ISSN 1977-088X doi:10.3000/1977088X.C_2013.076.deu |
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Amtsblatt der Europäischen Union |
C 76 |
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Ausgabe in deutscher Sprache |
Mitteilungen und Bekanntmachungen |
56. Jahrgang |
Informationsnummer |
Inhalt |
Seite |
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I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen |
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STELLUNGNAHMEN |
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Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss |
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486. Plenartagung am 16. und 17. Januar 2013 |
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2013/C 076/01 |
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2013/C 076/02 |
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2013/C 076/03 |
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2013/C 076/04 |
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III Vorbereitende Rechtsakte |
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EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS |
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486. Plenartagung am 16. und 17. Januar 2013 |
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2013/C 076/05 |
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2013/C 076/06 |
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2013/C 076/07 |
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2013/C 076/08 |
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2013/C 076/09 |
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2013/C 076/10 |
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2013/C 076/11 |
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2013/C 076/12 |
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DE |
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I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen
STELLUNGNAHMEN
Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
486. Plenartagung am 16. und 17. Januar 2013
14.3.2013 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 76/1 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Freisetzung des Potenzials hochbegabter Kinder und Jugendlicher in der Europäischen Union (Initiativstellungnahme)
2013/C 76/01
Berichterstatter: José Isaías RODRÍGUEZ GARCÍA-CARO
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. Januar 2012 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:
Freisetzung des Potenzials hochbegabter Kinder und Jugendlicher in der Europäischen Union.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 20. Dezember 2012 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 486. Plenartagung am 16./17. Januar 2013 (Sitzung vom 16. Januar) mit 131 Stimmen ohne Gegenstimme bei 13 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Empfehlungen
1.1 |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist sich der Tatsache bewusst, dass die Problematik hochbegabter Kinder und Jugendlicher dank jahrzehntelanger Forschung und umfangreicher einschlägiger wissenschaftlicher Literatur (1) verhältnismäßig gut erforscht ist. Angesichts der Bedeutung dieses Themas empfiehlt der EWSA der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten ausdrücklich, die Durchführung weiterer Studien und Untersuchungen zu unterstützen und geeignete Maßnahmen zur besseren Berücksichtigung der Verschiedenartigkeit der Menschen im Allgemeinen zu ergreifen – darunter Programme mit dem Ziel, das Potenzial hochbegabter Kinder und Jugendlicher auszuschöpfen und daraus in möglichst vielen Bereichen Nutzen zu ziehen. Zu den Zielen dieser Maßnahmen gehören u.a. ein leichterer Zugang zum Arbeitsmarkt in der Europäischen Union und – vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise – eine höhere Beschäftigungsfähigkeit, eine bessere Nutzung von Fachwissen und die Verhinderung einer Abwanderung der besten Köpfe in andere Regionen der Welt. |
1.2 |
Der EWSA schlägt vor, die Entwicklung und das Potenzial hochbegabter Kinder und Jugendlicher in allen Abschnitten ihrer jeweiligen Bildungswege zu fördern. Hierbei sollten eine zu frühe Spezialisierung vermieden und die Vielfalt innerhalb der Schule stärker berücksichtigt werden, indem man die Möglichkeiten nutzt, die das gemeinsame Lernen und die nichtformale Bildung bieten. |
1.3 |
Der EWSA empfiehlt, Bildung und lebenslanges Lernen zu fördern und gleichzeitig zu berücksichtigen, dass das intellektuelle Potenzial jedes Menschen nicht statisch ist, sondern sich in jeder Lebensphase verändert. |
1.4 |
Der EWSA empfiehlt gleichfalls, den in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Methoden der Arbeit mit hochbegabten Schülerinnen und Schülern und den diesbezüglichen Erfahrungen künftig mehr Aufmerksamkeit zu widmen, insbesondere den Methoden, die der ganzen Gesellschaft zugute kommen, den sozialen Zusammenhalt fördern, das Schulversagen verringern und die Bildung entsprechend den Zielen der Europa-2020-Strategie verbessern. |
1.5 |
Der EWSA verweist auf die Notwendigkeit, auch im Arbeitsumfeld die Arbeitnehmer – insbesondere die Jüngeren – zu erkennen, die über Begabung und Interesse an einer Entwicklung ihrer intellektuellen Fähigkeiten verfügen; ihnen muss die Möglichkeit geboten werden, ihren Bildungsweg in dem ihren Zielen und Interessen entsprechenden Bereich fortzusetzen. |
1.6 |
Der EWSA schlägt eine verbesserte pädagogische Betreuung hochbegabter Kinder und Jugendlicher in folgender Hinsicht vor:
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1.7 |
Eine bessere Betreuung hochbegabter Kinder und Jugendlicher muss sich u.a. auf ihre emotionale Erziehung erstrecken, die für Jugendliche besonders wichtig ist, wie auch auf den Erwerb von Sozialkompetenz; sie muss darauf ausgerichtet sein, ihre Integration in die Gesellschaft, ihre Beschäftigungsfähigkeit und ihre Teamfähigkeit zu fördern. |
1.8 |
Die Instrumente und Verfahren für Schüleraustausche und Auslandsaufenthalte sollten derart gestaltet werden, dass Hochbegabte – insbesondere diejenigen aus einem sozial benachteiligten Umfeld – nutzbringend an ihnen teilnehmen können. |
1.9 |
Die Möglichkeiten für den Austausch von Informationen und bewährten Verfahren im Bereich der Erkennung und Betreuung hochbegabter Schüler und Studierenden zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen genutzt werden. |
1.10 |
Der Unternehmergeist hochbegabter Kinder und Jugendlicher muss gefördert werden, und zwar unter dem Aspekt von Verantwortung und Solidarität, die auf den Nutzen für die Gesellschaft und ihren Zusammenhalt ausgerichtet sind. |
2. Hintergrund
2.1 |
In der 2010 von der Europäischen Kommission angenommenen Europa-2020-Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum lautet einer der drei Schwerpunkte: „Intelligentes Wachstum: Entwicklung einer auf Wissen und Innovation gestützten Wirtschaft“. Vor diesem Hintergrund wird die Bildung aller Bürgerinnen und Bürger zu einer Schlüsselressource für eine erfolgreiche Zukunft der EU, und dies schließt u.a. eine bessere Erkennung Hochbegabter und ihre Förderung ein. |
2.2 |
In der derzeitigen Bildungspolitik der EU-Mitgliedstaaten wird der Diversität der Schülerschaft große Aufmerksamkeit gewidmet. Damit einher geht die Verpflichtung, jeden einzelnen Schüler pädagogisch so zu betreuen, dass sich sein Potenzial bestmöglich entfalten kann. Im Rahmen der Anstrengungen zugunsten aller Schüler, die einer spezifischen pädagogischen Betreuung bedürfen, ist es notwendig, die derzeit für Hochbegabte aufgewendeten Mittel aufzustocken. |
2.3 |
Bei näherer Betrachtung der derzeitigen Lage in den EU-Mitgliedstaaten lässt sich bezüglich der Feststellung einer Hochbegabung und der pädagogischen Berücksichtigung hochbegabter Schüler eine große Heterogenität feststellen. Ebenfalls wird deutlich, dass der Unterricht und die pädagogischen Maßnahmen für diese Zielgruppe verbessert werden müssen, denn eine besondere Ausbildung der Lehrkräfte für den Umgang mit diesen Schülern ist nur spärlich vorhanden. |
3. Hochbegabung
3.1 Begriff
3.1.1 |
Aus den internationalen Studien und Untersuchungen geht hervor, dass Hochbegabte in allen sozialen Gruppen anzutreffen sind (2). Dieser Grundsatz kann auf die Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten angewandt werden. Aus gesellschaftlicher, politischer und pädagogischer Sicht handelt es sich bei der Erkennung und Betreuung Hochbegabter um ein Thema, das vor relativ kurzer Zeit aufgekommen ist und dessen Bedeutung in den nächsten Jahren sicherlich zunehmen wird. Das Fazit der einschlägigen Studien lautet, dass eine bessere Erkennung und Förderung Hochbegabter die Einbindung aller Teile der Gesellschaft voraussetzt: Politik, Lehrkräfte, Wissenschaftler und Forscher, Familien und Sozialpartner. |
3.1.2 |
In der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur zur Hochbegabung werden verschiedene Begriffe gebraucht: Frühreife (über den altersspezifischen Erwartungen liegende Ergebnisse), Talent (besondere Fähigkeiten in konkreten Bereichen: Mathematik, Musik usw.) und schließlich überdurchschnittliche Intelligenz bzw. Hochbegabung. Der letztgenannte Begriff – überdurchschnittliche Intelligenz bzw. Hochbegabung – wird derzeit durch folgende Eigenschaften definiert:
Obschon Hochbegabung im schulischen und akademischen Bereich üblicherweise mit guten Leistungen einhergeht, kommt es dennoch relativ oft zu Schulversagen bei Hochbegabten. Hochbegabung sollte nicht als statischer Zustand gesehen werden, sondern als Potenzial, das, um sich zu entfalten, der Erkennung, Anerkennung und Beachtung durch die Gesellschaft bedarf, da es sonst verlorengehen kann. |
3.1.3 |
In der wissenschaftlichen Literatur wird außerdem festgestellt, dass die Hochbegabung mehrere Dimensionen einschließt, d.h. sie ist breit angelegt und polyvalent. Sie kann nicht auf die Ermittlung des Intelligenzquotienten beschränkt werden, sondern muss auch die Beurteilung von Aspekten wie Originalität und Kreativität des Denkens einschließen; auch wird sie häufig durch familiäre und soziokulturelle Faktoren bedingt und beeinflusst. Manchmal – etwa bei Personen mit Autismus oder einer bestimmten motorischen Störung – kann Hochbegabung auch mit dem Vorhandensein einer Behinderung zusammenfallen. |
3.1.4 |
Hochbegabung gibt es in allen Bevölkerungsgruppen und -schichten, unabhängig von Geschlecht und sozialem Status, auch wenn die Erkennung von Hochbegabten in der Praxis folgenden Phänomenen unterliegt, die berücksichtigt werden müssen, damit sie kompensiert werden können:
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3.1.5 |
So wie der Rest der Schülerschaft bilden auch hochbegabte Kinder und Jugendliche eine sehr heterogene Gruppe. |
3.1.6 |
Es kann vorkommen, dass Schüler, die das Profil Hochbegabter aufweisen, Schwierigkeiten bei der erfolgreichen Bewältigung ihrer Schullaufbahn haben und zu der Gruppe von Schülern gehören, die aufgrund einer mangelnden oder unzureichenden spezifischen pädagogischen Betreuung oder Anpassungsproblemen in der Schule scheitern. Ebenfalls gibt es oft hochbegabte Schüler, die von der Gruppe ausgegrenzt und abgelehnt werden, wodurch die Wahrscheinlichkeit für schulisches Versagen ebenfalls steigt. Die richtige Erkennung und Betreuung Hochbegabter kann und muss zur Verringerung des Schulversagens und zu einer Steigerung des Bevölkerungsanteils mit höherer Schulbildung beitragen; Letzteres gehört zu den wesentlichen bildungspolitischen Zielen der Europa-2020-Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum. |
3.2 Erkennung und pädagogische Betreuung hochbegabter Schülerinnen und Schüler
3.2.1 |
Die verbesserte Berücksichtigung von Hochbegabung beinhaltet verschiedene Elemente: ursprüngliche Erkennung einer Hochbegabung, umfassende psychopädagogische und soziale Bewertung, um eine Hochbegabung ggf. zu bestätigen, sowie schließlich die eigentliche pädagogische Berücksichtigung bzw. Betreuung sowohl innerhalb der formalen als auch der nichtformalen Bildung. |
3.2.2 |
Es wird davon ausgegangen, dass eine erhebliche Zahl Hochbegabter unentdeckt bleibt. Das Verfahren zur Erkennung kann bereits am Ende der Vorschule oder zu Beginn der Grundschule ansetzen. So wie im Falle jedes anderen Schülers, der einen Bedarf an besonderer pädagogischer Förderung hat, ermöglicht eine Früherkennung von Hochbegabung die angemessene pädagogische Berücksichtigung bzw. Betreuung und beugt späterem Schulversagen oder -abbruch vor. Obschon eine Erkennung von Hochbegabung in späteren Etappen des Bildungswegs bzw. im Leben möglich ist, sind die Identifizierung und die psychopädagogische Bewertung potenziell hochbegabter Schüler von großer Bedeutung. |
3.2.3 |
Die Tatsache, dass ein Schüler hochbegabt ist, wird üblicherweise dann entdeckt, wenn die Eltern oder die Lehrkräfte beobachten, dass das Kind sich von den Jungen und Mädchen seines Alters abhebt oder Verhaltensauffälligkeiten zeigt. Diese erste Erkenntnis, die in der Folge von Fachleuten zu bestätigen oder zu revidieren ist, kann auf folgenden Indikatoren beruhen:
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3.2.4 |
In den frühen Lebensjahren (bis 4/5 Jahre) muss die Feststellung einer Hochbegabung mit großer Vorsicht betrachtet werden. So können eine Frühreife oder ein die schulischen Leistungen stark stimulierendes familiäres Umfeld zu einer vorschnellen Diagnose führen, die weder fundiert noch exakt ist. In solchen Fällen sollte eine erneute Bewertung vorgenommen werden, wenn sich die außerordentlichen Fähigkeiten anscheinend gefestigt haben bzw. das Kind sich einem normalen Niveau annähert. |
3.2.5 |
In einem sozial benachteiligten Umfeld kommt es des Öfteren vor, dass eine Hochbegabung aufgrund von sozioökonomischen Schwierigkeiten und Mängeln oder geringen Erwartungen der Schule verdeckt bleibt und sich seltener äußert. Diese Tatsache und insbesondere die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen aus sozial benachteiligtem Umfeld müssen unbedingt berücksichtigt werden, damit ihnen die pädagogische Betreuung angeboten werden kann, die sie benötigen – einschließlich der Erkennung derjenigen, die hochbegabt sein könnten. |
3.2.6 |
Vermieden werden sollten im Zusammenhang mit hochbegabten Schülern und Jugendlichen u.a. folgende Gemeinplätze und Erwartungen:
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3.2.7 |
Wenn Eltern und Lehrer den Eindruck haben, dass ein Kind oder ein Jugendlicher hochbegabt sein könnte, muss zur Feststellung von Hochbegabung auf spezifische Bewertungsverfahren durch Fachkräfte für psychopädagogische Beurteilungen zurückgegriffen werden, die wiederum mit den Lehrkräften zusammenarbeiten. Diese Beurteilung muss möglichst vielgestaltig und umfassend sein und verschiedene Bereiche (schulischer, sozialer, familiärer Bereich) und vielfältige Instrumente zur Sammlung von Informationen umfassen, damit sie auf jeden Schüler unabhängig von der familiären und sozialen Herkunft angewendet werden kann. Auf Grundlage dieser breiten und vielgestaltigen Beurteilung kann der psychopädagogische Abschlussbericht erstellt werden, in dem eine Hochbegabung bestätigt oder ausgeschlossen wird. |
3.3 Pädagogische Förderung hochbegabter Schülerinnen und Schüler
3.3.1 |
Wenn das Vorliegen einer Hochbegabung bestätigt wurde, können folgende Faktoren und Umstände die angemessene pädagogische Betreuung dieser Kinder und Jugendlichen fördern:
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3.3.2 |
Im Rahmen der verschiedenen pädagogischen Modelle und Bildungssysteme gibt es unterschiedliche Ansätze in Bezug auf die Frage, wie man den pädagogischen Bedürfnissen Hochbegabter gerecht werden kann. Die diesbezüglichen Maßnahmen können in zwei unterschiedliche Richtungen gehen:
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3.3.3 |
Derzeit herrscht in den Bildungssystemen der Europäischen Union der inklusive Unterricht vor. Dabei wird versucht, alle Schülerinnen und Schüler während der ersten Etappen des Bildungswegs gemeinsam zu unterrichten in einem schulischen Umfeld, in dem Vielfalt berücksichtigt wird, und hierbei eine zu frühe Bildung homogener Gruppen zu vermeiden. Dieser Ansatz lässt sich mit der Tatsache vereinbaren, dass anschließend in Jahrgangsstufen, in denen die Schulpflicht nicht mehr greift oder wenn die Schülerinnen und Schüler sich dem Ende ihrer Sekundarschulbildung und dem Übergang zur Universität nähern, in einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Pilotprojekte zur Förderung spezifischer Talente durchgeführt oder Modelle mit eher homogenen Gruppen erprobt werden, die auf Hochbegabte bzw. Leistungsstarke zugeschnitten sind. Die Analyse der derzeitigen Wirklichkeit weist auf die wahrscheinliche künftige Tendenz hin: Beibehaltung des inklusiven Unterrichts in den ersten Abschnitten des Bildungswegs und eine Öffnung hin zu konkreten Projekten mit homogenen Gruppen in höheren Jahrgängen bzw. nach dem Ende der Lehrpflicht. |
3.3.4 |
Folgende konkrete pädagogische Maßnahmen hinsichtlich Hochbegabter können innerhalb der Bildungseinrichtung selbst ergriffen werden. Einige von ihnen sind allgemeiner Art und auf alle Schülerinnen und Schüler anwendbar:
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3.3.5 |
Außerhalb der Schule können die Hochbegabten an geplanten, im Vergleich zu den schulischen Aktivitäten jedoch weniger reglementierten Aktivitäten teilnehmen und dort Kontakte zu Hochbegabten anderer Bildungseinrichtungen knüpfen. Diese recht weit verbreitete und äußerst vielfältige Form außerschulischer Aktivitäten könnte von staatlicher Seite, von den Behörden und der Europäischen Union unterstützt werden. |
3.3.6 |
Diese beiden Arten pädagogischer Betreuung – die formale und die nichtformale Bildung – schließen sich nicht gegenseitig aus. Die verbesserte Betreuung Hochbegabter sollte beide Aspekte umfassen: eine Betreuung innerhalb der Bildungseinrichtung und während der Schulzeit – ähnlich der Betreuung, die alle Kinder mit besonderem Betreuungsbedarf benötigen – und eine zusätzliche Betreuung inner- oder außerhalb der Bildungseinrichtung. |
3.3.7 |
Derzeit ist die große Frage, wie die Betreuung erheblich verbessert werden kann, die die Hochbegabten in ihrer jeweiligen Bildungseinrichtung erhalten; dies setzt eine Verbesserung der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte hinsichtlich der Feststellung und Förderung von Hochbegabung im Rahmen der allgemeinen Berücksichtigung der Vielfalt der Schülerschaft voraus. |
3.3.8 |
Die Freisetzung des Potenzials aller jungen Menschen in der Europäischen Union und insbesondere hochbegabter junger Menschen ist eine Frage, die nicht nur den Bildungsbereich betrifft. Gleichfalls geht es darum, eine Wirtschafts- und Sozialpolitik umzusetzen, mit der diesen Menschen schon früh Arbeitsplätze und Möglichkeiten angeboten werden, durch die sie ihre Fähigkeiten entfalten können. In diesem Fall kommt der Europäischen Union eine wesentliche Aufgabe zu, nämlich einer Abwanderung der besten Köpfe an anderen Orten der Welt, an denen sie ihre Fähigkeiten einsetzen können, vorzubeugen und diese zu verhindern. |
4. Betreuung hochbegabter Schülerinnen und Schüler im europäischen Kontext
4.1 Allgemeines
4.1.1 |
In den letzen Jahren wurden diverse Studien zur Lage der Hochbegabten in der Europäischen Union durchgeführt (4). Dabei kamen folgende Ergebnisse zu Tage:
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4.2 Gesetzgebung und pädagogische Betreuung
4.2.1 |
In allen Ländern der Europäischen Union gibt es private Vereinigungen von Fachkräften und Familien, die außerschulische Aktivitäten zur Förderung der Fähigkeiten Hochbegabter durchführen. In einigen Ländern gibt es außerdem Aktivitäten, die von oder in Zusammenarbeit mit den entsprechenden Bildungsbehörden gefördert werden. |
4.2.2 |
Die pädagogische Berücksichtigung hochbegabter Schüler in den Ländern der Europäischen Union weist folgende Bandbreite auf:
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4.3 Lehrerausbildung
4.3.1 |
Angesichts der derzeitigen Wirtschaftslage, die sich auch auf das Bildungssystem auswirkt, und der Herausforderungen, vor denen die Lehrkräfte bei ihrer täglichen Arbeit stehen, muss die einschlägige Lehrerausbildung sowohl im Bereich der Grundausbildung als auch in dem der Weiterbildung verbessert werden. |
4.3.2 |
In den meisten Ländern der Europäischen Union beinhalten die offiziellen Studienpläne für künftige Lehrkräfte eine Form der einschlägigen Ausbildung, in der es um den Umgang mit Hochbegabten geht, entweder als spezifisches Fach, oder als Teil eines allgemeinen Studienbereichs, in dem es um die Berücksichtigung der Vielfalt der Schüler geht. |
4.3.3 |
Im Bereich der von öffentlichen Stellen organisierten Weiterbildung für Lehrer wird eine solche Fortbildung in den Weiterbildungsplänen lediglich von der Hälfte der Länder angeboten. Neben dieser Weiterbildung von offizieller Seite gibt es entsprechende Kurse, die von einigen privaten Einrichtungen angeboten werden. |
4.3.4 |
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Frage der Förderung Hochbegabter in der Europäischen Union in den folgenden Bereichen viel Raum für Verbesserungen bietet:
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Brüssel, den 16. Januar 2013
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) In folgenden Studien wird das Thema Hochbegabung und ihre pädagogische Berücksichtigung behandelt:
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Martinez Torres, Mercé und Guirado, Angel (Hrsg.): Altas capacidades intelectuales. Pautas de actuación, orientación, intervención y evaluación en el período escolar, Barcelona, Editorial Graó, 2012. |
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Torrego, Juan Carlos (Hrsg.): Alumnos con altas capacidades y aprendizaje cooperativo. Un modelo de respuesta educativa, Madrid, Fundación SM, 2012. |
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Pfeiffer, Stephen: Current perspectives on the identification and assessment of gifted students, en Journal of Psychoeducational assessment, 2011. Wallace, B. y Erikson, G.: Diversity in Gifted Education. International perspectives on global issues, New York, Routledge, 2006. |
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Sternberg, R.J. und Davidson, J.E.: Conceptions of giftedness, Cambridge University Press, 2005. |
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Sternberg, R J. (Hrsg.): Definitions and conceptions of giftedness, Thousand Oaks, Corwin Press, 2004. |
(2) Die am besten erforschte soziale Gruppe sind Kinder und Jugendliche im Schulalter; Schätzungen zufolge liegt der Anteil Hochbegabter hier zwischen 2 und 15 %, je nach dem, welche Indikatoren zugrunde gelegt wurden. Das Kriterium des Intelligenzquotienten, das traditionell am meisten angewandt wird, bezieht sich üblicherweise auf einen Intelligenzquotient von über 130, was ungefähr auf 2 % der Bevölkerung zutrifft. Neuerdings wird die Aussagekraft dieses Kriteriums als beschränkt angesehen, da man davon ausgeht, dass die intellektuellen Fähigkeiten nur einen Faktor bei der Erkennung von Hochbegabung darstellen. Daher wurde das Konzept der Hochbegabung um weitere Faktoren erweitert, z.B. Kreativität, Originalität und das Vermögen, zu verknüpfen, abzuleiten und zu extrapolieren. Nach diesen aktuelleren Kriterien wird der Anteil Hochbegabter an der Gesamtbevölkerung auf zwischen 10 und 15 % geschätzt, obwohl der Anteil den am meist akzeptierten Schätzungen zufolge zwischen 5 und 10 % liegt. Zur Annäherung an das Thema empfehlen sich die klassischen Studien von Joseph Renzulli oder neuere Studien wie Borland, J.H.: „Myth 2. The gifted constitute 3 % to 5 % of the population“, in: Gifted child quarterly, 53, 2009; Miraca, G.: „Exceptionally gifted children“, New York, Routledge, 2004; Robson, D.: „High IQ kids: collected insights, information and personal stories from the experts“, Free spirit publishing, 2007.
(3) Z.B. lag der Anteil der Schüler an den Teilnehmern des Programa de Enriquecimiento Educativo para Alumnos con Altas Capacidades de la Comunidad de Madrid (einem regionalen Programm zur Förderung Hochbegabter) zwischen 1999 und 2012 fast unverändert bei 70 %, der Anteil der Schülerinnen hingegen bei 30 %. Vgl. auch Pérez, L., Domínguez P. und Alfaro, E. (Hrsg.) Actas del Seminario: situación actual de la mujer superdotada en la sociedad, Madrid, Consejería de Educación, 2002.
(4) Für eine detaillierte Übersicht über den aktuellen Stand der pädagogischen Berücksichtigung hochbegabter Schüler in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vgl.:
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„La atención a los alumnos con altas capacidades en la Unión Europea“, in De todo un poco, número 11, publicación anual del Programa de Enriquecimiento Educativo para Alumnos con Altas Capacidades de la Comunidad de Madrid, S. 21-29, Madrid, 2009. |
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„Gifted Learners. A survey of educational policy and provision“ (Hochbegabte Schülerinnen und Schüler. Überblick über die Förderpolitik und -maßnahmen), Europäische Agentur für Entwicklungen in der sonderpädagogischen Förderung, 2009. |
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Eurydice (2006), „Specific Educations Measures to promote all Forms of Giftedness at School in Europe“ (Besondere pädagogische Maßnahmen zur schulischen Förderung aller Formen von Begabung in Europa), Brüssel, Eurydice European Unit. |
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Monks, F.J., Pflüger, R., „Gifted Education in 21 European Countries: Inventory and Perspective“ (Die Förderung Hochbegabter in 21 europäischen Ländern: Überblick und Aussichten), Universität Nijmegen, 2005. |
14.3.2013 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 76/8 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Geschlechterdimension der Europa-2020-Strategie (Initiativstellungnahme)
2013/C 76/02
Berichterstatterin: Joana AGUDO I BATALLER
Mitberichterstatterin: Grace ATTARD
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschusses beschloss am 12. Juli 2012 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:
Die Geschlechterdimension der Europa-2020-Strategie.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 20. Dezember 2012 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 486. Plenartagung am 16./17. Januar 2013 (Sitzung vom 17. Januar) mit 200 gegen 6 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)
1.1 |
unterstützt und befürwortet den Grundsatz, dass die Strategie „Europa 2020 - Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ (1) und die Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2) sich gegenseitig verstärken müssen. Dazu ist eine Berücksichtigung der Geschlechterdimension (gender mainstreaming) ebenso unerlässlich wie es spezifische Maßnahmen in Bezug auf die Ziele, Durchführung, Überwachung und Bewertung der im Rahmen der SE 2020 entwickelten Handlungsansätze sind; |
1.2 |
sieht es als grundlegend an, den Missstand zu beheben, dass in keiner der sieben Leitinitiativen der SE 2020 ausdrücklich auf die Geschlechterdimension eingegangen wurde. Daher hält es der EWSA für unbedingt erforderlich, Geschlechterfragen systematisch in den Nationalen Reformprogrammen (NRP) und im Rahmen des Europäischen Semesters zu berücksichtigen, - insbesondere, wenn die Wirtschaftslage in Europa eine wirksamere Umsetzung der Maßnahmen und eine effizientere Ressourcennutzung gebietet -, und die negativen Auswirkungen der Ungleichheit der Geschlechter auf das Wirtschaftswachstum anzuerkennen; |
1.3 |
unterstützt die länderspezifischen Empfehlungen, in denen die Kommission die Mitgliedstaaten auffordert, die Ansätze der NRP dahingehend zu korrigieren, dass bei den Maßnahmen der Grundsatz der Geschlechtergleichstellung berücksichtigt wird. Es ist wichtig, dass auf den Ministertagungen zur Überprüfung und Weiterverfolgung dieser Empfehlungen ihre Umsetzung und Kontinuität sichergestellt wird und die Fortschritte auf dem Gebiet der Gleichstellungspolitik ins Blickfeld gerückt werden. Zu diesem Zweck müssen die Gemeinschaftsmittel, vor allem der Europäische Sozialfonds, genutzt werden; |
1.4 |
empfiehlt, im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 speziell für die Förderung von Frauenrechten und Gleichstellung Mittel bereitzustellen. Nach Ansicht des EWSA muss die Finanzierung angemessen und sichtbar sein, um eine transparente Mittelnutzung zu gewährleisten und so die Unterstützung von Gleichstellungsmaßnahmen, -aktivitäten und -projekten in allen Zuständigkeitsbereichen der EU zu fördern; |
1.5 |
ist der Auffassung, dass angesichts der unterschiedlichen Ausgangslage in den einzelnen Ländern, Regionen und Branchen Maßnahmen ergriffen werden müssen, mit denen die Situation im gesellschaftlichen Kontext verbessert und eine stärkere Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt erreicht werden kann, u.a. auch durch die Förderung von Unternehmensgründungen. Ihr quantitatives und qualitatives Potenzial muss in den verschiedenen in Bereichen der SE 2020 – Innovation, Forschung, allgemeine und berufliche Bildung, digitale Gesellschaft, Klima und grüne Wirtschaft, Energie, Mobilität, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung, Qualifikationen, soziale Ausgrenzung und Armut – gefördert werden; |
1.6 |
betont das wertvolle Engagement und Mitwirken der Sozialpartner auf Ebene der EU, der Mitgliedstaaten, der Regionen und Kommunen sowie auf Branchenebene in allen Umsetzungsphasen der verschiedenen Maßnahmen, um die notwendigen Fortschritte bei der Gleichstellung in allen Ländern der Europäischen Union zu gewährleisten. Der soziale Dialog und die aus den Kollektivverhandlungen hervorgegangenen Tarifverträge sind grundlegende Instrumente, um die Geschlechterdimension in die Nationalen Reformprogramme einzuflechten. Der von den europäischen Sozialpartnern angenommene Aktionsrahmen zur Gleichstellung von Männern und Frauen ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Beispiel, das in der SE 2020 aufgegriffen werden sollte; |
1.7 |
unterstreicht, wie wichtig eine Berücksichtigung der Geschlechterdimension bei der Umsetzung aller sieben Leitinitiativen ist. Hierzu sind Informationen über die besondere und unterschiedliche Situation von Frauen und Männern in Bezug auf folgende Bereiche erforderlich: Arbeitsmarkt und lebenslanges Lernen; Zugang zu allen Bildungsebenen und zur Beschäftigung; Armut und Gefahr der Ausgrenzung; Zugänglichkeit und Nutzung der neuen Technologien des digitalen Bereichs; Teilhabe an allen Ebenen der Bildung, Forschung und Produktion, insbesondere in den neu entstehenden Branchen. Der EWSA empfiehlt eine Schwerpunktsetzung auf die digitale Bildung von Frauen, die in IT-Berufen unterrepräsentiert sind. Nach Auffassung des EWSA sollten die Kommission und die Mitgliedstaaten die bestehenden Gleichstellungsindikatoren unbedingt nutzen und in Bereichen, wo es sie noch nicht gibt, neue Indikatoren aufstellen; |
1.8 |
ist der Auffassung, dass angesichts der in den meisten Mitgliedstaaten ernsten Lage in Bezug auf Jugendarbeitslosigkeit und Schulabbruch, wovon Männer und Frauen in unterschiedlichem Maße betroffen sind, die Geschlechterdimension stärker in die Gestaltung der Jugendpolitik einfließen muss; |
1.9 |
ruft die Mitgliedstaaten dazu auf, die spezifischen Empfehlungen der Kommission zu berücksichtigen und Maßnahmen zu ergreifen, um Frauen in allen Ländern mehr und bessere Arbeitsplätze bieten zu können. Dazu müssen der Zugang zu und die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen für Kinder und ältere Menschen verbessert erschwinglich gemacht, das Gehaltsgefälle beseitigt und Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Privatleben und Beruf umgesetzt werden (erleichterter Zugang zu Vaterschaftsurlaub und vergütete Abwesenheiten); |
1.10 |
bekräftigt, dass im Wege der SE 2020 und in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern spezifische und wirksame Vereinbarungen und Maßnahmen gefördert und unterstützt werden müssen, mit denen die Gesundheit und Sicherheit schwangerer Frauen oder Wöchnerinnen am Arbeitsplatz gewährleistet werden. Der EWSA befürwortet den Vorschlag der Kommission, durch einschlägige Maßnahmen auf eine angemessene Dauer des Mutterschaftsurlaubs von mindestens 18 Wochen hinzuwirken (3); |
1.11 |
Die Krise hat – wenn auch in je nach Land, Region und Branche unterschiedlicher Form – das Leben der Menschen beeinflusst und einige Probleme in puncto Zusammenleben und Gesundheit verschlimmert. Daher muss der Umsetzung von Maßnahmen, die zur Abfederung der negativen Folgen (Stress, Gewalt, Mobbing im beruflichen und familiären Umfeld (4)) beitragen, nach Ansicht des EWSA besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Dazu sind gemeinsame Anstrengungen erforderlich, um die Gleichstellung der Geschlechter in der Gesellschaft zu fördern, strukturelle Ungleichheiten abzubauen und die stereotypen Geschlechterrollen zu verändern; |
1.12 |
vertritt die Ansicht, dass eine stärkere Beteiligung von Frauen an Entscheidungsprozessen – insbesondere in den Branchen und Unternehmen, die in der SE 2020 als strategisch wichtig und zukunftsträchtig bezeichnet werden – eine vorrangiges Anliegen sein muss. Der EWSA wird zu dem Vorschlag der EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, auf europäischer Ebene verbindliche Maßnahmen anzunehmen, um eine solche Beteiligung zu fördern, in Kürze eine Stellungnahme abgeben; |
1.13 |
nimmt mit Besorgnis die Kürzungen der Sozialschutzleistungen in den am stärksten benachteiligten und von sozialer Ausgrenzung und Armut bedrohten Bevölkerungsgruppen zur Kenntnis. Deshalb sollte mit den im Rahmen der SE 2020 umzusetzenden Maßnahmen speziell die zunehmende Feminisierung der Armut bekämpft und versucht werden, Frauen kurzfristig durch Anreize für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und langfristig durch den Zugang zu einer Grundausbildung und neuen Kompetenzen, Nutzung neuer Technologien und neue Formen der Arbeitsorganisation einzubeziehen, so dass Berufs- und Familienleben miteinander in Einklang gebracht werden können. Der EWSA hält es nach 60 Jahren europäischer Integration für nicht hinnehmbar zuzulassen, dass das anhaltende Lohngefälle zwischen Männern und Frauen als Anpassungsvariable dient und die Prekarisierung von Arbeitnehmerinnen fortschreitet. Er meint, dass die Mitgliedstaaten dringend Maßnahmen in ihre NRP aufnehmen müssen, durch die Frauen eine stabile Beschäftigung mit gerechter Entlohnung und angemessener Rente erhalten; |
1.14 |
Damit die SE 2020 und die Gleichstellungsstrategie ihre Ziele erreichen können, hält es der EWSA für vorrangig, den Interessenträgern und der Gesellschaft im Allgemeinen unmissverständlich klar zu machen, dass die Gleichstellung durch weitere Maßnahmen vorangebracht werden muss. Dazu ist zum einen eine stärkere und engere Koordinierung und Zusammenarbeit innerhalb sämtlicher EU-Institutionen (Europäisches Parlament, Kommission und Rat, Europäische Zentralbank sowie EWSA und Ausschuss der Regionen) und zwischen diesen erforderlich. Zum anderen müssen Gleichstellungsfragen auf allen Ebenen bei der Zusammensetzung (5) und täglichen Arbeit von Fachgruppen, Gruppen und sonstigen Arbeitsorganen dieser Institutionen berücksichtigt werden. |
2. Einleitung
2.1 |
Die im Jahr 2010 verabschiedete SE 2020 gibt die Richtung für Wachstum in der Europäischen Union in einem komplexen ökonomischen Umfeld vor, das bereits die aktuellen finanziellen und politischen Schwierigkeiten der Union erahnen ließ. In der SE 2020 wird eine Reihe von Maßnahmen umrissen, mit denen die Mitgliedstaaten die Herausforderungen der weltweiten Krise effizient und kohärent angehen und gleichzeitig ein intelligenteres, nachhaltigeres und integrativeres Wachstumsmodell verwirklichen können. |
2.2 |
Des Weiteren wurde ein neues Verfahren der wirtschaftspolitischen Steuerung ins Leben gerufen, das sogenannte Europäische Semester, durch das einerseits die Evaluierung der Haushalts- und Strukturpolitik der Mitgliedstaaten aufeinander abgestimmt und andererseits eine Überwachung der Umsetzung der Strategie ermöglicht werden soll. |
2.3 |
Parallel dazu wird mit der Gleichstellungsstrategie das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission im Bereich der Gleichstellung abgesteckt. Dieser politische Vorschlag schließt sich an den Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2006-2010) (6) an und stellt den bislang bedeutendsten Versuch dar, ein Bündel an strategischen Zielen und Indikatoren im Bereich der Gleichstellung festzulegen. |
2.4 |
Seit 1996 verfolgt die EU zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern einen zweigleisigen Ansatz, der einerseits die Umsetzung spezifischer Maßnahmen zur Beseitigung bestehender Diskriminierung von Frauen und andererseits die Durchsetzung der Geschlechtergleichstellung auf allen Ebenen der politischen Beschlussfassung (gender mainstreaming) vorsieht (7). |
2.5 |
Der EWSA befürwortet den Grundsatz, dass die ordnungsgemäße Umsetzung der SE 2020 im Einklang mit der Gleichstellungsstrategie stehen muss, um die Herausforderungen der Krise wirksam angehen zu können, da beide Strategien sich gegenseitig stärken, und teilt daher die Auffassung des EP, das sich in diesem Sinne geäußert hat. Auch der im März 2011 vom Rat verabschiedete Europäische Pakt für die Gleichstellung der Geschlechter (2011-2020) (8) verweist auf den engen Bezug zwischen beiden Strategien und ruft zu einer kombinierten Anwendung von Instrumenten auf, die eine Überwindung der Krise ermöglichen. |
3. Die SE 2020 – eine geschlechtsspezifische Analyse
3.1 |
Die Gleichstellung wird in dem Text in keiner Leitinitiative ausdrücklich behandelt und wird auch in den fünf Einzelzielen nicht erwähnt; einzige Ausnahme ist die Beschäftigungsquote, für die eine stärkere Teilhabe der Frauen am Arbeitsmarkt gefordert wird. Dies stellt einen enormen Widerspruch zu den Grundsätzen im ersten Teil der ES2020 dar, wo die Achtung der Gleichstellung ebenso wie die wirtschaftliche, soziale und territoriale Solidarität, der Umweltschutz und die kulturelle Vielfalt als wesentliche Faktoren zur Überwindung der Wirtschaftskrise dargestellt werden. |
3.2 |
Verschiedene EU-Institutionen, Organisationen der Zivilgesellschaft und Sozialpartner haben nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Gleichstellung eine Priorität der neuen Strategie sein und als Schlüsselfaktor für Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum betrachten werden müsse. Nach Auffassung des EP sollte die uneingeschränkte Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt und an der Berufsbildung ebenso in den Text aufgenommen werden wie ein Programm zum Abbau des Lohngefälles zwischen Männern und Frauen. |
3.3 |
Die Formulierung der SE 2020 stieß nicht allseits auf Zustimmung und erntete von verschiedenen Seiten Kritik: aufgrund ihres zu allgemein gehaltenen Inhalts, einer zu komplexen Struktur und eines zu starken ökonomischen Schwerpunktes bei völligem Wegfall der sozialen Aspekte. Hinsichtlich der Geschlechtergleichstellung stellt sie im Vergleich zu früheren Beschäftigungsstrategien einen eindeutigen Rückschritt dar. Der einzige sichtbare und explizite Aspekt, nämlich die Beschäftigungsquote von Frauen, wird behandelt, ohne die qualitativen Aspekte der Arbeit und die unterschiedlichen Ausgangssituationen auf dem Arbeitsmarkt zu berücksichtigen. Selbst die nach Geschlecht aufgeschlüsselten quantitativen Ziele in der Lissabon-Strategie sind verschwunden. |
3.4 |
Nach Ansicht des EWSA werden weder die SE 2020 noch die Gleichstellungsstrategie ihre Zielvorgaben erreichen, wenn keine konkreten Maßnahmen ergriffen werden, mit denen die gesellschaftlichen und beruflichen Lebensbedingungen der Frauen verbessert werden. Ihr quantitatives und qualitatives Potenzial muss unbedingt in den verschiedenen Bereichen der Europa-2020-Strategie gefördert werden. Ohne konkrete Maßnahmen im Rahmen der sieben Leitinitiativen werden die Prioritäten der SE 2020 nicht zu erreichen sein: ein intelligentes, nachhaltiges und gesellschaftlich integratives Wachstum kann ohne eine Gleichstellungspolitik nicht verwirklicht werden. |
3.5 |
In den Reformplänen der einzelnen Mitgliedstaaten müssen der wirtschaftliche Mehrwert der Arbeit von Frauen (der beispielsweise durch die Professionalisierung der personenbezogenen Dienstleistungen entstehen würde (9)) und die konkreten Schwierigkeiten anerkannt werden, denen sie auf dem Arbeitsmarkt (Zugang zu allen Ebenen und in allen Altersstufen, berufliche Laufbahn, Kontinuität, etc.), aber auch in der Gesellschaft in Bezug auf all jene sozialen Aspekte begegnen, die in der Gleichstellungsstrategie als zentral herausgestellt werden. Zur Überwindung der Krise und Bewältigung der neuen Aufgaben müssen im Zuge der Anwendung der SE 2020 spezifische Programme, Pläne und Maßnahmen festgelegt werden, mit denen die Gleichstellung vorangetrieben werden kann. Und dies kann nur geschehen, wenn die unterschiedlichen Auswirkungen der Maßnahmen zur Bewältigung der Krise in Bezug auf die unterschiedlichen Ausgangssituationen bekannt sind. |
3.6 |
Der EWSA äußert seine Besorgnis darüber, dass konkrete Maßnahmen fehlen und es auch keine spezifischen Indikatoren für beide Geschlechter gibt. Dadurch wird eine Verfolgung und Bewertung der etwaigen im Rahmen der SE 2020 erzielten Fortschritte vereitelt, was zur Folge hat, dass dem Europäischen Semester notwendige Instrumente abhanden kommen, um Ungleichheiten zu bekämpfen und dabei die verschiedenen Ausgangsbedingungen aufgrund unterschiedlicher geschlechtsspezifischer Gegebenheiten je nach Land, Branche und Bereich zu berücksichtigen. |
3.7 |
Mit der SE 2020 müssen wirksame Instrumente bereitgestellt werden, um die Rolle der Frau für das Wachstum der Union zu bewerten und ihren gesellschaftlichen Mehrwert abzuschätzen, wie in der Stellungnahme des EWSA (10) herausgestellt wird, die sich mit einer unter schwedischem Vorsitz angefertigten Studie (11) deckt. Darin wird u.a. darauf hingewiesen, dass die Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Mitgliedstaaten um 27 % steigern könnte. |
4. Prioritäten der Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2010-2015)
4.1 |
Die 2020 verabschiedete Gleichstellungsstrategie steht in engem Bezug zur SE 2020, und zwar in allen Aspekten und Leitinitiativen, und insbesondere im Hinblick auf die Festlegung und Durchführung der einschlägigen Maßnahmen der Mitgliedstaaten durch technische Hilfe sowie mittels der Strukturfonds und anderer großer Förderprogramme wie beispielsweise des 7. Rahmenprogramms für Forschung. Im Kontext der beschäftigungspolitischen Leitlinien und der Bewertung der einzelstaatlichen Beschäftigungspolitiken wird die Kommission genau beobachten, wie die Ungleichheiten abgebaut und die soziale Eingliederung von Frauen gefördert werden. |
