ISSN 1977-088X

doi:10.3000/1977088X.C_2012.143.deu

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 143

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

55. Jahrgang
22. Mai 2012


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

ENTSCHLIESSUNGEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

478. Plenartagung am 22. und 23. Februar 2012

2012/C 143/01

Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in der Europäischen Union, verabschiedet auf der 478. Plenartagung

1

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

478. Plenartagung am 22. und 23. Februar 2012

2012/C 143/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Wege zur Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Finanzmarktregulierung (Initiativstellungnahme)

3

2012/C 143/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Wachstum und Staatsverschuldung in der EU: zwei innovative Vorschläge (Initiativstellungnahme)

10

2012/C 143/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Entwicklung eines bürgerorientierten und bürgernahen Ansatzes in der Binnenmarktpolitik (Initiativstellungnahme)

17

2012/C 143/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Soziale Auswirkungen der neuen Vorschriften für die wirtschaftspolitische Steuerung (Initiativstellungnahme)

23

2012/C 143/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Sozialwirtschaft in Lateinamerika (Initiativstellungnahme)

29

2012/C 143/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Landwirtschaft und Handwerk — gemeinsam erfolgreich für den ländlichen Raum (Initiativstellungnahme)

35

2012/C 143/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Standpunkt des EWSA zur Vorbereitung der UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung (Rio+20)(ergänzende Stellungnahme)

39

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

478. Plenartagung am 22. und 23. Februar 2012

2012/C 143/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (2014-2020)COM(2011) 608 final — 2011/0269 (COD)

42

2012/C 143/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten (Neufassung)COM(2011) 714 final — 2011/0314 (CNS)

46

2012/C 143/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Aktionsprogramms für Zoll und Steuern in der Europäischen Union für den Zeitraum 2014-2020 (FISCUS) und zur Aufhebung der Entscheidungen Nr. 1482/2007/EG und Nr. 624/2007/EGCOM(2011) 706 final — 2011/0341 (COD)

48

2012/C 143/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Jahreswachstumsbericht 2012COM(2011) 815 final

51

2012/C 143/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch über den Online-Vertrieb von audiovisuellen Werken in der Europäischen Union: Chancen und Herausforderungen für den digitalen BinnenmarktCOM(2011) 427 final

69

2012/C 143/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Finanzinstrumente und zur Änderung der Verordnung (EMIR) über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und TransaktionsregisterCOM(2011) 652 final — 2011/0296 (COD)

74

2012/C 143/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2004/109/EG zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, sowie der Richtlinie 2007/14/EG der KommissionCOM(2011) 683 final — 2011/0307 (COD)

78

2012/C 143/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Sozialfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1081/2006COM(2011) 607 final — 2011/0268 (COD)

82

2012/C 143/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Programm der Europäischen Union für sozialen Wandel und soziale InnovationCOM(2011) 609 final — 2011/0270 (COD)

88

2012/C 143/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der MitgliedstaatenCOM(2011) 813 final — 2011/0390 (CNS)

94

2012/C 143/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Programm Gesundheit für Wachstum, das dritte mehrjährige EU-Aktionsprogramm im Bereich der Gesundheit, für den Zeitraum 2014-2020COM(2011) 709 final — 2011/0339 (COD)

102

2012/C 143/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Sicherheit von Offshore-Aktivitäten zur Prospektion, Exploration und Förderung von Erdöl und ErdgasCOM(2011) 688 final — 2011/0309 (COD)

107

2012/C 143/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines Gemeinschaftssystems zur Registrierung von Beförderern radioaktiven MaterialsCOM(2011) 518 final

110

2012/C 143/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung grundlegender Sicherheitsnormen für den Schutz vor den Gefahren einer Exposition gegenüber ionisierender StrahlungCOM(2011) 593 final — 2011/0254 (NLE)

113

2012/C 143/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung der Fazilität Connecting Europe COM(2011) 665 final — 2011/0302 (COD)

116

2012/C 143/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Leitlinien für transeuropäische Telekommunikationsnetze und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 1336/97/EGCOM(2011) 657 final — 2011/0299 (COD)

120

2012/C 143/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 1364/2006/EGCOM(2011) 658 final — 2011/0300 (COD)

125

2012/C 143/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen VerkehrsnetzesCOM(2011) 650 final — 2011/0294 (COD)

130

2012/C 143/27

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung des Beschlusses Nr. 1639/2006/EG zur Einrichtung eines Rahmenprogramms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (2007-2013) sowie der Verordnung (EG) Nr. 680/2007 über die Grundregeln für die Gewährung von Gemeinschaftszuschüssen für transeuropäische Verkehrs- und EnergienetzeCOM(2011) 659 final — 2011/0301 (COD)

134

2012/C 143/28

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Führerschein in Bezug auf die Integration der Funktionen einer FahrerkarteCOM(2011) 710 final — 2011/0327 (COD)

139

2012/C 143/29

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Rolle der Zivilgesellschaft in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Chile

141

2012/C 143/30

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Geänderten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 in Bezug auf die Information der breiten Öffentlichkeit über verschreibungspflichtige Humanarzneimittel und hinsichtlich der PharmakovigilanzCOM(2011) 632 final — 2008/0255 (COD)

146

2012/C 143/31

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG in Bezug auf die Information der breiten Öffentlichkeit über verschreibungspflichtige Arzneimittel und hinsichtlich der PharmakovigilanzCOM(2011) 633 final — 2008/0256 (COD)

147

2012/C 143/32

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2004/40/EG über Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen (elektromagnetische Felder) (18. Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG)COM(2012) 15 final — 2012/0003 (COD)

148

2012/C 143/33

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1217/2009 des Rates zur Bildung eines Informationsnetzes landwirtschaftlicher Buchführungen über die Einkommenslage und die betriebswirtschaftlichen Verhältnisse landwirtschaftlicher Betriebe in der Europäischen GemeinschaftCOM(2011) 855 final — 2011/0416 (COD)

149

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

ENTSCHLIESSUNGEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

478. Plenartagung am 22. und 23. Februar 2012

22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/1


Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in der Europäischen Union, verabschiedet auf der 478. Plenartagung

2012/C 143/01

Auf seiner Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) verabschiedete der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss mit 157 gegen 30 Stimmen bei 12 Enthaltungen die vorliegende Entschließung.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) brachte seine tiefe Besorgnis über die Lage der Union zum Ausdruck, richtete an die Organe und Einrichtungen der EU und an die Regierungen der Mitgliedstaaten den dringenden Aufruf, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln den absoluten und unverbrüchlichen Wert der europäischen Einheit zu bekräftigen, und verabschiedete folgende Entschließung:

1.

Der EWSA

bedauert die Unentschlossenheit und die Unstimmigkeiten unter den EU-Mitgliedstaaten, zumal zu einer Zeit, in der das Handeln Europas von Entschlossenheit, Einigkeit und Solidarität geprägt sein müsste;

begrüßt indes das am 20. Februar erzielte Übereinkommen der Eurogruppe über das zweite Hilfspaket für Griechenland, bedauert dabei aber die Verzögerungen und Verschleppungen bei der Suche nach einer endgültigen Lösung,

ist dabei besorgt über die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Hilfspakets und fordert den Europäischen Rat auf, Maßnahmen zur Wiederbelebung der Konjunktur insbesondere in den von der Krise am meisten betroffenen Staaten zu fördern;

erinnert an die Notwendigkeit, vor allem durch eine vollwertige europäische Industriepolitik in die Realwirtschaft zu investieren, um nicht noch tiefer in den Strudel der aktuellen Rezession gezogen zu werden;

begrüßt die an den Rat und die Kommission gerichtete Initiative der zwölf Regierungen.

2.

Der EWSA stellt fest, dass die Bürger mehr und mehr die Organe und Einrichtungen der Europäischen Union und damit die Union selbst infrage stellen und dabei die Nöte, die sie ertragen müssen, eben dieser Union zuschreiben.

3.

Der EWSA kann die lediglich auf die Haushalts- und Steuerdisziplin abzielenden Bestimmungen nicht befürworten und vertritt die Ansicht, dass die wirtschaftspolitische Steuerung in der Eurozone und in der EU insgesamt weiter ausgebaut werden muss und ehrgeizigeren Zielen verpflichtet sein sollte.

4.

Der EWSA unterstreicht die zentrale Rolle, die der Europäischen Kommission als Sprachrohr für das Allgemeininteresse Europas zukommt, insbesondere bei der Umsetzung von Maßnahmen im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik einschließlich der im neuen zwischenstaatlichen Vertrag vorgesehenen Maßnahmen.

5.

Der EWSA bekräftigt in diesem Zusammenhang, dass neue Impulse für die Europa-2020-Strategie erforderlich sind, insbesondere Maßnahmen für die Jugend, zur Förderung von Forschung und Innovation sowie zum Ausbau der grünen Wirtschaft. Der EWSA beglückwünscht Präsident Barroso zu den am 30. Januar 2012 auf dem Europäischen Rat angekündigten neuen Initiativen zur Verbesserung des Zugangs junger Menschen zum Arbeitsmarkt und fordert ihn auf, unverzüglich konkrete Initiativen in diesem Bereich zu ergreifen. Der EWSA befürwortet im Übrigen die Maßnahmen zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen in strikter Übereinstimmung mit dem geltenden Gemeinschaftsrecht.

6.

Der EWSA betont, dass während der Verhandlungen über die künftige finanzielle Vorausschau für die Jahre 2014-2020 gewährleistet werden sollte, dass die EU auch in Zukunft über einen mit angemessenen Finanzmitteln ausgestatteten und wachsenden Haushalt verfügt. In diesem Zusammenhang unterstützt der EWSA den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Erschließung neuer Eigenmittel zur Finanzierung des EU-Haushalts sowie den Rückgriff auf unterschiedliche Formen von öffentlichen und/oder privaten Investitionen. Der EWSA wird seinerseits einen Bericht über die Kosten der Nichtverwirklichung Europas erarbeiten, in dem die zu erwartenden Vorteile einer verstärkten europäischen Integration hervorgehoben werden sollen. Bezüglich der Kriterien und der Schwellenwerte für eine Förderung aus EU-Mitteln darf es nach Ansicht des EWSA keine Diskriminierung der seit 2004 der EU beigetretenen Länder geben.

7.

Der EWSA befürwortet eine stärkere Rolle der Europäischen Zentralbank zur Stabilisierung der Lage in der Eurozone sowie die finanzierungstechnischen Bestimmungen zur Aufnahme von Kapital bei Privatpersonen und auf den Märkten (Euroanleihen) mit dem Ziel, wichtige zukunftsweisende Projekte sowie Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft zu finanzieren.

8.

Der EWSA ruft demnach die EU-Institutionen und die nationalen Behörden auf,

eine wie auch immer geartete Aushöhlung der bestehenden Verträge oder der in ihnen verankerten Institutionen zu vermeiden;

gemeinschaftliche Maßnahmen einzuleiten mit dem Ziel, das Wachstum zu fördern, den Ausbau der Infrastrukturen voranzutreiben und die Bemühungen der kleinen und mittleren Unternehmen zu stützen sowie weiters den Zugang junger Menschen zum Arbeitsmarkt zu verbessern und die politischen Bemühungen um ein energieeffizientes und sauberes Europa zu unterstützen;

einen ehrgeizigen Haushaltsplan aufzustellen, um diese Maßnahmen durchführen zu können und den Zusammenhalt in Europa zu stärken;

sowohl gegenüber den Unionsbürgern als auch gegenüber der übrigen Welt mit einer Stimme zu sprechen;

den jungen Menschen in Europa eine positive Botschaft zu übermitteln und ihnen deutlich zu machen, dass die Europäische Union ein Lösungsweg aus der gegenwärtigen Krise ist und ihnen Perspektiven für die Zukunft bietet;

die auf allen Ebenen getroffenen Entscheidungen auf eine echte Beteiligung der Bürger zu gründen, und zwar durch Verfahren zur Einbindung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, zur Anhörung der zivilgesellschaftlichen Organisationen und zur Anerkennung des Beitrags eines unabhängigen sozialen Dialogs.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

478. Plenartagung am 22. und 23. Februar 2012

22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/3


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Wege zur Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Finanzmarktregulierung“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 143/02

Berichterstatter: Peter MORGAN

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 20. Januar 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

"Wege zur Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Finanzmarktregulierung".

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 2. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 66 gegen 53 Stimmen bei 41 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Eine Ursache für die Finanzkrise waren die unzureichende und mangelhafte Regulierung und Beaufsichtigung der Finanzmärkte. Eine der Schwierigkeiten bei der Finanzmarktregulierung besteht darin, eine ausgewogene Beteiligung unterschiedlicher und gegensätzlicher Positionen zu ermöglichen. Zu der legitimen Vertretung der Interessen des Finanzsektors besteht kein substanzielles Gegengewicht durch die Beteiligung der Zivilgesellschaft. Die politischen Auseinandersetzungen spielen sich in erster Linie zwischen dem Gesetzgeber auf der einen und dem betroffenen Finanzsektor auf der anderen Seite ab.

1.2   Gerade bei der Finanzmarktregulierung ist der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) dafür prädestiniert, Defizite bei der Beteiligung der Zivilgesellschaft auszugleichen. Denn im EWSA sind Verbände der Finanzwirtschaft auf der einen sowie Verbraucherschutzorganisationen und Gewerkschaften auf der anderen Seite vertreten. Dabei will und kann der EWSA die unmittelbare Beteiligung der Verbände der Zivilgesellschaft nicht ersetzen. Der zivile Dialog ist ein demokratischer und öffentlicher Meinungsbildungsprozess, an dem sich alle relevanten Akteure in effektiver Form beteiligen sollen.

1.3   Dabei steht für den EWSA außer Frage, dass die Beteiligung des Finanzsektors selbst an der Meinungsbildung legitim ist. Die Finanzunternehmen sind die Betroffenen der Regulierung, müssen die Auflagen erfüllen und die gesetzlichen Verpflichtungen umsetzen. Der EWSA erkennt auch an, dass es innerhalb des Finanzsektors zumeist Branchen und Unternehmen gibt, die seriös und integer handeln und keine Ursache für die Finanzkrise dargestellt haben.

1.4   Angesichts der Komplexität der Detailregulierung ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Verbände nicht nur grundsätzliche Ziele benennen und allgemeine Verschärfungen fordern, sondern kompetente und zielführende Vorschläge und Argumente einbringen. Um dieses zu erreichen, müssen erhebliche Anstrengungen unternommen werden, damit die Verbände auf "gleicher Augenhöhe" mit dem Gesetzgeber und anderen Verbänden diskutieren können.

1.5   Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, der Rat und die Mitgliedstaaten müssen selbst Initiativen ergreifen, um breitere Teile der Zivilgesellschaft an der Finanzmarktregulierung zu beteiligen.

1.6   Die Europäische Zentralbank, der Europäische Rat für systemische Risiken und die neugeschaffenen europäischen Finanzaufsichtsbehörden sollten die Organisationen der Zivilgesellschaft angemessene in ihre Arbeit einbeziehen. Die Arbeitsweise der gesetzlich vorgesehenen Stakeholder-Gruppen bei den Finanzaufsichtsbehörden sollte auf die Besonderheiten der Organisationen der Zivilgesellschaft Rücksicht nehmen.

1.7   Eine finanzielle Förderung von Organisationen der Zivilgesellschaft aus EU-Mitteln kann in bestimmten Fällen angemessen sein, um Defizite bei der Repräsentation wichtiger Interessen auszugleichen. Dabei sind allerdings eine umfassende Transparenz der finanziellen Beiträge, Garantien für die Unabhängigkeit der Organisationen und Vorkehrungen gegen eine Bevorzugung gegenüber nicht geförderten Vereinigungen in den Beziehungen zur Kommission sicherzustellen.

1.8   Neben Verbraucherorganisationen und Gewerkschaften gibt es eine Reihe von anderen Gruppen, die substanzielle Beiträge zur Finanzmarktdiskussion leisten können, etwa Wohlfahrtsorganisationen, kleine und mittlere Unternehmen, Organisationen institutioneller Anleger, Industrie- und Dienstleistungsunternehmen mit größeren Finanzoperationen und deren Verbände, Finanzvermittler und selbst Ratingagenturen. Wegen der Wettbewerbssituation auf den Märkten können auch Vertreter anderer Branchen als der von der Regulierung gerade betroffenen nützliche Beiträge leisten.

1.9   Nicht alle Themen eignen sich gleichermaßen für Äußerungen von Verbänden der Zivilgesellschaft. Während Fragen des Verbraucherschutzes, der Verwendung von Steuergeldern für die Rettung von Finanzinstituten oder der Besteuerung des Finanzsektors sich besonders anbieten, sind technische Detailprobleme wie z.B. bei der Solvenzberechnung oder der Rechnungslegung weniger attraktiv.

1.10   Es reicht nicht aus, nur pauschale und undifferenzierte Forderungen nach verschärften Regeln zu erheben. Das hilft dem Gesetzgeber nicht weiter. Es müssen nicht nur möglichst konkrete Vorschläge gemacht, sondern es sollte auch eine eigene Abwägung der Vor- und Nachteile von strengeren Anforderungen vorgenommen werden.

1.11   Der EWSA ermutigt die europäischen und nationalen Verbände der Zivilgesellschaft, sich intensiver als in der Vergangenheit mit der Finanzmarktregulierung zu befassen. Für eine Reihe solcher Verbände bietet es sich an, die Förderung der Finanzmarktstabilität als ein eigenständiges und gegebenenfalls neues Ziel der Organisation zu definieren und ihren Interessens- und Aktivitätsbereich entsprechend zu erweitern.

