regierungsbeschlüssen oder in Form von Tarifverträgen, die für die Unterzeichner und die durch sie vertretenen Personen verbindlich sind, deren Anwendungsbereich auf Beschluss der Regierung und der Sozialpartner aber auch auf alle sozioökonomischen Akteure ausgedehnt werden kann. Der soziale Dialog findet auf nationaler Ebene entsprechend den dort geltenden Regeln und Verfahren statt. In den meisten Mitgliedstaaten der EU und ihren Nachbarländern stützt sich der soziale Dialog auf vorhandene zwei- oder dreigliedrige Konsultations- und Verhandlungsstrukturen.

3.2

Der soziale Dialog beinhaltet die Anerkennung der sozialen Grundrechte, wie sie durch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die Europäische Sozialcharta (Europarat) und die Grundrechtecharta der EU festgelegt wurden. Hierzu gehören auch die Anerkennung der Unabhängigkeit der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sowie das Recht der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, einer Organisation ihrer Wahl beizutreten (Übereinkommen 87 der ILO).

3.3

Der bürgerschaftliche Dialog ist der Dialog zwischen den zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie zwischen diesen einerseits und der Regierung oder deren Vertretern andererseits und hat zum Ziel, die partizipative Demokratie zu fördern. Er stützt sich dabei auf die Sachkenntnis und das Engagement der Bürger in Organisationen, die sie selbst ins Leben gerufen haben, um bestimmte Interessen zu verteidigen oder bestimmte Ziele bzw. Werte zu fördern. In zahlreichen Mitgliedstaaten der EU oder deren Nachbarstaaten findet der bürgerschaftliche Dialog auf nationaler Ebene über Strukturen wie etwa einen Wirtschafts- und Sozialrat oder einen Ausschuss zur Konsultation der Zivilgesellschaft statt.

3.4

Der bürgerschaftliche Dialog erfordert die Achtung der Bürger- und Menschenrechte, insbesondere der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit und der Demonstrationsfreiheit. Diese Rechte sind in der EU-Grundrechtecharta verankert.

3.5

Auch wenn der soziale Dialog und der bürgerschaftliche Dialog zunächst auf der Ebene der Nationalstaaten stattfinden, so sind sie doch auch von Bedeutung für die europäische Ebene, wo sie unterschiedliche Formen annehmen. Als beratende Einrichtung der europäischen Zivilgesellschaft und vor allem auf Grund seiner paritätischen Zusammensetzung aus Vertretern der Verbände der Arbeitgeber (Gruppe I), Arbeitnehmer (Gruppe II) und anderer Organisationen der Zivilgesellschaft (Gruppe III) ist der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss in der Lage, sich an der Schnittstelle zwischen sozialem und bürgerschaftlichem Dialog zu positionieren und kann so einen Beitrag zum Prozess der gemeinsamen Erarbeitung von Standpunkten unter Einbeziehung der verschiedenen Kategorien wirtschaftlicher, sozialer und bürgerschaftlicher Tätigkeit, wie sie in seinen Reihen vertreten sind, leisten (7).

4.   Der soziale Dialog in den sechs Ländern der Östlichen Partnerschaft

4.1

Der Ausschuss hat bereits in mehreren Stellungnahmen die Situation der Sozialpartner und des sozialen Dialogs in den sechs Ländern der Östlichen Partnerschaft behandelt. Angesichts der mitunter erheblichen Unterschiede zwischen den betreffenden Ländern war es in dieser Stellungnahme nicht möglich, auf die Situation in jedem einzelnen Land einzugehen. Der Ausschuss verweist deshalb auf seine früheren Stellungnahmen, in denen diese Fragen zum Teil detailliert dargestellt werden (8), und beschränkt sich in den folgenden Überlegungen darauf, gemeinsame Aspekte der Länder der Östlichen Partnerschaft herauszuarbeiten.

4.2

In den sechs Partnerländern sind Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen vorhanden. Einige dieser Organisationen sind nach einem Umgestaltungsprozess zu Beginn der 90er Jahre aus sozialen und wirtschaftlichen Organisationen der Sowjetzeit hervorgegangen. Andere wurden im Zuge der Demokratisierung und wirtschaftlichen Liberalisierung gegründet, die nach dem Ende der Sowjetunion in diesen Ländern einsetzte. In einigen Ländern hat sich eine breite Palette an Organisationen etabliert. In anderen Ländern werden die Arbeitgeber (Aserbaidschan, Georgien, Republik Moldau) bzw. die Arbeitnehmer (Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Republik Moldau) nur von einer einzigen Organisation vertreten.

4.3

Die Unabhängigkeit dieser Organisationen gegenüber der Regierung und den staatlichen Stellen variiert von Land zu Land und von Organisation zu Organisation. In Belarus beispielsweise hatte die aktuelle Regierung niemals Hemmungen, direkt in die Funktionsweise und die Arbeit der Arbeitgeberorganisationen oder Gewerkschaften einzugreifen. In den Ländern, in denen nur eine einzige Arbeitgeberorganisation oder Gewerkschaft existiert, schränkt das faktische Monopol dieser Organisationen die uneingeschränkte Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit und des Rechts auf Tarifverhandlungen mitunter erheblich ein. Schließlich ist festzustellen, dass sich die Regierungen in allen Ländern der Region, mitunter auch jene, die sich öffentlich zu Demokratie und Marktwirtschaft bekennen, immer wieder schwertun, die Unabhängigkeit und die Legitimität der Vertretungsorganisationen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu akzeptieren. Dies betrifft im Übrigen nicht alleine die Sozialpartner. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die den staatlichen Stellen und ihren Praktiken kritisch gegenüberstehen, machen regelmäßig dieselbe Erfahrung.

4.4

In allen Ländern bestehen in der Regel dreigliedrige nationale Konsultations- und Konzertierungsstrukturen. Zweigliedrige Strukturen bestehen auch innerhalb der einzelnen Branchen, wenn auch deutlich uneinheitlicher. Der ILO kommt insbesondere durch die Einführung ihrer Landesprogramme für menschenwürdige Arbeit in diesem Bereich eine führende Rolle zu. Zwar existieren entsprechende Strukturen, doch lässt ihre Funktionsweise häufig zu wünschen übrig. Der soziale Dialog ist nach Ansicht der meisten Organisationen noch allzu häufig rein formaler Natur, findet nur sporadisch statt und unterliegt zudem hinsichtlich der zu behandelnden Themen starken Einschränkungen. Die dreigliedrigen Strukturen dienen der Regierung in Wirklichkeit meistens dazu, die Sozialpartner über Entscheidungen zu informieren, die vielfach schon getroffen wurden und nicht geändert werden können. Die Östliche Partnerschaft und die entsprechenden Programme standen praktisch nie auf der Tagesordnung dieser Sitzungen.

4.5

Zwar haben alle sechs Partnerländer die grundlegenden Übereinkommen der ILO und einige andere wichtige Übereinkommen ratifiziert, doch gibt es erhebliche Unterschiede bei der Umsetzung dieser Übereinkommen durch die einzelnen Länder (die Ukraine hat 69 Übereinkommen ratifiziert, von denen 61 in Kraft sind, Georgen hat nur 16 ratifiziert, die derzeit angewandt werden). Die sechs Länder haben auch die wichtigsten Klauseln der Europäischen Sozialcharta umgesetzt (allerdings mit einigen Vorbehalten bezüglich des Zusatzprotokolls über Kollektivbeschwerden, die noch ausgeräumt werden sollten). Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die sozialen Grundrechte dort in vollem Umfang gewahrt würden. Neben Belarus liegen auch gegen die Republik Moldau, die Ukraine und Georgien Klagen bei der ILO vor. Die Probleme bei der Schaffung eines Rechtsstaats im sozialen Bereich sowie die geringe Beachtung, die einige Regierungen europäischen und internationalen Standards schenken, hat ganz unmittelbare Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Vereinigungsfreiheit, den sozialen Dialog, die sozialen Rechte und den Status der Arbeitnehmer insgesamt. Schließlich ist die Justiz in allen diesen Ländern aufgrund ihrer schleppenden und von Missständen geprägten Arbeitsweise außer Stande, im sozialen Bereich innerhalb eines angemessenen Zeitraums mit durchgreifender Wirkung Recht zu sprechen.

4.6

2010 unterstützte das Forum der Zivilgesellschaft ein von der Stiftung Partnerschaft Eurasien vorgeschlagenes Forschungsprojekt zur Lage des sozialen Dialogs in den einzelnen Ländern. Der Ausschuss betont die Bedeutung dieses Projekts, das im Zusammenhang mit dem durch die Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft entwickelten Projekt zur Erfassung der zivilgesellschaftlichen Organisationen in den verschiedenen Ländern zu sehen ist. Das ursprüngliche Projekt, für das eine enge Einbindung der Vertreter der Sozialpartner vorgesehen war, sollte in diese Untersuchung der Zivilgesellschaft integriert werden können. Im Rahmen des Projekts sollten die verschiedenen Ebenen des sozialen Dialogs (nationale, regionale, lokale Ebene, dreigliedrige, zweigliedrige Struktur) berücksichtigt werden sowie Hindernisse und Probleme bei der Umsetzung eines wirksamen sozialen Dialogs in den verschiedenen Ländern erkannt werden können. Der Ausschuss fordert die erneute Aufnahme dieses Projekt in die Prioritäten der Programme, zu denen das Forum der Zivilgesellschaft Zugang haben muss.

4.7

Das Forum der Zivilgesellschaft hat mit Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen einen Index der europäischen Integration der Länder der Östlichen Partnerschaft erarbeitet, d.h. ein Instrument zur jährlichen Messung der Fortschritte jedes dieser Länder bei der Zusammenarbeit untereinander sowie bei der Zusammenarbeit mit der EU. Der Ausschuss stellt jedoch fest, dass in dem Index zwar eine Reihe von Zielen im Zusammenhang mit der Östlichen Partnerschaft erfasst ist, dass die soziale Dimension, die Beschäftigung, die Achtung der Freiheiten und sozialen Grundrechte sowie die zu erzielenden Fortschritte im Bereich eines echten sozialen Dialogs jedoch kaum berücksichtigt werden. Der Ausschuss fordert deshalb die Überarbeitung und Ergänzung dieses Indexes, und er fordert das Forum der Zivilgesellschaft auf, sich dabei auf das einschlägige Fachwissen der europäischen Institutionen zu stützen, insbesondere des Europarates, sowie auf die von der Kommission im Rahmen des Allgemeinen Präferenzsystems (APS+) für die Handelszusammenarbeit festgelegten Kriterien.

5.   Die Diskussion über Fragen des sozialen Dialogs, der Sozialpolitik und der Beschäftigung im Rahmen des Forums der Zivilgesellschaft

5.1

Der Ausschuss hat von Beginn an hervorgehoben, wie wichtig es ist, die Zivilgesellschaft in das Projekt der Östlichen Partnerschaft einzubeziehen. Zu diesem Zweck wurde das Forum der Zivilgesellschaft eingerichtet. 2009 wurde auf der Grundlage der Kriterien des Konzeptpapiers der Kommission (9) (geographische Herkunft/Nationalität, Vielfalt und Verhältnismäßigkeit, Erfahrung mit Themen in Zusammenhang mit der EU, der ENP und der Östlichen Partnerschaft) eine Auswahl der an einer Mitwirkung an diesem Forum interessierten zivilgesellschaftlichen Organisationen vorgenommen. Der Ausschuss bedauert in diesem Zusammenhang, dass keinerlei Anspruch auf Repräsentativität erhoben wird, was dazu führt, dass die Sozialpartner deutlich unterrepräsentiert sind, obwohl im Rahmen des zweiten Kriteriums ausdrücklich die Arbeitgeberorganisationen, die Gewerkschaften und die Berufsverbände genannt werden.

5.2

Die Themen sozialer Dialog, Sozialpolitik und Beschäftigung sowie Achtung der sozialen Grundrechte konnten bisher nicht in einer eigenen Arbeitsgruppe des Forums behandelt werden. Zwar wurden einige Fragen im Rahmen der Arbeitsgruppe II (Wirtschaftliche Integration und Konvergenz mit der EU-Politik) bzw. der Arbeitsgruppe I (Demokratie, Menschenrechte, verantwortungsvolle Regierungsführung und Stabilität) behandelt, doch ist klar, dass diesen Fragen angesichts der ohnehin übervollen Agenda nicht eingehend genug erörtert wurden.

5.3

Der Ausschuss begrüßt deshalb die Entscheidung des Forums, eine fünfte Arbeitsgruppe für den sozialen Dialog einzurichten, die sich zudem nicht darauf beschränken sollte, den sozialen Dialog in den sechs Partnerländern zu fördern, sondern deren Schwerpunkt die Wirtschafts- und Sozialpolitik im weiteren Sinne sein sollte, d.h. die Aufgaben des öffentlichen Dienstes, die Funktionsweise des Arbeitsmarktes, die berufliche Aus- und Weiterbildung, die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsbeziehungen als solche – also alles, was normalerweise Inhalt des sozialen Dialogs ist, darunter auch der Sozialschutz, die Einhaltung der sozialen Rechte, die Gleichstellung der Geschlechter, die Bekämpfung der Schattenwirtschaft, die Armutsbekämpfung und die Probleme, die sich infolge einer häufig massiven Einwanderung ergeben.

5.4

Natürlich sollte sich die Arbeitsgruppe zum sozialen Dialog bei zahlreichen dieser Fragen mit den anderen Arbeitsgruppen abstimmen, insbesondere mit den Arbeitsgruppen zu den Themen Menschenrechte, verantwortungsvolle Regierungsführung und wirtschaftliche Integration. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass dieser Arbeitsgruppe Vertreter ausnahmslos aller Sozialpartner angehören und auch sonstige Vertreter, Vertreter der Verbraucherverbände, der Landwirte sowie der zivilgesellschaftlichen Organisationen aus dem sozialen Bereich die Möglichkeit der Teilnahme haben sollten. Dies gilt natürlich auch für die Zusammensetzung anderer Arbeitsgruppen, in denen am jeweiligen Thema interessierte Vertreter von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften die Möglichkeit der Mitarbeit haben müssen.

5.5

Die Einrichtung dieser fünften Arbeitsgruppe bedeutet, dass deren Koordinatoren auch dem Lenkungsausschuss des Forums angehören (ein Koordinator aus der EU und ein Koordinator aus einem der Partnerländer), womit dieser von 17 auf 19 Personen anwachsen würde. Der Ausschuss weist jedoch darauf hin, dass dies nicht als ausreichende Vertretung der Sozialpartner bei der Leitung des Forums der Zivilgesellschaft aufzufassen ist. Der Ausschuss fordert deshalb, die Geschäftsordnung des Forums so zu überarbeiten, dass eine angemessenere Vertretung der Sozialpartner sichergestellt wird. Es wäre auch zu wünschen, dass jede Gruppe (in der im Ausschuss üblichen Verwendung des Begriffs, nämlich Arbeitgeber, Arbeitnehmer und sonstige Interessen) anhand von Kriterien, die an die der jeweiligen Gruppe angehörenden Organisationen angepasst sind, für die Auswahl ihrer Mitglieder selbst verantwortlich ist.

5.6

Die Östliche Partnerschaft muss die Chance zur Stärkung des sozialen Dialogs bieten, der in den offiziell in den Partnerländern vorhandenen Strukturen stattfindet. Bisher hat sich das Forum durch die Einrichtung von nationalen Plattformen, die in den meisten Ländern sehr aktiv sind, um eine Dezentralisierung seiner Arbeit bemüht. Allerdings ist noch nicht geklärt, welcher Status diesen Plattformen gegenüber den staatlichen Behörden zukommt. Es wäre wünschenswert, dass neben diesen Plattformen, deren Aufgabe die Förderung des bürgerschaftlichen Dialogs ist, die bestehenden dreigliedrigen nationalen Strukturen in ihrer Funktion als Förderer des sozialen Dialogs anerkannt würden und dass eine direkte Verbindung sowohl zu dem Forum als auch zu den nationalen Plattformen hergestellt wird. Gleichermaßen sollte die Östliche Partnerschaft die Partnerstaaten dazu anregen, die Sozialpartner im Rahmen des nationalen sozialen Dialogs bei allen sozialen und wirtschaftlichen Aspekten ihrer Aktivitäten, also auch bei den bilateralen Assoziierungsabkommen, systematisch einzubinden.

6.   Fragen des sozialen Dialogs auf der Ebene der Östlichen Partnerschaft

6.1

2011 schlugen die Kommission und der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) in ihrer Bilanz des Einflusses der Europäischen Nachbarschaftspolitik auf die Länder südlich und östlich der Europäischen Union eine "neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel" vor (10). Im Rahmen dieser neuen Strategie werden zu Recht die Vertiefung der Demokratie und die Einrichtung von Partnerschaften mit der Zivilgesellschaft gefordert, jedoch auch die Notwendigkeit der Förderung einer wirtschaftlich und sozial nachhaltigen Entwicklung, insbesondere der Förderung des Wirtschaftswachstums und der Schaffung von Arbeitsplätzen, betont. Die Kommission und der EAD heben in diesem Zusammenhang hervor, dass das "schwache Wachstum, die steigende Arbeitslosigkeit und eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich […] voraussichtlich zunehmende Instabilität zur Folge haben" werden. Der makroökonomische Dialog mit den Partnerländern muss daher mit einem "verstärkten Dialog über die Beschäftigungs- und Sozialpolitik" einhergehen.

6.2

Bei der Bewertung der Kommission und des EAD wurden die Umwälzungen in den Ländern des südlichen Mittelmeerraums zwar berücksichtigt, ihre Feststellungen sind jedoch noch von größerer Tragweite. Probleme wie Arbeitslosigkeit, Verarmung, Schattenwirtschaft, Immigration, Menschenhandel gehören im Osten ebenso wie im Süden zu einer Realität, deren destabilisierende Wirkung nicht nur für die politischen Institutionen der betreffenden Länder, sondern auch für die gesamte Region Folgen hat. Der Ausschuss, der 2011 seine Unterstützung für die vorgeschlagene Strategie zum Ausdruck gebracht hat (11), spricht sich deshalb dafür aus, dass der Priorität der Förderung eines ausgewogenen und nachhaltigen Wachstums, mit dem Arbeitsplätze und eine größere soziale Sicherheit geschaffen werden, in den künftigen Leitlinien der Östlichen Partnerschaft in vollem Umfang Rechnung getragen wird.

6.3

Die Arbeit der Östlichen Partnerschaft umfasst im Rahmen der Politik der wirtschaftlichen Integration und Konvergenz mit der EU-Politik (thematische Plattform II) eine Reihe von Zielen im Bereich der Sozial- und Beschäftigungspolitik. Die GD Beschäftigung, Soziales und Integration der Kommission hat in diesem Rahmen mehrere Maßnahmen zur Förderung bewährter Verfahren im Bereich Sozial- und Beschäftigungspolitik ins Leben gerufen. Bedingt durch den Widerstand eines der Partnerländer, das offen Zweifel daran geäußert hat, dass diese Fragen für die Östliche Partnerschaft von Belang sind, konnte jedoch bisher kein konkreteres Programm erstellt werden. Der Ausschuss hofft, dass dieses Hindernis beseitigt werden kann, und fordert die Zuständigen der Kommission auf, die Diskussionen mit der neuen Regierung des betreffenden Landes wiederaufzunehmen und sie zu einer konstruktiveren Haltung in dieser Frage zu bewegen.

6.4

Der Ausschuss bekräftigt die Bedeutung der sozialen Dimension, der eine gleichrangige Stellung neben der wirtschaftlichen Dimension des von der Östlichen Partnerschaft vorgeschlagenen Reformprogramms eingeräumt werden muss. Er plädiert deshalb für die unverzügliche Einrichtung des Fachgremiums, das die GD Beschäftigung und Soziales zur Behandlung von sozial- und beschäftigungspolitischen Fragen vorgeschlagen hat. Zweck dieses Gremiums sollte die Förderung einiger gemeinsam von den Partnerländern und Vertretern der EU festgelegter Normen und bewährter Verfahren sein, die als Indikatoren des sozialen Fortschritts den wirtschaftlichen Fortschritt flankieren sollten. Das Forum sollte über seine fünfte Arbeitsgruppe in diese Arbeit eingebunden werden können. Der Ausschuss spricht sich dafür aus, die Aufteilung der Prioritäten der Östlichen Partnerschaft auf vier Plattformen langfristig zu überprüfen und eine fünfte Plattform einzurichten, die sich mit Fragen der Sozial- und Beschäftigungspolitik befasst.

6.5

Die Aufnahme der Sozial- und Beschäftigungspolitik in die Prioritäten der Östlichen Partnerschaft sollte mit einer ausreichenden Finanzierung und mit angemessenen Programmen zur Umsetzung dieser Prioritäten einhergehen. Die Kommission könnte zu diesem Zweck Anregungen aus dem Programm "Initiative für den sozialen Zusammenhalt" gewinnen, das vor einigen Jahren im Rahmen des Stabilitätspaktes für Südosteuropa ins Leben gerufen wurde. Mit diesem Programm sollte die soziale Dimension besser in die wirtschaftliche Entwicklung und in die Wiederaufbaumaßnahmen in der Region integriert werden, und zu diesem Zweck sollten die Reformen des Sozialsektors auf der Grundlage bewährter europäischer Verfahren vorangetrieben werden.

6.6

Der Ausschuss unterstützt die von der Kommission und dem EAD beschlossene Einrichtung einer Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft und eines Europäischen Fonds für Demokratie, die beide einen Beitrag zur Stärkung der Zivilgesellschaft, der zivilgesellschaftlichen Organisationen und ihrer Handlungsmöglichkeiten leisten sollen. Wie bereits 2003 (12) und 2011 (13)"fordert er jedoch die Kommission auf, Lehren aus der Erfahrung mit der Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft des Westbalkans zu ziehen, um Fehler zu vermeiden" und insbesondere bei der Bereitstellung der entsprechenden Mittel den besonderen Charakter der Sozialpartner und der anderen Wirtschafts- und Sozialorganisationen besser zu berücksichtigen.

6.7

Der Ausschuss plädiert ferner für eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Dimension durch die Organisationen, die bereits am Forum beteiligt sind. Er fordert daher den Europarat auf, seinen Berichten und Empfehlungen künftig eine Einschätzung der Situation der Sozialrechte anhand der Prinzipien der europäischen Sozialcharta und anhand der von den betreffenden Staaten ratifizierten oder nicht ratifizierten Artikel beizufügen. Er spricht sich außerdem dafür aus, eine Organisation wie die ILO als dreigliedrige Organisation, die zudem in den betreffenden Ländern sehr aktiv ist, künftig enger in die Arbeit der Östlichen Partnerschaft einzubinden.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  José Manuel BARROSO, Präsident der Europäischen Kommission, Pressekonferenz, 3. Dezember 2008.

(2)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat "Östliche Partnerschaft", 3. Dezember 2008, COM(2008) 823 final, S. 16.

(3)  http://eeas.europa.eu/eastern/civil_society/docs/results_en.pdf.

(4)  Stellungnahme des EWSA "Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Östliche Partnerschaft", ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 30-36.

(5)  Stellungnahme des EWSA "Der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Östlichen Partnerschaft", ABl. C 248 vom 25.8.2001, S. 37-42.

(6)  Schreiben von EWSA-Präsident Mario Sepi an die Mitglieder des Lenkungsausschusses des Forums der Zivilgesellschaft vom 19. Mai 2010. Der Präsident des EWSA griff in diesem Schreiben die Definition aus der Mitteilung der Kommission: "Allgemeine Grundsätze und Mindeststandards für die Konsultation betroffener Parteien durch die Kommission" (COM(2002) 704) auf.

(7)  Ansprache von Roger Briesch, Präsident des EWSA, zur Eröffnung des Seminars "Sozialer und zivilgesellschaftlicher Dialog: Unterschiede und Komplementarität" am 10. Juni 2003 in Brüssel. Die Zusammensetzung des EWSA ist in Artikel 300 Absatz 2 des Vertrags von Lissabon geregelt.

(8)  Siehe: "Beziehungen EU-Ukraine: eine neue dynamische Rolle für die Zivilgesellschaft" (ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 157), "Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Republik Moldau: Welche Rolle kommt der organisierten Zivilgesellschaft zu?"ABl. C 120 vom 15.5.2008, S. 89 und ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 34), "Die Zivilgesellschaft in Weißrussland" (ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 123), "Zivilgesellschaftliche Beteiligung an der Umsetzung der ENP-Aktionspläne in den Ländern des Südkaukasus: Armenien, Aserbaidschan und Georgien" (ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 37).

(9)  http://eeas.europa.eu/eastern/civil_society/docs/results_en.pdf.

(10)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel. COM (2011) 303 final.

(11)  Stellungnahme des EWSA zum Thema "Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel", ABl. C 43 vom 15.2.2012, S. 89-93.

(12)  Stellungnahme des EWSA "Die Rolle der Zivilgesellschaft im Rahmen der neuen europäischen Strategie für den westlichen Balkan", ABl. C 80 vom 30.3.2004, S. 158–167.

(13)  Stellungnahme des EWSA "Der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Östlichen Partnerschaft", ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 37-42.


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/46


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der Beitrag der Zivilgesellschaft zu einer Strategie zur Vermeidung und Verringerung von Lebensmittelverlusten und –verschwendung“ (Initiativstellungnahme)

2013/C 161/08

Berichterstatter: Yves SOMVILLE

Am 12. Juli 2012 beschloss der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Der Beitrag der Zivilgesellschaft zu einer Strategie zur Vermeidung und Verringerung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 29. Januar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 159 gegen 1 Stimme bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Angesichts der Tatsache, dass zahlreiche Menschen hungern und Ressourcen nur begrenzt vorhanden sind, muss dem Thema Vermeidung und Verringerung von Lebensmittelverlusten und –verschwendung nach Auffassung des EWSA unbedingt angemessene politische Bedeutung beigemessen werden. Aus diesem Grund begrüßt er das Engagement des Europäischen Parlaments und die jüngsten Initiativen der Europäischen Kommission in diesem Bereich.

1.2

Zur Abstimmung der durchzuführenden politischen Maßnahmen bedarf es nach Ansicht des EWSA einer EU-weit einheitlichen Definition und Vorgehensweise zur Quantifizierung von Lebensmittelverlusten und –verschwendung. Angesichts der derzeitigen Lage und der zu erreichenden Ziele sollten jedoch konkrete Maßnahmen ergriffen werden, ohne die Ergebnisse der laufenden Programme abzuwarten.

1.3

Der EWSA spricht sich für die Schaffung und Weiterentwicklung von Plattformen für den Austausch von Erfahrungen bei der Bekämpfung von Lebensmittelverschwendung in den einzelnen Regionen und Mitgliedstaaten der EU aus, damit die für die einschlägigen Programme zur Verfügung stehenden Mittel besser genutzt und wirksame Initiativen gefördert werden.

1.4

Angesichts der bedauerlicherweise schrumpfenden Ressourcen der Lebensmittelbanken und im Hinblick auf den wegen der Wirtschaftskrise stark wachsenden Bedarf dringt der EWSA insbesondere darauf, dass Handel und Gastronomie diesen möglichst viele noch zum Verzehr geeignete Lebensmittel zur Verfügung stellen. Außerdem sollte über die in manchen Mitgliedstaaten bereits bestehenden Initiativen in Bezug auf Steuern, den Haftungssauschluss der Spender sowie die Lockerung bestimmter Verwaltungsvorschriften zur Erleichterung von Lebensmittelspenden bei gleichzeitiger Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit informiert werden.

1.5

Bildungsmaßnahmen kommt im Hinblick auf eine Verringerung der Lebensmittelverschwendung eine wichtige Rolle zu. Eine Aufnahme dieses Themas in die Curricula für die Aus- und Weiterbildung in den Berufen der Gemeinschaftsverpflegung und der klassischen Gastronomie wäre daher wünschenswert. In der Ausbildung von Verpackungsingenieuren sollten wiederum die Aufbewahrung von Lebensmitteln und die optimale Nutzung von Verpackungsinhalten thematisiert werden.

1.6

Der EWSA vertritt zudem die Meinung, dass die Kommunikation mit den Verbrauchern essenziell ist, und ihre Wirksamkeit von der Durchführung einer sorgfältigen Analyse der Ursachen von Lebensmittelverschwendung abhängt. Neben einer allgemeinen Sensibilisierung für deren Auswirkungen ist dabei insbesondere auf die richtige Interpretation des Mindesthaltbarkeitsdatums von Produkten, die Einkaufsplanung, die Lagerung von Lebensmitteln sowie die Verwertung von Essensresten hinzuweisen. Dabei ist darauf zu achten, dass die Informationen auf die unterschiedlichen Haushaltstypen zugeschnitten werden.

1.7

Die Forschung sollte dieser Thematik besonderes Augenmerk widmen, da sie die gesamte Lebensmittelversorgungskette betrifft. So ist es etwa an der angewandten Agrarforschung, die Herstellungsverfahren weiter zu verbessern. Darüber hinaus sollten auch die Fortschritte in der Verpackungsbranche zur Vorbeugung und Verringerung von Lebensmittelverschwendung beitragen (Aufbewahrungen, intelligente Kennzeichnung usw.).

1.8

In Bezug auf die Lebensmittelherstellung sollte darauf geachtet werden, dass die in der GAP vorgesehenen branchenübergreifenden Instrumente wirksam genutzt und in Richtung Nachhaltigkeit weiterentwickelt werden. Besonderes Augenmerk ist Initiativen zur Förderung der lokalen Lebensmittelversorgung zu widmen, die zur Verringerung von Lebensmittelverlusten und –verschwendung beitragen können.

2.   Einleitung

2.1

Seit der Lebensmittelkrise 2008-2009 rangiert die Frage der Ernährungssicherheit auf der Prioritätenliste der meisten Entscheidungsträger und internationalen Organisationen stets ganz oben. Aufgrund des drastischen Preisanstiegs bei Getreide und anderen Kulturpflanzen im Jahr 2012 hat dieses Interesse noch weiter zugenommen.

2.2

Eine effiziente Landwirtschaft wird für die Versorgung der Weltbevölkerung mit Lebensmitteln auch in Zukunft von entscheidender Bedeutung sein.

2.3

Auch wenn es im Hinblick Anstieg der Weltbevölkerung auf ca. 9 Mrd. Menschen bis 2050 notwendig ist, die landwirtschaftliche Produktion – trotz Ressourcenverknappung und Klimawandel – um 60 % zu steigern, müssen gleichzeitig Lebensmittelverluste und -verschwendung wirksam bekämpft werden.

2.4

Diese – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – in allen Bereichen der Lebensmittelversorgungskette auftretenden Verluste bzw. die Lebensmittelverschwendung werden im Weltmaßstab auf ein Drittel der Gesamtproduktion an Lebensmitteln zum menschlichen Verzehrgeschätzt (Globale Lebensmittelverluste und -verschwendung, FAO).

2.5

In der EU waren 2011 infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise 24,2 % der Bevölkerung – also 119,6 Mio. Menschen – von sozialer Ausgrenzung bedroht. Die Zahl der Menschen, die das Europäische Nahrungsmittelhilfeprogramm für bedürftige Bevölkerungsgruppen in Anspruch nehmen, ist von 13 Mio. im Jahr 2008 auf 18 Mio. im Jahr 2010 angewachsen (1). Die Lebensmittelbanken berichten daher von einem stetig steigenden Bedarf.

2.6

Diese Stellungnahme ist ein Beitrag zu den strategischen Überlegungen zu der Europa-2020-Strategie. In ihrer Mitteilung zur Ressourceneffizienz (2) widmet die Kommission einen Absatz der Lebensmittelproblematik und der Notwendigkeit, die Verschwendung von Lebensmitteln zu begrenzen.

3.   Allgemeine Problematik

3.1   Begriffsbestimmungen

3.1.1

Die Begriffe "Lebensmittelverluste" und "Lebensmittelverschwendung" müssen aus einer globalen Perspektive heraus analysiert verwenden, wobei die gesamte Versorgungskette von der Herstellung bis zum Konsum einschließlich der einzelnen Zwischenschritte – Verarbeitung und Vertrieb – sowie das Gastgewerbe zu berücksichtigen ist.

3.1.2

In der EU sind die Verluste bei der Lebensmittelherstellung relativ gering. Produkte, die nicht den gesetzlich vorgeschriebenen bzw. vom Markt etablierten Normen entsprechen und daher nicht zum unmittelbaren menschlichen Verzehr geeignet sind, werden nämlich zur Gänze bzw. teilweise weiterverarbeitet. Ist dies nicht möglich, sollten sie entweder zu Tierfutter verarbeitet, als Bioenergieträger verwendet oder zur Düngung der Böden eingesetzt werden, um deren Gehalt an organischen Stoffen zu erhöhen.

3.1.3

Unter "Lebensmittelverluste und -verschwendung" ist jedwede entlang der Lebensmittelversorgungskette, von der Landwirtschaft bis zur Verbrauchsphase auftretende Entsorgung bzw. Vernichtung eines ursprünglich für den menschlichen Verzehr bestimmten Lebensmittels mit Ausnahme von Produkten, die keine Lebensmittel sind, zu verstehen. Laut FAO-Definition treten Lebensmittelverluste am Anfang der Lebensmittelversorgungskette auf (bei der Herstellung, in der Nach-Ernte-Phase sowie bei der Verarbeitung), wohingegen Lebensmittelverschwendung eher am Ende der Kette (Handel und Endverbraucher) zu verzeichnen ist.

3.1.4

Demnach fallen Ernteabfälle und nicht zum Verzehr geeignete Nebenprodukte der Lebensmittelverarbeitung nicht unter die Begriffe "Lebensmittelverluste" bzw. "Lebensmittelverschwendung". Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass sich aufgrund neuer Erkenntnisse und dank des technischen Fortschritts auch das, was sich nicht zum menschlichen Verzehr eignet und heutzutage nicht zu Nebenprodukten weiterverarbeitet werden kann, in Zukunft nutzen lässt. Insofern sind diese Definitionen nicht als endgültig zu verstehen.

3.1.5

In diesem Zusammenhang soll auch darauf hingewiesen werden, dass die in der Lebensmittelindustrie eingesetzten Instrumentarien zur Vermeidung und besseren Steuerung von Marktüberschüssen dank der in den letzten Jahren durchgeführten Reformen der GAP angepasst werden konnten. Verbesserungen innerhalb der Lebensmittelversorgungskette, etwa eine reelle Stärkung der Verhandlungsposition der Landwirte, müssen jedoch erst noch erzielt werden.

3.2   Ausmaß der Problematik entlang der Lebensmittelversorgungskette

3.2.1

In allen Teilen der Welt kommt es zu Lebensmittelverlusten und -verschwendung. Laut FAOentstehen in den Entwicklungsländern jedoch mehr als 40 % dieser Verluste nach der Ernte sowie bei der Verarbeitung, während es in den Industrieländern hauptsächlich im Zuge des Vertriebs und in der Endverbrauchsphase zu Verlusten kommt.

3.2.2

Aus einer 2010 veröffentlichten Studie der Europäischen Kommissiongeht hervor, dass pro Person jährlich 179 kg an Lebensmittelabfällen anfallen: 42 % davon in den Privathaushalten, 39 % in der Lebensmittelindustrie, 5 % im Vertrieb sowie 14 % im Gastgewerbe. Sollte sich nichts ändern, könnte sich die Abfallmenge bis 2020 um weitere 40 % erhöhen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass in dieser Studie Lebensmittelverluste und –verschwendung in der Landwirtschaft und der Fischerei nicht berücksichtigt wurden.

3.2.3

Eine in Brüssel durchgeführte Studie zum Inhalt von Haushaltsmülltonnen hat gezeigt, dass 11,7 % der gesamten Haushaltsabfälle aus Lebensmitteln bestehen. Diese Haushaltsabfälle setzen sich zu 47,7 % aus angebrochenen und zu 26,7 % aus abgelaufenen Produkten sowie zu 25,5 % aus Speiseresten zusammen.

3.3   Ursachen für Lebensmittelverluste und -verschwendung

3.3.1

In Entwicklungsländern und Ländern mit geringem Einkommensniveau entstehen die meisten Lebensmittelverluste in der Produktionsphase sowie nach der Ernte, was auf einen Mangel an Finanzmitteln zur Beseitigung des Defizits an Infrastruktureinrichtungen im weitesten Sinne des Wortes zurückzuführen ist.

3.3.2

In den Industrieländern geht es dagegen eher um falsches Verhalten. In den letzten Jahrzehnten konnte die Bevölkerung der EU dank der Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft kostengünstig mit Lebensmitteln versorgt werden. Aufgrund dieser mit einem Ansteigen des verfügbaren Haushaltseinkommens gepaarten Entwicklung ist der Anteil der Ausgaben für Lebensmittel stark zurückgegangen. Dies erklärt zu einem Teil den Anstieg der Lebensmittelverschwendung durch die Verbraucher.

3.3.3

Auch soziologische Aspekte wie die Veränderungen der Familienstrukturen und des Lebensrhythmus spielen bei der Lebensmittelverschwendung eine gewisse Rolle.

3.3.4

Manche Anforderungen, die Handelsketten an das Aussehen frischer Produkte stellen, können Lebensmittelverschwendung verursachen, da sie dazu führen, dass zum Verzehr geeignete Produkte in der Produktionsphase aus Gründen entsorgt werden, die nichts mit der Lebensmittelsicherheit zu tun haben.

3.3.5

Durch eine Neugestaltung bestimmter Arbeitstechniken in manchen Verarbeitungsbetrieben könnte ein Beitrag zur Eindämmung der Lebensmittelverschwendung geleistet werden. So sind Verpackungen manchmal nur mit Schwierigkeiten vollständig zu leeren; die Verpackungsmengen bestimmter Produkte entsprechen nicht der Entwicklung von Haushaltsgröße und -zusammensetzung, und manche Packungen lassen sich nach dem Öffnen nur schlecht wiederverschließen.