4.2 |
In der Strategie wird auch auf die Rolle der Männer bei der Förderung der Geschlechtergleichstellung eingegangen und ihr Mitwirken an der Herbeiführung der notwendigen Veränderungen in Bezug auf die unterschiedlichen sozialen Rollen von Frauen und Männern – sowohl in der Familie als auch im Beruf – als wichtig hervorgehoben. |
4.3 |
Die Gleichstellungsstrategie umfasst Maßnahmen in Bezug auf fünf, in der Frauen-Charta festgelegte prioritäre Bereiche sowie ein zusätzliches Kapitel zu Querschnittsfragen: a) gleiche wirtschaftliche Unabhängigkeit; b) Gleiches Entgelt für gleiche und gleichwertige Arbeit; c) Gleichstellung in Entscheidungsprozessen; d) Würde, Unversehrtheit und Ende der geschlechtsbedingten Gewalt; e) Gleichstellung in der Außenpolitik; f) Querschnittsfragen (Geschlechterrollen, Rechtslage, Governance und Instrumente der Gleichstellung). |
4.4 |
Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass die Instrumente der EU, wie etwa der Binnenmarkt, die finanziellen Hilfen und die außenpolitischen Instrumente voll in den Dienst der Strategie gestellt werden müssen, um Hindernisse zu überwinden und die Ziele der SE 2020 zu verwirklichen; er erachtet es gleichwohl für notwendig, die Kohärenz zwischen der Anwendung der Grundsätze der Gleichstellungsstrategie und der Kerninstrumente der SE 2020, insbesondere die sieben Leitinitiativen und die Leitlinien, genau zu verfolgen, da diese sowohl in der EU als auch in den Mitgliedstaaten zum Tragen kommen. |
5. Die Geschlechterdimension in den sieben Leitinitiativen (12)
5.1 „Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten“
5.1.1 |
Der EWSA betonte bereits in seiner Stellungnahme zum „Jahreswachstumsbericht 2012“ (13) u.a. die Notwendigkeit, dem Aspekt der Qualität bei der Schaffung von Arbeitsplätzen mehr Bedeutung beizumessen. Jetzt und als Folge der Krise und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen müssen die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass dieser Kurs beibehalten wird. |
5.1.2 |
Nach Ansicht des EWSA muss bei der Umsetzung dieser Initiative die aktuelle Lage der Frauen auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt werden, da trotz des Umstandes, dass sie derzeit 44 % der Erwerbsbevölkerung in Europa ausmachen, ihre Situation in mehrfacher Hinsicht auch weiterhin besonders und gefährdet ist: niedrigere Beschäftigungsquote, Lohnunterschiede, Konzentration oder Mangel an Frauen je nach Bereich, geringe Beteiligung an der Gründung neuer Unternehmen, Teilzeitarbeit (75 %), Zeitverträge, Mangel an angemessenen Kinderbetreuungsplätzen, Karriereschwierigkeiten, geringe Präsenz von Frauen in höchsten Entscheidungspositionen in Politik und Wirtschaft, ungleicher Zugang zu verschiedenen Fachrichtungen in den Bereichen Bildung, Berufs- und Hochschulbildung. |
5.1.3 |
Die Beschäftigungsquote stieg von 51 % im Jahr 1997 auf 62 % im Jahr 2011 und konzentriert sich im Wesentlichen auf Arbeitsplätze in Bereichen, in denen vorwiegend Frauen arbeiten und wo die Anpassungsmaßnahmen stark zum Tragen kommen. Die aktuelle Wirtschaftskrise verschlechtert – in jedem Mitgliedsstaat auf unterschiedliche Weise – auch die Lage der Frauen und bedroht die fragilen Fortschritte, die bei der Gleichstellung von Männern und Frauen erreicht wurden. Nach Ansicht des EWSA müssen die erforderlichen Unterstützungsmaßnahmen ergriffen werden, damit sich die Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt nicht am Ende der Krise weiter verschärft haben. |
5.1.4 |
Insbesondere der Europäische Sozialfonds sollte alle in den Mitgliedstaaten umgesetzten Maßnahmen planen, verfolgen und evaluieren und dafür Sorge tragen, dass die Strategie für die Gleichstellung Fortschritte macht. |
5.2 „Jugend in Bewegung“
5.2.1 |
Diese Initiative umfasst im Wesentlichen zwei Bereiche: Beschäftigung und Bildung. Inhaltlich steht sie in engem Zusammenhang mit der Vorgenannten: Stärkung einer größeren Mobilität im Bereich der Bildung, Modernisierung der Hochschulsystems, Valorisierung und Validierung nicht formalen und informellen Lernens und Gewährleistung wirksamer und nachhaltiger Investitionen in allgemeine und berufliche Bildung. |
5.2.2 |
Die Jugendarbeitslosenquote ist in den Augen des EWSA eines der bedrohlichsten Probleme in Europa. Sie liegt derzeit bei 20 %. Und die Arbeitslosenquote unter weiblichen geringqualifizierten Jugendlichen liegt noch höher. |
5.2.3 |
Die Auswirkung von Mutter- oder Vaterschaft auf dem Arbeitsmarkt ist sehr unterschiedlich. Von Frauen mit Kindern unter 12 Jahren sind lediglich 64,7 % erwerbstätig, während es bei den Männern 89,7 % sind. Diese Zahlen und Unterschiede werden mit zunehmender Kinderzahl noch größer. Der Mangel an vorschulischen Betreuungseinrichtungen und die ungleiche Aufteilung der familiären Pflichten sind ein Problem bei der Vereinbarung von Beruf und Familie und stellen ernsthafte Hindernisse für den beruflichen Aufstieg von Frauen dar. |
5.2.4 |
Die 2002 auf dem Europäischen Rat von Barcelona hinsichtlich der Verfügbarkeit von vorschulischen Betreuungseinrichtungen vereinbarten Ziele wurden von wenigen Mitgliedstaaten erfüllt, und die derzeitige Lage dürfte sich angesichts des Abbaus öffentlicher Dienstleistungen weiter verschärfen. |
5.2.5 |
Eine weitere alarmierende Zahl ist die Quote der jungen Mütter, die weder studieren noch arbeiten oder eine Lehre absolvieren (die „NEET“). Eurostat zufolge gilt das für 20 % der Frauen und 13 % der Männer. Die Zahl der Schulabbrüche zu senken, ist eines der Ziele der ES2020, die durch diese Initiative aufgegriffen wird. |
5.2.6 |
Nach Ansicht des EWSA muss für die Umsetzung dieser Leitinitiative die aktuelle Lage der gefährdeten jungen Frauen in vielfacher Hinsicht über die bereits erwähnten Aspekte hinaus berücksichtigt werden: unzureichende Grundausbildung, geringerer Zugang zur Berufsbildung als es die neue Wissensgesellschaft erfordert, mangelhafte Validierung von Kompetenzen und mangelnde Berufsberatung sowie spezifische finanzielle Probleme bei der Unternehmensgründung oder dem Schritt in die Selbständigkeit. Dies alles erfordert Maßnahmen, die speziell auf junge Menschen zugeschnitten sind. |
5.3 „Europäische Plattform zur Bekämpfung der Armut“
5.3.1 |
In der Initiative wird vorgeschlagen, Programme zu konzipieren und durchzuführen, mit denen soziale Innovationen für die Schwächsten der Gesellschaft gefördert werden sollen, u.a. durch eine innovative allgemeine und berufliche Bildung und Beschäftigungsmöglichkeiten für benachteiligte Gruppen, gegen Diskriminierung (z.B. Behinderter) vorzugehen und eine neue Agenda für die Integration von Migranten zu erarbeiten, damit diese ihr Potenzial voll nutzen können. Vorgeschlagen wird ferner, die Angemessenheit und Nachhaltigkeit der Systeme der sozialen Sicherung und der Altersvorsorge zu prüfen und Möglichkeiten eines besseren Zugangs zur Gesundheitsversorgung zu erkunden. Der EWSA äußert Vorbehalte gegen das Konzept der sozialen Innovation. Die Erfahrungen in diesem Bereich sind von Natur aus bruchstückhaft und lassen sich schwer auf andere Bereiche übertragen. Das Konzept muss sowohl dem gesetzlich verankerten Subsidiaritätsprinzip als auch soziologischen Aspekten wie der „Gerechtigkeit“ Rechnung tragen. Eine lokale Antwort auf die Bedürfnisse einer kleinen Gruppe kann zwar nützlich sein, wird jedoch nicht die Gleichheit und die Gerechtigkeit ersetzen, die die großen Systeme der kollektiven sozialen Sicherheit gewährleisten (14). |
5.3.2 |
In der SE 2020 heißt es, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen konzipieren und durchführen sollten, die den besonderen Umständen bestimmter, besonders gefährdeter gesellschaftlicher Gruppen gerecht werden und ihre Systeme der sozialen Sicherung und der Altersvorsorge so ausbauen, dass eine angemessene Einkommensstützung und der Zugang zur Gesundheitsversorgung gewährleistet sind, um den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten. Von den steigenden Arbeits- und Erwerbslosenzahlen, der wirtschaftlichen Unsicherheit, niedrigen Löhnen und Gehältern, den Sparmaßnahmen und den Einschnitten bei den Sozial- und Familienleistungen sind in erster Linie Frauen betroffen. Zunächst als Arbeitnehmerinnen, da sie vom Abbau der Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst und bei den öffentlichen Dienstleistungen unmittelbar betroffen sind, handelt es sich doch um Sektoren, in denen ein großer Anteil der Beschäftigten Frauen sind. Sie sind allerdings in doppelter Hinsicht auch als Bürgerinnen und Nutzerinnen betroffen, da sich die Kürzungen der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in besonderem Maße auf sie als größte Nutzergruppe dieser Dienste auswirken. |
5.3.3 |
In Europa sind mehr als 70 % der Niedriglohnempfänger Frauen. In den meisten Mitgliedstaaten sind 17 % der Frauen von Armut gefährdet, doch auch bei den Männern ist die Lage mit 15 % nicht weniger besorgniserregend. Armut und soziale Ausgrenzung gehen Hand in Hand mit der Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt. Deshalb wirken sich berufliche Auszeiten und prekäre Arbeitsverhältnisse, die unter Frauen und insbesondere unter Geringqualifizierten weit verbreitet sind, kurz-, mittel- und langfristig nachteilig aus. |
5.3.4 |
Alleinerziehende, Witwen, Frauen mit Behinderungen, Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt, alte Frauen und Migrantinnen sind von den Sparmaßnahmen und der Krise besonders betroffen und aufgrund ihrer Schutzlosigkeit und mangelnder spezifischer Unterstützungsmaßnahmen stärker von sozialer Ausgrenzung gefährdet. |
5.4 „Digitale Agenda für Europa“
5.4.1 |
Ziel ist es, den Zugang zu den Informationstechnologien und insbesondere zum Internet und die Internetnutzung durch alle europäischen Bürger vor allem durch Programme zur Steigerung der digitalen Kompetenz zu fördern. |
5.4.2 |
Zu diesem Zweck müssen die Mitgliedstaaten Strategien für die Einführung des Hochgeschwindigkeitsinternet entwickeln und eine öffentliche Finanzierung auch mit Hilfe der Strukturfonds in Gebieten bereitstellen, die nicht ganz durch private Investitionen abgedeckt sind, sowie die Einführung und Verwendung moderner Online-Dienste fördern (z.B. elektronische Behördendienste, Online-Gesundheitsdienste, Smart Home, digitale Kenntnisse, Sicherheit) (15). |
5.4.3 |
Der EWSA zeigt sich besorgt darüber, dass es aufgrund mangelnder geschlechtsspezifischer Daten weder möglich ist, sich ein Bild von der Lage der Frauen in von IKT geprägten Berufsfeldern zu machen, noch den Nutzungsgrad dieser neuen Technologien zu ermitteln. Es wäre wichtig, diesbezügliche Studien durchzuführen, um sich auch ein Bild über ihre Lage als Dienstleistungsnutzerinnen machen zu können und letztlich die in der ES2020 vorgeschlagene Information und Ausbildung zielgerichteter gestalten zu können. |
5.5 „Innovationsunion“
5.5.1 |
Mit dieser Initiative sollen u.a. die Verknüpfungen zwischen Bildungseinrichtungen, Unternehmen, Forschung und Innovation unterstützt und gestärkt sowie der Unternehmergeist gefördert werden. Die Mitgliedstaaten sind aufgerufen, die nationalen und regionalen FuE im Sinne der Förderung von Exzellenz und intelligenter Spezialisierung zu reformieren, den Ausgaben für die Wissenserlangung und –verbreitung Vorrang einzuräumen, die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, Forschung und Unternehmen zu stärken, dafür zu sorgen, dass es eine ausreichende Zahl von Hochschulabsolventen in den Bereichen Mathematik und Ingenieurwesen gibt und die Schullehrpläne auf die Förderung von Kreativität, Innovation und Unternehmergeist auszurichten. |
5.5.2 |
Frauen können und müssen in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielen. 2010 wurden rund 60 % der Hochschulabschlüsse von Frauen erlangt, was sich jedoch nicht in der Zahl der mit Frauen besetzten Stellen auf dem Arbeitsmarkt widerspiegelt. Hingegen wird derzeit jedes dritte Unternehmen von einer Frau gegründet, der Frauenanteil in den Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen liegt bei 13,7 %, und nur 3 % sind Aufsichtsratsvorsitzende. |
5.5.3 |
In den meisten Ländern besteht weiterhin eine horizontale Geschlechtertrennung nach Fachrichtung: Naturwissenschaften, Ingenieurwesen, Mathematik, Technik. Und gerade diese Studienfächer sind ein bevorzugter Bereich für die Zusammenarbeit zwischen Verantwortungsträger in Wirtschaft und Forschung, insbesondere aus den Master- und Promotionsstudiengängen, die für Frauen schwieriger zugänglich sind. Deshalb hält der EWSA Maßnahmen für unverzichtbar, mit denen diese Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. |
5.5.4 |
Weiterhin unterrepräsentiert sind Frauen in Entscheidungsgremien im Bereich der Wissenschaft, in Unternehmen und im Dienstleistungssektor. Lediglich 18 % der Frauen sind in den höchsten Hochschulpositionen vertreten. Die Beschäftigungsmöglichkeiten und die Vergabe von Forschungsmitteln müssen den wachsenden Anteil von Frauen in diesem Bereich sicherstellen und zum Ausbau des Potenzials einer nachhaltigen Entwicklung der europäischen Gesellschaft beitragen. |
5.6 „Ressourcenschonendes Europa“
5.6.1 |
Im Rahmen dieser Initiative sind die Annahme und Umsetzung eines überarbeiteten Aktionsplans für Energieeffizienz und Unterstützung eines umfassenden Programms für Ressourceneffizienz (Förderung von KMU und Privathaushalten) sowie die Nutzung der Strukturfonds und anderer Fonds für die wirksame Bereitstellung neuer Finanzierungsmöglichkeiten im Wege bestehender äußerst erfolgreicher Modelle von innovativen Investmentsystemen geplant; auf diese Weise werden Änderungen bei den Verbrauchs- und Produktionsmustern gefördert. |
5.6.2 |
Energie und Umwelt sind keine neutralen Themen: Energienutzung, Zugang zu Trinkwasser, Wiederverwertung, Wärmequellen für Haushalte, Schutz und Erhalt der Umwelt sind anschauliche Beispiele für Bereiche, in denen Frauen eine wichtige Rolle spielen. Änderungen bei den Verbrauchsmustern sind ohne spezifische Maßnahmen, die in Kenntnis der Sachlage konzipiert werden und sich differenziert an die verschiedenen Zielgruppen und in erster Linie an die Frauen richten, nicht denkbar. |
5.6.3 |
Dies hat auch der EPSCO-Rat (Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz) in seinen Schlussfolgerungen von Juni 2012 anerkannt, indem er auf die maßgebliche Rolle der Frauen für die nachhaltige Entwicklung hinwies. Der EWSA teilt die Schlussfolgerungen des Rates, in denen es heißt, dass Frauen maßgeblich in die Entscheidungsfindung zu umweltpolitischen Fragen, insbesondere im Rahmen der Politik zur Eindämmung des Klimawandels, eingebunden werden sollten. Hier handelt es sich um eine neue Chance für Frauen, die eine Schlüsselrolle übernehmen und ihre private und wirtschaftliche Situation im Zuge der neuen, im Entstehen begriffenen grünen Wirtschaft verbessern können, die für den Ausbau und die Schaffung von Arbeitsplätzen eine wichtige Branche darstellt. |
5.6.4 |
Auf Ebene der Unternehmen ist die vertikale Diskriminierung in dieser Branche weiterhin hoch: Obwohl rund 33 % der Geschäftsführungspositionen heute von Frauen besetzt sind (gegenüber 31 % im Jahr 2001), sind die meisten von ihnen im Handels- und Dienstleistungssektor und sehr viel weniger in verarbeitenden Industrien, im Bau- oder Energiesektor zu finden. |
5.6.5 |
Es gibt wenig Studien und ebenso wenig Zahlen, mit denen man sich ein Bild von der Geschlechtersituation und den Maßnahmen machen könnte, die erforderlich sind, um den Frauenanteil auf dem Gebiet der nachhaltigen Entwicklung zu erhöhen. Der EWSA erachtet es für wichtig, zu investieren, aber auch die richtige Richtung zur Überwindung von Stereotypen zu weisen, Lösungen anzubieten und Maßnahmen im Sinne einer positiven Aktion zu fördern; denn da es sich um eine Wachstumsbranche handelt, könnte eine bereits diskriminierende Ausgangslage die sozialen Unterschiede und die gesellschaftliche Kluft noch größer werden lassen. |
5.6.6 |
Zu den Prioritäten der Gleichstellungsstrategie gehört das Handeln in den Außenbeziehungen der EU – einerseits die Kooperationsprogramme mit Nachbarregionen und die europäischen Nachbarschaftspolitiken, insbesondere im Europa-Mittelmeerraum, und andererseits das Mitwirken der EU in internationalen Gremien. Einwanderinnen aus Drittländern, Migrantinnen innerhalb der Europäischen Union sowie Frauen aus Nachbarländern bedürfen besonderer Aufmerksamkeit. Was die nachhaltige Entwicklung und die Frauenrechte angeht, war Rio+20 ein bedenklicher Misserfolg. Bei kritischen Themen, wie dem Bezug zwischen Gesundheit und Sexual- und Reproduktionsrechten, Ansprüchen von Frauen auf Eigentum und Erbe von Grund und Boden, Klimawandel und grünen Arbeitsplätzen, waren keinerlei Fortschritte zu verzeichnen. |
5.7 „Industriepolitik im Zeitalter der Globalisierung“
5.7.1 |
Diese Leitinitiative spielt eine wesentliche Rolle bei der Einbindung der „gender mainstreaming“-Aspekte in die Gleichstellungsstrategie: Lohntransparenz, Initiativen für gleiches Entgelt und Maßnahmen zur Ermutigung von Frauen, sich für nichttraditionelle Berufe zu entscheiden, sind nur einige der Schlüsselmaßnahmen, die in der Strategie vorgeschlagen und mit dieser Initiative vereinbart werden können. |
5.7.2 |
In Europa liegt das geschlechtsspezifische Lohngefälle bei durchschnittlich 17 %, wobei die Schwankungsbreite zwischen den einzelnen Ländern bei 5 % bis 31 % liegt. Mehrere miteinander verknüpfte Faktoren tragen zu dieser Situation bei, wie u.a die geringere Wertschätzung der Arbeit in „Frauenberufen“, eine starke berufliche Segregation und berufliche Auszeiten aus verschiedenen Gründen. Und in Krisenzeiten verschärft sich diese Situation natürlich weiter. |
5.7.3 |
Die Kluft zwischen der Beschäftigungsrate und den Löhnen ist in einigen Fällen zwar kleiner geworden, doch leider nicht durch mehr Beschäftigung und eine bessere Bezahlung der Frauen, sondern als unmittelbare Folge der Krise durch Rückgang der Nachfrage in jenen Sektoren, in denen vorwiegend Männer beschäftigt sind (Bau, Verarbeitungsindustrie, Finanzwelt). Der EWSA erinnert daran, dass eines der im AEUV genannten Ziele des europäischen Aufbauwerks „die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen [ist], um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen“ (16) – dies gilt für alle Bürgerinnen und Bürger. |
5.7.4 |
Der EWSA hält Maßnahmen zur Wiederankurbelung des Wachstums in diesen Krisensektoren und parallel dazu Maßnahmen zur Bekämpfung der beruflichen Segregation für erforderlich, um vor allem den Frauenanteil in den Bereichen Naturwissenschaften, Technik, Ingenieurwesen und Mathematik zu erhöhen. Daneben sollten Maßnahmen eingeleitet werden, die für eine bessere Anerkennung der Bereiche mit hohem Frauenanteil sorgen, wie z.B. Hausarbeit, Gesundheits- und Pflegedienste. |
6. Die Geschlechterdimension in den Nationalen Reformprogrammen und im Europäischen Semester
6.1 |
Das Europäische Semester zur wirtschaftspolitischen Koordinierung ist das neue von den Mitgliedstaaten vereinbarte Instrument zur Überwachung der Umsetzung der SE 2020. Im Europäischen Pakt für die Gleichstellung der Geschlechter wird empfohlen, Gleichstellungsaspekte und die Förderung von Gleichstellungsmaßnahmen bei der Ausgestaltung und Umsetzung der Nationalen Reformprogramme zu berücksichtigen. Auch werden Kommission und Rat aufgefordert, Gleichstellungsfragen in den Jahreswachstumsbericht, die Schlussfolgerungen und die länderspezifischen Empfehlungen aufzunehmen. |
6.2 |
Im April 2012 wurden an zwölf Mitgliedstaaten länderspezifische Empfehlungen gerichtet, in denen Gleichstellungsaspekte in den nationalen Aktionsplänen thematisiert werden. Die Kommission hat konkrete und vom EWSA unterstützte Reformen in folgenden Bereichen vorgeschlagen: stärkere Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt, bessere Verfügbarkeit und Qualität der Kinderbetreuung und Ganztagsschulen sowie der Altenpflegeeinrichtungen, auch für die Pflege und Betreuung sonstiger abhängiger Personen. |
6.3 |
Die meisten Empfehlungen sind darauf ausgerichtet, die Beschäftigungsquote der Frauen zu erhöhen, wobei jedoch die Hindernisse für die Gewährleistung hochwertiger Arbeitsplätze in Bezug auf Vergütung, Arbeitsbedingungen und die Angleichung der familiären Pflichten von Männern außer Acht gelassen werden. Nur an ein einziges Land, nämlich Österreich, wurde die Empfehlung gerichtet, das geschlechtsspezifische Lohngefälle abzubauen, obschon ein solches in allen Mitgliedstaaten nach wie vor besteht. |
6.4 |
Der EWSA hält einige Empfehlungen für beunruhigend, die sich negativ auf die Gleichstellung der Geschlechter auswirken könnten. Diese beziehen sich auf die Rentenreform, die Vorschläge zur Überprüfung der Anpassungsmechanismen der Löhne, Gehälter und Pensionen, die Heraufsetzung des Rentenalters ohne Berücksichtigung der gesunden Lebensjahre sowie den Vorschlag zur Einführung von Steueranreizen für ein Zweiteinkommen des Ehepartners. |
Brüssel, den 17. Januar 2013
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) COM(2010) 2020 final, im Folgenden abgekürzt mit „SE 2020“.
(2) COM(2010) 491 final, im Folgenden „Gleichstellungsstrategie“.
(3) ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 102-108.
(4) ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 21-26.
(5) Zusammensetzung des EWSA: 343 Mitglieder, davon 81 (23,6 %) Frauen. Nach Gruppen aufgeschlüsselt: Gruppe I: 112 Mitglieder, davon 22 (22,1 %) Frauen; Gruppe II: 120 Mitglieder, davon 32 (26,8 %) Frauen; Gruppe III: 111 Mitglieder, davon 27 (24,3 %) Frauen.
(6) COM(2006) 92 final und ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 1-7.
(7) Gender mainstreaming: „die Geschlechtergleichstellung in den vorherrschenden gesellschaftlichen Trend (Mainstream) integrieren, damit Frauen und Männer gleichermaßen profitieren können. Das bedeutet, an jeder Stufe der Politik anzusetzen – Gestaltung, Implementierung, Überwachung und Evaluierung – mit dem Ziel, die Gleichstellung zwischen Frauen und Männern zu fördern“, Europäische Kommission, EQUAL Leitfaden.
(8) ABl. C 155 vom 25.5.2011, S. 10-13.
(9) ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 39.
(10) ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 15-21.
(11) Gleichstellung, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, Åsa Löfström
(http://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=3988&langId=en).
(12) Der EWSA verabschiedete zu jeder eine spezifische Stellungnahme.
(13) ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 26-28.
(14) ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 88-93.
(15) ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9-18.
(16) Artikel 151 AEUV.
14.3.2013 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 76/15 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Seepiraterie — Verstärkte EU-Maßnahmen (Initiativstellungnahme)
2013/C 76/03
Berichterstatterin: Anna BREDIMA
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 12. Juli 2012, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:
Seepiraterie – Verstärkte EU-Maßnahmen
(Initiativstellungnahme).
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 26. November 2012 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 486. Plenartagung am 16./17. Januar 2013 (Sitzung vom 16. Januar) mit 147 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Fazit
1.1 |
Die europäische Zivilgesellschaft ist sich des Ernsts des Problems der Seepiraterie noch nicht voll bewusst geworden. Der EWSA möchte das Bewusstsein der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit in Europa dafür schärfen, um die Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen zu konkreten Maßnahmen zu veranlassen, mit denen das Übel an der Wurzel gepackt wird. Im Jahr 2011 war der Weltmeerestag der Bekämpfung der Piraterie gewidmet. Angesichts der Vielschichtigkeit des Problems ist ein ganzheitliches Vorgehen gefordert, unzusammenhängende Einzelmaßnahmen reichen nicht aus. Piraterie ist kein Problem, das weitab irgendwo im Indischen Ozean nur die angegriffenen Schiffe und ihre Besatzungen betrifft. Sie ist nicht nur ein misslicher Umstand, mit dem man leben kann, sondern betrifft die europäischen Verbraucher und Steuerzahler in vielerlei Hinsicht. Nach Auffassung des EWSA braucht es einen konkreten politischen Willen der Institutionen und Mitgliedstaaten der EU, eine dauerhafte Lösung für die Piraterie zu finden. |
1.2 |
Der EU verfügt hierfür über ein breit gefächertes Instrumentarium, von Handel und Entwicklungshilfe bis hin zu Militärpräsenz, Staatsaufbau und Wiederaufbau. |
1.3 |
Der EWSA begrüßt die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats und der EU, die Operation EU/NAVFOR–ATALANTA bis Dezember 2014 zu verlängern und das Einsatzgebiet im Indischen Ozean (nach Osten und Süden) und an der somalischen Küste auszuweiten. Er ist der Auffassung, dass dem EU-Flottenverband (EU NAVFOR) ein weiter reichendes Mandat mit robusteren Einsatzregeln erteilt werden sollte. Der EWSA dringt auf die Aufrechterhaltung einer starken Präsenz bezüglich der Zahl der von den EU-Mitgliedstaaten für diese Operation entsandten Schiffe. |
1.4 |
Von sehr großer Bedeutung sind die jüngste Verknüpfung des ReCAAP-Abkommens (regionales Kooperationsabkommen zur Bekämpfung der Piraterie und des bewaffneten Raubs gegen Schiffe in Asien) mit dem Verhaltenskodex von Dschibuti sowie der Abschluss bilateraler Abkommen der EU mit Kenia, den Seychellen, Mauritius und anderen Ländern über die Verfolgung von Piraten. |
1.5 |
Der EWSA befürwortet die Schaffung einer Mission zum Ausbau der regionalen maritimen Kapazitäten durch den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD). „EUCAP NESTOR“ soll die Länder am Horn von Afrika dabei unterstützen, einen Gesamtplan für die Bekämpfung der Piraterie aufzustellen, einschlägige Rechtsvorschriften auszuarbeiten und die Küstenwache zu unterstützen. |
1.6 |
Der EWSA appelliert an die EU-Mitgliedstaaten und diejenigen Länder, mit denen die EU das Beitrittsverfahren eingeleitet oder Assoziierungsabkommen geschlossen hat, Seeräuberei zu ahnden und Seeräuber auf Hoher See gemäß Artikel 105 des UN-Seerechtsübereinkommen vom 10. Dezember 1982 zu verfolgen. |
1.7 |
Der EWSA fordert die Reedereien auf, die überarbeiteten empfehlenswerten Praktiken im Bereich der maritimen Sicherheit (Best Management Practices, BMP 4) zum Eigenschutz an Bord von Schiffen anzuwenden. Der EWSA hält diejenigen Mitgliedstaaten, die die Zulassung von privaten bewaffneten Sicherheitskräften mit entsprechender Qualifikation zum Schutz gefährdeter Schiffe in Erwägung ziehen, dazu an, die einschlägigen Leitlinien der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) zu befolgen und einen strikten Rechtsrahmen festzulegen, der u.a. die Bedingungen für die Haftung des Kapitäns regelt, insbesondere für den Fall, dass das Feuer eröffnet wird. Der Einsatz privater bewaffneter Sicherheitskräfte ist keine eigenständige Lösung und sollte nicht die Norm werden, sie stellt lediglich eine Ergänzung zu den BMP dar. Die Mitgliedstaaten sollten Konvois mit militärischem Geleitschutz organisieren und landgestützte militärische Einheiten unter UN-Führung zum Schutz von Schiffen bereitstellen, die beim Durchfahren von hochgefährlichen Gebieten an Bord gehen können. |
1.8 |
Der EWSA ist gegen die Einschränkung von Lösegeldzahlungen, da dies kontraproduktiv wäre und Geiseln noch stärker gefährden würde. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind Lösegeldzahlungen noch eine Möglichkeit, um die sichere Freilassung von Seeleuten zu gewährleisten, die als menschliche Schutzschilde eingesetzt werden. Der EWSA verurteilt die Praxis der Piraten, Seeleute zu foltern oder zu exekutieren, um ihren Lösegeldforderungen Nachdruck zu verleihen. |
1.9 |
Nach Auffassung des EWSA liegt der Schlüssel zur Lösung des Piraterieproblems in der Aufspürung und Unterbindung der beteiligten Finanzströme. Er begrüßt, dass die Geldgeber gezielt in den Blick genommen und Datenbanken abgeglichen werden, um ein besseres Verständnis des „Geschäftsmodells“ der Piraten zu schaffen. In der EU sollte eine schwarze Liste der an der Wäsche von Piratengeldern beteiligten Finanzinstitute erstellt werden. In dieser Hinsicht ist die Arbeit von Europol und Eurojust zu loben. |
1.10 |
Der EWSA fordert die EU-Organe nachdrücklich auf, etwas gegen die Eskalation der bewaffneten Raubüberfälle auf See und den Öldiebstahl in Westafrika und im Golf von Guinea zu unternehmen. Da sich die Vorgehensweise sehr stark von der der somalischen Piraten unterscheidet, sollten gezielte Maßnahmen für diese Region unterstützt werden. Drei Millionen Barrel Öl und 50 % des weltweiten Containerhandels durchqueren täglich die piratenverseuchten Gebiete des Indischen Ozeans. |
1.11 |
Der EWSA unterstreicht, dass die 218 Seeleute, die sich derzeit in Geiselhaft befinden, dringend befreit werden müssen, und spricht sich für ein Piratenabwehrtraining für den Eigenschutz von Seeleuten sowie für die klinische Betreuung als Geiseln genommener Seeleute aus. Durch drei internationale Übereinkommen (Übereinkommen von 2010 über Normen für die Ausbildung, die Erteilung von Befähigungszeugnissen und den Wachdienst von Seeleuten, der ISPS-Code von 2004 (Internationaler Code für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen) und das Seearbeitsübereinkommen von 2006) wird eine rechtliche Grundlage für die Ausbildung vor der Einschiffung, Schulungen und Übungen an Bord, Rückführung, Schadenersatz, Herstellung von Familienkontakten sowie die Betreuung nach der Freilassung von Seeleuten geschaffen. Der EWSA fordert die EU auf, diese Übereinkommen zu stärken und einen neuen, umfassenden Leitfaden zu formulieren, der die Betreuung von Seeleuten, die Opfer von Piraterie wurden oder werden könnten, sowie ihren Familien regelt. Die EU sollte eine Führungsrolle bei der entsprechenden Änderung dieser internationalen Übereinkommen übernehmen, um Maßnahmen für als Geiseln genommene Seeleute zu berücksichtigen. |
1.12 |
Die Wahlen vom 20. August 2012 waren ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte des gescheiterten Staates Somalia. Der EWSA verpflichtet sich zur Zusammenarbeit bei künftigen EU-Maßnahmen, mit denen der Aufbau der Zivilgesellschaft im Land nach dem Vorbild vergleichbarer Maßnahmen in anderen afrikanischen Ländern unterstützt wird. |
1.13 |
Der EWSA dringt auf ein koordiniertes Vorgehen der EU, damit ein Teil der Entwicklungshilfe oder anderer Ressourcen in Ausbildungsprogramme für den Nachwuchs im Fischereigewerbe sowie in die Förderung der nachhaltigen Landwirtschaft und des Unternehmertums fließt. Durch die Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen für junge Somalier könnte die Piratenlaufbahn an Reiz verlieren. |
2. Das vielschichtige Problem der Piraterie
2.1 Die Komplexität der Piraterie
2.1.1 |
Nach fünf Jahren eskalierender Piratenangriffe auf Handelsschiffe im Golf von Aden, im Somalibecken, im Arabischen Meer und im Indischen Ozean könnten die Statistiken zu dem Trugschluss verleiten, das Piraterieproblem sei unter Kontrolle gebracht. Bei einer solchen Annahme würden der Nachahmereffekt und die Eskalation der Piraterie in Westafrika fälschlicherweise nicht berücksichtigt. Piraterie ist leider ein weltweites Problem, das auch in Indonesien, in der Straße von Malakka/Singapur, im Südchinesischen Meer und in Südamerika auftritt. Nach den aktuellen Zahlen (Stand vom 24. September 2012) sind 50 Zwischenfälle in Somalia, 34 im Golf von Guinea und 51 in Indonesien zu verzeichnen. |
2.1.2 |
Der Einsatz von Mutterschiffen hat es den Piraten ermöglicht, erfolgreicher zu operieren. Dank ständig wechselnder Taktiken sowie mithilfe von Spezialgerät zur leichteren Identifizierung von Zielen und zum Aufbrechen abgeschotteter Sammelräume (so genannter „Zitadellen“) an Bord von Schiffen sind sie aggressiver, effizienter und gewalttätiger geworden, was mitunter Seeleute das Leben kostet. |
2.1.3 |
Piraterie beginnt als maritimes Problem, das sich zu einem humanitären Problem und einem Problem für den Handel und die Weltwirtschaft entwickelt, das die Verbraucher auf der ganzen Welt in Mitleidenschaft zieht. Wenn die Weltgemeinschaft die Piraterie nicht wirkungsvoll bekämpft oder sich die Seeleutegewerkschaften dem Einsatz in den gefährdeten Gebieten widersetzen, könnten infolge der Unterbrechung der Lieferkette für Güter und Energie die durch Piraterie verursachten Kosten weiter steigen. Pro Jahr durchfahren 18 000 Schiffe diese Gebiete. Die Piraterie im Golf von Aden/am Horn von Afrika stellt eine strategische Bedrohung für EU dar, da sie den Seeverkehr im Hauptkorridor Europa-Asien beeinträchtigt. Die Schifffahrtsgesellschaften benutzen verstärkt den Seeweg um das Kap der Guten Hoffnung, um den Suez-Kanal zu vermeiden. Piraterie ist zu einem höchst einträglichen kriminellen Geschäft und zu einem attraktiven Berufsbild für junge Menschen in der Region geworden. Ihre Kosten stehen in keinem Verhältnis zur Zahl der Piraten (in Somalia rund 1 500). Die Piraterie behindert die Lieferung der dringend benötigten EU-Nahrungsmittelhilfe an die Dürreopfer in Afrika. Die Marinepräsenz im Indischen Ozean wird mit dem Versuch verglichen, ein Gebiet von der Größe Europas mit 20 Polizei-Streifenwagen kontrollieren zu wollen. |
2.1.4 |
Es ist nicht hinzunehmen, dass Akte von Piraterie ungesühnt bleiben und dass das internationale Recht und die internationale Ordnung ausgehöhlt werden (UN-Seerechtsübereinkommen von 1982); die EU muss einen starken politischen Willen zeigen, das Übel an der Wurzel zu packen. Die UN-Kontaktgruppe für Piraterie vor der Küste Somalias hat sich für die Festlegung einer globalen Strategie eingesetzt, die u.a. Präventiv- und Abschreckungsmaßnahmen umfasst sowie Einsatzleitlinien für eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Seestreitkräften, die Verfolgung von Piraten und das Aufspüren ihrer finanziellen Ressourcen. |
2.1.5 |
Die EU, die über 40 % der weltweiten Schiffstonnage verfügt, kann es sich nicht leisten, dass die Eskalation der Piraterie außer Kontrolle gerät. „Seepiraterie ist eine echte Bedrohung für die EU-Verkehrspolitik“, wie EU-Verkehrskommissar Siim Kallas richtig bemerkte. Bedroht sind darüber hinaus auch der Außenhandel, die Energieversorgung und die Energieversorgungssicherheit der EU sowie Leib und Leben der Seeleute und die humanitären Hilfslieferungen. |
2.2 Menschliche Kosten der Piraterie
2.2.1 |
Im Lauf des Jahres 2011 wurden mindestens sieben Seeleute von Piraten ermordet und 39 verletzt. 2012 (Stand vom 24. September) wurden nach 225 Angriffen und 24 Entführungen 6 Seeleute ermordet und 448 als Geiseln genommen. Am 30. Juni 2012 kaperten Piraten 11 Schiffe, und 218 Seeleute wurden in Somalia als Geiseln gefangen gesetzt. Bei Piratenangriffen vor der somalischen Küste wurden seit 2007 mehr als 43 Seeleute getötet und 2 653 als Geiseln genommen. |
2.2.2 |
Internationale Reeder- und Seeleuteverbände (wie z.B. die Internationale Schifffahrtskammer [ICS], der Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft [ECSA], die Europäische Transportarbeiter-Föderation [ETF], das Asiatische Reederforum [ASF], der Zusammenschluss 31 internationaler Schifffahrtsverbände „SOS – Save Our Seafarers“) ziehen an einem Strang, um die menschlichen und wirtschaftlichen Kosten stärker ins Blickfeld zu rücken, indem sie über die Medien an die Öffentlichkeit gehen und sich auf höchster Ebene an Politiker und Industrievertreter wenden. Laut ASF-Bericht (vom 24. Mai 2012) wurden in den letzten sieben Jahren bei Piratenangriffen 62 Seeleute getötet, und 4 000 wurden auf 200 von somalischen Piraten gekaperten Schiffen als Geiseln genommen. Während die Piratenangriffe im Indischen Ozean zum ersten Mal in fünf Jahren (2007-2012) zurückgegangen sind, hat sich die Zahl der getöteten Seeleute in den letzten zwei Jahren verdreifacht (Sultan AHMED BIN SULAYEM, Vorstandsvorsitzender von DP World, 30.6.2012). Für Selbstzufriedenheit ist hier aber kein Platz. |
2.2.3 |
Bei der Verbrechensprävention steht die Eindämmung der Piraterie an erster Stelle, nicht die Unterbindung der Zahlungen für die Freilassung der Opfer eben dieses Verbrechens. Der Tod von Seeleuten sollte nicht als „Kollateralschaden“ im Krieg gegen die Piraten hingenommen werden (Nautilus International). |
2.3 Wirtschaftliche Kosten der Piraterie
2.3.1 |
Zwei Berichte über die wirtschaftliche Seite der Piraterie sind erwähnenswert: |
2.3.2 |
In der Studie „The Economic Cost of Maritime Piracy“ (Dezember 2010) werden die unmittelbaren Kosten untersucht: Lösegelder, Versicherungsprämien, Ausweichrouten um das Kap der Guten Hoffung, Abschreckungsmaßnahmen, bewaffnete Wachleute, Entsendung von drei Marineeinheiten, Verfolgungseinsätze, Finanzierung von Organisationen zur Pirateriebekämpfung, humanitäre Kosten. Die durchschnittlichen Kosten werden auf insgesamt 7 bis 12 Mrd. USD pro Jahr geschätzt. Darüber hinaus schätzte die One Earth Foundation die Lösegeldkosten für 2009-2010 auf 830 Mio. USD und die jährlichen Kosten für abschreckende Ausrüstung/private bewaffnete Sicherheitskräfte auf 360 Mio. bis 2,5 Mrd. USD. |
2.3.3 |
In der Studie „The Economics of Piracy“ (Mai 2011) geht es um die „Wertschöpfungskette“ zwischen Piraten, Finanziers, Wirtschaftsprüfern und Waffenlieferanten. Sie macht deutlich, weshalb die Piraterie im Vergleich zum somalischen Pro-Kopf-BIP eine weitaus lohnendere Alternative sein kann (die Einkünfte von Piraten sind mitunter 67-157 mal so hoch wie das somalische Durchschnittseinkommen). In der Studie wird die Notwendigkeit, die über das informelle „Hawala“-Geldtransfersystem laufenden Finanzströme zu verfolgen, in den Vordergrund gestellt, und die jährlichen Kosten werden auf 4,9 bis 8,3 Mrd. USD geschätzt. |
3. EU-Maßnahmen
3.1 EU-Organe
3.1.1 |
In ihrer gemeinsamen Erklärung über eine Partnerschaft zur Bekämpfung der Seepiraterie und des bewaffneten Raubs im westlichen Indischen Ozean (London, 15. Mai 2012) haben die Europäische Union und die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO) ihre Entschlossenheit bekräftigt, ihre Kapazitäten zur Bekämpfung von seeräuberischen Handlungen und bewaffneten Raubüberfällen auszubauen und die maritime Ordnungspolitik im westlichen Indischen Ozean zu verbessern. Der „Verhaltenskodex von Dschibuti“ ist zu einem entscheidenden Instrument geworden, das es 18 ostafrikanischen Staaten erlaubt, eine regionale Lösung für das Problem zu finden. Darüber hinaus hat die EU die Arbeit des mit der Bekämpfung von Seeräuberei und von bewaffneten Raubüberfällen auf Schiffe befassten Piraterie-Meldezentrums des International Maritime Bureau (IMB) über einen Dreijahreszeitraum finanziell unterstützt. |
3.1.2 |
Die internationale Kontaktgruppe für Seeräuberei untersucht die Möglichkeiten eines scharfen Vorgehens gehen die Nutznießer, da Lösegelder in Höhe von 300-500 Mio. EUR an die somalischen Drahtzieher fließen, die das Geld anlegen – vielleicht sogar bei Banken in der EU. Der EWSA dringt darauf, solche Lösegelder aufzuspüren und zu beschlagnahmen, sodass Piraterie kein attraktives Geschäft mehr ist. |
3.1.3 |
Nach der Annahme des Strategischen Rahmens für das Horn von Afrika ist die Ernennung eines Sonderbeauftragten für die Koordinierung der EU-Maßnahmen in dieser Region ein Schritt in die richtige Richtung. |
3.1.4 |
Der EWSA begrüßt die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Hochseepiraterie (10. Mai 2012), die auf eine bessere Koordinierung der EU-Organe zwecks Intensivierung der Bemühungen um die Bekämpfung der Piraterie und den Wiederaufbau Somalias als souveräner Staat abzielt. |
3.1.5 |
Seit 2008 hat der EWSA in Stellungnahmen bereits mehrfach seine Besorgnis über die starke Zunahme von bewaffnetem Raub und Piraterie in Südostasien und Afrika zum Ausdruck gebracht (1). Er hat die Europäische Kommission dazu aufgerufen, die Festlegung geeigneter Gerichtsbarkeiten anzustreben, damit Piraterie nicht länger ungestraft bleibt. Außerdem hat er die Kommission aufgefordert, gemeinsam mit den Mitgliedstaaten die Frage eines Piratenabwehrtrainings für Seeleute zu prüfen. |
3.1.6 |
Auf seiner Konferenz zur „Attraktivität maritimer Berufe“ (7. März 2010) hat der EWSA die Piraterie als ein Hemmnis für das Ergreifen des Seemannsberufs ausgemacht, das Kampagnen für ein attraktives Berufsbild konterkariert. |
3.2 Europäische Sozialpartner (ECSA/ETF)
3.2.1 |
Der Verband der Reeder der Europäischen Union (ECSA) und die Europäische Transportarbeiter-Föderation (ETF) haben in einer gemeinsamen Erklärung (31. Juli 2012) ihre Besorgnis darüber bekundet, dass die Angriffe trotz erfolgreicher Bemühungen auf internationaler und europäischer Ebene weitergehen. Sie haben die Bekämpfung der Piraterie ganz oben auf die Tagesordnung des Ausschusses für den sektoralen sozialen Dialog im Seeverkehr gesetzt. |
4. Besser koordinierte EU-Maßnahmen
4.1 |
Piraterie ist ein komplexes und vielschichtiges Problem, das nur mithilfe eines ganzheitlichen, koordinierten Konzepts mit Maßnahmen zu Wasser und zu Land gelöst werden kann. Die EU ist ganz besonders prädestiniert, ein solches Konzept zu unterbreiten: in diplomatischer, handels- und verkehrspolitischer, militärischer und humanitärer Sicht genießt sie als Interessenträger in der Region großes Ansehen. |
4.2 |
Die Seeleute zahlen immer noch einen hohen Preis. Sämtliche Bemühungen sollten auf die Abwendung von Gefahren für ihre physische, seelische und psychische Unversehrtheit gerichtet werden. Die Internationale Schifffahrtskammer (ICS) hat für die Reedereien einen Leitfaden mit bewährten Verfahren zur Unterstützung betroffener Seeleute und ihrer Familien zusammengestellt. |
4.3 |
Da die tieferen Ursachen der Piraterie eine langfristige Lösung an Land erfordern, ist der Kapazitätsaufbau in Somalia von entscheidender Bedeutung, um der Straffreiheit ein Ende zu setzen und die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen. Die EU-Flaggenstaaten müssen sich stärker engagieren, um eine bessere Koordinierung der Flottenverbände und die Verfolgung der Piraten zu gewährleisten. |
4.4 |
Seit dem Wiederaufflammen der Piraterie im Jahr 2007 ist nun der politische Wille gefordert, sie ganz oben auf die politische Tagesordnung der EU zu setzen und mehr Mittel für mehr Militärflugzeuge und Militärschiffe bereitzustellen. Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) und die Europäische Kommission sollten gemeinsam mit dem Europäischen Rat die Zuständigkeitsbereiche für Maßnahmen zur Pirateriebekämpfung und zum Kapazitätsaufbau in Somalia festlegen. Die Weltbank, Interpol und Europol können bei der Aufspürung von Lösegeldern helfen. |
4.5 |
Die Rechtsvorschriften der EU-Mitgliedstaaten zur Pirateriebekämpfung müssen aktualisiert werden:
|
Brüssel, den 16. Januar 2013
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) Siehe EWSA-Stellungnahme „Eine integrierte Meerespolitik für die Europäische Union“, ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 31.