1.12   Aus der Sicht des EWSA wäre es wünschenswert, wenn die Verbände ihre Beteiligung an der Finanzmarktregulierung für eine breite und positive Kommunikation von erfolgreichen Aktivitäten der EU in diesem Bereich in ihren Verbänden und gegenüber der Öffentlichkeit nutzen würden.

1.13   Die europäische Finanzindustrie gehört trotz des nachgewiesenen Fehlverhaltens im Einzelnen auch zu den nachteilig Betroffenen der Krise. Sie wird deshalb aufgefordert, ihren Beitrag zu einer effektiven Finanzmarktregulierung zu leisten. Die einzelnen Branchen sollten sich keine falsche Zurückhaltung auferlegen, wenn es um die Kommentierung der Regulierung anderer Branchen im Interesse der Finanzmarktstabilität geht.

1.14   Die Finanzindustrie sollte sich auch selbst dem Dialog mit Organisationen der Zivilgesellschaft öffnen. Für die Unternehmen dürfte es angesichts der hohen öffentlichen Aufmerksamkeit für den Finanzsektor im Zuge der Finanzkrise vorteilhaft sein, mit der Zivilgesellschaft ins Gespräch zu kommen, Argumente auszutauschen und Anregungen aufzunehmen.

1.15   Bei der europäischen Meinungsbildung spielen naturgemäß die Medien eine herausragende Rolle. Auch dort wäre es wünschenswert, die Position der Organisationen der Zivilgesellschaft in stärkerem Maße wiederzugeben.

1.16   Der EWSA wird sich weiter intensiv mit den Vorschlägen für die Finanzmarktregulierung befassen, sie breit diskutieren und substanzielle Stellungnahmen abgeben, wobei besonderer Wert auf die Einbeziehung der Position der Vertreter der Zivilgesellschaft im Ausschuss gelegt wird. Bei den Beratungen wird er die Verbände der Zivilgesellschaft durch Anhörungen in den Fach- und Studiengruppen stärker und direkter in seinen Meinungsbildungsprozess einbeziehen.

1.17   Der EWSA wird bei der Gestaltung seiner Arbeitsplanung, den Plenartagungen, den Sitzungen der Fachgruppen und der Studiengruppe dafür Sorge tragen, dass ausreichender Raum für eine intensive Debatte der Finanzmarktregulierung gegeben wird. Er wird in der Verwaltung seiner finanziellen und personellen Ressourcen sicherstellen, dass eine qualifizierte fachliche Beratung der Mitglieder in Fragen der Finanzmarktregulierung zur Verfügung steht.

2.   Ziel der Stellungnahme und Hintergrund

2.1   Die Krise der Finanzmärkte (1) seit dem Jahr 2008 hatte gravierende negative Folgen für die Bürgerinnen und Bürger weltweit und insbesondere in der Europäischen Union, mit denen sich der EWSA mehrfach und intensiv auseinandergesetzt hat. Eine Ursache für den Zusammenbruch der Märkte, die vorausgegangene Spekulation sowie den Handel mit hochriskanten Finanzprodukten war die unzureichende und mangelhafte Regulierung und Beaufsichtigung der Finanzmärkte.

2.2   Eine der Schwierigkeiten bei dem Erlass von Regeln für diesen Bereich bestand in der Vergangenheit und besteht auch heute noch darin, in dem pluralistischen und demokratischen Meinungsbildungsprozess eine ausgewogene Beteiligung unterschiedlicher und gegensätzlicher Positionen zu ermöglichen. Zu der legitimen Vertretung der Interessen des Finanzsektors besteht heute kein substanzielles Gegengewicht durch Organisationen der Zivilgesellschaft. Im Zuge der neuen Regulierung der Finanzmärkte sollte diese Asymmetrie beseitigt werden.

2.3   Der EWSA als europäische Institution der Zivilgesellschaft sieht es neben der Abgabe von eigenen Stellungnahmen auch als seine Aufgabe an, eine breite und umfassende Einbeziehung aller Beteiligten und Betroffenen in den europäischen Gesetzgebungsprozess zu fördern. Deshalb sieht es der EWSA mit Sorge, wenn es in einzelnen Politikbereichen regelmäßig nicht gelingt, eine ausgewogene Debatte zu organisieren.

2.4   Ziel dieser Initiativstellungnahme ist es deshalb, die Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Finanzmarktregulierung zu analysieren und Empfehlungen für eine bessere Einbeziehung zu geben.

3.   Defizite und Hindernisse bei der Beteiligung der Zivilgesellschaft

3.1   Die Finanzmarktregulierung ist bislang in erster Linie von den betroffenen Kreisen aus dem Finanzsektor begleitet worden. Diesen Eindruck hat die vom EWSA veranstaltete Anhörung am 28. November 2011 eindrucksvoll bestätigt. Das lag nicht an einer mangelnden Offenheit der EU-Institutionen. Die Materie hat bei Organisationen, die nicht zur Finanzindustrie gehören, bislang nur geringes Interesse geweckt. Dies lässt sich etwa an der geringen Beteiligung bei Konsultationen der EU-Kommission, bei Anhörungen des Europäischen Parlaments oder an der öffentlichen Diskussion ablesen.

3.2   Die politischen Auseinandersetzungen um Richtlinien oder Verordnungen im Finanzsektor spielen sich auch heute noch in erster Linie zwischen dem Gesetzgeber auf der einen und dem betroffenen Finanzsektor auf der anderen Seite ab. Demgegenüber gehört in anderen Themenbereichen der politische Streit auch zwischen Organisationen der Zivilgesellschaft gerade in Brüssel zum Kern der pluralistischen Auseinandersetzung, etwa zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften in der Sozialpolitik, zwischen Industrie und Umweltverbänden in der Umweltpolitik oder zwischen Handel und Verbraucherverbänden in der Verbraucherpolitik.

3.3   Aus der Sicht des EWSA sind für die Defizite in der Finanzmarktregulierung eine Reihe von Gründen ursächlich:

3.3.1   Ziel der Finanzmarktregulierung ist es, die Sicherheit und die Stabilität der Finanzmärkte, und damit ein wenig konkretes und greifbares öffentliches Gut zu wahren, das zudem über lange Zeit hinweg gar nicht bedroht zu sein schien. Handfeste Interessen der Bürger, die durchzusetzen gewesen wären, waren nicht ohne Weiteres erkennbar. So bestand für Kreise außerhalb der Finanzmärkte wenig Anreiz, Anlass und Motivation, sich mit diesen Fragen zu befassen.

3.3.2   Die Finanzmärkte sind hochkomplex und für Nicht-Fachleute nicht ohne Weiteres zu verstehen. Die verschiedenen Akteure, die komplizierten Produkte und die vielschichtigen Wirkungszusammenhänge machen es Organisationen außerhalb des Sektors schwer, sich an den Debatten mit der erforderlichen Sachkunde zu beteiligen.

3.3.3   Die unmittelbaren und vor allem die mittelbaren Folgen einer Regulierung für die Interessen der Mitglieder einer Organisation der Zivilgesellschaft sind oft schwer zu erkennen, insbesondere wenn es nicht um Richtlinien und Verordnungen, sondern um komplizierte Durchführungsbestimmungen und technische Standards geht.

3.3.4   Der Regulierungsprozess im Finanzmarktbereich ist verhältnismäßig schwer zu durchschauen. Durch das frühere Lamfalussy-Verfahren und das jetzige System von delegierten Rechtsakten, Durchführungsrechtsakten und bindenden technischen Standards mit zahlreichen Verfahrensschritten und vielen, jeweils unterschiedlich beteiligten Institutionen und Behörden ist es oftmals schwierig, zielgerichtete Stellungnahmen zum richtigen Zeitpunkt abzugeben. Darüber hinaus werden Regelungsinhalte immer mehr durch globale Institutionen wie die G 20, den Baseler Ausschuss oder das IASB (International Accounting Standard Board) vorgegeben, deren Arbeit wenig transparent ist.

3.3.5   Angesichts der Vielzahl der Regulierungsvorhaben, der Geschwindigkeit der Gesetzgebungsprozesse und der großen Zahl der Stakeholder ist auch die Kapazität der Entscheidungsträger in den Institutionen, Gespräche zu führen, Positionspapiere durchzuarbeiten oder an Konferenzen teilzunehmen an die Grenze ihrer Belastbarkeit gestoßen.

3.3.6   Die starke weltweite Integration der Finanzmärkte, die globale Beweglichkeit des Kapitals und die hohe Sensibilität des Handelsgeschehens bildeten bislang stets schwerlich zu widerlegende Argumente gegen Eingriffe in das Marktgeschehen in Europa. Der Wettbewerb um das flüchtige Kapital für Investitionen zur Förderung des Wachstums und zur Schaffung von Arbeitsplätzen ließ eine Strategie der "Light-touch-Regulierung" als sinnvoll erscheinen, die über geraume Zeit auszureichen schien.

3.4   Diese Schwierigkeiten sind auch die Ursache für die Gründung der Initiative "Finance Watch", in der sich verschiedene europäische und nationale Verbände auf Initiative von Europaabgeordneten zusammengeschlossen haben, um die Gesetzgebung im Bereich des Finanzsektors kritisch zu begleiten.

3.5   Auch in den Mitgliedstaaten scheint eine ähnliche Problematik zu bestehen. Es ist nicht erkennbar, dass dort Kräfte der Zivilgesellschaft erheblichen Einfluss auf die Finanzmarktregulierung gewonnen hätten.

3.6   Die Berücksichtigung der Interessen von kleineren und mittleren Unternehmen des Finanzsektors scheint ebenso wie die Beteiligung der Zivilgesellschaft auf Schwierigkeiten zu stoßen. Viele Finanzinstitute geringerer Größe beklagen sich über den hohen Verwaltungsaufwand und die Komplexität der Regeln, die für sie nur schwer umsetzbar sind.

4.   Grundsätzliche Bemerkungen

4.1   Die partizipative Demokratie ist ein fester Bestandteil des europäischen Gesellschaftsmodells und der europäischen Governance. Repräsentative und partizipative Demokratie sind im Vertrag von Lissabon festgeschrieben. Allerdings ist dort nur die Verpflichtung festgelegt, "den Bürgern/-innen und den repräsentativen Verbänden" die Möglichkeit zu geben ihre Ansichten einzubringen (Artikel 11 EUV). Es liegt also an den europäischen Organen selbst, Initiativen zu ergreifen, wenn Vorhaben keine oder eine nur unausgewogene Resonanz in der Zivilgesellschaft hervorrufen.

4.2   Dabei ist es selbstverständlich, dass die demokratisch legitimierten Institutionen die Entscheidungen fällen und der zivile Dialog dafür nur einen vorbereitenden und begleitenden Charakter hat.

4.3   Der EWSA ist der vorrangige Ort der Vertretung, des Meinungsaustausches und der Meinungsäußerung der organisierten Zivilgesellschaft und stellt eine unverzichtbare Brücke zwischen Europa und seinen Bürgern dar. Diese Rolle übernimmt der EWSA insbesondere bei der Gesetzgebung.

4.4   Gerade bei der Finanzmarktregulierung ist der EWSA dafür prädestiniert, eine herausgehobene Rolle zu spielen und Defizite bei der Beteiligung der Zivilgesellschaft auszugleichen. Denn im EWSA sind Verbände der Finanzwirtschaft auf der einen sowie Verbraucherschutzorganisationen und Gewerkschaften auf der anderen Seite vertreten. Durch die Verpflichtung des EWSA, Stellungnahmen zu Vorschlägen der Kommission abzugeben, befassen sich die Mitglieder automatisch mit den Gesetzestexten und bedürfen keiner weiteren Aufforderung oder Motivation.

4.5   So hat der EWSA seit Beginn der Finanzkrise vielfach die Stimme der Organisationen der Zivilgesellschaft zum Ausdruck gebracht und seit Mitte 2008 etwa 30 Stellungnahmen zur Finanzkrise im Allgemeinen und zu Gesetzesinitiativen im Besonderen abgegeben.

4.6   Angesichts der Defizite der sonstigen Beteiligung der Zivilgesellschaft sind die europäischen Institutionen in diesem Bereich umso mehr eingeladen, den Stellungnahmen des EWSA ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

4.7   Dabei will und kann der EWSA die unmittelbare Beteiligung der Verbände der Zivilgesellschaft nicht ersetzen. Der zivile Dialog ist ein demokratischer und öffentlicher Meinungsbildungsprozess, an dem sich möglichst viele Akteure in unterschiedlichen Formen beteiligen sollen.

4.8   Dabei steht für den EWSA außer Frage, dass die Beteiligung des Finanzsektors an der Meinungsbildung ebenso legitim ist wie die anderer Organisationen. Die Finanzunternehmen selbst sind die Betroffenen der Regulierung, müssen die Auflagen erfüllen und die gesetzlichen Verpflichtungen umsetzen. Die Beteiligung der Verbände der Finanzwirtschaft ist auch deshalb erforderlich, weil die Branche natürlich selbst das allergrößte Interesse an Finanzstabilität hat. Auch ist die Expertise der Branche erforderlich, um belastbare Folgenabschätzungen vorzunehmen.

4.9   Der EWSA erkennt auch an, dass es innerhalb des Finanzsektors zumeist Branchen und Unternehmen gibt, die seriös und integer handeln und keine Ursache für die Finanzkrise gesetzt haben. Eine pauschale Negativbewertung des Finanzsektors, wie sie bisweilen zu hören ist, ist nach Auffassung des EWSA nicht gerechtfertigt. Es gibt dort überwiegend Unternehmen, die von den Übertreibungen der Finanzmärkte nicht profitiert haben, sondern durch die Krise und deren Auswirkungen selbst negativ betroffen sind. Die Zahl der Kunden von Finanzinstituten, die Verluste erlitten haben, ist – auch wegen der staatlichen Hilfen – begrenzt geblieben.

4.10   Dennoch sind die Hauptleidtragenden der Finanz- und Wirtschaftskrise die einzelnen Bürger als Steuerzahler, Arbeitnehmer und Verbraucher. Sie sind in ihren Organisationen der Zivilgesellschaft aufgefordert, sich stärker in die Erarbeitung neuer Regeln für den Finanzsektor einzubringen, um sicherzustellen, dass sich eine Krise dieses Ausmaßes nicht wiederholt.

4.11   Angesichts der Komplexität der Detailregulierung ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Verbände nicht nur grundsätzliche Ziele benennen und allgemeine Verschärfungen fordern, sondern kompetente und zielführende Vorschläge und Argumente einbringen. Um dieses zu erreichen, müssen erhebliche Anstrengungen unternommen werden, damit die Verbände auf "gleicher Augenhöhe" mit dem Gesetzgeber und anderen Verbänden diskutieren können.

5.   Empfehlungen im Einzelnen

5.1   Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, der Rat und die Mitgliedstaaten müssen selbst Initiativen ergreifen, um breitere Teile der Zivilgesellschaft an der Finanzmarktregulierung zu beteiligen.

5.1.1   Von entscheidender Bedeutung ist es, dass die direkten und unmittelbaren Folgen von Regulierungsvorhaben für die Zivilgesellschaft in den Vorschlägen einfach, offen und präzise dargestellt werden, damit die Betroffenheit der Bürger für die Verbände besser erkennbar wird.

5.1.2   Wenn sich zeigt, wie in der Vergangenheit oftmals geschehen, dass bei Konsultationen zu Finanzmarktthemen nur wenige Antworten aus dem Bereich der Zivilgesellschaft gekommen sind, sollten einzelne Organisationen gezielt auf eine Beteiligung angesprochen werden. Notfalls sind die Konsultationsfristen zu verlängern, wie das bei der Initiative der Kommission für "intelligente Rechtsetzung" bereits vorgesehen ist. Bei den Konsultationen sollte nicht nur auf technische Aspekte abgehoben, sondern gezielt nach Einschätzungen der Zivilgesellschaft gefragt werden. Der spezifische Empfängerhorizont von Organisationen der Zivilgesellschaft sollte berücksichtigt werden.

5.1.3   Bei öffentlichen Anhörungen der EU-Kommission oder des Europäischen Parlaments sollten entsprechende Organisationen von vornherein einbezogen werden. Die Institutionen sollten trotz der terminlichen Belastungen offen für Gespräche mit den Organisationen der Zivilgesellschaft sein und an deren Veranstaltungen teilnehmen.

5.1.4   Expertengruppen in der Europäischen Kommission und im Europäischen Parlament sollten nicht nur mit Vertretern der Finanzindustrie, sondern auch mit Repräsentanten anderer Gruppen besetzt werden. Dabei muss allerdings darauf geachtet werden, dass Personen nominiert werden, die über die erforderliche Expertise für den fraglichen Themenbereich verfügen. Denn wenn es zu einem Ungleichgewicht von Fachkompetenz kommt, ist letztlich nichts gewonnen.

5.1.5   Eine finanzielle Förderung von Organisationen der Zivilgesellschaft aus EU-Mitteln kann in bestimmten Fällen angemessen sein, um Defizite bei der Repräsentation wichtiger Interessen auszugleichen. Sie widerspricht allerdings dem Wesen der Selbstorganisation und Eigenfinanzierung bürgerschaftlicher Anliegen und kann die Unabhängigkeit der Organisationen beeinträchtigen sowie zu Loyalitätskonflikten auf beiden Seiten führen. Jedenfalls ist eine umfassende Transparenz der finanziellen Beiträge, Garantien für die Unabhängigkeit der Organisationen und Vorkehrungen gegen eine Bevorzugung gegenüber nicht geförderten Vereinigungen in den Beziehungen zur Kommission sicherzustellen.