3.3.6

Auch wenn der Handel mit seiner Vorgehensweise vor allem Kaufanreize setzen will, wird dadurch u.U. eine bestimmte Form der Lebensmittelverschwendung begünstigt (z.B. durch ausschließlich preisorientierte Werbung; Aktionen wie "3 zum Preis von 2" usw.). Aber auch in diesem Fall zeigt sich in Studien, dass die Verhaltensmuster je nach Familientypus variieren.

3.3.7

Sehr große Verwirrung herrscht bei den Verbrauchern hinsichtlich der Begriffe "Verfallsdatum" und "Mindesthaltbarkeitsdatum", was ebenso zu Lebensmittelverschwendung führt. Im Vereinigten Königreich haben Untersuchungen zur Lebensmittelkennzeichnung erwiesen, dass 45 bis 49 % der Verbraucher das Mindesthaltbarkeitsdatum der Produkte missverstehen, wodurch 20 % der vermeidbaren Lebensmittelverschwendung entstehen (Aktionsprogramm Abfall und Ressourcen "WRAP 2010").

3.4   Auswirkung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung

3.4.1

Lebensmittelverluste und -verschwendung wirken sich in dreierlei Hinsicht aus: in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer.

3.4.2

Die ökologischen Auswirkungen lassen sich am leichtesten fassen, da sie in einem unmittelbaren Anstieg des gärfähigen Anteils an den Haushaltsabfällen bestehen. Abgesehen vom Müllaufkommen bedeutet Lebensmittelverschwendung aber immer auch den Verlust der für die Produktion, die Verarbeitung und den Vertrieb eines Produkts notwendigen Ressourcen. Je später in der Lebensmittelversorgungskette es zu Verschwendung kommt, desto höher ist der Verlust an Ressourcen.

3.4.3

Die Erzeugung von Treibhausgasen wirkt sich negativ auf den Klimawandel aus. Die Haushalte sollen daran mit 45 % der durch Lebensmittelverschwendung entstehenden Emissionen den größten Anteil haben; an zweiter Stelle liegt die Lebensmittelverarbeitungsindustrie mit einem Anteil von ca. 35 % an den jährlichen Emissionen. Laut dieser Studie sind die Schätzungen zur Entstehung von Treibhausgasen jedoch mit Vorsicht zu genießen, da sie von der Belastbarkeit der Daten zum Ausmaß der Lebensmittelverschwendung abhängen (Siehe die Zusammenfassung der Voruntersuchung zum Thema Lebensmittelverschwendung in der EU-27 vom Oktober 2010).

3.4.4

Für die Verbraucher und jedes einzelne Element der Lebensmittelversorgungskette bedeutet Verschwendung immer auch einen finanziellen Verlust. Die immer umfangreicheren Maßnahmen zur Behandlung des anfallenden Mülls generieren zusätzliche Kosten (Entsorgungskosten, Steuern usw.) für die Akteure der Lebensmittelversorgungskette. Deshalb sind Investitionen in die Vermeidung unumgänglich.

3.4.5

In sozialer und ethischer Hinsicht ist ein Nichttätigwerden der Politik zur Eindämmung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung inakzeptabel, noch dazu zum gegenwärtigen Zeitpunkt, da in Europa immer mehr Menschen aufgrund der Krise in Notsituationen geraten. Dieser beunruhigende Trend zeigt sich auch am ständig wachsenden Bedarf der Lebensmittelbanken.

4.   Laufende Initiativen

4.1

Es gibt zahlreiche Initiativen auf globaler, europäischer, nationaler und lokaler Ebene. Sie reichen von Verhaltensstudien über quantitative Untersuchungen bis hin zu konkreten Projekten vor Ort.

4.2

Von den internationalen Projekten sei hier die globale Initiative der FAO zur Verringerung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung ("Save Food") genannt, in deren Rahmen öffentlich-private Partnerschaften eingegangen, evidenzbasierte Maßnahmen erarbeitet, Investitionen durch die Mobilisierung von Ressourcen gefördert, einheitliche und abgestimmte Bewertungen und Analysen der Daten zu Lebensmittelverlusten und -verschwendung vorgenommen, Sensibilisierungskampagnen durchgeführt sowie die Vernetzung und der Kapazitätenaufbau der Interessenträger des Lebensmittel- und Agrarsektors gestärkt werden.

4.3

Am 19. Januar 2012 hat das Europäische Parlament eine Entschließungzu einer Strategie für eine effizientere Lebensmittelversorgungskette in der EU verabschiedet. Darin wird die Europäische Kommission aufgefordert, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Lebensmittelverschwendung bis 2025 um 50 % zu senken. Das EP fordert eine abgestimmte Vorgehensweise mit Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene zur Verringerung der Verluste in allen Phasen der Lebensmittelversorgungskette.

4.4

In ihrer Mitteilung zur Ressourceneffizienz (3) widmet die Kommission ein Kapitel dem Thema Lebensmittel und fordert die Mitgliedstaaten dazu auf, das Problem der Lebensmittelverschwendung im Rahmen ihrer nationalen Abfallvermeidungsprogramme anzugehen. Demnach soll die Lebensmittelverschwendung bis 2020 um 50 % verringert werden.

4.5

Im August 2011 hat die Kommission "Leitlinien zur Erarbeitung von Abfallvermeidungsprogrammen" vorgelegt, die den Mitgliedstaaten als Hilfestellung bei der Erarbeitung nationaler Abfallvermeidungsprogramme im Bereich der Lebensmittelverschwendung dienen sollen. Darüber hinaus hat die Kommission eine eigens dem Thema Lebensmittelverschwendung gewidmete Website mit Informationen zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung eingerichtet (u.a. 10 Tipps zur Verringerung der Lebensmittelverschwendung, Informationen zum Unterschied zwischen Mindesthaltbarkeitsdatum und Verfallsdatum, eine Zusammenstellung bewährter Methoden etc.).

4.6

Derzeit erarbeitet die Kommission eine Mitteilung zu nachhaltiger Ernährung, in der die Frage der Lebensmittelverschwendung viel Raum einnehmen wird und die Ende 2013 veröffentlicht werden soll. Im Rahmen der Beratungsgruppe für die Lebensmittelversorgungskette sowie die Tier- und Pflanzengesundheit wurde eine eigene Arbeitsgruppe zum Thema Lebensmittelverluste und -verschwendung gegründet, um einen Austausch zwischen der Kommission und allen wichtigen Akteuren der Lebensmittelversorgungskette zu gewährleisten.

4.7

Zu erwähnen ist auch die aus Mitteln des ELER (Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums) kofinanzierte Initiative "Greencook", die auf eine Eindämmung der Lebensmittelverschwendung abzielt. Dank des Austauschs im Rahmen einer branchenübergreifenden Partnerschaft soll auf der Grundlage der Ergebnisse von Pilotprojekten auf der lokalen Ebene eine allgemeine Strategie entwickelt werden. Die Zwischenberichte sind ermutigend, und die Endergebnisse werden für 2014 erwartet.

4.8

Auch der Rat beschäftigt sich mit Fragen im Zusammenhang mit der nachhaltigen Lebensmittelherstellung. In dem kürzlich von Österreich entworfenen "neuen europäischen Lebensmittelmodell", das die Zustimmung weiterer 16 Mitgliedstaaten gefunden hat, wird u.a. der Aspekt der Wertschätzung von Lebensmitteln thematisiert, die zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung beitragen soll (siehe 16821/12).

4.9

Im Vereinigten Königreich arbeitet WRAP seit einigen Jahren an der Quantifizierung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung sowie an der Durchführung einer Vorbeugungskampagne. Dieser Verband hat eine Vereinbarung (Courtauld Commitment) zwischen den größten britischen Einzelhändlern und viele wichtige Lebensmittel- und Getränkeproduzenten initiiert, in deren Rahmen Maßnahmen zur Verringerung der Lebensmittelverschwendung gefördert und umgesetzt werden sollen. Seit ihrem Inkrafttreten 2006/2007 hat sich die Situation in der Lebensmittelversorgungskette gebessert.

4.10

Auch das Gastgewerbe spielt bei Lebensmittelverlusten eine entscheidende Rolle. Ein Bericht des britischen Verbands nachhaltiger Gastgewerbebetriebe (SRA – Sustainable Restaurant Association) verdeutlicht die Entwicklungen in diesem Bereich (Bericht über Lebensmittelabfälle in der Gastronomie (2010)). Ausgangspunkt war eine präzisere Quantifizierung der auf drei Ebenen anfallenden Lebensmittelabfälle von zehn Mitgliedsbetrieben des SRA: Speisereste der Verbraucher, Verschwendung bei der Zubereitung sowie verdorbene bzw. aus anderen Gründen nicht verwendbare Produkte. Auf der Grundlage dieser Analyse sollten praktische Empfehlungen zur Verringerung der festgestellten Verluste erarbeitet werden.

4.11

Im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise klagen Lebensmittelbanken über sinkende Ressourcen bei gleichzeitig in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich stark steigender Nachfrage. Wohltätigkeitsorganisationen haben mit Handels- und Verarbeitungsbetrieben Vereinbarungen getroffen, um jene Produkte zu verwerten, die aus dem Verkauf genommen wurden. Diese Produkte sind selbstverständlich in puncto Lebensmittelsicherheit gänzlich unbedenklich.

5.   Allgemeine Bemerkungen

5.1

Angesichts der Herausforderungen, die sich aus der demografischen Entwicklung, dem Klimawandel und der Notwendigkeit einer effizienten Ressourcennutzung ergeben, muss die Bekämpfung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung als Teil der Lösung der Frage der Ernährungssicherheit gesehen werden.

5.2

Dabei ist zunächst zwischen dem Ansatz für die Entwicklungsländer und dem für die Industrieländer zu unterscheiden.

5.3

In den Entwicklungsländern tritt ein Großteil der Verluste in den ersten Phasen der Lebensmittelversorgungskette auf, so dass es anderer Lösungsansätze bedarf, zu denen der EWSA in einer Reihe von Dokumenten bereits Empfehlungen ausgesprochen hat. In den Industrieländern, darunter in den EU-Mitgliedstaaten, sollte sich die Bekämpfung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung hingegen in erster Linie auf die Bereiche Verarbeitung, Vertrieb, Verbraucher und Gastgewerbe konzentrieren.

5.4

In den Industrieländern geht es eher um falsches Verhalten. Der in den letzten vierzig Jahren verzeichnete erhebliche Rückgang des Anteils der Ausgaben für Lebensmittel an den Gesamtausgaben der Haushalte trägt wahrscheinlich dazu bei, dass die Endverbraucher mit Lebensmitteln weniger achtsam umgehen. Einige Studien zeigen, dass sich die Einstellung gegenüber Lebensmitteln sowohl beim Kaufverhalten als auch beim Verbrauch je nach Familientypus (Einkommensniveau, Haushaltsgröße, Alter usw.) unterscheidet. Diesem Aspekt ist Rechnung zu tragen, um die notwendigen Bildungs-, Sensibilisierungs- und Informationsmaßnahmen optimal auszurichten.

5.5

Betrachtet man die zahlreichen Studien und Initiativen, die im Rahmen der Bekämpfung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung durchgeführt wurden, stellt man fest, dass belastbares und vergleichbares Datenmaterial unabdingbar ist. Der Festlegung einer einheitlichen Definition sowie einer gemeinsamen methodischen Vorgehensweise zur Quantifizierung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung auf EU-Ebene kommt somit Priorität zu. Dies soll im Rahmen des im August 2012 lancierten Projekts "FUSION" des Siebten Rahmenprogramms der Europäischen Gemeinschaft für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration (FP7) erfolgen. Im Rahmen dieses Projekts sollen u.a. bewährte Vorgehensweisen ausgetauscht und entwickelt, Veranstaltungen mit einer Reihe von Partnern organisiert, die Aufklärungsarbeit verbessert und politische Empfehlungen erarbeitet werden. Aufgrund der Dringlichkeit und angesichts der festgelegten Ziele müssen jedoch parallel zu den Forschungsarbeiten zur Verbesserung des verfügbaren Datenmaterials konkrete Maßnahmen in Angriff genommen werden.

5.6

Zur Optimierung der Ergebnisse der auf europäischer, nationaler und lokaler Ebene durchgeführten Pilotprojekte muss ein Rahmen geschaffen werden, der den Austausch von Informationen und bewährten Vorgehensweisen fördert.

5.7

Allgemein lässt sich Folgendes festhalten:

Die Maßnahmen zur Verringerung von Lebensmittelverlusten und –verschwendung müssen entsprechend einer Abfallhierarchie ergriffen werden: Zuallererst sollten präventive Schritte gesetzt werden, anschließend sollte die Nutzung für den menschlichen Verzehr (z.B. Spenden an Lebensmittelbanken), dann die Verwendung als Tierfutter kommen und erst zuletzt die Nutzung zur Energieerzeugung und als Kompost.

Dabei sind Maßnahmen auf allen Ebenen der Lebensmittelversorgungskette zu ergreifen, wobei Initiativen, die positive Anreize setzen, möglichst der Vorzug zu geben ist.

Alle Maßnahmen zur Verringerung von Lebensmittelverlusten und –verschwendung müssen mit den Erfordernissen der Lebensmittelsicherheit vereinbar sein.

5.8

Auch wenn Supermärkte nicht die größten Verursacher von Lebensmittelverschwendung sind, können sie eine entscheidende Rolle bei deren Verringerung spielen, indem sie bestimmte branchenübliche Vorgehensweisen anpassen und mehr zur Information und Sensibilisierung der Verbraucher unternehmen.

5.9

Nichtsdestoweniger lässt sich aus den Studien zu den Vorgehensweisen des Handels nicht immer zweifelsfrei herauslesen, welche davon die Lebensmittelverschwendung eindeutig in die eine bzw. andere Richtung beeinflussen. Die positiven bzw. negativen Auswirkungen dieser Vorgehensweisen auf die Lebensmittelverschwendung hängen auch von Faktoren wie Haushaltsgröße, Haushaltstypus oder Art der betroffenen Lebensmittel ab.

5.10

In den Schlussfolgerungen einer von CRIOC (Forschungs- und Informationszentrum der belgischen Verbraucherorganisationen) durchgeführten Studie zur Handelspraxis in Belgien wird eine Reihe von Initiativen vorgeschlagen, die in Zusammenarbeit mit den Unternehmen entwickelt werden könnten, um Verbraucher zu verantwortlichem Handeln zu bewegen. Dazu zählen u.a. die Initiierung eines Dialogs mit den Verbrauchern, in dem nicht ausschließlich der Faktor Preis, sondern auch die Herkunft, das Herstellungsverfahren und der Nährwert herausgestellt werden, sowie Informationen zu einer korrekten Interpretation der Haltbarkeitsdaten auf der Verpackung.

5.11

Zu einem Zeitpunkt, da sich Lebensmittelbanken einer Verringerung ihrer Ressourcen bei gleichzeitigem Anstieg der Nachfrage gegenübersehen, muss seitens der Behörden alles darangesetzt werden, um die Weitergabe von Lebensmitteln an Lebensmittelbanken zu erleichtern. Auch wenn die Lebensmittelsicherheit weiterhin Priorität haben muss, müssen die Behörden bestimmte Verwaltungsvorschriften anpassen, um Erleichterungen für Handelsbetriebe zu schaffen, die Lebensmittelbanken beliefern wollen, anstatt noch essbare Lebensmittel wegzuwerfen. Dies gilt auch für Gastronomiebetriebe. Es gilt, die Übernahme der in einigen Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen für einen mit wenigen Ausnahmen geltenden Haftungsausschluss der Spender sowie der dort gesetzten steuerlichen Anreize zu fördern.

5.12

Im Zuge der Überlegungen, wie die Verwendung lokaler Produkte in der Gemeinschaftsverpflegung gefördert werden kann, hat sich erwiesen, dass der Verwaltungsaufwand auf lokale Produzenten und Kooperativen abschreckend wirken kann. Diesen einen einfacheren Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen zu gewähren, könnte zur Lösung des Problems beitragen. In diesem Zusammenhang kommt auch den lokalen Gebietskörperschaften eine Rolle zu, können diese doch für die von ihnen verwalteten Kantinen entsprechende Kriterien festlegen und das Personal bezüglich einer nachhaltigeren Ernährung schulen.

5.13

Die im Gastgewerbe umgesetzten Initiativen zeigen, dass zur Erzielung von Verhaltensänderungen Aufklärungsmaßnahmen ergriffen werden müssen, die sich sowohl an die Beschäftigten als auch an die Verbraucher richten.

5.14

Der Lehrplan für die Kochausbildung sollte angepasst werden. Dieser könnte etwa um die Sensibilisierung für die verschiedenen Aspekte der Lebensmittelverschwendung wie Lagerhaltung, Mülltrennung, mögliche finanzielle Einsparungen oder auch die Verbraucherperspektive erweitert werden.

5.15

Jede Maßnahme zur Vermeidung muss sich auf gemeinsame und abgestimmte Maßnahmen aller Beteiligten stützen. Diese Maßnahmen müssen auf die jeweils anvisierten Akteure, Arten von Lebensmitteln und Verbrauchsformen zugeschnitten werden, um möglichst rasch konkrete Ergebnisse zu erzielen.

5.16

Als Beispiel sei hier die Notwendigkeit eines Dialogs mit der Verarbeitungsindustrie angeführt, um diese dazu anzuhalten, Produkte auf den Markt zu bringen, die zu einer Verringerung der Lebensmittelverschwendung durch die Haushalte (Verpackungsdesign, entsprechende Menge und Größen bei bestimmten Lebensmitteln usw.) beitragen. Diese Fragen sollten auch im Rahmen der Ausbildung von Verpackungsingenieuren thematisiert werden.

5.17

In der Phase der primären Lebensmittelherstellung könnten folgende Ansätze gefördert und entwickelt werden:

Fortführung bzw. Intensivierung der angewandten Forschung in der Tier- und Pflanzenzucht im Hinblick auf eine Verringerung der Verluste aufgrund von Krankheiten, mangelnder Technisierung oder Klimakapriolen. Die Europäische Innovationspartnerschaft "Landwirtschaftliche Produktivität und Nachhaltigkeit" könnte zu diesem Zweck genutzt werden;

Förderung branchenübergreifender Vereinbarungen, die im Übrigen in der jetzigen und künftigen GAP positiv herausgestellt werden, wobei auf ihre Wirksamkeit und nachhaltige Ausrichtung zu achten ist;

die Landwirte werden weiterhin eine entscheidende Rolle als Zulieferer der landwirtschaftlichen Verarbeitungs- und Nahrungsmittelindustrie spielen, doch können die Förderung und Entwicklung lokaler Versorgungsketten zu einer Eindämmung von Lebensmittelverlusten und –verschwendung beitragen, indem die zwischen Herstellung und Verbrauch liegenden Zwischenschritte ausgeschaltet werden.

5.18

Das Ausmaß von Lebensmittelverlusten und -verschwendung sowie deren Ursachen sind heutzutage im Prinzip gut bekannt. Es wäre jedoch notwendig, die einzelnen Ursachen für die Verluste und die Verschwendung genauer zu untersuchen. Studien zur Quantifizierung der Verluste in den einzelnen Phasen sind natürlich von grundlegender Bedeutung für das bessere Verständnis des Phänomens und die Umsetzung von auf ernstzunehmenden und überprüfbaren Argumenten beruhenden Maßnahmen zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung. Dies ist umso wichtiger, als die Kosten der Verschwendung durch den daraus folgenden Anstieg des Abfallvolumens in Zukunft weiter wachsen werden.

5.19

Die Lebensmittelverschwendung durch die Endverbraucher hat verschiedene Gründe, die sich auch von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat – je nach Kultur, Klima, Ernährungsgewohnheiten und Haushaltszusammensetzung – unterscheiden. Dies macht die richtige Kommunikation auf europäischer Ebene noch schwieriger.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  EWSA-Stellungnahme Abgabe von Nahrungsmitteln an Bedürftige in der EU (ABl. C 43 vom 15.2.2012, S. 94-98).

(2)  Siehe COM(2011) 571 final, Fahrplan für ein ressourcenschonendes Europa, S. 21.

(3)  Siehe COM(2011) 571 final "Fahrplan für ein ressourcenschonendes Europa".


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

488. Plenartagung am 20. und 21. März 2013

6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/52


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission — Regionen in äußerster Randlage der Europäischen Union: Auf dem Weg zu einer Partnerschaft für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum

COM(2012) 287 final

2013/C 161/09

Berichterstatter: Henri MALOSSE

Die Kommission beschloss am 20. Juni 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission — Regionen in äußerster Randlage der Europäischen Union: Auf dem Weg zu einer Partnerschaft für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum

COM(2012) 287 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 4. März 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 165 gegen 2 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen – "Die Regionen in äußerster Randlage zu Plattformen Europas machen"

1.1

Die Priorität der EU gegenüber den Regionen in äußerster Randlage muss heute darin bestehen, die Verbindungen dieser Regionen mit dem europäischen Kontinent und das Zugehörigkeitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger zum Projekt Europa zu stärken. Die Regionen in äußerster Randlage können in bestimmten Bereichen wie biologische Vielfalt, Erdbeobachtung, erneuerbare Energien und Integration von Kulturen zu Laboratorien, Experimentierfeldern, ja Modellen für Europa werden.

1.2

Die Regionen in äußerster Randlage haben beachtliche Stärken, die für die Zukunft der EU von Wert sind, so u.a.: die Talente ihrer Frauen und Männer, ihre Agrar-, Fischerei- und Industrieerzeugnisse, ihr Qualitätstourismus und ihre geografische Lage als Plattformen Europas in ihrer jeweiligen Nachbarschaft. Diese Regionen müssen Zugang zu sämtlichen Vorteilen des Binnenmarkts haben – unter den gleichen Bedingungen wie die übrigen europäischen Regionen.

1.3

Trotz der sehr angespannten Haushaltslage darf die spezifische Unterstützung für die Regionen in äußerster Randlage nicht verringert werden. Diese Regionen müssen über angemessene Haushaltsmittel verfügen, damit sie die in der Europa-2020-Strategie festgelegten Ziele erreichen und die Auswirkungen ihrer sich insbesondere aus ihrer Abgelegenheit ergebenden Nachteile ausgleichen können.

1.4

Die Politik der EU zugunsten der Regionen in äußerster Randlage hat gute Ergebnisse erzielt, doch muss das Konzept der äußersten Randlage in der spezifischen, im AEUV verankerten Rechtsgrundlage neu belebt und noch strategischer und ehrgeiziger werden. So dürfen die europäischen Politiken im Bereich transeuropäische Netze, Forschung, Mobilität und Erdbeobachtung nicht länger außen vor bleiben.

1.5

Das POSEI-Instrument (Programm zur Lösung der spezifisch auf Abgelegenheit und Insellage zurückzuführenden Probleme) muss bewertet und auf die gesamte Agrar- und Nichtagrarproduktion der Regionen in äußerster Randlage ausgeweitet werden.

1.6

Artikel 349 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) muss in mehreren EU-Politikbereichen wie Wettbewerb, Vergabe öffentlicher Aufträge, Fischerei, Umwelt wirklich umgesetzt werden, um den geografischen und klimatischen Gegebenheiten der Regionen in äußerster Randlage Rechnung zu tragen. Die derzeitigen Vorbehalte der Europäischen Kommission in diesem Zusammenhang scheinen hinsichtlich des Wortlauts des Vertrags kaum gerechtfertigt zu sein. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, eine Analyse der Anwendung von Artikel 349 zu erstellen und zu veröffentlichen.

1.7

Beschäftigung und Jugend sind wesentliche Herausforderungen für die Regionen in äußerster Randlage. Die soziale Dimension muss eine der Prioritäten der EU-Politik zugunsten der Regionen in äußerster Randlage sein. Diese Achse muss deshalb weiterentwickelt werden – einerseits durch die wirksame Umsetzung kurz-, mittel- und langfristiger Maßnahmen über Hilfsprogramme für Bildung und Ausbildung, die an die Erfordernisse der dortigen Arbeitswelt angepasst sind, und andererseits durch die Unterstützung Beschäftigung und Wohlstand fördernder Tätigkeiten.

1.8

Die EU kann ihre Wettbewerbsfähigkeit auch mithilfe der in den Regionen in äußerster Randlage durchgeführten Programme verbessern, beispielsweise in den Bereichen erneuerbare Energien und Meereswissenschaften, Erforschung der biologischen Vielfalt, Forstwirtschaft, Gesundheitswesen und Bekämpfung von Tropenkrankheiten.

1.9

Das Ziel einer besseren Einbindung der Regionen in äußerster Randlage in ihr geografisches Umfeld liegt auf der Hand. Zahlreiche Beispiele zeigen, dass es der Europäischen Kommission insgesamt schwerfällt, die strategische Rolle der Regionen in äußerster Randlage als europäische Plattformen im Rahmen der Außenpolitik der EU zu begreifen, vor allem im Handel und in der Fischerei-, Kooperations- und Entwicklungspolitik. Eine entscheidende, stärker sichtbare und aktivere Unterstützung der Europäischen Kommission für die regionale Zusammenarbeit ist unbedingt erforderlich.

1.10

Die Einbindung der Zivilgesellschaft in die Strategie der EU muss mehr sein als nur ein Schlagwort. Der EWSA schlägt vor, Diskussionsforen zu veranstalten, in denen die Akteure der Zivilgesellschaft in jeder Region in äußerster Randlage an der Ausarbeitung von "Aktionsplänen" beteiligt werden, um die Ziele und Etappen der Umsetzung der Europa-2020-Strategie festzulegen. Der EWSA bietet sich an, diesen Prozess in Partnerschaft mit der Konferenz der Präsidenten und den Wirtschafts- und Sozialräten der Regionen in äußerster Randlage einzuleiten.

1.11

Darüber hinaus befürwortet der EWSA die Einrichtung eines strukturierten Dialogs zwischen den Zivilgesellschaften der Regionen in äußerster Randlage und der Länder ihrer jeweiligen Umgebung (Lateinamerika, Atlantischer Ozean, Karibik, Indischer Ozean). Es ginge hierbei vor allem darum, die Vertreter der Regionen in äußerster Randlage in den von der Europäischen Kommission im Rahmen der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) initiierten Dialog einzubeziehen. Der EWSA unterstützt die Einrichtung von Begleitausschüssen mit der Zivilgesellschaft in sämtlichen WPA und fordert die Mitwirkung der Regionen in äußerster Randlage an diesen Ausschüssen, sofern sie betroffen sind.

1.12

Der EWSA schlägt vor, in jeder der Regionen in äußerster Randlage Außendienststellen der EU einzurichten, um die Verbindung zwischen der EU und diesen Regionen greifbarer, sichtbarer und direkter zu machen.

2.   Einleitung und allgemeine Bemerkungen

2.1

In Artikel 349 und 355 AEUV wird die Spezifizität der Regionen in äußerster Randlage definiert und anerkannt. Seit 1989 nehmen diese Regionen an einem besonderen Programm teil, mit dem Maßnahmen zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung gefördert werden, um eine bessere Konvergenz mit der restlichen EU zu erreichen.

2.2

Durch die Regionen in äußerster Randlage werden das Gebiet und die geografische Präsenz der EU in der Welt erheblich erweitert, wodurch der politische, wirtschaftliche und kulturelle Einfluss Europas ausgeweitet wird und weitläufige Fischereigebiete im Atlantischen und Indischen Ozean hinzukommen. Diese Rolle als Plattformen Europas muss stärker aufgewertet werden, indem die Regionen in äußerster Randlage in die transeuropäischen Netze (TEN-V, digitale Netze) eingegliedert werden und privilegierten Zugang zu den europäischen Erdbeobachtungsprogrammen (GMES, Galileo) und den europäischen Forschungsprogrammen für erneuerbare Energien und biologische Vielfalt erhalten. Die Regionen in äußerster Randlage müssen mithilfe verschiedener Mobilitäts- und Kooperationsprogramme auch als Vermittler des europäischen Einflusses aufgewertet werden. Die Anwesenheit von EU-Sondervertretern in diesen Regionen aufgrund deren Abgelegenheit wäre sowohl ein politisches Signal als auch ein wirksames Instrument zur Förderung dieser Plattformfunktion.

2.3

Auch der EWSA unterstützt schon seit mehr als 20 Jahren die Maßnahmen, die die Zivilgesellschaften in den Regionen in äußerster Randlage ergreifen, um sich der EU anzunähern und besser gehört und konsultiert zu werden. Diesbezüglich ist vor allem auf die potenziell negativen Auswirkungen der Handelspolitik der EU, insbesondere über Freihandels- und Wirtschaftspartnerschaftsabkommen für die Regionen in äußerster Randlage, hinzuweisen (1). Bedauerlicherweise lässt die Kommission diese Frage in der Mitteilung unberücksichtigt und greift die Empfehlungen aus der EWSA-Stellungnahme von COUPEAU (2) vom 17. Februar 2010 insbesondere bezüglich flankierender Maßnahmen nicht auf.

2.4

Ein weiterer Schwachpunkt in dieser Mitteilung ist, dass sie die Folgen der großen politischen Errungenschaft, nämlich der Zugehörigkeit der Regionen in äußerster Randlage zur Europäischen Union, außer Acht lässt. Die Anhörung auf La Réunion hat gezeigt, dass das Engagement der zivilgesellschaftlichen Kräfte für das Projekt Europa zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt war. Für den EWSA sollte die Strategie der EU für die Regionen in äußerster Randlage vorrangig darauf abzielen, ihre Integration in den europäischen Verbund unter gleichzeitiger Berücksichtigung ihrer Lage zu verbessern.

3.   Spezifische Aspekte

3.1

Bei der Umsetzung der Kohäsionspolitik ist es dringend notwendig geworden, die Verfahren zur Auswahl und Zuteilung der Mittel zu vereinfachen und zu beschleunigen. Für Verzögerungen und überlange Fristen sind häufig in erster Linie die EU und die nationalen Behörden verantwortlich. Sie schaden der Glaubwürdigkeit der EU sehr, weshalb dieser Punkt vor einer etwaigen Überprüfung der künftigen Finanziellen Vorausschau unbedingt angegangen werden muss.

3.2

Eine weitere wesentliche Bedingung für die künftigen Programme der EU besteht darin, eine bessere Außenwirkung und Konzentration der europäischen Fördermittel zu gewährleisten. Das derzeitige "Gießkannenprinzip" trägt ebenfalls zur Ineffizienz bei und ruft Kritik hervor. Wie in der vorgenannten Stellungnahme von COUPEAU zum Ausdruck gebracht, empfiehlt der EWSA in diesem Stadium eine Konzentration auf drei grundlegende Prioritäten: erstens Bildung und Ausbildung zugunsten der Beschäftigungsfähigkeit insbesondere junger Menschen – einschließlich mittels Unterstützung durch Basisinfrastrukturen –, da der wichtigste Reichtum ihrer Gebiete natürlich das Talent und der Unternehmergeist der dort lebenden Frauen und Männer ist; zweitens die Unterstützung des privaten Sektors in seiner Wohlstand und Beschäftigung fördernden Funktion: mittelständische Unternehmen und Gewerbebetriebe, Tourismus, Dienstleistungen für die Produktionsfaktoren, Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei; drittens auch Investitionen in die großen transeuropäischen Netze (IKT, Verkehr, Abfall, Wasser, Energie usw.), um den Bürgern gleichberechtigten Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu ermöglichen, die zur Wettbewerbsfähigkeit der Gebiete beitragen.

3.3

Die Frage der nachhaltigen Entwicklung ist von großer Bedeutung, muss jedoch auf viele weitere Faktoren als nur die Umwelt ausgeweitet werden. Im Bereich Tourismus beispielsweise gehören zur nachhaltigen Entwicklung die Achtung der lokalen Identität, regionales Know-how, die Bewahrung traditioneller Lebensweisen, die Sprache sowie die besonderen lokalen Erzeugnisse. Die Frage der Zugänglichkeit für alle, der demografischen Entwicklungen und des Umgangs mit der Abhängigkeit hat in den Regionen in äußerster Randlage besondere Bedeutung, wird von der Europäischen Kommission in ihrer Mitteilung jedoch nur unzureichend ausgeführt.

3.4

Der EWSA ersucht die Kommission, die Dimension der Regionen in äußerster Randlage ggf. in die Vorschriften zur Vergabe öffentlicher Aufträge aufzunehmen. Die besonderen Bedingungen der Regionen in äußerster Randlage rechtfertigen die Fokussierung auf den lokalen Arbeitsmarkt, aber auch die Vermeidung von Sozialdumping aus Nachbarländern mit wesentlich niedrigeren Lohnkosten und die von bestimmten Wirtschaftsakteuren betriebenen aggressiven Niedrigpreisstrategien, die darin bestehen, zunächst jegliche Konkurrenz vor Ort auszuschalten und dann eine Monopolpolitik mit hohen Preisen zu praktizieren.

3.5

Bezüglich der Beziehungen zu benachbarten Drittländern bedauert der EWSA, dass es in der Mitteilung der Kommission an einer klaren Vision mangelt, wie diese in der COUPEAU-Stellungnahme propagiert wurde. Der EWSA betont nachdrücklich die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen den Regionen in äußerster Randlage und ihren Nachbarländern, insbesondere den AKP-Staaten, in Form von gemeinsamen Kooperationsprojekten unter Mobilisierung von Mitteln aus EEF, EFRE, ESF, ELER und EMFF. In diesem Bereich wurden zwar viele Studien, aber aufgrund fehlender Anwendungsvorschriften nur wenige konkrete Kooperationsprojekte durchgeführt. Dennoch gibt es in den Bereichen Verkehr, Tourismus, Bildung, Gesundheit, Fischerei und Landwirtschaft, Forschung und Entwicklung sowie Umweltschutz zahlreiche Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Gleichzeitig ist die Frage der Handelspolitik der EU unbeantwortet geblieben. Die bestehenden oder in Aussicht gestellten Freihandels- und Wirtschaftspartnerschaftsabkommen stellen für die anfällige Wirtschaft bestimmter Regionen in äußerster Randlage eine echte Bedrohung dar. Ohne die Berücksichtigung der tatsächlichen Interessen dieser Regionen in der Handelspolitik verliert der Entwurf einer EU-Strategie zugunsten dieser Regionen seinen Sinn!

3.6

Schließlich ist es zu bedauern, dass die Ausgestaltung einer Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft der Regionen in äußerster Randlage, die Schaffung einer Konsultationsstruktur zur Einführung der Kohäsionsmaßnahmen und die Entwicklung von Projekten, die es ermöglichen würden, das Gefühl der Zugehörigkeit zur EU bei der Bevölkerung über Informationskampagnen, Aktionen zur Unionsbürgerschaft sowie über Mobilitätsprogramme zu stärken, in der Mitteilung so wenig Platz bekommen haben. Der EWSA verweist diesbezüglich auf seine Stellungnahme zu dem Verhaltenskodex für Partnerschaft  (3).

4.   Vorschläge für die Zukunft

4.1   POSEI-Programm (Programm zur Lösung der spezifisch auf Abgelegenheit und Insellage zurückzuführenden Probleme)

4.1.1   Die Durchführung dieses Programms muss sorgfältig bewertet werden. Neben den erheblichen Mitteln des POSEI für zwei Erzeugnisse der Regionen in äußerster Randlage (Zucker und Banane) gilt es, die Wirklichkeit zahlreicher weiterer lokaler Produkte zu berücksichtigen, deren Export gefördert werden könnte (Vanille, Obst und Gemüse, Fischereierzeugnisse usw.).

4.1.2   Die Mittelausstattung für das POSEI Landwirtschaft muss beibehalten und sogar aufgestockt werden, um die Weiterentwicklung sowohl der für den Export als auch der für den lokalen Markt bestimmten Erzeugnisse zu ermöglichen und dabei auch die Versorgung mit Roh- und Grundstoffen zu garantieren.

4.2   Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt

4.2.1

Der EWSA begrüßt den Beschluss des Europäischen Rates, den Regionen in äußerster Randlage weiterhin eine Sonderbehandlung zu gewähren, damit sie die verfügbaren Mittel bestmöglich nutzen können, indem er einen Kofinanzierungssatz von 85 % unabhängig von ihrem Einkommensniveau vorschlägt. Der EWSA bedauert es jedoch, dass der Kofinanzierungssatz für die Sonderbeihilfe, mit der die sich aus ihrer äußersten Randlage ergebenden Kosten ausgeglichen werden sollen, bei 50 % gehalten wurde, und schlägt der Kommission vor, ausreichende Flexibilität an den Tag zu legen, um deren umfassende Wirksamkeit zu gewährleisten.

4.2.2

Schließlich zeigt sich der EWSA besorgt darüber, dass die Vorschläge der Europäischen Kommission in Sachen territorialer Zusammenhalt keine konkreten Antworten auf die Notwendigkeit der regionalen Einbindung der Regionen in äußerster Randlage liefern.

4.3   Mobilitätsprogramme: Die EU muss den Bürgern in den Regionen in äußerster Randlage gleichberechtigten Zugang zu dieser Art von Beschäftigungs- oder Studienprogrammen garantieren. Nicht hinnehmbar ist beispielsweise der offensichtliche Widerspruch zwischen dem Wunsch, Jugendliche und Akademiker aus den Regionen in äußerster Randlage umfassend von den Mobilitätsprogrammen der EU wie "Erasmus für alle" profitieren zu lassen, und der Tatsache, dass ihre geografische Lage dadurch verleugnet wird, dass die aufgrund der Abgelegenheit entstehenden Reisekosten weder für Austauschstudierende aus diesen Regionen noch für Studierende, die sich in einen anderen EU-Mitgliedstaat begeben, übernommen werden.