EWSA-Stellungnahme „Strategische Ziele und Empfehlungen für die Seeverkehrspolitik der EU bis 2018“, ABl. C 255, 22.9.2010, S. 103.
EWSA-Stellungnahme „Auf dem Weg zur Integration der Meeresüberwachung: Ein gemeinsamer Informationsraum für den maritimen Bereich der EU“, ABl. C 44, 11.2.2011, S. 173.
EWSA-Stellungnahme „Partnerschaft Europäische Union – Afrika — Afrika und Europa verbinden: Schritte zum Ausbau der Zusammenarbeit im Verkehrsbereich“, ABl. C 18, 19.1.2011, S. 69.
EWSA-Stellungnahme „Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten“, ABl. C 43, 15.2.2012, S. 69.
EWSA-Stellungnahme „Seearbeitsübereinkommen/Verantwortlichkeiten der Flaggen- und der Hafenstaaten“, ABl. C 299, 4.10.2012, S. 153.
14.3.2013 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 76/20 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Schaffung eines europäischen Soziallabels (Sondierungsstellungnahme)
2013/C 76/04
Berichterstatterin: Ariane RODERT
Das Europäische Parlament beschloss am 3. Juli 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um eine Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:
Schaffung eines europäischen Soziallabels.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 20. Dezember 2012 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 486. Plenartagung vom 16./17. Januar 2013 (Sitzung vom 16. Januar) mit 128 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss nimmt gern die Gelegenheit wahr, sich zu dem Vorschlag des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments für ein 2013 anlaufendes Pilotprojekt für ein europäisches Soziallabel zu äußern. Seit das Ersuchen um Stellungnahme beim EWSA einging, hat sich die Situation allerdings geändert, da der Text des Haushaltsausschusses des Europäischen Parlaments vom 4. Oktober 2012 ohne jeglichen Verweis auf dieses Pilotprojekt angenommen wurde. |
1.2 |
Grundsätzlich unterstützt der EWSA das Vorhaben, die soziale Dimension in Europa zu stärken und die Übernahme sozialer Verantwortung durch Unternehmen (Corporate Social Responsibility, CSR) zu würdigen und die Unternehmen dazu zu ermuntern. Dem Ausschuss kommt es allerdings sehr auf die Feststellung an, dass soziale Rechte keineswegs durch die Übernahme sozialer Verantwortung durch Unternehmen ersetzt werden dürfen, denn erstere sind durch rechtliche oder internationale Instrumente garantiert, bei denen der soziale Dialog ein zentrales Element ist. |
1.3 |
Als erster Schritt sind daher Mehrwert, Zeitpunkt und Ausrichtung dieses Vorschlags besser herauszuarbeiten und mit dessen politischen Zielen in Beziehung zu setzen. Diese Ziele sind wichtig, ließen sich jedoch unter den gegebenen Umständen durch eine stärkere und besser durchgesetzte Gesetzgebung im Sozialbereich wirksamer erreichen. |
1.4 |
Außerdem möchte der EWSA darauf hinweisen, dass der Ansatz zwar wichtig ist, jedoch gefragt werden muss, ob ein europäisches Soziallabel in der derzeitigen Krise mit hoher Arbeitslosigkeit und einer zunehmenden Zahl von Firmenpleiten nicht doch zu kompliziert wäre. Ein Soziallabel kann nur den freiwilligen Teil von sozialen unternehmerischen Aktivitäten abbilden – dieser ist jedoch auf Grund der unterschiedlichen Gesetzeslage von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden, da die europäische Gesetzgebung nur Mindeststandards vorgibt. Möglicherweise wäre die Einführung weiterer Maßnahmen für Unternehmen ein Fehlgriff, denn es besteht die Gefahr, dadurch zum jetzigen Zeitpunkt die Kluft zwischen unterschiedlich großen Unternehmen und Mitgliedstaaten in Europa zu vertiefen statt ihren Zusammenhalt zu stärken. |
1.5 |
Um Verwirrung zu vermeiden, muss auch berücksichtigt werden, welche parallelen Initiativen im Gang sind, wie zum Beispiel Soziallabels im Bereich soziales Unternehmertum (Thema der „Initiative für soziales Unternehmertum“). Diesbezüglich empfiehlt der EWSA eine abwartende Haltung, bis die Bestandsaufnahme der Kommission über Soziallabels im Bereich soziales Unternehmertum vorliegt. Auch andere überlappende Initiativen, wie zum Beispiel die neuen CSR-Auszeichnungen, die Berücksichtigung sozialer Belange bei der öffentlichen Auftragsvergabe usw. sollten in diesem Vorschlag berücksichtigt werden. |
1.6 |
Weiterhin hält es der EWSA für erforderlich, stärkere Beweise für die Glaubwürdigkeit, Legitimität und Machbarkeit eines freiwilligen Soziallabels zu liefern. Damit einem neuen Label auf europäischer Ebene Vertrauen entgegengebracht wird und es Bekanntheit entwickeln kann, ist ein umfassendes Akkreditierungs- und Kontrollsystem erforderlich, das gegen den relativen Nutzen eines zusätzlichen Labels abzuwägen ist. In diesem Zusammenhang empfiehlt der EWSA, vor der Erwägung der Einführung eines neuen europäischen Soziallabels eine umfassende Bestandsaufnahme aller in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Kennzeichnungssysteme durchzuführen, bewährte Verfahren zu ermitteln und aus nicht so erfolgreichen Versuchen zu lernen. Der EWSA empfiehlt daher stattdessen, bestehende Kennzeichnungssysteme zu verbessern und um die soziale Verantwortung zu erweitern (sofern diese noch nicht berücksichtigt wird). |
1.7 |
Weiterhin sollte der Kenntnisstand über bereits bestehende Systeme und Unternehmen, die diese Systeme verwenden, verbessert und andere Unternehmen zu ihrer Anwendung ermuntert werden, anstatt ein weiteres System einzuführen, an das sich Verbraucher und Unternehmen erst noch gewöhnen müssten. Daneben sollte zumindest mittelfristig eine europäische Kommunikationsmaßnahme über europäische Labels ins Auge gefasst werden, um die Verbraucher und Bürger zu sensibilisieren. |
1.8 |
Sollte jedoch irgendwann ein Label eingeführt werden, so sollte ein europäisches Soziallabel nicht allzu stark von weltweit anerkannten Standardisierungen abweichen, um Verzerrungen zu vermeiden. Daneben sollte es jedoch auch einen typisch europäischen Zug tragen: die Wahrung der sozialen Rechte. |
2. Einleitung
2.1 |
Der Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments hat vorgeschlagen, 2013 ein Pilotprojekt für ein europäisches Soziallabel einzuführen. Der Text des Haushaltsausschusses des Europäischen Parlaments zu Pilotprojekten im Jahr 2013 wurde jedoch im Oktober ohne jeglichen Verweis auf diesen Vorschlag angenommen (1). Ausgehend von der veränderten Sachlage wird es in dieser Stellungnahme in erster Linie darum gehen, Anregungen für das vorgeschlagene Pilotprojekt zu geben. |
2.2 |
Grundgedanke des Vorschlags ist, einen Beitrag zu einem sozialeren Europa zu leisten, in dem die im sozialen und arbeitsrechtlichen Bereich vorhandenen Mindeststandards wirksamer durchgesetzt werden. Bezweckt wird die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Unterstützung der Jugendbeschäftigung und die Bekämpfung von Armut durch die Einführung eines progressiven Systems für die Auszeichnung mit einem „europäischen Soziallabel“. |
2.3 |
Im Ersuchen des Europäischen Parlaments an den EWSA wird speziell nach Folgendem gefragt: dem Einfluss und dem Wert des Labels in verschiedenen Politikbereichen; welche Arten von Unternehmen auf freiwilliger Basis interessiert sein könnten; nach den Möglichkeiten für die Schaffung eines progressiven Labels; welche Kriterien für das Label zu erfüllen sind und welche Maßnahmen zur Bekanntmachung nötig wären. |
2.4 |
Dem Vorschlag des Ausschusses für Beschäftigung zufolge soll das Soziallabel freiwillig und kostenlos sein. Es richtet sich an alle Unternehmen in der EU, insbesondere an kleine und mittlere Unternehmen (KMU) (2) und Kleinstunternehmen (3). Bezweckt wird die Schaffung eines Europas mit größerer sozialer Verantwortung, indem in allen Unternehmen in der EU ein hoher sozialer Standard sichergestellt wird. Mit dem Vorschlag werden ferner eine Harmonisierung vorhandener Kennzeichnungssysteme sowie das Herausstellen von Verbesserungspotenzial über eine Bewertungsskala angestrebt. Über eine Liste mit verschiedenen sozialen Kriterien soll die interne soziale Verantwortung des Unternehmens anhand unterschiedlicher Stufen des Soziallabels bewertet werden. |
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1 |
Der EWSA hält den Ansatz der Stärkung der sozialen Dimension und der sozialen Werte in Europa für wichtig. Jedoch müssen der Mehrwert, der Zeitpunkt und die Zielrichtung dieses Vorschlags erwogen und bereits laufende Initiativen in benachbarten Bereichen berücksichtigt werden. Daher sind aus Sicht des EWSA deutlichere Argumente dafür nötig, welchen Mehrwert eine solche Initiative bringt, wem sie nutzt und was sie zur Gemeinschaftsrechtsetzung beizutragen vermag. |
3.2 |
Der EWSA hat zuletzt in seiner Stellungnahme zu der „Sozialen Verantwortung der Unternehmen (CSR)“ (4) darauf hingewiesen, dass die CSR ein mit der nachhaltigen Entwicklung verknüpftes Konzept ist. In dieser Stellungnahme betonte der EWSA die Notwendigkeit, zwischen „social responsibility“ („soziale Verantwortung“, nur am Arbeitsplatz) und „societal responsibility“ („gesellschaftliche Verantwortung“, außerhalb des Arbeitsplatzes) zu unterscheiden. |
3.3 |
Da der Vorschlag des EP-Beschäftigungsausschusses für ein Soziallabel nach dieser Definition die „soziale Verantwortung“ betrifft und auf alle Unternehmen in der EU abzielt, sollte auch die laufende Arbeit der Kommission an einer EU-Strategie für die soziale Verantwortung der Unternehmen aus dem Jahr 2011 (5) berücksichtigt werden, die sich bereits mit verwandten Aspekten beschäftigt. |
3.4 |
Wie der EWSA bereits hervorgehoben hat, ist es wichtig zu betonen, dass die CSR auf keinen Fall an die Stelle sozialer Rechte treten darf, die durch Gesetzesakte oder internationale Übereinkommen garantiert sind, für die vornehmlich die Staaten und Regierungen verantwortlich sind. Viele Unternehmen übernehmen indes freiwillig mehr Verantwortung, und daher ist zu unterstreichen, dass die Übernahme stärkerer sozialer Verantwortung über die gesetzlich vorgeschriebene Verantwortung hinaus gewürdigt und ermuntert werden sollte. Der EWSA vertritt die Ansicht, dass jedes Unternehmen seinen eigenen Ansatz zur Wahrnehmung sozialer Verantwortung finden muss. Ein Soziallabel birgt die Gefahr in sich, dass nicht mehr die soziale Innovation im Vordergrund steht, sondern das Streben nach Zertifizierung. |
3.5 |
Die Idee eines Soziallabels kam bereits früher im Zusammenhang mit der Arbeit der Kommission in Sachen soziales Unternehmertum auf, und der EWSA hat sich in mehreren Stellungnahmen mit der Thematik beschäftigt (6). Bereits in der Mitteilung „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte“ (7) wird ein Ethiklabel im Zusammenhang mit sozialen Unternehmen und sozialem Unternehmertum genannt. An diese Initiative wurde in Form einer Leitinitiative in der Kommissionsmitteilung „Initiative für soziales Unternehmertum“ (8) angeknüpft, um die Möglichkeiten sozialer Unternehmen zu verbessern, unter den gleichen Bedingungen wie andere Unternehmen zu arbeiten, sich dem Wettbewerb zu stellen und zu wachsen. Ein in dieser Initiative enthaltener Vorschlag war die Schaffung einer öffentlichen Kennzeichnungs- und Zertifizierungsdatenbank, um bei den Akteuren Vertrauen zu schaffen und unterschiedliche Arten der Kennzeichnung sozialer Unternehmen in der EU vergleichen zu können. Die Kommission plant außerdem für die nahe Zukunft die Durchführung einer Studie zur Bestandsaufnahme bezüglich des sozialen Unternehmertums, mit der u.a. festgestellt werden soll, ob und welche Soziallabel es für soziale Unternehmen gibt; ferner sollen andere spezifische Merkmale, Regeln und Modelle dieser speziellen Unternehmensform ermittelt werden. |
3.6 |
Der EWSA vertritt daher die Auffassung, dass die anstehende Bestandsaufnahme sozialer Unternehmen, auf die in der Initiative für soziales Unternehmertum verwiesen wird, im Vorfeld und losgelöst von der Ausarbeitung einer umfassenderen Definition eines Soziallabels für Unternehmen durchgeführt werden muss. Nach Dafürhalten des EWSA sollte diese begonnene Arbeit abgeschlossen werden, ehe eine umfassendere Kennzeichnung in Erwägung gezogen wird, da die Bestandsaufnahme bestehender Kennzeichnungen sozialen Unternehmertums wertvolle Fingerzeige hinsichtlich der Möglichkeiten und des Nutzen eines umfassenderen Labels geben könnte. Weiterhin sollte anderen, ähnlichen Initiativen, wie beispielsweise der stärkeren Berücksichtigung sozialer Belange bei der Auftragsvergabe, den neuen CSR-Auszeichnungen und Plattformen aus dem Bereich der Kennzeichnung von sozialen Unternehmen die Zeit gegeben werden, Wirkung zu entfalten, bevor neue Initiativen in Gang gesetzt werden. |
3.7 |
Der EWSA unterstreicht, dass zwischen dem Vorschlag des EP-Ausschusses für Beschäftigung (der auf die soziale Verantwortung der Unternehmen ausgerichtet ist) und der Initiative für soziales Unternehmertum deutlich zu unterscheiden ist. Da nicht dieselben Ziele verfolgt werden, müssen sie auch unterschiedlich behandelt werden. Daher fordert der EWSA den EP-Ausschuss für Beschäftigung dazu auf, in seinem Vorschlag ggf. einen anderen Begriff zu verwenden, um eine weitere Begriffsverwirrung zu vermeiden. Dies wird auch dadurch untermauert, dass es im Bereich des sozialen Unternehmertums bereits zertifizierte Akteure gibt, die mit diesem Begriff soziales unternehmerisches Handeln kennzeichnen; ein Beispiel hierfür ist die „Social Enterprise Mark“ (9). |
4. Besondere Bemerkungen zu den Fragen des Ausschusses für Beschäftigung
4.1 |
Mit dem Vorschlag für ein Pilotprojekt für ein Soziallabel wird das Ziel verfolgt, Unternehmen dazu zu bringen, über ihre gesetzliche Verantwortung hinaus mehr soziale Verantwortung zu übernehmen. Obgleich dieser Ansatz äußerst wichtig ist, stellt sich dennoch die Frage, ob ein einschlägiges europäisches Soziallabel im Verhältnis zu seinem relativen Mehrwert und der derzeitigen Wirtschaftlage nicht zu kompliziert wäre. Die politischen Ziele hinter diesem Vorschlag sind die Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie die Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit und Armut. Alle diese Bereiche sind Prioritäten für Europa, jedoch ist der EWSA der Auffassung, dass zwischen ihnen und einem freiwilligen Soziallabel eine zu schwache und daher kaum wirksame Verbindung besteht. Hingegen werden nach Ansicht des EWSA diese Ziele wirksamer durch eine stärkere und besser durchgesetzte Gesetzgebung in diesem Bereich sowie durch eine überarbeitete und gestärkte Methode der offenen Koordinierung im Sozialbereich erreicht. |
4.2 |
Der EWSA hält ferner den Hinweis für angebracht, dass Vorschläge in diesem Bereich starke und wettbewerbsfähige Unternehmen, die Wirtschaftswachstum generieren und dadurch tragfähige Voraussetzungen für bessere soziale Bedingungen schaffen, voraussetzen. |
4.3 |
Im Vorschlag ist ein stufenweises und progressives „Bewertungssystem“ vorgesehen, das eine Einstufung je nach Erfüllung verschiedener sozialer Kriterien vornimmt, so etwa eine gerechte Entlohnung, soziale Sicherheit, Gesundheitsversorgung, Gleichstellung von Frauen und Männern, Kinderbetreuung, Telearbeit usw. Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise und der großen Probleme einiger Mitgliedstaaten befürchtet der EWSA, dass dieses gestufte Bewertungssystem momentan die Gefahr bergen könnte, die Kluft zwischen unterschiedlich großen Unternehmen und Mitgliedstaaten in Europa zu vertiefen, statt ihren Zusammenhalt zu stärken. Ein progressives „Bewertungssystem“ ist ungeeignet, wenn es nur multinationalen Großunternehmen, nicht jedoch auch KMU und Kleinstunternehmen gerecht wird. |
4.4 |
Außerdem ist ein Label nur dann nützlich, wenn es bekannt und anerkannt ist. Auf zertifizierte KMU und Kleinstunternehmen und ihr Engagement sollte daher in Kommunikationskampagnen aufmerksam gemacht werden. Was als sozialer Fortschritt angesehen wird, muss daher unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität in dem Bereich wie auch unter dem Gesichtspunkt unterschiedlicher Traditionen und Modelle der nationalen Wohlfahrts- und sozialen Sicherheitssysteme eingehend erörtert werden. Dieser Dialog muss mit den Sozialpartnern und anderen Akteuren, wie etwa Verbraucherverbänden, auf EU-Ebene und auf der nationalen Ebene geführt werden. |
4.5 |
Im Rahmen der Bemühungen der EU, die Gründung und Führung von Unternehmen zu erleichtern, wurden zahlreiche vereinfachende und wachstumsfördernde Maßnahmen durchgeführt, um die soziale Verantwortung der Unternehmen, die sozialen Rechte der Arbeitnehmer, die Wachstumsmöglichkeiten der Unternehmen und ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht zu schwächen. Auch wenn im Bereich der Rechte noch viel zu tun ist, bezweifelt der EWSA, dass die Übernahme sozialer Verantwortung durch ein freiwilliges System wirkungsvoll verbessert werden kann. Außerdem macht der EWSA darauf aufmerksam, dass eine Kennzeichnung selbst dann, wenn sie kostenlos ist, Ressourcen beansprucht, die die in Krisenzeiten bereits unter Druck stehenden Unternehmen besser auf andere Weise verwenden könnten. |
4.6 |
Im Bemühen um die Verbesserung der sozialen Verantwortung muss auch bewertet werden, bis in wie viele Ebenen ein Unternehmen für soziale Rechte verantwortlich ist, z.B. in seiner Zusammenarbeit mit Lieferanten aus Drittstaaten. Ohne Deutlichkeit in Bezug auf diese Verantwortung wird kein Vertrauen in das Label erzeugt. Diesbezüglich ist eventuell auch der Einfluss auf Handel und Importeure zu beachten. |
4.7 |
Auch die Legitimität eines eventuell standardisierten Labels sollte hinterfragt werden. Frühere Erfahrungen zeigen meist, dass von oben vorgegebene bzw. stärker regulative Initiativen dieser Art selten Durchschlagskraft bei der Verbraucherbewegung oder anderen Akteuren haben, was aber eine Voraussetzung ist, wenn das Label irgendeine Wirkung haben soll. Diesbezüglich ist Fair Trade (10) ein gutes Beispiel dafür, wie der Verbrauchersektor selbst die Initiative für eine Kennzeichnung ergriffen hat, was auch hier als Richtschnur dienen könnte. Auch die Beispiele für Kennzeichnungssysteme, die nicht rundum gut funktioniert haben, sollten näher untersucht werden (11). |
4.8 |
Es ist wichtig, Vertrauen in ein neues Label zu schaffen. Aus Verbrauchersicht sind die heutigen Kennzeichnungssysteme bereits verwirrend, viele sind schwer durchschaubar und es ist unmöglich, informiert zu bleiben. Die Schaffung eines weiteren neuen Systems und die Erwartung an die Verbraucher, informierte Entscheidungen zu treffen, können als überhöht empfunden werden. Statt eines neuen Soziallabels könnte erwogen werden, bestehende Kennzeichnungssysteme um die soziale Verantwortung zu erweitern (sofern diese noch nicht berücksichtigt wird). Gleiches gilt für die Möglichkeit des Labels, das Vertrauen von Investoren zu steigern. Z.B. durch Initiativen im Bereich sozialer Investitionen stellt die Kommission Leitlinien für eine bessere Berichterstattung über soziale Leistungen in der Unternehmenstätigkeit auf – eine Zielsetzung, auf die der EWSA als zentrales Element in den Bemühungen um Investitionen in soziales Unternehmertum hingewiesen hat (12), was auch bei dieser Initiative beachtet werden sollte. |
4.9 |
Ferner sollte die Problematik der Schaffung eines komplexen Systems auf europäischer Ebene bedacht werden, insbesondere was den sozialen, technischen und praktischen Bereich betrifft. Es gibt bereits verschiedene Zertifizierungssysteme für eine soziale Kennzeichnung in unterschiedlicher Hinsicht, wobei die meisten von ihnen die Sichtbarkeit sozialer Fragen und die Voraussetzungen für sie in Unternehmen gestärkt haben (13). Im Zusammenhang mit dem Vorschlag des EP-Ausschusses für Beschäftigung sollte vor allem die ISO 26000 (14) beachtet werden, da diese Norm die allermeisten Kriterien des Vorschlags abdeckt und viele Unternehmen bereits nach dieser Norm zertifiziert sind. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere, bereits etablierte internationale Normen (15). Bei dem Pilotprojekt sollte daher der Nutzen eines weiteren Kennzeichnungssystems abgeschätzt bzw. ermittelt werden, ob es u.U. besser wäre, den Kenntnisstand über bereits bestehende Systeme zu erweitern und Unternehmen zu ihrer Anwendung zu ermuntern und sie z.B. durch Optimierungsindikatoren zu stärken. |
4.10 |
Ein europäisches Soziallabel sollte nicht allzu stark von weltweit anerkannten Standardisierungen abweichen, um Verzerrungen zu vermeiden. Daneben sollte es jedoch auch einen typisch europäischen Zug tragen: die Wahrung der sozialen Rechte. |
4.11 |
Viele der Kriterien, die als Grundlage für das Soziallabel vorgeschlagen werden, werden vom sozialen Dialog, dem Verhandlungsbereich, in dem die Sozialpartner beschließen, oder von geltenden nationalen Rechtsvorschriften umfasst. Das bedeutet, dass eine Graduierung dieser Kriterien nicht zweckmäßig wäre. Der EWSA möchte ferner darauf hinweisen, dass im Rahmen des sozialen Dialogs auch bewährte Verfahren gefördert und Leitlinien für den Bereich aufgestellt wurden, da verantwortliches Unternehmertum zum sozialen Dialog beiträgt und diesen ergänzt. |
4.12 |
Die Aufstellung einer Liste sozialer Kriterien, die für alle Arten von Unternehmen, nationalen Gegebenheiten und Voraussetzungen geeignet sind, ist eine recht komplexe Aufgabe. Derzeit gibt es eine Fülle nationaler Systeme und Traditionen in Bezug auf viele dieser Sozialleistungen über die gemeinsamen Rechtsvorschriften hinaus, z.B. die Formen für Kinderbetreuung, Elternurlaub, Gesundheitsversorgung, Mindestlöhne usw. Bei dem Pilotprojekt sollten daher die Subsidiarität bzw. die vorgeschlagenen Kriterien berücksichtigt werden, um die Anwendbarkeit des Labels zu bewerten. |
4.13 |
Für die Schaffung von Vertrauen in das Label müssen nicht nur Unternehmen, Investoren und Verbraucher sensibilisiert werden, sondern es ist auch ein funktionierendes System für die Überwachung erforderlich. Eine Kennzeichnung ist nur eine Momentaufnahme, die wiedergibt, wie gut ein Unternehmen die Kriterien zum Zeitpunkt der Antragstellung erfüllt. Ohne eine unabhängige Instanz für die Zertifizierung, Überwachung und Fristen für das Label werden weder das Vertrauen noch die sozialen Fortschritte erreicht, die mit dem Label angestrebt werden. Dabei sind die Gefahr von Missbrauch bzw. von Unregelmäßigkeiten sowie die Verfahren für den Ausschluss von Unternehmen zu berücksichtigen. Eine geeignete Kontrolle erfordert Ressourcen und einen Verwaltungsapparat. Daher sind die Kosten des erwarteten sozialen Mehrwerts gegen einen höheren bürokratischen Aufwand und Komplexität abzuwägen. |
4.14 |
Für den EWSA stellt sich die Frage der Angemessenheit eines neuen Labels, das alle Branchen und Mitgliedstaaten Europas umfassen soll. Verschiedene Unternehmen haben sehr unterschiedliche Möglichkeiten, die vorgeschlagenen Ziele zu erreichen, weshalb eine Beurteilungsinstanz unmöglich allen gerecht werden könnte. Der Ausschuss plädiert daher dafür, eher ein Teilgebiet eines umfassenderen CSR-Konzepts auszugestalten, bei dem verschiedene Tätigkeiten und Prozesse statt das Unternehmen als solches Gegenstand eines Labels sind. |
4.15 |
Der EWSA weist deswegen darauf hin, dass, falls es irgendwann zu einem Pilotprojekt in diesem Bereich kommt, die Zielgruppe des Labels an dessen Gestaltung beteiligt werden sollte. Eine Untersuchung wäre sinnvoll, um die entscheidenden Faktoren für das Soziallabel abzuklären, wie etwa die Überwachung, die Gültigkeitsdauer, den Entzug des Labels, Bewertungsintervalle sowie Optimierungsindikatoren usw. Außerdem sollte mit einem etwaigen Pilotprojekt die Beurteilung der Machbarkeit und Anwendbarkeit eines europäischen Soziallabels angestrebt werden, um so die erwünschten Ergebnisse zu erzielen. |
Brüssel, den 16. Januar 2013
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) Haushaltsausschuss des Europäischen Parlaments, 4. Oktober 2012.
(2) Im Englischen ist die Abkürzung SME (Small and Medium Enterprises) gebräuchlich.
(3) Im Englischen ist die Abkürzung VSE (Very Small Enterprises) gebräuchlich.
(4) (ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 77-84).
(5) COM(2011) 681 final.
(6) ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 1-6 und ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 44-48.
(7) COM(2010) 608 final.
(8) COM(2011) 682 final.
(9) http://www.socialenterprisemark.org.uk
(10) http://www.fairtrade.net
(11) Beispielsweise das belgische Soziallabel, das französische Sozial- und Öko-Label.
(12) ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 55-59.
(13) Z.B. Global Compact, EMAS, Business Social Compliance Initiative, Global Reporting.
(14) http://www.iso.org/iso/home/standards/iso26000.htm
(15) OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, Trilaterale Grundsatzerklärung der ILO, Initiative „Global Compact“ der Vereinten Nationen.
III Vorbereitende Rechtsakte
EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS
486. Plenartagung am 16. und 17. Januar 2013
14.3.2013 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 76/24 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Binnenmarktakte II — Gemeinsam für neues Wachstum“
COM(2012) 573 final
2013/C 76/05
Berichterstatter: Martin SIECKER
Mitberichterstatter: Benedicte FEDERSPIEL, Ivan VOLEŠ
Die Europäische Kommission beschloss am 19. Dezember 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Binnenmarktakte II – Gemeinsam für neues Wachstum
COM(2012) 573 final.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Januar 2013 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 486. Plenartagung am 16./17. Januar 2013 (Sitzung vom 16. Januar) mit 162 gegen 24 Stimmen bei 18 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 |
Der Ausschuss bekräftigt seinen Standpunkt (1), dass der Binnenmarkt ein Kernstück des europäischen Integrationsprozesses ist und den europäischen Interessenträgern unmittelbar spürbaren Nutzen und den europäischen Volkswirtschaften nachhaltiges Wachstum bringen kann. In der derzeitigen Wirtschaftskrise ist ein gut funktionierender und zukunftsorientierter Binnenmarkt nicht nur erstrebenswert, sondern ein entscheidender Faktor für die politische und wirtschaftliche Zukunft der Europäischen Union. |
1.2 |
Angesichts der herrschenden Wirtschaftskrise und unter anderem der Auswirkungen der Deregulierung der Finanzmärkte auf die nationalen Haushalte der Mitgliedstaaten, die Realwirtschaft, die Armut und die Beschäftigung in der EU scheint der optimistische Ton, den die Kommission in ihrer Mitteilung zur Verwirklichung des Binnenmarkts (2) anschlägt, fehl am Platze. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission den unbeabsichtigten negativen Nebenwirkungen des Binnenmarkts bisher zu wenig Beachtung geschenkt hat. Erklärt man die Maßnahmen verfrüht, zu ausdrücklich und demonstrativ für erfolgreich, so kann dies nur zu Enttäuschung bei den Unionsbürgern führen. Dies könnte zu einer weiteren Aushöhlung des Binnenmarkts anstatt zu neuer Dynamik führen. Die Kommission sollte hier realistischer vorgehen und ihre Mitteilung ausgewogen formulieren. |
1.3 |
Die Verbesserung des Funktionierens des Binnenmarkts mittels alter und neuer Leitlinien wird durch den massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 28 Millionen bedroht, von dem insbesondere die jungen Menschen in der EU betroffen sind. Hunderttausende KMU sind in Konkurs gegangen und 120 Mio. Bürger – d.h. ungefähr 25% der EU-Bevölkerung – sind von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Nachfrage und Verbrauch in der EU werden dadurch massiv beeinträchtigt. Zusätzlich zu den Leitaktionen müssen die EU und die Mitgliedstaaten ihre Bemühungen zur Überwindung der Finanz-, Wirtschafts- und Haushaltskrise sowie zur Freisetzung des vollen Potenzials des Binnenmarkts intensivieren. |
1.4 |
Der EWSA fordert das Parlament, die Kommission und den Rat auf, rasch zu handeln, ohne dass die Qualität darunter leidet, damit diese Legislativvorschläge noch vor dem Ende der Mandatsperiode des Parlaments und der Kommission im Frühjahr 2014 angenommen werden. Er würde eine rasche Umsetzung der Maßnahmen begrüßen, die in der Mitteilung über Ordnungspolitik im Binnenmarkt zur Verbesserung der Umsetzung der Unionsvorschriften generell vorgeschlagen werden. |
2. Allgemeine Bemerkungen zum Thema „Für eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“
2.1 |
Die Kommission hat die zweite Phase der Binnenmarktakte mittels zwölf neuer Leitaktionen definiert, die dem besseren Funktionieren des Binnenmarkts dienen sollen. Der EWSA begrüßt, dass er vor Veröffentlichung der Mitteilung konsultiert wurde und dass die Kommission einige seiner Empfehlungen in die Binnenmarktakte II übernommen hat. Er bedauert jedoch, dass dieses Mal keine öffentliche Konsultation stattgefunden hat und dass die maßgeblichen Interessenträger bei der informellen Konsultation nicht ausgewogen vertreten waren. |
2.2 |
Der Binnenmarkt leistet zwar seit seiner Errichtung einen positiven Beitrag zum Wirtschaftswachstum und zur Schaffung von Arbeitsplätzen, hat jedoch noch nicht sein volles Potenzial für alle Beteiligten – Unternehmen, Arbeitnehmer, Verbraucher, Bürger und andere – ausgeschöpft. Die Kommission erwähnt die Schaffung von 2,77 Mio. neuen Arbeitsplätzen, geht jedoch mit keinem Wort darauf ein, dass es sich dabei zum Teil um prekäre Beschäftigungsverhältnisse handelt (3). Dies ist seit dem Frühjahr 2008 bekannt, als die Folgen der Wirtschaftskrise in ganz Europa spürbar wurden und etwa zehn Mio. Arbeitsplätze verlorengingen, und die Talsohle ist offenbar noch gar nicht erreicht (4). |
2.3 |
Obwohl die Kommission die Leitprinzipien benennt, welche dieser Auswahl zugrunde liegen (Agenda für eine bessere Rechtsetzung, Kosten eines Europas ohne EU usw.), ist man sich nicht immer bei allen EU-Institutionen der Dringlichkeit dieser Maßnahmen bewusst. In Bezug auf die Arbeitskräftemobilität beispielsweise kündigt die Kommission eine Initiative für das EURES-Portal an, während gleichzeitig andere grundlegende Maßnahmen in diesem Bereich noch im Rat anhängig sind. |
2.4 |
Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission den unbeabsichtigten negativen Nebenwirkungen des Binnenmarkts bisher zu wenig Beachtung geschenkt hat. Die Regulierung der Finanzmärkte in der EU war zu inkonsequent, um die mangelhafte Aufsicht abzustellen und eine Art des Unternehmertums zu unterbinden, dem es nur um kurzfristige Interessen einer privilegierten Gruppe von Anlegern geht. Der Verbesserung der Unternehmensführung und -kontrolle muss mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Verbesserung von Transparenz und Kontrolle sollte oberste Priorität haben, damit gewährleistet ist, dass der Binnenmarkt zur Entwicklung rechtlicher Rahmenbedingungen beiträgt, die den legitimen Interessen aller Beteiligten gerecht werden. |
2.5 |
Frappierend ist die Überzeugung, mit der die Kommission behauptet, dass diese zwölf neuen Hebel zur Förderung von Wachstum, Beschäftigung und Vertrauen in den Binnenmarkt beitragen werden. Nach Auffassung des Ausschusses zeigt die Geschichte der Einführung des Binnenmarkts, dass einige der ergriffenen Maßnahmen kurzfristig erhebliche Wirkung zeigen. Erklärt man die Maßnahmen verfrüht, zu ausdrücklich und demonstrativ für erfolgreich, so kann dies nur zu Enttäuschung bei den Unionsbürgern führen. Dies könnte zu einer weiteren Aushöhlung des Binnenmarkts anstatt zu neuer Dynamik führen (5). Die Kommission sollte hier realistischer vorgehen und ihre Mitteilung ausgewogen formulieren. |
2.6 |
In den Binnenmarktakten I und II wird leider nicht unterstrichen, wie wichtig es ist, für Vertrauen in die Durchsetzung der Rechte zu sorgen. Der EWSA wartet nach wie vor darauf, dass endlich ein wirksames Verfahren zur gerichtlichen Durchsetzung kollektiver Rechtsansprüche für europäische Verbraucher geschaffen wird. Die Liberalisierung der Märkte und die Förderung des Wettbewerbs sind zwar wichtige Ziele der Binnenmarktpolitik und spielen eine bedeutende Rolle, damit die Verbraucher frei wählen können, doch brauchen diese auch verlässliche Rahmenbedingungen mit Schutzrechten für den Erwerb von Gütern und die Inanspruchnahme von Dienstleistungen sowie bei der wirksamen Durchsetzung dieser Rechte. Da aus verschiedenen Untersuchungen hervorgeht, dass die Umsetzung diverser EU-Instrumente stockt und dass es nach wie vor an der Durchsetzung mangelt, vor allem in grenzübergreifenden Fällen, sollte die Kommission dringend neue verbindliche Maßnahmen zur Durchsetzung vorschlagen. |
2.7 |
Bedauerlicherweise wird nur eine der zwölf Initiativen als Maßnahme für Verbraucher bezeichnet, obwohl verschiedene Hebel erhebliche Auswirkungen auf das tägliche Leben der europäischen Verbraucher haben (6). Wir hoffen, dass dies nicht Ausdruck der allgemeinen Vorstellung der Kommission von Verbraucherpolitik ist. Damit ein Binnenmarkt im Dienste aller errichtet werden kann, ist es wichtig, dass der Fokus nicht zu eng gefasst wird und dass die Verbraucher nicht als Anhängsel der Unternehmenspolitik betrachtet werden, sondern als unabhängige Akteure. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Berichte Monti und Grech. Der EWSA stimmt mit der Kommission überein, dass der Binnenmarkt sowohl nach den 50 Vorschlägen als auch nach den ersten zwölf Hebeln immer noch ungenutztes Potenzial birgt. Aus Sicht der Verbraucher hätte die Kommission jedoch verstärkt verbraucherfreundlichen Initiativen Vorrang geben können und sollen, wie bereits in einer früheren Stellungnahme des EWSA betont wird (7). |
2.8 |
Befremdlich an dieser Mitteilung ist für den EWSA auch das fehlende Bewusstsein für die Sozialpartnerschaft. Das Vertrauen kann nicht wiederhergestellt werden, wenn die Einbeziehung der Sozialpartner in die Politik der EU auf den Zuständigkeitsbereich der GD Beschäftigung begrenzt bleibt. Auch bei einigen Themen der GD Binnenmarkt ist eine Konsultation der Sozialpartner nötig. |
2.9 |
Der EWSA hat bereits in früheren Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass jedweder Vorschlag für grenzüberschreitende Verbrauchergeschäfte schrittweise umgesetzt werden sollte, wobei mit grenzüberschreitenden gewerblichen Kaufverträgen zwischen Unternehmen (Business-to-business oder B2B) in Form von Pilotprojekten begonnen werden könnte. Bis zur Annahme eines Vorschlags für Verträge zwischen Unternehmen und Verbrauchern (B2C) sollten keine weiteren Initiativen für fakultative Regelungen für grenzüberschreitende gewerbliche Kaufverträge ergriffen werden. |
3. Die ersten zwölf Hebel und die fehlenden Elemente – aktueller Stand
3.1 |
Die Kommission hat bereits elf von zwölf Legislativvorschlägen für die Leitaktionen vorgelegt, und der Ausschuss hat Stellungnahmen zu diesen Vorschlägen verabschiedet (8). Der EWSA fordert das Parlament, die Kommission und den Rat auf, rasch zu handeln, ohne dass die Qualität darunter leidet, damit diese Legislativvorschläge noch vor dem Ende der Mandatsperiode des Parlaments und der Kommission im Frühjahr 2014 angenommen werden. Die Mitgliedstaaten sollten die angenommenen Rechtsvorschriften richtig umsetzen und anwenden, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten, und ungerechtfertigte und diskriminierende Hürden müssen beseitigt werden, damit der Binnenmarkt ordnungsgemäß funktionieren kann. |
3.2 |
Die Rücknahme der Monti-II-Verordnung löst die Probleme nicht, die durch die EuGH-Urteile bezüglich der Entsendung von Arbeitnehmern aufgeworfen wurden. Für die aktuelle Situation, die die Arbeitnehmer daran hindert, ihre Rechte uneingeschränkt wahrzunehmen, muss eine Lösung gefunden werden. Die Kommission sollte dafür sorgen, dass die sozialen Grundrechte nicht durch wirtschaftliche Freiheiten beschnitten werden. Die Kommission sollte einen Vorschlag für ein Protokoll über den sozialen Fortschritt als Anhang zu den europäischen Verträgen erwägen. In diesem Protokoll ist das Verhältnis zwischen den sozialen Grundrechten und den wirtschaftlichen Freiheiten klarzustellen, und zwar indem bestätigt wird, dass der Binnenmarkt kein Selbstzweck ist, sondern geschaffen wurde, um sozialen Fortschritt für alle Unionsbürger herbeizuführen (Umsetzung von Artikel 3 Absatz 3 der konsolidierten Fassung des Vertrags über die Europäische Union). Auch sollte klargestellt werden, dass die wirtschaftlichen Freiheiten und Wettbewerbsregeln nicht über die sozialen Grundrechte und den sozialen Fortschritt gestellt werden dürfen und keinesfalls so verstanden werden dürfen, dass die Unternehmen das Recht haben, nationale sozial- und arbeitsrechtliche Bestimmungen und Verfahren auszuhebeln oder zu umgehen oder einen unlauteren Wettbewerb bei Löhnen und Arbeitsbedingungen durchzusetzen. |
3.3 |
Der EWSA hat eine Reihe von Maßnahmen ermittelt, die in der Binnenmarktakte I fehlen und die seiner Auffassung nach auch zur Schaffung von mehr Vertrauen bei den Bürgern beitragen könnten. Maßnahmen stehen u.a. noch in folgenden Bereichen aus: Überarbeitung der Richtlinie zum Urheberrecht, Urheberrechtsabgaben, Netzneutralität, Protokoll über den sozialen Fortschritt, Kleinst- und Familienunternehmen, Maßnahmen zur Förderung der Gründung neuer bzw. der Expansion bestehender Unternehmen, Überschuldung sowie Überweisungen zwischen Banken, um den einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraums (SEPA) zu konsolidieren. |
4. Die zwölf neuen Hebel
4.1 Verkehr
Der EWSA begrüßt die Maßnahmen zur Verbesserung der Eisenbahn-, See- und Luftverkehrsverbindungen im Binnenmarkt, vermisst jedoch einen ganzheitlichen Ansatz, da der Kommissionsvorschlag keine Maßnahmen für den Schienengüterverkehr, den Straßenverkehr (das größte Segment des Güter- und Personenverkehrs) sowie den multimodalen Verkehr enthält, der eine Möglichkeit darstellt, die Effizienz des Verkehrs zu optimieren.