5.2   Die mit der Finanzmarktregulierung befassten weiteren Einrichtungen der EU wie die Europäische Zentralbank, der Europäische Rat für systemische Risiken, sowie die drei europäischen Finanzaufsichtsbehörden für Banken, Wertpapiere und Versicherungen sollten die Positionen der Organisationen der Zivilgesellschaft in ihre Arbeit einbeziehen.

5.3   Die Arbeitsweise der gesetzlich vorgesehenen Stakeholder-Gruppen bei den Finanzaufsichtsbehörden sollte auf die Perspektive der Organisationen der Zivilgesellschaft Rücksicht nehmen, eine Rückkopplung in die jeweiligen Verbände ermöglichen und so zu einem weiteren Kanal für die Einbeziehung der Zivilgesellschaft ausgebaut werden. Dies ist derzeit nicht durchweg der Fall, insbesondere wegen unter Transparenzgesichtspunkten überzogener Anforderungen an die Vertraulichkeit von Dokumenten und Beratungen.

5.4   Eine vermehrte Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Finanzmarktregulierung lässt sich nicht allein durch abstrakte politische Forderungen erreichen. Erforderlich ist eine konkretere Vorstellung davon, wer sich wann zu welchen Finanzmarktthemen äußern sollte.

5.4.1   Neben Verbraucherorganisationen und Gewerkschaften gibt es eine Reihe von anderen Gruppen, die substanzielle Beiträge zur Finanzmarktdiskussion leisten können, etwa Wohlfahrtsorganisationen, kleine und mittlere Unternehmen, Organisationen institutioneller Anleger, Industrie- und Dienstleistungsunternehmen mit größeren Finanzoperationen und deren Verbände, Finanzvermittler und selbst Ratingagenturen. Auch Vertreter anderer Finanzsektoren als die von der Regulierung gerade betroffene Branche können nützliche Beiträge leisten.

5.4.2   Nicht alle Themen eignen sich gleichermaßen für Äußerungen von Verbänden der Zivilgesellschaft.

5.4.2.1

Während Fragen des Verbraucherschutzes, der Verwendung von Steuergeldern für die Rettung von Finanzinstituten oder der Besteuerung des Finanzsektors sich besonders anbieten, sind technische Detailprobleme wie z.B. bei der Solvenzberechnung oder der Rechnungslegung weniger attraktiv.

5.4.2.2

Doch sollten sich die Organisationen mit den Regelungen nicht nur bei deren Verabschiedung befassen, sondern die gesamte Bandbreite der Regulierung einschließlich der Durchführungsbestimmungen und technischen Standards in den Blick nehmen, auch wenn das insgesamt mühsam erscheinen mag.

5.4.2.3

Allerdings verkennt der EWSA nicht, dass langfristige Stabilität und Nachhaltigkeit der Finanzmärkte aus dem Zusammenspiel einer großen Zahl von sachgerechten Einzelvorschriften entsteht, die jeweils isoliert Gegenstand der Diskussion sind. Wenn sich die Verbände schon nicht mit allen Vorlagen befassen können, muss die Zivilgesellschaft jedenfalls die Themen behandeln, die für den Erfolg der Regulierung insgesamt entscheidend sind. Und das ist nicht allein die Verbrauchergesetzgebung, sondern z.B. das Aufsichtsrecht, die Höhe des Eigenkapitals oder die Corporate Governance.

5.4.2.4

Die Tücke besteht außerdem darin, dass sich hinter vermeintlich hochtechnischen Problemen oft sehr politische und den Bürger unmittelbar angehende Fragen verbergen. So hat etwa die Festlegung des Zinssatzes für die Berechnung von Rückstellungen für private Rentenversicherungen eine erhebliche Auswirkung für die Möglichkeit von Versicherungen, langfristig garantierte Zusagen für die Rentenhöhe zu geben.

5.4.2.5

Nicht ausreichend ist es, wenn nur pauschale und undifferenzierte Forderungen nach verschärften Regeln erhoben werden. Das hilft dem Gesetzgeber nicht weiter. Es müssen nicht nur möglichst konkrete Vorschläge gemacht, sondern es sollte auch eine eigene Abwägung von Vor- und Nachteilen strengerer Anforderungen vorgenommen werden, wobei Gesichtspunkte wie die Belastungen der Unternehmen, vor allem der kleinen und mittleren Finanzinstitute, der Zugang zu Krediten für Privatpersonen und für Unternehmen und die Funktionsfähigkeit der Märkte einbezogen werden müssen.

5.4.3   Die Zivilgesellschaft sollte sich möglichst auf allen Stufen der Entscheidungsverfahren zu Wort melden. Oft werden grundlegende Festlegungen schon in frühen Phasen, etwa nach ersten Konsultationen durch die Kommission oder bei der Erarbeitung von Entwürfen durch die Finanzaufsichtsbehörden getroffen. Dafür müssen sich die Verbände mit den oben angesprochenen komplizierten und von den sonst üblichen Verfahren abweichenden Prozessen vertraut machen und diese verfolgen.

5.5   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ermutigt die europäischen und nationalen Verbände der Zivilgesellschaft, sich intensiver als in der Vergangenheit mit der Finanzmarktregulierung zu befassen.

5.5.1   Für eine Reihe solcher Verbände bietet es sich aus der Sicht des EWSA an, die Förderung der Finanzmarktstabilität als ein eigenständiges und gegebenenfalls neues Ziel der Organisation zu definieren und ihren Interessens- und Aktivitätsbereich entsprechend zu erweitern.

5.5.2   Angesichts der geschilderten Komplexität der Finanzmärkte und der darauf bezogenen Regulierung ist es erforderlich, in den Verbänden die nötigen personellen Ressourcen mit der nötigen Sachkompetenz aufzubauen und weiterzuentwickeln. Gegebenenfalls ist auch die Bildung neuer Gremien, eine stärkere Kooperation mit den nationalen Verbänden und die Einbeziehung von externen Sachverständigen erforderlich.

5.5.3   Der EWSA begrüßt in diesem Zusammenhang die Gründung von Finance Watch, eines neuen Verbands auf europäischer Ebene, der sich die Förderung der Finanzmarktstabilität zum Ziel gesetzt hat. Das alleine reicht aber nicht aus, um eine breite Beteiligung der Zivilgesellschaft zu ermöglichen.

5.5.4   Die Verbände sollten sich dabei auch an den öffentlichen Debatten auf europäischer Ebene und in den Mitgliedstaaten beteiligen und so einen politischen Beitrag zur Finanzmarktregulierung leisten.

5.5.5   Aus der Sicht des EWSA wäre es wünschenswert, wenn die Verbände ihre Beteiligung an der Finanzmarktregulierung für eine breite und positive Kommunikation von erfolgreichen Aktivitäten der EU in diesem Bereich in ihren Verbänden und gegenüber der Öffentlichkeit nutzen würden.

5.5.6   Besondere Bedeutung kommt in diesem Bereich der Kooperation von nationalen und europäischen Verbänden zu. Zum einen sind die europäische und die nationalen Regelungsebenen gerade bei der Finanzmarktregulierung komplementär. Zum anderen haben nationale Verbände oft stärkere Ressourcen als die europäischen Dachorganisationen, die besonders in diesem Gebiet für die europäische Arbeit genutzt werden sollten.

5.5.7   Wegen der leichten Verschiebbarkeit von Kapital rund um den Globus muss die Finanzmarktregulierung weltweit auf ein vergleichbares Niveau gebracht werden. Dazu können vor allen Dingen die Verbände einen Beitrag leisten, die international ausgerichtet sind oder internationale Verbindungen haben. Sie können auf globaler Ebene für eine effektive Regulierung der Finanzmärkte auf vergleichbar hohem Niveau werben, um den weltweiten Standortwettbewerb mit möglichst niedrigen Standards einzudämmen. Das Interesse der globalen Finanzmarktstabilität muss an allen Finanzplätzen der Welt mit gleicher Intensität verfochten werden.

5.6   Die europäische Finanzindustrie gehört trotz des nachgewiesenen Fehlverhaltens im Einzelnen auch zu den nachteilig Betroffenen der Krise. Sie wird deshalb aufgefordert, ihren Beitrag zu einer effektiven Finanzmarktregulierung zu leisten.

5.6.1   Die einzelnen Branchen sollten sich keine falsche Zurückhaltung auferlegen, wenn es um die Kommentierung der Regulierung von anderen Sektoren im Interesse der Finanzmarktstabilität geht.

5.6.2   Aus der Sicht des EWSA ist es selbstverständlich, dass die Interessenvertretung der Finanzbranche transparent, integer und respektvoll gegenüber dem Entscheidungsträger erfolgt. Repräsentative Industrieverbände erfüllen regelmäßig diese Erwartungen. Bei punktuellen Aktivitäten einzelner Unternehmen und deren kommerzieller Vertreter war dies in der Vergangenheit nicht immer der Fall.

5.6.3   Die Finanzindustrie wird aufgefordert, sich dem Dialog mit Organisationen der Zivilgesellschaft zu öffnen. Für die Unternehmen dürfte es angesichts der hohen öffentlichen Aufmerksamkeit für den Finanzsektor im Zuge der Finanzkrise vorteilhaft sein, mit der Zivilgesellschaft ins Gespräch zu kommen, Argumente auszutauschen und Anregungen aufzunehmen. Das wäre ein wichtiger Schritt, um auf die Gesellschaft insgesamt zuzugehen. Sollte sich der Finanzsektor durch Selbstregulierung zu einem bestimmten Verhalten verpflichten wollen, bietet sich eine Beteiligung der Zivilgesellschaft auch bei der Vorbereitung solcher Regeln an.

5.6.4   Der EWSA begrüßt im Interesse eines fairen und transparenten zivilen Dialogs die Schaffung eines gemeinsamen Lobbyregisters von Europäischem Parlament und Europäischer Kommission und würdigt die Ergebnisse der Arbeit der Buzek-Gruppe im Europäischen Parlament. Allerdings mahnt der EWSA an, dass die Verschärfung der Regeln nicht zu Beeinträchtigungen und Behinderungen der Partizipation der Verbände führen darf. Dies gilt insbesondere für praktische Fragen wie dem einfachen Zugang zu den europäischen Dienststellen und die Teilnahme an öffentlichen Sitzungen.

5.7   Die Wissenschaft, gesellschaftliche Stiftungen und Think Tanks sind gefordert, ihr Urteilsvermögen, ihre Sachkompetenz und ihre Erfahrungen in die Debatten um die Finanzmärkte einzubringen. Auch wenn solche Einrichtungen oft nicht auf die Beteiligung an konkreten Gesetzesarbeiten ausgerichtet sind, sollten sie die Chance ergreifen, ihre Kapazitäten für das Ziel der Vermeidung künftiger Krisen einzusetzen.

5.8   Bei der europäischen Meinungsbildung spielen naturgemäß die Medien eine herausragende Rolle. Auch dort wäre es wünschenswert, die Position der Organisationen der Zivilgesellschaft in stärkerem Maße wiederzugeben. Dafür ist es gegebenenfalls erforderlich, die entsprechenden Organisationen zu der Meinungsbildung zu einer bestimmten Frage zu veranlassen, da sich gegenwärtig nur wenige Vertreter von sich aus an der öffentlichen Debatte beteiligen.

5.9   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss nimmt sich selbst vor, die die Teilnahme an den Diskussionen um Vorhaben der Finanzmarktregulierung zu verstärken.

5.9.1   Der EWSA wird sich weiter intensiv mit den Vorschlägen für die Finanzmarktregulierung befassen, sie breit diskutieren und substanzielle Stellungnahmen abgeben, wobei auf die Einbeziehung der Position der Vertreter der Zivilgesellschaft im Ausschuss besonderer Wert gelegt wird.

5.9.2   Der Ausschuss wird dafür Sorge tragen, dass sich die Vertreter aller drei Gruppen gleichermaßen in die Debatten einbringen und sich in allen Phasen des Verfahrens beteiligen.

5.9.3   Bei den Beratungen wird er die Verbände der Zivilgesellschaft durch Anhörungen in den Fach- und Studiengruppen stärker und direkter in seinen Meinungsbildungsprozess einbeziehen.

5.9.4   Der EWSA wird bei der Gestaltung seiner Arbeitsplanung, den Plenartagungen, den Sitzungen der Fachgruppen und der Studiengruppe dafür Sorge tragen, dass ausreichender Raum für eine intensive Debatte der Finanzmarktregulierung gegeben wird.

5.9.5   Der EWSA wird auch seinen Beitrag dazu leisten, dass sich seine Mitglieder aus entsprechenden Organisationen der Zivilgesellschaft intensiv mit den Fragen der Finanzmarktregulierung befassen und entsprechend in ihre Verbände hineinwirken.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Die durch die übermäßigen Staatsdefizite ausgelöste Krise bleibt in dieser Stellungnahme außer Betracht, obwohl auch hier die Frage gestellt werden könnte, warum die Zivilgesellschaft nicht früher und stärker auf eine Reduzierung der Schulden gedrängt hat.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/10


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Wachstum und Staatsverschuldung in der EU: zwei innovative Vorschläge“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 143/03

Berichterstatter: Carmelo CEDRONE

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

"Wachstum und Staatsverschuldung in der EU: zwei innovative Vorschläge" (Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 2. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 23. Februar) mit 121 gegen 46 Stimmen bei 11 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Wesentliche Empfehlungen

J. Monnet: "Die Krisen sind der Ansporn für Europa, voranzukommen und sich zu vereinen".

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Auffassung, dass das Problem des Euro weniger wirtschaftlicher, sondern vielmehr politischer Natur ist. Seine Glaubwürdigkeit ist geschwächt, seit die Ratingagenturen das Vertrauen auf ein entschlossenes Handeln der Regierungen zur Vermeidung des Zahlungsausfalls überschuldeter Mitgliedstaaten verloren haben. Jüngste Initiativen wie der Vorschlag der Kommission zur Einführung von Stabilitätsanleihen (1) beschäftigen sich nur mit dem Aspekt der Stabilität und nicht mit Wachstum. Der Entwurf eines Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung des Rates (2) indes leidet unter einem eklatanten "demokratischen Defizit", da das Europäische Parlament und andere Institutionen der Union übergangen werden.

1.2   Der EWSA ist außerdem davon überzeugt, dass die systemische Krise des Euro-Raums nicht durch die Rückkehr zu nationalen Egoismen und die Beschneidung von Rechten überwunden werden kann, sondern vielmehr durch einen wirtschaftspolitischen Wandel, die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und mehr Gerechtigkeit, Solidarität und Zusammenhalt. Dadurch ließe sich das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Projekt Europa und die Wiederherstellung des Europäischen Sozialmodells wiedergewinnen. Ansonsten besteht für alle die Gefahr, dass die Krise nicht gelöst werden kann, was zum Bruch und sogar zum Scheitern der europäischen Idee führen könnte.

1.3   Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU-Institutionen nicht in die Falle tappen sollten, nur auf die Ratingagenturen zu reagieren – auch wenn diese mitunter die Schwächen des Marktes aufdecken. Die Institutionen müssen den Unionsbürgern eine wirkungsvolle Möglichkeit zur Überwindung der Krise aufzeigen, die zum einen ein Projekt für die Zukunft der EU enthält, das Vertrauen und Zuversicht einflößen kann, und die zum anderen das Gefühl der Zugehörigkeit und der Teilhabe an der Verwirklichung eines gemeinsamen Ideals des sozialen Fortschritts und eines hohen Beschäftigungsniveaus stärkt. Insbesondere müssen die Wähler sehen können, dass Stabilität mit Wachstum anstatt nur mit Einsparungen einhergeht, und robustes Wirtschaftswachstum könnte das Vertrauen der Finanzmärkte in den Euro-Raum und seine Glaubwürdigkeit wiederherstellen.

1.4   Der EWSA begrüßt in diesem Sinne die von den Organen der EU unternommenen Schritte für eine gemeinsame Haushalts- und Fiskalpolitik, auch wenn es sich bislang nur um unvollständige und begrenzte Maßnahmen handelt. Unbeschadet der unverzüglichen Umsetzung und Nutzung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und dann des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) erachtet er es für notwendig, rasch zwei konkrete Vorschläge zur Lösung der Frage des Wachstums (Eurobonds) und der Stabilisierung der Schulden (Unionsanleihen) (3) vorzulegen. Mit diesen Vorschlägen würde es möglich, dass einige Mitgliedstaaten und die EU nicht nur eine auf Sparpolitik beruhende Rettung des Euro verfolgen, die zu einer Verschlechterung der sozialen Bedingungen führt, das Wachstum erstickt und eine Rezession auszulösen droht.

1.5   Für eine rasche Belebung des Wachstums ist es insbesondere erforderlich, einen – mit dem US-amerikanischen "New Deal" vergleichbaren "neuen europäischen Pakt", einen Plan zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Erholung aufzulegen. Mit diesem sollen die Mitgliedstaaten in die Lage versetzt werden, ein robustes und anhaltendes Wachstum auf der Grundlage von Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität, Beschäftigung, sozialer Sicherheit und Wohlstand und vor allem demokratischem Konsens zu erzielen. Dadurch würden auch die Voraussetzungen geschaffen für eine wirkungsvolle gemeinsame wirtschafts- und fiskalpolitische Steuerung.

1.6   Eine Vielzahl von Anleihen und Bonds wurden als mögliche Lösungen für die gegenwärtige Krise vorgeschlagen – zusammen mit den erforderlichen Strukturreformen (4), zu deren Verabschiedung die Mitgliedstaaten aufgefordert und motiviert werden sollten–. Dennoch liegt eine der politischen Schwächen dieser Vorschläge – wie auch im Grünbuch der Kommission – darin, dass sie entweder gesamtschuldnerische Bürgschaften der Mitgliedstaaten beinhalten, was sie für einige zentrale Regierungen – nicht zuletzt für die deutsche Bundesregierung – unakzeptabel werden ließ.