4.3.1   Ein weiteres Paradox: Auch die benachbarten Drittländer der Regionen in äußerster Randlage werden bei "Erasmus für alle" nicht mit berücksichtigt. Diese Unstimmigkeiten müssen unbedingt beseitigt werden. Ein Erasmus-Mundus-Programm speziell für die Regionen in äußerster Randlage sollte es ermöglichen, den Austausch von Jugendlichen mit Ländern in ihrer Umgebung zu organisieren und auf diese Weise die Identität der europäischen Kultur von diesen europäischen Plattformen aus zu fördern.

4.4   Zugänglichkeit

4.4.1

Der EWSA weist gemeinsam mit dem Europäischen Parlament auf die Notwendigkeit hin, einen Ad-hoc-Rahmen für Verkehr und IKT zu schaffen, damit die Regionen in äußerster Randlage das Problem der Abgeschnittenheit und der digitalen Kluft, unter dem sie leiden, wirksam angehen können.

4.5   Regionale Einbindung

4.5.1

Die Regionen in äußerster Randlage müssen automatisch für die grenzübergreifende Zusammenarbeit in Frage kommen – über das Kriterium der Seegrenzen mit einer Entfernung von über 150 km hinaus.

4.5.2

Eine wirksame regionale Einbindung der Regionen in äußerster Randlage erfordert die Verabschiedung von Maßnahmen, die die Anbindung dieser Regionen an die benachbarten Drittländer verbessern und die unverzichtbare Internationalisierung ihrer KMU fördern.

4.5.3

Die Europäische Union muss im Zuge des Abschlusses von Handels- oder Fischereiabkommen zwischen der EU und den Nachbarländern der Regionen in äußerster Randlage unbedingt Folgenabschätzungen durchführen sowie die Behörden und die Zivilgesellschaft dieser Regionen über die Verhandlungen informieren und sie in Fragen, die sie unmittelbar betreffen, einbeziehen.

4.5.4

Vertreter aus Wirtschaft und Recht der Regionen in äußerster Randlage sind zudem an der Sicherheit der Investitionen in ihr geografisches Umfeld interessiert. Der EWSA befürwortet diesbezüglich die Einrichtung einer Konferenz der Anwaltskammern der Regionen in äußerster Randlage sowie jede sonstige Initiative dieser Art, wie z.B. das Atlantische Schiedszentrum.

4.5.5

In vielen Bereichen (Verkehr, Abfallbewirtschaftung usw.) würde es die regionale Einbindung ermöglichen, Größenvorteile zu erwirtschaften – vorausgesetzt, die EU bekundet entschiedener als heute ihre Absicht, die Regionen in äußerster Randlage zu Plattformen Europas zu machen.

4.6   Unterstützung der Unternehmen

4.6.1

Artikel 107 Absatz 3 Buchstabe a AEUV ist insofern ein echter konzeptueller Durchbruch, als er es der Kommission ermöglicht, sowohl die Volkswirtschaften der Regionen in äußerster Randlage in der Rahmenregelung für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung als auch die offensichtlichen Mängel bei den staatlichen Beihilfen mit anderer Zweckbindung (Forschung, Innovation, Verkehr, Umwelt usw.) differenziert zu berücksichtigen. Der EWSA weist auf das Paradox hin, das heute zwischen den Prioritäten der Europa-2020-Strategie einerseits und den Mängeln der Wettbewerbsrahmen bei den staatlichen Beihilfen für Forschung/Innovation oder Umwelt in den Regionen in äußerster Randlage andererseits besteht. Diese Widersprüche müssen im kommenden Zeitraum behoben werden.

4.6.2

Anlässlich der derzeitigen Überarbeitung des europäischen Beihilferahmens bringen die Regionen in äußerster Randlage ihre Besorgnis hinsichtlich der Beibehaltung des bestehenden Rahmens zum Ausdruck. Sie fordern die Fortführung einer möglichst günstigen Behandlung, eine Abstimmung der Beihilfen unabhängig von ihrer Zweckbindung (Investitionsbeihilfen in Unternehmen mit erhöhten Beihilfeintensitäten und nicht degressive und unbefristete Betriebsbeihilfen zum Ausgleich der Mehrkosen der äußersten Randlage gemäß Artikel 349 AEUV) sowie die Suche nach einfachen und flexiblen Verfahren.

4.6.3

Die Regionen in äußerster Randlage haben einen erheblichen Bedarf an Arbeitsplätzen, um einer strukturbedingten Arbeitslosigkeit zu begegnen, von der alle Bevölkerungsgruppen betroffen sind. Bei ihren Unternehmen handelt es sich per se um kleine und mittelständische Unternehmen, die häufig auf geografisch begrenzten Märkten tätig sind; sie weisen also ganz andere Merkmale auf als Unternehmen in Kontinentaleuropa. Wie im Zeitraum 2007-2013 sollte es daher auch weiterhin möglich sein, die Unternehmensbeihilfen allen Arten von Unternehmen zu gewähren.

4.6.4

Die Investitionsbeihilfesätze in den Regionen in äußerster Randlage scheinen sich auf dem Niveau von 2007-2013 zu stabilisieren, unter Beibehaltung der Schwellenwerte und des Prinzips des "Bonus für die Regionen in äußerster Randlage". Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass der innergemeinschaftliche Handel unverändert geblieben ist, was insbesondere auf die sehr geringe Attraktivität der Märkte der Regionen in äußerster Randlage für ausländische Investitionen zurückzuführen ist. Der EWSA empfiehlt daher, die Genehmigung von nicht degressiven und unbefristeten Betriebsbeihilfen fortzuführen.

4.6.5

Öffentliche, darunter auch europäische, Beihilfen sowie Investitionen von Unternehmen der Regionen in äußerster Randlage in Innovation, die Digitale Agenda und die Suche nach Partnerschaften in ihrem geografischen Umfeld sollten als Priorität erachtet werden.

4.6.6

Die spezifische Struktur der Regionen in äußerster Randlage ist dergestalt, dass sich das Gefüge fast ausschließlich aus sehr kleinen Unternehmen zusammensetzt. Es wäre zweckmäßig, dass die Kommission in ihrer Strategie die Betonung auf die effektive Umsetzung des europäischen Small Business Act und die Anwendung des Grundsatzes "Think Small First" (Vorfahrt für KMU), insbesondere im Hinblick auf Verfahren und Kontrollen, legt. Um die Interessen der kleinen und mittleren Unternehmen zu wahren, sollten die Wettbewerbsregeln in den Regionen in äußerster Randlage aufmerksam überwacht werden.

4.7   Energie

4.7.1

Aufgrund ihrer geografischen Lage sind die Regionen in äußerster Randlage sehr anfällig und müssen die Herausforderung im Energiebereich anders lösen als Kontinentaleuropa. Die EU muss dafür sorgen, dass diese Regionen ihre Energieversorgung in einem schwierigen Umfeld und unter komplizierten Bedingungen sicherstellen können, die insbesondere die Preise in die Höhe treiben und die Wettbewerbsfähigkeit einschränken.

4.7.2

Die Erschließung und Nutzung eigener Energiequellen ist für die Regionen in äußerster Randlage von wesentlicher Bedeutung, sei es aus Erdöl oder Erdgas gewonnene Energie oder kohlenstoffarme Energie wie Wind, Wärme, Sonne, Wasser und Meer (Gezeiten-, Wellen-, Strömungs- und thermische Energie).

4.7.3

Der EWSA schlägt vor, die Erforschung erneuerbarer Energien in den Regionen in äußerster Randlage anzuregen und mithilfe von EU-Finanzierungsinstrumenten Energievorhaben in diesen Regionen zu unterstützen, wobei ihrer Besonderheit Rechnung zu tragen ist.

4.8   Landwirtschaft

4.8.1

Die grundlegende Bedeutung der Landwirtschaft in den Regionen in äußerster Randlage ist offensichtlich: Sie ist ein wichtiger Aspekt der Beschäftigung, der Ausstrahlung und der Wahrung des Umfelds und der traditionellen Lebensweisen. Neben der Förderung von Zucker und Banane muss die EU diese Bemühungen um Diversifizierung und Unabhängigkeit der Nahrungsmittelversorgung der Regionen in äußerster Randlage fortsetzen. Wichtig ist auch, das Gleichgewicht zwischen den auf den Export ausgerichteten und den für die Versorgung der lokalen Märkte bestimmten Erzeugnissen aufrechtzuerhalten.

4.8.2

Verfahrensbedingt begünstigen die EU-Beihilfen bisweilen große Strukturen oder die Zwischenschaltung von Intermediären. Dieser Tendenz muss entgegengewirkt werden, denn sie verkennt die Interessen der unabhängigen Kleinerzeuger, die in den Regionen in äußerster Randlage die überwiegende Mehrheit bilden. Die EU-Beihilfen müssen ebenfalls dazu dienen, die Funktionsweise der Lebensmittelkette zu verbessern und die Teilhabe der Landwirte und ihrer Organisationen zu fördern.

4.9   Fischerei

4.9.1

Der EWSA begrüßt den Standpunkt der Kommission, auf eine stärker regional ausgerichtete Entscheidungsfindung in diesem Bereich zu achten – mit dem Schwerpunkt auf den regionalen Meeresgebieten und unter Berücksichtigung lokaler Bestände und der Einsetzung eines speziellen Beirats für die Regionen in äußerster Randlage. Da sich die Fischereien in den Regionen in äußerster Randlage stark voneinander unterscheiden, muss dieser Beirat jedoch nach Meeresbecken organisiert werden, damit ihr spezifisches Umfeld stärker Berücksichtigung findet.

4.9.2

Keine zufriedenstellende Antwort gibt der Vorschlag zur Reform der Fischereipolitik auf die Situation der Regionen in äußerster Randlage, etwa hinsichtlich der Förderung der Flotte (Bau/Anschaffung und Modernisierung, Bewältigung des Fischereiaufwands, Auswirkungen der Fischereiabkommen zwischen der EU und Drittländern auf die Regionen in äußerster Randlage) und der fehlenden Weiterentwicklung des POSEI Fischerei, das inhaltlich eine konzeptuelle Überarbeitung nach dem Vorbild des POSEI Landwirtschaft verdient hätte. Der EWSA erinnert im Übrigen an die Überlegungen, die er in seiner Initiativstellungnahme zur Entwicklung von Regionalgebieten für die Bewirtschaftung von Fischbeständen und die Kontrolle der Fischerei vom 27. Oktober 2011 (Berichterstatter: Brendan BURNS) formulierte.

4.10   Forstwirtschaft

4.10.1

In den Regionen in äußerster Randlage und den überseeischen Ländern und Gebieten sollte das Potenzial zum Anbau nachhaltiger tropischer und subtropischer Spezialharthölzer in Erwägung gezogen werden. Ihre besondere Beziehung zu Europa würde ihnen direkten Zugang ermöglichen, da sie zertifiziertes Holz liefern können, für das garantiert werden kann, dass es nicht gegen die Zertifizierungsregeln des Weltforstrats (Forest Stewardship Council, FSC) verstößt.

4.10.2

Ein spezifischer Markt, den man ins Auge fassen sollte, ist "Holz für besondere historische Restaurierungsprojekte", denn viele der Originalholzarten stehen auf Listen gefährdeter Hölzer und sind daher legal nur schwer beizubringen. Mahagoni, Ipe, Virola, Padouk, Greenheart, Ramin, Apitong oder Wenge sind nur einige der Holzsorten, die für solche Projekte benötigt werden.

4.10.3

Darüber hinaus sind tropische und subtropische Wälder das ideale Umfeld für den Anbau seltener Pflanzen, die in Medizin und Kosmetik verwendet werden können. Mit Holz aus der tropischen und subtropischen Forstwirtschaft lässt sich kein schnelles Geld verdienen; es bietet diesen Regionen jedoch langfristig die große Chance, von den höchst einträglichen Märkten zu profitieren, die einen Zugang zu diesen seltenen Hölzern und Pflanzen voraussetzen.

4.11   Forschung und Forschungsausbau

4.11.1

Der EWSA unterstützt die Beibehaltung des europäischen Umweltprogramms und des Aktionsplans für biologische Vielfalt (deren Potenzial sich zu 80 % in den Regionen in äußerster Randlage befindet) sowie eine bessere Berücksichtigung der Möglichkeiten dieser Regionen in den künftigen Programmen der Europa-Strategie-2020, insbesondere in puncto erneuerbare Energien, nachhaltige Entwicklung oder Meereswissenschaften.

4.11.2

Die Europäische Kommission entwickelt das diesbezügliche Potenzial der Regionen in äußerster Randlage nur unzureichend weiter.

4.11.3

Der EWSA unterstützt die Idee, europäische Cluster unter Einbeziehung der Regionen in äußerster Randlage zu bilden.

4.12   Stärkung der sozialen Dimension der Entwicklung der Regionen in äußerster Randlage

4.12.1

Der EWSA ist sehr erfreut, dass der Kommission an der sozialen Dimension des europäischen Modells im Rahmen der Europa-2020-Strategie gelegen ist. Dieses Anliegen sollte sich allerdings nicht auf Lippenbekenntnisse beschränken, sondern sich in konkreten Verpflichtungen niederschlagen. Kein EU-Bürger darf ausgeschlossen werden und den Anschluss an die Entwicklung verlieren. Darin liegt der ganze Sinn der europäischen Solidarität. Der EWSA billigt den Vorschlag des Präsidenten der Region Kanarische Inseln, mit einem Notfallplan gegen die Massenarbeitslosigkeit vorzugehen, die mit außerordentlicher Intensität voranschreitet.

4.12.2

Abgesehen von der Durchführung der strategischen Achsen unterstreicht der EWSA Folgendes:

4.12.2.1

Die primären Grundbedürfnisse: Wasser für alle (Privatpersonen und Wirtschaft), nachhaltige Energie, Abwasserbehandlung, Abfallbeseitigung stellen diese Gebiete vor größte Herausforderungen. Diesbezüglich wird der Schwerpunkt in der Mitteilung nicht ausreichend auf die Notwendigkeit gut funktionierender Netzdienstleistungen in den Regionen in äußerster Randlage gelegt.

4.12.2.2

Die Bedeutung einer europäischen Strategie für den Tourismus: ein wesentlicher Faktor für die Regionen in äußerster Randlage, in den unbedingt die nachhaltige Entwicklung und die Achtung der Identität als Grundpfeiler der Entwicklung dieser Branche einbezogen werden müssen, um nicht der Gefahr der Akkulturation und der "Zubetonierung" von Meeresgebieten zu erliegen. Der EWSA erinnert in diesem Zusammenhang an die Mitteilung der Kommission zum blauen Wachstum und die Stellungnahme, die der EWSA derzeit zu diesem Thema erarbeitet (4).

4.12.2.3

Die kulturelle Dimension muss von der Europäischen Kommission in ihrer Strategie stärker berücksichtigt werden. In dieser Hinsicht haben die Regionen in äußerster Randlage mit einem außergewöhnlichen Reichtum für die EU aufzuwarten. Der EWSA empfiehlt daher, den "Bereich Kultur" in den Aktionsplänen für die Umsetzung der Europa-2020-Strategie entsprechend zu stärken.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  EWSA-Stellungnahme Die Auswirkungen der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen auf die Regionen in äußerster Randlage (Karibik), ABl. C 347 vom 18.12.2010, S. 28.

(2)  Diese Empfehlungen finden auch in folgenden anderen Arbeiten ihren Niederschlag:

 

Studie der Europäischen Kommission zu den Wachstumsfaktoren in den Regionen in äußerster Randlage von Ismeri EROPA;

 

von Michel BARNIER, für den Binnenmarkt zuständiges Mitglied der Europäischen Kommission, in Auftrag gegebener Bericht Die europäischen Gebiete in äußerster Randlage innerhalb des Binnenmarktes: Die Ausstrahlung der EU auf die Welt von Pedro SOLBES MIRA;

 

vom INED ausgeführte Studie der Europäischen Kommission zu den Auswirkungen der Demografie- und Migrationstrends in den Regionen in äußerster Randlage auf den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt;

 

Bericht des Europäischen Parlaments von Berichterstatter Nuno TEIXEIRA – Ausschuss REGI – zu der Rolle der Kohäsionspolitik in den Regionen in äußerster Randlage der Europäischen Union im Kontext von Europa 2020;

 

Studie des Europäischen Parlaments Die Rolle der Regionalpolitik bei der Bekämpfung der Auswirkungen des Klimawandels in den Regionen in äußerster Randlage.

(3)  ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 23.

(4)  EWSA-Stellungnahme Blaues Wachstum – Chancen für nachhaltiges marines und maritimes Wachstum,. (Siehe Seite 87 dieses Amtsblatts).


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/58


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 723/2009 des Rates über den gemeinschaftlichen Rechtsrahmen für ein Konsortium für eine europäische Forschungsinfrastruktur (ERIC)

COM(2012) 682 final — 2012/0321 (NLE)

2013/C 161/10

Berichterstatter: Cveto STANTIČ

Der Rat beschloss am 19. Dezember 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 187 und 188 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 723/2009 des Rates über den gemeinschaftlichen Rechtsrahmen für ein Konsortium für eine europäische Forschungsinfrastruktur (ERIC)

COM(2012) 682 final — 2012/0321 (NLE).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 7. März 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 78 Stimmen gegen 1 Stimme bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA unterstützt die vorgeschlagene Änderung von Artikel 9 der Verordnung, durch die die Ungleichbehandlung von Mitgliedstaaten und assoziierten Ländern beendet werden und die aktivere Beteiligung der assoziierten Länder an der Gründung und am Betrieb künftiger ERIC gefördert werden soll.

1.2

Der EWSA ist der Auffassung, dass gleiche Stimmrechte nicht die Gemeinschaftsdimension dieser Verordnung beeinträchtigen und dass die Union mithilfe anderer geltender Bestimmungen der Verordnung eine ausreichende Kontrolle über wesentliche Tätigkeitsbereiche der ERIC behalten kann.

1.3

Der EWSA ist besorgt über das geringe Tempo, mit dem das Rechtsinstrument betreffend die ERIC zur Gründung und zum Betrieb von Forschungsinfrastrukturprojekten von europäischem Interesse im Rahmen des Fahrplans des Europäischen Strategieforums für Forschungsinfrastrukturen (ESFRI) herangezogen wird. Er fordert die Kommission deshalb auf, potenziellen Partnern die größtmögliche Unterstützung zu leisten und so die Anwendung der Rechtsform der ERIC zu erleichtern.

1.4

Der EWSA empfiehlt auch, dass die Union einen größeren Beitrag zur Kofinanzierung von ERIC-Projekten leistet, indem sie für stärkere Synergien zwischen den Strukturfonds und dem Rahmenprogramm Horizont 2020 sorgt.

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1

Hoch entwickelte Forschungsinfrastrukturen sind von entscheidender Bedeutung für Fortschritte bei Wissen und neuen Technologien für eine wettbewerbsfähigere und wissensbasierte europäische Wirtschaft.

2.2

Zwar ist die Unterstützung und Weiterentwicklung der Forschungsinfrastruktur in Europa seit einem Jahrzehnt stets Ziel der Union, doch verhindern unter anderem die relative Zersplitterung und die Regionalisierung (1) dieser Struktur immer wieder, dass Spitzenleistungen erbracht werden können.

2.3

2006 bestimmte das ESFRI zahlreiche grundlegende Infrastrukturprojekte von gesamteuropäischem Interesse, die bis 2020 umgesetzt werden sollen (2). Eine wesentliche Hürde für die Schaffung einer solchen Infrastruktur zwischen EU-Ländern war der fehlende Rechtsrahmen für die Errichtung echter Partnerschaften.

2.4

Deshalb erließ der Rat 2009 die ERIC-Verordnung (3). Durch dieses spezifische Rechtsinstrument erhält ein ERIC eine in allen Mitgliedstaaten anerkannte Rechtspersönlichkeit. Er kann außerdem Befreiungen im Hinblick auf Mehrwertsteuer und Verbrauchssteuern in Anspruch nehmen und eigene Verfahren für die Auftragsvergabe festlegen.

3.   Hintergrund des Vorschlags zur Änderung der ERIC-Verordnung

3.1

Nach der geltenden Verordnung müssen einem ERIC mindestens drei Mitgliedstaaten angehören; zudem können ihm qualifizierte assoziierte Länder (4), Drittländer und zwischenstaatliche Sonderorganisationen beitreten. Die EU-Mitgliedstaaten haben stets gemeinsam die Mehrheit der Stimmrechte in der Mitgliederversammlung inne.

3.2

Auf Grund dieser Regelung sind die assoziierten Länder in einer nicht gleichberechtigten untergeordneten Position in Bezug auf ihre Stimmrechte, selbst wenn sie möglicherweise bereit sind, einen erheblichen finanziellen Beitrag zur Gründung und zum Betrieb eines ERIC zu leisten (5).

3.3

Um assoziierte Länder zur aktiven Teilnahme an den ERIC zu motivieren, soll Artikel 9 so geändert werden, dass für die Gründung eines Konsortiums nur ein Mitgliedstaat (unter mindestens drei Mitgliedern) erforderlich ist. Bei den anderen beiden Mitgliedern kann es sich um assoziierte Länder handeln. Assoziierte Länder können dann entsprechend auch über Stimmrechte verfügen.

4.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

4.1

Der EWSA unterstützt grundsätzlich die Änderung der ERIC-Verordnung, wenn sie die aktive Beteiligung assoziierter Länder an der Gründung und am Betrieb von ERIC fördert, möchte jedoch folgende Bemerkungen anbringen.

4.1.1

Das Hauptargument für die Mindestzahl von drei Mitgliedstaaten in der geltenden Verordnung lautet, dass die Gemeinschaftsdimension dieser Verordnung gewährleistet werden müsse (6). Insofern erscheint die Reduzierung von drei auf eins als recht radikaler Schritt.

4.1.2

Der EWSA verweist darauf, dass diese Verordnung in erster Linie erlassen wurde, um die effiziente Durchführung gemeinschaftlicher Forschung- und Technologieinfrastrukturprojekte zu gewährleisten. Der EWSA räumt deshalb ein, dass die Union die Kontrolle über bestimmte wesentliche Tätigkeitsbereiche der ERIC behalten muss.

4.1.3

Andererseits verweist der EWSA auf einige Bestimmungen der geltenden Verordnung, die eine mögliche Schwächung der Position der EU-Beteiligten infolge der Änderung von Artikel 9 ausgleichen könnten, so zum Beispiel:

Körperschaften, die ein ERIC gründen wollen, müssen einen Antrag bei der Europäischen Kommission stellen.

ERIC unterliegen neben dem Recht des Gaststaates auch dem Gemeinschaftsrecht.

ERIC müssen der Kommission jeweils einen Jahresbericht vorlegen und sie unterrichten, sobald Umstände eintreten, die die Wahrnehmung ihrer Aufgaben oder die Erfüllung der Vorgaben der Verordnung beeinträchtigen.

Wesentliche Änderungen der Satzung müssen der Kommission zur Genehmigung vorgelegt werden.

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist zuständig für die ERIC.

Der EWSA fordert, umfassend sicherzustellen, dass diese Bestimmungen die vorgeschlagene Änderung von Artikel 9 aufwiegen und eine ausreichende Kontrolle der Tätigkeiten der ERIC gewährleisten.

4.1.4

Der EWSA bringt seine Bedenken darüber zum Ausdruck, dass bislang keine assoziierten Länder oder Drittländer Mitglied eines ERIC geworden sind, und hofft, dass die unvorteilhafte Situation im Hinblick auf die Stimmrechte wirklich der Hauptgrund für das mangelnde Interesse ist.

4.1.5

Der EWSA begrüßt, dass für die Gründung und den Betrieb von 19 der 51 Infrastrukturprojekte des ESFRI-Fahrplans die Rechtsform eines ERIC genutzt werden soll. Zugleich ist der Ausschuss besorgt, dass seit dem Inkrafttreten der Verordnung im Jahr 2009 nur zwei ERIC gegründet wurden.

4.1.6

Der EWSA spricht sich dafür aus, dass dieser Prozess beschleunigt wird. Seiner Auffassung nach sind die Gründe für die derart langsamen Fortschritte auch in den komplexen und anspruchsvollen administrativen und rechtlichen Verfahren zu suchen, die für die Gründung eines ERIC erforderlich sind. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, Unterstützungsmaßnahmen und Instrumente für potenzielle Partner bereitzustellen, um deren Arbeit zu erleichtern (Muster für die Satzung, praktische Leitlinien, konkrete Unterstützungsmaßnahmen für ERIC im Rahmen von Horizont 2020 usw.).

4.1.7

Auch wenn dies nicht in unmittelbarem Zusammenhang zu der vorgeschlagenen Änderung der Verordnung steht, möchte der EWSA doch erneut empfehlen, dass die Union aktiver zur Kofinanzierung von ERIC-Projekten beiträgt, indem sie die Mittel für Forschungsinfrastrukturen im Rahmenprogramm Horizont 2020 aufstockt und insbesondere die Synergien zwischen Horizont 2020 und den Strukturfonds stärkt.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Die Hälfte der gesamten Forschungsausgaben entfällt auf 30 der 254 Regionen, und die Mehrzahl der Projekte des ESFRI-Fahrplans befindet sich in nur zehn Mitgliedstaaten.

(2)  Der ESFRI-Fahrplan wurde 2008 und 2010 aktualisiert. Die nächste Aktualisierung ist für 2015 vorgesehen.

(3)  Verordnung (EG) Nr. 723/2009 des Rates über den gemeinschaftlichen Rechtsrahmen für ein Konsortium für eine europäische Forschungsinfrastruktur (ERIC).

(4)  Gegenwärtig sind 14 Länder mit dem Siebten Rahmenprogramm assoziiert: Norwegen, Island, Liechtenstein (auf der Grundlage des EWR-Abkommens), Israel, die Färöer, die Schweiz (auf der Grundlage eines eigenständigen internationalen Abkommens), Moldau, Kroatien, die Türkei, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Albanien, Serbien and die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien (auf der Grundlage von Vereinbarungen).

(5)  Norwegen möchte Gastland für drei ERIC sein, bei denen es um größere Projekte aus dem ESFRI-Fahrplan geht (CESSDA, SIOS, ECCSEL), sofern die Regelung der Stimmrechte zu seinen Gunsten geändert wird.

(6)  Siehe Erwägungsgrund 14, ABl. L 206 vom 8.8.2009, S. 1.


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/60


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch „Ein integrierter Paketzustellungsmarkt für das Wachstum des elektronischen Handels in der EU“

COM(2012) 698 final

2013/C 161/11

Berichterstatterin: Daniela RONDINELLI

Die Europäische Kommission beschloss am 19. Februar 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Grünbuch — Ein integrierter Paketzustellungsmarkt für das Wachstum des elektronischen Handels in der EU

COM(2012) 698 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 7. März 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 156 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält es aufgrund der Bedeutung des digitalen Marktes und seines hohen wirtschaftlichen und beschäftigungsspezifischen Entwicklungspotentials für wichtig, das Vertrauen der Online-Verbraucher und der Online-Einzelhändler in die integrierte Logistik wiederherzustellen, die bei dem für viele Verbraucher besonders attraktiven elektronischen Handel verwendet wird.

1.2

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission, die Problematik dieser Branche durch eine umfassende Konsultation aller Beteiligten mittels des Grünbuchs für einen integrierten Markt zu vertiefen. Dieses zielt ab auf die Verwirklichung eines integrierten Paketzustellungsmarktes für Online-Käufe und die positive Entwicklung des elektronischen Handels nicht nur zwischen Unternehmen und Verbrauchern (B2C), sondern auch zwischen Unternehmen (B2B) und zwischen Verbrauchern (C2C) .

1.3

Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Richtlinie mit Schwerpunkt auf den folgenden sechs prioritären Anforderungen auszuarbeiten:

gesamtschuldnerische Haftungsregelung, die für die Online–Verkäufer und die Zustelldienstbetreiber der gesamten Zustellkette gelten soll, insbesondere wenn Verbraucher Ware wegen Widerrufs oder Vertragswidrigkeit zurücksenden;

uneingeschränkte Verfolgbarkeit und Ermittelbarkeit der Sendungen;

Verpflichtung, dem Verbraucher die Wahl zwischen mehreren Zustelloptionen anzubieten;

volle Akzeptanz des Systems nationaler Zentren zur Lösung von Zustellungsproblemen im elektronischen Handel;

Verpflichtung zur Einhaltung fairer Arbeitsbedingungen;

Verpflichtung zur Transparenz hinsichtlich Konditionen und Preise;

und einen Bericht über die in den einzelnen Mitgliedstaaten sowie bei grenzüberschreitenden Zustellungen erzielten Ergebnisse vorzulegen.

1.4

Der Ausschuss hält es für wesentlich, die Mängel des Rechtsrahmens zu beheben; er empfiehlt einen strukturierten Dialog zwischen Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft – insbesondere der Verbraucherorganisationen und der KMU, der Online-Verkäufer und der Zustelldienstbetreiber – zur Bewertung der entsprechenden politischen Optionen rechtlicher und sonstiger Art bezüglich der vorgenannten sechs Prioritäten.

1.5

Die europäischen Normungsgremien müssen nach Ansicht des Ausschusses mit Nachdruck dazu angehalten werden, unter paritätischer Beteiligung der Nutzer, der KMU und anderer interessierter Akteure europäische technische Normen auszuarbeiten, durch die die Qualität und Zuverlässigkeit sowie die Nachhaltigkeit und die entsprechenden Sozial- und Sicherheitsgarantien der für den elektronischen Handel verwendeten integrierten Logistikdienste gewährleistet werden können. Äußerst wünschenswert wäre die Schaffung eines europäischen Sicherheits- und Gütezeichens für das Zustellungssystem.

1.6

Um die Erschwinglichkeit, Zuverlässigkeit und Effizienz der integrierten Zustellungsdienste zu gewährleisten, müssen nach Ansicht des EWSA Maßnahmen im Bereich der EU-Programme für technologische Forschung, Umwelt und Verkehr und insbesondere Galileo Priorität haben

1.7

Die volle Interoperabilität der Systeme und Plattformen für die Vernetzung ist für den Informationsaustausch und die Koordinierung zwischen allen Akteuren unverzichtbar.

1.8

Um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten und den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen zu verhindern, empfiehlt der EWSA die angemessene Unterstützung innovativer KMU, die neue Arbeitsplätze schaffen, durch die Einrichtung spezieller neuer Unterstützungsmöglichkeiten durch die EIB.

1.9

Der EWSA fordert mit Nachdruck die Schaffung eines europäischen Netzes nationaler Problemlösungszentren für die Zustellung im elektronischen Handel, das benutzerfreundlich und kostengünstig rasche Lösungen für die Probleme der Kunden und Online-Verkäufer anbietet, sowie die Einrichtung einer europäischen Beobachtungsstelle für die Kontrolle und Überwachung der Probleme in diesem Bereich.

1.10

Nach Ansicht des Ausschusses sollte ein Schnellwarnsystem für die Zustellung im elektronischen Handel errichtet werden, das mit den gleichen Befugnissen wie RAPEX und ICSMS ausgestattet wird. Es soll den schnellen Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission über Maßnahmen erleichtern, die zur Verhinderung oder Beschränkung der Vermarktung oder Nutzung von Zustellungssystemen für den elektronischen Handel ergriffen wurden, die eine ernste Gefahr für die Rechte der Verbraucher und Verkäufer im elektronischen Handel darstellen.

1.11

Ein integrierter Paketzustellungsmarkt erfordert nach Auffassung des EWSA hochwertige Arbeitsplätze im Rahmen einer soliden und kohärenten sozialen Dimension , die eine Neufestlegung der beruflichen Qualifikationen und Weiterqualifizierung ermöglicht und faire Arbeitsbedingungen und menschenwürdige Löhne sowie die Bekämpfung der Schwarzarbeit im Rahmen eines Dialogs zwischen den Sozialpartnern in dieser Branche auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene sicherstellt.

1.12

Der EWSA empfiehlt, ein europäisches Netz nationaler Zentren zur Lösung von Zustellungsproblemen im elektronischen Handel zu schaffen, das benutzerfreundlich und kostenlos rasche Lösungen für alle Probleme der Kunden und der Online-Einzelhändler anbietet, und eine europäische Beobachtungsstelle für die Zustellungssysteme im elektronischen Handel zu errichten, die vierteljährlich Bericht über die in diesem Bereich verzeichneten Probleme erstattet.

1.13

Der EWSA hält es für sinnvoll, auf interinstitutioneller Ebene eine Konferenz über die neue integrierte Logistik für die Zustellung im elektronischen Handel zu organisieren. Dadurch soll eine gerechte und nachhaltige Entwicklung der Branche gefördert, der Austausch bewährter nationaler Verfahren für Standardverträge (1) und Qualitätssicherungs- und Schlichtungssysteme unterstützt sowie eine stärkere Zusammenarbeit und Interoperabilität zwischen allen beteiligten Akteuren auf nationaler und grenzüberschreitender Ebene vorangetrieben werden.

2.   Elektronischer Handel und integrierte Zustellungssysteme

2.1

In Europa erzielte der elektronische Handel 2012 einen Umsatz von 300 Mrd. EUR, d.h. eine Steigerung von 20 % gegenüber dem Vorjahr (2), während die Online–Käufe innerhalb von fünf Jahren von 20 % auf 37 % gestiegen sind (3); die Einsparungen für die Verbraucher werden auf rund 12 Mrd. EUR pro Jahr geschätzt.

2.2

Die Vorteile des elektronischen Handels sind messbar in Bezug auf die Kostenersparnis und Schnelligkeit der Transaktion, Internationalität, Vollständigkeit, Informationsgeschwindigkeit sowie den Inhalt der Dienstleistungen in Verbindung mit den gehandelten Gütern. Die materielle Verfügbarkeit der meisten Produkte, mit Ausnahme digitaler Produkte, ist daher weiterhin von der Abwicklungskapazität der logistischen Prozesse für Verarbeitung und Verpackung, Verfolgbarkeit, Erkennung, Umschlag, Aufbewahrung und Beförderung der Pakete und Päckchen abhängig.

2.3

In der Strategie der Kommission von 2012 zur "Stärkung des Vertrauens in den digitalen Binnenmarkt für elektronischen Handel und Online-Dienste" (4) wurden "die fünf Haupthindernisse für den digitalen Binnenmarkt ermittelt und [….] ein Aktionsplan zu deren Beseitigung aufgestellt". Aufgeführt werden u.a. "unzureichende Zahlungs- und Liefersysteme" mit dem Zusatz "10 % der Verbraucher verzichten heute jedoch auf Online-Käufe (5), weil sie insbesondere bei Lieferungen aus anderen Ländern die Zustellungskosten und eine schlechte Dienstleistungsqualität fürchten". Dazu wird Folgendes ausgesagt:

"Es muss dafür gesorgt werden, dass dem Verbraucher verschiedene Optionen zur Verfügung stehen und die besten europäischen Praktiken von der Hauszustellung zu genau festgelegten Terminen bis zur Abholung bei einem Partnerunternehmen oder automatisierten System mit breitem Zeitspektrum müssen in den verschiedenen Mitgliedstaaten bekannt gemacht und genutzt werden."

"Die Frage, wer für eine beschädigte, gestohlene oder verlorengegangene Sendung haftet, sollte sowohl im Interesse der Kunden als auch der Unternehmen geklärt werden."

"Auch muss darüber gewacht werden, dass Zustelldienste selbst in ländlichen oder abgelegenen Gebieten und in den Regionen in äußerster Randlage effizient und erschwinglich sind, denn nur so kann der elektronische Handel dazu beitragen, territoriale Ungleichgewichte aufzufangen anstatt sie zu verschärfen."

Bezüglich gefälschter und/oder nachgeahmter Arzneimittel ist es notwendig, "einen angemessenen Schutz der Patienten [zu] gewährleisten, die Arzneimittel über das Internet beziehen".

2.4

Die traditionellen Logistiksysteme der Zustellkette sind veraltet und drohen insbesondere im transnationalen Bereich die Verbreitung und Entwicklung des elektronischen Handels zu bremsen, während der beschleunigte Ausbau der neuen Technologien neue Konvergenzmöglichkeiten eröffnet.

2.5

Die Entwicklung des elektronischen Handels zwischen Unternehmen und Verbrauchern (business to consumer, B2C) bei nicht dematerialisierbaren bzw. nicht digitalisierbaren Produkten hat zu einer deutlichen Zunahme gelegentlicher und schwer zu programmierender kleiner und mittlerer Zustellungen geführt, wobei die Dienstleistung immer stärker auf die Anforderungen des einzelnen Kunden zugeschnitten werden muss.

2.6

Die Schnelligkeit des Informationseingangs und des Abschlusses der Transaktionen, die durch eine immer direktere Schnittstelle zwischen Produzent und Verbraucher ermöglicht wird, bewirkt eine Steigerung der Erwartungen in Bezug auf die Schnelligkeit und Zuverlässigkeit der Zustellungen, deren Erfüllung einen starken Druck auf die Effizienz und die Kosten des Logistiksystems erzeugt.

2.7

Der Ausschuss hält es für wichtig, das Vertrauen nicht nur des online bestellenden Verbrauchers wiederherzustellen, zu dessen wichtigsten Bedenken die nicht erfolgte Lieferung, die Beschädigung oder der Verlust der bestellten Ware sowie die Möglichkeiten der Wiedereinziehung der gezahlten Beträge insbesondere im grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr zählen, sondern auch des Online-Einzelhändlers, dem das Fehlen eines an die Erfordernisse der Akteure angepassten Netzes, die mangelnde Interoperabilität sowie das Fehlen eines angemessenen Rechtsrahmens Probleme bereiten.