4.1.1
Die Art und Weise, wie die Privatisierung des Eisenbahnverkehrs definiert und verteidigt wird, wird der Tatsache nicht gerecht, dass in wichtigen Regionen Europas über die rein wirtschaftlichen Faktoren hinaus auch andere Erwägungen zu berücksichtigen sind, damit der öffentliche Verkehr aufrechterhalten werden kann. Wenn als einziges Kriterium die Rentabilität herangezogen wird, kann dies zur Beeinträchtigung der Gemeinwohlaufgaben führen, die die Schienenverkehrssysteme wahrnehmen müssen. Der Erfolg einer Privatisierung darf nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Kostenersparnis bewertet werden. Qualität und Sicherheit des Personals und der Öffentlichkeit sollten bei allen Überlegungen im Vordergrund stehen.
4.1.2
Ein echter Binnenmarkt für die Schifffahrt kann nur durch die Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen mit anderen Verkehrsträgern erreicht werden. Dies bedeutet, dass entscheidende Fortschritte in Richtung einer administrativen Vereinfachung – d.h. Vereinfachung der Zollverfahren – des Schiffsverkehrs innerhalb der EU gemacht werden müssen. EU-Waren sollten anders behandelt werden als Drittlandswaren (insbesondere durch die Verwendung eines elektronischen Frachtbriefs), um den bürokratischen Aufwand zu verringern und die Verantwortung auf die Transportunternehmen zu übertragen. Im Wesentlichen sollte bei Waren, die bei der Einfuhr in die EU kontrolliert werden, keine weitere Kontrolle in einem anderen Bestimmungshafen in der EU mehr erforderlich sein.
Dies würde auch helfen, innerhalb der EU einen Seeverkehrsraum ohne Grenzen sowie die dringend notwendigen Meeresautobahnen – maßgebliche Seeverkehrswege zwischen den EU-Häfen mit Anbindung an andere Verkehrsträger zu schaffen. Der EWSA erarbeitet derzeit eine Stellungnahme zum Thema „Blaues Wachstum“ und wird Anfang 2013 praktische Vorschläge vorlegen.
4.1.3
Der EWSA räumt zwar ein, dass Maßnahmen gegen die aktuelle Fragmentierung des europäischen Luftraums ergriffen werden müssen, bedauert jedoch, dass die Änderung der Verordnung über die Fluggastrechte bezüglich Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen noch nicht vorgelegt wurde. Diese Rechtsvorschrift der EU muss klarer gefasst und aktualisiert werden, was den Anwendungsbereich und die Auslegung bestimmter allgemeiner Bestimmungen angeht. Der EWSA fordert die Kommission ferner auf, einen Legislativvorschlag vorzulegen, nach dem die Fluggesellschaften verpflichtet sind, den Schutz aller Fluggäste bei Insolvenz einer Fluggesellschaft zu gewährleisten und Maßnahmen zu ergreifen gegen die Verbreitung unlauterer Vertragsbedingungen, mangelnde Transparenz bei Ticketpreisen sowie Probleme der Verbraucher bei der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen, indem die Fluggesellschaften verpflichtet werden, sich alternativen Streitbeilegungssystemen sowie den Entscheidungen der nationalen Luftfahrtbehörden zu unterwerfen.
4.2 Energie
In vielen Mitgliedstaaten ist wegen fehlenden Wettbewerbs noch keine Wahl zwischen verschiedenen Energieversorgern möglich. Die Erschwinglichkeit der Dienstleistungen, eine korrekte Bearbeitung von Beschwerden, die Vergleichbarkeit von Angeboten und Preisen, leichter Wechsel des Versorgers und Transparenz bei Tarifen und Vertragsbedingungen sind noch nicht in ganz Europa verwirklicht. Der EWSA fordert die Kommission und den Rat auf, die nationalen Endkundenmärkte für Energie aufmerksam zu überwachen und gegebenenfalls rasch tätig zu werden, um sicherzustellen, dass das dritte Energiepaket zum Nutzen der europäischen Bürger wirksam umgesetzt wird. Es ist wichtig, dass die Mitgliedstaaten die einschlägigen Bestimmungen des dritten Energiepakets so umsetzen, dass in ihrem Land den schwächsten Bürgern geholfen und Energiearmut verhindert wird. Die Verbraucherakzeptanz ist eine unverzichtbare Voraussetzung für den erfolgreichen Ausbau der intelligenten Verbrauchsmessung, die Energieeffizienzpotenzial bieten kann. Es gibt jedoch noch viele offene Fragen – unter anderem, ob die potenziellen Vorteile die Kosten für die Verbraucher aufwiegen, sowie Datenschutzaspekte. Diese Probleme sollten im Interesse aller Energieverbraucher schnellstmöglich gelöst werden.
4.3 Mobilität der Bürger
Die Kommission unterstützt entschieden die Mobilität, die jedoch keinen Selbstzweck darstellt. Niemand verlässt leichten Herzens seine Heimat, und ein Vergleich mit den USA ist nicht immer angebracht. Arbeitnehmer und Selbständige, die ins Ausland gehen, sind oft konfrontiert mit fehlender Anerkennung ihrer Qualifikation, langen Arbeitszeiten, schlechten Arbeitsbedingungen, Diskriminierung, Ungleichbehandlung und Sprachbarrieren. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Förderung der Gleichbehandlung sollten Teil einer aktiven europäischen Arbeitsmarktpolitik sein. Der Ausschuss bedauert insbesondere, dass nach über zwanzig Jahren noch keine Fortschritte in der wichtigen Frage der Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise erzielt wurden (9). Die Mobilität von Praktikanten, Auszubildenden und Jungunternehmern sollte in Europa gefördert werden.
4.4 Zugang zu Finanzmitteln
Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Erleichterung des Zugangs zu langfristigen Investitionsfonds sind zu begrüßen. Allerdings können damit die Probleme nicht gelöst werden, die KMU wegen fehlenden Betriebskapitals haben. Die KMU, die das Rückgrat der EU-Wirtschaft bilden, sollten nicht infolge der strengen Eigenmittelvorschriften für Banken (10) in Bezug auf den Zugang zu Finanzmitteln diskriminiert werden. Der Ausschuss verweist auf seine frühere Stellungnahme zum Finanzierungszugang für KMU (11). Deshalb empfehlen wir, revolvierende Instrumente für die Bereitstellung solcher Kredite zu schaffen, mit denen KMU auch ohne übermäßige Sicherheiten leichten Zugang zu Finanzmitteln erhalten können (12). Die Garantien für diese Kredite sollten aus nationalen oder europäischen Mitteln gestellt werden. Die Mitgliedstaaten könnten auch andere Möglichkeiten prüfen, beispielsweise mehrjährige Steuerbefreiungen für Privatpersonen oder Familienangehörige, die in KMU-Start-ups und deren Wachstum investieren, sowie andere Anreize. Diese Maßnahmen sollten den Vorschlag für den ungehinderten grenzübergreifenden Verkehr von europäischem Risikokapital, das gemäß der Binnenmarktakte I in innovative Unternehmen investiert werden soll, ergänzen, doch ist damit das Problem der fehlenden Mittel für andere KMU nicht gelöst.
4.5 Unternehmensumfeld
Der Vorschlag zur Modernisierung des Insolvenzrechts ist ein Schritt in die richtige Richtung zur Verbesserung des Unternehmensumfelds, vor allem wenn er Unternehmern eine zweite Chance ermöglichen soll. Aber noch immer gibt es zuviel Bürokratie, die KMU und vor allem Kleinstunternehmen nicht bewältigen können. Wir fordern die Kommission auf, ihre Anstrengungen zur Reduzierung des Verwaltungsaufwands weiterzuführen und quantitative und qualitative Ziele festzulegen. Die Folgenabschätzung in diesem Bereich sollte ständig verbessert werden. Die Überprüfung des Verwaltungsaufwands ist bislang zu stark auf die Gesetzgebung selbst ausgerichtet und hat zum Teil deswegen einen eher „technokratischen“ Charakter. So können beispielsweise die Rechtsvorschriften in einem Mitgliedstaat sehr wohl durch den Wunsch bedingt sein, die Qualität der erbrachten Dienstleistung zu erhalten, und somit im Interesse des öffentlichen Wohls liegen und durchaus sinnvoll sein (13).
4.6 Dienstleistungen
Der EWSA begrüßt, dass in der Binnenmarktakte II eine Überarbeitung der Richtlinie über Zahlungsdienste vorgesehen ist, und betont, dass vorrangiges Ziel dieser Überarbeitung die Errichtung eines wettbewerbsfähigen und gut funktionierenden europäischen Zahlungsmarktes zum Nutzen aller Verbraucher und Unternehmen sein muss. Besonders wichtig ist es, die Zahlungsdienste für die Verbraucher zugänglich zu machen, dabei aber auch die sichere, effiziente und kostengünstige Erbringung dieser Dienstleistungen zu gewährleisten. Im Zuge der Überarbeitung sollte es EU-weit verboten werden, von den Verbrauchern Aufschläge für die Verwendung bestimmter Zahlungsweisen zu verlangen. Nutzer des Lastschriftverfahrens sollten bedingungslosen Anspruch auf Rückerstattung bei autorisierten und nicht autorisierten Zahlungen haben. Die Verbraucher sollten unabhängig von der Zahlungsweise umfassend geschützt werden, wobei die in einigen Mitgliedstaaten geltenden strengen Verbraucherschutzvorschriften berücksichtigt werden sollten. Die vielfältigen Vorteile für alle Betroffenen sowie die Notwendigkeit vertretbarer Kosten für KMU, die derartige Zahlungsverfahren anbieten, sollten in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden. Der EWSA nimmt erfreut die Absicht der Kommission zur Kenntnis, einen Legislativvorschlag zu mehrseitigen Abwicklungsgebühren für Kartenzahlungen zu unterbreiten.
4.7 Digitaler Binnenmarkt
Der EWSA begrüßt die Absicht der Europäischen Kommission, beim Aufbau von Hochgeschwindigkeits-Kommunikationsinfrastrukturen die Kosten zu verringern und die Effizienz zu erhöhen, indem gemeinsame Regelungen verabschiedet werden. Der EWSA unterstützt den Vorschlag zur Verbesserung der Hochgeschwindigkeits-Breitbandinternetverbindungen als technische Voraussetzung für die Ausdehnung des elektronischen Handels. Wichtig ist ein kohärentes Modell für die Kostenberechnungsmethoden der nationalen Regulierungsbehörden in der gesamten EU, um zu gewährleisten, dass die Kosten gerecht sind und nach einheitlichen Standards berechnet werden. Durch angemessen regulierte Telekommunikationsmärkte muss sichergestellt werden, dass die Verbraucher Wahlmöglichkeiten haben. Wenn ein gleichberechtigter Zugang neuer Betreiber zu den Netzen der nächsten Generation nicht wirksam durchgesetzt wird, wird die Qualität der Angebotspalette, die den Endkunden zur Verfügung steht, verfälscht bzw. beschränkt. Alle Wettbewerber sollten unter gleichen Bedingungen Zugang zur Infrastruktur haben, und der Netzzugang für neue und bereits etablierte Marktteilnehmer zu erschwinglichen (d.h. kostengebundenen) Preisen sollte gewährleistet sein.
4.8 Elektronische Rechnungsstellung bei öffentlichen Aufträgen
Die weitgehende Einführung der elektronischen Rechnungsstellung, auch grenzübergreifend, ist eine seit langem erhobene Forderung der Unternehmen. Wir unterstützen deshalb nachdrücklich den Vorschlag, die elektronische Rechnungsstellung als Standardfakturierungsmethode bei öffentlichen Aufträgen einzuführen. Allerdings sollten dann auch die Angebote elektronisch eingereicht werden, denn die diesbezüglich fehlende Möglichkeit ist einer der Gründe, warum sich nur wenige KMU an Verfahren der öffentlichen Auftragsvergabe in anderen Mitgliedstaaten beteiligen (siehe auch Arbeitsprogramm der Kommission für 2013).
4.9 Verbraucher
4.9.1 |
Noch immer sind auf dem EU-Markt unsichere Produkte, auch mit CE-Kennzeichnung, zu finden, die vermeidbare Gesundheits- und Sicherheitsrisiken verursachen. Der EWSA stellt deshalb erfreut fest, dass die Europäische Kommission ein Legislativpaket zur Produktsicherheit vorschlagen wird, das aus einem Überwachungsinstrument für den Binnenmarkt für alle Erzeugnisse außer Lebensmittel, einem Vorschlag für eine neue Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit sowie einem mehrjährigen Rahmenplan zur Marktüberwachung bestehen soll. Mit der Überarbeitung sollte mehr Klarheit über das Zusammenspiel der verschiedenen EU-Rechtsvorschriften im Bereich der Produktsicherheit geschaffen werden. Insbesondere muss die Haftung der Hersteller gestärkt und eindeutiger gestaltet werden. Es ist zu gewährleisten, dass die Vorschriften in der gesamten EU im gleichen Maß durchgesetzt und die Märkte überall wirksam überwacht werden. |
4.9.2 |
Das Problem von Produkten, die auf Kinder ansprechend wirken, sollte gezielt angegangen werden, und das Verbot von Lebensmittelimitaten sollte aufrechterhalten werden. Die EU muss mit ihren politischen Maßnahmen einen wichtigen Schritt nach vorn in Sachen Sicherheit und Gesundheitsschutz tun. Augenmerk muss auch auf den unlauteren Wettbewerb gerichtet werden, dem EU-Unternehmen ausgesetzt sind, die die EU-Vorschriften einzuhalten haben. Durch die Überarbeitung der Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit muss das Inverkehrbringen gefährlicher Produkte wirksam verhindert werden, was ein europäisches Marktüberwachungssystem erfordert, einschließlich wirksamer Kontrollen an den EU-Außengrenzen. |
4.10 Sozialer Zusammenhalt und soziales Unternehmertum
4.10.1 |
Die hierzu formulierten Vorschläge sind recht willkürlich unter dieser Überschrift zusammengefasst. Der EWSA erkennt an, wie wichtig es angesichts der derzeitigen Krise ist, den weiteren Kampf gegen soziale Ausgrenzung und Armut in den Mittelpunkt zu stellen. In diesem Zusammenhang wurde das soziale Unternehmertum als wichtiger Faktor herausgestellt, der einen Weg aus der Krise weisen kann. Das Fehlen einer konkreten Leitaktion zur Entwicklung und zum Wachstum der Sozialwirtschaft und des sozialen Unternehmertums ist enttäuschend. Mit der vorgeschlagenen Leitaktion 12 wird die zunehmende soziale Ausgrenzung und Armut in Europa nicht behoben. Der EWSA spricht sich deshalb für eine klare und konkrete Leitaktion im Bereich soziales Unternehmertum gemäß seinen bereits im Vorfeld abgegebenen Empfehlungen aus, mit der seiner Ansicht nach der Notwendigkeit eines stärkeren sozialen Zusammenhalts besser Rechnung getragen würde (14). |
4.10.2 |
Der EWSA begrüßt den Vorschlag, allen EU-Bürgerinnen und –Bürgern Zugang zu einem Basiskonto zu gewähren, Transparenz und Vergleichbarkeit der Zahlungskontogebühren sicherzustellen und den Wechsel zu einem anderen Zahlungskonto zu erleichtern. Der EWSA hofft, dass die Kommission diesmal verbindliche Rechtsvorschriften vorlegen wird, und nicht nur eine Empfehlung wie im Juli letzten Jahres, die wegen ihres freiwilligen Charakters heftig kritisiert wurde. Der EWSA stellt fest, dass die Gewährleistung von Transparenz und Vergleichbarkeit der Zahlungskontogebühren für Verbraucher erhebliche Mängel aufweist bzw. gänzlich gescheitert ist. Mit der vorgeschlagenen EU-Rechtsvorschrift sollte gewährleistet werden, dass jeder Verbraucher das Recht auf Zugang zu einem Basiskonto hat, und jedwedes Hindernis für einen Wechsel des Zahlungskontos ausgeräumt wird. |
Brüssel, den 16. Januar 2013
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 99.
(2) http://epp.eurostat.ec.europa.eu/cache/ITY_PUBLIC/3-03122012-AP/DE/3-03122012-AP-DE.PDF
(3) FLASH-IT, Policy Research Alert 5 – Employment, Oktober 2012.
(4) Eurostat News Release vom 31. Oktober 2012.
(5) Monti 2010: „Dies würde die Grundlage für die wirtschaftliche Integration sowie Wachstum und Beschäftigung in der ganzen EU beeinträchtigen, und dies zu einem Zeitpunkt, da eine kohärente Europäische Union angesichts neuer globaler Wirtschaftsmächte und beträchtlicher ökologischer Herausforderungen im Interesse der europäischen Bürger sowie einer wirksamen globalen Struktur- und Ordnungspolitik wichtiger denn je ist.“
(6) Entschließung des Europäischen Parlaments „Die Binnenmarktakte und die nächsten Schritte für das Wachstum“ vom 14. Juni 2012.
(7) ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 165.
(8) ABl. C 24 vom 28.01.2012, S. 99.
(9) ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 103.
(10) Siehe CRD IV – Paket der neuen Eigenmittelvorschriften.
(11) ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 45.
(12) Seczenyi-Karte in Ungarn – siehe http://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&ved=0CC8QFjAA&url=http%3A%2F%2Fwww.iapmei.pt%2Fconferencia%2F1_Laslo_Krisan.ppt&ei=DM29UKvHJNGRhQehsoGwDA&usg=AFQjCNHWIFTTA7fbjHyT1ShycR1qL7tKRQ
(13) Siehe EWSA-Stellungnahme ABl. C 318, 29.10.2011, S. 109, Ziffer 3.2.
(14) Diese Frage wurde auch in der Stellungnahme des AdR angesprochen: ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 165.
ANHANG
zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Folgender abgelehnter Änderungsanträge erhielt mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Artikel 39 Absatz 2 der Geschäftsordnung):
Ziffer 3.2 Ändern:
„ Die Rücknahme der Monti-II-Verordnung löst die Probleme nicht, die durch die EuGH Urteile bezüglich der Entsendung von Arbeitnehmern aufgeworfen wurden. Für die aktuelle Situation, die die Arbeitnehmer daran hindert, ihre Rechte uneingeschränkt wahrzunehmen, muss eine Lösung gefunden werden. Die Kommission sollte dafür sorgen, dass die sozialen Grundrechte nicht durch wirtschaftliche Freiheiten beschnitten werden. Die Kommission sollte einen Vorschlag für ein Protokoll über den sozialen Fortschritt als Anhang zu den europäischen Verträgen erwägen. In diesem Protokoll ist das Verhältnis zwischen den sozialen Grundrechten und den wirtschaftlichen Freiheiten klarzustellen, und zwar indem bestätigt wird, dass der Binnenmarkt kein Selbstzweck ist, sondern geschaffen wurde, um sozialen Fortschritt für alle Unionsbürger herbeizuführen (Umsetzung von Artikel 3 Absatz 3 der konsolidierten Fassung des Vertrags über die Europäische Union). Auch sollte klargestellt werden, dass die wirtschaftlichen Freiheiten und Wettbewerbsregeln nicht über die sozialen Grundrechte und den sozialen Fortschritt gestellt werden dürfen und keinesfalls so verstanden werden dürfen, dass die Unternehmen das Recht haben, nationale sozial- und arbeitsrechtliche Bestimmungen und Verfahren auszuhebeln oder zu umgehen oder einen unlauteren Wettbewerb bei Löhnen und Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Die Kommission hat zwei Legislativvorschläge vorgelegt, mit denen die Umsetzung, Anwendung und praktische Durchsetzung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern verbessert und verstärkt werden sollten. Der erste Vorschlag zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG zielt auf einen größeren Schutz der zeitweise ins Ausland entsandten Arbeitnehmer ab, indem Informationen, Verwaltungszusammenarbeit und Kontrollen verbessert werden, und wird noch diskutiert. Der zweite Vorschlag zur Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (Monti II) wurde zurückgezogen.
Der EWSA ist der Auffassung, dass insbesondere das Primärrecht den Grundsatz der Gleichwertigkeit der grundlegenden sozialen Rechte gegenüber den wirtschaftlichen Freiheiten zu gewährleisten hat. Er verweist darauf, dass bereits im dritten Erwägungsgrund der Präambel und konkretisiert in Artikel 151 AEUV das Ziel „die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen“ festgehalten ist. Er fordert nachdrücklich, ein „Protokoll über sozialen Fortschritt“ in die Verträge aufzunehmen, um den Grundsatz der Gleichwertigkeit zwischen sozialen Grundrechten und wirtschaftlichen Freiheiten zu verankern und dadurch klarzustellen, dass weder wirtschaftliche Freiheiten noch Wettbewerbsregeln Vorrang vor sozialen Grundrechten haben dürfen und um eindeutig zu definieren, was das EU-Ziel der Verwirklichung sozialen Fortschritts bedeutet (1)“.
Begründung
Erfolgt mündlich.
Abstimmungsergebnis
Ja-Stimmen |
: |
77 |
Nein-Stimmen |
: |
114 |
Enthaltungen |
: |
11 |
14.3.2013 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 76/31 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine verstärkte Partnerschaft im Europäischen Forschungsraum im Zeichen von Exzellenz und Wachstum“
COM(2012) 392 final
2013/C 76/06
Berichterstatterin: Daniela RONDINELLI
Die Europäische Kommission beschloss am 17. Juli 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine verstärkte Partnerschaft im Europäischen Forschungsraum im Zeichen von Exzellenz und Wachstum“
COM(2012) 392 final.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Januar 2013 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 486. Plenartagung am 16./17. Januar 2013 (Sitzung vom 16. Januar) mit 120 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält die Verwirklichung des Europäischen Forschungsraums (EFR) für ein vordringliches Ziel, um Wachstum und Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der EU sowie wissenschaftliche Spitzenleistungen und den Zusammenhalt zwischen Mitgliedstaaten, Regionen und der Gesellschaft zu fördern. Die im Programm Horizont 2020 vorgesehene Finanzierungspolitik sollte über der kritischen Schwelle liegen, um diese Ziele erreichen zu können |
1.2 |
Der EWSA hat seinen Standpunkt zum EFR bereits in zahlreichen Stellungnahmen (1) zum Ausdruck gebracht und bereits mit der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat eine vertiefte Debatte und einen intensiven Dialog über das Thema aufgenommen und begrüßt deshalb die Mitteilung der Kommission. |
1.3 |
Der EWSA stimmt der Kommission zu, die auf Wachstum als eines der vordringlichen Ziele des EFR verweist. In der gegenwärtigen schweren Wirtschafts- und Sozialkrise ist dieser Hinweis für die europäische organisierte Zivilgesellschaft von grundlegender Bedeutung. |
1.4 |
Der EWSA ist der Auffassung, dass die Freizügigkeit der Forscher und der freie Austausch akademischen Wissens und der Technologie zur „fünften Freiheit“ des Binnenmarkts werden müssen. |
1.5 |
Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass die Verwirklichung des einheitlichen Forschungsraums ein sich kontinuierlich weiterentwickelnder Prozess ist und hält die Zeitvorgabe bis 2014 für zu ehrgeizig – auch angesichts der Tatsache, dass in vielen Staaten Europas Sparmaßnahmen durchgeführt und staatliche Mittel für Forschung und Innovation gestrichen werden. |
1.6 |
Der EWSA begrüßt den Vorschlag, den EFR im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit auf der Grundlage bewährter Verfahren anstatt auf dem Verordnungswege zu realisieren. Gleichwohl ist er darüber besorgt, dass die mit den Organisationen unterzeichneten Vereinbarungen lediglich freiwilliger und informeller Natur und rechtlich nicht bindend sind. |
1.7 |
Der EWSA zählt auf einen starken politischen Willen, der zu wirksamen und wettbewerbsfähigen nationalen Forschungssystemen führen kann, die am besten im Zuge von „Peer Reviews“ verwirklicht werden. Diese Bewertungen müssen auf der Qualität der Forscherteams, der beteiligten Einrichtungen und den erzielten Ergebnissen beruhen. |
1.8 |
Der Ausschuss ist der Auffassung, dass sich die mit öffentlichen Mitteln finanzierte Forschung vorrangig mit den Bereichen befassen muss, die für das Wohlergehen der Unionsbürger von besonderer Bedeutung sind. Projekte im Bereich einer starken europäischen Zusammenarbeit sind weiterhin mit öffentlichen Mitteln zu unterstützen. |
1.9 |
Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, alle zur Beseitigung der Hindernisse bei der Verwirklichung des EFR erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Diese Hindernisse betreffen den fehlenden europäischen Arbeitsmarkt für Forscher, ihre Arbeitsbedingungen, ihre Mobilität und die Sozialversicherungssysteme. |
1.10 |
Der EWSA bekräftigt, dass die Renten- und Altersversorgungsregelungen für Forscher, die an länderübergreifenden Vorhaben beteiligt sind, dringend verbessert werden müssen. Es sollte ein europäischer Fonds für Zusatzrenten eingerichtet werden, um die Verluste abzudecken bzw. auszugleichen, die den Forschern beim Wechsel von einem Mitgliedstaat in einen anderen und somit von einem Sozialsystem zu einem anderen entstehen. |
1.11 |
Der EWSA weist darauf hin, dass die neuen, von der Kommission vorgeschlagenen Initiativen nicht die Anstrengungen zur Senkung der Verwaltungskosten für Forscher innerhalb des EFR beeinträchtigen oder zunichte machen dürfen. |
1.12 |
Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, alle Maßnahmen zur effektiven Beseitigung der nach wie vor bestehenden Diskriminierung und Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen in Lehre, Wissenschaft und Forschung zu ergreifen. Insbesondere begrüßt er die Entscheidung, einen Frauenanteil von mindestens 40 % in allen Ausschüssen sicherzustellen, die an Einstellungsverfahren sowie an der Aus- und/oder Überarbeitung von Projektbewertungskriterien beteiligt sind. Dies gilt auch für Ausschüsse, die beschäftigungspolitische Maßnahmen in Hochschul-, Forschungs- und Wissenschaftszentren festlegen. |
1.13 |
Der EWSA begrüßt den Kommissionsvorschlag, einen Fahrplan für die Entwicklung von e-Infrastrukturen zur Unterstützung der e-Wissenschaft zu erstellen. Er verweist auf seine Stellungnahme (2) zur Mitteilung (3) der Kommission über den Zugang zu sowie die Bewahrung und Verbreitung von Forschungsergebnissen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. |
1.14 |
Der EWSA unterstützt den Appell der europäischen Forscher und Wissenschaftler (4) an die Adresse der Staats- und Regierungschefs und an die Präsidenten der europäischen Organe, dass es sich Europa nicht leisten kann, seine besten Talente, Forscher und Dozenten, zumal wenn sie jung sind, zu verlieren. Die europäischen Mittel erhöhen die Effizienz und Effektivität nationaler Gelder und verbessern die gesamteuropäische und internationale Wettbewerbsfähigkeit. Er fordert mithin, dass der entsprechende Ausgabenposten für Forschung und das Streben nach Spitzenleistungen im künftigen EU-Haushalt für den Zeitraum 2014-2020 nicht verringert werden. |
1.15 |
Der EWSA ist der Auffassung, dass bei der geplanten Kartierung der Tätigkeiten in den prioritären Bereichen, beim Forum für die Verbreitung und Übertragung der Projekte in Wissenschaft und Forschung und der abschließenden Bewertung der Wirkung der Mitteilung die umfassende und effektive Teilhabe der vom EFR betroffenen Zivilgesellschaft vorgesehen werden sollte. |
1.16 |
Der EWSA hofft aus allen genannten Gründen, dass im Ausschuss eine Gruppe gebildet wird, die für die europäischen Institutionen zum Bezugspunkt wird in den verschiedenen künftigen Phasen der Bewertung, Überwachung und Entscheidungsfindung bezüglich der Verwirklichung des EFR. |
2. Einleitung
2.1 |
Der EWSA hat in zahlreichen Stellungnahmen seine Vorstellung vom EFR vorgebracht, die nichts an ihrer Gültigkeit und Relevanz verloren haben. Er begrüßt diese Mitteilung, mit der eine verstärkte Partnerschaft angestrebt wird, ein Beleg für die Dringlichkeit, mit der die EU und die Mitgliedstaaten ihre Zusagen einhalten und ausbauen müssen. Die Fortschritte sind nicht in allen Mitgliedstaaten gleich weit gediehen, einige Mitgliedstaaten kommen nur langsam voran. Der innovative Aspekt der Mitteilung besteht darin, dass die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten auf mit dem EFR verbundene Organisationen (5) ausgedehnt wird. Der EWSA befürwortet eine breitere und effizientere verstärkte Zusammenarbeit. |
2.2 |
Der EWSA schließt sich der Auffassung der Kommission an, dass die Verwirklichung des EFR das Wirtschaftswachstum, wissenschaftliche Spitzenleistungen und den Zusammenhalt zwischen den Regionen, Staaten und Gesellschaften fördern muss. Gleichzeitig muss die notwendige Interaktion zwischen Wissenschaft und Markt, zwischen Innovation und Unternehmen und zwischen neuen Formen der Arbeitsorganisation und einer immer stärker verknüpften Forschungslandschaft zur Kenntnis genommen und weiterentwickelt werden. |
2.3 |
Nach Meinung des EWSA sind in der aktuellen weltweiten Krise präzisere und entschlossenere Maßnahmen erforderlich, um die negativen Auswirkungen der nationalen Fragmentierung bei Gestaltung und Durchführung der Forschungspolitik zu überwinden und die Tätigkeiten zu optimieren, die eine effizientere Forschungspolitik ermöglichen. Diese Maßnahmen müssen außerdem auf die Ankurbelung des gesunden und fairen Wettbewerbs und den Ausbau länderübergreifender Synergien zwischen nationalen Forschungssystemen, die Erleichterung von Forschungslaufbahnen sowie die Mobilität und den freien Austausch von Wissen ausgerichtet sein (6). |
2.4 |
Bei der öffentlichen Konsultation im Zuge der Erarbeitung der Mitteilung wurde Folgendes deutlich:
|
3. Ausbau der nationalen Forschungssysteme, um sie effizienter, offener und wettbewerbsfähiger zu machen
3.1 |
Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, die nationalen Forschungssysteme auf der Grundlage bewährter Verfahren zu stärken. Er teilt den Standpunkt, dass die Zuweisung der Finanzmittel durch offene Aufforderungen zur Einreichung von Vorschlägen erfolgen soll, die von Gremien unabhängiger führender Experten aus den Mitgliedstaaten oder Drittländern (Peer Review (7)) bewertet werden. Die Bewertung der Qualität der Forschungsteams, der beteiligten Forschungseinrichtungen und der erzielten Ergebnisse muss als Grundlage für Entscheidungen über die institutionelle Förderung dienen. Für die Bewertung der Forscher, der Forschungsteams sowie der Forschungsprojekte und -programme werden in vielen Fällen keine vergleichbaren Normen herangezogen, obwohl es sich um Projekte und Forschungen mit ähnlicher Finanzierung und Durchführung handelt. Aus Sicht des Ausschusses ist dies ein inakzeptabler Wertverlust zu einem Zeitpunkt, zu dem nicht wenige Mitgliedstaaten die Forschungshaushalte erheblich kürzen. |
3.2 |
Der Ausschuss ist sich bewusst, dass die europäische Forschung zur Weltspitze gehört. Dank der Forschung an den europäischen Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen konnten die europäischen Unternehmen sich als Marktführer und Vorreiter der technologischen Entwicklung etablieren und Spitzenplätze einnehmen. Daher zeigt sich der EWSA über die Schlussfolgerung der Europäischen Kommission besorgt, die in ihrer Folgenabschätzung betont, dass die Kluft zwischen Europa, den USA, Japan und weiteren Industrieländern immer offensichtlicher wird (8). Dies scheint darauf hinzuweisen, dass Europa bei der Wissensgenerierung an Boden verliert, zumal die globalen Marktführer im Innovationsbereich in Bezug auf einige Indikatoren vor der EU-27 liegen. Nach Auffassung des EWSA muss der EFR angesichts der weltweiten Krise und der dadurch bedingten Verschiebung des Kräfteverhältnisses zur Stärkung der marktführenden Stellung der europäischen Wissenschaft dienen, deren Qualität und Exzellenz einen Wettbewerbsvorteil in dem Konkurrenzkampf mit internationalen Mitbewerbern bieten muss. |
3.3 |
Die Europäische Union beschloss 2002, die Investitionen in Forschung und Entwicklung aller Mitgliedstaaten auf 3 % des EU-BIP zu erhöhen (9). Angesichts des wiederholten Scheiterns bei der Verwirklichung dieses Ziels und der Verschiebung auf 2020 stellt sich der Ausschuss die Frage, ob dieses Ziel erreicht wird. Der EWSA ist auch der Auffassung, dass insbesondere in der gegenwärtigen schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise Wachstum eine der Prioritäten des EFR sein muss, und ist angesichts der drastischen Kürzungen im Forschungsbereich aufgrund der Sparpolitik zutiefst beunruhigt. |
3.4 |
Eine der Säulen des Europäischer Hochschulraums (EHR), der eng mit der Verwirklichung des EFR verbunden ist, ist die Förderung der Mobilität, um Studierende, Professoren und Forscher in ihrer Aus- und Weiterbildung effektiv zu bereichern. Aufgrund dieser Kürzungen werden zahlreiche europäische Forscher schwerlich voll vom EFR profitieren und sich daran beteiligen können. Der Ausschuss nimmt die getroffenen Entscheidungen mit Sorge zur Kenntnis (10). |
3.5 |
Der Ausschuss bekräftigt seine Überzeugung, dass für effiziente und wettbewerbsfähige nationale Forschungssysteme ein starker politischer Wille erforderlich ist, und fordert die EU und die Mitgliedstaaten auf, ihren Zusagen entschlossener und rascher nachzukommen. |
3.6 |
Es scheint, dass die mit öffentlichen Mitteln finanzierte Forschung in den letzten Jahren für das Wohlbefinden der Unionsbürger strategische Bereiche vernachlässigt hat, die hingegen für den EFR innovative Forschungsbereiche darstellen sollten, insbesondere im Rahmen einer Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. |
3.7 |
Der EWSA betont außerdem, dass bei der Optimierung und/oder Neukonzipierung der wirtschaftlichen Unterstützung für die nationalen Forschungssysteme die falsche Dichotomie zwischen angewandter Forschung und Grundlagenforschung vermieden werden muss, da diese einigen Mitgliedstaaten offenbar als Grund für eine Kürzung ihrer Haushaltsmittel dienen könnte. Dies ist ein erhebliches Hindernis für den Zugang zu Finanzmitteln. |
4. Länderübergreifende Zusammenarbeit
4.1 |
In der EU hat sich die gesamteuropäische Forschungszusammenarbeit auf einige große Initiativen beschränkt (11). Lediglich 0,8 % der staatlichen Mittelzuweisungen (12) für Forschung und Entwicklung werden für gemeinsame Programme der Mitgliedstaaten, auch für Programme, die von der Kommission unterstützt oder kofinanziert werden, verwendet. Dabei können durch die länderübergreifende Zusammenarbeit nachweislich das Forschungs- und Entwicklungsniveau verbessert, neue Sektoren erschlossen und öffentliche und private Mittel für gemeinsame Vorhaben gewonnen werden. Dies bestätigt die Notwendigkeit, dass die Wissensnetze in ganz Europa eng miteinander verwoben werden müssen. |
4.2 |
Die Einführung neuer Finanzierungskonzepte für die Forschung wie die „ERC Synergy Grants“, die 2012 aufgelegt wurden, um kleine grenzübergreifende (und im allgemeinen multidisziplinäre) Forschergruppen zu unterstützen, kann dazu beitragen, den Mehrwert und die Komplementarität der gemeinsamen Arbeit aufzuzeigen, sofern diese ein kreatives Management aufweisen und das komplementäre Kenntnisse, Fähigkeiten und Finanzierungsmittel auf neue Weise miteinander verbinden. |
4.3 |
Außerdem bestehen nach wie vor Hindernisse und Hürden für den Zugang ausländischer Forscher zu nationalen Forschungszentren von europäischem Interesse und zu den gesamteuropäischen Forschungsinfrastrukturen für Wissenschaftler, die in den nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten arbeiten. In beiden Fällen wird der Zugang über ein nationales Präferenzkriterium bestimmt. Der EWSA ist der Auffassung, dass dadurch die volle Entfaltung des EFR verhindert wird. |
4.4 |
Nach Ansicht des EWSA sollte die geplante Kartierung der Tätigkeiten, in der die Stärken, Schwächen und Mängel der länderübergreifenden wissenschaftlichen Zusammenarbeit aufgezeigt sind, sich nicht nur auf die von den Mitgliedstaaten bereitgestellten Informationen stützen, sondern auch eine effektive und echte Teilhabe der am EFR beteiligten und/oder daran interessierten Zivilgesellschaft sicherstellen. |
5. Öffnung des Arbeitsmarkts für Forscher
5.1 Einstellungsverfahren
Trotz der unternommenen Anstrengungen bestehen nach wie vor Hürden für offene, transparente und in erster Linie leistungsbezogene Einstellungsverfahren für Forscher. Die Auswahlkriterien werden nicht immer entsprechend angekündigt; die Bestimmungen für die Auswahl der Mitglieder der Bewertungsgremien sind nicht bekannt und zwischen den Mitgliedstaaten oftmals nicht vergleichbar (z.B. Internetportal „Euraxess“). Die Europäische Kommission merkt an, dass eine bestimmte Zahl an Forschungsstellen nicht leistungsbezogen vergeben wurde, die genaue Zahl ist jedoch nicht bekannt (13). Die Empfehlung zur „Europäischen Charta für Forscher“ und zum „Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern“ sowie zur „Europäischen Partnerschaft für die Forscher“ (14) hat eine gewisse positive Wirkung auf nationaler und institutioneller Ebene gezeitigt. Gleichwohl erfolgt die Anwendung der Grundsätze der Charta und des Kodex nach wie vor zu langsam. Der EWSA befürchtet, dass sich die mangelnde Integration des Arbeitsmarkts, für Forscher, der ihnen bessere Garantien bieten würde, ein schwer zu überwindendes Hindernis für die Verwirklichung des EFR bis 2014 sein könnte.
5.2 Arbeitsbedingungen
Die Arbeitsbedingungen der Forscher unterscheiden sich erheblich in den einzelnen Mitgliedstaaten; in einigen Fällen sind sie nicht attraktiv genug, um junge Menschen für eine Forschungslaufbahn zu begeistern, erfahrene Wissenschaftler zu halten und ausländische Forscher anzuziehen. Die Beförderungskriterien, die Karriereaussichten und die Bestimmungen für Vergütung und Besoldung sind ebenfalls von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat viel zu unterschiedlich. Die Forschungseinrichtungen anerkennen die Mobilität nicht unbedingt als Indikator für die akademische Leistung. Die Mitgliedstaaten, die am schwersten von der Krise betroffen sind, verzeichnen bereits eine massive Abwanderung von Nachwuchswissenschaftlern und/auch erfahrenen Forschern, die neue Berufschancen auch außerhalb Europas suchen. Die Kommission kann ihre Augen nicht länger vor diesem Verlust an Humanressourcen in Wissenschaft und Forschung verschließen, und der EWSA fordert sie auf, gemeinsam mit den Mitgliedstaaten konkrete Sofortmaßnahmen anzunehmen, um diese Abwanderung zu bremsen.
5.3 Mobilität
Die Bedingungen für die Übertragbarkeit und den Zugang zu Stipendien und Finanzierungen erschweren die Mobilität der Forscher ebenfalls, da sie ihre staatlichen Stipendien nicht unbedingt ins Ausland mitnehmen können (dies ist in 13 Mitgliedstaaten der Fall); die Forscherteams können nicht immer ihre Partner aus anderen Mitgliedstaaten in ihre nationalen Forschungsprojekte einbeziehen, da die Stipendiaten in zahlreichen Mitgliedstaaten (genaugenommen in 11) staatliche Einrichtungen sein müssen. In vier Mitgliedstaaten werden Stipendien ausschließlich an eigene Staatsangehörige vergeben.