1.7   Der EWSA ist hingegen der Auffassung, dass solche Bürgschaften und Transfers nicht erforderlich sind, weder um einen Teil der nationalen Schuldtitel in Schuldtitel der Union umzuwandeln noch um Nettoemissionen von Eurobonds durchzuführen. Er gibt auch zu bedenken, dass eine anleihebasierte Finanzierung nicht zu einer laxen Verwaltung der öffentlichen Finanzen führt, wenn die Umwandlung nationaler Schulden in Schuldtitel der Union im Rahmen eines Schuldenkontos anstatt eines Kreditkontos erfolgt. Die Nettoemission von Anleihen würde nicht den Zweck der Defizitfinanzierung haben, sondern vielmehr Sparguthaben und globale Überschüsse für Investitionen anziehen, die den Zusammenhalt und die Wettbewerbsfähigkeit steigern können.

1.8   Der EWSA schlägt deshalb vor, zwei unterschiedliche, aber sich ergänzende Schuldtitel der Europäischen Union einzuführen: Unionsanleihen zur Stabilisierung der Verschuldung, und Eurobonds für Konjunkturbelebung und Wachstum. Der EWSA empfiehlt auch die Verwendung eines Teils des Nettokapitalstroms der Eurobonds zur Finanzierung eines europäischen Risikokapitalfonds, eines der ursprünglichen Ziele des Europäischen Investitionsfonds (EIF) (5).

1.9   Unionsanleihen: Der – auch sukzessive – in Unionsanleihen umgewandelte Anteil staatlicher Schuldtitel bis zur Schuldengrenze von 60% des BIP könnte im Rahmen eines konsolidierten, aber nicht gehandelten Schuldenkontos gehalten werden (6). Da diese Titel nicht gehandelt werden, wären sie gegen Spekulation im Zusammenhang mit den Bewertungen durch Ratingagenturen abgeschirmt. Fiskaltransfers wären hierfür jedoch nicht erforderlich. Mitgliedstaaten, deren Schulden in Unionsanleihen gehalten werden, würden selbst für den Schuldendienst ihres Anteils aufkommen. Die Umwandlung würde auch bedeuten, dass der Hauptteil der Schuldtitel – in Bezug auf die verbleibenden nationalen Schuldtitel – dann den Maastricht-Kriterien entsprechen würde. Griechenland wäre zwar immer noch ein besonderes, aber nicht mehr ein unlösbares Problem, das nicht in den Griff gebracht werden könnte.

1.10   Um dieses Ziel zu erreichen, müsste der Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht überarbeitet werden, sondern würde vielmehr an Glaubwürdigkeit gewinnen, die ihm derzeit auf den Märkten und bei den Wählern abhanden gekommen ist, da Stabilität ohne einschneidende Sparmaßnahmen erreicht würde. Außerdem könnte die Umwandlung eines erheblichen Teils (bis 60%) der Schulden der Mitgliedstaaten in Schulden der Union im Rahmen des Verfahrens der "verstärkten Zusammenarbeit" erfolgen. Mitgliedstaaten, die sich diesem Verfahren nicht anschließen möchten, könnten ihre eigenen Anleihen behalten (7).

1.11   Im Unterschied zu Unionsanleihen könnten zur Finanzierung von Aufschwung und Wachstum aufgelegte Eurobonds gehandelt werden und der EU Kapital zuführen. Wie die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) im September 2011 bestätigten, sind sie daran interessiert, Reserven in Euro zu halten, um zur Stabilisierung des Euro-Raums beizutragen. Werden diese Reserven in Eurobonds anstatt ausschließlich in nationalen Schuldtiteln gehalten, könnte die Rolle des Euro als internationale Reservewährung gestärkt und die Schwellenländer in ihrem Streben nach einem pluralistischeren globalen Währungsreservesystem erfolgreich unterstützt werden.

1.12   Eurobonds müssen nicht die Staatsschulden Deutschlands oder anderer Mitgliedstaaten belasten und bedürfen keiner gesamtschuldnerischen staatlichen Bürgschaften. Die Europäische Investitionsbank (EIB) legt seit über 50 Jahren Schuldtitel auf, ohne dafür auf staatliche Bürgschaften zurückgreifen zu müssen, und sie ist dabei so erfolgreich, dass sie bereits doppelt so groß wie die Weltbank ist.

1.13   Der Zufluss globaler Überschüsse in Eurobonds würde das Wachstum wieder ankurbeln. Wie das Beispiel der zweiten Amtsperiode der Regierung Clinton verdeutlicht, in der jedes Jahr ein Überschuss des Bundeshaushalts erzielt wurde, ist Wachstum das wirkungsvollste Mittel zum Schuldenabbau und zur Senkung des Defizits. Eurobonds könnten zur Finanzierung von Investitionen der EIB beitragen, die von den Einkünften der Mitgliedstaaten, die von diesen Investitionen profitieren, bedient werden, anstatt auf Fiskaltransfers unter den Mitgliedstaaten zu basieren.

1.14   Ein solches anleihefinanziertes und investitionsgeführtes Wachstum im Rahmen der seit dem Amsterdamer Sonderaktionsprogramms von 1997 bestehenden Zuständigkeitsbereiche Konvergenz und Kohäsion der EIB-Gruppe könnte das makroökonomische Niveau von Fiskaltransfers erreichen.

1.15   Förderung des Zusammenhalts: Mit Eurobonds könnten die Investitionsprojekte der EIB kofinanziert werden. Die EIB hat bereits seit 1997 das Mandat für solche Projekte, um den Zusammenhalt und die Konvergenz in folgenden Bereichen zu fördern: Gesundheit, Bildung, Stadterneuerung, Umwelt, umweltfreundliche Technologien sowie Unterstützung für kleine und mittlere Unternehmen und Unternehmensgründungen im Bereich der neuen Technologien.

1.16   Die Wettbewerbsfähigkeit würde verbessert werden, indem ein Teil des Kapitalszustroms infolge der Emission von Eurobonds für die Finanzierung eines Risikokapitalfonds für KMU eingesetzt würde. Dies könnte eine europäische Mittelstandspolitik ermöglichen, die zu den ursprünglichen Zielen des nun zur EIB-Gruppe gehörenden Europäischen Investitionsfonds (EIF) gehörte.

1.17   Ist die Europäische Zentralbank die Hüterin der Stabilität, so kann die EIB-Gruppe das Wachstum sichern, wenn ihre Investitionsvorhaben durch Eurobonds mitfinanziert werden. Unmittelbar nach der Finanzkrise 2008 wurde die EIB gefragt, ob sie Anleihen zur Stabilisierung der Schulden begeben und halten würde. Die Antwort lautete damals verständlicherweise "Nein". Doch die für den EIF konzipierte parallele zentrale Aufgabe, wie von Jacques Delors im Weißbuch "Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung" der Europäischen Kommission 1993 vorgeschlagen, war die Emission von Unionsanleihen. Als Teil der EIB-Gruppe und gestützt auf die Erfahrung der EIB bei der erfolgreichen Emission von Anleihen könnte der EIF die Nettoemission von Eurobonds durchführen (siehe Ziffern 5.2 bis 5.8 weiter unten).

1.18   Eurobonds könnten folglich zur Finanzierung eines "europäischen Wachstumsprogramms" und eines "Europäischen Wachstumspakts" beitragen, an dem die besten Kräfte der EU beteiligt sind: Unternehmen, Gewerkschaften und Verbände – ein Pakt, von dem konkrete Antworten auf die aktuelle Krise ausgehen. Dies wäre ein europäischer "New Deal" nach amerikanischem Vorbild, der dabei hilft, Wachstum und Beschäftigung zu beleben, die Schulden abzubauen, das Vertrauen und die Hoffnung in die Zukunft der EU wiederzugewinnen und vor allem die Jugendarbeitslosigkeit zu senken.

1.19   Gleichzeitig muss ein Prozess in Gang gesetzt werden, um die Grundfragen der EU unverzüglich anzugehen: die wirtschafts- und fiskalpolitische Dimension, wie sie auf dem Brüsseler Gipfel vom 8./9. Dezember 2011 behandelt wurde und die auch die Stärkung der EZB als Garant der Finanzstabilität vorsehen sollte; die soziale und die politische Dimension, um das derzeitige demokratische Defizit zu überwinden und den Entscheidungsprozess zu beschleunigen. Praktisch handelt es sich um die Beseitigung all der Einschränkungen (insbesondere die Hemmnisse bei der Entscheidungsfindung und die politische Schwäche), die einem raschen und effizienten Handeln der EU entgegenstanden und stehen – nicht nur zur Stützung des Euro, sondern auch um zu verhindern, dass die Existenz der EU selbst gefährdet und ihre Daseinsberechtigung in Frage gestellt und dadurch ihr Niedergang beschleunigt wird.

2.   Hintergrund

2.1   Die vorliegende Stellungnahme verfolgt mithin das Hauptziel, ein unmittelbar umsetzbares Aktionsprogramm zu erarbeiten, bei dem keine neuen Institutionen oder Änderungen der Verträge erforderlich sind, und das die Grundlagen für eine gemeinsame Verwaltung der Schulden im Euro-Raum legt. Angesichts der erforderlichen Senkung nicht tragbarer nationaler Schuldenstände fügt sich diese Stellungnahme damit ein in den Rahmen bereits erarbeiteter oder sich gegenwärtig in Erarbeitung befindlicher Stellungnahmen des EWSA zur Frage des Wachstums, industrie- und finanzpolitischer Maßnahmen, der Produktivität und der Wettbewerbsfähigkeit.

2.2   Nach der Finanzkrise von 2007/2008 wurde gehofft, dass das Gröbste überstanden sei. Die Beendigung der Krise kam die Unionsbürger teuer zu stehen und führte zum Anstieg der Staatsschulden. Doch nach zwei Jahren – und trotz des kurzfristigen Anstiegs der öffentlichen Schulden aufgrund der Kosten der Bankenrettungen – standen nicht mehr die privaten, sondern die öffentlichen Schulden im Fadenkreuz der Kritik.

2.3   Der Angriff auf die schwächsten Länder hat die Verletzlichkeit des Euro-Raums offenbart. Dieser hat einen Gesamtstand aller nationalen Schulden, der zwar in jedem Fall gesenkt und unter Kontrolle gebracht werden muss, gleichwohl aber unter dem der Vereinigten Staaten liegt. Die – wenngleich spät – ergriffenen Maßnahmen sind ein großer Schritt nach vorne, aber immer noch nicht ausreichend, weil es sich um eine systemische Krise handelt, die mithin nicht von den Schulden dieses oder jenes Landes abhängt.

2.4   Dadurch wurde ein für das Überleben des Euro-Raums und des europäischen Projekts selbst zentrales Problem schonungslos ans Licht gebracht: Wer gibt den Ton an, wer hat das letzte Wort? Die europäische Zivilgesellschaft hat inzwischen klar verstanden, dass die Lage nicht mehr von den durch gewählte Regierungen kontrolliert wird, sondern dass vielmehr nicht gewählte Einrichtungen deren Funktion usurpiert haben: Daher liegt das Risiko nicht nur in der Legitimität einzelner Regierungen, sondern auch im Überleben des demokratischen Prozesses auf europäischer Ebene.

2.5   Der Euro blieb bis 2008 von Währungsturbulenzen verschont und hatte gegenüber dem Dollar an Stärke gewonnen, er war zur zweiten weltweiten Reservewährung aufgestiegen. Einer der Gründe für diesen Wandel und für die Angriffe auf den Euro liegt darin, dass die Ratingagenturen bis zur Griechenlandkrise angenommen hatten, die EU werde die Pleite eines Mitglieds des Euro-Raums nicht zulassen. Als keine rasche Lösung der griechischen Krise zu erkennen war, schoss der Spread bei Neuemissionen von Anleihen in die Höhe. Über zwei Jahre fehlte der politische Wille, eine Lösung für die Staatsschuldenkrise in Europa zu vereinbaren, und dies bewog die Ratingagenturen zur Herabstufung einer Reihe von Mitgliedstaaten des Euroraums, was nun die Kernländer genauso wie die Peripherie betrifft.

2.6   Die EU – die gleichwohl darauf achten sollte, die Schulden abzubauen (und zwar sukzessive, damit der "schuldige" Kranke nicht stirbt, anstatt gesund zu werden) – muss entschlossener handeln. Den Staaten, und nicht nur denen mit dem höchsten Schuldenstand, sind die Hände gebunden, weil das Defizit nicht erhöht werden darf, und erschöpft durch ein niedriges Wachstum sind sie, zusammen mit der EU, antriebs- oder zumindest entscheidungsschwach geworden. Die Rentenmärkte wurden auch nicht von einer durch Einschränkungen, Sparzwänge und Kürzungen geprägten politischen Antwort besänftigt, da dadurch die Gefahr eines niedrigen oder negativen Wachstums steigt.

2.7   Ein Problem liegt darin, dass die Überschüsse des einen Landes den Defiziten anderer Länder entsprechen. Ein anderes liegt in einer falschen Auffassung der "Crowding-out"-Hypothese (Verdrängung privatwirtschaftlicher Investitionen durch staatliche Aktivitäten) und des damit einhergehenden Irrglaubens, dass Kürzungen der öffentlichen Investitionen und Ausgaben notwendigerweise zu einem "Crowding-in" privater Investitionen und Ausgaben führen würde. Ebenso wurde übersehen, dass in einigen EU-Staaten, in denen früheren Sparprogrammen ein Konjunkturaufschwung folgte, dies im Kontext einer insgesamt expandierenden Nachfrage nach Exporten der EU geschah und in zahlreichen Fällen durch Währungsabwertungen flankiert wurde. Diese Möglichkeit steht den Mitgliedstaaten des Euro-Raums nun nicht mehr zur Verfügung.

2.8   Die EU muss das Vertrauen der Unionsbürger in die gemeinsame Währung wiedergewinnen und sie davon überzeugen, dass sie für alle von Nutzen ist. Das macht ein wirtschaftliches, soziales und kulturelles Aktionsprogramm, einen "neuen europäischen Pakt" nach Vorbild des US-amerikanischen "New Deal" erforderlich, dessen Erfolg Präsident Truman ermutigte, den Marshall-Plan und die Wiederaufbauhilfe nach dem Weltkrieg zu unterstützen. Dadurch wurden alle europäischen Länder in die Lage versetzt werden, ein dauerhaftes Wachstum auf der Grundlage von Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität, Beschäftigung, sozialer Sicherheit und Wohlstand und vor allem Konsens (Teilhabe und Sozialpartnerschaft) zu erzielen.

2.9   Eine solche, sowohl Stabilität als auch Wachstum umfassende Perspektive würde auch den politischen Konsens für weitere Instrumente der gemeinsamen wirtschafts- und fiskalpolitischen Steuerung ermöglichen. Es ist bar jeder Logik, zwar eine gemeinsame Währung, aber 17 unterschiedliche nationale Schuldenpolitiken zu haben. Eine auf Sparmaßnahmen basierende Haushaltspolitik zu betreiben macht es aber nicht besser. Was jetzt erforderlich ist sind sowohl fundierte Strategien für das Schuldenmanagement als auch gemeinsame Finanzinstrumente, die ein europäisches Wachstum schaffen können, während gleichzeitig übermäßige nationale Schuldenstände abgebaut werden.

2.10   Ungeachtet der Folgen darf die Antwort der EU auf die Krise nicht nur lauten: "Einschränkungen, Sparzwänge, Kürzungen, Opfer usw." Ganz zu schweigen von der Bewertung und der Unterscheidung zwischen "Musterschülern" und "Schlusslichtern", die häufig nicht der Wahrheit entspricht und der tatsächlichen Verantwortungsverteilung nicht gerecht wird. Ein solcher Ansatz führt zu Zwietracht, Egoismus, Groll und Verbitterung – auch in kultureller Hinsicht – und letztlich zu engherziger Überheblichkeit und einem für Europa gefährlichen Populismus. Dem zugrunde liegen eine falsche Diagnose und eine moralistische Sicht der Krise, die es den sog. "Musterschülern" unmöglich macht, den anderen zu helfen.

2.11   Der Spagat zwischen Sparen und Wachstum ist ein Dilemma, das die EU überwinden muss – auch mit dem Konsens seiner Bürger. Dabei muss, wie in den beiden folgenden Ziffern ausgeführt, gleichzeitig auf zwei Ebenen gehandelt werden.

2.12   Zum einen ist ein neuer, ausgereifterer Vorschlag zu den Staatsschulden erforderlich, der die Rückführung der Schuldenstände auf der Grundlage gemeinsamer Solidarität und auf der Basis der Grundsätze des Vertrags ermöglicht, die Mitgliedstaaten nicht aus ihrer Verantwortung entlässt und spekulative Angriffe abwehrt. Die Verteidigung des Euro, die in erster Linie eine politische Frage ist, käme allen Ländern zugute, insbesondere den reicheren. Die paradoxe Situation einer anfänglich herbeigesehnten gemeinsamen Währung, die zum Alptraum der Unionsbürger geworden ist, würde damit vermieden werden.

2.13   Der zweite Vorschlag sollte darauf abzielen, das Vertrauen der Unionsbürger zu wecken. Dafür muss ein Programm für den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aufschwung umgesetzt werden, das entsprechender Mittel bedarf. Außerdem gilt es, eine große Idee, eine Art "neuer Pakt" für Europa – z.B. nach dem Modell des "New Deal" der USA – zu konzipieren. Auch der Marshallplan galt bekanntlich nicht nur dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern er hat auch allen europäischen Ländern eine dauerhafte Entwicklung auf der Grundlage von Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität, Beschäftigung, sozialer Sicherheit, Wohlstand und vor allem Konsens (Teilhabe und Sozialpartnerschaft) ermöglicht.