3.   Das Grünbuch der Kommission

3.1

Im Grünbuch der Kommission werden drei Handlungsbereiche für die Bewältigung der Probleme und Herausforderungen der Verbraucher und Einzelhändler bei Online-Käufen aufgeführt, um dank eines nachhaltigen und effizienten Zustellungssystems auf Ebene der Mitgliedstaaten und der EU sowie auf internationaler Ebene das Wachstum des elektronischen Handels zu fördern und dessen Vorteile allen Bürgern und KMU in ganz Europa zugänglich zu machen, und zwar:

Verbesserung des Komforts der Zustelldienste in der EU für Verbraucher und KMU;

kosteneffizientere Zustelllösungen zu günstigeren Tarifen für Verbraucher und KMU;

ein höheres Maß an Interoperabilität zwischen den Akteuren durch die Verbesserung der Modalitäten für die Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den Zustelldienstbetreibern und den Online-Einzelhändlern, insbesondere KMU.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA begrüßt den Vorstoß der Kommission zur Verwirklichung eines integrierten Paketzustellungsmarktes für Online-Käufe sowie die positive Entwicklung des elektronischen Handels nicht nur zwischen Unternehmen und Verbrauchern (B2C), sondern auch zwischen Unternehmen (B2B) und zwischen Verbrauchern (C2C). Dadurch soll ein höchstmögliches Maß an Vertrauen zwischen allen beteiligten Akteuren und in erster Linie bei den europäischen Bürgern hergestellt werden, indem die Erschwinglichkeit, Zuverlässigkeit, Transparenz, Effizienz sowie die volle Einhaltung der gegenseitigen Rechte gewährleistet werden.

4.2

Nach Auffassung des Ausschusses weist der Rechtsrahmen folgende Mängel auf, die behoben werden müssen:

für die Postdienste mit einem "Postuniversaldienst, der allen Bürgern, unabhängig von ihrem Wohnort, ihrer finanziellen und ihrer sonstigen Situation, den Zugang zu qualitativ hochwertigen und zuverlässigen Postdiensten zu erschwinglichen Preisen garantiert" und "ein wesentliches Element des europäischen Sozialmodells" ist (6);

für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen und die Informationspflichten unter umfassender Anwendung der Dienstleistungsrichtlinie (7).

4.3

Der Ausschuss hält es für entscheidend wichtig, den Rechtsrahmen entsprechend anzupassen, damit die europäischen Verbraucher größere wirtschaftliche und soziale Vorteile haben, was Eigenständigkeit und Praktikabilität, Transparenz und Wettbewerb sowie den Zugang zu einer breiteren Palette von Produkten und Dienstleistungen angeht, und damit die Unternehmen – insbesondere KMU – umfassende Möglichkeiten haben, innovative, hochwertige und verbraucherfreundliche Produkte und Dienstleistungen im gesamten europäischen Online-Binnenmarkt bereitzustellen und dadurch ihre Position stärken und ihre Wettbewerbsfähigkeit in der globalen Wirtschaft zu erhalten.

4.4

Es ist hervorzuheben, dass "die Entscheidungsträger sowohl quantitative als auch qualitative Ziele nach dem SMART-Prinzip (im Englischen: specific, measurable, achievable, realistic and timely - SMART) vorgeben müssen. Die Messung der Fortschritte anhand realistischer und geeigneter Zielvorgaben ist eine Grundvoraussetzung für eine wirksame Umsetzung der Maßnahmen und die Bewertung ihrer Auswirkungen in der Praxis" (8). Dadurch können das Vertrauen der Verbraucher, der Zustelldienstbetreiber und der Unternehmen gestärkt und parallel dazu die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in einer traditionell arbeitsintensiven Branche verbessert werden.

4.5

CEN, CENELEC und ETSI (9) müssen nach Auffassung des EWSA mit Nachdruck dazu angehalten werden, unter paritätischer Beteiligung von Verbraucherverbänden, KMU und anderen interessierten Akteuren europäische technische Normen auszuarbeiten. Ziel ist es, die Qualität und Zuverlässigkeit sowie die Nachhaltigkeit und die entsprechenden Sozial- und Sicherheitsgarantien der integrierten Logistikdienstleistungen für den elektronischen Handel zu gewährleisten, und zwar nach einem genauen Zeitplan mittels einer geeigneten Informationskampagne über das Internet und andere Medien. Für einen sinnvollen Schritt hält der EWSA auch die Schaffung eines europäischen Sicherheits- und Gütezeichens für Zustellungen, das vom europäischen Netz der Problemlösungszentren vergeben wird (analog zum VeriSign Secured Seal für Online-Zahlungen).

4.5.1

Der EWSA empfiehlt, ein europäisches Netz nationaler Zentren zur Lösung von Zustellungsproblemen im elektronischen Handel zu schaffen, das benutzerfreundlich und kostenlos rasche Lösungen für alle Probleme der Kunden und der Online-Einzelhändler anbietet, und eine europäische Beobachtungsstelle für die Zustellungssysteme im elektronischen Handel zu errichten, die vierteljährlich Bericht über die in diesem Bereich verzeichneten Probleme erstattet.

4.5.2

Der EWSA fordert mit Nachdruck die Schaffung eines Frühwarnsystems – nach dem Vorbild von RAPEX (10)/ICSMS (11) –, mit dessen Hilfe nach Verifizierung eines bei den nationalen Zentren zur Lösung von Zustellungsproblemen im elektronischen Handel gemeldeten Missbrauchs die betrügerischen Geschäftspraktiken abgestellt werden können, indem die Website unzugänglich gemacht wird und der Zustelldienstbetreiber bis zur wirksamen, benutzerfreundlichen und kostenlosen Lösung des Problems mit Sanktionen belegt wird.

4.6

Um die Erschwinglichkeit, Zuverlässigkeit und Effizienz der integrierten Zustellungsdienste zu gewährleisten, ist es nach Ansicht des EWSA außerdem erforderlich:

im Rahmen von Horizont 2020 der Erforschung integrierter Logistiktechnologien starke Priorität einzuräumen, um die Sendungsverfolgung, rasche Weiterleitung, Kooperationsschnittstellen Hersteller/Logistikdienstbetreiber/Verbraucher zu gewährleisten, damit die effektiven Zustellzeiten verkürzt und die Kosten gesenkt werden können;

die betriebliche Anlaufphase des Satellitensystems Galileo mit den Netzen von Bodenstationen gemäß den diesbezüglichen Stellungnahmen des Ausschusses zu beschleunigen (12);

die volle Interoperabilität insbesondere der Sendungsverfolgungssysteme und der vereinfachten EDV-gestützten Rücksende- und Erstattungssysteme zu gewährleisten, auch unter Nutzung der Erfahrungen mit IDA, IDABC und ISA (13) – Interoperabilität zwischen öffentlichen Verwaltungen;

Plattformen für die Vernetzung zwecks Informationsaustausch und Koordinierung zwischen den Beförderern zu schaffen, auch um die Umweltbelastung insbesondere auf der letzten Meile auf der Grundlage von Demonstrationsvorhaben im Rahmen von Horizont 2020 und Gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten 2020 zu begrenzen;

die Unterstützung von KMU im Bereich der integrierten Logistik durch die EIB zu ermöglichen - zur finanziellen Unterstützung innovativer und arbeitsplatzschaffender KMU im Rahmen der Initiative für mehr Wachstum und Beschäftigung (14);

die Transparenz der einzelnen Ausgabenposten zu gewährleisten, um die Kosten-/Preisstruktur und eine angemessene Zugänglichkeit im Blick zu behalten und zwecks Angebotsvielfalt die Marktüberwachung zu stärken.

4.7

Die Paketzustellungsbranche ist zwar - insbesondere im Verkehr mit Drittstaaten - arbeitsintensiv, zeichnet sich aber durch ein niedriges Qualifikationsprofil aus. In vielen EU-Mitgliedstaaten sind die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten durch prekäre Arbeitsverträge, zermürbende Arbeitszeiten, niedrige Löhne und geringe Möglichkeiten der beruflichen Weiterbildung geprägt. Dies ist das Ergebnis der Auslagerungen der Zustellungsunternehmen an Kooperativen oder Einzelspediteure, die zwar für einen Kurierdienstbetreiber arbeiten, dessen Firmenlogo und Dienstkleidung sie benutzen, jedoch Eigentümer des Lieferwagens für die Beförderung der Sendungen sind (Scheinselbstständigkeit) (15).

4.8

Für einen integrierten Paketzustellungsmarkt ist nach Auffassung des EWSA eine solide und kohärente soziale Dimension erforderlich; hochwertige Arbeitsplätze und Weiterbildung müssen sichergestellt und Schwarzarbeit muss bekämpft werden. Der EWSA empfiehlt daher, dass die Mitgliedstaaten auch über Tarifverträge dafür sorgen, dass die Arbeitsnehmer direkt bei den Paketzustellungsunternehmen beschäftigt sind und in der gesamten Branche faire und menschenwürdige Arbeitsbedingungen sichergestellt werden.

4.9

Nach Auffassung des Ausschusses ist es daher für die Entwicklung der Paketzustellungsbranche und der Logistik von strategischer Bedeutung, einen strukturierten Dialog auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene sowohl zwischen den Sozialpartnern der Branche als auch zwischen den Vertretern der Zivilgesellschaft – insbesondere der Verbraucherorganisationen und der KMU, der Online-Verkäufer und der Zustelldienstbetreiber – zu schaffen, um die Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen sowie die uneingeschränkte Nachhaltigkeit und Interoperabilität bei der Entwicklung des Zustellungsmarktes für Online-Bestellungen zu fördern.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe z.B. Thuiswinkel, niederländischer Mustervertrag vom 1.1.2012, festgelegt im Rahmen des niederländischen Wirtschafts- und Sozialrats in Absprache mit den Verbrauchern, dem bereits 80 % der interessierten Parteien im elektronischen Handel zugestimmt haben.

(2)  Quelle: McKinsey – 4. Europäische Jahreskonferenz über den elektronischen Handel, 14. November 2012, Brüssel.

(3)  Quelle: EUROSTAT für den Zeitraum 2004 - 2009.

(4)  COM(2011) 942 final vom 11.1.2012.

(5)  Eurostat Haushaltserhebung 2009.

(6)  ABl. C 168 vom 20.7.2007, S. 74.

(7)  ABl. C 224 vom 30.08.2008, S. 50.

(8)  ABl. C 108 vom 30.04.2004, S. 23.

(9)  CEN: Europäisches Komitee für Normung; CENELEC: Europäisches Komitee für elektrotechnische Normung; ETSI: Europäisches Institut für Telekommunikationsnormen.

(10)  RAPEX: Schnellwarnsystem für gefährliche Non-Food-Produkte.

(11)  ICSMS: Information Communication System Market Surveillance, europäisches Marktüberwachungssystem.

(12)  ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 73; ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 41; ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 37; ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 210; ABl. C 221 vom 8.9.2005, S. 28; ABl. C 302 vom 7.12.2004, S. 35; ABl. C 48 vom 21.2.2002, S. 42.

(13)  ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 36.

(14)  ETF-Startkapitalprogramm – Europäischer Investitionsfonds.

(15)  Missbrauch des Status der Selbstständigkeit (Siehe Seite 14 dieses Amtsblatts).


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/64


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Auflegung eines Unionsprogramms zur Unterstützung spezieller Tätigkeiten im Bereich Rechnungslegung und Abschlussprüfung für den Zeitraum 2014-2020

COM(2012) 782 final — 2012/0364 (COD)

2013/C 161/12

Berichterstatter: Antonello PEZZINI

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 24. Januar 2013 bzw. 15. Januar 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Auflegung eines Unionsprogramms zur Unterstützung spezieller Tätigkeiten im Bereich Rechnungslegung und Abschlussprüfung für den Zeitraum 2014-2020

COM(2012) 782 final — 2012/0364 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 7. März 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 82 Stimmen gegen 1 Stimme bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Mit dem zu prüfenden Vorschlag soll das von der Kommission 2009 aufgelegte Programm zur Finanzierung von Einrichtungen im Bereich Rechnungslegung und Abschlussprüfung für den Zeitraum 2014-2020 verlängert werden. Der Sektor ist seit dem Start des Programms bis heute verschiedenen Änderungen unterlegen. Die Zahl der Einrichtungen wurde auf nunmehr drei verringert: die International Financial Reporting Standards Foundation (IFRS Foundation), die Europäische Beratungsgruppe für Rechnungslegung (EFRAG) und das Public Interest Oversight Board (PIOB).

1.2

Der EWSA begrüßt den Inhalt des Programms im Großen und Ganzen und anerkennt die große Bedeutung der Rechnungslegung und Abschlussprüfung als Grundlage eines soliden und transparenten Marktes. Andererseits verfügt er nicht über ausreichend Anhaltspunkte, um beurteilen zu können, ob die zugewiesenen Beträge für das Funktionieren der jeweiligen Programme angemessen sind. Noch vertritt er einen eigenen Standpunkt bezüglich der Angemessenheit der jeweiligen Leistungen der Einrichtungen in Bezug auf die Erfordernisse der Nutzer, die hierzu allerdings eine durchaus positive Meinung zu haben scheinen.

1.3

In der Finanzkrise, die den Markt immer noch beeinträchtigt, hat sich deutlich gezeigt, dass genauere Rechnungslegung und wirksamere Prüfungsstandards erforderlich sind. Diese Instrumente sind allerdings nur dann sinnvoll, wenn die "Nutzer" dieser Dienstleistungen auch umfassend auf sie zurückgreifen können. Deshalb ist es notwendig, hochqualifizierte Experten für den öffentlichen und privaten Sektor auszubilden. Die EU, die Mitgliedstaaten und die Unternehmen müssen sich mit ganzer Kraft und mit angemessenem Mitteleinsatz dieser Aufgabe widmen.

2.   Einleitung

2.1

Die Europäische Kommission hat am 19. Dezember 2012 einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Unterstützung der Tätigkeit von Einrichtungen, die Standards und Normen im Bereich der Rechnungslegung und Abschlussprüfung erarbeiten, im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2014 und dem 31. Dezember 2020 veröffentlicht. Das Vorläuferprogramm von 2009 läuft am 31. Dezember 2013 aus. Einige der im ursprünglichen Programm aufgeführten Einrichtungen sind inzwischen in anderen aufgegangen. Der zu prüfende Vorschlag betrifft folglich die verbleibenden Begünstigten, nämlich IFRS Foundation (Rechtsnachfolgerin der IASCF), EFRAG und PIOB. Der gesamte Bereich betrifft den Privatsektor. Der öffentliche Sektor wird durch die Verordnung (EG) Nr. 2223/96 des Rates vom 25. Juni 1996 zum Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen auf nationaler und regionaler Ebene in der Europäischen Gemeinschaft (SEC 95) geregelt, die Grundsätze für die Aufstellung öffentlicher Haushaltspläne festlegt.

2.2

Sowohl der Vorschlag als auch die begleitende Begründung sind dermaßen mit Abkürzungen übersät, dass es schwierig ist, sich im Dschungel der Kürzel und der Beziehungen zwischen den verschiedenen, im Text genannten Einrichtungen zurechtzufinden. Deshalb muss zur Erleichterung der Lektüre von Dokumenten, die zwar mit einer präzisen Fachterminologie erarbeitet wurden, aber auch für Eingeweihte nicht immer leicht zu verstehen sind, ein Verzeichnis für die Abkürzungen und die Organisationsstrukturen eingefügt werden.

2.3

In diesem Verzeichnis werden folgende begünstigte Einrichtungen stark vereinfacht aufgeführt:

2.3.1

Die International Financial Reporting Standards Foundation (IFRS-Stiftung), Nachfolgeorganisation der International Accounting Standards Committee Foundation (IASCF-Stiftung) ist die Einrichtung, die auf globaler Ebene zusammen mit dem International Financial Reporting Interpretations Committee (IFRIC) die Rechnungslegungsstandards für die Abschlüsse der Unternehmen, die in der EU an einer Börse notiert sind, aufstellt. Diese Standards wurden in das Unionsrecht aufgenommen. Von der IFRS-Stiftung hängen die auf technischer Ebene aktiven Einrichtungen wie International Accounting Standards Board (IASB) und der für die Auslegung der IFSR zuständige Ausschuss ab. Die Steuerung wird von einer Reihe von Gremien wahrgenommen, deren Funktion nicht einfach abzugrenzen sind: neben dem Verwaltungsrat (Board) gibt es ein Überwachungsgremium ("Monitoring-Board"), einen "Standards Advisory Council" und einen "Due Process Oversight-Ausschuss".

2.3.1.1

Die Kommission gesteht der IFRS-Stiftung als weltweites Standardsetzungsgremium eine Hauptrolle zu und empfiehlt, die bereits der IASCF-Stifung gewährte Unterstützung im Rahmen einer stabilen Ko-Finanzierungsregelung fortzusetzen. Einige Mitgliedstaaten beteiligen sich bereits an dem Programm, die EU hat ihrerseits 17 % der Ausgaben im Jahr 2011 bestritten.

2.3.2

Die Europäische Beratungsgruppe für Rechnungslegung (EFRAG) ist fachlicher Berater der Kommission in Fragen der Rechnungslegung. Die Kontrolle der 2001 als privatwirtschaftliche Einrichtung gegründeten EFRAG wurde ursprünglich in Abhängigkeit der Finanzbeiträge der verschiedenen Beteiligten, darunter auch der Kommission, festgelegt. 2008 wurde die Führungsstruktur geändert, um der öffentlichen politischen Rolle der EFRAG besser gerecht zu werden. Diese hatte sich zwischenzeitlich zum Sprachrohr Europas im Bereich der Rechnungslegung entwickelt. Während Vertretung und Stimmrecht nach wie vor von den Führungsgremien "Mitgliederversammlung" und "Aufsichtsgremium" wahrgenommen werden, wird nun eine bessere Steuerung gewährleistet durch ein Planning and Ressource Committee (PRC), vor allem aber durch ein verstärktes, 17-köpfiges Aufsichtsgremium. Darin sind die verschiedenen Interessengruppen vertreten: die Ersteller und die Nutzer von Abschlüssen, Finanzinstitute sowie vier Experten aus dem Bereich Public Policy, die von der der Kommission ernannt werden.

2.3.2.1

Laut Kommission benötigt die EFRAG eine solide und langfristige Finanzierung, um glaubwürdig und unabhängig zu bleiben. Mehrere große Mitgliedstaaten tragen unmittelbar zu ihrer Unterstützung bei. Die Kommission kofinanziert die EFRAG im Namen der kleineren Mitgliedstaaten.

2.3.3

Das Public Interest Oversight Board (PIOB) ist eine spanische Stiftung mit Sitz in Madrid. Trotz ihrer privatrechtlichen Form handelt es sich um eine Einrichtung von großem Einfluss und Gewicht, die die ordnungsgemäße Verfahrensabläufe, eine ordnungsgemäße Überwachung und die Transparenz der internationalen Standards für die Abschlussprüfung gewährleistet, die vom Internationalen Wirtschaftsprüferverband (International Federation of Accountants – IFAC) vorgegeben werden, eine privatwirtschaftliche Einrichtung, die Wirtschaftsprüfer weltweit vertritt. Die wichtigsten Partner sind die Monitoring Group (MG), die internationale Regulierungsbehörden und wichtige internationale Institutionen (1) vertritt, und die IFAC. Das PIOB wird von zehn Mitgliedern geleitet, wovon zwei von der Kommission ernannt werden.

2.3.3.1

Mit dem Beschluss von 2009 wurde dem PIOB eine Finanzierung zugewiesen, die im Jahr 2011 22 % der förderfähigen Aufwendungen entsprach. Die Kommission arbeitet eng mit dieser Einrichtung zusammen und leistete auch einen Beitrag zur Ausbildung der PIOB-Mitarbeiter in EU-Haushaltsfragen. Allerdings scheint die Finanzierungsstruktur verbesserungswürdig: Die Ausgaben werden neben der Kommission allein vom IFAC mit 78 % kofinanziert. Die Kommission bemüht sich um Diversifizierung der PIOB-Finanzierung, um dessen Unabhängigkeit gegenüber dem IFAC zu stärken. Neben den für 2013 zugesagten Beiträgen internationaler Institutionen wurde eine Task Force damit beauftragt, eine Kampagne zur weltweiten Akquirierung von Beiträgen geeigneter Geldgeber durchzuführen.

2.4

Der von den Einrichtungen, die einen maßgeblichen Finanzierungsbeitrag erhalten sollen, behandelte Bereich ist hochtechnischen Charakters und außerhalb eines kleinen Kreises von Fachleuten kaum zu beurteilen. Die Kommission hat deswegen keine externen Konsultationen durchgeführt. Sie hat sich darauf beschränkt, anhand eigener Erfahrungen und Kenntnisse zu prüfen, ob die Beiträge angemessen sind. In der Folgenabschätzung wird lediglich festgestellt, dass das Finanzierungsprogramm die Erwartungen und Ziele erfüllt hat.

3.   Bemerkungen und Vorschläge

3.1

Der EWSA hat sich bereits zum ursprünglichen Programm geäußert (2) und die Kommissionsvorschläge unterstützt. Dabei brachte er einige Vorbehalte und Vorschläge zum Ausdruck, auf die im vorliegenden Text ggf. verwiesen wird. Heute wie damals ist dem Grundsatz zuzustimmen, dass die Aktivität von Einrichtungen, die hochsensible Aufgaben von größter Bedeutung bewältigen, finanziert werden muss. Indes ist es schwierig, zur Höhe der Finanzbeiträge fundiert Stellung zu nehmen, da diese von einer Vielzahl von Kenntnissen abhängen, die nur einem engen Kreis von Spezialisten zur Verfügung stehen.

3.2

Die Finanzkrise war bereits 2009 ausgebrochen, als das Programm zum ersten Mal aufgelegt wurde. Damals war es indes evtl. zu früh für umfassende Analysen, die auch die weniger offensichtlichen Aspekte der Ursachen bzw. Nebenursachen der Ereignisse berücksichtigen. Die mittlerweile verstrichene Zeit und der Lauf der Ereignisse ermöglichen nun einige zusätzliche Überlegungen.

3.3

Die Rechnungslegung und die Verfahren der Abschlussprüfung sind kostspielig. Sie werden noch teurer, wenn sie von Fachleuten durchgeführt werden, die auf dem Markt nicht einfach zu finden sind und deren Hochschulausbildung lediglich den Ausgangspunkt für den Erwerb hochwertiger Kompetenzen in der Praxis darstellt. Darüber hinaus müssen diese Fachleute auch über besondere moralische Qualitäten verfügen, um die Vertraulichkeit der Informationen und die Neutralität ihrer Analysen zu gewährleisten. All dies führt zum Schluss, dass die Finanzierung der Einrichtungen sicherlich sinnvoll ist, dass aber auch die Ausbildung angemessen vergüteter und geförderter Fachleute unerlässlich ist.

3.3.1

Wenn von "Fachleuten" die Rede ist, wird im Allgemeinen an die Personen gedacht, die für die Erarbeitung der Rechnungslegung und Standards zuständig sind. Indes gehören ihre Adressaten, für die die Informationen Arbeitsmittel und die Standards Handlungsanleitungen ihrer Aktivitäten darstellen, ebenso zu diesen "Fachleuten". Dies verdeutlicht, dass die Verfügbarkeit angemessen ausgebildeter Humanressourcen eine Priorität ist, nicht nur in Bezug auf die Produzenten von Finanzinformationen, sondern auch für den Kreis der Personen, die sie anwenden müssen: Regulierungs- und Aufsichtsbehörden, Gesetzgeber, Unternehmen und Forschungseinrichtungen.

3.4

Eng verbunden mit dem Aspekt der Ausbildung ist die Qualität der Finanzinformationen: in Ziffer 3.1 wurde festgestellt, dass sich der Umfang der vorgeschlagenen Finanzbeiträge nur schwer beurteilen lässt. Noch schwieriger und willkürlicher wäre ein Urteil über den Mehrwert ihres Nutzens, den sie für die Anwender erbringen. Der EWSA kann dem Vorschlag der Kommission bezüglich der Höhe der Beiträge nur seine Zustimmung geben, die ausschließlich auf Vertrauen und der Würdigung der Gründe basiert.

3.5

Der EWSA hat in seiner 2009 veröffentlichten Stellungnahme (3) zum ursprünglichen Programm empfohlen, besonders darauf zu achten, dass ungebührliche Beeinflussung oder Eingriffe in die Wertpapiermärkte  (4), auf die die IASCF- und EFRAG-Standards Anwendung finden, vermieden werden. Der Punkt wurde von der selbst Kommission angeschnitten, die einen Gemeinschaftsbeitrag forderte, um eine ungebührliche Beeinflussung "durch Dritte mit einem Interesse" zu vermeiden. Dieser wichtige und heikle Aspekt wurde im neuen Verordnungsvorschlag nicht mehr angesprochen. Der EWSA fordert die Kommission auf, ihr volles Vertrauen in die Unabhängigkeit dieser Einrichtungen zu bestätigen. Das Gleiche gilt für den PIOB  (5).

3.6

Bezüglich EFRAG wird darauf hingewiesen, dass die Kommission diese Einrichtung im Namen der kleineren Mitgliedstaaten kofinanziert (die größeren Mitgliedstaaten leisten einen direkten Beitrag). Möglicherweise würde sich der Beitrag der Kommission nicht maßgeblich verändern, wenn alle Mitgliedstaaten ihren – eventuell auch symbolischen – Beitrag leisten würden. Jedoch wäre diese Geste ein Signal für eine verantwortungsvolle Beteiligung aller Mitglieder der Union an Einrichtungen von großer gemeinsamer Bedeutung unabhängig von der Größe der einzelnen Mitgliedstaaten.

3.7

Die internationalen Rechnungslegungsvorschriften (IFRS) sehen eine Rechnungslegung der Unternehmen zu Marktpreisen (Mark-to-market-Bewertungsmethode) vor. In der Finanzkrise wurde beobachtet, dass sie eine kurzfristige prozyklische Wirkung haben können. Der EWSA empfiehlt eine Kosten-Nutzen-Analyse dieser Vorschriften, z.B. im Rahmen des hier erörterten Programms.

3.8

Abschließend möchte der EWSA noch einmal darauf auf die Bedeutung der Erhebung und Verarbeitung der Daten hinweisen. Vor allem aber müssen sie korrekt verstanden und verwendet werden: ist zum einen die hohe Professionalität der "Lieferanten" anzuerkennen, so ist jedoch seitens der vielgestaltigen Nutzerkategorien noch viel zu tun im Hinblick auf die Ausbildung und Weiterbildung entsprechender Humanressourcen.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Mitglieder der MG sind die Europäische Kommission, die IOSCO (Internationale Vereinigung der Wertpapieraufsichtsbehörden), der BCBS (Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht) und eine Reihe weiterer ähnlicher Gremien auf europäischer und globaler Ebene.

(2)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 75. Weitere wichtige Stellungnahmen, vor allem zu einigen fachlichen Aspekten: ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 61.

(3)  Siehe Fußnote 2.

(4)  Siehe Ziffer 3.2.1.

(5)  Siehe Ziffer 3.4.


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/67


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Junge Menschen in Beschäftigung bringen

COM(2012) 727 final

2013/C 161/13

Hauptberichterstatter: Pavel TRANTINA

Mithauptberichterstatter: Philippe DE BUCK

Die Europäische Kommission beschloss am 19. Dezember 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Junge Menschen in Beschäftigung bringen

COM(2012) 727 final.

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft am 13. November 2012 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 21. März) Pavel TRANTINA zum Hauptberichterstatter und Philippe DE BUCK zum Mithauptberichterstatter und verabschiedete mit 174 gegen 4 Stimmen bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Empfehlungen

1.1

Der EWSA bekräftigt seine bereits vielfach geäußerte scharfe Kritik an der katastrophalen Jugendarbeitslosenquote und ersucht alle Interessenträger um sofortige, wirksame und endgültige Maßnahmen, um den Teufelskreis zu durchbrechen, der die Zukunft einer ganzen Generation gefährdet. Es bedarf dringend angemessener Investitionen in junge Menschen, deren Früchte dann langfristig geerntet werden können.

1.2

Gleichzeitig betont der EWSA, dass eine wirkliche Wachstumsstrategie auf EU- und nationaler Ebene erforderlich ist, um die Schaffung von mehr und sichereren Arbeitsplätzen zu fördern, weil diese eine Voraussetzung für den Erfolg der Maßnahmen sind, mit denen junge Menschen in Arbeit gebracht werden können. Das erfordert einen koordinierten Ansatz für alle Anstrengungen und Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und zur Wiederherstellung des Vertrauens von Investoren und Haushalten. Das Europäische Semester bietet eine Gelegenheit, um entsprechende Strategien und Reformen vorzuschlagen, die in jedem Mitgliedstaat umgesetzt werden sollten.

1.3

Der EWSA begrüßt den Vorschlag für ein Jugendbeschäftigungspaket und empfiehlt, seiner Umsetzung auf Ebene der Mitgliedstaaten besondere Aufmerksamkeit zu widmen, indem Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit als wichtige Elemente der nationalen Reformprogramme ergriffen werden.

1.4

Der EWSA befürwortet den Vorschlag zur Einführung von Jugendgarantie-Systemen in den Mitgliedstaaten, die aus einem spezifischen Fonds für die Jugendbeschäftigungsinitiative innerhalb des mehrjährigen Finanzrahmens finanziert werden, und begrüßt dessen Einrichtung mit dem Hinweis, dass er auf nationaler Ebene ergänzt werden muss. Er hält jedoch die Höhe der teilweise aus existierenden Geldern des Europäischen Sozialfonds stammenden Fondsmittel von nur 6 Mrd. EUR für ungenügend. Angesichts der Tatsache, dass mit dem Fonds nur Regionen mit einer Jugendarbeitslosigkeit von über 25 % gefördert werden, betont der EWSA darüber hinaus, dass auch andere Regionen Zugang zu finanzieller Unterstützung gemäß den ESF-Standardverfahren erhalten sollten. Es muss jedoch umgehend gehandelt werden, indem die vorgeschlagenen Maßnahmen mit neuen Mitteln gefördert werden, ohne im Rahmen des ESF eine Konkurrenz zwischen jungen Menschen und anderen benachteiligten Gesellschaftsgruppen hervorzurufen.

1.5

Der EWSA unterstützt folgenden Ansatz der Kommission: "Die Jugendgarantie muss durch ein umfassendes und ganzheitliches System umgesetzt werden, das dafür sorgt, dass junge Menschen binnen vier Monaten nach ihrem Abgang von der Schule oder nach einem Arbeitsplatzverlust ein gutes Angebot für einen Arbeitsplatz, eine Weiterbildung oder eine Ausbildungs- bzw. Praktikumsstelle erhalten." Der EWSA räumt ein, dass zwischen den Mitgliedstaaten Unterschiede bestehen, und erkennt an, dass es wichtig ist, sie in die Lage zu versetzen, die Altersobergrenze entsprechend ihren jeweiligen Erfordernissen und Möglichkeiten festzulegen. Er empfiehlt jedoch, falls möglich, die Altersgrenze für die Teilnahme an dem Programm auf 30 Jahre heraufzusetzen, um die jungen Menschen einzubeziehen, die die Hochschule zu einem späteren Zeitpunkt verlassen oder sich noch im Übergang von der Ausbildung in die Beschäftigung befinden und noch Gefahr laufen, den Kontakt zum Arbeitsmarkt zu verlieren, insbesondere in den Ländern mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit.

1.6

Der EWSA begrüßt auch die vom Rat "Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz" am 28. Februar 2013 erzielte politische Einigung über den Vorschlag für eine Jugendgarantie. Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass die Jugendgarantie nicht erst nach vier Monaten greifen sollte, sondern möglichst frühzeitig – idealerweise bereits mit der Meldung beim Arbeitsamt (1).

1.7

Der EWSA hält es für grundlegend, im Interesse einer uneingeschränkten und ordnungsgemäßen Umsetzung der Jugendgarantie auf EU- und nationaler Ebene die Instrumente, Zuständigkeiten, Ziele und Indikatoren für die Überwachung besser und klarer zu definieren. Aus diesem Grund schlägt der EWSA vor, die Umsetzung der Jugendgarantie in die Indikatoren für das Europäische Semester aufzunehmen.

1.8

Auf der Grundlage der erfolgreichen Beispiele aus einigen Mitgliedstaaten sollten die Sozialpartner und Jugendorganisationen und ihre Vertretungsplattformen bei der Konzipierung, Umsetzung, Förderung und Überwachung des Programms eine Schlüsselrolle spielen.

1.9

Reformen der EURES-Netze und ggf. der öffentlichen Arbeitsverwaltungen in den Mitgliedstaaten sollten auch darauf abzielen, junge Menschen aktiv zu unterstützen und ihre Dienstleistungen und Konzepte so anzupassen, dass sie zugänglicher werden. Bereits in der Schule müssen Möglichkeiten für eine individuelle Berufsberatung und -orientierung geschaffen werden.

1.10

Die Bedingungen für das Angebot von Praktika und Ausbildungsplätzen sollten verbessert werden. Hohe Qualitätsstandards für Praktika und Ausbildungsplätze müssen durch spezifische Kriterien sichergestellt werden, die einzuhalten sind, damit finanzielle Unterstützung beantragt werden kann. Ergänzend dazu sollten bessere Überwachungsmechanismen und Garantien für die Rechte der Praktikanten eingeführt werden.

2.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsinitiativen

2.1

Die Erwerbstätigenquote junger Menschen ist in den letzten vier Jahren um beinahe fünf Prozentpunkte gesunken; das ist das Dreifache des entsprechenden Rückgangs bei den Erwachsenen. Junge Arbeitslose haben geringe Chancen, einen Arbeitsplatz zu finden: Nur 29,7 % der 15- bis 24-Jährigen, die im Jahr 2010 arbeitslos waren, fanden im Jahr 2011 einen Arbeitsplatz; das ist ein Rückgang um nahezu 10 % in drei Jahren. Über 30 % der Arbeitslosen unter 25 Jahren sind seit mehr als 12 Monaten arbeitslos: 1,6 Mio. im Jahr 2011 gegenüber 0,9 Mio. im Jahr 2008. Nach Angaben von Eurofound sind 14 Mio. junge Menschen in der EU im Alter zwischen 15 und 29 Jahren weder in Arbeit noch in Ausbildung (7,5 Mio. junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren) (2). Die wirtschaftlichen Kosten der fehlenden Eingliederung junger Menschen in den Arbeitsmarkt werden auf über 150 Mrd. EUR pro Jahr (1,2 % des EU-BIP) geschätzt. Zu den sozialen Folgen gehören die Abkoppelung von der Gesellschaft und der Verlust des Vertrauens in das politische System, geringe Selbstständigkeit, Angst vor dem Unbekannten und Verschwendung intellektuellen Potenzials.

2.2

Die Europäische Kommission hat ein Jugendbeschäftigungspakt vorgelegt, das vier Aktionsbereiche umfasst. Der erste Aktionsbereich ist eine vorgeschlagene Empfehlung an die Mitgliedstaaten zur Einführung einer Jugendgarantie. Diese soll dafür sorgen, dass alle Unter-25-Jährigen innerhalb von vier Monaten nach Abschluss ihrer Schulausbildung oder nach Verlust ihres Arbeitsplatzes eine hochwertige Arbeitsstelle, eine weiterführende Ausbildung oder einen Ausbildungs- oder Praktikumsplatz angeboten bekommen. Mit der vorgeschlagenen Empfehlung werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, enge Partnerschaften mit den Interessenträgern einzugehen, für eine frühzeitige Einschaltung der Arbeitsverwaltungen und anderer Partner aus dem Bereich der Jugendförderung zu sorgen, unterstützende Maßnahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu ergreifen, den Europäischen Sozialfonds und andere einschlägige Strukturfonds in vollem Umfang zu nutzen sowie die Jugendgarantie-Systeme rasch einzuführen, zu bewerten und kontinuierlich zu verbessern. Die Kommission wird die Mitgliedstaaten durch EU-Mittel, die Förderung des Austauschs bewährter Verfahren unter den Mitgliedstaaten, die Überwachung der Umsetzung der Jugendgarantien im Rahmen des Europäischen Semesters sowie Sensibilisierungsmaßnahmen unterstützen.

2.3

Zur Erleichterung des Übergangs von der Schule in den Beruf sieht das Paket auch die Konsultation der europäischen Sozialpartner zu einem Qualitätsrahmen für Praktika vor, der dazu dienen soll, dass junge Menschen unter sicheren Bedingungen wertvolle Berufserfahrungen sammeln können.

2.4

Außerdem kündigt die Kommission die Schaffung einer Europäischen Ausbildungsallianz an, die darauf abzielt, die Qualität der Ausbildungsplätze zu verbessern und das Angebot an verfügbaren Lehrstellen zu erweitern. Dies soll durch die Verbreitung erfolgreicher Berufsausbildungssysteme in allen Mitgliedstaaten geschehen. Zudem wird aufgezeigt, wie Mobilitätshindernisse für junge Menschen abgebaut werden können.

2.5

Schließlich schlägt die Kommission mit Blick auf die erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Jugendarbeitslosigkeit Maßnahmen vor, um die grenzüberschreitende Mobilität junger Arbeitnehmer zu verbessern, namentlich die Verbesserung des EURES-Systems.

2.6

Die vorgeschlagenen Maßnahmen des Jugendbeschäftigungspakets bauen auf den Maßnahmen der Initiative "Chancen für junge Menschen" auf, die im Dezember 2011 gestartet wurde. Die Kommission nutzt auch andere politische Instrumente zur Bewältigung der Jugendarbeitslosigkeit, beispielsweise länderspezifische Empfehlungen. Im Juli 2012 wurden Empfehlungen (3) an fast alle Mitgliedstaaten abgegeben, um die Lage junger Menschen zu verbessern.