5.4 Sozialversicherung
Der Ausschuss bekräftigt die Empfehlung, die er in seiner Stellungnahme zu „Horizont 2020“ (15) ausgesprochen hat, und zwar die Renten- und Altersversorgungsregelungen für Forscher, die an länderübergreifenden Vorhaben beteiligt sind, dringend zu überarbeiten und einen europäischen Fonds für Zusatzrenten einzurichten, um die Verluste abzudecken bzw. auszugleichen, die den Forschern beim Wechsel von einem Mitgliedstaat in einen anderen und somit von einem Sozialsystem zu einem anderen entstehen. Die Sozialversicherungssysteme gehen oftmals davon aus, dass die Forscher während ihrer gesamten Forschungslaufbahn für denselben Arbeitgeber tätig sind, d.h. die Forschungsjahre im Ausland werden in der Regel ausgeklammert oder einfach nicht eingerechnet. Die bisherigen Anstrengungen sind eindeutig unzureichend; dieses Hindernis besteht nach wie vor und belastet insbesondere die Nachwuchsforscher.
6. Gleichstellung der Geschlechter und Berücksichtigung des Gleichstellungsaspekts in der Forschung
6.1 |
In den letzten Jahren ist eine erhebliche Zunahme der Zahl an Forscherinnen in fast allen Sektoren zu verzeichnen, aber die Zahl der in akademischen Führungspositionen beschäftigten Forscherinnen als Leiterinnen von Spitzenforschung in wissenschaftlichen Einrichtungen und Universitäten ist noch zu niedrig (16). Dabei ist hinreichend bewiesen, dass gemischte Forschungsteams bessere Ergebnisse bringen und von umfassenderen Erfahrungen, gemeinsamem Wissen, unterschiedlichen Standpunkten und einem höheren Niveau an sozialer Intelligenz profitieren können. Die akademische Laufbahn von Frauen ist nach wie vor von einer erheblichen vertikalen Trennung gekennzeichnet. Die so genannte „gläserne Decke“ ist ebenso wie die Trennung auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor Wirklichkeit (17). |
6.2 |
Im akademischen Bereich ebenso wie in den Forschungszentren besteht – wie in anderen Bereichen der Wirtschaft auch – immer noch ein geschlechterspezifisches Lohngefälle. Dieses ist u.a. zurückzuführen auf vorgeblich „geschlechtsneutrale“ Stellenbeschreibungen, in denen die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen ausgeklammert werden, die ungleiche Verteilung familiärer Aufgaben sowie die unmittelbare und mittelbare Diskriminierung (18). Das wissenschaftliche Potenzial von Frauen wird somit unterbewertet und nicht ausgeschöpft; Frauen sind unterrepräsentiert, und es mangelt an der Gleichstellung von Männern und Frauen bei den Forschungs- und Innovationsentscheidungen. |
6.3 |
Nicht alle Mitgliedstaaten verfolgen eine Politik zur Förderung der Berücksichtigung des Gleichstellungsaspekts in der Forschung, und dies untergräbt ihre Qualität und Relevanz. Eine ausgewogenere Vertretung von Frauen könnte für eine breitere Vielfalt der Talentreserven, der Arbeitskräfte und der Entscheidungsfindung sorgen und würde die Qualität der Forschung verbessern. Dadurch könnten auch hohe wirtschaftliche Kosten und Fehler aufgrund der Nichtberücksichtigung des Gleichstellungsaspekts in der Forschung vermieden werden. Wird dieser Aspekt in den Forschungsinhalten nicht stärker berücksichtigt, so hat dies negative Auswirkungen auf die Ziele des EFR in Bezug auf das Exzellenzniveau. Eine stärkere Berücksichtigung von Frauen trägt zu sozioökonomischem Wachstum in Europa, Exzellenz, Leistungssteigerung und Forschungseffizienz bei. |
6.4 |
Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, ihre Bemühungen zu intensivieren und entschlossenere Maßnahmen zum effektiven Abbau von Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen in Lehre, Forschung und Wissenschaft zu ergreifen. So müssen sie insbesondere das Versprechen einlösen, einen Frauenanteil von mindestens 40 % in allen Ausschüssen sicherzustellen, die an der Auftragsvergabe sowie an der Aus- und/oder Überarbeitung von Projektbewertungskriterien beteiligt sind oder beschäftigungspolitische Maßnahmen in Hochschul-, Forschungs- und Wissenschaftszentren festlegen. Ein weiteres positives Mittel ist nach Ansicht des Ausschusses die Erstellung, Durchführung und Bewertung von Aktionsplänen zur Gleichstellung von Männern und Frauen in Hochschulen und Forschungszentren, sofern Frauen aktiv und umfassend in den gesamten Prozess eingebunden sind. |
6.5 |
Darüber hinaus fordert der Ausschuss die Europäische Kommission auf, die Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die Ausarbeitung der Empfehlung zu gewährleisten, in der die Leitlinien für die institutionellen Änderungen zur Förderung einer echten Gleichstellung von Männern und Frauen in den Hochschulen und Forschungseinrichtungen enthalten sind. |
7. Optimaler Austausch von, Zugang zu und Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen, auch über digitale Mittel
7.1 |
Im April 2008 legte die Kommission eine Empfehlung zum Umgang mit geistigem Eigentum bei Wissenstransfertätigkeiten (19) und für einen Praxiskodex für Hochschulen und andere öffentliche Forschungseinrichtungen vor (20). Gleichwohl reicht der Kodex nicht aus, um die Ziele der Empfehlung erreichen zu können. |
7.2 |
Der Zugang zu wissenschaftlichen Informationen ist eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Forschung und Innovationsförderung, also auch für die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Dazu gehört der Wissenstransfer zwischen Forschern, zwischen Forschungspartnerschaften – insbesondere zwischen Forschung und Unternehmen – sowie zwischen Forschern und Bürgern, einschließlich eines offenen Zugangs zu Veröffentlichungen. Der EWSA begrüßt die dementsprechende Mitteilung der Kommission (21) und verweist auf seine spezifische Stellungnahme (22) dazu. |
7.3 |
Ferner begrüßt der EWSA das Vorhaben, einen Fahrplan für die Entwicklung von e-Infrastrukturen zur Unterstützung der e-Wissenschaft durch den Zugang zu Forschungsinstrumenten und -ressourcen zu erstellen. |
7.4 |
Der EWSA fordert die Kommission auf, die Teilhabe der in Wissenschaft und Forschung tätigen Organisationen der europäischen Zivilgesellschaft an dem regelmäßigem Informationsaustausch zu fördern und zur Geltung zu bringen, der im Rahmen eines Forums der Mitgliedstaaten angekündigt wird, das als Referenz für die Verbreitung und Übertragung der Ergebnisse wissenschaftlicher Programme und Projekte dienen soll. |
Brüssel, den 16. Januar 2013
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) ABl. C 95 vom 23.4.2003, S. 48; ABl. C 218 vom 11.9.2009, S.8; ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 13, ABL. C 132 vom 3.5.2011, S.39; ABl. C 318 vom 29.10.2011, S.121; ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 111, ABl. C 299 vom 4.10.2012, S.72, ABl. C 229 vom 31.7.2012, S.60; ABl. C 44 vom 15.2.2013, Stellungnahme des EWSA „Schlüsseltechnologien“, Stellungnahme des EWSA „Internationale Zusammenarbeit bei Forschung und Innovation“ und Stellungnahme des EWSA „Zugang zu wissenschaftlichen Informationen - öffentliche Investitonen“ (Siehe Seite 43, 48 dieses Amtsblatts).
(2) Stellungnahme des EWSA „Zugang zu wissenschaftlichen Informationen - öffentliche Investitonen“.
(3) COM(2012) 401 final.
(4) Offener Brief von 42 Nobelpreisträgern und 5 Preisträgern der „Fields-Medaille“, 23.10.2012, http://erc.europa.eu/
(5) Die Kommission hat am 17. Juli 2012 die Vereinbarungen für die Zusammenarbeit mit der „European Association of Research and Technology Organisations“ (EARTO); Nordforsk; der „Liga der European Research Universities (LERU)“, der „European University Association“ (EUA) und mit „Science Europe“ unterzeichnet.
(6) COM(2010) 546 final.
(7) Grundprinzipien, die in den „Leitlinien für die Rahmenbedingungen der Initiativen für die gemeinsame Planung in der Forschung“ – GPC 2010, erläutert werden.
(8) Der Bericht „Europäischer Innovationsanzeiger“ macht deutlich, dass die USA, Japan und Südkorea eine höhere Ertragskraft als die EU-27 haben. Der Stellenwert der Schwellenländer wie Brasilien, China und Indien wächst, und ihr Gewicht in Bezug auf F&E nimmt zu.
(9) In 2008 betrugen diese Investitionen 1,92 % des EU-BIPs, während sie in den USA bei 2,79 % lagen (Eurostat, 2008).
(10) Patrizio Fiorilli, haushaltspolitischer Sprecher der Kommission, hat im Oktober 2012 erklärt, dass die Mittel des EU-Haushalts und der Mitgliedstaaten für die Erasmus-Stipendien gekürzt werden.
(11) So z.B. die Rahmenprogramme Europäische Weltraumagentur, Europäisches Laboratorium für Molekularbiologie und Europäische Organisation für kernphysikalische Forschung.
(12) GBAORD ist das Kriterium zur Messung der staatlichen Mittelzuweisungen oder Ausgaben für Forschung und Entwicklung.
(13) Es gibt jährlich ca. 40 000 freie Stellen für Forscher, davon 9 600 für ordentliche Universitätsprofessuren (Technopolis, 2010).
(14) Die Kommission hat 2008 zur Förderung der konkreten Umsetzung der Charta und des Verhaltenskodexes die Strategie für die personellen Ressourcen zur Ergänzung der Charta und des Verhaltenskodexes für Forscher lanciert. 2009 hat sie eine institutionelle Strategiegruppe für Humanressourcen eingesetzt, um eine Plattform für den Austausch bewährter Verfahren unter allen beteiligten Akteuren in Europa zu schaffen.
(15) ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 111.
(16) 45 % aller Doktoranten sind Frauen, jedoch lediglich 30 % aller aktiven Wissenschafter, und nur 19 % sind auf Professorenstellen. Durchschnittlich werden nur 13 % aller hochrangigen Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen und 9 % aller Hochschulen von Frauen geleitet. Siehe vorläufige Zahlen für 2012 in „Gender in Research and Innovation: statistics and innovation“ der Helsinki-Gruppe „Frauen und Wissenschaft“ - Europäische Kommission http://ec.europa.eu
(17) Der Frauenanteil von Studenten (55 %) und Absolventen (59 %) ist höher als der Männeranteil, der dann wiederum bei höheren Funktionen größer ist. Lediglich 44 % der wissenschaftlichen Mitarbeiter, 36 % der außerordentlichen Professoren und 18 % der Lehrstuhlinhaber sind Frauen.
(18) Die Entschließung des Europäischen Parlaments vom März 2012 zeigt, dass das Lohngefälle nach wie vor groß ist. Im Schnitt verdienen die Frauen in der EU 17,5 % weniger als Männer, wobei sie 60 % der jungen Hochschulabsolventen stellen.
(19) C(2008) 1329.
(20) Mit diesem Dokument sollte den Mitgliedstaaten und Interessenträgern Verfahren und Maßnahmen zur Förderung des Wissenstransfers an die Hand gegeben werden. Damit ist es aber nicht getan. Die Zahl von Mitarbeitern mit Erfahrung in der Industrie (beispielsweise in den für Verbreitung und Weitergabe von Wissen zuständigen Hochschulabteilungen) ist zudem in Europa bedeutend niedriger als in anderen Teilen der Welt. Lediglich 5 bis 6 % der Forscher in der EU sind vom öffentlichen in den privaten Sektor gewechselt und umgekehrt.
(21) COM(2012) 401 final.
(22) Stellungnahme des EWSA „Zugang zu wissenschaftlichen Informationen - öffentliche Investitonen“.
14.3.2013 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 76/37 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss: Eine Industriepolitik für die Sicherheitsbranche — Maßnahmenkatalog für eine innovative und wettbewerbsfähige Sicherheitsbranche“
COM(2012) 417 final
2013/C 76/07
Berichterstatter: Antonello PEZZINI
Die Europäische Kommission beschloss am 26. Juli 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss: Eine Industriepolitik für die Sicherheitsbranche – Maßnahmenkatalog für eine innovative und wettbewerbsfähige Sicherheitsbranche“
COM(2012) 417 final.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Januar 2013 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 486. Plenartagung am 16./17. Januar 2013 (Sitzung vom 16. Januar) mit 128 gegen 2 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält eine integrierte europäische Politik für die Sicherheitsindustrie für unerlässlich, die durch ein koordiniertes Herangehen an die Probleme der Branche, eine gemeinsame Strategie und Vision für die Entwicklung ihrer Wettbewerbsfähigkeit in einem einheitlichen europäischen Markt gekennzeichnet ist. |
1.2 |
Der EWSA hält Folgendes für unabdingbar, um die Voraussetzungen für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Branche zu gewährleisten, die über ein hohes und vielversprechendes Beschäftigungs- und Anwendungspotenzial verfügt und die die traditionelle Sicherheitsindustrie und die auf Sicherheit ausgerichtete Rüstungsindustrie umfasst. Dazu zählen jedoch auch neue Akteure, d.h. Unternehmen, die zu zivilen Zwecken entwickelte Technologien auf den Sicherheitsbereich anwenden sowie Anbieter von Sicherheitsdiensten:
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1.3 |
Der EWSA begrüßt die im Maßnahmenkatalog enthaltenen Initiativen, spricht sich jedoch für eine stärkere, auch auf die Produktkategorie ausgerichtete Zusammenarbeit und Koordinierung aus, und zwar auf Grundlage einschlägiger, detaillierter und zuverlässiger Statistiken sowie mit Blick auf das Produktions- und Beschäftigungsniveau und Größe der Unternehmen dieser Branche. |
1.4 |
Der EWSA empfiehlt die Koordinierung und Konvergenz der Informationsmanagementsysteme und Garantien für die Interoperabilität. |
1.5 |
Der EWSA befürwortet nachdrücklich den Ausbau der Möglichkeiten zur Steuerung und Vorwegnahme neuer Wettbewerbsszenarien und den Zugang zu institutionellen Finanzierungsmöglichkeiten, auch über partizipative Zukunftsforschung auf europäischer Ebene. |
1.6 |
Die Berücksichtigung sozialer und ethischer Belange muss transparent und in allen Phasen - von der Planung bis hin zur Standardisierung und praktischen Anwendung der Technologie vor Ort - garantiert sein. Bei neuen Technologien und Normen muss bereits von Anfang an auf den Schutz der Grundrechte der Bürger geachtet werden, insbesondere, um die Privatsphäre und personenbezogene Daten zu schützen. |
1.7 |
Es ist ein Einsatz der EU und die Koordinierung entsprechender nationaler Bemühungen erforderlich, um die Ausbildung und Einstellung der Arbeitskräfte zu gewährleisten, damit professionelle, hochwertige und menschengerechte Dienstleistungen erbracht werden können - unter Anwendung anspruchsvoller Technologien und unter Gewährleistung völliger Interoperabilität. |
2. Einleitung
2.1 |
Die strategisch bedeutungsvolle Sicherheitsindustrie ist mit ihren verwandten und eng miteinander verwobenen zivilen und militärischen Anwendungen die ideale Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Forschung, technologischer Innovation und anspruchsvollen Anwendungen. |
2.2 |
Diese Branche ist aufgrund ihrer Charakteristika technologieorientiert und zeichnet sich durch einen ständigen Fluss neuer Technologien aus. Die Produkte und Dienstleistungen dieser Branche sind überaus vielfältig, veralten sehr rasch und erfordern technische und wissenschaftliche Spitzenleistungen. |
2.3 |
Der Markt der Sicherheitsindustrie in der EU hat einen geschätzten Marktwert von 36,5 Mrd. EUR und gibt 180 000 Menschen in der Europäischen Union Arbeit. Weltweit ist er im vergangenen Jahrzehnt von 10 auf 100 Mrd. EUR (2011) angewachsen. Die Sicherheitsindustrie umfasst folgende Branchen: Luftsicherheit, Sicherheit des Seeverkehrs und des Verkehrs im Allgemeinen, Grenzschutz, Schutz kritischer Infrastrukturen, Informationsgewinnung zur Terrorismusbekämpfung (einschließlich Sicherheit von Information und Kommunikation und Cybersicherheit), physische Sicherheit, Krisenmanagement und Schutzbekleidung. |
2.4 |
Neben diesen Branchen ist auch die sicherheitsbezogene Raumfahrtindustrie mit ihren zahlreichen Anwendungen zu nennen. |
2.5 |
In Europa ist der Markt für sicherheitsbezogene Raumfahrtprodukte in der Hand großer multinationaler Konzerne, die auf europäischer Ebene und in den Mitgliedstaaten im zivilen und kommerziellen Bereich tätig sind, wobei die Nachfrage zu 40 % aus dem kommerziellen Bereich kommt und zu 60 % auf öffentliche Auftraggeber zurückgeht. |
2.6 |
Obwohl sich der Markt stetig entwickelt und keine Anzeichen für einen Konjunkturrückgang infolge der internationalen Krise auszumachen sind, ist die Sicherheitsindustrie in der Europäischen Union durch einen stark zersplitterten Binnenmarkt und eine industriellen Basis gekennzeichnet, die durch stark voneinander abweichende einzelstaatliche Rechtsnormen sowie unterschiedliche technische Normen geschwächt ist. Dabei finden auch die Anstrengungen im Bereich der Forschung und des öffentlichen Beschaffungswesens trotz der Bemühungen der EU, beispielsweise mit dem RP7, nach wie vor größtenteils in einzelstaatlicher Regie statt. |
2.7 |
Die EU muss die Sicherheit ihrer Bürger, ihrer Unternehmen und der Gesellschaft als Ganzes in vielen verschiedenen Zusammenhängen gewährleisten – vom Katastrophenschutz bis hin zum Schutz der Lebensmittelkette, von der Vorbeugung und Bekämpfung terroristischer Handlungen bis hin zum Schutz vor der Bedrohung durch chemische, biologische, radiologische, nukleare und explosive Gefahrenstoffe. |
2.8 |
Die Sicherheitsindustrie ist für die Zukunft von ausschlaggebender Bedeutung und besonders repräsentativ für die Herausforderungen und Chancen, denen Europa gegenübersteht: Viele europäische Unternehmen sind dank ihres technischen Know-hows in unterschiedlichen Segmenten Weltmarktführer, riskieren jedoch, Marktanteile gegenüber ihren wichtigsten Handelspartnern zu verlieren. |
2.8.1 |
Es sind einschlägige, detaillierte und zuverlässige Statistiken auch mit Blick auf das Produktions- und - und Beschäftigungsniveau und Größe der Unternehmen dieser Branche erforderlich. |
2.9 |
Die Leitung von Unternehmen der Sicherheitsindustrie ist ein sehr komplexes Unterfangen, das durch viele Faktoren bestimmt wird:
|
2.10 |
Um die Ausgangsbedingungen für eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit dieser Branche in Europa zu sichern, müssen auf dem Binnenmarkt nach Auffassung des EWSA folgende Aspekte gewährleistet sein:
|
2.11 |
Auf globaler Ebene sind die Vereinigten Staaten von Amerika der bei Weitem größte Wettbewerber. Ihre Stärke sind ein einheitlicher Rechtsrahmen, gemeinsame Normen, die starke Nachfrage der US-Bundesstaates (2) und der konsolidierte einheimische Markt, der mehr als 42 % des globalen Umsatzes ausmacht und Unternehmen vorweisen kann, die in Sachen Sicherheitstechnik eine Führungsposition einnehmen. In Japan und Israel gibt es Unternehmen, die in einigen Bereichen der Hightech-Industrie, etwa in der Informations- und Kommunikationstechnik, Spitzenpositionen innehaben, während Russland und China in der traditionellen Wehrtechnik eine hohe Entwicklungsstufe aufweisen. |
2.12 |
Angesichts der globalen Lage unterstreicht der EWSA die Notwendigkeit einer vorausschauenden europäischen Industriepolitik für die Sicherheitsbranche, die auf ein besseres Gleichgewicht zwischen dem Potenzial der Branche, den technischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, den gewerblichen Schutzrechten und vor allem einer Kategorisierung von Produkten, Dienstleistungen und Systemen ausgerichtet ist, die gemeinsamen Standards, harmonisierten Bestimmungen und harmonisierten Verfahren entsprechen, unter anderem für:
Für „sensible“ Produkte hingegen sollen Regulierungs- und Zugangsbedingungen nach Bewertungen und Übereinkünften in einer Einzelfallbetrachtung festgelegt werden, um bestimmte Qualitäts- und Sicherheitsmaßstäbe zu gewährleisten. |
2.13 |
Der EWSA hat mehrfach betont, dass sicherheitspolitische Konzepte für Netze und Datenbestände entwickelt werden müssen, handelt es sich dabei doch um wesentliche Elemente der digitalen Agenda für Europa. |
2.14 |
Der EWSA hat sich bereits zu den wesentlichen Aspekten der Flug- und Luftsicherheit (3), der Meeresüberwachung (4), der Sicherheit der Verkehrsträger (5) sowie zur operativen Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten (6) geäußert, wobei die Rolle der Agentur Frontex und die Notwendigkeit eines globalen Politikansatzes für den Grenzschutz und die Bekämpfung der illegalen Zuwanderung unterstrichen wurde. |
2.15 |
Bezüglich der weltraumgestützten Umwelt- und Sicherheitsüberwachung hat der EWSA wiederholt auf die Bedeutung der Sentinel-Satelliten, des GMES-Programms und des Satellitennavigationssystems Galileo hingewiesen (7). |
2.16 |
Verschiedene Untersuchungen haben deutlich gemacht, wie wichtig Demonstrationsprojekte im Bereich der Sicherheitstechnologien zum Schutz gegen chemische, biologische, radiologische, nukleare und explosive Gefahrenstoffe (CBRNE) sind. |
2.17 |
Das 7. Forschungsrahmenprogramm (FRP) ist das erste, das ein besonderes, mit 1,4 Mrd. EUR ausgestattetes Forschungsprogramm für die Sicherheit enthält. Im Mittelpunkt stehen dabei ausschließlich Projekte für die zivile Anwendung sowie die Entwicklung von Technologien und Erkenntnissen, die auf den Schutz der EU-Bürger (8) ausgerichtet sind, wobei ihre Privatsphäre und Grundrechte zu wahren sind. |
2.18 |
Nach Ansicht des EWSA sollte die Nutzung von zivil-militärischen Hybridtechnologien erleichtert und dadurch in Zusammenarbeit mit der Europäischen Verteidigungsagentur geeignete Standards entwickelt werden. Des Weiteren sollte das Thema „Sicherheit“ – auch im Rahmen der Grundlagentechnologien des neuen Rahmenprogramms für Forschung und Innovation (9) – mit größerem Engagement und aufgestockten Ressourcen gefördert und dadurch Demonstrations- und Pilotprojekte angeregt werden. |
2.19 |
Die Europäische Kommission reiht die Sicherheitsindustrie unter die wichtigsten Faktoren der Europa-2020-Leitinitiative „Eine integrierte Industriepolitik für das Zeitalter der Globalisierung“ ein, zu der der EWSA bereits Stellung genommen hat (10). |
2.20 |
Der EWSA hält es für außerordentlich wichtig, eine einheitliche europäische Strategie für einen integrierten Ansatz zur Sicherheitsindustrie ins Leben zu rufen, denn die Sicherheit gehört zu den wichtigsten Anliegen der heutigen Gesellschaft. Sie ist eine grundlegende Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung und erfordert von allen Mitgliedstaaten vereinte Anstrengungen und geteilte Ansichten, um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. |
3. Wesentlicher Inhalt des Kommissionsdokuments
3.1 |
Die Mitteilung veranschaulicht die strategische Bedeutung der Sicherheitsindustrie und enthält eine Beschreibung der wichtigsten Maßnahmen, mit denen die Kommission diesen Prozess begleiten will und die zu einer innovativeren und wettbewerbsfähigeren Sicherheitsindustrie führen sollen. |
3.2 |
Der vorgeschlagene Maßnahmenkatalog enthält folgende Leitlinien:
|
3.3 |
Die Kommission plant, eine Sachverständigengruppe einzurichten, die nach klaren zeitlichen Vorgaben den Stand der Durchführung der vorgeschlagenen Maßnahmen überwachen soll. |
4. Allgemeine Bemerkungen
4.1 |
Der EWSA ist der Auffassung, dass es für die Unionsbürger, die Unternehmen und ihre Beschäftigten, die europäische Gesellschaft insgesamt wie auch für die Entwicklung einer wettbewerbsfähigen und nachhaltigen Wirtschaft von ausschlaggebender Bedeutung ist, auf EU-Ebene einen integrierten und koordinierten Ansatz zur Bewältigung der Herausforderungen auf dem Gebiet der Sicherheit und der Entwicklung einer entsprechenden europäischen Industriebranche zu schaffen. Zu diesem Zweck sollte sie eine komplexe EU-Strategie auf dem Gebiet der Sicherheitssysteme erarbeiten, in deren Mittelpunkt der Mensch und die menschliche Würde stehen und die darauf ausgerichtet ist, die grundlegenden Bedürfnisse im Bereich der Freiheit und der Sicherheit zu befriedigen. |
4.2 |
Nach Ansicht des EWSA sollte eine größere Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, welchen Mehrwert die bereits bestehenden Agenturen – beispielsweise die Europäische Verteidigungsagentur (EDA), die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (FRONTEX), das Europäische Polizeiamt (EUROPOL), die Europäische Agentur für Netz- und Informationssicherheit (ENISA), die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA), die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (EMSA), die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und die Europäische Chemikalienagentur (ECHA – System für chemische Produkte/REACH) in Helsinki sowie die bestehenden Frühwarnsysteme wie das Schnellwarnsystem für Verbraucherprodukte im Nonfood-Bereich (RAPEX) bieten können. |
4.3 |
Der EWSA teilt die Ansicht der Kommission, dass die Spitzenpositionen zahlreicher europäischer Unternehmen in diesem Sektor umfassend genutzt werden müssen, indem proaktiv ein echter gemeinsamer und funktionaler, nicht durch Hindernisse zersplitterter Binnenmarkt und eine Branche gefördert wird, die unter dem Aspekt der Beschäftigung ein umfangreiches und vielversprechendes Produktions- und Dienstleistungspotenzial aufweist. |
4.4 |
Daher sollte man bei der Festlegung eines europäischen Aktionsplans nach Ansicht des EWSA einen Schritt weitergehen und eine echte gemeinsame europäische Strategie für die Sicherheitsindustrie ins Leben rufen, der eine gemeinsame Vision zugrunde liegt und die eine europäische Plattform, auf der die verschiedenen Aspekte der Sicherheit zusammenlaufen, sowie eine Verwaltung umfasst, die in der Lage ist, ein wirksames und koordiniertes Handeln zu gewährleisten. |
4.5 |
Konkrete Formen könnte diese auf einem integrierten Ansatz beruhende Strategie in einer virtuellen Plattform annehmen, die ethische und administrative Themen, sektorübergreifende Aspekte sowie den Aspekt der Interoperabilität zusammenbringt. |
4.6 |
Nach Ansicht des EWSA müssen die Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Entscheidungsträgern in Politik und Industrie überwunden werden – auch durch eine Förderung von Initiativen wie dem Europäischen Sicherheitskongress und durch ein Forum des ständigen Dialogs wie das Sicherheitspolitische Forum. |
4.7 |
Um die Zersplitterung des europäischen Binnenmarktes zu überwinden, müssen folgende Faktoren gegeben sein:
|
4.8 |
Nach Ansicht des EWSA sollten neben der Berücksichtigung sozialer Belange bereits in der Planungsphase der Produkte, Dienstleistungen und Systeme auch Mechanismen zur Beteiligung der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft an den Überwachungsmaßnahmen eingeführt werden, damit die sozialen und ethischen Belange bei der Entwicklung der Sicherheitsindustrie und ihrer technischen Anwendungen und Produkte berücksichtigt werden. |
4.8.1 |
Die Erteilung von technischen Normungsaufträgen im Einklang mit der Europäischen Verteidigungsorganisation sollte gemäß den Grundsätzen der neuen Standardisierungspolitik erfolgen – mit einem öffentlichen und transparenten Jahresarbeitsprogramm, mit uneingeschränkter Beteiligung der Sozialpartner und der Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft, mit Spezifizierungen für öffentliche Ausschreibungen, die nach einem grundsätzlich offenen, konsensorientierten, transparenten, relevanten, neutralen und qualitätsorientierten Verfahren ausgearbeitet werden (11). |
4.8.2 |
Der EWSA befürwortet den vorgeschlagenen Ansatz zur gegenseitigen Anerkennung der Zertifizierungssysteme, insofern es gelingt, einheitliche Kompetenzniveaus für die akkreditierten Zertifizierungsstellen vorzugeben sowie strengere Auswahlkriterien und harmonisierte Auswahlverfahren für Konformitätsbewertungen zu realisieren (12). |
4.9 |
Der EWSA hält die regulatorische Anerkennung der Technologien mit doppeltem Verwendungszweck für sehr wichtig, um die zivil-militärischen Hybridtechnologien zu fördern. Er spricht sich darüber hinaus für ein stärkeres – finanzielles oder inhaltliches – Engagement im Rahmen der Priorität Grundlagentechnologien gemäß „Horizont 2020“ sowie durch Finanzierung aus dem künftigen Fonds für die innere Sicherheit aus. |
4.9.1 |
Was das gewerbliche und geistige Eigentum anbelangt, so sind zwar die innovativen Ansätze des Programms „Horizont 2020“ sicherlich von Bedeutung, doch sollten der Schutz des geistigen Eigentums innerhalb der WTO und im Rahmen der bilateralen und multilateralen Assoziierungsabkommen in Europa verstärkt werden, wobei die Klauseln über die Haftungsbeschränkung und den Zugang zu ausländischen Märkten mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtet werden müssen. |
4.9.2 |
Der EWSA stimmt mit der Kommission darin überein, dass die neuen Möglichkeiten des im Programm „Horizont 2020“ vorgesehenen Instruments der vorkommerziellen Auftragsvergabe umfassend genutzt werden müssen. |
4.10 |
Der EWSA befürwortet uneingeschränkt den Ausbau der sozialen und ethischen Dimension in den Vorschriften für die Sicherheitsindustrie. |
5. Besondere Bemerkungen
5.1 |
Überwindung der Zersplitterung des Marktes durch Produktkategorien. Der EWSA empfiehlt, die Maßnahmenschwerpunkte nicht nach Branche, sondern nach den Kategorien derjenigen Produkte festzulegen, die am ehesten in der Lage sind, den Erfordernissen des Binnenmarktes zu genügen. Zu diesem Zweck müssen Regelungen und Verfahren auf Grundlage ihres hohen Marktpotenzials und ihrer Auswirkungen auf zahlreiche Bürger und Beschäftigte harmonisiert werden. Die Förderung der Entwicklung von KMU muss dabei sowohl im Hinblick auf Finanzmittel und Forschungsressourcen, als auch in organisatorischer Hinsicht mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht werden. |
5.2 |
Forschung und Innovation, Rechte am geistigen Eigentum und Auftragsvergabe. Der EWSA fordert: eine Aufstockung der für den Bereich der Sicherheitstechnologie im Rahmen von „Horizont 2020“ vorgesehenen EU-Mittel und gleichzeitig eine starke Präsenz im Bereich der „Grundlagentechnologien“; im Rahmen des Programms ISA (13) den Ausbau der gemeinsamen Projekte zur Interoperabilität im Bereich der Sicherheit; im Hinblick auf staatliche Innovationsbeihilfen die Anwendung von Ausnahmeregelungen für den Sektor; eine Kontrolle der effizienten Umsetzung der Richtlinie EG/2004/18 und EG/2009/81 sowie der Instrumente der vorkommerziellen Auftragsvergabe für die Sicherheitsindustrie; eine intensivere öffentlich-private und zivil-militärische Zusammenarbeit sowie eine Erleichterung der Strategien zur grenzübergreifenden Fusion bzw. zum grenzübergreifenden Zusammenschluss von Unternehmen; die Harmonisierung der Vorschriften zur Haftungsbegrenzung und schließlich bessere interne Regelungen zum Schutz der Rechte des geistigen Eigentums. |
5.3 |
Zugang zu internationalen Märkten. Der EWSA ist der Ansicht, dass die integrierten und gemeinsamen außenpolitischen Maßnahmen im Bereich der Sicherheitsindustrie verstärkt werden müssen, und zwar durch einen besseren Schutz des geistigen Eigentums innerhalb der WTO und im Rahmen der bilateralen und multilateralen Assoziierungsabkommen in Europa, durch die Gewährleistung des Zugangs zu internationalen Märkten und zu öffentlichen Aufträgen auf Grundlage der Gegenseitigkeit, eines verstärkten europäischen Engagements bei der internationalen Normung sowie durch die Schaffung eines europäischen Gütesiegels Euro Security Label. |
5.4 |
Soziale und ethische Dimension. Alle sicherheitsbezogenen Systeme, Produkte und Dienstleistungen müssen mit den Grundfreiheiten und Grundrechten der Bürger, insbesondere mit dem Recht auf Schutz der Privatsphäre vereinbar sein und zum wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt, zu einem sicheren Handel sowie zum Wohlbefinden und zur Sicherheit der Menschen beitragen. Die technologischen Entwicklungen sollten dazu beitragen, den Schutz personengebundener Daten und der Privatsphäre von vornherein zu erhöhen und mit Unterstützung des öffentlich-privaten Dialogs die Instrumente für eine transparente und verantwortungsvolle Anwendung des Rechts zur Verfügung stellen, in dessen Mittelpunkt der Schutz des Menschen stehen muss. |
5.5 |
Dimension der Ausbildung und Eingliederung qualifizierter Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt, die den Erfordernissen der Sicherheit und der Anwendung anspruchsvoller Sicherheitstechnologien Rechnung trägt, um zu gewährleisten, dass unter Achtung des Menschen und unter Gewährleistung völliger Interoperabilität hochwertige Dienstleistungen erbracht werden. |
Brüssel, den 16. Januar 2013
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) Vgl. ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 25.
(2) Siehe Homeland Security Act of 2002 und US Safety Act of 2002.
(3) Siehe ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 39, ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 142.
(4) Siehe ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 173.
(5) Siehe ABl. C 65 vom 17.3.2006, S. 30.
(6) Siehe ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 162 und ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 134.
(7) Siehe ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 47 und ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 73 und ABl. C 181 vom 12.6.2012, S. 175.
(8) Nach der Hälfte seiner Laufzeit waren bereits mehr als 130 Forschungsprojekte im Bereich der Sicherheit vom 7. FRP finanziert worden. Die Europäische Kommission hat eine Liste der erfolgreich mit Mitteln aus dem 7. FRP finanzierten Projekte veröffentlicht.
(9) Vgl. INT/651 „Schlüsseltechnologien“.
(10) ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 38.
(11) Siehe ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 35.
(12) Siehe ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 1.
(13) ISA – Interoperability Solutions for European Public Administrations 2010-2015 [Interoperabilitätslösungen für europäische öffentliche Verwaltungen].