2.14   Die EU muss sich deshalb nach Kräften darum bemühen, mit einer Stimme die von den Märkten aufgeworfenen Fragen zu beantworten, sind doch die Märkte mit ihrem regellosen und unkontrollierten Handeln an ihre Grenzen gestoßen. Dennoch hängt dies nicht von der einstimmigen Zustimmung aller Mitgliedstaaten zu den neuen Finanzinstrumenten ab. In diesem Bereich kann das Prinzip der "verstärkten Zusammenarbeit" zum Tragen kommen. Anstatt den Euro-Raum auf einen harten Kern einer Gruppe von Ländern zu reduzieren, für die das von Schaden sein könnte, sollte es den Ländern, die spekulativen Angriffen ausgesetzt sind, gestattet sein, einen maßgeblichen Teil ihrer Schulden zum Vorteil aller Mitgliedstaaten in ein europäisches Schuldenkonto einzubringen.

3.   Unionsanleihen zur Stabilisierung der Staatsverschuldung

3.1   In Europa sind Staatsschulden nicht mehr allein Angelegenheit des souveränen Staats. Die eingeschränkten Möglichkeiten und die Fehler der EU und fehlende wirksame Strukturen zur Überwachung und Beaufsichtigung der Finanzinstitute haben Beutezüge gegen nationale Währungen erleichtert (8). Auch aufgrund des Missmanagements der öffentlichen Hand wurde die Souveränität einiger gefährdeter Mitgliedstaaten beeinträchtigt.

3.2   Der EWSA hält Haushaltsdisziplin in einigen Mitgliedstaaten – auch mittels gerechter und konsensbasierter Strukturreformen – für unerlässlich. Langfristig sollte es zu einer Fiskalunion mit einem Wirtschafts- und Finanzminister für den Euro-Raum kommen. Es ist bar jeder Logik, zwar eine gemeinsame Währung, aber 17 unterschiedliche nationale Schuldenpolitiken zu haben. Neben einer gemeinsamen Steuerung der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten mittels Überwachung durch die EU müssen jetzt aber unverzüglich Sofortmaßnahmen zur Stabilisierung der Staatsschulden ergriffen werden.

3.3   Der Tatsache, dass die Union selbst – im Gegensatz zu den hoch verschuldeten Mitgliedstaaten – praktisch keine eigentlichen Schulden aufweist, sollte mehr politische Bedeutung geschenkt werden. Bis Mai 2010 und dem Beginn der Übernahme von Staatsschulden hatte sie überhaupt keine Schulden. Selbst nach dem Aufkauf staatlicher Schuldtitel und den Bankenrettungen betragen die Schulden der Union nur etwas mehr als 1% des BIP der EU. Das ist weniger als ein Zehntel der Schulden im Verhältnis zum BIP in den USA der Dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, als sich die Regierung Roosevelt daran machte, mittels Ausweitung der US-Schatzwechsel Ersparnisse in Investitionen umzuleiten (9). Im Unterschied zu den USA verfügt die EU über den Vorteil des späten Einstiegs in Anleihen.

3.4   Die Souveränität der Mitgliedstaaten kann über die EU wieder hergestellt werden, indem die Regierungen – und nicht die Ratingagenturen – dazu befähigt werden, das Steuer wieder in die Hand zu nehmen, was durch eine strengere Aufsicht und Bewertung der Verantwortlichkeiten der Finanzmarktteilnehmer einschließlich der Ratingagenturen flankiert werden kann. Dies kann jedenfalls ohne Übernahme der Schulden, gemeinsame Staatsbürgschaften oder Fiskaltransfers erfolgen. Bei der Finanzierung des "New Deal" z.B. kaufte die US-Regierung unter Roosevelt weder Schulden von Teilstaaten der amerikanischen Union auf, noch verpflichtete sie diese, für Staatsanleihen des Bundesstaates zu bürgen oder Fiskaltransfers durchzuführen. Die USA finanzieren ihre Staatsanleihen über Bundessteuern – Europa indes kennt keine gemeinsame Steuerpolitik. Gleichwohl können die EU-Mitgliedstaaten den Anteil ihrer in Unionsanleihen umgewandelten nationalen Schuldtitel finanzieren, ohne dass dafür Fiskaltransfers zwischen den Mitgliedstaaten erforderlich wären.

3.5   Das Europäische Konjunkturprogramm wurde in Reaktion auf die Finanzmärkte von einer Sparpolitik verdrängt. Die meisten Wähler sind sich nicht einmal der Verpflichtungen gewahr, die die Union bezüglich des Konjunkturprogramms eingegangen ist, sie sind sich aber sehr wohl bewusst, dass ihnen Opfer zur Rettung von Banken und Hedgefonds abverlangt werden. Die breite Öffentlichkeit weiß wenig über das Europäische Konjunkturprogramm.

3.6   Die Umwandlung eines Teils nationaler Schuldtitel in Schuldtitel der Union könnte auch im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit erfolgen, wobei wichtige Mitgliedstaaten wie u.a. Deutschland ihre eigenen Schuldtitel behalten. Nach Maßgabe des Vertrags von Lissabon findet verstärkte Zusammenarbeit zwischen einer Minderheit von Mitgliedstaaten statt. Dennoch war die Einführung des Euro de facto das Beispiel für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Mehrheit der Mitgliedstaaten. Das Institut Bruegel schlug vor, dass die in Anleihen der Union umgewandelten nationalen Schuldtitel von einer neuen Institution gehalten werden sollten (10). Doch eine neue Institution ist nicht erforderlich.

3.7   Der in Unionsanleihen umgewandelte Teil nationaler Schuldtitel könnte von der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), dann vom Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in einem entsprechenden Umwandlungskonto gehalten anstatt in den Handel gebracht zu werden (11). Dadurch wären die umgewandelten Schuldtitel vor Spekulation geschützt. Die Investoren könnten ihre Anlagen bis zur Fälligkeit der Anleihen zur jeweiligen Zinsrate halten. Dadurch ließe sich das moralische Risiko vermeiden, da in einem Schuldenkonto gehaltene Anleihen nicht zur Kreditschöpfung verwendet werden können. Der Vorteil für die Regierungen und die Anleiheinhaber liegt darin, dass die Gefahr einer Staatsinsolvenz einiger Mitgliedstaaten dadurch erheblich gesenkt würde.

4.   Eurobonds für den Wiederaufschwung und anhaltendes Wachstum

4.1   Die jüngsten Entwicklungen haben deutlich gemacht, dass die EU gemäß der mit der Währungsunion geschaffenen Einheitswährung auch eine gemeinsame wirtschafts- und sozialpolitische Steuerung anstreben muss, um makroökonomische Ungleichgewichte besser bewältigen zu können. Bislang haben sich die Kommission und der Europäische Rat nur um Stabilität gekümmert und verdrängt, dass das Wachstum wieder angekurbelt werden muss.

4.2   Dabei werden sowohl die sozialen als auch die globalwirtschaftlichen Aspekte fortgesetzter Sparpolitik sowie die Bedeutung anhaltender europäischer Nachfrage für die Exporte der Schwellenländer verkannt. Es wird auch übersehen, dass die Wiederankurbelung des Wachstums nicht mittels Fiskaltransfers zwischen den Mitgliedstaaten, sondern vielmehr durch die Verwendung des Überschusses der Schwellenländer zu finanzieren ist.

4.3   So wurde z.B. in verschiedenen in der Presse veröffentlichten Vorschlägen als Antwort auf den Vorschlag des Bruegel-Instituts und einen früheren Vorschlag aus dem Jahr 1993 von Delors bezüglich Unionsanleihen – deutlich darauf hingewiesen, dass Nettoemissionen von Eurobonds Überschüsse der Zentralbanken von Schwellenländern und staatlicher Investitionsfonds anziehen und einen Multiplikatoreffekt haben würden.

4.4   Dank dieser Kapitalzuflüsse in die Eurobonds könnte die seit 2008 von den Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament eingegangene Verpflichtung für ein Europäisches Konjunkturprogramm Realität werden lassen. Wenngleich die Ausgabe anfänglich gestaffelt erfolgen würde, wäre der kumulative Zufluss eines Teils des fast 3 Billionen US-Dollar umfassenden Überschusses der Zentralbanken von Schwellenländern und staatlicher Investitionsfonds erheblich.

4.5   Die Zuflüsse könnten den Eigenmitteln der Kommission durchaus entsprechen bzw. diese übertreffen, ohne dass die von Deutschland und einigen anderen Mitgliedstaaten abgelehnten Fiskaltransfers erforderlich wären. Sie könnten auch zur Finanzierung von Investitionen der EIB-Gruppe in den Bereichen der Kohäsionsziele Gesundheit, Bildung, Stadterneuerung und Umwelt beitragen.

4.6   Die EIB erhielt im Zuge des Amsterdamer Sonderaktionsprogramms von 1997 ein Mandat bezüglich der Kohäsions- und Konvergenzziele. Seitdem hat sie mit Erfolg den Umfang ihrer Investitionsdarlehen vervierfacht. Eine weitere Vervierfachung der Investitionen der EIB entspräche den Marshallplan-Hilfen (12) der USA in der Nachkriegszeit. Trotzdem würde diese Finanzierung, im Unterschied zum Marshallplan oder den Strukturfonds, nicht auf Anleihen, sondern vielmehr auf der Umleitung von Ersparnissen in Investitionen beruhen. Solche Investitionen würden durch wirtschaftliche Multiplikatoren zu anhaltender Nachfrage des Privatsektors und Beschäftigungszuwachs führen. Das Vertrauen sowohl der Märkte als auch der Öffentlichkeit darauf, dass Sparmaßnahmen durch höhere Lebensstandards und mehr Wohlstand ersetzt werden können, würde wiederhergestellt. Wachstum und höhere Beschäftigungsquoten würden direkte und indirekte Steuereinnahmen erzeugen, die zur Senkung von Schulden und Defizit beitragen könnten.

5.   Der rechtlich-institutionelle Rahmen des Vorschlags

5.1   Unionsanleihen und die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität

5.1.1

Die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) könnte den in Unionsanleihen umgewandelten Anteil nationaler Schuldtitel in einem entsprechenden Umwandlungskonto verwahren, was ihrer Aufgabe der Stabilisierung entsprechen würde. Dass der EFSF im Juli 2012 durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ersetzt wird, wäre kein Hinderungsgrund, da dieser dann die umgewandelten Schulden übernehmen würde.

5.1.2

Der Grundsatz, dass in Unionsanleihen umgewandelte Schulden nicht in den Handel gebracht werden sollen, hätte die EFSF davor geschützt, von den Ratingagenturen und den Rentenmärkten herabgestuft zu werden. Die Verwahrung der Schulden in einem Schuldenkonto dürfte Deutschland und andere Mitgliedstaaten beruhigen, dass in Unionsanleihen umgewandelte nationale Schulden nicht für die Aufnahme neuer Schulden eingesetzt werden könnten.

5.2   Die Konzeption des EIF und Eurobonds

5.2.1

Die EZB muss an Nettoanleiheemissionen nicht beteiligt werden. Das ursprüngliche Konzept für die Emission von eigenen Anleihen der Union bestand darin, dass dies über den 1994 gegründeten und seit 2000 zur EIB-Gruppe gehörenden EIF erfolgen soll. Die ursprüngliche Hauptaufgabe des EIF sollte darin bestehen, die Gemeinschaftswährung mit Gemeinschaftsanleihen auszustatten. In zweiter Linie sollte der EIF finanzielle Unterstützung für kleine und mittlere Unternehmen und für Unternehmensgründungen im Hochtechnologiebereich leisten, was seit 1994 indes seine einzige Funktion ist (13).

5.2.2

Beim ursprünglichen Konzept des EIF wurde berücksichtigt, dass eine Einheitswährung die Mitgliedstaaten der Möglichkeit berauben würde, die Zahlungsbilanz im Zuge einer Abwertung anzupassen, und es gab keine politische Unterstützung für Fiskaltransfers in der im MacDougall-Bericht (14) empfohlenen Größenordnung. Aber in diesem Bericht wurde mit Verweis auf den New Deal auch anerkannt, dass europäische Anleihen zur Finanzierung von struktur-, sozial- und regionalpolitischen Maßnahmen beitragen könnten, was das Ziel des Spaak-Berichts über den Gemeinsamen Markt war (15). Dies stand auch im Einklang mit den Zielen des MacDougall-Berichts bezüglich struktureller und zyklischer beschäftigungs- und regionalpolitischer Maßnahmen zur Minderung der Unterschiede zwischen den Regionen in puncto Kapitalausstattung und Produktivität.

5.3   Die Konzeption des EIF und Risikokapital

5.3.1

Die Empfehlung von 1993, der EIF solle kleine und mittlere Unternehmen unterstützen, bezog sich nicht nur auf Kapitalbürgschaften oder Kredite für KMU, sondern auch auf einen mit bis zu 60 Mrd. ECU ausgestatteten Europäischen Risikokapitalfonds mit der besonderen Aufgabe, Unternehmensgründungen im Hochtechnologie-Bereich zu finanzieren.

5.3.2

Diese mittels EU-Anleihen finanzierten Investitionen würden über mehrere Jahre laufen, hätten aber gesamtwirtschaftliches Potenzial. Eine solide Bewirtschaftung der Mittel in Zusammenarbeit mit nationalen Kreditinstituten und regionalen Entwicklungsbehörden, die sich mit lokalen KMU auskennen, sollte sicherstellen, dass die Anleihen über die Renditen des Beteiligungskapitals finanziert werden könnten, sobald dies der geschäftliche Erfolg dieser Unternehmen gestattet.

5.3.3

Ziel war es, den Mangel an privatem Risikokapital in Europa – im Unterschied zu den USA – wettzumachen. Außerdem sollte die Abhängigkeit von KMU von festverzinslichen Krediten – die Unternehmensgründungen, die sich noch nicht auf dem Markt etabliert haben, benachteiligen – gesenkt und dadurch Innovation und Wettbewerbsfähigkeit auf mikroökonomischer Ebene gestärkt werden, was sich auf der makroökonomischen und der sozialen Ebene positiv auswirkt.

5.3.4

Der Aufgabenbereich Risikokapital wurde nach der Einrichtung des EIF im Jahr 1994 gegenüber dem der Kreditbürgschaften vernachlässigt und führte zu dem Ergebnis, dass der EIF bis zu seiner Eingliederung in die EIB-Gruppe Bürgschaften für KMU über lediglich 1 Mrd. ECU übernommen hatte. Das ursprüngliche Konzept eines mikroökonomischen Instruments mit makroökonomischer Wirkung wurde erst im September 2008 wiederentdeckt, als auf der Sitzung des Rates (Wirtschaft und Finanzen) in Nizza 30 Mrd. EUR zur KMU-Unterstützung vorgesehen wurden, allerdings nach wie vor mittels Darlehen und nicht in Form von Beteiligungen.

5.3.5

Die Rolle des EIF bei der Bereitstellung von Risikokapital und nicht nur von Darlehen sollte im Lichte der Nettoemission von Eurobonds überdacht erwogen werden – als ergänzende Maßnahme bei der Umwandlung eines Teils nationaler Schulden in Schulden der Union.

5.4   Die EIB

5.4.1

Die EIB hat immer schon eigene Anleihen emittiert und hat sich eindeutig für die Bewahrung deren Identität, die sich von der der Eurobonds unterscheidet, ausgesprochen. Dieser Ansatz ist gerechtfertigt. Erstens legt die EIB ihre eigenen Anleihen vorwiegend zur Projektfinanzierung auf und möchte diese spezifische Identität wahren. Zweitens wurde angenommen, dass das Bedienen von Eurobonds Fiskaltransfers erforderlich macht, wobei die EIB ihre eigenen Anleihen jedoch mittels Einnahmen aus der Projektfinanzierung bedient. Drittens könnten Fiskaltransfers eine – wenig wahrscheinliche – Erhöhung der Eigenmittel der Kommission erforderlich machen. Die EIB war auch darüber besorgt, dass ihr eigenes Rating herabgestuft werden könnte, wenn sie in die Schuldenstabilisierung verwickelt wird.

5.5   Ergänzender Charakter von EIB und EIF

5.5.1

Diese Vorbehalte würden indes nicht für die Nettoemissionen von Eurobonds durch den EIF gelten. Wenngleich sie ein und derselben Gruppe angehören, sind EIB und EIF verschiedene Institutionen. EIF-Eurobonds würden sich sowohl von den EIB-Anleihen als auch von den von der EFSF gehaltenen Unionsanleihen zur Schuldenstabilisierung unterscheiden.

5.5.2

Von der EIF aufgelegte Eurobonds könnten von der EIB emittierte Anleihen für gemeinsame Projektfinanzierungen ergänzen. Die Schuldenbedienung der Anleihen könnte über die Einnahmen aus Investitionsprojekten anstatt durch Fiskaltransfers erfolgen. Die EIB würde die Kontrolle behalten, die Projekte wären von ihrer Zustimmung abhängig und würden von ihr geleitet, was ein einheitliches Projektmanagement gewährleisten würde.

5.5.3

Sollte das – durchaus wichtige – Engagement lokaler Partner erforderlich sein, könnte die EIB dies über die Zusammenarbeit beim Projektmanagement mit nationalen Kreditinstituten wie z.B. der Caisse des Depôts et Consignations, der Cassa Depositi e Prestiti oder der Kreditanstalt für Wiederaufbau erreichen.