3.   Allgemeine Bemerkungen zum Kommissionspaket

3.1

Auf EU- und nationaler Ebene bedarf es einer wirklichen Wachstumsstrategie zur Förderung der Schaffung neuer und sichererer Arbeitsplätze. Das erfordert einen koordinierten Ansatz bei allen Anstrengungen und Maßnahmen, die auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und auf die Wiederherstellung des Vertrauens von Investoren und Haushalten ausgerichtet sind. Das Europäische Semester bietet eine Gelegenheit, um entsprechende Strategien und Reformen vorzuschlagen, die in jedem Mitgliedstaat umgesetzt werden sollten. Synergieeffekte, wie etwa die Berücksichtigung sozialer Aspekte in öffentlichen Ausschreibungen, sollten nicht unterschätzt werden.

3.2

Die Situation der europäischen Jugend auf dem Arbeitsmarkt steht im Mittelpunkt des Interesses. Zur Erleichterung eines reibungslosen Übergangs junger Menschen ins Erwerbsleben ist es wichtig, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um

sämtliche Hindernisse zu beseitigen, die Jugendliche vom Eintritt in den Arbeitsmarkt abhalten;

das Missverhältnis zwischen angebotenen und nachgefragten Kompetenzen zu verringern;

die Eigenständigkeit junger Menschen zu fördern;

die Attraktivität der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu steigern, insbesondere der Ausbildung in strategisch wichtigen Bereichen wie Technologie oder Ingenieurswesen;

Partnerschaften und Synergien zwischen allen Interessenträgern zu fördern;

Unternehmen dazu anzuhalten und dabei zu unterstützen, Arbeits- und Ausbildungsplätze für junge Menschen zu schaffen.

3.3

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission die Situation junger Menschen langfristig in den Mittelpunkt rückt. In diesem Zusammenhang ist das Jugendbeschäftigungspaket ein weiterer Schritt hin zur Schaffung eines kohärenten und integrierten Ansatzes zu Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und zur Förderung eines hochwertigen Übergangs von der schulischen Bildung zum Arbeitsmarkt. Besondere Aufmerksamkeit ist jedoch den Mitgliedstaaten zu widmen, die die Hauptakteure auf dem Gebiet der Jugendbeschäftigung sind und von denen Folgemaßnahmen in den nächsten Monaten erwartet werden. Angesichts der Dringlichkeit des Problems und der großen Bedeutung von Investitionen in Jugendliche, die eine entscheidende Ressource für den Arbeitsmarkt sind, reicht das jedoch nicht aus. Von allergrößter Bedeutung ist es, Vertrauen zu schaffen, indem gemeinsame Grundsätze für die Jugendgarantie in Europa festgelegt werden, um die Qualität, Zugänglichkeit und Wirkung des Instruments europaweit zu verbessern.

3.4

Der EWSA ist bereit, aktiv zur Konzipierung und Förderung dieses Pakets beizutragen, da

seine Mitglieder als Vertreter der Arbeitgeber, Gewerkschaften und weiterer zivilgesellschaftlicher Organisationen in die Prozesse eingebunden sind, die die Beschäftigung junger Menschen langfristig fördern sollen, über die erforderlichen Kontakte und damit über Einfluss verfügen und zahlreiche Initiativen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit auf den Weg gebracht haben,

er über umfangreiches Fachwissen verfügt, nachdem er in den vergangenen Jahren eine Reihe von Konferenzen, Anhörungen und Seminaren organisiert (4) und etliche wichtige Stellungnahmen zu diesem Thema verabschiedet hat (5).

3.5

Der EWSA begrüßt den von der Europäischen Kommission vorgelegten Vorschlag für eine Empfehlung zur Einführung der Jugendgarantie. Diese soll dafür sorgen, dass alle Unter-25-Jährigen innerhalb von vier Monaten nach Abschluss ihrer Schulausbildung oder nach Verlust ihres Arbeitsplatzes eine hochwertige Arbeitsstelle, eine weiterführende Ausbildung oder einen Ausbildungs- oder Praktikumsplatz angeboten bekommen. Die Garantie ist, wenn sie angemessen umgesetzt wird, ein wichtiger Schritt zur Investition in junge Menschen. Sie kann dazu führen, dass die hohen Kosten der Jugendarbeitslosigkeit sowohl für den Einzelnen als auch für Europa insgesamt sinken, und sie kann einen entscheidenden Beitrag zur Erhöhung der Qualität und Effizienz beim Übergang junger Menschen von der Ausbildung ins Erwerbsleben leisten. Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass die Jugendgarantie nicht erst nach vier Monaten greifen sollte, sondern möglichst frühzeitig – idealerweise bereits mit der Meldung beim Arbeitsamt.

3.6

Der EWSA befürwortet den Vorschlag zur Einführung von Jugendgarantie-Systemen in den Mitgliedstaaten, die aus einem spezifischen Fonds für die Jugendbeschäftigungsinitiative innerhalb des mehrjährigen Finanzrahmens finanziert werden, und begrüßt dessen Einrichtung mit dem Hinweis, dass er auf nationaler Ebene ergänzt werden muss. Er hält jedoch die Höhe der teilweise aus existierenden Geldern des Europäischen Sozialfonds stammenden Fondsmittel von nur 6 Mrd. EUR für ungenügend. Da zudem die Verluste aufgrund der Nicht-Eingliederung junger Menschen in den Arbeitsmarkt (in Bezug auf Sozialtransfers, Ertragsausfälle und nicht getätigte Steuerzahlungen) bei über 150 Mrd. EUR pro Jahr liegen (1,2 % des EU-BIP) (6) und die ILO zu dem Schluss gekommen ist, dass die Investition von 21 Mrd. EUR innerhalb weniger Jahre zu signifikanten Veränderungen führen kann (7), ist der EWSA der Auffassung, dass die Jugendgarantie eine sinnvolle Sozialmaßnahme mit einer sehr positiven Kosten-Nutzen-Wirkung ist.

3.7

Der EWSA unterstützt folgenden Ansatz der Kommission: "Die Jugendgarantie muss durch ein umfassendes und ganzheitliches System umgesetzt werden, das dafür sorgt, dass junge Menschen binnen vier Monaten nach ihrem Abgang von der Schule oder nach einem Arbeitsplatzverlust ein gutes Angebot für einen Arbeitsplatz, eine Weiterbildung oder eine Ausbildungs- bzw. Praktikumsstelle erhalten." Der EWSA räumt ein, dass zwischen den Mitgliedstaaten Unterschiede bestehen, und erkennt an, dass es wichtig ist, sie in die Lage zu versetzen, die Altersobergrenze entsprechend ihren jeweiligen Erfordernissen und Möglichkeiten festzulegen. Er empfiehlt jedoch, falls möglich, die Altersgrenze für die Teilnahme an dem Programm auf 30 Jahre heraufzusetzen, um die jungen Menschen einzubeziehen, die die Hochschule zu einem späteren Zeitpunkt verlassen oder sich noch im Übergang von der Ausbildung in die Beschäftigung befinden und noch Gefahr laufen, den Kontakt zum Arbeitsmarkt zu verlieren, insbesondere in den Ländern mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit. Darüber hinaus muss die Jugendgarantie eine strukturelle Maßnahme im Rahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik der EU sein – und dies nicht nur in diesen Krisenzeiten.

3.8

Der EWSA hält es für wichtig, klare Qualitätsstandards und Indikatoren für die Entwicklung und Umsetzung der Jugendgarantie-Systeme auf europäischer und nationaler Ebene zu entwickeln. Lehren und Praktika im Rahmen des Jugendgarantie-Systems müssen dem diesbezüglichen Qualitätsrahmen entsprechen und junge Menschen in die Lage versetzen, ein eigenständiges Leben zu führen. Die Mitgliedstaaten werden ferner aufgefordert, Möglichkeiten der individuellen Berufsorientierung und -beratung zu schaffen sowie Verfahren einzuführen, um die verschiedenen Angebote zu überwachen und die Auswirkungen des Programms auf den anschließenden Übergang der Betroffenen ins Erwerbsleben zu bewerten.

3.9

Der EWSA betont, dass die Jugendgarantie-Initiative in eine aktive Arbeitsmarktstrategie eingebettet werden sollte, um jungen Menschen bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu helfen, damit sie ein eigenständiges Leben führen können. Ein weiterer wichtiger Aspekt einer solchen Strategie sollten Reformen der öffentlichen Arbeitsverwaltungen in den Mitgliedstaaten sein, die, sofern erforderlich, auf das aktive "Abholen" junger Menschen und die größere Zugänglichkeit der betreffenden Dienstleistungen und Konzepte sowie auf eine weitere Verbesserung der Dienstleistungen für alle Arbeitslosen abzielen. Die öffentlichen Arbeitsverwaltungen sollten mit den Bildungseinrichtungen zusammenarbeiten, einen direkten Kontakt zu jungen Menschen herstellen und ihnen rechtzeitig vor Abschluss der Schule einen Arbeitsplatz oder eine Ausbildungsmöglichkeit im Rahmen eines vorausschauenden und maßgeschneiderten Betreuungskonzepts anbieten. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, dies bei ihrer Strategie zur Unterstützung der öffentlichen Arbeitsverwaltungen in Europa zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, die EURES-Dienste besser auf die Bedürfnisse junger Menschen abzustimmen und intensiver für ihre Bekanntheit in der jungen Generation zu sorgen.

3.10

Der EWSA empfiehlt ferner den Mitgliedstaaten, die Unterstützung für Unternehmen, Genossenschaften und Organisationen des Dritten Sektors zu verstärken, die in enger Zusammenarbeit mit den öffentlichen Arbeitsverwaltungen an den Jugendgarantie-Systemen teilnehmen möchten. Instrumente wie steuerliche Anreize, Zuschüsse zu den fixen Beschäftigungskosten und die Möglichkeit der Finanzierung von Schulungen vor Ort sind wichtige Elemente für die Umsetzung des Programms und zur Unterstützung von Unternehmen, die sinnvoll und effizient in das Potenzial junger Menschen investieren wollen. Ihre Anwendung sollte mit der Einhaltung der Qualitätsvorschriften/-leitlinien verknüpft werden und die Festlegung von Überwachungsmechanismen beinhalten. Der EWSA hält es für notwendig, den Kapazitätenaufbau aller Interessenträger im Bereich der Systeme hochwertiger Praktika zu fördern.

3.11

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Sozialpartner eine grundlegende Rolle bei der Konzipierung, Umsetzung und Überwachung des Systems spielen. Ein solider sozialer Dialog ist wesentlich, um jungen Menschen ein Jugendgarantie-System mit hohen Qualitätsstandards, die sowohl für die Unternehmen als auch für die Jugendlichen selbst gelten, anzubieten. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, die Sozialpartner in die Überwachung der Umsetzung der Jugendgarantie sowie der im Rahmen der verschiedenen Programme verfügbaren Beschäftigungs- oder Ausbildungsangebote einzubeziehen.

3.12

Eine weitere wichtige Rolle spielen die Organisationen des dritten Sektors, insbesondere Jugendorganisationen und ihre Vertretungsplattformen, die maßgebliche Instrumente für die Beteiligung junger Menschen darstellen und diese in die Lage versetzen, ihre Kompetenzen zu entwickeln und die richtige Einstellung zur Arbeit und ein angemessenes Verhalten am Arbeitsplatz zu erlernen. Es ist deshalb wichtig, junge Menschen in die Gestaltung und Umsetzung der Systeme einzubeziehen. Darüber hinaus könnten unterschiedliche Sozialunternehmen und weitere relevante Interessenträger beteiligt werden. Der Ausschuss weist auch auf die bewährten Methoden für die Beteiligung von Interessenträgern hin, so wie sie in Österreich (8), Schweden und Finnland (9) existieren.

3.13

Eine weitere Priorität sollte die Erweiterung des Zugangs zum System für Jugendorganisationen und Organisationen des Dritten Sektors sein. Indem sie sich beteiligen und Stellen anbieten, könnten sie die Situation in ihrer lokalen Gemeinschaft verbessern und damit eine positive Rolle für Jugendliche und die Gesellschaft spielen.

3.14

Der EWSA hält es für entscheidend, den Vorschlag mit angemessenen Mitteln auszustatten, um die Mitgliedstaaten und Regionen zu fördern, die ehrgeizige Jugendgarantie-Systeme oder Ausbildungsallianzen festlegen möchten. In dieser Hinsicht empfiehlt der EWSA, die EU-Mittel für die Systeme vorzusehen, die den durch die EU-Initiative oder von den Mitgliedstaaten festgelegten Mindestqualitätsstandards entsprechen.

3.15

Angesichts dessen befürwortet der EWSA den Vorschlag zur Einführung von Jugendgarantie-Systemen in den Mitgliedstaaten, die durch eine spezifische Jugendbeschäftigungsinitiative innerhalb des mehrjährigen Finanzrahmens finanziert werden und mit Mitteln in Höhe von mindestens 6 Mrd. EUR ausgestattet sind, von denen die Hälfte aus dem Europäischen Sozialfonds stammen. Der EWSA begrüßt die Einrichtung des Fonds, merkt jedoch an, dass angesichts der Tatsache, dass damit nur Regionen mit einer Jugendarbeitslosigkeit von über 25 % gefördert werden, auch andere Regionen Zugang zu finanzieller Unterstützung gemäß den ESF-Standardverfahren erhalten können sollten. Diese Gelder werden eine grundlegende Finanzierungsquelle sein, die die notwendigen Investitionen aus den nationalen Haushalten ergänzen.

3.16

Um jungen Menschen die Kompetenzen zu vermitteln, die von grundlegender Bedeutung in ihrem künftigen Berufsleben sein werden, drängt der EWSA die Kommission und die Mitgliedstaaten, die eingeführten Fördermaßnahmen für die Jugendbeschäftigung – insbesondere die gänzlich oder teilweise aus EU-Mitteln finanzierten – wirksamer und dauerhafter zu gestalten, damit junge Menschen nicht im Anschluss an ein befristetes oder unbezahltes Praktikum unterstützt werden müssen.

3.17

Da die Einführung der Jugendgarantie nur dann wirksam ist, wenn sie im Rahmen wachstums- und beschäftigungsorientierter Konzepte der EU und der Mitgliedstaaten erfolgt, fordert der EWSA, wie bereits mehrfach zuvor, die Festlegung neuer und verbindlicher EU-Ziele zur Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit (10). Dies sollte ein Kernstück der nationalen Reformprogramme im Zusammenhang mit der EU-2020-Strategie sein.

4.   Besondere Bemerkungen zu den Vorschlägen der Kommission

4.1   Die Jugendgarantie

4.1.1

Der EWSA begrüßt, dass der Vorschlag der Kommission für eine Empfehlung des Rates zur Einführung einer Jugendgarantie eine Reihe wichtiger Elemente enthält, darunter die klare Bestimmung, dass den betreffenden Jugendlichen "innerhalb von vier Monaten nach Abschluss [der] Schulausbildung oder nach Verlust [des] Arbeitsplatzes eine hochwertige Arbeitsstelle, eine weiterführende Ausbildung oder einen Ausbildungs- oder Praktikumsplatz angeboten" werden soll. Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass die Jugendgarantie nicht erst nach vier Monaten greifen sollte, sondern möglichst frühzeitig – idealerweise bereits mit der Meldung beim Arbeitsamt.

4.1.2

Es ist wichtig anzuerkennen, dass sich Investitionen in die Jugendgarantie durchaus auszahlen, da die europaweiten jährlichen Verluste aufgrund der Tatsache, dass junge Menschen nicht in Beschäftigung oder allgemeiner und beruflicher Bildung (in Bezug auf Sozialtransfers, Ertragsausfälle und nicht getätigte Steuerzahlungen) sind, Eurofound zufolge (11) derzeit 1,2 % des BIP bzw. 153 Mio. EUR betragen. Gleichzeitig ist es erforderlich, sich bei den Investitionen in entsprechende Gegenmaßnahmen auf die Verbesserung von Partnerschaften und einschlägigen Dienstleistungen sowie die Stärkung der Bildungsanbieter zu konzentrieren.

4.1.3

Der EWSA unterstreicht die Notwendigkeit einer geeigneten Anerkennung nicht-formaler Bildungsresultate als Möglichkeit zur Aufwertung von auf dem Arbeitsmarkt erforderlichen Kompetenzen.

4.1.4

Der EWSA weist auf die neuen Kategorien der Personen hin, die sich weder in Arbeit noch in Ausbildung befinden, sowie darauf, dass auch jene Gruppen zu berücksichtigen sind, die üblicherweise nicht als von Ausgrenzung bedroht betrachtet werden, wie Hochschulabsolventen und junge Menschen, die bereits Berufserfahrung erworben oder ein Praktikum absolviert haben, jedoch auf dem Arbeitsmarkt noch nicht dauerhaft Fuß fassen können.

4.1.5

Aufmerksamkeit verdient auch die steigende Zahl qualifizierter und kompetenter junger Menschen, die gezwungen sind, unterhalb ihres Niveaus zu arbeiten, was einer Verschwendung intellektuellen Potenzials gleichkommt, denn dies führt nicht nur dazu, dass sie für Tätigkeiten eingestellt werden, bei denen sie ihre Schul- und Berufsbildung nicht nutzen können, sondern wirkt sich auch in sozialer und psychischer Hinsicht negativ auf die Betroffenen aus. Diesem Phänomen könnte durch eine bessere und angemessenere Abstimmung zwischen persönlichen Kompetenzen und Arbeitsmarkterfordernissen entgegengewirkt werden.

4.2   Qualitätsrahmen für Praktika

4.2.1

Der EWSA anerkennt die positive Rolle hochwertiger Praktika bei der Erleichterung des Zugangs junger Menschen zur Beschäftigung und bei der Unterstützung von Unternehmen, die kompetente Arbeitnehmer suchen. Durch solche Praktika können sich Jugendliche die notwendigen Kompetenzen aneignen, die ihren Bedürfnissen und bereits erworbenen Fertigkeiten entsprechen, während sie eine angemessene Aufwandsentschädigung sowie Zugang zum Sozialschutzsystem und anderen Bildungswegen im Rahmen des lebenslangen Lernens erhalten. In diesem Rahmen ist es erforderlich, Praktika, die außerhalb des Bildungssystems (insbesondere nach dem Studienabschluss) absolviert werden, besondere Aufmerksamkeit zu widmen und sie als Berufspraktika anzuerkennen und deshalb gemäß den international geltenden Arbeitsnormen zu schützen.

4.2.2

Der EWSA betont die Bedeutung hoher Qualitätsnormen für Praktika und Lehrstellen. Der EWSA wird sämtliche Initiativen zur Qualitätsverbesserung von Praktika eingehend beobachten und unterstützen, etwa die Europäische Qualitätscharta für Praktika und Lehrlingsausbildungen ("European Quality Charter on Internships and Apprenticeships"), die vom Europäischen Jugendforum vorgeschlagen wurde, um den einschlägigen zivilen Dialog zur Erarbeitung angemessener Regelungen zu stärken (12).

4.2.3

Der EWSA hält die Verbesserung der Qualität von Praktika für eine Priorität und erachtet deshalb die Initiative der Europäischen Kommission für einen Europäischen Qualitätsrahmen für Praktika als einen Schritt in die richtige Richtung. Gleichzeitig fordert der EWSA alle beteiligten Institutionen, Mitgliedstaaten und Sozialpartner dazu auf, die Ergebnisse der derzeitigen Konsultationen bestmöglich zu nutzen und dabei der Unterstützung Rechnung zu tragen, die die Sozialpartner, Nichtregierungsorganisationen, die Öffentlichkeit und eine Reihe von Bildungsanbietern bereits zum Ausdruck gebracht haben. Die EU-Organe müssen rasch tätig werden und einen Rahmen für hochwertige Praktika und eine kontinuierliche direkte Einbeziehung junger Menschen und ihrer Organisationen über die Sozialpartner hinaus in diesen Prozess schaffen. In diesem Zusammenhang werden in der Europäischen Qualitätscharta für Praktika und Lehrlingsausbildung (13) Mindestqualitätsstandards vorgeschlagen, mit denen die Unterschiede zwischen den europäischen Ländern überbrückt werden sollen, was den Lernprozess, die verfügbare Beratung und Begleitung, Sozial- und Arbeitsrechte, die Anerkennung von Kompetenzen, rechtliche Vertragsbestimmungen, Erstattung und Entlohnung, Beurteilung und Überwachung usw. betrifft.

4.2.4

Der EWSA hält es für grundlegend, mit diesem Rahmen die Unternehmen dabei zu unterstützen, hochwertige Praktika für junge Menschen anzubieten. Der Rahmen sollte deshalb auch auf nationaler Ebene durch Maßnahmen umgesetzt werden, die auf dieses Ziel ausgerichtet sind.

4.3   Europäische Ausbildungsallianz

4.3.1

Der EWSA ist überzeugt vom Sinn und Nutzen der Europäischen Ausbildungsallianz, da eine enge Zusammenarbeit zwischen Bildungseinrichtungen, Unternehmen und Sozialpartnern sowie Politikern, Fachleuten aus der Praxis und Vertretern der Jugend von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der beruflichen Bildung ist. Beweis dafür ist der Erfolg der dualen Ausbildungssysteme in einigen Mitgliedstaaten. Die Schaffung der Allianz sollte den Austausch von Wissen und Ideen fördern sowie letztlich dazu beitragen, die Zahl und Qualität der verfügbaren Ausbildungsplätze in den Mitgliedstaaten zu erhöhen und die Beteiligung junger Menschen an solchen Programmen zu stimulieren.

4.3.2

Die Allianz sollte auch die europäischen und nationalen Kampagnen für eine veränderte Wahrnehmung der beruflichen Bildung unterstützen (auch im Zusammenhang mit dem Prozess von Kopenhagen) und ein regelmäßiges Forum für Diskussionen über die Überwachung der europäischen Strategie für Berufsausbildung mit den einschlägigen europäischen und nationalen Interessenträgern organisieren.

4.3.3

Es sollten Anreize für die Finanzierung grenzübergreifender Ausbildungsmaßnahmen geschaffen werden, die es den Unternehmen und den Sozialpartnern ermöglichen, sich an der Schaffung eines dualen Systems zu beteiligen. Weitere Vorschläge finden sich in der Veröffentlichung "Creating Opportunities for Youth: How to improve the quality and image of apprenticeships" (BusinessEurope, 2012) (14) oder in der deutsch-spanischen Gewerkschaftsvereinbarung über Qualitätsstandards für Praktika.

4.4   Mobilität junger Menschen

4.4.1

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten zur Förderung der Mobilität junger Arbeitnehmer weitere Fortschritte in Richtung auf die gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen und Fähigkeiten sowie die Vereinbarkeit der verschiedenen nationalen Sozialversicherungssysteme, vor allem der Rentensysteme, erzielen und mehr in die Sprachvermittlung investieren müssen, da es auch sprachliche Hürden zu überwinden gilt. Die Kommission sollte die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit weiter stärken und gewährleisten, dass kein einziger Monat an Sozialversicherungsbeiträgen verlorengeht, weil der Betreffende eine Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat aufnimmt.

4.4.2

Der EWSA unterstreicht die Nützlichkeit der EU-Mobilitätsprogramme wie "Erasmus" oder "Jugend in Bewegung" für die Mobilität junger Menschen und für die Entwicklung ihrer Fertigkeiten und Kompetenzen sowie ihres Charakters durch eine Freiwilligentätigkeit oder andere zivilgesellschaftliche Initiativen. Er fordert eine angemessene Finanzierung des künftigen Programms "Erasmus für alle"/"YES Europe" im neuen mehrjährigen Finanzrahmen, in dem nun im Vergleich zum ursprünglichen Vorschlag 1 Mrd. EUR fehlt.

4.4.3

Der EWSA befürwortet weitere Verbesserungen an der bzw. Investitionen in die Initiative "Dein erster EURES-Arbeitsplatz". Er fordert insbesondere die Europäische Kommission dazu auf, das EURES-System zu verbessern, um es bekannter und für junge Menschen zugänglicher sowie benutzerfreundlicher zu machen. Junge Menschen müssen aktiv zur Beteiligung ermutigt werden, um die Hürden zu überwinden, die aus kulturellen und sprachlichen Problemen sowie aus ihrem Mangel an organisatorischen Kompetenzen und ihrer Angst vor dem Unbekannten resultieren. Dies könnte durch ein verbessertes System für die berufliche und persönliche Beratung erreicht werden, das Schülern, Studierenden und Praktikanten (und jungen Menschen im Allgemeinen) dabei hilft, sich ihrer Wünsche, Fähigkeiten und Berufschancen bewusster zu werden. Das umfasst auch Beratung bezüglich des Arbeitsrechts, des sozialpolitischen Umfelds sowie der Rechte und Pflichten von Arbeitgebern wie Arbeitnehmern.

4.4.4

Der EWSA unterstützt die Initiative des Europäischen Parlaments zur Aktualisierung der Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen. Wegen der raschen Fortentwicklung vieler Berufsfelder ist die geltende Richtlinie veraltet. Darüber hinaus soll im Zuge der Modernisierung der Richtlinie eine elektronische Karte eingeführt werden, die Informationen über persönliche Berufsqualifikationen und -erfahrungen enthält. Dies würde es Arbeitnehmern erleichtern, einen Arbeitsplatz zu finden und ihre Qualifikationen in einen anderen Mitgliedstaat anerkennen zu lassen, und es würde zur Harmonisierung im Bereich Ausbildung, Kompetenzen und Verfahren in der EU führen. Auch ließen sich dadurch die Mobilität und der Austausch von Fachwissen anregen.

Brüssel, den 21. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Jahreswachstumsbericht 2013 (ABl. C 133 vom 9.5.2013,).

(2)  http://www.eurofound.europa.eu/emcc/labourmarket/youth.htm.

(3)  http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_Data/docs/pressdata/en/ecofin/131662.pdf.

(4)  Konferenz "The Economic Crisis, Education and the Labour Market", 24. Januar 2012, Brüssel; Konferenz "From School to Work", veranstaltet von der ABS, 4. Februar 2012, Roskilde (DK); Konferenz "Quality jobs for youth: are we asking too much?", veranstaltet von der ABS sowie dem Europäischen Jugendforum, 20. April 2012; Konferenz "Youth Education and Employment within the Europe 2020 Strategy", veranstaltet von der Gruppe III, 8. Juni 2012, Sofia; Konferenz "The Future of Youth in Europe - European Youth: Hope or Despair for the New Generation?", veranstaltet von der Gruppe I, 29./30. August 2012, Versailles.

(5)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 55-62, ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 50-55, ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 11-14, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 143-149, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 150-153, ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 1-10, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 154-159, ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 97-102, "Einen arbeitsplatzintensiven Aufschwung gestalten" (ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 65).

(6)  http://www.eurofound.europa.eu/publications/htmlfiles/ef1254.htm.

(7)  Studie des Internationalen Instituts für Arbeitsfragen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) "EuroZone job crisis: trends and policy responses".

(8)  http://issuu.com/yomag/docs/youth_guarantee.

(9)  http://www.eurofound.europa.eu/publications/htmlfiles/ef1242.htm.

(10)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 94-101 und Stellungnahme des EWSA zu den Beschäftigungspolitischen Leitlinien ABl. C 133 vom 9.5.2013).

(11)  NEETs - Young people not in employment, education or training: Characteristics, costs and policy responses in Europe (2012).

(12)  ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 97-102.

(13)  http://qualityinternships.eu/wp-content/uploads/2012/01/internship_charter_EN.pdf.

(14)  http://www.businesseurope.eu/Content/default.asp?pageid=568&docid=29967.


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/73


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang zu genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile in der Europäischen Union

COM(2012) 576 final — 2012/0278 (COD)

2013/C 161/14

Alleinberichterstatter: Lutz RIBBE

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 19. November 2012 bzw. am 5. November 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 192 Absatz 1 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang zu genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile in der Europäischen Union

COM(2012) 576 final — 2012/0278 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 5. März 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 82 gegen 2 Stimmen bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt die Vorlage des Verordnungstextes. Er sieht in einer effektiven Umsetzung des sog. "Nagoya-Protokolls", das zur Umsetzung einiger Ziele der "Convention on Biological Diversity (CBD)" dient, einerseits große Chancen für eine biobasierte Wirtschaft in der EU. Da diese häufig auf den Import von genetischen Ressourcen angewiesen ist, liegt ein verbesserter Zugang zu solchen Ressourcen eindeutig im europäischen Interesse.

1.2

Das Nagoya-Protokoll wurde aber nicht nur geschlossen, um biobasierte Forschung und Produktentwicklung zu fördern, sondern auch um einen fairen Vorteilsausgleich bei der Nutzung und Vermarktung genetischer Ressourcen zu organisieren. Damit sollen die Länder (bzw. indigenen Völker), die diese genetischen Ressourcen sowie traditionelles Wissen im Umgang damit bereitstellen, von der Vermarktung profitieren und die vermarktende Wirtschaft selbst vom Vorwurf der Biopiraterie befreit werden.

1.3

Der EWSA erkennt gerade bei diesem Vorteilsausgleich, für den das Nagoya-Protokoll primär verhandelt wurde, innerhalb des vorliegenden Verordnungsentwurfs einige Schwächen. Diese sollten dringend abgestellt, einige Interpretationsspielräume aufgelöst werden.

1.4

Im Einzelnen betrifft dies:

die Regeln zum Vorteilsausgleich (Ziffern 3.1 – 3.6),

den Aufbau eines effektiven Kontroll-, Überwachungs- und Sanktionssystems (Ziffern 3.7 – 3.10),

den Zeitpunkt, ab dem der Vorteilsausgleich gelten soll (Ziffer 4.1),

die Berücksichtigung der Biotechnologie sowie von Derivaten (Ziffern 4.2.1 – 4.2.2), ferner beim Vorteilsausgleich von sog. "traditionellem Wissen" (Ziffern 4.2.3 – 4.2.4),

den späten Zeitpunkt der Meldepflicht von Nutzungen (Ziffern 4.3.1 – 4.3.5),

die Frage, ob privat finanzierte Forschung und die daraus abgeleiteten Produkte meldepflichtig sind (Ziffer 4.3.5),

die Verfolgung von Biopirateriefällen, die von Seiten Dritter gemeldet werden (Ziffer 4.3.6) sowie

die Effektivität des Sanktionssystems (Ziffer 4.3.7).

2.   Einleitung

2.1

Im Rahmen der Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung wurde 1992 das "Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD)" geschlossen, dem mittlerweile 193 UN-Mitglieder beigetreten sind. (Nur die UN-Mitglieder Andorra, Vatikanstadt, Südsudan und USA sind noch nicht beigetreten.)

2.2

Die CBD verfolgt drei Ziele:

1)

den Schutz der biologischen Vielfalt,

2)

ihre nachhaltige Nutzung sowie

3)

"die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus der Nutzung der genetischen Ressourcen ergebenden Vorteile".

2.3

Mit Artikel 15 Absatz 1 der CBD werden die "souveränen Rechte der Staaten in Bezug auf ihre natürlichen Ressourcen" anerkannt. Den einzelnen Staaten wird die Befugnis zugeordnet, den Zugang zu genetischen Ressourcen zu bestimmen.

2.4

Mit Artikel 15 Absatz 7 werden die Mitgliedstaaten der CBD verpflichtet, "Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder politische Maßnahmen" zu ergreifen, um "Ergebnisse der Forschung und Entwicklung und die Vorteile, die sich aus der kommerziellen und sonstigen Nutzung der genetischen Ressourcen ergeben, mit der Vertragspartei, die diese Ressourcen zur Verfügung gestellt hat, ausgewogen und gerecht zu teilen".

2.5

Mit Artikel 8 Buchstabe j) werden die Mitglieder der CBD aufgefordert, "im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften" traditionelles Wissen indigener und lokaler Gemeinschaften, das "für die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt von Belang" ist, zu achten und die "gerechte Teilung der aus der Nutzung dieser Kenntnisse, Innovationen und Gebräuche entstehenden Vorteile [zu] fördern".

2.6

Vor dem Hintergrund der bisher fehlenden Umsetzung dieser 1992 verabschiedeten völkerrechtlichen Verpflichtung zum sog. Vorteilsausgleich beschlossen die Staats- und Regierungschefs 2002 auf dem World Summit on Sustainable Development (WSSD) in Johannesburg, ein "international regime to promote and safeguard the fair and equitable sharing of benefits arising out of the utilization of genetic resources" im Rahmen der CBD zu verhandeln (Plan of Implementation, Absatz 42 Buchstabe o).

2.7

2004 einigten sich dann die Vertragsstaaten der CBD auf ihrer 7. Vertragsstaatenkonferenz der CBD in Kuala Lumpur darauf, alle relevanten Elemente der CBD durch ein Abkommen zum Zugang zu genetischen Ressourcen und zur Vorteilsaufteilung (access to genetic resources and benefit-sharing (= ABS)) effektiv umzusetzen.

2.8

Das Ergebnis dieser Arbeiten wurde im Oktober 2010 – nach mehr als sechs Jahren Verhandlungen – auf der 10. Vertragsstaatenkonferenz der CBD im japanischen Nagoya vorgestellt und verabschiedet: es ist das "Protokoll von Nagoya über den Zugang zu genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt" (kurz: Nagoya-Protokoll).

2.9

Alle Mitglieder der CDB können das Nagoya-Protokoll ratifizieren, zwölf Staaten haben dies (Stand: Februar 2013) bereits getan, 92 Staaten haben es nach der Verabschiedung unterzeichnet, darunter die Europäische Kommission sowie 24 der 27 EU-Mitgliedstaaten (außer Lettland, Malta und der Slowakei).

2.10

Während die Entwicklungsländer schon 2002 auf dem WSSD für ein völkerrechtlich verbindliches Protokoll plädierten, hat sich die EU erst kurz vor dem Beginn der letzten Verhandlungsrunde der ABS-Arbeitsgruppe für die Erarbeitung eines Protokolls "mit gesetzlich verbindlichen und unverbindlichen Vorschriften" entschieden (mit dem Beschluss des Umweltministerrates vom 15.3.2010).

2.11

Der vorgelegte Verordnungsentwurf der Kommission soll der Umsetzung der Ziele des Nagoya-Protokolls dienen.

2.12

Neben der CBD ist in Zusammenhang mit dem vorgelegten Kommissionspapier die Verabschiedung der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker zu erwähnen. Diese stellt in Artikel 31 Absatz 1 das Recht auf "die Bewahrung, die Kontrolle, den Schutz und die Weiterentwicklung" genetischer Ressourcen und traditionellen Wissens indigener Völker einschließlich ihres geistigen Eigentums an diesem Wissen fest. Absatz 2 fordert die Staaten dazu auf, "wirksame Maßnahmen zur Anerkennung und zum Schutz der Ausübung dieser Rechte" zu ergreifen. Die Implementierung des Nagoya-Protokolls sollte eine dieser wirksamen Maßnahmen zur Umsetzung der UN-Erklärung darstellen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Im Begründungstext zum vorgelegten Verordnungsentwurf führt die Kommission aus, dass "die Umsetzung und Ratifizierung des Protokolls durch die Union […] neue Möglichkeiten für die naturbasierte Forschung schaffen und zur Entwicklung einer biobasierten Wirtschaft beitragen" (1) wird. Die Kommission postuliert ferner, dass die "EU und ihre Mitgliedstaaten politisch verpflichtet [seien], Vertragsparteien des Protokolls zu werden, um sicherzustellen, dass Forscher und Unternehmen in der EU auf der Grundlage verlässlicher Zugangsentscheidungen und zu geringen Transaktionskosten Zugang zu qualitativ hochwertigen Proben genetischer Ressourcen erlangen" (2).

3.2

Auch der EWSA sieht in der Umsetzung des Nagoya-Protokolls große Chancen für die biobasierte Wirtschaft in der EU. Er weist allerdings darauf hin, dass das Hauptziel des Nagoya-Protokolls die Umsetzung des 3. Ziels der CBD, also die "Aufteilung der Vorteile durch die Nutzung genetischer Ressourcen" ist. Der angemessene Zugang zu genetischen Ressourcen, die angemessene Weitergabe der einschlägigen Technologien unter Berücksichtigung aller Rechte an diesen Ressourcen und Technologien sowie die angemessene Finanzierung sind dabei die entscheidenden Elemente der Vorteilsaufteilung.

3.3

Das Nagoya-Protokoll beruht also auf den drei Säulen:

Maßnahmen zum Zugang zu genetischen Ressourcen und damit zusammenhängendem traditionellen Wissen, die transparente und nichtwillkürliche Prozeduren sicherstellen;

Maßnahmen zur Sicherstellung der Aufteilung der Vorteile aus der Nutzung und Vermarktung genetischer Ressourcen und damit zusammenhängendem traditionellem Wissen;

Maßnahmen zum Aufbau eines effektiven nationalen Systems zur Überwachung vor allem der Erfüllung der Vorteilsaufteilung.

3.4

Wenn die Europäische Kommission im Gegensatz dazu in ihrem Verordnungsvorschlag feststellt, dass "das Protokoll […] auf zwei Hauptsäulen [beruht]: den Maßnahmen zum Zugang und den Maßnahmen zur Einhaltung der Regeln durch die Nutzer" (3), versäumt sie es, die Vorteilsaufteilung als wesentliches Ziel des Nagoya-Protokolls, als Auftrag des WSSD sowie als völkerrechtliche Verpflichtung im Rahmen der CBD explizit zu betonen.

3.5

Der Verordnungsentwurf erweckt so den Eindruck, dass der Sinn des Nagoya-Protokolls die Sicherstellung des ungehinderten Zugangs der EU-Mitgliedstaaten zu Rohstoffen in Entwicklungsländern sei.

3.6

Diese Quasi-Nichtberücksichtigung des wesentlichen Ziels des Nagoya-Protokolls ist nicht nur ein ernsthaftes Manko des Kommissionsentwurfs, eine nicht effektive und befriedigende Lösung kann auch gravierende Auswirkungen für europäische Unternehmen haben. Denn ohne klare Regelungen zum Vorteilsausgleich (und dessen Überwachung) können diese sich den vielfach erhobenen Vorwürfen der Biopiraterie nur schwer entziehen.