14.3.2013 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 76/43 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Verbesserung und Fokussierung der internationalen Zusammenarbeit der EU in Forschung und Innovation: ein strategischer Ansatz“
COM(2012) 497 final
2013/C 76/08
Berichterstatter: Gerd WOLF
Die Europäische Kommission beschloss am 14. September 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Verbesserung und Fokussierung der internationalen Zusammenarbeit der EU in Forschung und Innovation: ein strategischer Ansatz“
COM(2012) 497 final.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Januar 2013 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 486. Plenartagung am 16./17. Januar 2013 (Sitzung vom 16. Januar) mit 133 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Zusammenfassung
1.1 |
Der Erfolg von Forschung und Innovation entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit Europas im globalen Umfeld, also über die Basis von Arbeitsplätzen, sozialen Leistungen und Wohlstand. Das Programm Horizont 2020 umfasst die dazu vorgesehenen und dringend erforderlichen Fördermaßnahmen seitens der EU. Internationale Zusammenarbeit mit Partnern in Staaten außerhalb der EU ist ein Teilaspekt davon. |
1.2 |
Sie hat zahlreiche positive Auswirkungen auf den diesbezüglichen Fortschritt der daran beteiligten Partner und auf die Völkerverständigung. |
1.3 |
Ihr Nutzen für Europa hängt jedoch entscheidend von der Attraktivität des Europäischen Forschungsraums sowie vom Prestige und der Leistungsfähigkeit der jeweiligen europäischen Universitäten, Forschungseinrichtungen und Unternehmen einschließlich KMU ab. Es gehört zu den wesentlichen Zielen der Strategie Europa 2020, die dazu erforderlichen Voraussetzungen europaseitig zu verwirklichen. |
1.4 |
Umso dringlicher ist es daher, angesichts der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise eine antizyklische, europäische Förderpolitik durchzusetzen und den Europäischen Forschungsraum, seine Grundlagen und seine internationale Dimension mit allen finanziellen und strukturellen Maßnahmen zu stärken, attraktiv zu gestalten und von Kürzungen zu verschonen. Das Budget für Horizont 2020 darf nicht als Spielball andersartiger Interessenskonflikte missbraucht werden. |
1.5 |
Hauptziel von Rahmenvereinbarungen mit Partnerstaaten soll ein „level playing field“ mit reziproken Rechten und Pflichten sein. Ansonsten sollen Kooperationspartner durch europaseitige Regelwerke nicht stärker eingeschränkt werden, als dies für die europäische Interessenlage unbedingt erforderlich ist. Kreativität benötigt Freiraum! |
1.6 |
Gemäß dem Grundsatz der Subsidiarität sollten projektbezogene Kooperationsvereinbarungen jeweils von jenen Stakeholdern getroffen werden, die selbst am betreffenden Kooperationsprojekt beteiligt sind bzw. als Organisation dafür gerade stehen müssen. |
1.7 |
Große Forschungsinfrastrukturen und Demonstrationsprojekte können die Leistungsfähigkeit und auch das Nutzungspotential eines einzelnen Mitgliedstaats – ja vielleicht sogar der EU insgesamt – übersteigen und bedürfen daher ggf. einer direkten Beteiligung der Kommission. |
1.8 |
Voraussetzung für den Erfolg internationaler Kooperationsprojekte sind Verlässlichkeit, Kontinuität und Reservehaltung während der gesamten Laufzeit. Dies bedarf besonderer Vorkehrungen. Zudem ist eine ausreichende Mobilität der beteiligten Fachleute zu gewährleisten und zu fördern. |
1.9 |
Internationale Zusammenarbeit ist kein Selbstzweck, sondern bindet Arbeitskräfte und muss sich jeweils aus dem zu erwartenden Mehrwert begründen. Sie sollte sich nicht zu einem politischen Vehikel kommissionsseitiger Außenpolitik entwickeln. |
1.10 |
Leitmotiv muss das Eigeninteresse der EU sein, sowie die Stärkung des Europäischen Forschungsraums und der europäischen Innovationskraft. Darum sollten mit europäischen Mitteln geförderte Kooperationen mit Partnern aus noch in Entwicklung befindlichen Staaten, vorzugsweise aus den für Entwicklungshilfe vorgesehenen Budgets, gefördert werden. |
1.11 |
Für europäische Kooperationspartner ist es ein entscheidender wirtschaftlicher Nachteil, dass zur Absicherung des geistigen Eigentums immer noch kein EU-Gemeinschaftspatent existiert. Der Ausschuss appelliert an Parlament, Kommission und Rat, den geplanten Vorstoß für ein Europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung zu unterstützen und die Blockade endlich zu brechen. Dabei sollte auch europaseitig eine neuheitsunschädliche Schonfrist eingeführt werden. |
1.12 |
Informationen über die Umsetzung des strategischen Ansatzes sollen ohne neue Instrumente gewonnen werden, sondern z.B. aus den Erhebungen des Europäischen Semesters. |
2. Kurzinhalt der Mitteilung der Kommission
2.1 |
In der Mitteilung sind die Gründe, strategischen Ziele und einige Verfahrensweisen internationaler Zusammenarbeit für Forschung, Entwicklung und Innovation dargelegt. Darunter wird die Zusammenarbeit mit Partnern außerhalb der EU verstanden. |
2.2 |
Die genannten Ziele sind:
|
2.3 |
Der neue strategische Ansatz für die internationale Zusammenarbeit in Forschung und Innovation soll durch folgende Faktoren bestimmt werden:
|
3. Allgemeine Bemerkungen des Ausschusses
3.1 |
Der Erfolg von Forschung und Innovation entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit Europas im globalen Umfeld, also über die Basis von Arbeitsplätzen, sozialen Leistungen und Wohlstand. Das Programm Horizont 2020 umfasst die dazu vorgesehenen und dringend erforderlichen Fördermaßnahmen seitens der Europäischen Kommission. Internationale Zusammenarbeit ist ein Teilaspekt des Programms Horizont 2020. |
3.2 |
Internationale Zusammenarbeit in Forschung und Innovation hat zahlreiche positive Auswirkungen auf den diesbezüglichen Fortschritt der daran beteiligten Partner und auf die Völkerverständigung. Dies gilt nicht nur innerhalb des Europäischen Forschungsraums, sondern auch global und damit für die hier zur Diskussion stehende Thematik. Der Ausschuss bekräftigt seine früheren Empfehlungen zu diesem Thema (1). |
3.3 |
Demzufolge begrüßt der Ausschuss die neue Mitteilung der Kommission und unterstützt im Wesentlichen deren Ziele und Argumente. |
3.4 |
Die europaseitigen Verhandlungspositionen bei beginnenden Partnerschaften sowie der Nutzen internationaler Zusammenarbeit für die EU hängen entscheidend von der Attraktivität des Europäischen Forschungsraums sowie vom Prestige und der Leistungsfähigkeit der jeweiligen europäischen Universitäten und Forschungseinrichtungen sowie von der Innovationskraft der Unternehmen einschließlich KMU ab. |
3.5 |
Es gehört zu den wesentlichen Zielen der Strategie Europa 2020, die dazu erforderlichen Voraussetzungen europaseitig zu verwirklichen. Umso dringlicher ist es daher, angesichts der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise eine antizyklische europäische Förderpolitik durchzusetzen, also hier nicht zu kürzen, sondern den Europäischen Forschungsraum, seine Grundlagen und seine internationale Dimension mit allen finanziellen und strukturellen Maßnahmen zu stärken und attraktiv zu gestalten. Genau dafür muss aber das Budget für Horizont 2020 mindestens in dem von der Kommission vorgeschlagenen Umfang ausgestattet werden. Der Ausschuss wiederholt daher seinen mehrfachen Appell an das Europäische Parlament und den Rat, hier keine Einschränkungen zuzulassen und dieses Budget nicht zum Spielball der Interessenskonflikte zu missbrauchen. |
3.6 |
Erfolgreiche Forschung und Innovation gedeihen nicht in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen. Der Ausschuss wiederholt seinen mehrfachen Appell, in jenen Mitgliedstaaten innerhalb des Europäischen Forschungsraums, die derzeit nicht ausreichend mit exzellenten Forschungseinrichtungen und Innovationsschmieden ausgestattet sind, diesen Nachteil mit Hilfe der Struktur- und Kohäsionsfonds schnellstmöglich zu beseitigen sowie durch erfolgreiche Förder- und Wirtschaftspolitik ausreichend viele exzellente Forscher und ein innovatives Unternehmertum entstehen zu lassen. Nur auf diese Weise kann das hilfreiche Konzept „Teaming of Excellence“ verwirklicht werden (2). Der Ausschuss appelliert daher auch an alle Mitgliedstaaten (und soweit betroffen, ebenso an die Privatwirtschaft), ihrerseits die Ziele der Lissabon-Strategie, welche nunmehr auch in die Strategie Europa 2020 übernommenen wurden, endlich zu erfüllen und 3 % des GNP für Forschung und Entwicklung aufzuwenden! |
3.7 |
Erklärtes Ziel der Kommission ist die „vollständige Öffnung von ‚Horizont 2020‘ für Teilnehmer aus Drittländern, so dass europäische Forscher mit den besten Wissenschaftlern weltweit zusammenarbeiten können“. Diese Möglichkeit besteht (3) natürlich seit vielen Dekaden und wird auch intensiv genutzt. Die Kommission sollte daher die Ausgangslage deutlicher darstellen. Sie sollte erklären, mit welchen neuen Mitteln sie welche zusätzlichen Freiheiten hier erreichen will, und was neu gestattet und neu gefördert werden soll. |
3.8 |
Seitens der Kommission wird vorgeschlagen, als wichtige Unterstützungsmaßnahmen für erfolgreiche internationale Zusammenarbeit Rahmenvereinbarungen mit potentiellen Partnerstaaten abzuschließen. Nach Meinung des Ausschusses sollte es dabei in erster Linie um die besonders innovationsfreudigen, erfolgreichen und leistungsfähigen Industriestaaten gehen. Dabei sollten die Rahmenvereinbarungen – in Analogie zum Freihandelsabkommen – vor allem für ein „level playing field“ mit reziproken Rechten und Pflichten sorgen. Ansonsten sollten potentielle Partner durch europaseitige Regelwerke nicht stärker eingeschränkt werden, als dies für die europäische Interessenlage unbedingt erforderlich ist. |
3.9 |
Rahmenvereinbarungen müssen alle sachfremden Gesichtspunkte und Einflussnahmen vermeiden und genügend Flexibilität und Freiraum belassen, um Verträge schließen zu können, die den jeweiligen Einzelfällen und deren Ausgangslage bestmöglich angepasst sind. Kreativität benötigt Freiraum! |
3.10 |
Besonders wichtig sind ausreichende Verlässlichkeit, Kontinuität und Reservehaltung während der gesamten Laufzeit von Kooperationsprojekten. Dies ist eine anspruchsvolle Aufgabe und bedarf besonderer Vorkehrungen. |
3.11 |
Gemäß dem Grundsatz der Subsidiarität sollten Kooperationsvereinbarungen jeweils von jenen Stakeholdern getroffen werden, die selbst am betreffenden Kooperationsprojekt beteiligt sind bzw. als Organisation dafür gerade stehen müssen. |
3.12 |
Die Kommission sollte ihrerseits nur in solchen Fällen – wie bei wissenschaftlich-technischen Großprojekten – direkt involviert sein, bei denen das Potential eines einzelnen Mitgliedstaats, einer einzelnen Firma oder einer einzelnen Forschungsorganisation unzureichend ist, sie sollte dann aber auch die Verantwortung hierfür tragen. Der Ausschuss erinnert daran (4), dass es besonders die großen Forschungsinfrastrukturen und Demonstrationsprojekte sind, welche die Leistungsfähigkeit und auch das Nutzungspotential eines einzelnen Mitgliedstaats – ja vielleicht sogar der EU insgesamt – übersteigen können und daher einer stärkeren Beteiligung seitens der Kommission bedürfen. |
3.13 |
Demgegenüber entwickeln sich die meisten Formen internationaler Zusammenarbeit über die persönlichen Kontakte von Forschern, Forschergruppen, Unternehmen einschließlich KMU oder Forschungsorganisationen, wie sie typischerweise auf den internationalen Fachkonferenzen oder Fachmessen entstehen und dort auch gepflegt werden Diese Prozesse der Selbstorganisation sind wahrzunehmen, anzuerkennen, zu nutzen und deutlicher zu fördern. Der Ausschuss bedauert, dass seine wiederholten Empfehlungen dazu bisher keine erkennbare Resonanz seitens der Kommission gefunden haben. |
3.14 |
Ausreichende Mobilität der an Kooperationsprojekten beteiligten Fachleute ist eine Voraussetzung für den Erfolg. Dieser Aspekt sollte kommissionsseitig ausgebaut werden, ggf. analog zu den Regelungen und Fördermodellen für innereuropäische Mobilität. |
3.15 |
Der Ausschuss ist besorgt (Ziffer 5 der Mitteilung der Kommission), dass sich internationale Zusammenarbeit seitens der Kommission zu einem politischen Selbstzweck oder zu einem Vehikel kommissionsseitiger Außenpolitik entwickeln könnte. Zusammenarbeit ist aber kein Selbstzweck, sondern erfordert zusätzlichen Aufwand, der sich ausschließlich aus der Vermehrung und Ergänzung von Wissen und Fähigkeiten, sowie aus dem Ertrag an Innovationen rechtfertigt. Darum sollten Kooperationsprojekte auch nicht mehr Mitwirkende umfassen, als zum Mehrwert beitragen können. |
3.16 |
Dabei geht es nicht nur um die Prioritäten bei der Mittelverteilung, sondern auch um den administrativen Aufwand. Obwohl der innereuropäische Aufwand von Horizont 2020 durch die angekündigten Maßnahmen zur Vereinfachung (5) hoffentlich reduziert werden kann, erfordert er nach wie vor einen wesentlichen Anteil der Arbeitskraft von Wissenschaftlern und Forschern. Dies jetzt durch eine möglicherweise zu formalen Prozeduren unterliegende Zusammenarbeit auf globaler Ebene zu ergänzen, beinhaltet die Gefahr erneuter bürokratischer Aufblähung. |
3.17 |
Ein weiteres Bedenken betrifft die Verwendung der leider immer noch zu geringen finanziellen Mittel von Horizont 2020. Soweit diese in Drittländer außerhalb der EU fließen, werden sie automatisch der Verwendung innerhalb des Europäischen Forschungsraums entzogen. Hier ist in allen Fällen eine sorgfältige Prioritätenabwägung erforderlich, auch angesichts des beachtlichen Nachholbedarfs von EU-Mitgliedstaaten. Daher sollten solche Kooperationen, welche primär den Charakter einer Entwicklungshilfe haben, vorzugsweise aus den für Entwicklungshilfe vorgesehenen Budgets gefördert werden. |
3.18 |
In der Mitteilung der Kommission wurde auch die Frage des geistigen Eigentums angesprochen und als Grund für eine „europäische“ Vorgehensweise angeführt. Soweit Grundlagenforschung involviert ist, geht es dabei primär um die Anerkennung der zeitlichen Priorität einer neuen Entdeckung oder Erkenntnis. Aber bereits im Übergangsbereich zur Anwendung kommt selbstverständlich jeweils auch die Frage nach der Patentierbarkeit einer möglichen Erfindung ins Spiel. |
3.19 |
Hier schwärt seit Dekaden eine europäische Wunde: noch gibt es kein EU Gemeinschaftspatent! Dies führt in der EU für alle Unternehmen und insbesondere für KMUs entweder zu vielfachen Kosten im Vergleich zu ihren außereuropäischen Kooperationspartnern (z.B. in den USA) oder aber sogar zum Verzicht auf ein Patent, also zum Verlust des Patentschutzes. Der Ausschuss appelliert an Parlament, Kommission und Rat (6), den in naher Zukunft geplanten Vorstoß für ein Europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung voll zu unterstützen und die Blockade endlich zu brechen. Er begrüßt die diesbezüglichen Entschließungen des Europaïschen Parlaments (7). Dabei sollte auch europaseitig eine neuheitsunschädliche Schonfrist (8) eingeführt werden. |
3.19.1 |
Zudem sollten die Regelungen zum geistigen Eigentum bei international verflochtenen Gemeinsamen Technologieinitiativen (Joint Technology Initiatives) nochmals diskutiert und überprüft werden. |
4. Besondere Bemerkungen des Ausschusses
4.1 |
Nach Vorschlag der Kommission soll die Liste der Länder, die für eine automatische Förderung in Frage kommen, dadurch beschränkt werden, dass das derzeitige Auswahlkriterium, welches sich ausschließlich auf das Pro-Kopf-BNE stützt, durch ein zusätzliches Kriterium auf der Grundlage des gesamten BIP ergänzt wird, wobei Länder oberhalb einer bestimmten Schwelle ausgeschlossen werden. |
4.1.1 |
Nach Meinung des Ausschusses sollte dies differenzierter behandelt werden. Primäres Kriterium für eine seitens der EU bezuschusste Zusammenarbeit mit ausgewählten Angehörigen von Staaten außerhalb der EU sollte ausschließlich das spezifische Interesse bzw. der Bedarf europäischer Organisationen, Unternehmen und KMU, Wissenschaftler und Forscher an dem damit verbundenen Zugewinn an Know-how sein. Im Vordergrund muss die Förderung des Europäischen Forschungsraums stehen. Auch wenn ein hervorragender Experte aus Ländern mit höherem BIP für ein Projekt benötigt wird, sollte er dann gefördert werden können, wenn keine andere Möglichkeit besteht, seine Fähigkeiten und sein Wissen für europäische Interessen zu nutzen. Entscheidendes Leitmotiv muss das Eigeninteresse der EU sein! |
4.2 |
Nach Ansicht der Kommission werden objektive Informationen für die Umsetzung des strategischen Ansatzes benötigt. Der Ausschuss begrüßt die mündliche Aussage des Kommissionsvertreters, dass kein zusätzlicher Aufwand für die in der Mitteilung vorgeschlagene statistische Erhebung und Datensammlung vorgesehen ist, sondern dass dazu seitens der Kommission auf bereits vorhandene Quellen zurückgegriffen werden soll. Der Ausschuss empfiehlt, z.B. die Erhebungen des Europäischen Semesters (9) zu nutzen, um zusätzliche Belastungen für Unternehmer und Forscher zu vermeiden. |
Brüssel, den 16. Januar 2013
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) Siehe dazu ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 13.
(2) Siehe z.B. Peter Gruss in MaxPlanckForschung 3/12, S. 6, ISSN 1616-4172.
(3) Siehe dazu bereits ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 13, Ziffer 3.2.
(4) Siehe dazu insbesondere ABl. C 181 vom 21.06.2012, S. 111, Ziffer 4.3.1.
(5) Siehe ABl. C 48 vom 15.02.2011, S. 129, Ziffer 1.2.
(6) Rat der Europäischen Union 23. Juni 2011 – 11328/11.
(7) http://www.europarl.europa.eu/news/de/pressroom/content/20121210IPR04506/html/Parlament-verabschiedet-einheitlichen-EU-Patentschutz
(8) Siehe die Stellungnahme des EWSA „Zugang zu wissenschaftlichen Informationen – öffentliche Investitionen“, Ziffer 3.4. (Siehe Seite 48 dieses Amtsblatts).
(9) http://ec.europa.eu/europe2020/making-it-happen/index_en.htm
14.3.2013 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 76/48 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Verbesserung des Zugangs zu wissenschaftlichen Informationen: Steigerung der Wirkung öffentlicher Investitionen in die Forschung“
COM(2012) 401 final
2013/C 76/09
Berichterstatter: Gerd WOLF
Die Europäische Kommission beschloss am 17. Juli 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Verbesserung des Zugangs zu wissenschaftlichen Informationen: Steigerung der Wirkung öffentlicher Investitionen in die Forschung“
COM(2012) 401 final.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Januar 2013 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 486. Plenartagung am 16./17. Januar 2013 (Sitzung vom 16. Januar) mit 151 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 |
Der Zugang zu wissenschaftlichen Informationen ist eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Forschung und Innovationsförderung, also auch für die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Dazu gehört der Wissenstransfer zwischen Forschern, zwischen Forschungspartnerschaften – insbesondere zwischen Forschung und Unternehmen – sowie zwischen Forschern und Bürgern. |
1.2 |
Unter Berücksichtigung der nachfolgenden Aussagen unterstützt der Ausschuss die von der Kommission formulierten Ziele und Vorschläge; er sieht darin eine – technisch durch das Internet ermöglichte – Erleichterung und potenzielle Effizienzsteigerung wissenschaftlicher Arbeit. |
1.3 |
Um diese Ziele erfolgreich umzusetzen, sind Urheberschaft und geistiges Eigentum der Forscher und ihrer Organisationen weiterhin sicherzustellen, die Freiheit von Wissenschaft und Forschung nicht anzutasten sowie von den Forschern effizienzmindernde Zusatzarbeit oder administrativen Mehraufwand fernzuhalten. |
1.4 |
Der freie Zugang (via Internet) zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist eine den heutigen technischen Möglichkeiten angepasste Erweiterung bzw. Ergänzung von Bibliotheken. Er ist sehr hilfreich, wird inzwischen vielfach praktiziert und sollte weiterverfolgt und komplettiert werden. Anzustreben ist eine globale Symmetrie zwischen Europa und den außereuropäischen Staaten. |
1.5 |
Die Bewahrung wissenschaftlicher Informationen (Speicherung von Forschungsdaten) für möglichen späteren Gebrauch ist notwendig; sie gehört heute zur guten wissenschaftlichen Praxis. Der Ausschuss begrüßt die Absicht der Kommission, die dazu benötigten Infrastrukturen auch zukünftig zu unterstützen. Soweit Datenspeicherung in Projektvereinbarungen detaillierter behandelt werden sollte, ist zusammen mit den betroffenen Forschern jeweils fachspezifisch über Umfang, Format, Detaillierung und Beschreibung (mit Metadaten) zu entscheiden. |
1.6 |
Darauf aufbauend ergibt sich die Frage eines freien (also allgemeinen, globalen, kostenfreien, unkontrollierten und bedingungslosen) Zugangs per Internet zu gespeicherten Forschungsdaten. Diese Frage hat viele Aspekte, sie betrifft die bisherige Wissenschaftskultur und ist sehr differenziert und behutsam zu behandeln. Während Forschungsbereiche denkbar sind, bei denen freier externer Zugang nützlich und unbedenklich sein kann, stehen dem in vielen anderen Bereichen entscheidende Gesichtspunkte entgegen. Vor einer Verallgemeinerung wird daher gewarnt. |
1.7 |
Für ausgewählte Fälle sollten mögliche Lösungen darum schritt- und versuchsweise auf heute bereits üblichen freiwilligen Verfahren des selbstorganisierten Datenaustauschs (Beispiel: CERN, World Wide Web!) aufbauen und im Einvernehmen mit den im Forschungsprozess aktiven Wissenschaftlern in einem Pilotprojekt empirisch erprobt werden. Allerdings dürfen bei den damit verbundenen administrativen Prozeduren die gerade begonnenen Bemühungen um Vereinfachung nicht durch neue Auflagen oder Zusatzprozeduren konterkariert werden. |
1.8 |
Davon unbeschadet könnte – vor allem im Falle einer globalen Symmetrie zwischen Europa und den außereuropäischen Staaten – der freie Zugang zu einer sinnvollen Auswahl jener Daten, die den frei zugänglichen Veröffentlichungen zu Grunde liegen, nützlich sein, sofern sich der damit verbundene Zusatzaufwand als akzeptabel und gerechtfertigt erweist. |
1.9 |
Alle diese Maßnahmen sind mit zum Teil beachtlichen Zusatzkosten für die Forscher und deren Organisationen verbunden. Diese sind in der Budgetplanung und Budgetzuteilung voll zu berücksichtigen. |
2. Kurzinhalt der Mitteilung der Kommission
2.1 |
Die Mitteilung betrifft von der Kommission geplante Maßnahmen, die darauf abzielen, den Zugang zu wissenschaftlichen Informationen zu verbessern und die Wirkung öffentlicher Investitionen in die Forschung zu steigern. |
2.2 |
Ziele der Maßnahmen sind
|
2.3 |
Bezüglich des Zugangs zu wissenschaftlichen Publikationen werden derzeit mit den Verlagen wissenschaftlicher Publikationen zwei Modelle verhandelt:
|
2.4 |
Darüber hinaus wird ein Zeitplan vorgelegt, wie diese Ziele im Verlauf von „Horizont 2020“ schrittweise verwirklicht werden könnten. |
3. Bemerkungen des Ausschusses
Das hier behandelte Thema betrifft den freien, d.h. den allgemeinen, kostenlosen, globalen und uneingeschränkten Zugang per Internet zu zukünftigen Veröffentlichungen und den diesen zu Grunde liegenden Forschungsdaten, die inzwischen üblicherweise auch in digitalisierter Form vorliegen.
3.1 Frühere Aussagen
Der Ausschuss hatte bereits in seiner Stellungnahme (1)„Zusammenarbeit und Wissenstransfer zwischen Forschungsorganisationen, Industrie und KMU – eine wichtige Voraussetzung für Innovation“ das hier zur Diskussion stehende Thema behandelt und dazu grundsätzliche Bemerkungen gemacht, die noch Gültigkeit haben. Sie galten dem Ziel, den Wissenstransfer zwischen Forschungspartnerschaften (insbesondere zwischen Forschung und Unternehmen) zu verbessern. Darin wurde ein wesentlicher Faktor der Innovationsförderung und damit der Wettbewerbsfähigkeit Europas gesehen. Sie betrafen auch den Umgang mit dem beim Forschungs- und Innovationsprozess entstehenden geistigen Eigentum sowie die Freiheit der Kunst und Wissenschaft (2) (3).
3.2 Urheberschaft und Geistiges Eigentum
Bei Urheberschaft und geistigem Eigentum der Forscher und ihrer Organisationen handelt es sich einerseits um die Anerkennung, als erster eine wissenschaftliche Entdeckung gemacht oder Erkenntnis gewonnen zu haben, üblicherweise durch Autorenschaft in einer Veröffentlichung dokumentiert, andererseits um die Anerkennung sowie ggf. die Verwertungsrechte (oder Teile davon) des kreativen Prozesses, bei dem aus neuen Erkenntnissen möglicherweise Innovationen und Erfindungen entstehen, für die dann häufig auch Patentschutz gesucht wird. Der Ausschuss begrüßt daher die Aussage der Kommission (Punkt 4.1), „dass die vorgeschlagenen Strategien des freien Zugangs nicht die Freiheit des Autors beeinträchtigen, sich für oder gegen eine Veröffentlichung zu entscheiden. Sie lassen auch die Erteilung von Patenten oder andere Formen der kommerziellen Nutzung unberührt […].“
3.3 Neuheitsunschädliche Schonfrist
Bei der Abwägung, wissenschaftliche Ergebnisse frühzeitig zu veröffentlichen, dann aber zugleich den Neuheitsanspruch an möglichen daraus erwachsenden Erfindungen zu verlieren, oder, um letzteres zu vermeiden, eine Veröffentlichung zunächst zurückzuhalten und so möglicherweise den Prioritätsanspruch z.B. an einer Entdeckung zu verlieren, handelt es sich um ein schwieriges und gegebenenfalls mit Verlusten verbundenes Dilemma. Der Ausschuss wiederholt seine Empfehlung, bei Einführung des angemahnten EU-Gemeinschaftspatents (4) eine sog. neuheitsunschädliche Schonfrist vorzusehen, um dieses Dilemma zu entschärfen.
3.4 Beispiel Patentrecht
In jahrzehntelanger internationaler Fortentwicklung wurde im Patentrecht eine ausgewogene Balance zwischen einerseits den anfänglichen Vertraulichkeitsansprüchen geistigen Eigentums und andererseits dem freien Zugang zu dessen Produkten erarbeitet und installiert. So werden heute Patentanmeldungen nach 18 Monaten offengelegt und sind auch im Internet für jedermann verfügbar.
3.5 Forschungsdaten
Je nach Fachdisziplin mehr oder weniger stark ausgeprägt, ist es ist ein charakteristischer Teil bisheriger Verfahrensweisen,
i. |
dass die im Forschungsprozess anfallenden Daten, aufbauend auf so genannten Rohdaten, zunächst kalibriert und auf Fehlmessungen überprüft, in einem internen Meinungsbildungsprozess auf Konsistenz geprüft, in ihrer Bedeutung bewertet, und erforderlichenfalls mit anderen Messdaten verglichen oder kombiniert werden müssen, bevor sie einem validierten, belastbaren Datensatz zugeführt und bekanntgemacht werden können, und |
ii. |
dass die damit befassten Forscher als erste in Veröffentlichungen darüber berichten, die Ergebnisse interpretieren und Folgerungen ziehen. |
3.6 Grundsätzliche Zustimmung
Unter Berücksichtigung der obengenannten Aussagen unterstützt der Ausschuss die von der Kommission formulierten Ziele. Er sieht darin eine – technisch durch das Internet ermöglichte – potenzielle Erleichterung und Effizienzsteigerung wissenschaftlicher Arbeit. Er empfiehlt, die dazu begonnenen Prozesse oder Denkansätze in stetiger Rückkopplung mit den im Forschungsprozess aktiv tätigen Wissenschaftlern schrittweise weiterzuentwickeln. Dabei sind die jeweiligen Besonderheiten der verschiedenen Forschungsdisziplinen zu berücksichtigen sowie effizienzmindernde Zusatzarbeit und administrativen Mehraufwand von den Forschern fernzuhalten. Im nächsten Kapitel werden dazu weitere Gesichtspunkte und Einschränkungen dargelegt.
4. Besondere Bemerkungen des Ausschusses
4.1 Freier Zugang zu Veröffentlichungen
Der freie Zugang (via Internet) zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist eine den heutigen technischen Möglichkeiten angepasste Ergänzung von Bibliotheken. Er ist nützlich und hilfreich, wird inzwischen schon vielfach praktiziert, und sollte mit Nachdruck weiterverfolgt und komplettiert werden.
4.1.1
Dabei ist es eine eher pragmatische bzw. Kosten-Frage, ob man sich mit den jeweiligen Verlagen auf den „goldenen“ oder den „grünen“ Zugang einigen kann oder will. Wichtig ist der grundsätzliche und nicht zu weit verzögerte Zugang per Internet zu wissenschaftlichen und technischen Veröffentlichungen.
4.1.2
Allerdings ist der Eindruck entstanden, dass die maßgeblichen Verlage hierfür zu hohe Gebühren in Rechnung stellen. Dem könnte wohl mehr Wettbewerb im Wechselspiel zwischen Autoren, Herausgebern und Verlagen abhelfen. Bei Bewertung wissenschaftlicher Leistung spielt jedoch auch das Prestige der Zeitschrift eine Rolle, in der publiziert wurde. Der Ausschuss ermuntert daher die Kommission, hier zusammen mit den Wissenschaftsorganisationen weitere Überlegungen anzustellen, wie Verbesserungen erreicht werden können. Dabei darf jedoch die Freiheit der Autoren in der Wahl der Zeitschrift nicht eingeschränkt werden.
4.1.3
Der Ausschuss verweist auf die verbreitete Gepflogenheit, neue Ergebnisse, deren Veröffentlichung in Fachzeitschriften sich noch im Prozess der Begutachtung durch externe Experten (Referees) befindet, der Fachwelt bereits in Form von Berichten vorab – auch per Internet – zugänglich zu machen. Analoges gilt für Vorträge auf Symposien und Fachkonferenzen, deren verbindende Funktion daher sehr wichtig ist.
4.1.4
Dabei sollten auf internationaler Ebene zwischen der EU und den übrigen Staaten keine starken Einseitigkeiten entstehen. Wenn Wissenschaftler bzw. Bürger aus aller Welt per Internet kostenfreien Zugriff auf in der EU entstandene wissenschaftliche Veröffentlichungen erlangen, ist es nötig, dass auch den Wissenschaftlern bzw. Bürgern in der EU kostenfreier Zugriff auf alle außerhalb der EU entstandenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen gewährt wird. Der Ausschuss unterstützt die Bemühungen der Kommission, diese Symmetrie durch internationale Vereinbarungen zu erreichen. Erst mit dem globalen Informationsfluss wird die wissenschaftliche Arbeit wirklich erleichtert.
4.1.5
Gleichzeitig warnt der Ausschuss vor dem Gedanken, mit Open Access könnten die anderen Formen von Informations- und Gedankenaustausch überflüssig oder unwichtig werden. Das Arbeiten vor dem Computer ist kein Ersatz für die stimulierende Wirkung von Gesprächen und Diskussionen oder dem geistigen Milieu einer Bibliothek und einer Fachkonferenz.
4.2 Datenspeicherung
Die meisten großen Forschungsorganisationen haben Datenspeicherung bereits in ihre Regeln guter wissenschaftlicher Praxis aufgenommen. Angesichts der heute anfallenden sehr großen Datenmengen ist auch diese Aufgabe primär eine Frage der verfügbaren Ressourcen und Infrastrukturen, also des beachtlichen apparativen und personellen Aufwands, um die Datenmengen zu validieren, die Rohdaten ggf. zu ordnen, zu komprimieren, zu kürzen oder zu löschen sowie mittels Metadaten zu beschreiben, ohne dass wichtige Informationen verloren gehen. Dabei muss der jeweilige Kosten-Nutzen-Aufwand berücksichtigt werden.
4.2.1
Der Ausschuss begrüßt die bisherigen und geplanten zukünftigen Maßnahmen der Kommission, die Speicherung von Forschungsdaten und die dazu nötigen Infrastrukturen zu fördern.
4.2.2
Der Ausschuss stimmt mit der Kommission darüber überein, dass dazu keine generellen Lösungen gesucht werden sollen, sondern dass jedes Fachgebiet eigenständig zu entscheiden hat, wie weitgehend und mit welchen Mitteln Datenspeicherung zu betreiben ist und wie weitgehend Normierungen gesucht werden sollten. Dies sollte möglichst offene und internationale Standards nutzen, um Interoperabilität zu ermöglichen.
4.3 Externer freier Zugang zu Daten
Der Absicht, den freien (digitalen) Zugang zu Forschungsdaten zu fördern, liegen seitens der Kommission und sonstiger Befürworter (5) insbesondere folgende Ziele zu Grunde:
a) |
die Qualität des wissenschaftlichen Diskurses zu erhöhen, weil im Regelfall das Nachvollziehen und detaillierte Bewerten veröffentlichter Forschungsergebnisse den Zugriff auf die ausgewerteten Daten und der für deren Auswertung genutzten Werkzeuge erfordert; |
b) |
durch Nachnutzung der Daten den Ertrag der für die Erhebung der Daten aufgewendeten öffentlichen Mittel zu steigern. |
Diesen Zielen kann der Ausschuss in ihrer Allgemeinheit zunächst voll zustimmen.
Die Frage ist jedoch, mit welchen Instrumenten, wie differenziert und wie weitgehend dies geschehen soll, welcher zusätzliche – auch administrative – Aufwand damit verbunden ist, ob dieser Aufwand durch den erwarteten Nutzen gerechtfertigt wird, und welche Gesichtspunkte dem entgegenstehen.
4.3.1
Es ist ein Wesensmerkmal wissenschaftlicher Forschung, dass der jeweilige Erkenntnisprozess samt der dabei gewonnenen Daten und Quellen nachvollziehbar bzw. reproduzierbar sein muss und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen jedweder Diskussion und Debatte standhalten müssen. Dafür gibt es in der Scientific Community vor, neben und nach der Veröffentlichung in Zeitschriften wohlinstallierte und erfolgreiche Prozeduren wie Seminare, Konferenzen, Gutachter-Verfahren, Peer Review, Informations- und Datenaustausch, Personalaustausch etc. Dazu werden inzwischen auch die modernen Mittel der digitalen Agenda benutzt. Seitens CERN (6) wurde das World Wide Web (www) genau für den Zweck des Datenaustauschs vorgeschlagen und mit Partnern weiterentwickelt.
4.3.2
Also kann es bei den Vorschlägen der Kommission nur um die Frage gehen, wodurch sich diese bisher geübten Prozesse der Selbstorganisation ergänzen, verbessern, vereinfachen und effizienter gestalten lassen. Die dazu konkret beabsichtigten zusätzlichen Maßnahmen sind aus der Mitteilung der Kommission nicht genügend klar ersichtlich; offenbar sind u.a. Pilotprojekte beabsichtigt.
4.3.3
Während die Erwartungen an den freien Zugang bereits genannt wurden, ist es notwendig, auch auf die zu lösenden Probleme, Ausnahmen oder Unmöglichkeiten hinzuweisen. Letztere betreffen z.B.:
— |
Vertraulichkeit bei innovativen Entwicklungen, insbesondere gemeinsam mit der Industrie (KMU); Patentaspekte; |
— |
Vertraulichkeit von Patientendaten in der medizinischen Forschung; |
— |
Sicherung der Urheberschaft (von Forschern und Forschungsorganisationen) der Daten; |
— |
Missverständnisse bei Datenabruf und Dateninterpretation samt Folgen; |
— |
ggf. exportkontrollrechtliche Beschränkungen des Technologietransfers; |
— |
Sicherstellen einer globalen Symmetrie zwischen der EU und den Drittstaaten; |
— |
personeller und apparativer Aufwand, um aus einer oft unüberschaubaren Rohdatenmenge die relevanten Daten herauszufiltern und für Außenstehende verständnissicher nutzbar zu machen. |
Ganz offensichtlich stehen diese Probleme einer generellen Einführung des freien Zugangs zu Forschungsdaten entgegen.
4.3.4
Also muss man hier differenzieren. Der Ausschuss bekräftigt, dass es Bereiche gibt, bei denen freier externer Zugang zu Forschungsdaten per Internet vorteilhaft sein kann, wie z.B. meteorologische Daten, Genpools, demographische Daten oder Daten ähnlich klarer Definition und statistischer Relevanz (wobei auch hier dennoch zu klären ist, wie „Daten“ zu definieren sind).
Zugleich empfiehlt er jedoch ein deutlich zurückhaltenderes Vorgehen zum Beispiel:
i. |
in den Fällen hochkomplexer Experimente wie Beschleuniger oder Versuchsanlagen der Fusionsforschung und |
ii. |
bei allen Zusammenarbeiten mit industrieller Forschung einschließlich KMU. |
4.3.5 Gerade für letzteren Fall sieht der Ausschuss einen inhärenten Gegensatz zwischen den Zielen, einerseits offenen Zugang zu Forschungsdaten zu propagieren und andererseits gerade die Innovationsförderung mit ihrer Konzentration auf öffentlich-private Partnerschaften etc. zu verstärken, bei der Vertraulichkeit ein Schlüsselanliegen ist. Allerdings ist auch der Versuch eines Interessenausgleichs dieser gegensätzlichen Ziele, nämlich zwischen einerseits „harmlosen“ Daten z.B. der Grundlagenforschung und andererseits innovationsträchtigen Daten z.B. der angewandten Forschung zu unterscheiden, nicht ohne Risiko. Denn eine solche „a-priori“-Unterscheidung beansprucht, in die Zukunft schauen zu können. Schließlich können gerade bahnbrechende neue Erkenntnisse der sog. Grundlagenforschung besonders innovationsträchtig sein und so bei zu frühzeitiger Veröffentlichung zum Verlust eines Patentschutzes führen (siehe auch Ziffer 3.3). Darum sollte hier eine ähnlich pragmatische Lösung wie bei „normalen“ Veröffentlichungen gefunden werden (siehe Ziffer 3.2 sowie Punkt 4.1 der Mitteilung der Kommission).
4.3.6
Daher sollte den am jeweiligen Forschungsprojekt beteiligten Forschern die freie Entscheidung überlassen werden, ob, ab wann, und wenn ja bis zu welcher Detaillierungstiefe sie im Projekt gewonnene Daten unter gewissen Voraussetzungen frei zugänglich machen. Gerade das Beispiel CERN zeigt, dass freiwillige „Bottom-up“-Prozesse auch dem hier zur Diskussion stehenden Anliegen mehr entgegenkommen als erzwungene Regeln. Der Ausschuss empfiehlt, den Selbstorganisations-Kräften des Wissenschaftssystems mehr Vertrauen entgegenzubringen. Jeder erzwungene Eingriff (siehe dazu Ziffer 4.3.10) in die bisher sehr erfolgreiche, aber auch sensible Wissenschaftskultur ist zu vermeiden.
4.3.7
Beispielsweise könnte man in Betracht ziehen, eine Auswahl (siehe Ziffer 4.2) jener Daten, die den durch Open Access zugänglichen Veröffentlichungen zugrunde liegen, zusammen mit den Veröffentlichungen elektronisch aufzubereiten und frei zugänglich zu machen. Aber selbst hierbei ist fraglich und jeweils zu prüfen, ob der erwartete Zugewinn durch die Online-Verwertung der Daten seitens Dritter den damit verbundenen zusätzlichen Aufwand der Erstautoren, der diese von ihrer eigenen Forschungsarbeit abhält, tatsächlich rechtfertigt.
4.3.8
Der Ausschuss unterstützt die Bemühungen der Kommission, in einem eher unkomplizierten und dafür geeigneten Fachgebiet zunächst einen Pilotversuch zu starten und damit Erfahrungen sammeln. Über den erzielten Mehrwert sollte berichtet werden.
4.3.9
Der beachtliche Missmut vieler Forscher über die kommissionsseitige Überbürokratisierung der Antrags- und Vergabeprozeduren hatte sich inzwischen auf Grund der Bemühungen um Vereinfachung und Kontinuität (7) der Förderinstrumente gerade etwas beruhigt. Er könnte durch noch unausgereifte neue Auflagen, Eingriffe in die Forschungsarbeit und neue bürokratische Hindernisse wieder voll aufbrechen.
4.3.10
In der Debatte über die oben angesprochenen Fragen wird auch die Frage aufgeworfen, ob und wie weitgehend der „Geldgeber“ oder „Steuerzahler“, hier vertreten durch die Kommission, als Voraussetzung seiner Förderung einfach erzwingen sollte, alle erzielten Forschungsdaten frei im Internet verfügbar zu machen. Unbeschadet der Aussagen unter den Ziffern 3.1 und 3.2 steht diese Frage nicht im Focus der Überlegungen dieser Stellungnahme. Dem Ausschuss geht es vielmehr um die Frage, mit welchen Verfahrensweisen der Forschungsförderung und des Forschungsmanagements – gerade auch im Interesse des „Geldgebers“ – ein optimaler wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Erfolg erzielt werden kann.
4.4 Zusatzbelastung der Forschungsbudgets
Alle seitens der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen entlasten den Empfänger von Informationen (Veröffentlichungen, Daten) davon, dafür bezahlen zu müssen. Diese Kosten müssen stattdessen von den Schöpfern der Daten und Veröffentlichungen, nämlich den Forschern und deren Organisationen, getragen werden. Also müssen diese Kosten in den jeweiligen Forschungsbudgets enthalten sein – soweit es sich um EU-seitige Förderung handelt, im Budget von „Horizont 2020“. Darum sind diese Kosten in die jeweilige Fördersumme einzubeziehen.
4.4.1 |
Beim freien Zugang zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen muss das jeweilige Forschungsbudget also nicht nur für den Aufwand aufkommen, neue Forschungsergebnisse zu erzielen, sondern auch, diese allgemein zugänglich zu machen. |
4.4.2 |
Analoges gilt zusätzlich für die Kosten vermehrter Datenspeicherung und des damit verbundenen Personal- und Infrastrukturaufwands (u.a. als Voraussetzung für Ziffer 4.4.3). |
4.4.3 |
Und es gilt selbstverständlich erst recht für den zusätzlichen Aufwand, ggf. einen öffentlichen Zugang für alle oder ausgewählte Forschungsdaten einzurichten. |
4.5 Mögliches Missverständnis
Der Ausschuss steht unter dem Eindruck, dass in der politischen Debatte einige Forderungen an und Gründe für freien Zugang auch auf Missverständnissen über die Arbeitsweise von Wissenschaft und Forschung sowie über das wissenschaftsspezifische Auffassungsvermögen des normalen Bürgers beruhen. Denn wissenschaftliche Veröffentlichungen sind normalerweise nur dem im jeweiligen Fachgebiet tätigen Experten verständlich; darum informiert der freie Zugang dazu auch nur den Experten. Analoges gilt für den Zugang zu Forschungsdaten.
4.6 Information der Bürger und politischen Akteure
Umso wichtiger sind daher alle Bemühungen, wesentliche Aussagen neuer Erkenntnisse auch für den Laien darzustellen. Der Ausschuss hat schon mehrfach auf die Bedeutung derartiger Medien hingewiesen und anerkennt die diesbezüglichen Bemühungen der Kommission einschließlich CORDIS (8). Hervorzuheben ist das Engagement jener Wissenschaftler, welche die Begabung besitzen, die Erkenntnisse ihres Fachbereichs möglichst allgemeinverständlich zu erklären. Schließlich ist es auch für die politischen Akteure wichtig, über Inhalte und Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie über das Potenzial weiterer Forschung bestmöglich informiert zu sein, um fundierte Entscheidungen treffen zu können.
4.7 Zugang zu Expertise
Von Firmen und von Organisationen der Zivilgesellschaft wird oft über unzureichenden Zugang zu spezifischer Fachexpertise geklagt. Daher ist es insbesondere auch für KMU wichtig, zumindest über einen rezeptionsfähigen internen oder externen Experten oder über Zugang zu einer entsprechenden Beratungsorganisation zu verfügen. Zudem verweist der Ausschuss einerseits auf seine Empfehlungen (in einer früheren Stellungnahme (9)) an die Kommission, eine spezifische Suchmaschine zu diesem Thema bereitzustellen, andererseits auf die vom Europäischen Patentamt zur Verfügung gestellte Suchmaschine (10), mit der inzwischen ein Großteil der weltweit vorhandenen neueren Patentschriften gefunden werden kann.
4.8 Internet-Zugang zu früheren Veröffentlichungen
Über das hier behandelte Thema hinausgehend besteht ein Interesse, u.a. auch seitens der Geisteswissenschaften, ältere Originalpublikationen ebenfalls elektronisch im Internet verfügbar zu machen. Diesbezügliche Bemühungen werden vom Ausschuss durchaus begrüßt, sind jedoch nicht Gegenstand der hier vorliegenden Stellungnahme.
Brüssel, den 16. Januar 2013
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 8, Kapitel 3.
(2) Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Artikel 13 (März 2010): „Die akademische Freiheit wird geachtet.“
(3) Z.B. Torsten Wilholt in FORSCHUNG & LEHRE, 19. Jahrgang 12/12, Seite 984; www.forschung-und-lehre.de
(4) ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 39, Ziffer 3.9.
(5) Z.B. www.royalsociety.org/uploadedFiles/Royal_Society_Content/policy/projects/sape/2012-06-20-SAOE.pdf, www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2359-12.pdf
(6) European Organisation for Nuclear Research.
(7) ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 129.
(8) http://cordis.europa.eu/home_de.html
(9) ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 8, Ziffer 3.2.
(10) http://worldwide.espacenet.com
14.3.2013 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 76/54 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 273/2004 betreffend Drogenausgangsstoffe“
COM(2012) 548 final — 2012/0261 (COD)
2013/C 76/10
Berichterstatter: David SEARS
Der Rat beschloss am 15. Oktober 2012 und das Europäische Parlament am 22. Oktober 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 273/2004 betreffend Drogenausgangsstoffe
COM(2012) 548 – 2012/0261 (COD).