5.6   Die Verwaltung der Anleihen durch die EIF

5.6.1

Der EIF würde einen neuen Geschäftsplan für die Steuerung der Emission frei handelbarer Anleihen, die in der ursprünglichen Zielsetzung der EIF eine zentrale Rolle spielten, benötigen. Dafür ist beruflich hoch qualifiziertes Personal erforderlich, das von der EIB rekrutiert und in Verbindung mit nationalen, für die Verwaltung der Schulden zuständigen Behörden bereitgestellt werden könnte. Da die Emissionen von Eurobonds schrittweise erfolgen würden, könnte das Team auch nach und nach aufgebaut werden.

5.6.2

Der Rat (Wirtschaft und Finanzen) ist das Leitungsgremium der EIB-Gruppe. Es wäre keine Überarbeitung der Verträge erforderlich, um die Emission von Eurobonds durch die EIF zu beschließen, wie dies auch nicht für die Einrichtung des EIF im Jahr 1994 erforderlich war.

5.7   Die Kriterien für ein Europäisches Konjunkturprogramm müssen nicht vom Rat (Wirtschaft und Finanzen) festgelegt werden und bedürfen auch keines Vorschlags der Kommission. Die EIB wurde vom Europäischen Rat im Rahmen des "Amsterdam-Sonderaktionsprogramms" und auf seinen Tagungen in Luxemburg 1997 und Lissabon 2000 mit den beiden Aufgabenbereichen "Zusammenarbeit" und "Konvergenz" betraut. Damit kann sie Investitionen in folgenden Bereichen vornehmen: Gesundheit, Bildung, Stadterneuerung, städtische Umwelt, grüne Technologien, finanzielle Unterstützung für KMU und Unternehmensgründungen im Hochtechnologie-Bereich sowie transeuropäische Verkehrs- und Kommunikationsnetze.

5.8   Seit 1997 hat die EIB ihre jährlichen Mittel für Investitionen erfolgreich vervierfacht, die nunmehr ein Niveau erreicht haben, das zwei Dritteln der Eigenmittel der Kommission entspricht. Würden diese Mittel bis 2020 – mithilfe einer Kofinanzierung durch Investitionen in Eurobonds von Zentralbanken und Staatsfonds Überschüsse erzielender Volkswirtschaften – erneut vervierfacht, könnte das Europäische Konjunkturprogramm konkrete Gestalt annehmen. Dies ist besonders deshalb zutreffend, da Investitionsmultiplikatoren erwiesenermaßen den Faktor 3 erreichen und deshalb ca. doppelt bis dreifach so hoch sind wie fiskalische Multiplikatoren (16).

Brüssel, den 23. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Europäische Kommission, Grünbuch über die Durchführbarkeit der Einführung von Stabilitätsanleihen vom 23. November 2011, COM(2011) 818 final.

(2)  Europäischer Rat, Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, 10. Januar 2012.

(3)  Es ist anzumerken, dass die in dieser Stellungnahme verwendete Definition von "Eurobonds" nicht genau der in anderen Quellen erarbeiteten Definition entspricht. Im Grünbuch der Kommission wird die Durchführbarkeit von "Stabilitätsanleihen" untersucht, ein Begriff, der mit den "Unionsanleihen" in dieser Stellungnahme verglichen werden kann – jedoch mit dem Unterschied, dass solche Bonds gesamtschuldnerische Bürgschaften benötigen würden. In anderen Beiträgen, wie z.B. von Lorenzo Bini Smaghi, wird der Begriff "Eurobonds" im gleichen Sinne des Erreichens von Stabilität verwendet. In dieser Stellungnahme indes beziehen sich "Eurobonds" auf die Nettoemission von Anleihen zur Erholung und Unterstützung der Konjunktur. Siehe außerdem: J. DELPLA und J. VON WEIZSÄCKER, The Blue Bond Proposal, in: Bruegel Policy Brief 2010/03; C.M. Schmidt u.a., Proposal for a European Redemption Pact, 9. November 2011, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

(4)  Diese Reformen sollten, wie im Monti-Bericht vorgeschlagen, von der Vollendung des Binnenmarkts ausgehen.

(5)  Holland, Stuart, The European Imperative: Economic and Social Cohesion in the 1990s, (Der europäische Imperativ: wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt in den 1990er Jahren), mit einem Vorwort von Jacques Delors, Nottingham (Spokesman Press) 1993.

(6)  Die privaten Besitzer von Anleihen hätten dadurch erhebliche Vorteile in Bezug auf Zahlungsausfälle, da einzelstaatliche Schuldtitel eins zu eins und zu den ursprünglichen Zinsraten in Unionsanleihen umgewandelt würden.

(7)  Die Mitgliedstaaten, die untereinander eine Verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen der nicht ausschließlichen Zuständigkeiten der Union begründen wollen, können, in den Grenzen und nach Maßgabe von Artikel 20 EUV und der Artikel 326 bis 334 AEUV, die Organe der Union in Anspruch nehmen und diese Zuständigkeiten unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Verträge ausüben. Eine Verstärkte Zusammenarbeit ist darauf ausgerichtet, die Verwirklichung der Ziele der Union zu fördern, ihre Interessen zu schützen und ihren Integrationsprozess zu stärken. Sie steht allen Mitgliedstaaten jederzeit offen. Der Beschluss über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit wird vom Rat als letztes Mittel erlassen, wenn dieser feststellt, dass die mit dieser Zusammenarbeit angestrebten Ziele von der Union in ihrer Gesamtheit nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraums verwirklicht werden können, und sofern an der Zusammenarbeit mindestens neun Mitgliedstaaten beteiligt sind. Der Rat beschließt nach dem in Artikel 329 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgesehenen Verfahren. An die im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte sind nur die an dieser Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten gebunden. Sie gelten nicht als Besitzstand, der von beitrittswilligen Staaten angenommen werden muss (Artikel 20 EUV). Alle Mitglieder des Rates können an dessen Beratungen teilnehmen, aber nur die Mitglieder des Rates, die die an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, nehmen an der Abstimmung teil (Artikel 330 AEUV).

(8)  Siehe Stellungnahme des EWSA zu dem "Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen", ABl. C 54 vom 19. Februar 2011, S. 37.

(9)  Bis zu Roosevelts zweiter Amtszeit gab es in den USA keine Defizitfinanzierung. Die Erholung von der Großen Depression wurde jedoch sowohl in seiner ersten als auch seiner zweiten Amtszeit hauptsächlich durch anleihefinanzierte Investitionen im Sozial- und Umweltbereich vorangetrieben, wie sie jetzt auch Europa für die Konjunkturbelebung einsetzen könnte.

(10)  Von Weizsäcker, J. und Delpla, J.: The Blue Bond Proposal, Institut Bruegel, Policy Brief 2010/03.

(11)  Privaten Besitzer von auf den Märkten nicht handelbaren Titeln könnten diese erforderlichenfalls zum Nennwert und bis zum Erreichen der vereinbarten Höchstgrenze an die EMS verkaufen.

(12)  Aus einer Meinungsumfrage Mitte der 1950er Jahre, bei der 2 000 Personen in Frankreich, Norwegen, Dänemark, den Niederlanden, Österreich und Italien befragt wurden, gaben 80% an, den Marshallplan zu kennen, und zwischen 25 % und 40 % hatten Kenntnisse über seine Funktionsweise.

(13)  Stuart Holland (1993), The European Imperative: Economic and Social Cohesion in the 1990s, a.a.O.

(14)  Zwischen 5-7% des BIP - Europäische Kommission, 1977. Bericht der Sachverständigengruppe zur Untersuchung der Rolle der öffentlichen Finanzen bei der Europäischen Integration.

(15)  Regierungsausschuss zur Europäischen Integration (1956), Bericht über den Gemeinsamen Markt (Spaak-Bericht).

(16)  J. Creel, P. Monperrus-Veroni und F. Saraceno (2007), "Has the Golden Rule of public finance made a difference in the United Kingdom?", in: Arbeitspapiere des "Observatoire Français des Conjonctures Économiques", 2007, Nr. 13.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/17


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Entwicklung eines bürgerorientierten und bürgernahen Ansatzes in der Binnenmarktpolitik“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 143/04

Berichterstatter: Jorge Pegado LIZ

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 20. Januar 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

"Entwicklung eines bürgerorientierten und bürgernahen Ansatzes in der Binnenmarktpolitik".

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 1. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 118 gegen 3 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

"Die Argumente, die für Europa sprechen, entwickeln sich ständig weiter. Europa ist ein Konzept, das an die Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten angepasst werden muss."

(José Manuel Barroso, Expresso, 19.11.2011)

1.   Einleitung

1.1   Zu einem Zeitpunkt, zu dem nach den Vorstellungen von Jacques Delors der große europäische Binnenmarkt ohne Barrieren und Hindernisse schon seit 20 Jahren verwirklicht sein sollte, ist es an der Zeit, dass sich die im EWSA vertretene organisierte Zivilgesellschaft fragt, was erreicht wurde und wohin der Weg führt.

1.2   Über den Binnenmarkt nachzudenken, heißt heute aber auch, das Modell des Projekts Europa in seiner Gesamtheit zu überdenken. Wir müssen uns fragen, ob das Europa, das sich einige erträumt hatten, das so viele im Laufe dieser 60 Jahre mit viel Engagement aufzubauen und andere nach und nach zu zerstören versuchten, auch noch im Jahr 2050 als Modell der Freiheit, Leuchtfeuer der Kultur, Vorkämpfer des Friedens, Beispiel der Brüderlichkeit der Völker und Verfechter der Gleichheit aller Menschen in einer Welt ohne Diskriminierung und ohne Grenzen Bestand haben wird. Diese Frage stellte sich unlängst EU-Kommissar Michel Barnier in seinem ausgezeichneten Vortrag in der Humboldt-Universität.

1.3   Dies gilt umso mehr in unsicheren Zeiten wie diesen, in denen sich Europa in einer systemischen und nicht bloß konjunkturellen Dauerkrise befindet, die nicht nur wirtschaftlicher und finanzieller, sondern auch sozialer und kultureller Art ist und für die sich nach Ansicht der im EWSA vertretenen Interessenträger bisher keine tragfähigen Lösungen abzeichnen.

1.4   Die EU steckt in einer Arbeitsmarktkrise. Es ist mittlerweile so, dass Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern keine Arbeitsplätze mehr garantieren kann. Dieses Problem können wir nur durch die Schaffung von Wachstum bewältigen und das Hauptinstrument muss dabei die Vollendung des Binnenmarktes sein.

1.5   Die organisierte Zivilgesellschaft fragt sich daher zu Recht, ob mit dem aus dem Vertrag von Lissabon entstandenen heutigen institutionellen Modell der EU die Krise zu bewältigen ist. Sie bezweifelt, dass sich das aktuelle Wirtschafts- und Sozialmodell wirksam und angemessen selbst regulieren kann, und stellt konsterniert fest, dass es keine kohärenten und wirksamen regulatorischen Maßnahmen, sondern immer mehr vereinzelte, widersprüchliche Beschlüsse von Einzelnen gibt. Sie fragt sich, wie angesichts der sukzessiven "Crashs" der Börsen und der damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Schäden eine wirksamere und strengere Kontrolle des Finanzsystems erreicht werden kann. Sie befürchtet, dass die tiefer liegenden Symptome der Krise angesichts einer drohenden globalen Rezession auf einen Kollaps des bestehenden europäischen Modells hindeuten. Die Zivilgesellschaft ruft die heutigen europäischen Verantwortlichen daher dazu auf, den notwendigen Ehrgeiz und Weitblick zu zeigen, damit eine Erneuerung des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells gelingt, in dem die Werte und Grundprinzipien des Vertrages eingehalten werden.

1.6   Daher ist es als außerordentlich positiv zu bewerten, dass der Beratende EFTA-Ausschuss es für notwendig erachtete, parallel zur Ausarbeitung dieser Stellungnahme ebenfalls eine Stellungnahme zum gleichen Thema abzugeben, und dass in einer gemeinsamen Sitzung in Oslo einige Standpunkte abgeglichen werden konnten (1).

2.   Binnenmarkt: Merkmale und Hintergründe

2.1   Die Idee eines "gemeinsamen Marktes" war bereits im ursprünglichen EWG-Vertrag als Instrument für die harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten enthalten (Artikel 2). Von Beginn an wurde der Binnenmarkt nicht als isolierte Politik oder reine Freihandelszone aufgefasst, wie es die EFTA war, sondern vielmehr als Teil einer allgemeinen Strategie.

2.2   Damit waren die Grundzüge der Entwicklung der künftigen Binnenmarktpolitik festgeschrieben, die einige zu Recht als "das Juwel in der Krone" der europäischen Politik betrachteten, und deren "schrittweise" Verwirklichung für eine "Übergangszeit von zwölf Jahren" (Artikel 8) vorgesehen war, mit einer maximalen Dauer von 15 Jahren ab dem Datum des Inkrafttretens des Vertrages.

2.3   Trotz der für ihre Umsetzung vorgesehenen Instrumente überlagerte die politische, soziale und wirtschaftliche Realität die Ideen von 1957, und man musste feststellen, dass man nach Ablauf der 15 Jahre von den Zielen, die zur erfolgreichen Schaffung eines "gemeinsamen Marktes" geführt hätten, noch weit entfernt war.

2.4   In dem Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes von 1985 wurden präzise Vorgaben zur Erreichung dieses Ziels bis 1992 festgelegt. Gleichzeitig kam der Wunsch auf, die Römischen Verträge dahingehend zu ändern, dass die politischen Ziele des Weißbuchs leichter umzusetzen wären. Dies war der Ursprung der Einheitlichen Europäischen Akte (2), die in dem Teil, der sich auf den Binnenmarkt bezieht, bedeutende Veränderungen einleitet, u.a.:

a)

die Regel der qualifizierten Mehrheit statt Einstimmigkeit bei der Verabschiedung der Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften zwecks Verwirklichung des Binnenmarktes (Artikel 8a und Artikel 100a);

b)

der erstmalige Hinweis auf ein hohes Schutzniveau im Zusammenhang mit Maßnahmen in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz (Artikel 100a Absatz 3);

c)

die generelle Festschreibung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung nach dem Vorbild des wohlbekannten "Cassis de Dijon"-Urteil des Gerichtshofs (Artikel 100b);

d)

eine klare Forderung nach wirtschaftlichem und sozialem Zusammenhalt als wesentlichem Ziel, das bei der Errichtung des Binnenmarktes zu berücksichtigen ist (Artikel 130a und Artikel 130b).

2.5   Konsistenz gewannen die neuen Bestimmungen zur Verwirklichung des Binnenmarktes allerdings erst 1992 mit dem Vertrag von Maastricht über die Europäische Union (3), als bereits offensichtlich war, dass die Frist 1992 für die Vollendung des Binnenmarktes bei Weitem nicht eingehalten wurde (4).

2.6   Ganz im Gegenteil: In den meisten Mitgliedstaaten wurde eine Zunahme der rechtlichen und sonstigen Hindernisse festgestellt, was, in Verbindung mit der liberalen und permissiven Politik der Kommission, den Prozess der Verwirklichung des Binnenmarktes in einigen besonders relevanten Bereichen, insbesondere im Dienstleistungsbereich, praktisch lahmlegte.

2.7   Viele der Initiativen zur Verwirklichung des Binnenmarktes führten tatsächlich zu einer reinen Anhäufung von vereinzelten, schlecht koordinierten und von einer gemeinsamen Politik losgelösten Maßnahmen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften. Diese wiederum konterkarierten die Mitgliedstaaten häufig mit einer wettbewerbsbehindernden nationalen Politik, beispielsweise durch die Gewährung illegaler Staatshilfen, die Einführung neuer mengenmäßiger Beschränkungen oder sonstiger Restriktionen oder durch die systematische Ablehnung von Fortschritten in wesentlichen Bereichen wie der industriellen Integration, dem Steuerwesen oder der Ordnungspolitik.

2.8   Selbst die Wirksamkeit von offensichtlich erfolgreich durchgeführten und allgemein begrüßten Initiativen wie die Unterzeichnung des Schengener Abkommens, die Einführung des Euro, die jüngste Vergemeinschaftung eines Raums der Freiheit und des Rechts und die Aufnahme der Grundrechtecharta der EU in die endgültige Fassung des Vertrags von Lissabon wurde durch die Nichtteilnahme einiger Mitgliedstaaten und die Vorbehalte anderer eingeschränkt. Auch ihre Reichweite und ihre Anwendung wurden begrenzt, wenn ihnen nicht sogar frontal entgegen gearbeitet wurde. Dass sie nicht von anderen wesentlichen komplementären Maßnahmen wie einer tatsächlichen europäischen Finanzpolitik begleitet wurden, war ausschlaggebend dafür, dass Europa nicht in der Lage ist, die aktuelle Krise zu meistern, die es an den "Rand des Abgrunds" gebracht hat, wie Jacques Delors am 18. August 2011 im Interview mit den Zeitungen "Le Soir" und "Le Temps" erklärte.

2.9   Der EWSA macht schon seit Langem darauf aufmerksam, dass ein klarer Paradigmenwechsel notwendig ist, der die Qualität bei der Verwirklichung des Binnenmarktes in den Vordergrund rückt. Zentrales Anliegen müssen die konkreten Interessen und die Grundrechte der Bürger im Allgemeinen und der Verbraucher und Arbeitnehmer im Besonderen sein, wobei die sozialen und die wirtschaftlichen Aspekte gleichberechtigt zum Tragen kommen im Rahmen eines am Menschen orientierten Ansatzes als Kontrapunkt zum bisher rein ökonomistischen Ansatz, der für die Einschränkungen, die Zurückhaltung, das Zögern und das Misstrauen verantwortlich ist (5).