3.7

Der Verordnungsentwurf der Kommission baut auf dem Prinzip der Sorgfaltspflicht auf (Artikel 4). Danach fällt dem Nutzer der genetischen Ressource und des damit zusammenhängenden traditionellen Wissens die wesentliche Rolle bei der Einhaltung der anzuwendenden in- und ausländischen Gesetze zum Zugang und zur Vorteilsaufteilung zu.

3.8

Der EWSA begrüßt diesen Ansatz der Eigenverantwortung von Forschung und Wirtschaft. Er weist allerdings auf die mit der Ratifizierung des Nagoya-Protokolls verbundene völkerrechtliche Verpflichtung hin, "Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder politische Maßnahmen" zu ergreifen, um sicherzustellen, dass Vorteile des Nutzers aus der Nutzung und Vermarktung genetischer Ressourcen und damit verbundenen traditionellen Wissens auch tatsächlich mit dem Herkunftsland oder den indigenen und lokalen Gemeinschaften geteilt werden.

3.9

Der Verordnungsentwurf blendet auch diesen wichtigen Teil der Verpflichtungen des Nagoya-Protokolls weitgehend aus, und der EWSA empfiehlt Rat und Parlament, im weiteren Verfahren ausreichende Regeln zur Überprüfung der Einhaltung dieser Eigenverantwortung festzuschreiben. Das bedeutet auch, dass die nationalen Regierungen nicht aus ihrer Verantwortung zur Überwachung der Regeln entlassen werden dürfen.

3.10

Der Verordnungsvorschlag reicht somit nicht aus, eine Vertrauensbasis zwischen den Staaten der EU, ihren Forschern und Unternehmen sowie den Herkunftsstaaten aufzubauen, die zur Förderung von bilateralen ABS-Verträgen sowie zur Fortführung der internationalen ABS-Verhandlungen in konstruktiver Weise notwendig ist. Der EWSA befürchtet, dass das vorgeschlagene ABS-System eher zur Behinderung der europäischen Forschung und Wirtschaft beitragen wird als zu ihrer Förderung.

4.   Besondere Bemerkungen: Spezifische Elemente des Verordnungsvorschlages

4.1   Zum Geltungsbereich im weiteren Sinne (Artikel 2)

4.1.1

Artikel 2 des Verordnungsentwurfs legt fest, dass sich die Vorschriften zum Vorteilsausgleich nur auf solche Ressourcen und traditionelles Wissen beziehen, die nach Inkrafttreten des Nagoya-Protokolls für die EU erworben wurden. Die Kommission versäumt es, Regeln zur Vorteilsaufteilung zu entwerfen, die für die laufende Nutzung und Vermarktung von solchen genetischen Ressourcen und damit zusammenhängendem traditionellen Wissen gelten, die bereits seit 1993 – ohne ABS-Verträge – in die EU gelangt sind.

4.1.2

Der Verordnungsentwurf fällt damit hinter den Text des Nagoya-Protokolls und der CBD zurück (IUCN 2012, S. 84-85), er ignoriert die völkerrechtliche Verpflichtung der CBD zum Vorteilsausgleich ab 1993. Artikel 3 des Nagoya-Protokolls bestätigt explizit, dass all die genetischen Ressourcen den Protokollregeln unterliegen, die durch den Geltungsbereich der CBD erfasst werden. Die Umsetzung des Nagoya-Protokolls muss dazu benutzt werden, um dieses Umsetzungsdefizit aufzugreifen und effektive Vorschriften zur Aufteilung der Vorteile zu erarbeiten, die seit 1993 entstanden sind.

4.1.3

In seiner Bestimmung zum Verhältnis zu anderen internationalen Verträgen versäumt es der Verordnungsentwurf, den entscheidenden Passus des Nagoya-Protokolls in Artikel 4 Absatz 4 aufzunehmen. Danach muss festgestellt werden, dass genetische Ressourcen nur dann den Regeln eines anderen Abkommens unterstellt werden können, wenn dieses "mit den Zielen des Übereinkommens und dieses Protokolls im Einklang steht und ihnen nicht zuwiderläuft". Dieser Zusatz fehlt, er muss in den Verordnungsentwurf aufgenommen werden, um das Nagoya-Protokoll korrekt zu implementieren. Die Entscheidung, ob ABS-Regeln eines anderen Abkommens für bestimmte genetische Ressourcen gelten, muss durch die relevanten internationalen Organisationen und EU-Institutionen getroffen werden.

4.1.4

Für den EWSA bedeutet dies, dass Artikel 2 des Verordnungsentwurfs zentrale Elemente des Nagoya-Protokolls nicht eindeutig umsetzt und deshalb überarbeitet bzw. ergänzt werden muss.

4.2   Begriffsbestimmungen (Artikel 3)

4.2.1

Der Verordnungsvorschlag der Kommission weicht wesentlich vom Text des Nagoya-Protokolls, Artikel 2 ab. Die Kommission versäumt es, den wichtigen Grundsatz des Nagoya-Protokolls, Artikel 2 Buchstabe c) aufzunehmen, wonach die Nutzung genetischer Ressourcen "die Anwendung von Biotechnologie im Sinne des Artikels 2" der CBD umfasst. Diese Definition ist im Zusammenhang mit der Vorteilsaufteilung von enormer Bedeutung. In fast allen Fällen erfolgreicher Produktentwicklung aus genetischen Ressourcen wie etwa in der Medizin und Kosmetik werden ja nicht mehr die Ressourcen selbst, sondern durch die Anwendung von Biotechnologie entwickelte Extrakte oder Inhaltsstoffe ("Derivate") gewinnbringend vermarktet. In diesem Zusammenhang muss der Verordnungsentwurf ebenfalls den Begriff "Derivate" – wie im Nagoya-Protokoll, Artikel 2 Buchstabe e) definiert – in seine Bestimmungen aufnehmen.

4.2.2

Diese Verkürzung der Begriffsdefinitionen wird sich gravierend auf die Verpflichtungen zum Vorteilsausgleich auswirken. Denn Vorteile, die sich aus der Nutzung von Derivaten ergeben, müssten so nicht aufgeteilt werden. Es ist dabei zu beachten, dass es gerade solche Derivate – isolierte biochemische Substanzen wie z.B. medizinisch wirksame Stoffe, Bestandteile von Kosmetika – sind, mit denen die Profite bei der Vermarktung von Produkten erzielt werden, die durch die Nutzung genetischer Ressourcen entwickelt wurden.

4.2.3

Es ist zu begrüßen, dass der Verordnungsentwurf genetische Ressourcen und damit zusammenhängendes traditionelles Wissen in vielen Aspekten als gleichwertig behandelt. Im Verordnungsentwurf wird traditionelles Wissen zwar definiert (Artikel 3 Absatz 8), aber nur im Kontext seiner Bedeutung als Hilfsmittel für Forschung und Entwicklung mit genetischen Ressourcen. Einzelheiten sollen laut Verordnung dann später in den zu schließenden Verträgen zwischen Nutzern und indigenen Völker sowie lokalen Gemeinschaften festgelegt werden.

4.2.4

Es ist für den EWSA nicht ersichtlich, wie durch diese Regelungen die Aufteilung der Vorteile im Kontext der relevanten Artikel des Nagoya-Protokolls zufriedenstellend geregelt und sichergestellt ist. Kommission, Rat und Parlament werden gebeten, im weiteren Verfahren eine Klärung dieser Sachlage zu schaffen.

4.3   Überwachung der Einhaltung der Sorgfaltspflicht (Artikel 7, 9 und 11)

4.3.1

Nach Artikel 7 Absatz 2 des Verordnungsentwurfs ist eine Meldepflicht der Nutzung genetischer Ressourcen und damit zusammenhängenden Wissens erst zum Zeitpunkt einer Marktzulassung oder Vermarktung eines Produktes vorgesehen. Der früheste Zeitpunkt also, zu dem Behörden durch den Nutzer informiert werden müssen, liegt nach Beendigung der Nutzung (Nutzung im Sinne des Nagoya-Protokolls ist Forschung und Entwicklung und eben nicht die Vermarktung). Forschung und Entwicklung gehen logischerweise dem Marktzugang voraus.

4.3.2

Bekanntlich führt nur ein Teil aller Nutzungen im Bereich Forschung und Entwicklung letztlich zu vermarktungsfähigen Produkten. Es liegt in der Natur der Dinge, dass die Nutzung zu rein wissenschaftlichen Zwecken nicht das Ziel der Produktentwicklung verfolgt. All dies würde dazu führen, dass die zuständigen Behörden über einen Großteil aller Nutzungen nie Kenntnis erhalten, wenn die Meldepflicht nicht zu Beginn der Nutzung, also bei Forschung und Entwicklung, greift.

4.3.3

Diese Vorschrift widerspricht selbst dem politischen Ziel des Verordnungsentwurfs. Nach Erwägungsgrund (8) "muss die Nutzung von unrechtmäßig erworbenen genetischen Ressourcen oder von unrechtmäßig erworbenem Wissen über genetische Ressourcen in der Europäischen Union verhindert" (4) werden. Durch die Terminierung der Meldepflicht auf einen Zeitpunkt nach Abschluss der Forschungs- und Entwicklungsphase ist es nicht möglich, eine unrechtmäßige oder vertragswidrige Nutzung zu verhindern, sie kann höchstens im Nachhinein sanktioniert werden.

4.3.4

Es kann weder im Interesse der Forschung noch der Industrie liegen, in einem Rechtsrahmen zu agieren, der seiner grundlegenden Aufgabe, die Biopiraterie zu verhindern, nicht gerecht wird.

4.3.5

Der EWSA stellt ferner fest, dass Artikel 7 Absatz 1 des Verordnungsentwurfs einen Interpretationsspielraum lässt, der dringend durch die Kommission, Rat und Parlament geklärt werden muss. Der Verordnungstext kann so interpretiert werden, als ob privat finanzierte Nutzer von der Meldepflicht ausgenommen seien. Falls diese Interpretation zuträfe, könnten in Verbindung mit der späten Meldefrist nach Artikel 7 Absatz 2 der größte Anteil aller Nutzungen sowie auch die Vermarktung genetischer Ressourcen und damit zusammenhängenden Wissens ohne jegliche Kenntnisnahme der zuständigen Behörden durchgeführt werden. Eine behördliche Überprüfung der Einhaltung des Vorteilsausgleiches bei privat finanzierter Forschung und Entwicklung sowie der sich daraus ergebenden Kommerzialisierung wäre damit unmöglich.

4.3.6

Nach Artikel 9 Absatz 3 des Verordnungsentwurfs steht es den zuständigen Behörden frei, ob sie im Falle begründeter Bedenken Dritter – z.B. Berichte über Biopiraterie von NRO oder indigenen Völkern – Überprüfungen der entsprechenden Nutzer durchführen. Auch diese Vorschrift widerspricht der politischen Zielsetzung der Verordnung und muss in eine verbindliche Formulierung überführt werden.

4.3.7

Bei Nichteinhaltung der Sorgfaltspflicht können Strafen verhängt werden (Artikel 11), bis hin zur "Beschlagnahmung von unrechtmäßig erworbenen genetischen Ressourcen". Diese Vorschläge sollen sicherstellen, "dass nur rechtmäßig erworbene genetische Ressourcen genutzt" werden. Diese Strafen greifen nur in der Phase der Nutzung im Sinne von Forschung und Entwicklung, nicht aber in der Phase der Kommerzialisierung. Da das vorgeschlagene Kontrollsystem nach Artikel 7 Absatz 2 seine volle Wirkung aber erst und zudem nur teilweise in der Phase der Kommerzialisierung entfalten kann, ist die Strafandrohung als weitestgehend wirkungslos einzuschätzen. Der EWSA befürchtet, dass der Verordnungsentwurf eine Situation in der EU ermöglicht, in der Produkte, die mittels einer unrechtmäßigen oder vertragswidrigen Nutzung entstanden sind, unbehelligt vermarktet werden können.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  (COM(2012) 576 final, S. 4).

(2)  (COM(2012) 576 final, S. 5).

(3)  (COM(2012) 576 final, S. 3).

(4)  COM(2012) 576 final, S. 8.


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/77


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über ein allgemeines Umweltaktionsprogramm der EU für die Zeit bis 2020 „Gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten“

COM(2012) 710 final — 2012/0337 (COD)

2013/C 161/15

Berichterstatter: Lutz RIBBE

Der Rat beschloss am 12. Dezember und das Europäische Parlament am 10. Dezember 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 192 Absatz 3 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über ein allgemeines Umweltaktionsprogramm der EU für die Zeit bis 2020 "Gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten

COM(2012) 710 final — 2012/0337 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 5. März 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 82 gegen 4 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt den Entwurf des 7. Umweltaktionsprogramms (UAP). Mit der Verabschiedung durch Rat und Parlament wird zwischen den entscheidenden Europäischen Institutionen ein umweltpolitischer Konsens darüber hergestellt, wie dramatisch die ökologische Situation immer noch ist, dass die Umsetzung des europäischen Umweltrechts tiefgreifende Mängel aufweist, dass die bisherigen Ansätze zur Lösung vorhandener und anstehender Probleme nicht ausreichend waren und welches die umweltpolitischen Handlungsnotwendigkeiten bis zum Jahr 2020 sind.

1.2

Der Entwurf bestätigt die vielfach vom Ausschuss formulierte Position, dass die bestehenden Umweltprobleme in Europa nicht auf das Fehlen ausreichender Erkenntnisse oder Lösungsansätze, sondern auf einen Mangel an politischem Umsetzungswillen zurückzuführen sind.

1.3

Der Entwurf des 7. UAP zeichnet sich allerdings sowohl im Generellen als auch im Speziellen eher durch einen Mangel an Konkretheit denn durch Klarheit aus. Wenn man im Titel eines Programms den Anspruch erhebt, "innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen des Planeten" gut leben zu wollen, dann müssten zumindest ansatzweise die Belastbarkeitsgrenzen des Planeten beschrieben und die Verbindung konkret geplanter politischer Aktionen mit den Auswirkungen auf gesellschaftliches und wirtschaftliches Handeln in Europa detaillierter dargestellt werden. All dies geschieht im 7. UAP leider nicht.

1.4

Das 7. UAP ist daher mehr ein Bericht zur Lage der Umwelt als ein wirkliches strategisches Politikdokument oder ein politisch-operationelles Aktionsprogramm.

1.5

Aus Sicht des EWSA bezieht das 7. UAP nicht klar genug Stellung zu den zur Erreichung der umweltpolitischen Ziele notwendigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen. Der EWSA erinnert daran, dass die Kommission noch bei der Vorlage der Leitinitiative "Ressourcenschonendes Europa" betonte, dass die notwendigen Veränderungen nur erreicht werden können, wenn es neben technologischen Verbesserungen und Verhaltensveränderungen bei Herstellern und Verbrauchern zu "einem grundlegenden Umbau der Energie-, Industrie-, Landwirtschafts- und Verkehrssysteme" kommt.

1.6

Das 7. UAP analysiert sehr treffend die Umsetzungsschwäche der bisherigen UAP. Das 7. UAP liefert kaum Ansätze dafür, wie die Umsetzungsdefizite nun reduziert bzw. gelöst werden könnten. Fast alle positiven Entwicklungen für Natur und Umwelt wurden von der Zivilgesellschaft eingefordert. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen sind nach Auffassung des EWSA ein zentraler Akteur bei der Umsetzung des 7. UAP. Ihre Rolle sollte im 7. UAP im Rahmen eines zusätzlichen prioritären Ziels deutlich hervorgehoben und gestärkt werden.

1.7

Die Rolle eines zielführenden 7. UAP müsste darin bestehen, den Pfad weg von der klassischen, der technisch nachsorgenden Umweltpolitik hin zur nachhaltigen Entwicklung viel klarer zu beschreiben. Mit Ende der Laufzeit dieses 7. UAP läuft auch die Zeitphase der Europa-2020-Strategie aus. Der EWSA hat bereits mehrfach deutlich gemacht, dass die Europa-2020-Strategie nicht eine Europäische Nachhaltigkeitsstrategie ersetzen kann, die mit einem langfristigen Planungshorizont und unter ausgewogener Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Dimension die Ziele und Strategien für eine nachhaltige Entwicklung in Europa definiert. Rat und EP sind aufgefordert, im 7. UAP einen Auftrag zu verankern, eine neue übergeordnete Nachhaltigkeitsstrategie der EU auf den Weg zu bringen, so wie es der Umweltministerrat in seinen Schlussfolgerungen aus der Rio+20-Konferenz der Vereinten Nationen zur nachhaltigen Entwicklung gefordert hat (Ziffer 3 der Schlussfolgerungen des Rates über "Rio+20: Ergebnisse und Folgemaßnahmen der VN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung (2012)", 3 194. Rat der Umweltminister, Luxemburg, 25. Oktober 2012). Dies würde dem 7. UAP einen wirklichen Mehrwert verleihen.

2.   Einleitung

2.1

Seit Anfang der siebziger Jahre haben die mittlerweile sechs Umweltaktionsprogramme (UAP) entscheidend zur Entwicklung und Gestaltung der EU Umweltpolitik beigetragen. Das 6. Umweltaktionsprogramm lief im Juli 2012 aus. Von Seiten des Rates und des Europäischen Parlaments ist die Europäische Kommission daraufhin aufgefordert worden, ein Nachfolgeprogramm vorzulegen.

2.2

Der Vorschlag für ein 7. UAP zielt laut Kommission darauf ab, den Beitrag der Umweltpolitik zur Erhaltung des Naturkapitals zum Übergang zu einem ressourceneffizienten und CO2-armen Wirtschaftssystem, und zum Schutz der menschlichen Gesundheit zu verstärken.

2.3

Der Vorschlag umfasst eine ökologische Bestandaufnahme, bei der insbesondere auf das Problem des weiter fortschreitenden Verlustes des Naturkapitals, einschließlich der Biodiversität, hingewiesen wird. Beklagt wird ferner, dass die natürlichen Ressourcen nach wie vor infolge ineffizienter Nutzung verschwendet werden sowie fortbestehende Luft- und Wasserverunreinigungen und Belastungen durch gefährliche Substanzen.

2.4

Im Mangel der wirksamen Umsetzung des bestehenden Umweltrechtes und festgelegter Standards durch die Mitgliedsstaaten wird eine wesentliche Ursache für die Probleme gesehen.

2.5

Die Kommission kommt zum Ergebnis, dass es "Anzeichen dafür (gibt), dass die planetarischen Grenzen in Bezug auf Biodiversität, Klimawandel und Stickstoffkreislauf überschritten sind".

2.6

Das 7. UAP setzt diesem Fakt eine Vision für das Jahr 2050 von einem "guten Leben, innerhalb der Belastungsgrenzen unseres Planeten" entgegen und legt einen umweltpolitischen Handlungsrahmen bis 2020 dar, der auf neun prioritäre Ziele fokussiert ist.

2.7

Der EWSA hat sich bereits im Vorfeld mit einer Sondierungsstellungnahme auf Wunsch der dänischen Präsidentschaft an der Diskussion zum 7. UAP beteiligt (1). Er hob darin hervor, die bestehenden Umweltprobleme in Europa seien auf einen Mangel an politischem Umsetzungswillen zurückzuführen. Er hielt für unklar, in welchem Verhältnis ein 7. UAP zur Europa-2020- Strategie und der Leitinitiative und dem Fahrplan für ein ressourceneffizientes Europa stehen solle. Der Ausschuss regte an, die Nachhaltigkeitsstrategie neu zu beleben, ein umsetzungsorientiertes 7. UAP als dessen umweltpolitische Umsetzungsstrategie zu wählen, die Leitinitiative "Ressourceneffizientes Europa" mit allen Einzelinitiativen darin zu integrieren und für eine enge und koordinierte Abstimmung zwischen umwelt- und wirtschaftspolitischen Überlegungen zu sorgen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss sieht den zentralen politischen Mehrwert des 7. UAP darin, dass es im Unterschied zu bestehenden umweltpolitischen Strategien, Leitinitiativen und Fahrplänen der Kommission durch Rat und Parlament beschlossen wird. Damit wird gewissermaßen ein umweltpolitischer Konsens zwischen den entscheidenden europäischen Institutionen über die Handlungsnotwendigkeiten bis 2020 hergestellt.

3.2

Das 7. UAP schafft also einen Referenzpunkt für künftige Entscheidungen politischer Entscheidungsträger und Institutionen auf EU-Ebene wie auch in den Mitgliedsstaaten, für die das UAP gleichermaßen gilt.

3.3

Der EWSA begrüßt die Vorlage des 7. UAP auch insofern, als mit dem verbindlichen Beschluss desselben Rat und Parlament gemeinsam deutlich machen, wie dramatisch die ökologische Situation immer noch ist, dass die Umsetzung des europäischen Umweltrechts tiefgreifende Mängel aufweist und dass viele der bisherigen Ansätze zur Lösung vorhandener und anstehender Probleme nicht ausreichend waren.

3.4

Inhaltlich hingegen wiederholt das Programm im Wesentlichen dasjenige, was in umweltpolitischen Mitteilungen, Strategien, Leitinitiativen und Fahrplänen der Kommission bereits fixiert wurde. Durch den Beschluss durch Rat und Parlament erfahren diese allerdings eine wichtige politische Aufwertung.

3.5

Der Entwurf des 7. UAP zeichnet sich allerdings sowohl im Generellen als auch im Speziellen eher durch mangelnde Konkretheit denn durch Klarheit aus. Wenn man im Titel eines Programms den Anspruch erhebt, "innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen des Planeten" gut leben zu wollen, dann müssen zumindest ansatzweise die Belastbarkeitsgrenzen des Planeten beschrieben und die Verbindung konkret geplanter politischer Aktionen mit den Auswirkungen auf gesellschaftliches und wirtschaftliches Handeln in Europa detaillierter dargestellt werden. All dies geschieht im 7. UAP leider nicht.

3.6

An den Stellen, wo es etwas konkreter wird, fehlt es an der Festlegung konkreter Verantwortlichkeiten und Überprüfungskriterien, die eine Erreichung der Ziele und Umsetzung der Maßnahmen kontrollierbar machen würde.

3.7

Damit ist das 7. UAP mehr ein Bericht zur Lage der Umwelt als ein wirkliches strategisches Politikdokument oder ein politisch-operationelles Aktionsprogramm. Das ist enttäuschend für den EWSA, der in seiner Sondierungsstellungnahme zum 7. UAP, aber auch schon 2004 in seiner Sondierungsstellungnahme zur "Bewertung der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung" (2) genau solche konkreten und nachvollziehbaren Leitprogramme eingefordert hat.

3.8

Kritisch anzumerken ist, dass der zwingend notwendige umweltpolitische Ausblick über das Jahr 2020 hinaus viel zu schwach ausfällt. Bereits jetzt ist in der Energie- und Klimapolitik klar geworden, dass ein Zielplanungshorizont bis 2020 zu kurz ist. Es ist im 7. UAP nicht zu erkennen, ob die für 2020 geplanten Ziele und Maßnahmen geeignet und ausreichend sind, um die Vision für 2050 "Gut und innerhalb der Belastungsgrenzen unseres Planeten zu leben" realistisch zu erreichen. Es bedürfte hierzu einer zumindest indikativen Zielplanung für die weiteren Etappen der Jahre 2030 und 2040 auf dem Weg hin zur Verwirklichung der Vision im Jahr 2050. Der 2020-Horizont ist außerdem zu kurz, um Investitionssicherheit für langfristige Investitionen in die grüne Wirtschaft zu schaffen.

3.9

Die Harmonisierung des Zeithorizontes der Umweltaktionsplanung mit der Europa-2020-Strategie sowie der dazu ergangenen Leitinitiativen ist im Grundsatz zu begrüßen. Die Laufzeit deckt sich zudem mit der Laufzeit der nächsten Finanziellen Vorausschau 2014-2020, was ein großer Vorteil wäre, wenn die notwendigen Querbezüge hergestellt würden. Zwar bezieht sich eine der beschriebenen neun Prioritäten darauf, die notwendigen Investitionen für Umweltmaßnahmen bereitzustellen, allerdings sind bei der Beschreibung der Erfordernisse die Verweise auf die mittelfristige Finanzplanung der EU sehr vage – abgesehen davon, dass das 7. UAP zu spät kommt, um letztere zu beeinflussen.

3.10

Die Auswahl der neun prioritären Ziele im 7. UAP gibt Anlass zur Kritik. So wird mit der "städtischen Umwelt" ein fachlicher Bereich gewählt, der schon in früheren UAP immer wieder vorkam. Ungeachtet der großen Bedeutung der "städtischen Umweltpolitik" ist der Einfluss der EU auf diesen Bereich relativ gering. Recht hoch ist er hingegen bei der Verkehrspolitik, deren besondere Relevanz für den Klimaschutz von der Kommission immer wieder dargestellt wurde. Trotzdem kommt die Verkehrspolitik im Vorschlag des 7. UAP praktisch nicht vor.

3.11

Für den EWSA würde es Sinn machen, die strategische Integration der Zivilgesellschaft im UAP als eigenes prioritäres Ziel aufzunehmen (siehe 4.4.9).

3.12

Auch die Außenhandelspolitik hat eine derart hohe Relevanz für die europäische Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik, dass dieser Bereich als mindestens gleich bedeutsam mit der "Städtischen Umwelt" hätte eingestuft werden können (3).

3.13

Der EWSA erinnert daran, dass die Kommission noch bei der Vorlage der Leitinitiative "Ressourcenschonendes Europa" betonte, dass die notwendige Veränderungen nur erreicht werden können, wenn es neben technologischen Verbesserungen und Verhaltensveränderungen bei Herstellern und Verbrauchern zu "einem grundlegenden Umbau der Energie-, Industrie, Landwirtschafts- und Verkehrssysteme" kommt. Das 7. UAP greift zu kurz, wenn es zwar zum wiederholten Male die Integration der Umwelterfordernisse in andere Politikfelder einfordert, ohne den erforderlichen "grundlegenden Umbau" bestimmter Wirtschaftsbereiche in Richtung auf nachhaltige Wirtschaftsweise und Lebensstile darzustellen.

3.14

Auch wird die Chance nicht genutzt, die Bedeutung des Ressourcen- und Umweltschutzes für die wirtschaftliche Entwicklung, für die Schaffung neuer und qualifizierter Arbeitsplätze näher zu beschreiben. Der EWSA verweist hier u.a. auf frühere Stellungnahmen (4). Die Vernetzung von Umwelt-, Sozial-, Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik, also der wesentlichen Dimensionen der Nachhaltigkeit, sollte viel besser herausgestellt werden.

3.15

Damit wird auch deutlich: die Bedeutung, die Rolle dieses 7. UAP müsste darin bestehen, den Pfad weg von der klassischen, der technisch nachsorgenden Umweltpolitik hin zur Nachhaltigen Entwicklung viel klarer zu beschreiben. Mit Ende der Laufzeit dieses 7. UAP läuft auch die Zeitphase der Europa-2020-Strategie aus. Der EWSA hat bereits mehrfach deutlich gemacht, dass die Europa-2020-Strategie nicht eine Europäische Nachhaltigkeitsstrategie ersetzen kann, die mit einem langfristigen Planungshorizont und unter ausgewogener Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Dimension die Ziele und Strategien für eine nachhaltige Entwicklung in Europa definiert. Rat und EP sind aufgefordert, im 7. UAP einen Auftrag zu verankern, eine neue übergeordnete Nachhaltigkeitsstrategie der EU auf den Weg zu bringen, so wie es der Umweltministerrat in seinen Schlussfolgerungen aus der Rio+20-Konferenz der Vereinten Nationen zur nachhaltigen Entwicklung gefordert hat (Ziffer 3 der Schlussfolgerungen des Rates über "Rio+20: Ergebnisse und Folgemaßnahmen der VN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung (2012)", 3 194. Rat der Umweltminister, Luxemburg, 25. Oktober 2012). Dies würde dem 7. UAP einen wirklichen Mehrwert verleihen.

4.   Besondere Anmerkungen

4.1   Der EWSA kommentiert an dieser Stelle nur diejenigen der neun prioritären Ziele, die ihm besonders wichtig sind:

4.2   Prioritäres Ziel 1: Schutz, Erhaltung und Verbesserung des Naturkapitals der EU

4.2.1

Es sollte im 7. UAP klargestellt werden, dass die Umsetzung der Vorschläge der Kommission zur Ökologisierung der Landwirtschaft und der Fischerei im Zusammenhang mit den GAP- und GFP-Reformen von zentraler Bedeutung für die Erhaltung des Naturkapitals ist.

4.2.2

Richtigerweise wird im Vorschlag für das 7. UAP auch eine Verbesserung des Bodenschutzes gefordert. Die Entwicklung von Bodenverunreinigungen, Bodendegradation und Flächenverbrauch in Europa ist nach wie vor besorgniserregend. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass europäische legislative Schritte erforderlich sind, um den negativen Trend umzukehren. Der Rat sollte folglich die Diskussion um die Bodenschutzrichtlinie baldmöglichst wiederaufnehmen. Auch sollte die Europäische Kommission über eine Thematische Strategie die Mitgliedstaaten dazu anhalten, Schritte zur Reduzierung des gravierenden Flächenverbrauchs durch Verkehr und Siedlungen einzuleiten und den Schutz land- und forstwirtschaftlichen Flächen voranzubringen.

4.3   Prioritäres Ziel 2: Übergang zu einem ressourceneffizienten, umweltschonenden und wettbewerbsfähigen CO2-armen Wirtschaftssystem

4.3.1

Die Kommission hat mit ihrer Leitinitiative für ein ressourceneffizientes Europa die Steigerung der Effizienz in der Nutzung natürlicher Ressourcen zu einem zentralen Thema ihrer Politik gemacht und in dem entsprechenden Fahrplan grundlegende Meilensteine für das Jahr 2020 festgelegt. Es ist bedauerlich, dass die Zielfestlegungen in Paragraph 41 wichtige Meilensteine nur unzureichend widerspiegeln.

4.3.2

Insbesondere sollten die (absolute) Entkopplung von wirtschaftlichem Wachstum und negativen Umweltauswirkungen in die Ziele aufgenommen werden sowie die Absicht, bis zum Jahr 2020 anspruchsvolle Ziele zur Ressourceneffizienz und zuverlässige Indikatoren zu vereinbaren, die öffentliche und private Entscheidungsträger beim Übergang zu einer ressourceneffizienten Wirtschaftsweise leiten (5). Außerdem erinnert der Ausschuss an seine Forderung, die Ökodesign-Richtlinie zu nutzen, nicht nachhaltige Produkte aus dem Wirtschaftskreislauf auszuschleusen und zu diesem Zweck diese Richtlinie nicht nur unter dem Aspekt der Energieeffizienz, sondern auch zur Verbesserung der materiellen Ressourceneffizienz anzuwenden (6).

4.4   Prioritäres Ziel 4: Maximierung der Vorteile aus dem Umweltrecht der EU

4.4.1

Die Evaluation des 6. UAP hat mit großer Deutlichkeit klargemacht, dass die Defizite in der Umsetzung des bestehenden Umweltrechts das gravierendste Hindernis für den erforderlichen Fortschritt beim Schutz der Umwelt darstellt. Es ist daher zu begrüßen, dass das 7. UAP der besseren Anwendung des Umweltrechts der EU in den Mitgliedsstaaten oberste Priorität einräumt.

4.4.2

Allerdings ist auch schon in der Vergangenheit die bessere Umsetzung des Umweltrechts von der Kommission mit hoher Priorität gefordert worden, ohne dass sich durchschlagende Erfolge eingestellt hätten. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass grundlegende Hindernisse bestehen, die sich mit den vorgeschlagenen Verbesserungen bei der Information über das Umweltrecht, den Kontrollmechanismen und dem Zugang zu Gerichten allein nicht beseitigen werden lassen.

4.4.3

Entscheidend ist vielmehr, dass in vielen Mitgliedsstaaten der politische Wille fehlt, einer effektiven Umsetzung des Umweltrechts dieselbe hohe politische Priorität einzuräumen und entsprechend die vollziehende Verwaltung mit ausreichenden Mitteln und qualifizierten Fachleuten auszustatten und ihr in Konfliktfällen den erforderlichen politischen Rückhalt zu geben.

4.4.4

Parallelen zur Finanzkrise drängen sich förmlich auf. So wie die Finanzkrise durch einen nicht nachhaltigen Umgang mit den ökonomischen Ressourcen in Folge der mangelnden Beachtung der im Vertrag von Maastricht festgelegten Kriterien zur Stabilität der gemeinsamen Währung ausgelöst wurde, liegt auch die Ursache für die Umweltprobleme in einer Übernutzung der Ressourcen, in diesem Fall von Boden, Wasser, Luft, Klima, den endlichen mineralischen und fossilen Ressourcen etc.

4.4.5

Der Ausschuss vermisst eine ähnliche Reaktion auf die Umweltkrise wie die mit dem Fiskalpakt beschlossenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanzkrise: klare Vorgaben, klare Indikatoren, Kontrollen und Sanktionen. Das 7. UAP bietet nichts davon. Die skizzierten Ansätze sind nicht geeignet, die dargestellten strukturellen Umsetzungsdefizite wirklich abzustellen. Die vorgeschlagenen Ziele zur besseren Rechtsanwendung für das Jahr 2020 sind völlig unbestimmt und nicht überprüfbar.

4.4.6

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Einhaltung von Rechtsvorschriften eine wirksame Kontrolle durch unabhängige Stellen sowie die glaubwürdige Bereitschaft voraussetzt, erforderlichenfalls Sanktionen zu verhängen bzw. zu akzeptieren. Deshalb erwartet der EWSA, dass im 7. UAP die Ausweitung von verbindlichen Kriterien für wirksame Kontrollen und Überwachung durch die Mitgliedsstaaten auf das gesamte Umweltrecht der EU und der Aufbau ergänzender Kapazitäten auf EU-Ebene festgeschrieben werden.

4.4.7

Darüber hinaus ist auch die in Paragraf 82 (f) erwähnte Aufnahme der Überwachung des Fortschritts bei der Umsetzung ökologischer Zielstellungen in das Europäische Semester geeignet, die Aufmerksamkeit der politischen Führungen auf EU- und Mitgliedsstaatenebene hierfür zu steigern. Immerhin wird von Seiten der Kommission darauf hingewiesen, wie negativ sich fortschreitende Umweltbelastungen auch makroökonomisch auswirken können. Der "Stern-Report" von 2006 über die wirtschaftlichen Auswirkungen des Klimawandels sowie der 2010 vorgelegte zusammenfassende Bericht zur TEEB-Studie über den ökonomischen Wert von Ökosystemen und biologischer Vielfalt (The Economics of Ecosystems and Biodiversity, TEEB) sind dafür eindrucksvolle Belege.

4.4.8

Das 7. UAP sollte um Maßnahmen ergänzt werden, die positive Anreize zur Einhaltung des Umweltrechts setzen. Insbesondere stellt die Koppelung der Zuteilung von finanziellen Mitteln der EU an Mitgliedsstaaten und private Rechtspersonen an den Nachweis der Einhaltung relevanter umweltrechtlicher Vorschriften ein wirksames Mittel dar, zur Rechtskonformität zu motivieren. Auch bleibt es ein großes Anliegen des EWSA, durch kooperative Strategien sowie der Kommunikation von Best-practise-Lösungen die Wirtschaft zu motivieren, an der Verbesserung des Zustands der Umwelt mitzuarbeiten.

4.4.9

Schließlich setzt eine wirksame Durchsetzung des Umweltschutzes eine aktive Rolle der Zivilgesellschaft voraus, in der die Bürger in die Lage versetzt werden, eine aktive Wächterrolle zu übernehmen. Instrumente hierzu sind insbesondere aufgrund der Aarhus-Konvention in das europäische Umweltrecht eingeführt worden, z.B. der freie Zugang zu Umweltinformation, die Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Organisation in umweltrechtlichen Entscheidungsverfahren sowie der Zugang zu Gerichten. Der Vorschlag zum 7. UAP erwähnt diese Instrumente, lässt aber eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Zivilgesellschaft bei der Durchsetzung des Umweltrechts sowie weitergehende Vorschläge vermissen. Fast alle positiven Entwicklungen für Natur und Umwelt wurden von der Zivilgesellschaft eingefordert. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen sind nach Auffassung des EWSA ein zentraler Akteur bei der Umsetzung des 7. UAP. Ihre Rolle sollte im 7. UAP im Rahmen eines zusätzlichen prioritären Ziels deutlich hervorgehoben und gestärkt werden. Der Maßnahmenkatalog sollte ergänzt werden um Ansätze zur Förderung des zivilgesellschaftlichen Engagements (z.B. lokale Agenda-21-Bündnisse oder ähnliche Foren), zur Bildung von Partnerschaften sowie zur stärkeren Einbindung der organisierten Zivilgesellschaft in Umweltbeiräte oder Nachhaltigkeitsräte.

4.5   Prioritäres Ziel 6: Sicherung von Investitionen für Umwelt- und Klimapolitik und angemessene Preisgestaltung

4.5.1

Maßnahmen zur Förderung von Investitionen für Umwelt- und Klimapolitik sowie die Einbeziehung ökologischer Kosten in die Preisgestaltung sind essenziell, um den Übergang zu einer ressourceneffizienten und kohlenstoffarmen Wirtschaft zu gewährleisten. Es ist daher zu begrüßen, dass die Kommission in ihrem Vorschlag zum 7. UAP diese Thematik zu einem prioritären Ziel gemacht hat. Allerdings sind auch hier die für das Jahr 2020 vorgesehenen Zielbestimmungen (Paragraf 82 (a) und (b)) sehr unbestimmt und nicht als überprüfbarer Erfolgsmaßstab geeignet.