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Januar 2013 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 486. Plenartagung am 16./17. Januar 2013 (Sitzung vom 16. Januar) mit 130 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 |
Mit diesem Vorschlag sollen konkrete Schwachstellen beseitigt werden, die in den geltenden EU-Rechtsvorschriften festgestellt wurden. Es geht darum, den Handel mit Essigsäureanhydrid zwischen EU-Unternehmen zu überwachen und zu kontrollieren. Essigsäureanhydrid ist ein chemischer Grundstoff, der für viele legale und wichtige Zwecke eingesetzt, jedoch auch abgezweigt und, vor allem in Afghanistan, als Ausgangsstoff für die illegale Herstellung von Heroin aus Morphin, verwendet wird. Der EWSA erkennt an, dass die Verordnung geändert werden muss, und unterstützt den Vorschlag nachdrücklich. |
1.2 |
Der EWSA begrüßt auch den Vorschlag, eine europäische Datenbank der zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten und Endverwender anzulegen und die Erstellung von Berichten der Mitgliedstaaten über Sicherstellungen und abgefangene illegale Lieferungen aller erfassten und nicht erfassten Drogenausgangsstoffe zu verbessern. |
1.3 |
Die Anwendung der geltenden Rechtsvorschriften zur Registrierung über die Wirtschaftsbeteiligten hinaus auch auf Verwender erfordert die Neufestlegung oder Überarbeitung von Definitionen. Neben dem Hinweis auf kleinere Probleme werden auch Empfehlungen abgegeben. Die Endverwender sollten umfassend über den Zweck und den Nutzen der Registrierung unterrichtet werden. Die zuständigen Behörden sollten dieselben Zugangsrechte zu den Geschäftsräumen der Endverwender haben, wie sie ihnen gegenwärtig im Falle der Wirtschaftsbeteiligten eingeräumt werden. |
1.4 |
Der EWSA stellt fest, dass die neuen Vorschläge nur dann erfolgreich umzusetzen sind, wenn sie richtig vermittelt werden und nicht mit unnötigen zusätzlichen finanziellen Belastungen für alle Beteiligten einhergehen. Der Vorschlag, Kleinstunternehmen von den Registrierungsgebühren auszunehmen, wird deshalb nachdrücklich unterstützt. |
1.5 |
Schließlich weist der EWSA darauf hin, dass die Beteiligten in Europa die Anforderungen des einschlägigen UN-Übereinkommens von 1988, insbesondere Artikel 12 über die Zusammenarbeit zur Umsetzung der angestrebten Ziele, uneingeschränkt berücksichtigen. Dies hat zu Erfolgen bei der Zusammenarbeit mit anderen Beteiligten innerhalb und außerhalb der EU zur Bekämpfung der Kriminalität, zum Schutz der Gesundheit der Bürger, zur Ermöglichung der Weiterführung des legalen Handels sowie zur Wahrung des guten Rufs der betroffenen Organisationen und Unternehmen geführt. Die angewandten Verfahren, der entstandene gegenseitige Respekt und das Vertrauen sowie die Art und der Inhalt der Mitteilungen an die beteiligten Seiten können als vorbildlich für die Erarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften auf europäischer oder anderer Ebene bezeichnet werden. Es steht zu hoffen, dass bei den anstehenden Vorschlägen für Kontrollen bei Suchtstoffen und synthetischen Designerdrogen im Rahmen einer konsequenten, gezielten und faktengestützten öffentlichen Gesundheitspolitik insbesondere im Bereich der Prävention auf europäischer und nationaler Ebene genauso vorgegangen wird. Der EWSA ist gern bereit, zu gegebener Zeit einen Beitrag zu diesen Vorschlägen zu leisten. |
2. Einleitung
2.1 |
Drogenausgangsstoffe sind Stoffe, die weltweit in den verschiedensten Verfahren legal und für wichtige Zwecke hergestellt, gehandelt und verwendet werden, die jedoch auch zur illegalen Herstellung von Drogen wie Kokain, Heroin, Ecstasy und Methamphetamin abgezweigt werden können. Schon seit langem wird es als notwendig erachtet, den Handel mit diesen Stoffen zu kontrollieren, die auf Grund ihrer physikalischen Eigenschaften benötigt werden, z.B. als Lösungsmittel zur Gewinnung bestimmter Wirkstoffe aus Pflanzen oder als chemische Arbeitsstoffe zur Veränderung der Art und Wirkung der daraus hergestellten Arzneimittel. |
2.2 |
International ist der Handlungsrahmen durch das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des illegalen Handels mit Suchtstoffen und psychotropen Substanzen von 1988 vorgegeben. In Artikel 12 ist festgelegt, dass Regulierungsbehörden und Unternehmen zusammenarbeiten, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. |
2.3 |
Auf Ebene der Europäischen Union wird die Eindämmung der Abzweigung von Drogenausgangsstoffen sowohl in der EU-Strategie zur Drogenbekämpfung 2005–2012 als auch im Drogenaktionsplan 2009–2012 als wichtiges Ziele genannt. Der Handel innerhalb der EU wird derzeit durch die Verordnung (EG) Nr. 273/2004 unter der Verantwortung der GD ENTR (Generaldirektion Unternehmen und Industrie), der Außenhandel durch die Verordnung des Rates (EG) Nr. 111/2005 unter der Verantwortung der GD TAXUD (Generaldirektion Steuern und Zoll) geregelt. Die Verordnung der Kommission (EG) Nr. 1277/2005, geändert durch die Verordnungen (EG) Nr. 297/2009 und (EU) Nr. 225/2011, umfasst detaillierte Durchführungsvorschriften für die zuständigen Behörden und Wirtschaftsbeteiligten. |
2.4 |
Nach diesen Verordnungen vergleichen und melden die Mitgliedstaaten die Mengen bestimmter erfasster (d.h. speziell überwachter und kontrollierter) und nicht erfasster (freiwillig überwachter) Stoffe, die vor der Lieferung abgefangen bzw. während oder nach der Lieferung beschlagnahmt wurden. Diese Mengen können dann zu den weltweit abgefangenen oder sichergestellten Gesamtmengen dieser Stoffe ins Verhältnis gesetzt werden. Eine plötzliche Zunahme der gemeldeten Mengen oder Veränderungen der Häufigkeit und Verteilung der abgefangenen oder sichergestellten Lieferungen können auf eine bessere Überwachung zurückzuführen, eventuell aber auch ein Hinweis sein auf eine stärkere Orientierung der illegalen Tätigkeit auf einen konkreten Markt, möglicherweise auf Grund vermuteter oder tatsächlicher Schwächen bei den Kontrollen vor Ort. |
2.5 |
Konsolidierte Daten für 2008 weisen bei der gemeldeten Menge des Drogenausgangsstoffs Essigsäureanhydrid, der zur Herstellung von Heroin aus Morphin (das wiederum aus Opium erzeugt wird) verwendet wird, einen Anstieg um das Siebenfache gegenüber dem Vorjahr auf. Die 241 in der EU sichergestellten Tonnen machen über 75 % der weltweit sichergestellten Menge aus. Dies führte wiederholt zu Kritik durch das Internationale Suchtstoffkontrollamt der Vereinten Nationen. In dem Bericht der Kommission über die Durchführung und Funktionsweise der einschlägigen gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften (COM(2009) 709) wird festgestellt, dass es bei einer im Allgemeinen zufriedenstellenden Umsetzung noch Schwachstellen gebe. Zudem wurden Empfehlungen abgegeben, vor allem im Hinblick auf die Überwachung und Kontrolle des Handels mit Essigsäureanhydrid in der EU. |
2.6 |
Die Kommission und alle anderen beteiligten Seiten haben immer wieder darauf verwiesen, dass Essigsäureanhydrid von grundlegender Bedeutung als Alkylierungsmittel bei der Synthese der verschiedensten Anstrichmittel, Filme, Plastikstoffe, Arzneimittel (beispielsweise Aspirin) und anderer Konsumgüter ist. Der Großteil der weltweiten Gesamtproduktion (gegenwärtig ca. eine Million Tonnen pro Jahr) soll von den Herstellern selbst verwendet werden, ein kleinerer Teil, weniger als ein Drittel der Gesamtmenge, wird an dritte Endverwender verkauft. Die für die illegale Verwendung, vor allem in Afghanistan, benötigte Menge wird auf 380 bis 570 Tonnen pro Jahr geschätzt. Damit wiederum werden 380 Tonnen afghanisches Heroin hergestellt, wovon 70 Tonnen an Drogenkonsumenten in Europa gehen. Geht man davon aus, dass der Straßenverkaufswert in Europa durchschnittlich bei 40 EUR pro Gramm liegt, so beläuft sich der illegale Handel jährlich auf etwa 3 Mrd. EUR. Der Marktwert des dazu erforderlichen Essigsäureanhydrids ist im Vergleich dazu verschwindend gering, auch wenn man diesen vergleicht mit dem Wert der legalen Verkäufe oder dem Schaden für den Ruf der Einzelpersonen oder Unternehmen durch eine Abzweigung für die illegale Verwendung entstehen kann. Das weltweite Responsible-Care-Programm der chemischen Industrie trägt dazu bei, den legalen Wirtschaftsbeteiligten, die erstmals auf dem Markt tätig werden, diese Aspekte zu vermitteln. |
2.7 |
Zudem wird eingeräumt, dass dieser Stoff stets irgendwo auf der Welt abgezweigt wird, selbst wenn alle derartigen Versuche in Europa erfolgreich unterbunden werden können. Die finanziellen Gewinne der Drogenhersteller sind, wie oben ausgeführt, einfach zu groß. Kontrollen sind jedoch nach wie vor vollkommen gerechtfertigt und können Vorbildcharakter haben. Wenn die betroffenen Branchen sie als kosteneffizient ansehen, werden sie sie umfassend unterstützen, sodass deren legaler Handel innerhalb der EU weitergeführt werden kann. |
2.8 |
Vor dem Hintergrund der beschriebenen Situation hat die Kommission, wie in der Folgenabschätzung beschrieben, eine Reihe von Alternativkonzepten geprüft und die Vertretungsgremien der betroffenen Branchen, insbesondere den CEFIC für die Hersteller (Wirtschaftsbeteiligte) und einige große Endverwender und den FECC für den Handel und kleinere Endverwender ebenso konsultiert wie Vertreter der Mitgliedstaaten, die letztlich die Vorschläge umsetzen müssen. Es herrschte allgemeine Übereinstimmung, dass der vorliegende Vorschlag die zu bevorzugende Option sei. |
3. Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags
3.1 |
Mit dem Vorschlag der Kommission soll die bestehende Registrierungspflicht für Hersteller und Händler von Essigsäureanhydrid auf die Endverwender in der Industrie ausgeweitet werden, d.h. auf Unternehmen, die Essigsäureanhydrid für den eigenen Gebrauch oder die Weiterverarbeitung in der EU kaufen. |
3.2 |
Damit soll die tatsächliche oder versuchte Abzweigung von Essigsäureanhydrid innerhalb der EU weiter eingeschränkt werden, um die illegale Verwendung außerhalb der EU zu reduzieren und für Unternehmen, die legal innerhalb der EU tätig sind, mehr Rechtssicherheit zu schaffen. |
3.3 |
Die bestehende Kategorie 2 der Stoffe, die gemäß Verordnung (EG) Nr. 273/2004 erfasst sind, wird deshalb in zwei Unterkategorien aufgeteilt: Unterkategorie 2a für Essigsäureanhydrid und Unterkategorie 2b für vier weitere chemische Grundstoffe, die nicht von dieser Änderung betroffen sind. Die Definitionen von Kategorie 1, d.h. weniger stark gehandelte spezielle chemische Stoffe, die als heikelste der wichtigsten Drogenausgangsstoffe noch strengeren Kontrollen unterliegen, und von Kategorie 3, d.h. Massenchemikalien mit Mehrzweckverwendung, bleiben unverändert. |
3.4 |
In dem Vorschlag geht es auch darum, eine Europäische Datenbank für Drogenausgangsstoffe einzurichten, um eine effizientere Erfassung der Daten über sichergestellte und abgefangene Lieferungen zu gewährleisten und eine Liste der Wirtschaftsbeteiligten und Verwender zu erstellen, die legal in Herstellung, Handel und Verwendung der Drogenausgangsstoffe tätig sind und eine EU-Genehmigung bzw. eine Registrierung nachweisen können. |
3.5 |
In dem Vorschlag werden zudem einige bereits geltende Definitionen präzisiert, Ausnahmen von der Registrierungsgebühr für Kleinstunternehmen festgelegt, geltende Bestimmungen zum Ausschussverfahren gemäß den neuen Regeln des Vertrags von Lissabon geändert und das förmliche Annahmeverfahren bei der Vorbereitung von Leitlinien abgeschafft. Des Weiteren wird präzisiert, dass die Mitgliedstaaten das Recht haben, zusätzliche Maßnahmen zur Informationserfassung zu erlassen und bei verdächtigen Transaktionen im Zusammenhang mit nicht erfassten Stoffen gegebenenfalls die Geschäftsräume der Wirtschaftsbeteiligten zu betreten. |
3.6 |
Der Vorschlag gründet sich rechtlich auf Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und wird, zumindest in seiner gegenwärtigen Form, den Anforderungen der EU in punkto Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit gerecht. |
3.7 |
Die Verordnung soll am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft treten, in allen ihren Teilen verbindlich sein und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gelten. Die Verordnung sieht eine Übergangsfrist von bis zu 18 Monaten vor, damit die zuständigen Behörden die erforderlichen Verfahren einrichten können und Endverwender gegebenenfalls die Möglichkeit haben, sich erstmalig registrieren zu lassen. Die Registrierungsverfahren für alle Verwender wurden verschärft, und die Registrierung kann nun abgelehnt werden, wenn die der zuständigen Behörde vorgelegten Informationen als unzureichend erachtet werden. |
3.8 |
Dem Vorschlag liegen eine Begründung und ein Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen (Folgenabschätzung) bei. Eine Zusammenfassung der Folgenabschätzung ist ebenfalls verfügbar. Auf den Internetseiten der GD ENTR und GD TAXUD wird die Entwicklung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften zur Überwachung und Kontrolle von Drogenausgangsstoffen innerhalb der EU und zwischen der EU und Drittstaaten zusammengefasst, und es werden Links zu allen wichtigen Dokumenten, Beteiligten und betroffenen Organisationen bereitgestellt. |
3.9 |
Die Berichte der Kommission über abgefangene und sichergestellte Lieferungen von Drogenausgangsstoffen, in denen Daten der Mitgliedstaaten aus den Jahren 2006-2010 zusammengefasst werden, begründen die vorliegenden Vorschläge und sind auch auf den Internetseiten abrufbar. Weitere Hintergrundinformationen lieferte eine Präsentation der GD ENTR vor der Arbeitsgruppe Zollunion des Rates am 16. Oktober 2012. Getrennt davon wurde ein Exemplar der Leitlinien für Wirtschaftsbeteiligte vorgelegt. Diese Leitlinien wurden gemeinsam von den Generaldirektionen ENTR und TAXUD veröffentlicht und sollen von den zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten ausschließlich an vertrauenswürdige Unternehmen verteilt werden, die an langfristigen legalen Vorgängen im Zusammenhang mit erfassten und nicht erfassten Stoffen beteiligt sind. |
3.10 |
Andere Berichte, z.B. der Bericht des Internationalen Suchtstoffkontrollamts über Drogenausgangsstoffe und häufig zur illegalen Herstellung von Suchtstoffen und psychotropen Substanzen verwendete chemische Stoffe aus dem Jahr 2011 (Report on Precursors and chemicals frequently used in the illicit manufacture of narcotic drugs and psychotropic substances) sowie der Strategiebericht über internationale Suchtstoffkontrolle/chemische Kontrollen des US-Außenministeriums für 2012, geben einen allgemeineren Überblick aus externer Sicht. Inzwischen ist beispielsweise anerkannt, dass Afghanistan keinen legalen Bedarf an Essigsäureanhydrid hat und dass alle Importe deshalb illegal sind. Die Koalitionsstreitkräfte sollen dort ca. 20 Tonnen der viel größeren 2011 importierten Menge sichergestellt haben. Quellen illegaler Lieferungen sollen in erster Linie China, Südkorea, Europa, die zentralasiatischen Staaten und Indien sein. Hier besteht natürlich noch weiterer Handlungsbedarf, und eine enge internationale Zusammenarbeit sowie das Bemühen um gegenseitiges Vertrauen sind nach wie vor von entscheidender Bedeutung. |
4. Allgemeine Bemerkungen
4.1 |
Der EWSA hat am 26. Februar 2003 seine Stellungnahme zu der Mitteilung COM(2002) 494 final verabschiedet (1), in der er die Vorschläge der Kommission zu den vorgeschlagenen Kontrollen bei Drogenausgangsstoffen vorbehaltlos begrüßte. Hierauf wurde in der im Februar 2004 veröffentlichten endgültigen Fassung, der Verordnung (EG) 273/2004 (2), ausdrücklich hingewiesen. |
4.2 |
Der EWSA unterstützt auch nachdrücklich die Bemühungen zur Bekämpfung des Drogenmissbrauchs innerhalb und außerhalb der EU, so in seiner Stellungnahme vom Mai 2012 zur Mitteilung der Kommission „Eine entschlossenere europäische Reaktion auf das Drogenproblem“ (3). Darin wurde betont, dass ein ausgewogenes Konzept sowohl für die Angebotsseite als auch für die Nachfrageseite beibehalten werden muss. Eine, wenn auch nur zeitweise, Reduzierung des Angebots muss mit einer konsequenten, gezielten und wirksamen öffentlichen Gesundheitspolitik insbesondere im Bereich der Prävention auf europäischer und nationaler Ebene einhergehen (Artikel 168 Absatz 1 AEUV). Zusammenarbeit und Austausch bewährter Vorgehensweisen zwischen den Mitgliedstaaten werden von entscheidender Bedeutung sein. Die Maßnahmen sollten auf der Grundlage von Daten und Fakten ergriffen werden – nicht umgekehrt. |
4.3 |
Der EWSA unterstützt deshalb nachdrücklich den vorliegenden Vorschlag zur stärkeren Überwachung und Kontrolle des Handels mit Essigsäureanhydrid zwischen Unternehmen innerhalb der EU und zur Umsetzung weiterer Maßnahmen zur Unterstützung der Überwachung und Kontrolle von Drogenausgangsstoffen allgemein. Als eine entsprechende Maßnahme ist insbesondere die Einrichtung einer europäischen Datenbank vorgesehen, in der Wirtschaftsbeteiligte und Endverwender, die eine Genehmigung bzw. Registrierung vorweisen können, ebenso erfasst werden wie Informationen der Mitgliedstaaten über abgefangene oder sichergestellte Lieferungen von Stoffen, die für eine illegale Verwendung insbesondere für die Herstellung von Suchtstoffen und psychotropen Substanzen, gewöhnlich außerhalb der EU, abgezweigt wurden. Besondere Sorge bereitet die Abzweigung kleiner Mengen von Essigsäureanhydrid zur Herstellung von Heroin. |
4.4 |
Der EWSA würdigt ferner die enge und anhaltende Zusammenarbeit der Kommission und aller an der Umsetzung der geltenden Rechtsvorschriften sowie der darauf folgenden Überprüfung und Konsultation Beteiligten mit den Mitgliedstaaten, Regulierungsbehören, Strafverfolgungsbehörden, Herstellern, Händlern und Endverwendern entsprechend Artikel 12 des UN-Übereinkommens von 1988. Aus dieser Zusammenarbeit gingen eine Reihe zielgerichteter, sachdienlicher, gut dokumentierter und kosteneffizienter Vorschläge hervor, die bei allen direkt Betroffenen eindeutige Unterstützung fanden und von diesen deshalb wahrscheinlich umfassend umgesetzt werden. |
4.5 |
Die Zusammenarbeit hat bereits zu einem erheblichen Rückgang der Mengen von Drogenausgangsstoffen geführt, die innerhalb der EU abgefangen oder sichergestellt wurden. Dies deutet hoffentlich darauf hin, dass die EU nicht länger als leichtes Ziel betrachtet wird. Als besonders wirksam soll sich die freiwillige Überwachung nicht erfasster Stoffe erwiesen haben. Flexibilität ist im Umgang mit diesem innovativen, beständigen und hochprofitablen kriminellen Vorgehen ein wichtiger Faktor. Zumindest in diesem Bereich verfolgen alle dasselbe Ziel. Dies wird von allen Betroffenen uneingeschränkt anerkannt und könnte vielleicht als Beispiel für kosteneffiziente EU-Rechtsvorschriften in anderen Bereichen dienen, die größere Auswirkungen auf Unternehmen, Beschäftigte und Verbraucher haben. |
4.6 |
Die Rechtsvorschrift funktioniert auch deshalb, weil die betroffenen Hersteller, Händler und Endverwender bereits eine Reihe ähnlicher Kontrollen durchlaufen und entsprechende Erfahrungen mit deren Durchführung haben: dies ist beispielsweise der Fall bei radioaktiven Materialien, biologischen Arbeitsstoffen, Chemikalien mit doppeltem Verwendungszweck und Exporten, die nach dem Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung erfolgen (PIC-Verfahren). Neue Rechtsvorschriften über Ausgangsstoffe für Explosivstoffe werden demnächst vorgelegt. Dies erfordert jedoch, dass diese Anforderungen im Großen und Ganzen gleich bleiben und dass die Liste der Stoffe, für die eine Registrierung oder Genehmigung erforderlich ist, auf ein Minimum beschränkt bleibt. Der vorliegende Vorschlag wird daher, zumindest im Rahmen seines recht eng gefassten Ziels, die Abzweigung von Essigsäureanhydrid während des legalen Handels innerhalb der EU für die illegale Verwendung weiter einzuschränken, wahrscheinlich seinen Zweck erfüllen. Andere weniger gezielte und aufwendigere Alternativen hätten weniger Aussicht auf Erfolg. |
4.7 |
Der EWSA stimmt mit der Kommission überein, dass dieser Vorschlag nicht die Arbeitsbedingungen in den Unternehmen bzw. die Rechte der Verbraucher insgesamt berührt, außer insoweit, als sie als Einzelpersonen eine Abnahme der Verfügbarkeit von Heroin und damit zusammenhängenden Produkten inner- oder außerhalb Europas unterstützen. Leider lässt sich eine solche Abnahme, wenn sie denn eintritt, schwer erfassen. Der Vorschlag hängt jedoch nicht von einer solchen Kosten-Nutzen-Rechnung ab und sollte deshalb in der vorliegenden Form so rasch wie möglich umgesetzt werden. |
4.8 |
Schließlich möchte der EWSA einen Beitrag zur Förderung von EU-Initiativen in diesem Bereich leisten, und fordert die Kommission deshalb auf, so rasch wie möglich die angekündigten neuen Vorschläge vorzulegen, insbesondere zu psychotropen Substanzen und rein synthetischen Designerdrogen, die die traditionellen Drogen wie Heroin allmählich ersetzen und immer neue Märkte erschließen. |
5. Besondere Bemerkungen
5.1 |
Der EWSA verweist darauf, dass die Definitionen der Begriffe „Wirtschaftsbeteiligter“ und „Verwender“ möglicherweise nicht klar voneinander abgegrenzt werden können (da alle betroffenen „Wirtschaftsbeteiligten“ zu einem bestimmten Zeitpunkt „einen erfassten Stoff besitzen“). Um die eindeutig notwendige Unterscheidung zwischen beiden zu treffen, ließe sich in den neuen Buchstaben h in Artikel 2 nach „juristische Person“ einfügen: „die kein Wirtschaftsbeteiligter ist, sondern“. |
5.2 |
Auch muss festgelegt werden, dass sich dies konkret auf Verwender bezieht, die innerhalb der EU ansässig und tätig sind. Verkäufe bzw. Lieferungen an Verwender außerhalb der EU unterliegen eigenen Rechtsvorschriften. Um ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, sollte unter den Mitgliedstaaten auch geklärt werden, wo die Registrierung als Wirtschaftsbeteiligter und Verwender zu erfolgen hat, beispielsweise wo der Wirtschaftsbeteiligte oder Verwender seinen Sitz hat oder wo das Produkt (Essigsäureanhydrid) auf den Markt gebracht wird. |
5.3 |
Die nunmehr auch für Endverwender eingeführte Registrierungspflicht könnte zu kurzfristigen Unterbrechungen des legalen Handels führen. Dem ließe sich weitgehend vorbeugen, indem während der achtzehnmonatigen Übergangsfrist, die Wirtschaftsbeteiligten und Händlern eingeräumt wird, eine aktive Informationspolitik betrieben wird, vorzugsweise auf der Grundlage klarer und angemessen formulierter Leitlinien der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten. Die bereits bestehenden Leitlinien für Wirtschaftsbeteiligte sind hierfür ein ausgezeichnetes Beispiel. Bei der Registrierung sollte über deren Zweck und Nutzen aufgeklärt werden, so dass Endverwender und Wirtschaftsbeteiligte die Möglichkeiten und Risiken der Abzweigung kennen und deshalb besser zu ihrer Minimierung beitragen können. Die zuständigen Behörden sollten bei Endverwendern und Wirtschaftsbeteiligten dieselben Zugangsrechte zu den Geschäftsräumen haben. |
5.4 |
Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission, Kleinstunternehmen von jeglicher Pflicht zur Entrichtung von Registrierungsgebühren auszunehmen, da nicht nur der legale Handel weiterhin fortbestehen muss (zum Nutzen der Kleinstunternehmen und ihrer Beschäftigten), sondern auch der Sinn der Kontrollen verstanden und diese so umfassend wie möglich umgesetzt werden müssen. Da die für die illegale Verwendung erforderlichen Mengen relativ gering sind, geraten kleinere Verwender wahrscheinlich eher in eine Situation, dass ihnen ein, aus ihrer Sicht, unwiderstehliches Angebot gemacht wird. Von entscheidender Bedeutung für die Einhaltung der Vorschriften ist daher eine gute Kommunikation in allen relevanten Sprachen, und zwar sowohl in gedruckter als auch in elektronischer Form. |
5.5 |
Der EWSA verweist darauf, dass die Melde- und Informationsvorschriften für nicht erfasste Stoffe freiwilliger Natur sind. Die Mitgliedstaaten haben also die Möglichkeit, nicht die Pflicht, diese Verfahren anzuwenden. Dies ist für den Schutz des Binnenmarkts eindeutig nicht die ideale Lösung, aber möglicherweise immer noch besser, als noch mehr Stoffe auf die Listen der bereits festgelegten prioritären Ausgangsstoffe zu setzen. Alle Betroffenen sollten deshalb die Entwicklungen aufmerksam verfolgen. |
5.6 |
Schließlich begrüßt der EWSA den Vorschlag zur Errichtung einer europäischen Datenbank und spricht sich nachdrücklich für dessen Umsetzung aus, vorausgesetzt, es sind ausreichend Mittel vorhanden damit die Datenbank auf lange Sicht fortlaufend aktualisiert und von allen Beteiligten genutzt werden kann, so dass sie echte Ergebnisse bringt und nicht nur eine Sammlung veralteter oder unvollständiger Daten darstellt. Ebenso wichtig sind Qualität und Quantität der erfassten Daten. Von entscheidender Bedeutung wird dabei weiterhin die Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden in den Mitgliedstaaten sein. |
5.7 |
Zugang zu den Daten darf natürlich nur Personen gewährt werden, die sich entschieden und zuverlässig dem legalen Handel mit diesen Stoffen verpflichten – wobei es sich wohl um die in der Datenbank Erfassten selbst handeln dürfte. Die für Wirtschaftsbeteiligte, Händler und Endverwender sowie Mitgliedstaaten geltenden Vorschriften bezüglich der Angaben sollten im Hinblick auf den Binnenmarkt und eine Minimierung der Kosten weitestgehend vereinheitlich werden. Das ursprüngliche Ziel dieses Vorschlags, nämlich die illegale Abzweigung von Drogenausgangsstoffen festzustellen und einzuschränken sowie – dies steht zu hoffen – die Verantwortlichen dingfest zu machen, sollte hierdurch jedoch nicht beeinträchtigt werden. |
Brüssel, den 16. Januar 2013
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) ABl. C 95 vom 23.4.2003, S. 6.
(2) ABl. L 47 vom 18.2.2004, S. 1.
(3) COM(2011) 689 final, Stellungnahme des EWSA: ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 85.
14.3.2013 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 76/59 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Freisetzung des Cloud-Computing-Potenzials in Europa“
COM(2012) 529 final
2013/C 76/11
Berichterstatter: Eric PIGAL
Die Europäische Kommission beschloss am 14. August 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Freisetzung des Cloud-Computing-Potenzials in Europa“
COM(2012) 529 final.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Dezember 2012 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 486. Plenartagung am 16./17. Januar 2013 (Sitzung vom 16. Januar) mit 158 gegen 2 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 |
Der Ausschuss erachtet Cloud Computing (CC) als Chance für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in Europa und möchte in dieser Stellungnahme seine eigene Vorstellung davon aufzeigen, die von der in der Kommissionsmitteilung entworfenen Vision abweicht und sie doch ergänzt. Der Ausschuss appelliert an die Kommission, seine Vorschläge aufmerksam zu prüfen und ihre Cloud-Computing-Strategie entsprechend anzupassen. |
1.2 |
Der Ausschuss teilt den Standpunkt der Kommission, dass die Nutzung von CC in Europa gefördert werden muss, um die europäische Wirtschaft flexibler, leistungsfähiger und innovativer zu machen. Er unterstützt daher die drei von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen:
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1.3 |
Die Nutzung von CC macht es noch notwendiger, die Bürger, ihre Daten und ihre Privatsphäre zu schützen. Deshalb ermutigt der Ausschuss die Kommission, ihre diesbezüglichen Anstrengungen fortzusetzen und insbesondere über internationale Zusammenarbeit und die Stärkung eines Rechtsrahmens folgende Aspekte zu regeln:
Der Ausschuss betont ferner, dass diese Anstrengungen eine maximale Wirkung für den Schutz der von CC-Anbietern auf europäischem Gebiet vorgehaltenen Daten entfalten werden. |
1.4 |
Neben der Erleichterung der Nutzung von CC empfiehlt der Ausschuss der Kommission mit Blick auf die erfolgreiche Nutzung des CC-Potenzials in den USA, die Unterstützung einer europäischen Produktion digitaler Energie ins Visier zu nehmen, d.h., die Entwicklung und Förderung europäischer Anbieter von CC-Infrastruktur (IaaS – Infrastructure as a Service; Bereitstellung von IT-Infrastruktur als Dienstleistung). Dazu bieten sich mehrere Möglichkeiten an:
Durch die Nutzung günstiger Rahmenbedingungen (strenger Datenschutz in Europa, Anwendervorbehalte gegenüber geographisch entfernten Anbietern, hohes Sicherheitsbedürfnis usw.) könnte so die Entwicklung europäischer CC-Anbieter gefördert werden – auf lokaler, nationaler (nationale Cloud-Lösung) oder grenzübergreifender (Unternehmensvereinigungen, die sich über mehrere Mitgliedstaaten erstrecken) Ebene. |
1.5 |
Die negativen Begleiterscheinungen wie Umstrukturierungen aufgrund der Verlagerung von IT-Leistungen in die Cloud, Arbeitsplatzverluste, geografische Verlagerung, Virtualisierung und immer weniger Berührungspunkte zwischen Nutzern und Informatikern dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Diese sozialen Auswirkungen kommen in der Mitteilung aber nicht zur Sprache. Gestützt auf eine externe Vorbereitungsstudie wirbt sie vielmehr mit der Schaffung von 2,5 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen. Der Ausschuss fragt sich, ob diese Zahl in Anbetracht der Lage im IT-Sektor nicht unrealistisch ist. |
1.6 |
In Ergänzung der Europäischen Cloud-Partnerschaft (ECP) sollte die Kommission (nach dem Vorbild der USA oder Neuseelands) eine „Cloud-first“-Strategie entwickeln, um die europäischen Verwaltungen und die Mitgliedstaaten zu ermutigen, vorrangig Cloud Computing-Lösungen zu wählen. Ziel ist es, kulturelle Hemmnisse und individuelle Befürchtungen aus dem Weg zu räumen und natürlich von der durch CC ermöglichten Flexibilisierung der Dienste sowie der Verringerung der Betriebskosten zu profitieren. Für den Ausschuss versteht es sich von selbst, dass die Kommission im Rahmen dieser „Cloud-first“-Strategie Schutzvorkehrungen für die CC-Nutzung in öffentlichen Diensten und bestimmten sensiblen privatwirtschaftlichen Bereichen trifft, um Hosting (Vorhaltung) durch Anbieter zu kontrollieren oder gar zu unterbinden, die riskanten nationalen Vorschriften unterliegen – US-Anbieter bspw. können selbst bei einer Niederlassung in Europa unter dem „ Patriot Act “ zur Datenweitergabe verpflichtet werden. |
1.7 |
Eine der größten Hemmschwellen für CC liegt in den Bedenken der Anwender (Einzelpersonen wie auch Unternehmen) hinsichtlich der Regelung von Konflikten mit im Ausland ansässigen Anbietern. Der Ausschuss schlägt vor, dass die Kommission nach dem Vorbild des elektronischen Handels, der ebenso global und international angelegt ist wie CC und zu dem er Stellungnahmen vorgelegt hat (1), die Online-Streitbeilegung (engl. ODR (Online Dispute Resolution)) als Möglichkeit in Betracht zieht, um die meisten Konfliktfälle, zumal bei unterschiedlichen Gerichtsständen, durch Schlichtung zu regeln. Mit dieser unabhängigen und unparteiischen Mediation könnte eine bestehende oder neue europäische Agentur beauftragt werden. Sie wäre für die Moderation und die Unterstützung der Verhandlungen zwischen CC-Anbietern und -Anwendern zuständig. Durch diese Mediation könnten außerdem die hauptsächlichen Konfliktursachen, wiederkehrende Verfahrensfehler und notwendige Anpassungen von Praktiken oder Vorschriften ermittelt werden. |
1.8 |
Auch wenn die Vertreter der Kommission mehrfach (auf Pressekonferenzen, Konferenzen usw.) die Absicht bekundet haben, die Information, Sensibilisierung und Schulung der potenziellen CC-Anwender zu fördern, werden in der Mitteilung doch keine konkret bezifferten Maßnahmen vorgeschlagen. Der Ausschuss erwartet daher, dass die Kommission ihre Mitteilung insbesondere durch geeignete Initiativen zugunsten derjenigen Anwender ergänzt, die erst noch für CC sensibilisiert werden müssen, und zwar durch
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1.9 |
Der Ausschuss schlägt vor, dass die Kommission zusätzlich zu der Mitteilung noch die Ausarbeitung von Energieverbrauchsnormen für die CC-Rechenzentren vorsieht. |
1.10 |
Der Ausschuss schlägt vor, dass die Kommission für die von ihr anvisierten Maßnahmen einen konkreten Zeitplan und für jedes einzelne Handlungsfeld eine konkrete Programmplanung mit Umsetzungsfristen und Fortschrittsberichten aufstellt. |
2. Vorschlag der Kommission
2.1 |
In ihrem einleitenden Satz liefert die Mitteilung eine Erklärung für CC: „ ‚Cloud-Computing‘ meint in einfachen Worten das Speichern, Verarbeiten und Verwenden von Daten, die sich in entfernten Rechnern befinden [deren Standort nicht notwendigerweise bekannt ist] und auf die über das Internet zugegriffen wird.“ Der Ausschuss hat seinerseits Anfang 2012 eine Stellungnahme zu CC verabschiedet (2). Auch die Arbeiten des US-amerikanischen National Institute of Standards and Technology (NIST), des Europäischen Parlaments und des Europäischen Datenschutzbeauftragten sind von Interesse. Die Kommission hat zwei Dokumente veröffentlicht (die Befassung des Ausschusses bezieht sich ausschließlich auf das erste Dokument):
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2.2 |
Die Kommission schlägt drei „Schlüsselaktionen“ zur Förderung von CC in Europa vor:
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3. Allgemeine Bemerkungen
3.1 |
Der Ausschuss schlägt eine neue Auffassung von Cloud Computing vor, die am Begriff der „digitalen Energie“ ansetzt, von der im Zusammenhang mit den durch CC ermöglichten IT-Leistungen (Datenspeicherung, –verarbeitung und –übertragung) immer häufiger die Rede ist. Die digitale Energie kann genutzt werden, ohne dass (seitens der Nutzer) Kenntnisse über die Produktion dieser Energie, das Rechenzentrum, seinen Standort, die eingesetzten Technologien usw. erforderlich sind. Ferner bildet sich eine neue Segmentierung des Marktes heraus: neben den Nutzern und Anbietern der Dienste etablieren sich zurzeit Produzenten digitaler Energie, die enorme Investitionen (Milliarden USD) in die Errichtung von CC-Zentren tätigen können. |
3.2 |
Der digitalen Energie kommt wie den anderen Energieformen (bspw. der chemischen Energie fossiler Brennstoffe, der elektrischen Energie) eine hohe wirtschaftliche und strategische Bedeutung zu. Zunächst ist das Know-how im Bereich der Produktion und der Verteilung dieser Energie Grundlage für das in der digitalen Agenda anvisierte Wachstums- und Beschäftigungspotenzial. Ferner ist eine aktive Rolle bei der Produktion digitaler Energie Voraussetzung für die (zumindest teilweise) strategische Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten. |
3.3 |
Voraussetzung für den Ausbau von CC in Europa ist demnach der kompetente Umgang mit der gesamten Wertschöpfungskette der digitalen Energie (Nutzung, Dienste, Produktion), wie in der nachfolgenden Tabelle veranschaulicht:
In den vergangenen Jahrzehnten ist das Gewicht der Abhängigkeit der Mitgliedstaaten bzw. von ganz Europa von verschiedenen Energieträgern bzw. –formen (Erdöl, Erdgas, Strom usw.) deutlich zutage getreten. Sollten künftig die Daten der europäischen Bürger, Unternehmen und Behörden von außereuropäischen CC-Anbietern beherbergt, verwaltet und kontrolliert werden, dann wäre es angezeigt, sich Gedanken über die Auswirkungen einer solchen Abhängigkeit in Bezug auf folgende Aspekte zu machen:
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3.4 |
Europa ist in Sachen Hardware, Software und IT-Netze bereits stark auf außereuropäische Anbieter angewiesen. Die populärsten sozialen Netzwerke stammen aus den USA. Die beliebtesten Suchmaschinen werden durch in den USA oder China angesiedelte Unternehmen kontrolliert. IT-Entwicklungen werden zunehmend nach Indien und in andere Niedriglohnländer ausgelagert. Gegenwärtig wird die Produktion digitaler Energie weltweit praktisch komplett von wenigen großen Anbietern kontrolliert. Der erste europäische Akteur in diesem Bereich ist bestimmten Studien zufolge das Unternehmen OVH (Akronym für „On Vous Héberge“, www.ovh.com), das aber nicht über dasselbe internationale Renommé und Marktgewicht verfügt. Es gibt verschiedene Initiativen von Telekommunikationsdiensteanbietern wie T-Systems, Telefonica Digital, Cloud Sigma, Numergy/SFR oder Cloudwatt/Orange, die jedoch weit hinter den Marktführern Amazon, Microsoft und Google zurückbleiben. |
3.5 |
Ungeachtet einiger Unterschiede zwischen den Regelungen der Mitgliedstaaten sind sie doch weitgehend an den europäischen Dokumenten, Normen und Richtlinien ausgerichtet; daher die teilweise legitimen Befürchtungen der Nutzer, dass ihre Daten außerhalb von Europa beherbergt werden und es im Streitfall zu Gerichtsstandsproblemen und gerichtlicher Blockierung kommen kann. Das größte Unbehagen unter den Nutzern löst zudem der amerikanische „ Patriot Act “ aus. Dieses US-Bundesgesetz wurde nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verabschiedet und ermöglicht der Regierung oder einem Bundesrichter Zugang zu sämtlichen Daten, egal, ob der Eigentümer der Daten amerikanischer Staatsbürger ist oder nicht, sofern die Daten von einem amerikanischen Unternehmen beherbergt werden, selbst wenn der Hosting-Standort in Europa liegt. Vor allem muss der Eigentümer der Daten nicht informiert werden, wenn der Internet-Provider oder Cloud-Anbieter die bei ihm gespeicherten Daten weitergegeben hat. |
3.6 |
Der Kommission zufolge müsste CC in Europa bis 2020 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen und mit 160 Milliarden EUR jährlich zum BIP der EU (ca. 1 %) beitragen. Der Ausschuss stellt den Realitätsbezug dieser Zahlen in Frage. Eine eingehende Untersuchung der Auswirkungen von CC in der Praxis ergibt Folgendes:
In der Mitteilung aber werden diese sozialen Auswirkungen weder erwähnt noch berücksichtigt, ebenso wenig wie Umstrukturierungen aufgrund der Verlagerung von IT-Leistungen in die Cloud, Arbeitsplatzverluste, geografische Verlagerung, Virtualisierung und immer weniger Berührungspunkte zwischen Nutzern und Informatikern. |
3.7 |
Die bloße Nutzung von CC ermöglicht bereits Energieeinsparungen beim Hardware-Betrieb. Daneben nutzen die Serverfarmen der großen CC-Anbieter (Hosts und Diensteanbieter in einem) Prozessoren mit einem Stromverbrauch von etwa 100 W/h pro Einheit, was sich kurz- oder mittelfristig auf ein Zehntel senken lassen könnte. Es gibt auf dem Markt bereits preiswerte Mikroprozessoren, die weniger Energie aufnehmen und weniger Wärme abgeben (und die Wärmeentwicklung ist ein großes Problem für die Klimatisierung der Serverräume). |
4. Besondere Bemerkungen
4.1 |
Die Kommission befasst sich vor allem mit Public Clouds und lässt Private Clouds außer Acht. Dabei gelten diese anerkanntermaßen als zuverlässige und notwendige Übergangstechnik für kritische Informationen vor der Verlagerung in die „ganz öffentliche“ Public Cloud. Public Cloud bedeutet übrigens, dass die Cloud öffentlich zugänglich ist, und nicht, dass es sich um eine Cloud für den öffentlichen Sektor handelt. |
4.2 |
In der Einleitung der Mitteilung heißt es, dass „der Einsatz dieser Technik zusätzliche Risiken birgt“, doch ist das nicht notwendigerweise korrekt; tatsächlich bringt die Cloud neue Risiken mit sich, beseitigt aber gleichzeitig einige bestehende. |
4.3 |
Einige englischsprachige Schlagworte wie „cloud-friendly“ oder „cloud-active“ lassen sich nur schwierig in andere Sprachen übersetzen; in einigen Sprachfassungen der Mitteilung wurde ihre ursprüngliche Bedeutung völlig verzerrt. So wurden „cloud-friendly“ und „cloud-active“ in den Ziffern 3.1 und 3.2 in bestimmten Sprachfassungen mit ein und demselben Begriff übersetzt, obwohl sie unterschiedliche Zielsetzungen beinhalten. |
5. Analyse des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
5.1 |
Zur Förderung der Nutzung von CC schlägt die Kommission Folgendes vor:
Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind konkret, realistisch und notwendig und werden vom Ausschuss umfassend unterstützt. Allerdings beziehen sich die ersten beiden Maßnahmen nicht auf europaspezifische Probleme, während der Ausschuss doch erwartet hätte, dass die Kommission sich in ihrer Mitteilung vorrangig mit spezifisch europäischen Problemen befasst. |
5.2 |
Der Ausschuss misst den grundsätzlichen Zielen der digitalen Agenda weiterhin große Bedeutung bei:
|
5.3 |
Im Zusammenhang mit der Förderung der Nutzung von CC wird in Punkt 3.1 zweimal der Begriff „Cloud-freundlich“ verwendet. Das für die Digitale Agenda zuständige Kommissionsmitglied jedoch hat in zahlreichen Plädoyers für CC das Ziel eines „Cloud-aktiven“ Europas verfochten. Die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Neelie KROES, erklärte am 27. Januar 2011 in Davos: „I want to make Europe not just ‧cloud-friendly‧ but ‧cloud-active‧“ („Europa soll nicht nur Cloud-freundlich werden, sondern erfolgreich in der Cloud aktiv sein“) und kündigte die Mitteilung in ihrem Blog „Making Europe cloud active“ am 27.9.2012 offiziell an. Sie hat also für ein über reine Cloud-Freundlichkeit hinausgehendes Ziel plädiert. Der Ausschuss nimmt daher mit Verwunderung die Diskrepanz zwischen den von der Kommissionsvizepräsidentin verfochtenen Zielvorstellungen und den nun in der Mitteilung vorgeschlagenen Maßnahmen zur Kenntnis. Er erinnert zudem daran, dass er die Kommission in seiner früheren Stellungnahme (5) ermutigt hatte, mehr Ehrgeiz zu entwickeln und nicht nur ein Cloud-aktives, sondern ein Cloud-produktives Europa anzustreben. |
5.4 |
In der Mitteilung wird nicht vorgeschlagen, eine „europäische Super-Cloud“ im Sinne eines europäischen Produzenten digitaler Energie aufzubauen. In Anbetracht des Auftrags der GD Connect und der Schwierigkeit, eine solche Super-Cloud einzurichten, ist dies verständlich und durchaus zu befürworten. Die verschiedenen Interessenträger aus diesem Bereich (Telekommunikationsnetzbetreiber, Software-Provider, Systemintegratoren usw.), die befragt wurden, unterstützen diese Position einhellig. Aber es gibt einen sinnvollen europäischen Mittelweg zwischen einer unrealistischen europäischen „Super-Cloud“ und europäischen „Micro-Clouds“, die angesichts der Vormachtstellung globaler außereuropäischer Akteure auf dem Markt, im Handel und in finanzieller Hinsicht nur Nischenmärkte bedienen können. Der Vorschlag des Ausschusses hebt auf die Entwicklung und Verstärkung großer europäischer Akteure mit riesigen CC-Zentren ab, der künftigen europäischen digitalen Industrie! Diese Akteure können auf lokaler, nationaler (nationale Cloud-Lösung) oder grenzübergreifender (Unternehmensvereinigungen, die sich über mehrere Mitgliedstaaten erstrecken) Ebene angesiedelt sein. |
5.5 |
Der Ausschuss weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die europäischen CC-Akteure zwar größenmäßig mit den Marktführern nicht Schritt halten können, aber doch über einige Wettbewerbsvorteile verfügen.