2.10   Als der derzeitige Präsident der Kommission zu Beginn seiner zweiten Amtszeit seine neue Vision des Binnenmarktes für das 21. Jahrhundert (6) im Anschluss an eine frühere Mitteilung zum Thema "Eine bürgernahe Agenda: konkrete Ergebnisse für Europa" (7) vorstellte, wurde natürlich erwartungsvoll vermerkt, dass die Kommission anscheinend für eine grundlegende Neuausrichtung ihrer Binnenmarktpolitik zum letztendlichen Nutzen der Bürger und Verbraucher eintrat. Als wichtigste Ziele für den Binnenmarkt, der nicht mehr als Gegenstand einer isolierten Politik, sondern als Teil einer umfassenden Strategie – dem Vorläufer der späteren Europa-2020-Strategie – betrachtet wurde, nannte die Kommission die Stärkung des Verbrauchervertrauens, die Förderung der wirtschaftlichen Integration und des sozialen Zusammenhalts sowie die Entwicklung der Wissensgesellschaft in einem nachhaltigen Europa in einer globalisierten Welt. Grundlegendes Instrument dieses Ansatzes war eine immer bessere Rechtsetzung in einem "sanierten" und vereinfachten Regelungsumfeld (8).

2.11   Zur Konsolidierung ihrer Neuausrichtung beauftragte die Kommission den ehemaligen EU-Kommissar Mario Monti mit einer wichtigen Studie, die im Mai 2010 vorgelegt wurde (9); zur gleichen Zeit hatte auch der Rat eine aus renommierten Persönlichkeiten bestehende "Reflexionsgruppe", der Mario Monti ebenfalls angehörte, unter dem Vorsitz des spanischen Ex-Premierministers Felipe Gonzalez mit einem Bericht zu den Perspektiven Europas bis 2030 beauftragt (10); das EP seinerseits hatte (ebenfalls im Mai 2010) den Grech-Bericht vorgelegt, der die Grundlage für seine Entschließung zur "Schaffung eines Binnenmarktes für Verbraucher und Bürger" (11) vom 20. Mai bildete.

2.12   Im Wesentlichen wird in all diesen wichtigen Dokumenten auf die Notwendigkeit eines grundlegenden Paradigmenwechsels bei der Festlegung und Umsetzung der politischen Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarktes aufmerksam gemacht, das gegenwärtige Modell als überholt betrachtet und darauf hingewiesen, dass die erzielten Ergebnisse – trotz wichtiger Fortschritte in einigen Bereichen – generell kaum bekannt und für Europa, das sich unerwarteten Herausforderungen und düsteren Aussichten gegenübersieht, in verschiedenerlei Hinsicht unzureichend und enttäuschend sind.

2.13   Diese Bemerkungen und Schlussfolgerungen werden im Übrigen umfassend dokumentiert durch regelmäßige "Binnenmarktanzeiger" (12), detaillierte periodische Eurobarometer-Erhebungen in den Mitgliedstaaten zu der Meinung und zu den Erfahrungen der Bürger und Unternehmen bezüglich des Binnenmarktes, durch ebensolche "Anzeiger" betreffend die Verbraucher im Binnenmarkt (13) sowie Jahresberichte der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts im Allgemeinen (14) und den Stand der Durchsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz im Besonderen (15); die in den angeführten Dokumenten geäußerten Bedenken und Zweifel werden bei korrekter Interpretation, sachkundiger Analyse und kritischer Bewertung der Dokumente voll und ganz bestätigt.

2.14   Wenn man sich jedoch von der Kommission eine echte Neuausrichtung der Binnenmarktpolitik erhoffte, die unter Berücksichtigung all dieser Schlussfolgerungen und im Rahmen der gegenwärtigen Finanzkrise einen echten neuen und veränderten Ausblick auf den Binnenmarkt für das 21. Jahrhundert entwickelt und den durch eine ganze Reihe von Erklärungen auf höchster politischer Ebene geweckten Erwartungen gerecht wird, musste man enttäuscht feststellen, dass das Dokument "Für eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft" trotz zugegebenermaßen zahlreicher Verdienste dennoch auch nur eine weitere Auflistung 50 isolierter Maßnahmen ohne eine genau umrissene strategische Linie war (16), deren Schwächen und Mängel in der Entschließung des EP vom 6. April 2011 klar aufgezeigt wurden (17).

2.15   Mit der jüngsten Kommissionsmitteilung zu einer Auswahl von 12 "Hebeln" wurde diese Lücke nicht geschlossen. Es wurde nicht wirklich deutlich, was als roter Faden der grundlegenden politischen Ausrichtung für die Verwirklichung des Binnenmarktes bei der taktischen Entscheidung zugrunde gelegt wurde, genau diese 12 sogenannten "Hebel" und nicht irgendwelche anderen auszuwählen, wie z.B. diejenigen, die der EWSA in seiner diesbezüglichen Stellungnahme angeführt hatte (18).

2.16   In einigen jüngeren Verlautbarungen, insbesondere des Kommissionspräsidenten und von EU-Kommissar Michel Barnier, sowie in dem mittlerweile vorgelegten Arbeitsprogramm (19) der Kommission scheint sich zu bestätigen, dass ein effektiver Paradigmenwechsel bei der künftigen Verwirklichung des Binnenmarktes vorgesehen ist. In dieselbe Richtung gehen auch die Erklärung von Krakau (20) und die Erklärung des europäischen Lenkungsausschusses der Denkfabrik Notre Europe.

3.   Ein neues Paradigma für die Verwirklichung des Binnenmarktes

3.1   Es muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass im Bereich der EU-Politik, wie sie aus den Grundprinzipien des Vertrags von Lissabon hervorgeht, die Verwirklichung eines Binnenmarktes kein Selbstzweck ist, sondern ein Mittel, ein Instrument zur Verwirklichung einer ganzen Reihe politischer Ziele in unterschiedlichen Bereichen (21).

3.2   Wichtig ist außerdem, dass diese Ziele gleichzeitig und gleichgewichtet wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Natur sind und dass sie alle letztendlich dem Zweck dienen, das Wohlergehen der Völker zu sichern und die Werte der Achtung der Menschenwürde, Gleichheit, Freiheit, Solidarität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte zu fördern (Artikel 2 und 3 EUV) (22).

3.3   Folglich sind die Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarktes, dessen Ziele heute rechtlich gesehen erheblich weitreichender sind, als sie es 1957 waren, im Lichte dieser Grundsätze, Werte und Ziele zu betrachten.

3.4   Der Binnenmarkt, der anfänglich klar als der wirtschaftliche Pfeiler eines föderalen Europas gesehen wurde, muss heute im Lichte der Entwicklung der vergangenen 30 Jahre und der Realität unserer Tage überdacht werden. Natürlich führen die derzeitigen Rahmenbedingungen dazu, dass der Binnenmarkt einer reinen Freihandelszone, wie dies seine Vorgängerin EFTA war, immer ähnlicher wird; für die Zukunft zeichnet er sich daher nicht als natürliche Folge eines politischen Projekts supranationaler Natur ab, sondern allenfalls als der kleinste gemeinsame Nenner der nationalen Interessen der europäischen Staaten.

3.5   Daher muss nochmals betont werden, dass der Binnenmarkt als Klammer für diese nationalen Interessen zu dienen hat, und zwar in einem voll integrierten institutionellen System der wirtschafts- und finanzpolitischen Steuerung, das kurzfristig neu definiert und konkretisiert werden muss.

3.6   Dazu braucht es vor allem eine realistische Sicht der Grenzen des Binnenmarktes selbst. Man darf nicht vorgeben, aus dem Binnenmarkt etwas zu machen, was er weder sein kann noch sein soll, indem man mit Gewalt häufig überflüssige und ungerechtfertigte Maßnahmen ergreift, die die Funktionsfähigkeit der Unternehmen, insbesondere der KMU, zu denen auch freie Berufe zählen, nur beeinträchtigen (23). Das Gleiche gilt für Maßnahmen, bei denen eine vollständige Harmonisierung nicht gerechtfertigt ist, weil Werte anderer Art wie z.B. Qualitätssicherung überwiegen, wie es insbesondere bei gewissen Themen im Bereich der Verbraucherrechte und des Verbraucherschutzes der Fall ist. Hier sollte die Maxime und das Credo ‧Stärke in Vielfalt‧ in der europäischen Binnenmarktpolitik neben dem Harmonisierungsaspekt auch wieder eine zentrale Rolle spielen.

3.7   Es wird unerlässlich sein, entschlossen, kompromisslos und unnachgiebig das Programm "Bessere Rechtsetzung" fortzusetzen, für das sich der EWSA stets aktiv eingesetzt hat (24). Dabei geht es nicht nur um die Erstellung von technisch einwandfreien Texten und die Abschaffung unnötiger und schädlicher bürokratischer Routinen, sondern im Wesentlichen um die Entwicklung eines proaktiven Ansatzes für die Ausarbeitung von Gesetzen und für die Verwaltungsverfahren unter effektiver Beteiligung der Zivilgesellschaft und beteiligter Wirtschaftskreise in allen Phasen der Konzeption und Definition. Insbesondere muss den Folgenabschätzungen (Ex-ante-Bewertungen) größere Bedeutung beigemessen werden und, wo dies ratsam ist, müssen zur Vereinheitlichung der Rechtsvorschriften systematischer Verordnungen anstelle von Richtlinien eingesetzt werden. Man muss aber auch den Mut haben, neue Instrumente auszuprobieren, die besser geeignet sind als die aktuelle Gesetzesflut, namentlich fakultative Regelungen, wann immer dies gebührend gerechtfertigt ist (25). Dieser Mut muss ebenso gefunden werden, um bei mangelnden Effizienzen und Vorteilen von gemeinschaftlichen Initiativen ganz abzusehen.

3.8   Genauso wichtig ist es, den gemeinschaftlichen Besitzstand und die Verwaltungsformalitäten  (26) zu überarbeiten, zu vereinfachen und zu kodifizieren und alles, was sich als unbrauchbar, überflüssig, kontraproduktiv oder sogar schädlich erweist, konsequent zu eliminieren (27). Dabei muss mit der notwendigen Sorgfalt vorgegangen werden, damit wesentliche Aspekte, die in relevanten Bereichen geregelt werden müssen, nicht durch mangelnde Koordination verworfen werden.

3.9   Regulieren ohne zu strangulieren sollte die Devise sein. Es reicht nicht, innovativ und schöpferisch zu sein. Die Vorschläge des ersten "Berichts der Gruppe unabhängiger Experten für die Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften" müssen wieder aufgegriffen werden, denn obwohl der Großteil dieser Vorschläge nicht umgesetzt wurde, sind sie noch immer aktuell und warten auf eine effektive Umsetzung (28).

3.10   Eine bedeutende Rolle kommt der Normierung oder Standardisierung nicht nur von Produkten, sondern auch von Dienstleistungen nach dem Modell des "neuen Konzepts" zu (29). Allerdings sollte auch hier eine genaue Analyse des Bedarfs, der Effizienzen und Effekte der erfolgenden Maßnahmen erfolgen, so dass bei Normung von Dienstleistungen eine Differenzierung zwischen Dienstleistungen für den Binnenmarkt sinnvoll ist.

3.11   Zudem muss das Binnenmarktinformationssystem (IMI) wieder in Schwung gebracht und ausgebaut werden, wobei nach den Vorschlägen und Empfehlungen, die der EWSA bei verschiedenen Gelegenheiten zum Ausdruck bringen konnte (30), der Wirkungsbereich auszuweiten und die Funktionsweise der Verwaltungszusammenarbeit zu verbessern wären. Gleichermaßen müsste das SOLVIT-Netz überarbeitet und mit einem neuen Rahmen und adäquaten Mitteln ausgestattet werden.

3.12   Es wäre auch wichtig, die Leitprinzipien für den Aufbau des Binnenmarktes, insbesondere die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung (31), der Subsidiarität (32), der Verhältnismäßigkeit (33) und der Vorsorge zu überdenken, die bislang auf bestimmte Bereiche wie die Ernährungssicherheit beschränkt waren, jedoch zum allgemeinen Grundsatz erhoben werden müssen, sowie neue Konturen und neue Anwendungsformen zu definieren, die näher an den realen Interessen der Bürger liegen.

3.13   Klare Prioritäten sind gefragt. Das heißt allerdings nicht, mehr oder weniger willkürlich einige symbolische Maßnahmen auszuwählen. Vielmehr muss nach eindeutig definierten Kriterien einer klaren, leider für Europa noch nicht vorliegenden politischen Orientierung vorgegangen werden, die den Menschen absolute Priorität einräumt.

3.14   Einen besonderen Stellenwert unter diesen Prioritäten müssen der Dienstleistungssektor im Allgemeinen  (34) und die Finanzdienstleistungen für Privatkunden im Besonderen  (35) erhalten, wo der Rückstand bei der Verwirklichung des Binnenmarktes am deutlichsten ist. Gerade hier ist aber Innovation gefragt, und zwar sowohl bei den Maßnahmen als auch bei den einzusetzenden Instrumenten. Der EWSA fordert die Europäische Kommission insbesondere auf, die Umsetzung der ‧Dienstleistungsrichtlinie‧, die bisher als einzige EU-Rechtsvorschrift die Öffnung des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs vorsieht, zu überwachen und regelmäßig und transparent darüber zu berichten.

3.15   Ein Bereich, der besonders hervorgehoben werden muss, ist die praktische Vollendung des Binnenmarktes für den grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehr, und zwar wegen der sozioökonomischen Vorteile, die er für die europäischen Verbraucher hat, insbesondere für Verbraucher in abgelegenen Regionen oder Menschen mit Behinderungen. Wichtig ist dieser Binnenmarkt auch für die Unternehmen der EU, insbesondere die KMU, weil er effektiv eine ganze Reihe von Problemen und Fragen löst, die zwar weitestgehend bekannt sind, für die bisher aber weder Instrumente noch Mechanismen entwickelt wurden, mit denen das Vertrauen der Verbraucher gewonnen und deren Schutz gewährleistet sowie ein günstiges Umfeld für Unternehmen und Berufsstände geschaffen werden könnte (36).

3.16   Zu nennen sind insbesondere Fragen bezüglich der Fragmentierung des Marktes, der Disparität der Normen, der Unsicherheit beim Schutz der Privatsphäre und hinsichtlich der Vertraulichkeit der Daten, der Sicherheit von Transaktionen, des Rechtsschutzes im Falle von Konflikten, der Existenz von illegalen Online-Diensten, der Produktpiraterie und der Cyberkriminalität. Zur Definition eines kohärenten Rechtsrahmens für einen echten digitalen Binnenmarkt ist eine übergreifende Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Generaldirektionen der Kommission erforderlich.

3.17   Ein Bereich, der verstärkter Anstrengungen bedarf und in dem die EU bisher bedauerlicherweise keine überzeugenden Ergebnisse erzielt hat, ist die wirksame Durchsetzung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften. Sie ist der einzige Garant für die Einhaltung des Rechts und eine wirksame Regulierung (37) und geht über den engen Rahmen der reinen "Verwaltungszusammenarbeit" hinaus (38). Für die europäischen Bürger ist es hier von entscheidender Bedeutung, dass das Recht auf Sammelklage auf europäischer Ebene eindeutig und ohne weitere Verzögerungen verankert wird, um als letztes Mittel eine Verletzung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften angemessen ahnden und so die freiwillige Einhaltung fördern zu können (39).

3.18   Am wichtigsten ist jedoch, Parameter für einen Binnenmarkt zu bestimmen, der den Menschen und Bürger in den Mittelpunkt stellt. Diese Aufgabe darf nicht irgendwelchen mehr oder weniger kompetenten Fachleuten anvertraut werden. Vielmehr muss die Initiative direkt von den Bürgern und der Zivilgesellschaft ausgehen, damit deren Anliegen und Forderungen, Frustrationen und Enttäuschungen Gehör finden.

3.19   Zwar muss dringend gehandelt werden, aber dies darf nicht auf unkoordinierte oder rein impulsive Weise geschehen. Der EWSA empfiehlt daher zum 20. Jahrestag des Vertrags über die Europäische Union von 1992 eine Phase des Nachdenkens. Als Beitrag möchte er einige der Parameter beleuchten, die ihm im Rahmen einer solchen Reflexion wesentlich erscheinen.

3.19.1

Zu thematisieren wäre in erster Linie die klare Unterordnung der Binnenmarktpolitik unter die Grundprinzipien und wesentlichen Ziele der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere unter jene, die in den Titeln IV und V behandelt werden und für die Stärkung der sozialen Dimension und der Verbraucherrechte besonders wichtig sind (40).

3.19.2

Eine weitere Frage ist, wie sektorspezifische politische Maßnahmen unter einem gemeinsamen strategischen Ziel gebündelt werden können. Mit anderen Worten: Wie können die Wirtschafts-, Industrie-, Handels-, Verkehrs-, Energie-, Umwelt-, Verbraucher- und Wettbewerbspolitik in einem umfassenden Rechtsrahmen zusammengefasst werden, der die Integration fördert und das Vertrauen der sozialen und gesellschaftlichen Gruppen (Verbraucher, Familien, Arbeitnehmer, Unternehmen, NGO etc.) stärkt. Dies würde eine Neubewertung und neue Impulse für die Europa-2020-Strategie erfordern.