4.5.2

Wieder einmal wird vage vom Abbau umweltschädlicher Subventionen gesprochen, wie bereits z.B. in der Nachhaltigkeitsstrategie von 2006, als die Vorlage einer entsprechenden Auflistung versprochen wurde. Die Umweltpolitik der EU läuft Gefahr unglaubwürdig zu werden, wenn wiederholten Ankündigungen keine Umsetzungen folgen. Dies gilt auch für den vielfach propagierten Grundsatz zur Internalisierung externer Kosten oder aber zur grundlegenden Verlagerung der Besteuerung weg vom Faktor Arbeit hin zur Besteuerung des begrenzten Faktors Umwelt.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema "7. Umweltaktionsprogramm und Folgemaßnahmen zum 6. UAP", ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 1-6.

(2)  Stellungnahme des EWSA "Bewertung der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung", ABl. C 117 vom 30.04.2004.

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema "Handel, Wachstum und Weltgeschehen - Handelspolitik als Kernbestandteil der Strategie Europa 2020", ABl. C 43, 15.2.2012, S. 73–78.

(4)  Stellungnahme des EWSA zum Thema "Einen arbeitsplatzintensiven Aufschwung gestalten", ABl. C 11, 15.1.2013, S. 65-70.

(5)  COM(2011) 571 final, Etappenziele 3.1.2. und 6.1, ABl. C 181 E, 21.6.2012, S. 163-168.

(6)  Stellungnahme des EWSA zum Thema "Förderung der Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch in der EU", ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 6-11.


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/82


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Sozialschutz in der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union

COM(2012) 446 final

2013/C 161/16

Berichterstatter: José María ZUFIAUR NARVAIZA

Mit Schreiben vom 12. Oktober 2012 ersuchte die Europäische Kommission den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um die Erarbeitung einer Stellungnahme zu folgender Vorlage:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Sozialschutz in der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union

COM(2012) 446 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 21. Februar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 102 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Bemerkungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Mitteilung der Kommission Sozialschutz in der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union  (1) wie auch die diesbezüglichen Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union (2) und formuliert dazu nachfolgende Bemerkungen und Empfehlungen.

1.2

Der EWSA äußert sich besorgt darüber, dass die Programmplanung für die EU-Entwicklungszusammenarbeit auf drei Bereiche beschränkt und der Sozialschutz deshalb bei der Planung und Umsetzung vernachlässigt wird. Er fordert deshalb die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, alles Erforderliche zu tun, damit der Sozialschutz bei der Planung und effektiven Umsetzung der Entwicklungszusammenarbeit Berücksichtigung findet.

1.3

Der EWSA hält es für zweckmäßig, mindestens 20 % der gesamten EU-Hilfsgelder für die soziale Eingliederung und die menschliche Entwicklung vorzusehen und die diesbezügliche Finanzausstattung im Zuge einer Umverteilung der in anderen Bereichen nicht eingesetzten Mittel zu erhöhen. Außerdem zeigt er sich darüber besorgt, dass dieser Anteil für die Bereiche Bildung, Gesundheit und Sozialschutz im Ganzen gilt und nicht aufgeteilt und gesondert zugewiesen wird, weshalb es keine Garantie gibt, dass der Sozialschutz nicht völlig außen vor bleibt. Sozialschutz kann vom Begriff her das Gesundheitswesen umfassen, aber nur schwerlich das Bildungswesen, es sei denn als Grundlage oder Ergänzung einiger Sozialschutzprogramme. Folglich sollte ein Gleichgewicht angestrebt werden, das eine Abstimmung dieser drei grundlegenden Bereiche ermöglicht.

1.4

Der EWSA teilt die Empfehlung 202 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über Mindestniveaus für den Sozialschutz (3), zu deren Grundpfeiler die menschenwürdige Arbeit zählt. Die Prinzipien dieser Sozialschutzniveaus müssen als (verbesserungsfähige) Mindestsockel aufgefasst werden, von denen ausgehend künftig Systeme zu entwickeln sind, die die Kriterien des Übereinkommens 102 der ILO (4) erfüllen.

1.5

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Sozialschutz als grundlegende Investition für den sozialen Zusammenhalt und die integrative und nachhaltige Entwicklung gelten sollte. Dazu muss ein strategischer Schwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit auf Faktoren gelegt werden, auf denen die Sozialschutzsysteme beruhen: menschwürdige Arbeit (einschließlich Aspekten wie der Gleichstellung von Männern und Frauen sowie Menschen mit Behinderungen), Verteilung des Reichtums, demografische Entwicklung, Universalität der (Sozial-)Dienstleistungen und die zentrale Rolle des Staats für das Erreichen dieser Ziele.

1.6

Der EWSA hält es für erforderlich, dass über die Entwicklungszusammenarbeit die Einführung von Sozialschutzsystemen für legale Arbeitnehmer (einschließlich derjenigen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen, als echte oder wirtschaftlich abhängige Selbstständige oder in der Landwirtschaft tätig sind) sowie die Einführung sozialer Hilfsleistungen für die gesamte Bevölkerung (einschließlich der in der informellen Wirtschaft tätigen Menschen) zu fördern. Er spricht sich deshalb dafür aus, auf Beiträgen beruhende Systeme mit steuerfinanzierten beitragsfreien Systemen zu kombinieren. Zu diesem Zweck muss durch die Entwicklungszusammenarbeit die institutionelle und steuerliche Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten gestärkt werden, damit sie über ausreichende Mittel verfügen, um ihren sozialen Verpflichtungen nachzukommen.

1.7

Der EWSA unterstreicht die Nützlichkeit der Sozialschutzsysteme für die Vermeidung und Verringerung von Risiken, einschließlich jener bei Naturkatastrophen oder Situationen nach Konflikten, und fordert deshalb, die Entwicklungszusammenarbeit für diesen Zweck einzusetzen.

1.8

Der EWSA ist der Ansicht, dass es vornehmlich den Partnerländern selbst obliegt, ihr Sozialschutzsystem zu entwickeln und umzusetzen, wobei die EU-Kooperation zur Stärkung ihrer institutionellen Leistungsfähigkeit sowie Steuererhebungs- und Verwaltungskapazitäten beitragen sollte, damit eine Selbstversorgung erreicht und nachhaltige und dauerhafte öffentliche Systeme entwickelt werden können.

1.9

Der EWSA spricht sich jedoch nicht dagegen aus, die Sozialschutzsockel in den Ländern mit niedrigem Einkommen durch mehrjährige Finanzhilfen mit direkten Transfers an die Partnerländern zu stärken, die durch angemessene Kontrollmechanismen überwacht werden sollten.

1.10

Der EWSA ist der Ansicht, dass bei der Entwicklungszusammenarbeit, auch wenn sie im Bereich des Sozialschutzes vorrangig auf Länder mit niedrigem Einkommen ausgerichtet sein sollte, die Länder mit mittlerem Einkommen nicht außer Acht gelassen werden dürfen, in denen die Probleme der Armut und Ungleichheit fortbestehen – und sich mitunter sogar verschärfen. Derzeit leben 75 % der Armen der Welt in Ländern mit mittlerem Einkommen. Die EU-Hilfe sollte, insbesondere durch branchen- und themenspezifische Programme, auf eine Ausweitung der Deckung und die Steigerung der Effizienz der bereits bestehenden Systeme ausgerichtet werden, wobei es die institutionellen Kapazitäten zu stärken gilt. Darüber hinaus sollten besondere Programme für Gebiete mit umfangreichen Migrationsströmen aufgelegt werden.

1.11

Der EWSA fordert, die Geschlechterdimension als vorrangiges Querschnittsthema in der EU-Entwicklungspolitik zu berücksichtigen, um Frauen einen besseren Zugang zum Sozialschutz zu ermöglichen, was zur Bekämpfung der Armut der einzelnen Menschen und der Familien beitragen würde.

1.12

Der EWSA schlägt vor, in die EU-Programme für die EU-Entwicklungszusammenarbeit die soziale und berufliche Eingliederung Menschen mit Behinderungen aufzunehmen, wobei ausreichende Mittel dafür vorzusehen sind, und für diese Personen einen angemessenen Sozialschutz festzulegen. Zu diesem Zweck sollte es seiner Auffassung nach zu den Zielen der EU-Entwicklungszusammenarbeit gehören, dass die Partnerländer das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (5) ratifizieren und ordnungsgemäß anwenden.

1.13

Der EWSA empfiehlt, den Sozialschutz im künftigen mehrjährigen Finanzrahmen als Priorität der Programmplanung im Abschnitt über die EU-Entwicklungszusammenarbeit zu berücksichtigen und festzulegen.

1.14

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Süd-/Süd-Austausch bewährter Verfahrensweisen im Bereich des Sozialschutzes fachlich und finanziell durch die EU gefördert werden muss.

1.15

Der EWSA fordert, in die von der EU unterzeichneten Assoziierungs-, Handels-, Stabilisierungs- und Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ein Kapitel über Sozialschutz aufzunehmen.

1.16

Der EWSA hält es für sinnvoll, regionale Entwicklungspartnerschaften im Bereich des Sozialschutzes zu fördern.

1.17

Der EWSA empfiehlt, ein Netz von Sozialschutzexperten auf europäischer Ebene (aus nationalen Ministerien, Entwicklungsagenturen und der Zivilgesellschaft) aufzubauen und dabei auf Instrumente wie das Programm für technische Unterstützung und Informationsaustausch (TAIEX) zurückzugreifen, um die Einbindung von Fachleuten zu ermöglichen. Die Hauptaufgabe dieses Netzes wäre die Kartierung der EU-Hilfe im Bereich des Sozialschutzes. Durch diese Initiative würde der Austausch bewährter Methoden gefördert und die Arbeitsteilung erleichtert, indem Lücken und Überschneidungen aufgezeigt oder mögliche komparative Vorteile ermittelt würden.

1.18

Der EWSA bekräftigt seine Empfehlung, dass die Organisationen der Zivilgesellschaft am Prozess zur Festlegung, Gestaltung und Überwachung der Kooperationsprogramme und –strategien beteiligt werden sollten. Er fordert deshalb, den Sozialschutz in die "EU-Road-Maps" für die Zusammenarbeit mit den Organisationen der Zivilgesellschaft aufzunehmen, die in der Kommissionsmitteilung über die Wurzeln der Demokratie und der nachhaltigen Entwicklung vorgesehen sind (6). Darüber hinaus unterstreicht der EWSA, dass die Sozialpartner und andere Organisationen der Zivilgesellschaft an den Beratungs- und Verwaltungsorganen der Einrichtungen des beitragsab- und -unabhängigen Sozialschutzsystems effektiv und ihrer Funktion entsprechend teilnehmen sollten.

2.   Hintergrund

2.1

Die von der Kommission vorgelegte und danach vom Rat bestätigte Mitteilung über den Sozialschutz in der Entwicklungszusammenarbeit der EU steht im Einklang mit den gemeinsamen Grundsätzen der Partnerschaft von Busan für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit (7), der Kommissionsmitteilung über das Programm für den Wandel (8) und der Empfehlung der ILO zu Mindestniveaus für den Sozialschutz und ist ein qualitativer Fortschritt in der europäischen Entwicklungszusammenarbeit.

2.2

Die gemeinsamen Ziele von Busan entsprechen dem EU-Ziel einer umfassenderen Strategie für die menschliche Entwicklung, wie in der Kommissionsmitteilung über die Agenda für den Wandel festgestellt wurde, in der die Förderung von Gesundheit und Bildung, menschenwürdiger Arbeit und der Systeme zur Stärkung des Sozialschutzes und zur Förderung der Chancengleichheit herausgestellt wird.

2.3

Diese Aktionslinien entsprechen auch der Empfehlung der ILO zu Mindestniveaus für den Sozialschutz, die vier grundlegende Sozialschutzgarantien beinhalten: von den Ländern selbst festgelegte Mindestniveaus für ein gesichertes Grundeinkommen für Kinder, Personen im erwerbsfähigen Alter und ältere Menschen sowie der Zugang zu einer grundlegenden und erschwinglichen Gesundheitsversorgung.

2.4

Darüber hinaus wird dieser Ansatz in den Schlussfolgerungen des Rates bekräftigt, in denen sich dieser für ein Wachstum ausspricht, das dadurch gekennzeichnet ist, dass der Wohlstand gerecht verteilt wird, dass die Menschen am Wohlstand und an der Schaffung von Arbeitsplätzen teilhaben und dass ein allgemeiner Zugang zu grundlegenden sozialen Diensten wie Gesundheitsversorgung und Bildung gewährleistet ist. In diesem Sinne heißt es in den Schlussfolgerungen weiter: "Die Sozialschutzpolitik kann eine umgestaltende Rolle in der Gesellschaft spielen, indem sie Gerechtigkeit, soziale Inklusion und den Dialog mit den Sozialpartnern fördert."

2.5

In allen diesen Erklärungen, Abkommen und Schlussfolgerungen wird gefordert, den Sozialschutz in die EU-Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen eines Ansatzes der integrativen und nachhaltigen Entwicklung aufzunehmen, d.h. einer Entwicklung, die über das quantitative Wirtschaftswachstum des BIP hinausgeht.

2.6

Es ist darauf hinzuweisen, dass die EU-Bürger ebenfalls der Ansicht sind, dass die Anstrengungen im Bereich der europäischen Entwicklungszusammenarbeit fortgesetzt werden sollten. Einer Eurobarometer-Umfrage zufolge (9) sprechen sich die europäischen Bürger trotz der Wirtschaftskrise mehrheitlich (85 %) dafür aus, die EU-Hilfe für die Entwicklungsländer beizubehalten, während ein Großteil (61 %) eine Aufstockung der Hilfsgelder befürwortet, damit viele Menschen einen Weg aus der Armut finden können.

3.   Die Herausforderung des Sozialschutzes muss im Kontext der Globalisierung bewältigt werden

3.1

Seit der Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (10) hat sich das weltweite BIP verzehnfacht, während das Pro-Kopf-Einkommen um 2,6-fache gestiegen ist. Dennoch hat sich für den Großteil der Weltbevölkerung die Lage hinsichtlich des Sozialschutzes nicht wesentlich verändert – sie genießen in der Praxis nach wie vor keinen sozialen Schutz. In dieser Hinsicht sind folgende Daten (11) signifikant.

3.1.1

Rund ein Drittel der Weltbevölkerung (1,75 Mrd. Personen) leidet unter vielgestaltiger Armut, die aus einem Mangel an Einkommen, Möglichkeiten für eine menschenwürdige Arbeit, Gesundheitsversorgung und Bildung resultiert.

3.1.2

Insgesamt sterben jährlich 9,2 Mio. Kinder unter fünf Jahren an Gesundheitsproblemen, die mit Präventionsmaßnahmen verhindert werden könnten.

3.1.3

Etwa 5,1 Mrd. Personen, d.h. 75 % der Weltbevölkerung, haben keinen angemessenen sozialen Schutz.

3.1.4

Weniger als 30 % der erwerbstätigen Personen in der Welt sind arbeitslosenversichert, und nur 15 % der Arbeitslosen erhalten entsprechende Leistungen.

3.1.5

Nur 20 % der Weltbevölkerung im erwerbsfähigen Alter haben Zugang zu umfassenden Sozialversicherungssystemen. In vielen Ländern verfügen die Arbeitnehmer des informellen Sektors, Landwirte und Selbstständige über keinerlei sozialen Schutz.

3.1.6

Im Gegensatz dazu liegt das Armuts- und Ungleichheitsniveau in den am stärksten entwickelten OECD-Ländern bei ungefähr der Hälfte dessen, was bei fehlenden Sozialschutzsystemen zu erwarten wäre.

4.   Potenzial des Sozialschutzes für eine integrative und nachhaltige Entwicklung

4.1

Diese Stellungnahme beruht auf einem sehr breit gefassten Begriff des Sozialschutzes, der sowohl die soziale Sicherheit im engeren Sinne als auch die Sozialhilfe abdeckt. Sozialschutz bezeichnet hier sowohl Maßnahmen und Aktionen mit dem Ziel, alle Menschen (insbesondere schutzbedürftige Gruppen) besser in die Lage zu versetzen, die Armutsfalle zu vermeiden bzw. aus ihr herauszufinden, als auch Maßnahmen und Aktionen für eine Einkommenssicherheit, den Zugang zu grundlegenden Gesundheits- und Sozialdienstleistungen im gesamten Lebensverlauf sowie Gleichheit und Menschenwürde.

4.2

Berücksichtigt werden deshalb Geld- und Sachleistungen zur sozialen Absicherung bei Krankheit, Mutterschaft, Alter, Berufsunfähigkeit, Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, an Hinterbliebene, Familien- und Arbeitslosenunterstützung sowie Sozialhilfeleistungen, die ungeachtet der zugrunde liegenden Ursachen vornehmlich auf den Schutz bei allgemeiner oder besonderer Bedürftigkeit abzielen.

4.3

Insofern hält sich der EWSA an die Bestimmungen von Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: "Jeder hat das Recht auf […] ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. Mütter und Kinder haben Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung. Alle Kinder, eheliche wie außereheliche, genießen den gleichen sozialen Schutz."

4.4

In Europa schließen weder die soziale Sicherheit noch der Sozialschutz im weiteren Sinne die Bildung ein, auch wenn es sich dabei anerkanntermaßen um einen wesentlichen Politikbereich handelt. Gleichwohl ist im Falle einiger erfolgreicher Programme – wie des brasilianischen Programms "Bolsa Família" ("Familienstipendium") – die Bewilligung von Sozialleistungen für Familien an die Teilnahme an Schulbesuchsprogrammen (Bildungspolitik) gebunden.

4.5

Diese und auch Erfahrungen anderer Art, die unter den Begriff Sozialschutzniveaus im weiteren Sinne fallen, sollten zwar genutzt und sogar ausgeweitet werden, gleichzeitig aber kann die Berücksichtigung der Bildung als Komponente des Sozialschutzes zu einer Verringerung der zu verteilenden Mittel für den Sozialschutz in den operationellen Programmen der EU-Entwicklungszusammenarbeit führen. Dies kann auch eine Verwechslung zwischen soziale Hilfsmaßnahmen und Sozialschutz zur Folge haben, indem ein Teil des Systems dem Ganzen gleichgesetzt wird.

4.6

Sozialhilfemaßnahmen sollten klarer von Sozialschutzsystemen abgegrenzt werden. Letztere sind strukturelle Systeme für den universellen Schutz. Erstere können hingegen auf Elemente des Sozialschutzes zurückgreifen, z.B. finanzielle Transferleistungen für die Erreichung eines Bildungsziels (wie im Falle der brasilianischen Initiative) und damit eine Verbindung zu den Sozialschutzniveaus herzustellen.

4.7

Der Sozialschutz spielt eine grundlegende Rolle in Phasen des Wirtschaftswachstums und ist ein stabilisierender Wirtschaftsfaktor in Krisenzeiten. Wie in der Kommissionsmitteilung festgestellt wird, verbessert der Sozialschutz den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, bietet den Menschen Instrumente zur Krisenbewältigung, fördert die Einkommensstabilität und die Nachfrage, wirkt makroökonomisch stabilisierend, verringert Ungleichheiten durch seinen Beitrag zum integrativen und nachhaltigen Wachstum, verbessert die Beziehungen zwischen den Generationen und leistet einen erheblichen Beitrag zur Verwirklichung der Millenniumsentwicklungsziele.

4.8

Sozialschutz ist deshalb eher eine Investition als ein Kostenpunkt. Er ist nicht ein bloßes Element der Einkommensumverteilung, das von den Wertschöpfungsmechanismen abgekoppelt ist. Er ist vielmehr ein wichtiger Produktionsfaktor, der für mehr Wohlstand sorgt. Er ist ebenso wichtig wie die Geldpolitik oder die Innovationspolitik, oder sogar noch wichtiger, insbesondere in einer Welt, in der vor allem in großen Entwicklungsländern die Bevölkerungsalterung stark zunimmt und künftig eine zentrale Herausforderung sein wird, die ohne Sozialschutzsysteme dramatische Formen annehmen kann.

5.   Bemerkungen zu den Vorschlägen der Europäischen Kommission

5.1

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Anerkennung des Sozialschutzes als tragende Säule der Entwicklungszusammenarbeit den Werten und Grundsätzen der EU entspricht, die im EU-Vertrag (12) und der EU-Grundrechtecharta festgeschrieben sind (13).

5.2

Der EWSA hält es für richtig, dass die Kommission den Sozialschutz in die Politik der EU-Entwicklungszusammenarbeit aufgenommen hat, so wie dies bereits von mehreren Instanzen, darunter der Ausschuss selbst, gefordert worden war (14).

5.3

Der EWSA teilt generell die in der Mitteilung vertretenen grundlegenden Positionen der Kommission. Besonders erwähnenswert sind die Bedeutung, die den strukturellen Hürden bei der Ausmerzung der Armut in Situationen im Zusammenhang mit Ausgrenzung und Marginalisierung beigemessen wird; der Wert, der der menschenwürdigen Arbeit und tragfähigen Steuersystemen zugeschrieben wird; das Bemühen um einen allgemeinen und diskriminierungsfreien Zugang zum Sozialschutz; die Bindung des Sozialschutzes an eine integrative und nachhaltige Entwicklung; die Rolle der Entwicklungszusammenarbeit sowohl in den Ländern mit Entwicklungsrückstand als auch in denen mit mittlerem Einkommen, die Geschlechterdimension und die Sozialschutzniveaus; sowie die Unterstützung der Beteiligung der Zivilgesellschaft und die Relevanz der Sozialpartner und des sozialen Dialogs.

5.4

Der EWSA betont die Notwendigkeit einer stärkeren Koordinierung zwischen den für die EU-Entwicklungsarbeit zuständigen Stellen und allen Interessenträgern (einschließlich internationaler Organisationen und Gremien) sowie einer größeren Kohärenz zwischen der Politik der Entwicklungszusammenarbeit und anderen EU-Politikbereichen. Darüber hinaus sind wegen der Berücksichtigung neuer sozialschutzrelevanter Ansätze (Resilienz, Verringerung von Katastrophenrisiken usw.) in der EU-Entwicklungszusammenarbeit weitere Anstrengungen notwendig, um die mit diesen Ansätzen verbundenen Begriffe besser zu definieren und die sich daraus ergebenden etwaigen Synergieeffekte zu nutzen.

5.5

Der EWSA unterstreicht das Ziel, den Sozialschutz durch einzelstaatliche Maßnahmen in den Mittelpunkt der nationalen Entwicklungsstrategien zu stellen. Es ist außerdem notwendig, die institutionellen Kapazitäten der Partnerländer zu stärken, wozu die technische Zusammenarbeit der EU nützlich wäre. Auch ist auf die erforderliche internationale Koordinierung der Sozialschutzrechte hinzuweisen.

5.6

Der EWSA ist der Ansicht, dass der in der Mitteilung verwandte Begriff "transformativer Sozialschutz" als eine Möglichkeit aufgefasst werden sollte, um die Teilhabe und Mitbestimmung der Empfänger von Sozialschutzleistungen und insbesondere der besonders gefährdeten und am stärksten unter Armut und sozialer Ausgrenzung leidenden Personen zu stärken, indem ihnen dazu ausreichende Mittel zur Verfügung gestellt werden.

5.7

Der EWSA hätte sich gewünscht, dass die Kommission in Bezug auf die Partnerschaften zwischen öffentlichem und privatem Sektor die wesentliche Rolle des Staats bei der Entwicklung und Anwendung von Sozialschutzsystemen herausstellt. Die Mitarbeit des Privatsektors ist ebenfalls notwendig, insbesondere im Bereich des ergänzenden Sozialschutzes (15). Der EWSA ist nicht der Auffassung, dass die auf Freiwilligkeit beruhende soziale Verantwortung von Unternehmen für das Thema Sozialschutz grundlegend ist, das auf verbindlichen Vorschriften und Maßnahmen beruhen muss.

5.8

Es ist ferner bedauerlich, dass die Kommission im Zusammenhang mit den Zielen der Europa-2020-Strategie nicht auf das Missverhältnis zwischen diesen Zielen und den von der EU geförderten Maßnahmen der "internen Abwertung" und Strukturreformen eingeht. So haben die tatsächlich durchgeführten Maßnahmen wenig mit diesen Zielen gemein: Sie haben zu Arbeitslosigkeit, Armut, Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung geführt. Ihrerseits haben die umgesetzten Reformen nicht zu mehr Wettbewerb und Zusammenhalt in der EU geführt, sondern zu mehr Prekarität auf dem Arbeitsmarkt und schlechteren öffentlichen Dienstleistungen.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  COM(2012) 446 final.

(2)  Schlussfolgerungen des Rates zum Sozialschutz in der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union vom 15. Oktober 2012, 14538/12.

(3)  Empfehlung Nr. 202 über nationale Sozialschutzniveaus, 101. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz, 14. Juni 2012.

(4)  Übereinkommen 102 über die Mindestnormen der Sozialen Sicherheit, 35. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz, 28. Juni 1952, Genf.

(5)  Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Generalversammlung der Vereinten Nationen, 13. Dezember 2006, New York.

(6)  Mitteilung der Kommission "Die Wurzeln der Demokratie und der nachhaltigen Entwicklung: Europas Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft im Bereich der Außenbeziehungen" COM(2012) 492 final.

(7)  4. hochrangiges Forum zur Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit, 29. November – 1. Dezember 2011, Busan.

(8)  COM(2011) 637 final.

(9)  Spezial Eurobarometer 392: Solidarität weltweit: Die Europäer und Entwicklungshilfe, Oktober 2012.

(10)  Generalversammlung der Vereinten Nationen, Dezember 1948.

(11)  Diese Daten stammen von: Weltbank, UNDP, FAO, UNO-Habitat, UNESCO, UNICEF, WHO, ILO.

(12)  Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. C 83/01 vom 30. März 2010.

(13)  Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. C 83/02 vom 30. März 2010.

(14)  Stellungnahme des EWSA zum Thema "Die externe Dimension der Koordinierung im Bereich der sozialen Sicherheit der EU"ABl C 11 vom 15.1.2013, S. 71-76.

(15)  Er wird aufgefordert, entsprechend den Leitlinien internationaler Organisationen für multinationale Unternehmen seinen rechtlichen Pflichten hinsichtlich der Finanzierung des Sozialschutzes nachzukommen.


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/87


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Blaues Wachstum — Chancen für nachhaltiges marines und maritimes Wachstum

COM(2012) 494 final

2013/C 161/17

Berichterstatter: Christos POLYZOGOPOULOS

Die Europäische Kommission beschloss am 13. September 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Blaues Wachstum — Chancen für nachhaltiges marines und maritimes Wachstum

COM(2012) 494 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 27. Februar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 100 gegen 2 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA ist der Ansicht, dass diese Mitteilung die gebotene logische Folge der Anstrengungen zur Verwirklichung einer integrierten Meerespolitik (IMP) in der Europäischen Union darstellt.

1.2

Der EWSA wertet die Mitteilung im Allgemeinen als einen sinnvollen Beitrag zur IMP der EU im Zusammenhang mit der Europa-2020-Strategie mit dem Ziel, den wirtschaftlichen Aufschwung Europas durch die Nutzung des Potenzials der maritimen Wirtschaft herbeizuführen, um Arbeitsplätze zu schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit und den sozialen Zusammenhalt zu stärken.

1.3

Unter diesem Gesichtspunkt begrüßt der EWSA die Mitteilung, insbesondere in der derzeitigen ernsten Situation der Wirtschaftskrise, durch die eine schwierige Wirtschaftslandschaft in Europa entstanden ist, die u.a. auch die maritimen Wirtschaftstätigkeiten belastet.

1.4

Nach Auffassung des EWSA setzt die neue Dynamik, die der IMP durch die Mitteilung verliehen werden soll, voraus, dass die bereits vorhandenen positiven Initiativen und Maßnahmen in Verbindung mit dem vorgeschlagenen neuen Rahmen kohärent genutzt und weiterentwickelt werden, damit die EU nicht die Gelegenheit auslässt, eine fortschrittliche IMP zu erarbeiten, die hohen Standards genügt.

1.5

Nach Auffassung des EWSA sind Kontinuität und Kohärenz für die Verwirklichung des blauen Wachstums unverzichtbar. Es muss daher klargestellt werden, dass die fünf Schwerpunktbereiche, die in der Studie zum blauen Wachstum – Szenarien und Anstöße für nachhaltiges Wachstum aus den Ozeanen, Meeren und Küsten (https://webgate.ec.europa.eu/maritimeforum/content/2946) ermittelt werden, die bereits bestehenden traditionellen Maßnahmenbereiche ergänzen und nicht ersetzen.

1.6

Der EWSA unterstreicht, dass – indem das blaue Wachstum als unerschöpfliche Quelle ungenutzten Reichtums erachtet und eindringlich als Allheilmittel für die europäische Wirtschaft beschworen wird – die vielfachen Belastungen, denen die Küsten und Meere der EU schon jetzt ausgesetzt sind, noch verstärkt werden. Er empfiehlt daher ständige Wachsamkeit, um ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen Zielsetzungen und den Grundsätzen des nachhaltigen Wachstums zu erreichen.

1.7

Der EWSA ist ausführlich auf die Bedeutung des Faktors Mensch in der maritimen Wirtschaft eingegangen und hat empfohlen, bei der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Dimension einer nachhaltigen integrierten Meerespolitik der sozialen Dimension gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.

1.8

Der EWSA ist der Ansicht, dass das blaue Wachstum zur Förderung der sozialen, ausgrenzungsfreien Integration beitragen muss, indem er insbesondere der Lokal- und Küstenbevölkerung – auch in abgelegenen und dünn besiedelten Gebieten – mit ihren besonderen Merkmalen und Bedürfnissen Möglichkeiten für Beschäftigung, Ausbildung und volle Teilhabe bietet.

1.9

Der EWSA unterstreicht unter Hinweis auf seine einschlägigen Bemerkungen zur marinen und maritimen Forschung (1) die wichtige Rolle, die Forschung und Innovation bei der Sicherung einer starken Wettbewerbsstellung für Europa spielen, insbesondere in den neu aufkommenden Branchen, unter Schwerpunktlegung auf die Grundlagen- und Spitzenforschung, die auf bahnbrechende Anwendungen und optimale Methoden zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen Industrie und Wissenschaft ausgerichtet ist.

1.10

Der EWSA misst der Frage der Bildung besondere Bedeutung bei und fordert die Kommission auf, den geeigneten innovativen Bildungsrahmen auszuarbeiten, um hochqualifizierte Studierende für eine Berufslaufbahn im maritimen Bereich zu gewinnen.

1.11

Da die Konsolidierung des blauen Wachstums ein besonders ambitioniertes und komplexes Unterfangen von gewaltiger Tragweite ist, unterstreicht der EWSA, dass es für seine Verwirklichung einer näheren Präzisierung bedarf; er ermittelt in dieser Stellungnahme einige zentrale Themen und weitere konkrete Fragen, die angegangen werden müssen, damit keine Kluft zwischen den Erwartungen und den tatsächlich bestehenden Möglichkeiten entsteht.

2.   Einleitung

2.1

Die Mitteilung konzentriert sich auf das "blaue Wachstum". Ausgangspunkt ist dabei die Überzeugung, dass die Küsten, Meere und Ozeane zur Bewältigung der Spannungen und Probleme, mit denen Europa konfrontiert ist, sowie zum wirtschaftlichen Aufschwung beitragen können.

2.2

Der Kommission zufolge zielt das blaue Wachstum auf eine intelligente, nachhaltige und integrative Entwicklung ab, deren Mittelpunkt die Innovation bildet, und setzt einen Prozess in Gang, durch den die blaue Wirtschaft auf der Agenda der Mitgliedstaaten, Regionen, Unternehmen und der Zivilgesellschaft aufgewertet wird.

2.3

In der Mitteilung wird dargelegt, auf welche Weise die Mitgliedstaaten und die EU die blaue Wirtschaft schon jetzt fördern. Auf der Grundlage der vorgenannten einschlägigen Studie (s. Ziffer 1.5) werden im gesamten Maßnahmenfundus fünf Schwerpunktbereiche mit erhöhtem Wachstumspotenzial ermittelt, die mithilfe gezielter Aktionen noch weiter ausgebaut werden können: 1) Meeres-, Küsten- und Kreuzfahrttourismus, 2) blaue Energie, 3) Meeresbodenschätze, 4) Aquakultur und 5) blaue Biotechnologie.

2.4

Die Wertschöpfungsbereiche oder -ketten der blauen Wirtschaft können unterteilt werden in traditionelle, voll entwickelte Branchen (Seeverkehr, See- und Küstentourismus), aufsteigende Branchen (Aquakultur und Meeresüberwachung) sowie neu aufkommende Branchen (erneuerbare Ozeanenergie, blaue Biotechnologie).

2.5

Die "Reaktivierung" der integrierten Meerespolitik wurde Anfang Oktober mit der Annahme der Erklärung von Limassol (2) besiegelt, einer politischen Botschaft zur Unterstützung und Stärkung der IMP, in der künftige Ausrichtungen für das blaue Wachstum im Rahmen einer Wachstums- und Beschäftigungsagenda festgelegt werden.

2.6

Das blaue Wachstum zielt als langfristige Strategie darauf ab, die Synergien und Wechselwirkungen sektorspezifischer Politiken und unterschiedlicher Aktivitäten aufzuzeigen, aber auch, ihre möglichen Folgen für Meeresumwelt und Biodiversität abzuschätzen.

2.7

Ziel der Strategie ist es auch, Maßnahmen zu ermitteln und zu unterstützen, die langfristig ein großes Wachstumspotenzial haben, und Investitionen in Forschung und Innovation sowie in die Verbesserung von Kompetenzen mithilfe der allgemeinen und beruflichen Bildung zu fördern.

2.8

Die Kommission wird nach umfassender Anhörung eine Reihe von Maßnahmen zur Auslotung des Wachstumspotenzials auf den Weg bringen, und zwar durch Mitteilungen über den Küsten- und Meerestourismus, die blaue Energie, die blaue Biotechnologie und die Förderung mineralischer Bodenschätze sowie strategische Leitlinien für die Aquakultur.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EWSA hat in früheren Stellungnahmen (3) mit maßgeblichen Feststellungen auf mehrere Fragen im Zusammenhang mit dem blauen Wachstum Bezug genommen und sich positiv über die Art und Weise geäußert, in der die Kommission die integrierte Meerespolitik (IMP) seit deren Festlegung im Jahr 2007 (4) dergestalt verwirklicht, dass sie die nachhaltige Entwicklung der Meereswirtschaft und die Verbesserung des Schutzes der Meeresumwelt anstrebt.

3.2

Der EWSA hält die vorgeschlagene Konsolidierung des blauen Wachstums für ein kompliziertes Unterfangen von gewaltiger Tragweite, das sich auf den folgenden Bezugsrahmen stützt: a) die sechs Meeresbecken (Ostsee, Mittelmeer, Nordsee, Nordostatlantik, Arktisches Meer und Schwarzes Meer sowie die europäischen Regionen in äußerster Randlage) mit ihren jeweiligen wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen, geografischen, klimatischen und institutionellen Besonderheiten und Erfordernissen, b) vielfältige Wirtschaftszweige und Tätigkeiten mit jeweils verschiedenen Entwicklungsebenen, unterschiedlichem spezifischem Wirkungsgrad und besonderen Merkmalen sowie c) Entwicklungsstrategien, die die Vorteile jeder Meeresregion und Branche nutzen und ihren Schwächen entgegenwirken.

3.3

Der EWSA hat sich bekanntermaßen dafür stark gemacht, dass sämtliche Akteure bereichs- und grenzübergreifend zusammenarbeiten, um die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und optimale Wachstumsbedingungen für die maritime Wirtschaft zu gewährleisten.

3.4

Der EWSA unterschreibt das funktionale geografische Konzept des blauen Wachstums mit Meeresbeckenstrategien, die den Besonderheiten der europäischen Meeresbecken hinsichtlich verschiedener maritimer Wirtschaftstätigkeiten, Themen wie Partnerschaften und Synergien, aber auch Spannungen inner- und außerhalb der Grenzen der EU Rechnung tragen.

3.5

Der EWSA empfiehlt den Ausbau der maritimen Cluster und die Förderung von Partnerschaften, mit denen die Innovation gestärkt und neue operationelle Konzepte entwickelt werden können. Regionale Zusammenschlüsse zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor und NGO sowie regionale Meeresübereinkommen und auf Meeresbecken ausgerichtete Studien können mithilfe der grenzübergreifenden Zusammenarbeit und der europäischen Programme dazu beitragen, der Segmentierung der maritimen Wirtschaft entgegenzuwirken.

3.6

In Bezug auf die lokalen Gemeinschaften der Küstenregionen, Inseln und Regionen in äußerster Randlage empfiehlt der EWSA die Vermeidung von "Einheitslösungen" sowie die Förderung von Strategien mit lokalem Zuschnitt und der Zusammenarbeit mit den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften, den Gemeinschaften und den zivilgesellschaftlichen Akteuren vor Ort mit dem Ziel, das Kulturerbe und die traditionellen Produktions- und Beschäftigungsformen zu bewahren und die natürlichen Ressourcen zu schützen.

3.7

Nach Ansicht des EWSA muss deutlicher hervorgehoben werden, dass die Förderung des blauen Wachstums im Rahmen der IMP keine rein europäische Angelegenheit ist und dass marine Ökosysteme und maritime Wirtschaftstätigkeiten nicht an nationalen Grenzen enden. Große Herausforderungen können nur durch internationale Zusammenarbeit und koordiniertes Handeln wirksam angegangen werden. Dies gilt sowohl für die globalen Herausforderungen, wie nachhaltige Nutzung der Meeresressourcen, Klimawandel, Artenverlust, fairer Wettbewerb in Schifffahrt und Schiffbau sowie Durchsetzung angemessener Arbeitsbedingungen in diesen Sektoren, als auch für Fragen, die eher regionaler Natur sind, wie z.B. der Schutz der Umwelt gegen die Auswirkungen bestimmter maritimer Tätigkeiten im Mittelmeer oder in der Ostsee.