Diese für die Entwicklung europäischer CC-Akteure günstigen Voraussetzungen werden aber nicht von Dauer sein. Deshalb muss die Kommission unbedingt dringend handeln und die Gunst der Stunde nutzen, um die Entwicklung europäischer CC-Akteure zu fördern. |
5.6 |
Unter Punkt 2 der Mitteilung wird davon ausgegangen, dass „im nationalen Alleingang wirtschaftlich optimale Lösungen kaum zu erreichen sind“. Der Ausschuss empfiehlt der Kommission, ihre Haltung zu nationalen Cloud-Lösungen zu überdenken. Zum einen wird diese Feststellung nirgendwo in der Mitteilung oder Folgenabschätzung faktisch untermauert, was doch leicht befremdlich ist angesichts der kategorischen Aussage. Zum anderen könnte eine so strenge Kritik an nationalen oder lokalen Cloud-Lösungen, wenn - wie in der Mitteilung - kein Alternativvorschlag unterbreitet wird, jedweden glaubwürdigen Versuch untergraben, ein stabiles, beständiges und wettbewerbsfähiges CC-Konzept zu entwickeln, das den CC-Giganten in den anderen Weltregionen wie Indien, China oder den USA standhalten kann. |
5.7 |
Der vorgeschlagene Ansatz – „Förderung einer gemeinsamen Führungsrolle des öffentlichen Sektors durch eine europäische Cloud-Partnerschaft“ (Punkt 3.5) – ist überwiegend auf den öffentlichen Dienstleistungssektor ausgerichtet. Der Ausschuss versteht und befürwortet den Standpunkt der Europäischen Kommission hinsichtlich der Bedeutung der öffentlichen Dienstleistungen in den europäischen sozioökonomischen Modellen. Sie werden bei der Entwicklung von CC eine Rolle zu spielen haben. Allerdings ist für den Ausschuss nicht unmittelbar ersichtlich, wie die europäischen öffentlichen Dienste vor dem Hintergrund genereller Haushaltskürzungen Innovationstreiber für CC sein sollen. Zu bedenken ist auch, dass die größten europäischen Erfolge entweder von der Privatwirtschaft (Beispiel: Mobiltelefonie, Chipkarten) oder von öffentlich subventionierten privatwirtschaftlichen Unternehmen (Beispiel: Airbus, Arianespace usw.) erzielt worden sind. Die Kommission sollte die durch diese Partnerschaft anvisierte „Führungsrolle“ genauer erläutern. |
5.8 |
Die Kommission schlägt einen „Top-down“-Ansatz vor, sprich: die Erleichterung der Nutzung zur Förderung der Entwicklung der Dienste und eventuell der Produktion digitaler Energie. Ohne marktbeherrschende Akteure oder bei einem ausgewogenen Verhältnis von europäischen und außereuropäischen Akteuren würde der Ausschuss eine solche nachfragegetriebene progressive Leistungssteigerung durchweg unterstützen. Leider sind diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben, und die wichtigsten Akteure sitzen außerhalb Europas und beherrschen als Oligopolisten den Markt. Die Ausweitung der Nutzung von CC könnte deshalb kontraproduktiv sein und deren Dominanz noch verstärken. Ohne sich dieser Entwicklung verweigern zu wollen, fordert der Ausschuss die Kommission nachdrücklich auf, entsprechende Schutzvorkehrungen zu treffen, damit die europäischen Anbieter von ihren Bestrebungen profitieren und sich neben den marktbeherrschenden außereuropäischen Akteuren etablieren können. |
5.9 |
Neben und ergänzend zu dem bereits beschriebenen „Top-down“-Ansatz sollte die Kommission auch konkrete „Bottom-up“-Maßnahmen vorschlagen, d.h., die Entwicklung von CC-Anbietern sowie anschließend von CC-Diensten und CC-Nutzung auf regionaler und nationaler Ebene und auch grenzübergreifend fördern. In anderen Branchen wie der Automobiltechnik und der Mobiltelefonie ist veranschaulicht worden, wie „mitreißend“ sich eine starke und mächtige Industrieproduktion in Europa auf die darüberliegenden Ebenen (Dienste und Anwendungen) auswirken kann. Die in diesen Branchen angewendeten Fördermaßnahmen könnten auf die Entwicklung der digitalen Energie übertragen werden. Als weiteres Vorbild könnten die USA dienen, wo CC von Anfang an nach einem Bottom-up-Ansatz entwickelt worden ist – der Erfolg kann sich sehen lassen! Davon ausgehend empfiehlt der Ausschuss der Kommission, sich von dieser Verfahrensweise inspirieren zu lassen und in Europa an einer vergleichbaren Erfolgsgeschichte mitzuwirken. |
5.10 |
Die Kommission und die anderen EU-Institutionen nutzen Informationstechnik in großem Umfang. Bis dato werden aber kaum CC-Lösungen eingesetzt. In den USA dagegen sind die Bundesbehörden im Rahmen der Einführung einer „cloud-first“ policy dazu verpflichtet worden, vorrangig CC-Lösungen zu wählen. Diesem Beispiel folgend sollte die Kommission sich selbst und den anderen EU-Institutionen eine „Cloud-first“-Strategie vorschreiben, was die Herausbildung eines europäischen CC-Ökosystems und eine erhebliche Verringerung der Betriebskosten ermöglichen würde. |
5.11 |
Insbesondere bei der Breitbandförderung und der Modernisierung im IT-Bereich hatte die Kommission seinerzeit praxisbezogene Maßnahmen durchgeführt. Diese beinhalteten:
Angesichts des Erfolgs dieser früheren Programme empfiehlt der Ausschuss der Kommission, ein ähnliches, speziell auf CC zugeschnittenes Programm zu planen und zu finanzieren. Der Ausschuss plädiert dafür, institutionelle und sichere Datenbanken in geregelter Form schrittweise, aber baldmöglichst in CC zu integrieren. Hierdurch würde den Bürgern die Verwaltung kritischer Daten (gemäß EU- und nationalem Recht) erleichtert und ihr Vertrauen in CC gestärkt. |
5.12 |
Die Kommission schlägt eine Reihe von Maßnahmen für die Entwicklung von CC vor, allerdings ohne einen genau abgesteckten und straffen Planungsrahmen. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, raschestmöglich einen einschlägigen Zeitplan zu veröffentlichen. Die Entwicklungen im CC-Bereich schreiten rasch voran; deshalb ist es dringend und wichtig, dass alle Akteure Gelegenheit haben, ihre eigene Strategie auf die Maßnahmen der Kommission abzustimmen. |
Brüssel, den 16. Januar 2013
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) Stellungnahme des EWSA zu der Richtlinie über alternative Streitbeilegung, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 93, und Stellungnahme des EWSA zu der Verordnung über Online-Streitbeilegung, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 99.
(2) Stellungnahme des EWSA zum Thema „Cloud Computing in Europa“ (Initiativstellungnahme), ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 40.
(3) Kommissionsvizepräsidentin Neelie KROES, die für die digitale Agenda zuständig ist, hat mehrfach für diese Entwicklungsebene geworben.
(4) Der Ausschuss hat sich in seiner vorhergehenden Stellungnahme zu Cloud Computing (TEN/452) für diese Entwicklungsebene eingesetzt.
(5) Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Cloud Computing in Europa“, ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 40.
14.3.2013 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 76/66 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Vorlage „Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Für eine neue Entwicklungspartnerschaft zwischen der EU und dem Pazifikraum“
JOIN(2012) 6 final
2013/C 76/12
Berichterstatter: Carmelo CEDRONE
Die Europäische Kommission und die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik beschlossen am 21. März 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Für eine neue Entwicklungspartnerschaft zwischen der EU und dem Pazifikraum
JOIN(2012) 6 final.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 19. Dezember 2012 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 486. Plenartagung am 16./17. Januar 2013 (Sitzung vom 17. Januar) mit 139 gegen 13 Stimmen bei 14 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Vorschläge
1.1 |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält die Zielsetzungen der EU für die neue EU-Pazifik-Entwicklungspartnerschaft für ehrgeizig und umfassend. Die Umsetzungsmodalitäten, bei denen der Schwerpunkt auf dem Umweltschutz und der Erhaltung der Biodiversität in dieser Region liegt, hält er für nicht klar genug. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Auswirkungen des Klimawandels, die übergreifend die gesamte nationale und multilaterale Entwicklungspolitik bedingen und nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Auswirkungen haben, im Zusammenspiel mit anderen Organisationen in Angriff genommen werden müssen. Überdies müssen die mit den Auswirkungen des Klimawandels zusammenhängenden Fragestellungen fest in die Umweltschutzpolitik in der Region eingebunden sein, um die diesbezüglichen Verhaltensweisen und Interventionen konsequent auszurichten. |
1.2 |
Nach Auffassung des EWSA sind daher integrierte Maßnahmen für eine nachhaltige Entwicklung in den beteiligten Ländern erforderlich, um die Wirkung der Hilfe zu maximieren, sämtliche Interventionen synergetisch zu nutzen und auch die Akteure vor Ort durch einen mittel- bis langfristigen programmatischen Ansatz aktiv einzubinden. |
1.3 |
Der EWSA hält es für wichtig, dass in der Mitteilung darauf hingewiesen wird, dass die uneingeschränkte Wahrung der Rechte und eine stabile Demokratie für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes unverzichtbar sind. Auf die Situation in Fidschi, wo noch immer eine Diktatur den Bürgern die Grundrechte verweigert, wird leider nur andeutungsweise eingegangen, obwohl hier von europäischer Seite entschiedener und kohärenter Stellung bezogen werden sollte. |
1.4 |
Die Festlegung der neuen Entwicklungspartnerschaft sollte als Gelegenheit genutzt werden, um – ausgehend von der uneingeschränkten Anwendung des Cotonou-Abkommens – Grundsätze und Konditionalitäten vorzugeben, die die EU-Richtschnur gegenüber sämtlichen Empfängerländern von Gemeinschaftshilfen bilden sollten. Außerdem muss in allen Ländern über die uneingeschränkte Inanspruchnahme der Grund- und Arbeitsrechte sowie die Beteiligung am demokratischen Leben die effektive Ausübung der Demokratie garantiert werden. |
1.5 |
Besondere Aufmerksamkeit muss der dramatischen und besorgniserregenden Situation der Frauen in sämtlichen Ländern der Region gewidmet werden, denen die grundlegendsten Rechte vorenthalten werden. Die Rechte und der Schutz der Frauen sollten bei sämtlichen Fragen im Zusammenhang mit den Beziehungen zwischen der EU und dem Pazifikraum eine wichtige Rolle spielen. Die hohe geschlechtsbezogene Gewalt und die niedrige Beteiligung von Frauen an der Beschlussfassung sowie der geringe Anteil von Frauen in Führungspositionen bereiten dem EWSA und seinen Partnern Sorge und sollten in den Dokumenten der Kommission und bei künftigen Maßnahmen stärker berücksichtigt werden. |
1.6 |
Nach wie vor von zentraler Bedeutung ist nach Auffassung des EWSA die Stärkung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft insgesamt in dieser Region wie auch in den anderen Regionen, mit denen die EU Abkommen geschlossen hat. Daher müssen geeignete Maßnahmen zur praktischen Realisierung dieses Ziels gefördert und durchgeführt werden. Der EWSA ist sich zwar der Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der geografischen Lage, die auch strukturierten bilateralen Beziehungen Grenzen setzen, durchaus bewusst, hält aber insbesondere die Errichtung eines Netzes sowie eines gemischten Ausschusses auf territorialer und nationaler Ebene sowie auf Ebene der gesamten Region für sinnvoll. Diese Beteiligungsinstrumente sollten die aktive Einbeziehung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft in sämtliche Phasen der Festlegung, Umsetzung und Überwachung der Abkommen erleichtern. Dies sollte zu einem wirklichen Grundsatz werden. Wünschenswert ist eine unmittelbare Initiative für die Errichtung eines richtigen Wirtschafts- und Sozialrats dieser Region, u.a. auch zur Stärkung des sozialen und zivilen Dialogs und zur Verbesserung des Kapazitätsaufbaus aller lokalen Akteure unter Bereitstellung spezieller Finanzmittel. |
1.7 |
Nach Auffassung des EWSA ist es von vorrangiger Bedeutung, die diversen EU-Maßnahmen über die verschiedenen an den Programmen beteiligten Direktionen der Kommission und den EAD sowie das Engagement der WTO in dieser Region zu koordinieren. Aufgrund der geringen Größe der öffentlichen Verwaltung in den betroffenen Ländern spielt die Koordinierung eine entscheidende Rolle. Diese Ausrichtung kann eine Gelegenheit für entscheidende Maßnahmen des EAD sein, sodass die EU ihr außenpolitisches Handeln mithilfe einer besseren Koordinierung zwischen den EU-Mitgliedstaaten stärken kann. |
1.8 |
In der Mitteilung der Europäischen Kommission wird der Klimaaspekt besonders hervorgehoben. Der EWSA weist jedoch darauf hin, dass für die Bewältigung der Klimaproblematik die Wirtschaftsentwicklung wichtig ist. Um ein breitenwirksames, nachhaltiges und integriertes Wachstum im Dienste der Entwicklung in der Region sicherzustellen, muss nach Auffassung des EWSA unbedingt die Kohärenz zwischen entwicklungspolitischen Maßnahmen sowie Maßnahmen für den Umweltschutz und in anderen Bereichen wie z.B. Handel, Fischerei, Landwirtschaft, Ernährungssicherheit, Forschung und Unterstützung von Menschenrechten und Demokratie gewährleistet werden. Die Erbringungskriterien für die Hilfen müssen auf genau definierten und zuvor festgelegten Indikatoren basieren, auch für die anschließende Überwachung der Programme sowie mittels Koordinierung der verschiedenen Geldgeber. |
1.9 |
Der EWSA teilt die Auffassung, dass bei den Interventionen zwischen AKP-Ländern und überseeischen Gebieten unterschieden werden muss, wobei der unterschiedlichen institutionellen Situation und dem unterschiedlichen Entwicklungsstand der einzelnen Länder Rechnung zu tragen ist, um die Möglichkeiten für die regionale Integration zu optimieren. Die Situation der überseeischen Gebiete muss auch bewertet werden, die einen Entwicklungsvorsprung vor den anderen Ländern haben und bereits Mittel aus dem Europäischen Entwicklungsfonds und bilaterale Hilfen erhalten. Derartige Interventionen sollten mit den für die anderen Länder der Region bestimmten Programmen abgestimmt werden. Diese Gebiete könnten einen wichtigen Bezugspunkt für die Verbreitung der Rechte, Werte und auf ein breitenwirksames Wachstum ausgerichteten bewährten Verfahren der EU-Politik bilden. |
1.10 |
Bezüglich der Handelsabkommen wäre es trotz der gegenwärtigen Schwierigkeiten sinnvoll, über die bilateralen Ankommen hinauszugehen und ein Abkommen für die gesamte Region anzustreben, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, dass es sich – vom Fischereisektor einmal abgesehen – mit Blick auf den relativen Anteil am Handel um kleine Akteure handelt. |
1.11 |
Der EWSA hält es außerdem für zweckmäßig, dass die EU die in der entsprechenden UN-Kommission geführten Verhandlungen über Seerechtsfragen im Zusammenhang mit dem FESTLANDSOCKEL aufmerksam verfolgt, insbesondere soweit sie die Region betreffen, die Gegenstand dieser Stellungnahme ist. |
2. Einleitung
2.1 |
Die EU hat bekanntlich verschiedene Partnerschaftsabkommen mit dem Pazifikraum geschlossen; diese neue Partnerschaft betrifft 15 unabhängige Inselstaaten (1), 4 überseeische Länder und Gebiete (ÜLG) (2), das Pacific Islands Forum (PIF) sowie Australien und Neuseeland als wichtige Mitglieder des Forums und gleichgesinnte Partner. Nach der Strategie von 2006 besteht das Ziel darin, zum einen die eigene Position in dieser Region als zweitgrößter Geber nach Australien zu konsolidieren und zum andern zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der gesamten Region beizutragen, wobei auch die uneingeschränkte Wahrung der Rechte und die Stärkung demokratischer Institutionen gewährleistet werden muss. |
2.2 |
Aufbauend auf dem Abkommen von Cotonou (EU-AKP) will die EU mit der vorliegenden Mitteilung ihre Maßnahmen im Pazifikraum auf einige Hauptziele gemäß der Agenda für den Wandel konzentrieren (3):
Die EU, deren führende Rolle bei der Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen von den lokalen Partnern und Akteuren anerkannt wird, hat die Absicht, ihre Präsenz in der Region verantwortungsvoll zu konsolidieren. |
2.3 |
Trotz der geringen Bevölkerungszahl der meisten Inselstaaten und -gebiete handelt es sich um eine sehr ausgedehnte und äußerst heterogene Region, die aufgrund ihrer besonderen geografischen Lage zahlreiche Probleme aufweist. Dies macht sie zu einem fragilen und heiklen Gebilde, das u.a. durch das maritime Ökosystem geeint wird. Dieses ist von einzigartigem Wert und muss entsprechend beachtet und geschützt werden. |
2.4 |
Dieses Ziel ist nicht leicht zu erreichen, nicht nur aus den in der Mitteilung genannten Gründen, sondern auch wegen der Wirtschaftskrise, die der Außenpolitik der Union Grenzen setzt und die auch das künftige Cotonou-Abkommen nach 2020 beeinflussen könnte. Aufgrund ihrer geografischen Nähe zu China und Japan sind diese Länder jedoch für die EU von geostrategischer Bedeutung. Eine stärkere Beteiligung und bessere Nutzung der ÜLG für die Verbreitung der Politik und der Rechtskultur der EU und die Umsetzung der Programme wäre daher sehr nützlich und zweifellos von gegenseitigem Nutzen. |
3. Positive Aspekte
3.1 |
Berücksichtigung der Folgen des Klimawandels und der gravierenden Auswirkungen auf die gesamte Region, sowohl hinsichtlich der Stabilität des Ökosystems – bis hin zur Bedrohung seiner Existenz – als bezüglich auch der Gefahren eines immer unausgewogeneren anhaltenden Wachstums der betreffenden Länder sowohl unter rein wirtschaftlichen und finanziellen als auch politischen und sozialen Gesichtspunkten, mit einem Multiplikatoreffekt bei den Risiken, der auch der Verwirklichung der Millenniumsziele der Vereinten Nationen Grenzen setzt; |
3.2 |
Berücksichtigung der Notwendigkeit integrierter Maßnahmen der verschiedenen internationalen Akteure der bilateralen und multilateralen Hilfe, die derzeit vielfach so stark fragmentiert ist, dass sie nicht voll wirksam werden kann. Verbesserung der finanziellen Instrumente und der Wirkung der Hilfsmaßnahmen; |
3.3 |
Notwendigkeit der Koordinierung mit den internationalen Organisationen; in der Kommissionsmitteilung wird bezüglich der Folgen des Klimawandels vor allem auf die Vereinten Nationen verwiesen; |
3.4 |
Berücksichtigung der regionalen Zusammenarbeit und der Notwendigkeit, von regionalen Organisationen unterstützte sektorale Programme und Entwicklungspläne aus- (bzw. auf-) zubauen, um über die regionalen Entwicklungsstrategien hinaus einen integrierten Ansatz bei den Hilfen und deren Verwaltung zu fördern; |
3.5 |
Bedeutung des Dialogs mit den örtlichen institutionellen Akteuren, um die Hilfsprogramme festzulegen und in gemeinsamer Verantwortung durchzuführen; |
3.6 |
Augenmerk auf die Steigerung der Wirksamkeit der Interventionen unter Betonung der Notwendigkeit, mit den Empfängerländern gemeinsame Überwachungs-, Verwaltungs- und Umsetzungsverfahren vorzusehen. Diesbezüglich wären mehr spezifische Informationen erforderlich. |
3.7 |
Analyse der Erbringungsmethoden für die Hilfen seitens multilateraler und bilateraler Geber und Verpflichtung, die Modalitäten für die Erbringung der Hilfen an die Probleme der kleinen Verwaltungen der pazifischen Inselstaaten und -gebiete (Pacific Island Countries and Territories – PICTs) anzupassen; Berücksichtigung der Schwierigkeiten der Empfängerländer, die Hilfen in nationale Entwicklungsprogramme zu integrieren, die Maßnahmen zur Verbesserung des Kapazitätsaufbaus (capacity building) der staatlichen Institutionen erfordern; |
3.8 |
Bezüglich der Grundrechtsverletzungen in Fidschi bringt die Kommission ihre Besorgnis zum Ausdruck und bekundet ihre Absicht, die Situation zu verfolgen, ohne jedoch speziell auf eventuelle weitergehende Konditionalitäten für die Erbringung der Hilfen hinzuweisen. |
4. Kritikpunkte
4.1 |
Aus der Mitteilung der Kommission geht alles in allem nicht klar hervor, auf welche Weise die EU die Interventionen zu untersuchen und zu verbessern gedenkt, die über die kurzfristigen Ziele hinausgehen. Diese sind zwar wichtig, reichen jedoch nicht aus, um Einfluss auf die künftige Nachhaltigkeit der Region zu nehmen. Es handelt sich um eine ganz spezielle große Region mit vielen, von der Einwohnerzahl her kleinen und sehr kleinen Ländern, die sich jedoch über ein geografisch sehr ausgedehntes Gebiet erstrecken. Diese Länder haben einen unterschiedlichen Ansatz und ein unterschiedliches Verständnis hinsichtlich der Notwendigkeit von Maßnahmen für eine langfristig nachhaltige Entwicklung. Sie haben auch unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der auf nationaler Ebene sowie in den Hoheitsgewässern und internationalen Gewässern zwischen den einzelnen Ländern anzuwendenden Bestimmungen. |
4.2 |
Der EWSA hält eine integrierte und langfristig angelegte Vorgehensweise für notwendig, bei der alle in diesem Gebiet tätigen Akteure – internationale institutionelle Akteure, andere Staaten und örtliche Akteure – gemeinsam in die Pflicht genommen werden. Der Kommissionsvorschlag für die Partnerschaft muss den Verhandlungen über den neuen EU-Haushalt, den neuen Prioritäten der Millenniumsziele nach 2015 sowie der Aufnahme der Verhandlungen über das neue Cotonou-Abkommen Rechnung tragen. |
4.3 |
Bei den angegebenen Zielen sollte stärker auf die integrierte Entwicklung des Pazifikraums, die entwicklungspolitischen Maßnahmen und die Interventionsbereiche geachtet werden; beispielsweise werden die Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit ausschließlich im Zusammenhang mit den Folgen des Klimawandels in dieser Region erwähnt. Landwirtschaft ist die Grundlage für die Vitalität des ländlichen Raums. Obgleich die Landwirtschaft überwiegend der Selbstversorgung dient – nur die Zuckerrohr- und Palmölproduktion sind für den Export von einer gewissen Bedeutung – gibt es ein Problem mit der Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen und der nachhaltigen Nutzung des Bodens und der Landwirtschaft. Es ist darauf hinzuweisen, dass einige der betroffenen Länder durch die Reform der Zuckerpolitik der Europäischen Union 2006 ihre Präferenzstellung eingebüßt haben, was wiederum zum Verlust von Arbeitsplätzen geführt hat. |
4.4 |
Der Schwerpunkt der Mitteilung liegt hauptsächlich auf den Gefahren des Klimawandels, einer Frage, die für das Überleben einiger Staaten und des Ökosystems von entscheidender Bedeutung sind (Anstieg des Meeresspiegels, Verschwinden der Wälder, salzhaltiges Grundwasser, Anstieg der Meerestemperatur usw.). Die Kommission schlägt daher vor, Mittel hauptsächlich für diesen Bereich zuzuweisen; indes sollten jedoch integrierte und kohärente Programme für eine nachhaltige Entwicklung und für Wachstum mit genau festgelegten Verpflichtungen der Empfängerländer verstärkt werden. Hierbei wäre auch die Beteiligung des privaten Sektors, insbesondere der KMU, wünschenswert. |
4.5 |
Der EWSA ist das Auffassung, dass ein integrierter strategischer Ansatz notwendig und die Mitteilung schon einmal ein guter Anfang ist. Die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Direktionen der Kommission, insbesondere zwischen der GD DEVCO, GD Maritime Angelegenheiten und Fischerei, GD Handel, GD SANCO, GD Forschung und dem EAD, sollte gefördert und trotz bereits erzielter Fortschritte jetzt im Interesse einer kohärenteren EU-Politik stärker koordiniert werden (4). |
4.6 |
Vor allem der Fischereisektor – der nicht nur für alle Länder des Pazifikraums, sondern angesichts des umfangreichen Exportvolumens (insbesondere Thunfisch) in die Mitgliedstaaten auch für die EU entscheidend wichtig ist – sollte bei den Interventionen stärker berücksichtigt werden, da die Nachhaltigkeit der Produktion und des Ökosystems erhalten bleiben und Überfischung vermieden werden muss, um die Zukunft der Fischerei nicht zu gefährden. Der EWSA begrüßt die Maßnahmen der EU zur Bekämpfung der illegalen Fischerei durch die Anwendung der EU-Verordnung zur Verhinderung, Bekämpfung und Unterbindung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei („IUU-Verordnung“). Auf der Grundlage dieser Verordnung hat die Kommission zwei Länder in dieser Region (Vanuatu und Fidschi) davon in Kenntnis gesetzt, dass sie möglicherweise als nichtkooperierende Drittländer im Hinblick auf die Bekämpfung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei eingestuft werden könnten. |
4.6.1 |
Aus diesen Gründen sollte die EU die AKP-Präferenzsysteme beibehalten, wie dies vor Kurzem bei einigen Ländern der Region geschehen ist (5), auch wenn sie die Gefahr der Wettbewerbsverzerrung gegenüber den anderen Marktteilnehmern berücksichtigen muss. |
4.6.2 |
Der EWSA räumt die objektiven Schwierigkeiten in diesem Sektor ein; er bewertet die drei mit Kiribati, den Salomonen und den die Föderierten Staaten von Mikronesien unterzeichneten Abkommen (FPA) positiv. Er hofft allerdings, dass mit allen beteiligten Ländern ein umfassendes Einvernehmen über die in den Hoheitsgewässern und den internationalen Gewässern in dieser Region anzuwendenden Regeln erzielt werden kann. |
4.7 |
Trotz der Tatsache, dass sechs pazifische Inselstaaten der WTO angehören und in den Genuss spezieller Programme und Vergünstigungen kommen, geht die Kommission im Rahmen der – in der Mitteilung zu Recht herausgestellten – Koordinierung der verschiedenen Hilfsmaßnahmen in keiner Weise auf die Tätigkeit der WTO in dieser Region ein. |
4.8 |
Handel (WTO): Fidschi, Papua Neuguinea, die Salomonen, Tonga, Samoa und Vanuatu sind Mitglieder der WTO, die mit den verschiedenen Beitrittsabkommen ein stabiles und integriertes regionales Handelssystem zu gewährleisten versucht, um die Vorteile zu kapitalisieren und die Ressourcen und Skaleneffekte effizienter zu nutzen. |
4.8.1 |
Die WTO hat sich dafür eingesetzt, dass 2004 in Genf ein Vertretungsbüro der pazifischen Inseln (Pacific Islands Forum Representative Office) eingerichtet wurde, um eine stärkere Integration der bürokratischen Systeme zu ermöglichen und den Kapazitätsaufbau für den Handel und multilaterale Kontakte zu fördern, die für diese kleinen Volkswirtschaften sehr wichtig sind. |
4.8.2 |
Es erscheint absolut nützlich, dass die Europäische Union u.a. auf der Grundlage des erneuerten Cotonou-Abkommens enge und strukturierte Beziehungen zum Genfer Vertretungsbüro und zur WTO aufbaut. Insbesondere mit Blick auf die geringe Größe der öffentlichen Verwaltung in vielen dieser Länder ist ein koordiniertes Vorgehen von grundlegender Bedeutung. Dann ist eine Koordinierung der Initiativen zur Unterstützung dieser Volkswirtschaften durch bereits laufende technische Hilfsprogramme, die noch nicht auf multilateraler Ebene koordiniert sind, möglich. Zu alledem kommt ein verringertes, instabiles Wirtschaftswachstum hinzu, das bereits seit langem besteht und ein enormes Gefälle zwischen den einzelnen Ländern erkennen lässt. Papua-Neuguinea und die Salomonen konnten aufgrund der Rohstoffpreise ein höheres Wachstum verzeichnen, während die ohnehin schon schwachen Volkswirtschaften von Fidschi und Samoa mit den Folgen von Naturkatastrophen zu kämpfen hatten (6). |
4.8.3 |
Besondere Aufmerksamkeit muss überdies der Förderung der KMU geschenkt werden sowie der Schaffung regionaler Unterstützungsdienste für die KMU, die auf multilateraler Ebene gefördert und eingerichtet werden sollten unter Verwendung bestehender Mittel und Programme der WTO, des IWF und der Weltbank, auch für die Entwicklung des ländlichen Raums. |
4.9 |
Die Europäische Kommission weist in ihrer Mitteilung zu Recht auf die sozialen Risiken einer schwachen Wirtschaftsentwicklung dieser Inseln hin sowie auf die hohe Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte, die vor Ort keine Beschäftigungsmöglichkeiten finden, und auf die sozialen Folgen des Klimawandels. Gemäß den Daten der Weltbank gehören die Salomonen, Vanuatu, Samoa, Kiribati, Timor-Leste und Tuvalu zu den am wenigsten entwickelten Ländern (LDC) mit hoher Armutsrate. Selbst in Papua-Neuguinea, dem größten Land des Pazifikraums, leben über 40 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Angesichts dieser Zahlen müssen die Millenniums-Entwicklungsziele erreicht und koordinierte Maßnahmen auf internationaler Ebene durchgeführt werden. In der Mitteilung wird jedoch nicht auf die Arbeit der verschiedenen UN-Agenturen zur Unterstützung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung eingegangen. |
4.9.1 |
Die diversen UN-Programme sind unverzichtbar und sollten von der Kommission befürwortet werden, da sie zu dem notwendigen Knowhow und Kapazitätsaufbau beitragen, um die Hilfen der verschiedenen Geber – u.a. der EU – zu „absorbieren“ und besser zu nutzen. Außerdem gehen sie in Richtung einer größeren Verantwortlichkeit seitens der Institutionen, Sozialpartner und zivilgesellschaftlichen Akteure der einzelnen Staaten und fördern die Errichtung partizipativer demokratischer Institutionen. |
5. Rechte, Demokratie, Gewerkschaftsrechte – die Situation in Fidschi
5.1 |
Die pazifischen Inseln werden von den internationalen Finanzinstituten zu den am stärksten benachteiligten Gebieten der Welt gerechnet – sie sind abgelegen, dünn besiedelt und haben einen starken Migrationsdruck, einen niedrigen Bildungs- und Ausbildungsstand sowie ein enormes Defizit an speziellen Kompetenzen im Bereich Handel und internationale Wirtschaftstätigkeit. |
5.1.1 |
Vor allem die Bedingungen für junge Menschen sind besonders problematisch, was auf verschiedene Faktoren zurückzuführen ist wie z.B. die geografische Isolation, die Grenzen der wirtschaftlichen Entwicklung (kleine, untereinander wenig integrierte Volkswirtschaften und begrenzte heimische Märkte) sowie die demografische Dynamik mit einem schnellen Zuwachs junger Arbeitskräfte (7). Australien hat ein Hilfsprogramm für die Saisonarbeit in den am stärksten benachteiligten Ländern des Pazifikraums aufgelegt. Es handelt sich um eine Intervention, die in die gleiche Richtung geht – sie sollte unterstützt und auch auf andere Länder der Region ausgerichtet werden. |
5.1.2 |
Angesichts des Ausmaßes der Ausbeutung und Erniedrigung und wegen der äußerst geringen Fortschritte bei der Suche nach wirksamen Lösungen ist die Lage der Frauen dramatisch und besorgniserregend. Frauen werden nach wie vor stark diskriminiert, sowohl durch eine praktisch überhaupt nicht vorhandene Beteiligung am Arbeitsmarkt und am politischen Leben als auch durch die in allen Ländern der Region weit verbreitete Verletzung der Grundrechte durch Gewaltverbrechen. Es geht nicht nur um ein kulturelles Problem, sondern auch darum, Möglichkeiten für Beschäftigung, Integration und Teilhabe zu schaffen. Es sollte ausdrücklich auf den Aktionsplan der EU für die Gleichstellung und die Machtgleichstellung der Frauen im Rahmen der Entwicklung (2010-2015) Bezug genommen werden, in dem u.a. die Anwendung genauer Indikatoren für die Beteiligung der Frauen in nationalen Einrichtungen gefordert wird. |
5.2 |
Die Achtung der Menschenrechte und der Demokratie sind unverzichtbare Voraussetzungen für die Hilfs- und Kooperationspolitik der EU. Dazu gehören auch die Gewerkschaftsrechte, die auf der Grundlage der acht einschlägigen ILO-Übereinkommen international anerkannt sind. |
5.3 |
Auch im Abkommen von Cotonou wird die grundlegende Bedeutung der Achtung der Menschenrechte und demokratischer Institutionen für den Aufbau einer stabilen und prosperierenden Wirtschaft anerkannt. Leider wird der Frage der schweren Menschenrechtsverletzungen in der Kommissionsmitteilung nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet; dies betrifft vor allem Fidschi, in Bezug auf die geografische Ausdehnung und die Einwohnerzahl bekanntlich die zweitgrößte Insel der Region. |
5.4 |
Die Situation in Fidschi ist in der Tat nicht hinnehmbar: Die Regierung, seit dem Staatsstreich von 2006 am Gängelband einer Militärjunta, hat 2011 eine aggressive Kampagne gestartet, um – unter Verstoß gegen die von der Regierung ratifizierten ILO-Übereinkommen 87 und 98 – die Gewerkschaftsbewegung zu zerschlagen und den Arbeitnehmern von Fidschi ihre Grundrechte vorzuenthalten. Wegen der Abschaffung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, wegen der Folter und Misshandlung, der Gewalt gegen Frauen und Minderjährige und der Unterdrückung der elementarsten Arbeitnehmerrechte hat dieser Fall für die EU emblematischen Charakter und darf nicht toleriert werden. Neben der Anwendung von Artikel 96 des Cotonou-Abkommens hält der EWSA ein entschiedeneres Vorgehen im Falle Fidschis für notwendig, auch mit Blick auf die Wahlen 2014 und die Ausarbeitung der neuen Verfassung. |
5.5 |
Die Lage in Fidschi wurde im November 2012 erneut im Verwaltungsrat der ILO erörtert, der hierzu eine Entschließung verabschiedet hat, auch angesichts der jüngsten Entscheidung der Regierung von Fidschi, die per Mandat des Verwaltungsrats entsandte ILO-Delegation zurückzuweisen (8). Die EU kann nicht umhin, die Frage im Einvernehmen mit denjenigen Mitgliedstaaten zu behandeln, die sich der Verurteilung der Verhältnisse durch die ILO angeschlossen haben. |
5.6 |
Die Bedingungen für die Handlungsfähigkeit der Zivilgesellschaft sind in diesem Fall schwierig bzw. praktisch nicht gegeben. Vielmehr werden – im Widerspruch zu jeglichen demokratischen Prinzipien – die elementarsten Rechte der Zivilgesellschaft ganz offenkundig mit Füßen getreten, und für den EWSA ist es nicht hinnehmbar, dass derartige Verstöße anhalten. Der EWSA muss seinen Standpunkt gegenüber den anderen EU-Institutionen vertreten und entsprechend handeln (9). |
5.7 |
Es muss entschiedener interveniert werden, und zwar sowohl unmittelbar als auch auf bilateraler Ebene bei der Festlegung der notwendigen Voraussetzungen für die Erbringung der EU-Hilfe, wobei deutlich gemacht wird, dass in der Frage der Rechte die EU-Mitgliedstaaten einen einhelligen Standpunkt im Einklang mit den grundlegenden und unveräußerlichen Prinzipien der Union vertreten. |
6. Die Rolle der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft
6.1 |
Für den EWSA ist und bleibt die Beteiligung der Zivilgesellschaft der Dreh- und Angelpunkt für den Ausbau der verschiedenen Formen der Partnerschaft zur Verwirklichung der Ziele des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts. Dies gilt in noch stärkerem Maße im Bereich der Rechte und der Demokratie, deren Achtung die Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Hilfs- und Kooperationspolitik der EU ist. |
6.2 |
Die Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft ist auch in diesem Bereich ein vorrangiges Ziel, trotz mindestens zwei objektiver Einschränkungen: Die erste ist die besondere geografische Konstellation – die prekäre Insellage und die weit verstreute Bevölkerung – die die Wahrnehmung dieses Rechts de facto sehr erschwert; die zweite betrifft die Ausübung der Demokratie und die aktive Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft an der Arbeit der Institutionen. |
6.3 |
Der EWSA fordert daher, alles dafür zu tun, um Vertreter der örtlichen Gemeinschaften an der Festlegung, Durchführung und Überwachung der EU-Projekte zu beteiligen, insbesondere an den Projekten in den Bereichen Umweltschutz, sozialer und gesellschaftlicher Dialog, Entwicklung sowie Wahrung der Rechte und der Demokratie. |
6.4 |
Der EWSA dringt darauf, umgehend eine Partnerschaft zwischen der EU und dem Pazifikraum unter Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft zu schaffen, um die Probleme in der Region umfassend und möglichst wirksam anzugehen (10), und die Einsetzung eines Ausschusses eigens für die Überwachung der Programme als grundlegendes Element der Beteiligung vorzusehen. |
7. Empfohlene Maßnahmen laut der Mitteilung – Bemerkungen
7.1 |
Den von der EU empfohlenen Maßnahmen (Abschnitt 5), bei denen die Gefahren des Klimawandels im Pazifikraum im Vordergrund stehen, kann insofern nur bedingt zugestimmt werden, als ein integrierter Ansatz für die nachhaltige Entwicklung der Region fehlt. |
7.2 |
Es muss ein verbesserter koordinierter Ansatz zwischen dem EAD und den verschiedenen GD der Kommission gefördert und angestrebt werden, um durch die Festlegung kohärenter Programme und Strategien die verfügbaren Mitteln dem Schutz der Umwelt und der Fischerei, aber auch integrierten Programmen für eine nachhaltige Entwicklung und die Entwicklung des ländlichen Raums zukommen zu lassen. |
7.3 |
Der EWSA teilt die Auffassung, dass der Dialog mit den örtlichen Institutionen gestärkt werden muss. Dabei ist aber eine systematischere Beteiligung der Zivilgesellschaft sicherzustellen, indem ein ständiges Forum für die Bewertung der Hilfen und ihrer Wirkung geschaffen wird. |
7.4 |
Der EWSA hält kontinuierliche Treffen zwischen sämtlichen Geldgebern und den Empfängerländern für notwendig, um die von der Kommission hervorgehobene Koordinierung der Programme zu gewährleisten. Von entscheidender Bedeutung ist auch künftig die Zweckbestimmung der Hilfen und die Bewertung ihrer Wirksamkeit. Wichtig ist in diesem Zusammenhang – neben präventiven Informations- und Bildungsmaßnahmen – die Überwachung durch einen gemischten Ausschuss, in dem die Sozialpartner und die zivilgesellschaftlichen Akteure vertreten sind. |
7.5 |
Die Einhaltung der Grundrechte, die inakzeptable Situation der Frauen in der Region, die begrenzten Beschäftigungsmöglichkeiten für junge Menschen, die Rolle der Zivilgesellschaft in sämtlichen Ländern sowie insbesondere die spezielle Situation in Fidschi müssen wie bereits erwähnt strikter bewertet werden. |
Brüssel, den 17. Januar 2013
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) Die Cookinseln (kein Stimmrecht bei den Vereinten Nationen), die Föderierten Staaten von Mikronesien, Fidschi, Kiribati, Marshallinseln, Nauru, Niue (kein Stimmrecht bei den Vereinten Nationen), Palau, Papua-Neuguinea, Samoa, die Salomonen, Timor-Leste, Tonga, Tuvalu und Vanuatu.
(2) Französisch-Polynesien, Neukaledonien, die Pitcairninseln und Wallis und Futuna.
(3) Mitteilung der Kommission „Für eine EU-Entwicklungspolitik mit größerer Wirkung: Agenda für den Wandel“, COM(2011) 637 vom 13.10.2011.
(4) Die Hilfen in den Bereichen Entwicklung und Klimawandel, die die Staaten und ÜLG des Pazifikraums für den Zeitraum 2008-2013 erhalten, belaufen sich auf etwa 785 Mio. EUR, von denen 730 Mio. EUR aus dem 10. Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) und 56 Mio. EUR aus dem EU-Haushalt stammen. Ohne die nationalen Programme mitzurechnen, umfasst die regionale Zusammenarbeit EU-Pazifik im Zeitraum 2008-2013 Finanzmittel in Höhe von zunächst 95 Mio. EUR, zusätzlich zu den Mitteln aus dem thematischen Programm des Instruments für die Entwicklungszusammenarbeit. Das Regionalprogramm EU-Pazifikraum zielt ab auf die Stärkung der Kapazitäten für die wirtschaftliche und handelspolitische Integration der Region (45 Mio. EUR), die Unterstützung der Zivilgesellschaft und die Verbesserung der Verwaltung der öffentlichen Finanzen (10 Mio. EUR) sowie die Förderung einer nachhaltigen Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen (40 Mio. EUR). Die Kommission hat außerdem den unmittelbar bevorstehenden Start der Investitionsfazilität für den Pazifikraum („Pacific Investment Facility“) angekündigt, um die Investitionen in die bedeutendsten Infrastrukturen zu steigern, damit die Region auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger wird, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, die Armut zu verringern sowie Instrumente für die Ökologisierung und die Anpassung an den Klimawandel zu finanzieren.
(5) Siehe NAT/459, Die Situation der tropischen Thunfischflotte der Europäischen Union und künftige Herausforderungen, Berichterstatter: Gabriel SARRÓ IPARRAGUIRRE, ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 21–26.
(6) IWF: Regional Economic Outlook, Asia and the Pacific, Navigating an Uncertain Global Environment while building inclusive Growth (Oktober 2011).
(7) In Samoa finden nur 500 von 4 000 jungen Arbeitssuchenden einen Arbeitsplatz, in Vanuatu beträgt das Verhältnis 700 zu 3 500, in Fidschi liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 46 %; siehe auch UNICEF: Investing in Youth Policy, UN Asia-Pacific Interagency Group on Youth (2011).
(8) Pressemitteilung des Gewerkschaftskongresses von Fidschi vom 19.9.2012 sowie daraufhin in Vorbereitung befindliche Dokumente der ILO.
(9) Siehe Schreiben des Rates.
(10) Siehe Stellungnahme des EWSA „Die Rolle der Zivilgesellschaft bei dem Mehrseitigen Handelsabkommen zwischen der EU, Kolumbien und Peru“, ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 39-44.