3.8

Der EWSA fordert die Kommission auf, die sieben Regionen in äußerster Randlage (spanische Autonome Gemeinschaft der Kanarischen Inseln, portugiesische autonome Regionen Azoren und Madeira und französische Übersee-Départements Französisch-Guayana, Martinique und La Réunion) als Vorposten der EU in ihren jeweiligen Gebieten (5) in den Mittelpunkt der internationalen Dimension der IMP zu stellen, wobei die Prioritätsachsen für eine verstärkte Partnerschaft zu berücksichtigen sind (6), und regionale Strategien für das blaue Wachstum zugunsten dieser Regionen zu formulieren, denn diese Regionen sichern der EU die größte ausschließliche Wirtschaftszone der Welt und können eine wichtige Rolle spielen.

3.9

Der EWSA wertet die Bezugnahmen auf die Themen Beschäftigung, Ausbildung und Qualifizierung in der Mitteilung als positiv. Er ist jedoch der Ansicht, dass die soziale Dimension, die sie abstecken, in die Maßnahmen aufgenommen werden muss, die in der neuen Agenda für Wachstum und Beschäftigung im marinen und maritimen Bereich vom 8. Oktober 2012 in Bezug auf die Europa-2020-Strategie eingeleitet werden, und dass zielgerichtete Aktionen für bessere Lebens-, Arbeits- und Ausbildungsbedingungen unter der Beteiligung der Sozialpartner vorgesehen werden müssen.

3.10

Da der Mangel an Qualifizierung in der Mitteilung als großes Hindernis auf dem Weg zum blauen Wachstum dargestellt wird, hält es der EWSA – über die Frage der Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten hinaus (7) – für wesentlich, dass berufliche Fachkenntnisse und Erfahrung entsprechend den Anforderungen der aufkommenden Branchen in Bezug auf neue Qualifikationen von hohem Niveau entwickelt werden, und empfiehlt die Spezialisierung und Ausweitung der bestehenden Politiken und Maßnahmen, denn die Ausbildung im maritimen Bereich hat sich bisher in erster Linie auf bestehende, hinreichend entwickelte Tätigkeiten (Fischerei, Seefahrt) konzentriert.

4.   Wirtschaftliche Dimension

4.1

Die Mitteilung beschreibt die wirtschaftliche Dimension und die Beschäftigungsdaten des marinen und maritimen Sektors, der in Europa bereits 5,4 Mio. Menschen Arbeit gibt und eine Bruttowertschöpfung in Höhe von insgesamt ca. 500 Mrd. EUR pro Jahr erwirtschaftet, mit Ausnahme militärischer Tätigkeiten. 75 % des gesamten EU-Außenhandels und 37 % ihres Binnenhandels (je Tonnenkilometer) werden auf See befördert. Diese Tätigkeit ist hauptsächlich entlang der europäischen Küsten konzentriert. Überdies wird auch in mehreren Binnenstaaten eine beträchtliche maritime Wirtschaftstätigkeit ausgeübt, z.B. die Herstellung von Schiffsausrüstungen.

4.2

Durch die Wertschöpfungsketten der blauen Wirtschaft in Bezug auf Bruttowertschöpfung und Beschäftigung eröffnen sich enorme Perspektiven: Bis 2020 könnte die Zahl der Arbeitsplätze auf sieben Millionen steigen und die Bruttowertschöpfung insgesamt 600 Mrd. EUR jährlich ausmachen.

4.3

In der Mitteilung werden zudem die Dynamik und die möglichen künftigen Ausrichtungen für jeden der fünf auf Grundlage der vorgenannten Studie zum blauen Wachstum (s. Ziffer 1.5) ermittelten Schwerpunktbereiche untersucht, wobei das Hauptaugenmerk auf Innovation und den neuen Beschäftigungsmöglichkeiten liegt. Im Einzelnen:

4.3.1

Der Küsten- und Meerestourismus – größter Wirtschaftszweig hinsichtlich Bruttowertschöpfung und Beschäftigung – hat 2,35 Mio. Beschäftigte, was einem Anteil von 1,1 % aller Arbeitsplätze in der EU entspricht, wo in mehr als 90 % der Betriebe weniger als zehn Personen beschäftigt sind. Es wird ein Wachstum von 2 bis 3 % bis 2020 erwartet, und allein im Schifffahrtstourismus könnten zwischen 2010 und 2020 100 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Beim Segeln werden nach Angaben des Europäischen Kreuzfahrtrates (8) Wachstumsraten von 2 bis 3 % jährlich erwartet.

4.3.2

2011 entfielen auf den Sektor der Offshore-Windenergie über 10 % der installierten Kapazität; er hatte europaweit 35 000 direkt und indirekt Beschäftigte und investierte 2,4 Mrd. EUR jährlich für eine Gesamtkapazität von 3,8 GW. Bei Zugrundelegung der Aktionspläne der Mitgliedstaaten für erneuerbare Energien wird sich die aus Windenergie produzierte Strommenge bis 2020 voraussichtlich auf 494,6 TWh belaufen, davon 133,3 TWh offshore. Den Beschäftigungsprognosen zufolge wird die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Bereich bis 2020 auf 170 000 und bis 2030 auf 300 000 steigen. Vielversprechende Perspektiven zeichnen sich auch in Bereichen ab, die sich in der frühen Wachstumsphase befinden, wie die Gezeitenenergie- sowie Wellenenergienutzung, in die einige Mitgliedstaaten bereits stark investiert haben.

4.3.3

Der weltweite Jahresumsatz des Meeres-Mineralbergbaus dürfte – nach Schätzungen, die im Rahmen der Studie zum blauen Wachstum von Vertretern der Industrie aufgestellt wurden – in den nächsten zehn Jahren von fast null auf 5 Mrd. EUR und bis 2030 auf 10 Mrd. EUR ansteigen. Bis 2020 könnten weltweit 5 % aller Mineralien einschließlich Kobalt, Kupfer und Zink von den Meeresböden stammen. Die Preise für viele nichtenergetische Rohstoffe sind nach Angaben der WTO (PRESS/628 vom 7. April 2011) zwischen 2000 und 2010 insbesondere wegen der größeren Nachfrage in Schwellenländern um etwa 15 % jährlich gestiegen. Die Erschließung/Förderung anderer Mineralien als Sand und Kies aus dem Meer hingegen hat gerade erst begonnen und ist auf flache Gewässer beschränkt.

4.3.4

Im Jahr 2010 lag das Gesamtvolumen der Aquakultur in der EU etwas unter 1,3 Mio. Tonnen mit einem Wert von ungefähr 3,2 Mrd. EUR und der Bereitstellung von 80 000 Arbeitsplätzen. Mehr als 90 % der Aquakulturbetriebe in der EU sind kleine und mittlere Unternehmen. Weltweit beläuft sich der Zuwachs auf 6,6 % jährlich – von 40 Mio. Tonnen 2002 auf 53 Mio. Tonnen 2009 – und stellt die höchste Wachstumsrate im Bereich der tierischen Erzeugung dar (FAO (2010), The State of World Fisheries and Aquaculture). Während die weltweite Nachfrage steigt, ist die europäische Produktion jedoch gleichbleibend, und die Nachfrage nach Fisch in der EU wird durch Importe abgedeckt, aus denen 60 bis 65 % der Gesamtversorgung bestritten werden. Als Instrument zur Förderung der Entwicklung der Aquakultur fordert der EWSA die Kommission auf, die Finanzierungspolitik des Sektors zu überdenken, die sich im Zeitraum 2014-2020 von Finanz- auf Direktbeihilfen verlagert hat.

4.3.5

Die Beschäftigungszahlen im aufkommenden Sektor der blauen Biotechnologie in Europa sind noch relativ gering; die Bruttowertschöpfung wird auf 0,8 Mrd. EUR veranschlagt. In naher Zukunft dürfte sich der Bereich zu einem Nischenmarkt für hochwertige Produkte in den Sparten Medizin, Kosmetik und industrielle Biomaterialien mausern. Bis 2020 könnte er sich zu einem mittelgroßen Markt entwickeln und auf die Herstellung von Metaboliten und Primärprodukten (Lipide, Zucker, Polymere, Proteine) sowie Produkten für die Lebens-, Futtermittel- und chemische Industrie ausdehnen. Langfristig könnte die blaue Biotechnologie bei entsprechenden technologischen Durchbrüchen auch zum Massenlieferanten von Spezialprodukten mit hoher Wertschöpfung werden.

4.4

Der EWSA weist darauf hin, dass die wirtschaftlichen Perspektiven der fünf Spitzenbereiche von zahlreichen Bedingungen abhängen und ihre Dynamik komplexen technologischen, ökologischen, forschungs-, investitions- und wettbewerbsbezogenen sowie institutionellen Herausforderungen unterliegt, die häufig mit der internationalen Dimension der IMP zusammenhängen, z.B. die Möglichkeit des Erwerbs von Lizenzen in internationalen Gewässern.

4.5

Das Tempo der Verwirklichung des blauen Wachstums hängt in entscheidendem Maße davon ab, welches Langzeitszenario zugrunde gelegt wird. Ein Szenario des nachhaltigen und stabilen Wachstums würde bessere Unterstützung bieten, während ein verhaltener wirtschaftlicher Wiederaufschwung in Verbindung mit einschränkenden internationalen Parametern die Entwicklungen behindern würde.

4.6

Der EWSA stellt jedoch fest, dass die allgemeinen wie auch die besonderen Auswirkungen der derzeitigen Wirtschaftskrise, die die Bewältigung der kurz- und langfristigen Herausforderungen auf europäischer und weltweiter Ebene erschwert, in der Mitteilung offensichtlich nicht gebührend berücksichtigt werden.

4.7

Auf neuen, inhärent risikoträchtigen Märkten hängt die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen davon ab, dass sie Zugang zu ausreichender Finanzierung haben, und dies in einem geeigneten Rahmen, um Investitionen unter transparenten Bedingungen anzuziehen. Der Zugang zu Risikokapital ist für die KMU von wesentlicher Bedeutung, und das Augenmerk sollte auf die Kleinstunternehmen gerichtet werden, die sich zu potenziellen Hebeln des blauen Wachstums entwickeln könnten.

4.8

Der EWSA verweist auf die besondere Bedeutung der maritimen Wirtschaft für diejenigen Mitgliedstaaten, die über ausschließliche Wirtschaftszonen verfügen, sowie darauf, dass es notwendig ist, maritime Wirtschaftsgruppierungen zu entwickeln und ihren Beitrag zu Wachstum und Beschäftigung zu fördern.

4.9

Schließlich ist der EWSA in dem Bestreben, die Entstehung einer Kluft zwischen den Erwartungen und der Wirklichkeit zu verhindern, der Ansicht, dass der derzeitigen ungünstigen Konjunktur und den im Allgemeinen pessimistischen Vorhersagen für die europäische und weltweite Wirtschaft ernsthaft Rechnung getragen werden muss, und zwar im Rahmen eines realistischen Ansatzes zur näheren Spezifizierung des blauen Wachstums.

5.   Governance und Fragen im Zusammenhang mit dem Regelungsrahmen

5.1

Die Mitteilung enthält Verweise auf bestehende Maßnahmen und strategische Investitionen in die blaue Wirtschaft seitens der Mitgliedstaaten und der EU. Der EWSA vertritt jedoch die Meinung, dass diese Initiativen und Aktionen der Mitgliedstaaten im Widerspruch zu den ehrgeizigen Zielen des blauen Wachstums stehen und noch nicht die für dessen Konsolidierung erforderliche kritische Masse liefern.

5.2

Nach Ansicht des EWSA sind wirksame Steuerungsstrukturen die Voraussetzung dafür, dass die erforderliche kritische Masse entsteht, die das blaue Wachstum zu einem Instrument für die Förderung von Beschäftigung und Unternehmertum in Krisenzeiten machen.

5.3

Es ist darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzung für wirksame Steuerungsstrukturen darin besteht, Regelungsengpässe und Verwaltungszwänge anzugehen, die auch das Konsultationsverfahren zu Tage gefördert hat.

5.4

Da sich ständig neue Möglichkeiten der Meeresnutzung entwickeln, ist es wichtig, dass die Mitgliedstaaten stabile Regelungs- und Planungssysteme konzipieren, die Anreize für langfristige Investitionen, für den grenzübergreifenden Zusammenhalt sowie für partnerschaftliche Synergien mit dem Schwerpunkt Innovation schaffen.

5.5

Der EU fehlt es gerade in den neu aufkommenden Sektoren wie der marinen Biotechnologie an einer kohärenten Politik, die umgehend erarbeitet werden muss, denn die europäischen Anstrengungen sind fragmentiert, stützen sich auf nationale statt gemeinsame europäische Prioritäten und stellen einen Wettbewerbsnachteil dar.

5.6

Der EWSA ist daher der Ansicht, dass es von wesentlicher Bedeutung ist, die sich aus der Komplexität und Instabilität des Rechtsrahmens ergebenden Regelungslücken und –hindernisse, wie die Rechtsunsicherheit für die Zeit nach 2020 (Offshore-Windenergie) und Regelungslücken der EU für bestimmte Tätigkeiten (Nutzung der Meeresressourcen, Offshore-Aquakultur und –Erzeugung von Windenergie), rasch anzugehen.

5.7

Er weist insbesondere darauf hin, dass eine strukturierte Antwort auf zentrale Fragen gefunden werden muss, als da sind: das Fehlen einer integrierten Planung des Meeresraums, insbesondere in Bezug auf Aquakultur und Offshore-Windenergie, die komplexen Zulassungs-/ Genehmigungsverfahren (Offshore-Windenergie, blaue Biotechnologie), die Hindernisse für die Schaffung/Finanzierung von Versuchsbetrieben, aber auch die Interessenkonflikte, etwa zwischen der Seeschifffahrt und den Anlagen für erneuerbare Meeresenergie (Erzeugung von Gezeitenenergie, Umwandlung von Meereswärme (OTEC) und Nutzung der Wellenenergie).

6.   Ökologische Dimension

6.1

Der EWSA schlägt vor, die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRR) (9) als Grundlage für das nachhaltige Wachstum anzuerkennen, da sie die Umweltsäule der IMP ist, und fordert eine kohärente Politik zum kontinuierlichen Schutz und Erhalt sowie zur Verhinderung der Verschlechterung der Meeresumwelt.

6.2

Der EWSA hält es für angezeigt, in die Erklärung von Limassol und künftige politische Dokumente das Ziel der Erreichung bzw. Bewahrung des guten Umweltzustands der Meeresgewässer der EU bis 2020 und das Vorbeugeprinzip als Grundvoraussetzung für die integrierte Meerespolitik und das blaue Wachstum aufzunehmen.

6.3

Nachhaltige maritime Wirtschaftstätigkeiten, die Arbeitsplätze schaffen können, setzen einen langfristigen Ansatz voraus, der ein Gleichgewicht zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltanliegen anstrebt und von den lokalen, nationalen, internationalen und europäischen Politiken auf der Grundlage der Prinzipien des nachhaltigen Wachstums angemessen unterstützt werden muss.

6.4

Der EWSA weist darauf hin, dass die Meeresressourcen zwar beachtlich, aber mitnichten unerschöpflich sind, und macht darauf aufmerksam, dass – sollten die schweren Fehler der übermäßigen Ressourcennutzung und der Bauwut, durch die frühere Wachstumsinitiativen gekennzeichnet waren, wiederholt werden – die Gefahr besteht, dass die Nachhaltigkeit des blauen Wachstums ausgehöhlt und die Umwelt zusätzlich belastet wird.

6.5

In der Mitteilung wird die ökologische Herausforderung zwar anerkannt, aber offensichtlich ignoriert, dass sich der Zustand der europäischen Meere und Ozeane in den letzten Jahrzehnten durch die Verschmutzung von Böden, Meeresgewässern und Luft, die Übersäuerung der Ozeane, die Überfischung, zerstörerische Fischereitechniken und den Klimawandel verschlechtert hat. Eine Degradation der Meeres- und Küstenökosysteme und der Biodiversität sind in der Ostsee, dem Schwarzen Meer, dem Mittelmeer, dem Nordostatlantik und in der Arktis zu beobachten, wie dies aus neuesten Untersuchungen zu den Grenzen des blauen Wachstums hervorgeht (Limits to Blue Growth (2012), http://www.seas-at-risk.org/news_n2.php?page=539). Eine neuere bahnbrechende Studie des Stockholmer Umweltinstituts (Stockholm Environment Institute, SEI) beziffert die – bei der Konzipierung politischer Maßnahmen häufig außer Acht gelassenen – beträchtlichen Kosten, die die Meeresverschmutzung verursachen wird, wenn keine Maßnahmen zur Reduzierung der Treibhausgase getroffen werden (http://www.sei-international.org/publications?pid=2064).

6.6

Zu den maritimen Wirtschaftstätigkeiten, die eine große Gefahr für die Nachhaltigkeit sind, zählen Offshore-Erdöl- und –Erdgasförderung, Aquakultur, Küsten- und Kreuzfahrttourismus, CO2-Abtrennung und –Speicherung, Küstenschifffahrt sowie die Förderung fossiler Brennstoffe aus dem Meer, die mit jeglichem Konzept von nachhaltigem Wachstum unvereinbar ist.

6.7

Unklar sind weiterhin Intensität und Umfang der Umweltauswirkungen, insbesondere in Bezug auf die nachhaltige blaue Energie, die mineralischen Meeresressourcen, die Aquakultur und die blauen Biotechnologie, während die Datenlage für ein Verständnis der komplexen Wechselwirkungen in den Ozeanen und tiefen Meeren ungenügend ist.

6.8

Der EWSA ist der Ansicht, dass die maritime Raumordnung und das integrierte Küstenzonenmanagement, die die Kommission als wichtigstes Instrument für das Management von Meeresräumen und –ressourcen propagiert, mit anderen politischen Instrumenten verknüpft werden müssen (etwa der strategischen Umweltprüfung, der Festlegung von Schutzgebieten oder der Internalisierung der Umweltkosten), und dies anhand eines Managementansatzes, der auf dem Ökosystem und dem harmonischen Nebeneinander der verschiedenen intensiven und miteinander konkurrierenden Nutzungen beruht.

6.9

Der EWSA empfiehlt der Kommission, mehr Wachsamkeit bei der Einhaltung europäischer Umweltnormen und Hygiene- und Qualitätsvorschriften an den Tag zu legen, insbesondere bei Importen von Aquakulturprodukten aus Drittländern, um die Verbraucher in der EU zu schützen, aber auch, um die Unternehmen der Branche vor möglichem unlauterem Wettbewerb zu bewahren.

7.   Besondere Bemerkungen

7.1

Der EWSA stellt fest, dass die Mitteilung trotz der Bezugnahmen auf die Bedeutung der Forschung für die Konsolidierung des blauen Wachstums insbesondere in den aufsteigenden und neu aufkommenden Branchen generell vage bleibt und sich im Wesentlichen auf Verweise auf das künftige Programm "Horizont 2020" beschränkt.

7.2

Europa durchläuft eine Zeit von Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben, was bedeutet, dass die bestmöglichen Resultate mit begrenzten Mitteln erzielt werden müssen. Die sich daraus ergebende Verringerung der öffentlichen Forschungsmittel droht in Verbindung mit dem Mangel an Risikokapital die wichtige Rolle zu schwächen, die die KMU in der maritimen Wirtschaft bei der Entwicklung neuer Produkte und Technologien spielen.

7.3

Der EWSA betont, dass Europa – trotz seiner soliden Wissensbasis und seines Forschungsvorsprungs in Bezug auf neue und traditionelle Energieformen und die Aquakultur – bei der praktischen Innovation oder der Vermarktung in den neu aufkommenden Branchen hinterherhinkt, in denen die europäischen Akteure derzeit dem Innovationsvermögen der internationalen Akteure nichts entgegenzusetzen haben (wie sich an der Zahl der europäischen Erfindungspatente in den Bereichen Entsalzung, Küstenschutz, Algenaquakultur oder blaue Biotechnologie im Vergleich zu denen Asiens und der USA ablesen lässt).

7.4

Der EWSA empfiehlt folglich, dem Mangel an zielgerichteter Forschung und einem Forschungsprofil abzuhelfen, der zum Teil auf die breite Palette an Forschungsfeldern und –aktivitäten zurückzuführen ist, die mit der marinen Biotechnologie und den anderen neuen Bereichen zusammenhängt.

7.5

Folgende Maßnahmen könnten dazu beitragen, die in allen Schwerpunktbereichen bestehende Kluft beim Wissens- und Technologietransfer zu überbrücken: die Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und Bildung, die Zusammenarbeit zwischen Industrie und Hochschulen, die Verbesserung der Verwaltung des geistigen Eigentums, Investitionen in Demonstrationsvorhaben zum Nachweis der kommerziellen Verwertbarkeit und große Partnerschaften zwischen öffentlichen und privaten Initiativen, um die für das blaue Wachstum erforderliche kritische Masse zu schaffen.

7.6

Die Zukunft des blauen Wachstums im 21. Jahrhundert hängt eng damit zusammen, inwieweit Wissenschaftler in der Lage sind, interdisziplinäre Programme, die die Kompetenzen und Konzepte anderer Forschungsgebiete integrieren, zu entwickeln und an ihnen teilzunehmen. Die Ausbildung der nächsten Generation von Wissenschaftlern muss auf bereichsübergreifende und umfassende Ansätze ausgerichtet sein, damit den komplexen technologischen und wettbewerbsspezifischen Herausforderungen begegnet werden kann, die sich der Forschung im Bereich der Meeresorganismen und der Meeresumwelt stellen.

7.7

Der EWSA hält es für dringend erforderlich, der Fragmentierung der Meeresdaten zu begegnen, die über Hunderte verschiedener Stellen in ganz Europa verstreut sind, wodurch Zugriff, Nutzung und Zusammentragung erschwert werden, und fordert die Kommission auf, mit den Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten, um dieses Wissen zugänglich zu machen und den zusätzlichen Bedarf an finanziellen und sonstigen Ressourcen zu bestimmen, die notwendig sind, um ein gemeinsames Umfeld für den Austausch von Informationen und bewährten Verfahren und den Fluss von Daten zu schaffen mit dem Ziel, die Forschung und Innovation zu stärken und den Umweltschutz zu verbessern.

7.8

Die neue digitale Karte des Meeresbodens der europäischen Gewässer sollte interoperabel sein, keinerlei Nutzungsbeschränkungen unterliegen und die Forschung dadurch unterstützen, dass sie Daten über die Auswirkungen der menschlichen Aktivität und ozeanografische Vorhersagen liefert, damit die Mitgliedstaaten das Potenzial ihrer eigenen Meeresprogramme zur Beobachtung, Probenentnahme und Erforschung optimieren können.

7.9

Der Schutz der Meeresgrenzen Europas und die wirksame Meeresüberwachung (10) stellen die Mitgliedstaaten bei der erfolgreichen Förderung des blauen Wachstums vor eine große Aufgabe. Die Verstärkung der Kontrolle an der Außengrenzen des Schengen-Raums und die Einsetzung eines Mechanismus für den Informationsaustausch werden es den Grenzüberwachungsbehörden der Mitgliedstaaten ermöglichen, den Verlust von Menschenleben auf See zu verringern und Phänomene wie die illegale Einwanderung in die EU, aber auch die Seepiraterie zu bekämpfen (11).

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 46–50.

(2)  Erklärung der für die integrierte Meerespolitik zuständigen europäischen Minister und der Europäischen Kommission über den Stand der integrierten Meerespolitik und zu einer Agenda für Entwicklung und Beschäftigung im Rahmen des blauen Wachstums, die am 7. Oktober 2012 in Nikosia (Zypern) angenommen wurde.

(3)  ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 133–140; ABL. C 255 vom 22.9.2010, S. 103–109; ABl. C 267 vom 1.10.2010, S. 39–45; ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 46–50; ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 31–36; ABl. C 172 vom 5.7.2008, S. 34–40; ABl, C 168 vom 20.7.2007, S. 50–56; ABl. C 146 vom 30.6.2007, S. 19–26; ABl. C 206 vom 29.8.2006, S. 5–9; ABl. C 185 vom 8.8.2006, S. 20–24; ABl. C 157 vom 28.6.2005, S. 141–146.

(4)  COM(2007) 575 final.

(5)  COM(2004) 343 final.

(6)  ABl. C 294 vom 25.11.2005, S. 21–25.

(7)  ABl. C 43 vom 15.2.2012, S. 69–72.

(8)  COM(2012) 494 final.

(9)  ABl. L 164 vom 25.6.2008, S. 19–40.

(10)  ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 173–177.

(11)  ABl. C 76 vom 14.3.2013, S. 15.


6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/93


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Schiffsausrüstung und zur Aufhebung der Richtlinie 96/98/EG

COM(2012) 772 final — 2012/0358 (COD)

2013/C 161/18

Berichterstatterin: Anna BREDIMA

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 15. Januar 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 100 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Schiffsausrüstung und zur Aufhebung der Richtlinie 96/98/EG

COM(2012) 772 final — 2012/0358 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 27. Februar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 113 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Kommissionsvorschlag für eine neue Richtlinie über Schiffsausrüstung und ihre übergeordneten Zielsetzungen. Mit diesem Vorschlag werden die einheitliche Umsetzung der Normen der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation IMO und das korrekte Funktionieren des Binnenmarkts für Schiffsausrüstungen sichergestellt und somit die Seeverkehrssicherheit erhöht und die Verhütung der Verschmutzung durch Schiffe verbessert.

1.2

Der Ausschuss unterstützt ausdrücklich den der Richtlinie zugrundeliegenden Ansatz, gemäß dem a) die Konformität der Schiffsausrüstung, die an Bord von Schiffen unter EU-Flagge angebracht wird, mit den IMO-Instrumenten verpflichtend vorgeschrieben wird; b) jedwede Ausrüstung, für die EU-Rechtsvorschriften gelten, in den Anwendungsbereich der Richtlinie aufgenommen wird; c) die gegenseitige Anerkennung von konformer Ausrüstung und Akzeptanz von vergleichbarer Ausrüstung sicherstellt wird; d) der freie Verkehr von Schiffsausrüstung in der EU und der Abbau von technischen Handelshemmnissen im Binnenmarkt gewährleistet wird; und e) ein Mechanismus zur Erleichterung und Klarstellung der Umsetzung von Änderungen zu IMO-Normen in den Rechtsrahmen der EU und ihrer Mitgliedstaaten eingeführt wird.

1.3

Nach Auffassung des Ausschusses entwickelt die IMO Normen und Testverfahren für Schiffsausrüstung schon weit vor ihrer verpflichtenden Anbringung an Bord. Durch ein gemeinsames Handeln der Mitgliedstaaten im IMO-Verfahren kann sichergestellt werden, dass die Ziele der Richtlinie eingehalten werden, ohne dafür auf die einseitigen vorübergehenden EU-Normen für Ausrüstung zurückgreifen zu müssen, die letztlich den IMO-Normen möglicherweise nicht entspricht und ersetzt werden oder "Bestandschutz" erhalten muss. Das Fortbestehen regionaler Normen aufgrund einer unterschiedlichen Anwendung der IMO-Normen könnte die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Flotte beeinträchtigen und eine Senkung des Sicherheits- und Umweltschutzniveaus nach sich ziehen.

1.4

Nach Meinung des Ausschusses ist größere Klarheit in Bezug auf den Geltungsbereich und die Anwendung bestimmter Bestimmungen der Richtlinie betreffend die Anforderungen zur gegenseitigen Anerkennung und Akzeptanz von Ausrüstung gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 631/91 zur Umregistrierung von Schiffen innerhalb der Gemeinschaft, der Verordnung (EG) Nr. 391/2009 über gemeinsame Vorschriften und Normen für Schiffsüberprüfungs- und -besichtigungsorganisationen sowie dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Vereinigten Staaten von Amerika über die gegenseitige Anerkennung der Konformitätsbescheinigungen für Schiffsausrüstung aus dem Jahr 2004 erforderlich.

2.   Der Kommissionsvorschlag

2.1

Die Europäische Kommission hat vier Bereiche ermittelt, in denen die Richtlinie 96/98/EG über Schiffsausrüstung ihre Ziele nicht voll erreicht. Zu den davon betroffenen Interessenträgern zählen u.a. europäische Schiffsausrüstungshersteller, einschl. KMU, Werften, Schiffspassagiere, Besatzungsmitglieder und Behörden. Die Europäische Kommission legt spezifische Vorschläge vor, um diese Mängel zu beseitigen und die Richtlinie aufzuheben. Die vorgeschlagene neue Richtlinie bringt zweierlei Vorteile: zum einen werden die Durchsetzung der IMO-Normen in der EU verbessert, Sicherheitsrisiken gesenkt und das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts für Schiffsausrüstung erleichtert, indem die Verfahren für die Umsetzung von Änderungen dieser Normen gekürzt und vereinfacht werden. Zum anderen wird der Rechtsrahmen gestrafft und die europäische Schiffsausrüstungsindustrie angekurbelt.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die Schiffsausrüstungsindustrie hat einen hohen Mehrwert: sie ist eine führende Industriebranche und Nettoexporteur mit hohen Investitionen in Forschung und Entwicklung. Sie zählt 5 000 bis 6 000 Unternehmen und bietet 300 000 Arbeitsplätze. Mit diesem Richtlinienvorschlag wird die Sicherheit der Schiffen unter EU-Flagge und ihrer Besatzungen verbessert und die Schiffsausrüstungsindustrie durch die Schaffung von Arbeitsplätzen und Wachstum gefördert.

3.2

Unter dem Begriff Schiffsausrüstung sind sämtliche Ausrüstungsgegenstände auf einem Schiff zu verstehen, die im Zuge des Schiffbaus oder nachträglich installiert werden. Er bezieht sich auch auf Offshore-Tätigkeiten und umfasst eine breite Produktpalette von Navigations- und Ladungsausrüstung bis Brandbekämpfungs- und Rettungsausrüstung sowie Spezialausrüstung für Umweltzwecke, z.B. Ballastwassermanagementsysteme oder Scrubber für SOx-Emissionen. Der Wert der Schiffsausrüstung macht 40 bis 80 % des Wertes neuer Schiffe aus. Mit diesem Vorschlag werden die Kosten für die Unternehmen gesenkt und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie gestärkt.

3.3

Der Ausschuss verweist auf seine Stellungnahme zu dem Vorschlag für die Richtlinie 96/98/EG zu Schiffsausrüstung, in der er die Ziele, die nun auch diesem neuen Vorschlag zugrunde liegen, ausdrücklich begrüßte (1).

3.4

Der Ausschuss stimmt dem in dem Richtlinienvorschlag verfolgten Ansatz voll und ganz zu und befürwortet seine Ziele, die zur Stärkung des geltenden Rechtsrahmens und zumal zur Erleichterung der rechtzeitigen Umsetzung von Änderungen von IMO-Normen in EU-Rechtsvorschriften beitragen werden.

3.5

Der Ausschuss begrüßt den Vorrang für die internationalen Regeln im Bereich der Seeverkehrssicherheit, was dem globalen Charakter der Schifffahrt entspricht. Die Bestimmungen, nach deren Maßgabe die Europäische Kommission Durchführungsrechtsakte zur Änderung der EU-Rechtvorschriften erlassen, einheitliche Kriterien und Verfahren für die Anwendung dieser Anforderungen sowie Prüfnormen festlegen und einschlägige Angaben veröffentlichen kann, sind den Zielen dieser Richtlinie zuträglich.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Artikel 2 – Begriffsbestimmungen

Der Ausschuss stimmt der Aufnahme des Übereinkommens von 2004 zur Kontrolle und Behandlung von Ballastwasser und Sedimenten von Schiffen (BWMC), das in naher Zukunft in Kraft treten dürfte, in die Liste der internationalen Übereinkommen zu. Er schlägt vor, das Internationale Freibord-Übereinkommen von 1966 (LL66) aus der Liste zu streichen, da es keine Bestimmung für Ausrüstung enthält.

4.2   Artikel 3 – Anwendungsbereich

4.2.1

Aus Gründen der Rechtsklarheit sollte ausdrücklich klargestellt werden, dass diese Richtlinie nicht für Ausrüstung gilt, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie bereits an Bord installiert war.

4.2.2

Der Ausschuss ist sich bewusst, dass die äußerst zweckdienliche Bestimmung in Absatz 2, dass für Schiffsausrüstung ausschließlich diese neue Richtlinie gilt, auf Konformitätsaspekte verweist. Es sollte jedoch geklärt werden, ob diese eindeutige Aussage auch auf Aspekte der gegenseitigen Anerkennung und Akzeptanz von Ausrüstung gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 631/91 zur Umregistrierung von Schiffen innerhalb der Gemeinschaft und der Verordnung (EG) Nr. 391/2009 über gemeinsame Vorschriften und Normen für Schiffsüberprüfungs- und -besichtigungsorganisationen Anwendung findet.

4.3   Artikel 4 – Anforderungen an Schiffsausrüstung

Die Bestimmung für die automatische Anwendung von IMO-Übereinkommen und anderen Instrumenten in ihrer aktuellen Fassung macht Änderungen der Richtlinie und die Aufnahme von Listen betreffend Ausrüstung (wie Anhang A.I und Anhang A.II in der geltenden Richtlinie) nicht mehr erforderlich.

4.4   Artikel 5 – Anwendung

Um jedweder Fehlinterpretation des Wortlauts "den Anforderungen der internationalen Instrumente (entspricht), die für bereits an Bord installierte Ausrüstung gelten" vorzubeugen, sollte klargestellt werden, dass auf Anforderungen Bezug genommen wird, die zum Zeitpunkt der Installation an Bord gelten, sofern nicht zu einem späteren Zeitpunkt von der IMO angenommene Anforderungen für bereits an Bord installierte Ausrüstung Anwendung finden.

4.5   Artikel 6 – Funktionieren des Binnenmarktes

Dieser Artikel bildet die Grundlage für den freien Warenverkehr von Schiffsausrüstung in der EU, ausgehend vom Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Ausrüstung seitens der Mitgliedstaaten, die den in der Richtlinie festgelegten Anforderungen entspricht. Dieser Artikel betrifft außerdem die Installation von Schiffsausrüstung an Bord eines EU-Schiffs, vermutlich auch außerhalb der EU [sic!]. Dieser Ansatz könnte jedoch durch die Anwendung von Artikel 7 Absatz 2 (zur Ersetzung nicht gleichwertiger Ausrüstung), Artikel 32 Absatz 6 (mit dem der einflaggende Mitgliedstaat das Recht erhält, zusätzliche Versuche für innovative Ausrüstung zu wiederholen) und Artikel 34 Absatz 4 (mit dem die Möglichkeit eingeführt wird, die außerhalb der EU ersetzte gleichwertige Ausrüstung abzulehnen) aufgeweicht werden.

4.6   Artikel 7 – Übertragung eines Schiffs in das Register eines Mitgliedstaats

Laut Absatz 2 muss die Ausrüstung, die von der Verwaltung nicht als gleichwertig eingestuft wird, ersetzt werden. Der Ausschuss fragt sich, ob in derartigen Fällen – und unter Berücksichtigung der IMO-Vorschriften über die gegenseitige Anerkennung von Zertifikaten – zweckdienlich wäre, dass die einflaggenden Mitgliedstaaten das Verfahren gemäß Artikel 5 der Verordnung (EWG) Nr. 631/91 anwenden (in dem eine Vorab-Notifizierung der Europäischen Kommission bei der Umregistrierung von Schiffen zwischen zwei Mitgliedstaaten vorgesehen ist).

4.7   Artikel 8 – Normen für Schiffsausrüstung

Der Ausschuss wirft die Frage auf, ob die EU anstelle ihrer Mitgliedstaaten die Entwicklung internationaler IMO-Normen verfolgen sollte. Die IMO entwickelt jedenfalls Normen und Testverfahren für Schiffsausrüstung schon weit vor ihrer verpflichtenden Anbringung an Bord. Durch ein gemeinsames Handeln der Mitgliedstaaten im IMO-Verfahren kann sichergestellt werden, dass die Ziele der Richtlinie eingehalten werden, ohne dafür auf die einseitigen vorübergehenden EU-Normen für Ausrüstung zurückgreifen zu müssen, die letztlich den IMO-Normen möglicherweise nicht entspricht und ersetzt werden oder "Bestandschutz" erhalten muss.

4.8   Artikel 9 bis 11 – Steuerrad-Kennzeichen

Genehmigte Schiffsausrüstung an Bord eines Schiffes kann frei in allen Mitgliedstaaten verbracht werden, da sie ein Gemeinschaftskennzeichen – das Steuerrad-Kennzeichen – aufweist, das ihre Konformität mit den IMO-Anforderungen bzw. den Vorschriften der Richtlinie über Schiffsausrüstung bestätigt. Der Ausschuss befürwortet die Möglichkeit, das Steuerrad-Kennzeichen durch ein elektronisches Etikett zu ergänzen oder zu ersetzen, wodurch die Inspektion von Schiffen, die EU-Häfen anlaufen, erleichtert und die Nachahmung erschwert wird.

4.9   Artikel 26 – Koordinierung der notifizierten Stellen

Der Ausschuss unterstützt den Vorschlag zur Einrichtung einer sektoralen Gruppe notifizierter Stellen, etwa vergleichbar dem Internationalen Dachverband der Klassifikationsgesellschaften (IACS) mit seinen in der EU anerkannten Organisationen, die ebenfalls als notifizierte Stellen agieren.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  EWSA-Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Schiffsausrüstung, ABl. C 97 vom 1.4.1996, S. 22; EWSA-Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Umregistrierung von Fracht- und Fahrgastschiffen innerhalb der Gemeinschaft, ABl. C 80 vom 30.3.2004, S. 88.