3.19.3

Nachgedacht werden muss auch über die Art und Weise, wie die Freizügigkeit und die Mobilität der Bürger im Allgemeinen und der Arbeitnehmer im Besonderen gesichert und ausgebaut werden können, ganz gleich, ob es sich um unselbständig Beschäftigte oder Freiberufler, Lehrende oder Studierende handelt. Ihre sozialen Rechte (Sozialversicherung, Rechtsschutz, Unfall- und Krankenversicherung, Altersversorgung etc.) müssen dabei unter allen Umständen diskriminierungsfrei gewährleistet und die Anerkennung von Befähigungsnachweisen und Abschlüssen überarbeitet werden. Hierbei müssen hohe Qualitätsanforderungen zur Sicherheit und Gesundheit der Verbraucher in der EU die Maßgabe sein.

3.19.4

Zur Förderung der sozialen Inklusion und der Beschäftigung bedarf es einer Reflexion über die effektive Öffnung der Arbeitsmärkte für alle europäischen Bürger. Restriktionen und ungerechtfertigte Diskriminierung müssen nach sorgfältiger Prüfung abgeschafft werden.

3.19.5

Ein weiterer Aspekt, der eine genauere Reflexion verdient, ist die überfällige Schaffung eines geeigneten Rechtsrahmens für die Unternehmen der Sozialwirtschaft im Allgemeinen und für Stiftungen, europäische Gegenseitigkeitsgesellschaften und Verbände im Besonderen.

3.19.6

Gleichermaßen wäre eine Reflexion über die Schaffung eines klaren Rechtsrahmens für die Dienste von allgemeinem Interesse, insbesondere die Sozialdienste, dringend notwendig. Es gilt, Qualitätskriterien für die wesentlichen öffentlichen Dienste festzulegen und die einschlägigen Regeln für das öffentliche Auftragswesen, den Wettbewerb und für staatliche Beihilfen zu klären (41).

3.20   Schließlich müssen im weiter gefassten Rahmen einer kohärenten und integrierten Kommunikationspolitik für Europa Mittel und Anstrengungen für eine effektive Kommunikationspolitik für den Binnenmarkt gebündelt werden – eine Politik, welche die Bürger einbezieht und die öffentliche Meinung und die europäischen Medien gebührend berücksichtigt, sodass durch den innovativen Einsatz der digitalen Medien die europäischen Bürger und insbesondere die Verbraucher richtig informiert werden (42).

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe gemeinsame Schlussfolgerungen des Beratenden EFTA-Ausschusses und der Binnenmarktbeobachtungsstelle des EWSA: http://www.eesc.europa.eu/?i=portal.en.smo-observatory-smo-spotlight.21343.

(2)  ABl. L 169 vom 29.6.1987.

(3)  ABl. C 191 vom 29.7.1992, was als Nachahmung des Spinelli-Projekts gewertet werden sollte in dem Versuch, die Zustimmung sowohl der Föderalisten als auch deren Gegnern zu gewinnen.

(4)  Mitteilung der Kommission "Der Binnenmarkt der Gemeinschaft nach 1992 - Folgemaßnahmen zum Sutherland-Bericht" (SEC(92) 2277 final vom 2.12.1992) und Stellungnahme des EWSA (ABl. C 201 vom 26.7.1993, S. 59), deren Schlussfolgerungen noch heute aktuell sind und Aufmerksamkeit verdienen.

(5)  Siehe hierzu u.a. die wichtigen Stellungnahmen des EWSA: ABl. C 39 vom 12.2.1996, S. 70, ABl. C 255 vom 14.10.2005, S. 22, ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 1, ABl. C 347 vom 18.12.2010, S. 8, ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 68 und den Informationsbericht "Die Auswirkungen des Vertrags von Lissabon auf die Funktionsweise des Binnenmarkts".

(6)  Mitteilung "Ein Binnenmarkt für die Bürger" (COM(2007) 60 final vom 21.2.2007).

(7)  COM(2006) 211 final vom 10.5.2006.

(8)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 15.

(9)  "Eine neue Strategie für den Binnenmarkt im Dienste der Wirtschaft und Gesellschaft Europas".

(10)  "Projekt Europa 2030 – Herausforderungen und Chancen", ebenfalls im Mai 2010 veröffentlicht.

(11)  Entschließung des EP A7-0132/2010.

(12)  SEC(2011) 372 final vom 21.3.2011.

(13)  SEC(2011) 299 final vom 4.3.2011, dessen Feststellungen im Übrigen durch das Eurobarometer-Spezial "E-Communications Haushaltsumfrage" vom Juli 2011 umfassend bestätigt werden.

(14)  COM(2010) 538 final vom 1.10.2010.

(15)  ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 100.

(16)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 47.

(17)  Dok. A7-0072/2011 auf der Grundlage des Berichts des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz zum "Binnenmarkt für die europäischen Bürger" (2010/2278 (INI). PE 456.691v02-00 vom 24.3.2011), Berichterstatter: António Fernando Correia de Campos.

(18)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 99.

(19)  COM(2011) 777 final vom 15.11.2011.

(20)  Im Anschluss an die begrüßenswerte Veranstaltung des Binnenmarktforums am 3./4. Oktober 2011.

(21)  ABl. C 93 vom 27.4.2007, S. 25.

(22)  ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 1.

(23)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 51.

(24)  ABl. C 24 vom 31.1.2006, S. 39, ABl. C 175 vom 27.7.2007, S. 21, ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 107.

(25)  ABl. C 24 vom 31.1.2006, S. 52, ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 26, ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 26.

(26)  Unter Rückgriff auf den Ansatz der Kommissionsmitteilung "Aktualisierung und Vereinfachung des Acquis communautaire" (COM(2003) 71 final vom 11.2.2003), der vom EWSA klar befürwortet wurde (ABl. C 112 vom 30.4.2004, S. 4) und nach dieser Stellungnahme anscheinend in Vergessenheit geraten ist.

(27)  Siehe Stellungnahmen ABl. C 14 vom 16.1.2001, S. 1, ABl. C 125 vom 27.5.2002, S. 105, ABl. C 133 vom 6.6.2003, S. 5, ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 18, ABl. C 10 vom 15.1.2008, S. 8.

(28)  COM(95) 288 final vom 21.6.1995.

(29)  Siehe Stellungnahmen ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 1, ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 69 und ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 35.

(30)  Siehe ABl. C 43 vom 15.2.2012, S. 14, sowie die anderen hier angeführten früheren Stellungnahmen.

(31)  Wiederaufzunehmen sind insbesondere die Berichte der Kommission über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, die mit der Kommissionsmitteilung vom 16.6.1999 (COM(99) 299 final) aufgenommen, später jedoch aufgegeben wurden. Siehe Stellungnahme ABl. C 116 vom 20.4.2001, S. 14.

(32)  Unter Rückgriff auf den Molitor-Bericht, um ihn vom Makel des "einen Schritt vorwärts und zwei zurück" zu befreien, der ihm aufgrund seiner ungeschickten Umsetzung durch die Kommission zu unrecht zum Vorwurf gemacht wurde (vgl. Alexis Feral "Le principe de subsidiarité, progrés ou statu quo après le Traité d’Amsterdam?", in Revue du Marché Unique Européen, I, 1998, S. 95), und ihn zu einer echten "Herausforderung zum Wandel" nach den Vorstellungen von Jacques Delors zu machen.

(33)  Dabei werden die verschiedenen Stellungnahmen des EWSA zu den Jahresberichten der Kommission gemäß Artikel 9 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden müssen.

(34)  Siehe Stellungnahmen ABl. C 221 vom 8.9.2005, S. 113, ABl. C 175 vom 27.7.2007, S. 14, ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 109.

(35)  Siehe Stellungnahmen ABl. C 56 vom 24.2.1997, S. 76, ABl. C 95 vom 30.3.1998, S. 72, ABl. C 209 vom 22.7.1999, S. 35, ABl. C 157 vom 28.6.2005, S. 1, ABl. C 302 vom 7.12.2004, S. 12, ABl. C 221 vom 8.9.2005, S. 126, ABl. C 65 vom 17.3.2006, S. 113, ABl. C 65 vom 17.3.2006, S. 134, ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 26, ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 51, ABl. C 115 vom 16.5.2006, S. 61, ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 84, ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 18, ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 22, ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 62, ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 66, ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 30, ABl. C 318 vom 29.10.2011, S 133.

(36)  Trotz der Mitteilung der Kommission vom 22.10.2009 über den grenzüberschreitenden elektronischen Handelsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern in der EU (COM(2009) 557 final).

(37)  Siehe Stellungnahmen ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 67, ABl. C 18 vom 19.01.2011, S. 95.

(38)  ABl. C 128 vom 18.05.2010, S. 103.

(39)  Der EWSA gilt zu Recht als Verfechter der Sammelklage, hat er doch dazu verschiedene Stellungnahmen abgegeben, insbesondere: ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 1, ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 1, ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 1, ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 40, ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 97.

(40)  Besonders berücksichtigt und in letzter Konsequenz durchdacht werden müssen die Feststellungen laut dem Bericht der Kommission über die "Fortschritte auf dem Weg zu einer effektiven Unionsbürgerschaft 2007-2010" (KOM(2010) 602 endg. vom 27.10.2010 sowie dem gleichzeitig vorgelegten "Bericht über die Unionsbürgerschaft 2010 - Weniger Hindernisse für die Ausübung von Unionsbürgerrechten" (COM(2010) 603 final vom 27.10.2010).

(41)  Siehe Stellungnahme ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 80.

(42)  Siehe Sondierungsstellungnahme ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 152 und Initiativstellungnahme ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 62.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/23


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Soziale Auswirkungen der neuen Vorschriften für die wirtschaftspolitische Steuerung“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 143/05

Berichterstatterin: Gabriele BISCHOFF

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2011, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

"Soziale Auswirkungen der neuen Vorschriften für die wirtschaftspolitische Steuerung" (Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. Januar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 232 gegen 8 Stimmen bei 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Europa muss mit einer Stimme sprechen, schneller und weniger zögerlich handeln und die richtigen Rezepte verfolgen, um der schwersten Finanz-, Wirtschafts- und Vertrauenskrise seit Bestehen der EU überzeugend entgegenzutreten.

1.2   Der EWSA begrüßt den Ansatz der Regierungen, die Geburtsfehler der Eurozone zu korrigieren und Elemente einer neuen Architektur für eine europäische Wirtschaftsregierung auf den Weg zu bringen. Dies ist notwendig, weil die bisherigen Instrumente und Verfahren nicht zu dem gewünschten Abbau der Verschuldung und der makroökonomischen Ungleichgewichte geführt haben. Allerdings muss die neue Architektur der wirtschaftspolitischen Steuerung Europas die demokratischen Rechte der Mitgliedstaaten und ihrer frei gewählten Parlamente ebenso wahren wie die Autonomie der Sozialpartner und ihre Tarifverhandlungsfreiheit.

1.3   Bei der Steuerung steht zwar die Wirtschaftspolitik im Vordergrund, doch wird sie sich vor allem auf Sozialsysteme auswirken, indem sie die Mitgliedstaaten durch die Drohung mit (halb-)automatischen Strafen zu bestimmten Reformen zwingt. Der EWSA empfiehlt eine intelligente und nachhaltige Haushaltskonsolidierung, die die notwendigen sozialen Investitionen sicherstellt, damit soziale Asymmetrien vermieden werden.

1.4   Einige der bereits durchgeführten oder geplanten Sparmaßnahmen werden negative Folgen beispielsweise für die Menschen und Unternehmen haben, wenn Leistungen sozialer Dienste oder arbeitsmarktpolitische Maßnahmen für schutzbedürftige Gruppen eingeschränkt und notwendige soziale Infrastruktur beispielsweise zur Kinderbetreuung oder Ausbildung gestrichen werden. Dies wird sich nachteilig auf den Zugang zu Dienstleistungen und deren Qualität auswirken und so die Lebensqualität schutzbedürftiger Gruppen ernstlich beeinträchtigen.

1.5   Der EWSA weist auf inhärente Zielkonflikte zwischen der Europa-2020-Strategie und der wirtschaftspolitischen Steuerung Europas hin. Die Umsetzung des Europäischen Semesters und des "Sixpacks" darf die Ziele z.B. zur Armutsreduzierung im Rahmen der Europa-2020-Strategie nicht unterlaufen, alle Maßnahmen müssen daraufhin geprüft werden, ob sie die Armut vergrößern.

1.6   Der EWSA bekräftigt, dass Abschätzungen der sozialen Folgen der neuen Vorschriften für die wirtschaftspolitische Steuerung dringend notwendig sind, und fordert insbesondere

1)

einen "sozialen Investitionspakt";

2)

rechtzeitige und umfassende Beteiligung repräsentativer Organisationen der Zivilgesellschaft, insbesondere der Sozialpartner aufgrund ihrer besonderen Aufgaben und Zuständigkeiten, an allen Maßnahmen;

3)

die Einberufung eines Konvents für ein auf sozialen Fortschritt ausgerichtetes Konzept bei den anstehenden Vertragsänderungen;

4)

einen "sozialen Rettungsschirm" durch gleichwertige "sozialere Ausrichtung" (social governance);

5)

die Absicherung und Förderung der Tarifautonomie der Sozialpartner;

6)

die Erschließung neuer Einnahmequellen für die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte;

7)

die Steigerung der Effizienz sowie der Treffsicherheit öffentlicher Ausgaben und die stärkere Bekämpfung der Steuerflucht.

2.   Eine neue Architektur zur Krisenbewältigung

2.1   Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die soziale Dimension Europas bekräftigt, die soziale Marktwirtschaft als Ziel verankert, die sozialen Grundrechte rechtsverbindlich und soziale Folgenabschätzungen für alle EU-Vorhaben und Initiativen verbindlich vorgeschrieben. Der EWSA betont seit langem, dass eine soziale Marktwirtschaft in Europa Wettbewerbsfähigkeit mit sozialer Gerechtigkeit verbinden muss. Wirtschaftliche Dynamik und sozialer Fortschritt sind dabei keine Gegensätze, sondern greifen ineinander (1).

2.2   Der EWSA hat begrüßt, dass sich die EU mit ihrer neuen Europa-2020-Strategie darauf verständigt hat, intelligentes, nachhaltiges und inklusives Wachstum zu schaffen.

2.3   Die Europäische Union befindet sich inzwischen in der schwersten Krise seit ihrem Bestehen. Die Finanzkrise entwickelte sich in vielen Ländern zu einer tiefgreifenden Wirtschafts-, Schulden- und Sozialkrise. Darüber hinaus haben wir es mit einer Handlungs- und Vertrauenskrise der europäischen Institutionen zu tun. Europa muss mit einer Stimme sprechen, schneller und weniger zögerlich handeln und die richtigen Rezepte verfolgen.

2.3.1   Sparprogramme und Rettungsschirme stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit, die nötigen Maßnahmen für eine bessere wirtschaftspolitische Steuerung (economic governance) und mehr Wachstum bleiben bruchstückhaft und wenig transparent, eine Debatte über das Für und Wider einer vertieften Integration bleibt aus.

2.3.2   Zunehmend werden Bedenken geäußert, dass sich diese Vertrauenskrise zu einer Krise der Demokratie entwickelt, insbesondere unter der Befürchtung von Sanktionen. Der EWSA unterstreicht, dass die direkt gewählten nationalen Parlamente gemäß ihren Kompetenzen und Verantwortlichkeiten über Haushalte und Zusammensetzungen der Regierungen frei bestimmen können müssen.

2.3.3   Der EWSA hat bereits in mehreren Stellungnahmen betont, dass diese Krise zu einer besonderen Belastungsprobe für Europa geworden ist. Die Sparpolitik ruft in vielen Ländern soziale Unruhen hervor und befördert anti-europäische bzw. nationalistische Ressentiments.

2.4   Die EU-Politik und die nationalen Regierungen reagierten auf die sogenannte Schuldenkrise, die u.a. aufgrund der massiven Deregulierung der Finanzmärkte als Folge der Finanzkrise in den letzten Jahren entstanden ist, mit forcierten Sparprogrammen und versuchten so, die Finanzmärkte zu beruhigen. Der Ausschuss hat bereits mehrfach begrüßt, dass die Europäische Kommission trotz vieler Widerstände Vorschläge zu einer Finanztransaktionssteuer und zu Stabilitätsbonds vorgelegt hat (2).

2.5   Gleichzeitig wurde versucht, einige der Geburtsfehler der Eurozone zu korrigieren und Elemente einer neuen Architektur für eine europäische Wirtschaftsregierung auf den Weg zu bringen. Zukünftig sollen damit eine bessere Koordinierung der Wirtschaftspolitik, eine strikte Haushaltspolitik und -kontrolle sowie eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit erzielt werden (3). Im Herbst 2011 stimmte das Europäische Parlament fünf Verordnungen und einer Richtlinie zur Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung Europas ("Sixpack") zu.

2.5.1   Dieses Sechserpaket zur wirtschaftspolitischen Steuerung ruht auf drei Säulen:

Stärkung des bestehenden Stabilitäts- und Wachstumspakts: Durch das Defizitverfahren werden zusätzliche, wesentlich schärfere Vorschriften zur Haushaltskonsolidierung und Begrenzung der Staatsschulden eingeführt, aufgrund derer die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, ihre derzeitige Verschuldung unabhängig vom Konjunkturverlauf binnen 20 Jahren auf den im Vertrag von Maastricht festgelegten Grenzwert von 60 % zurückzufahren. Dies ist prozyklisch und gefährdet potenziell Wachstum und Beschäftigung.

Einführung eines "Verfahrens bei einem übermäßigen Ungleichgewicht": Dabei handelt es sich um einen vollkommen neuen politischen Ansatz auf EU-Ebene, durch den makroökonomische Ungleichgewichte, die die Stabilität der gemeinsamen Währung gefährden könnten, ermittelt und ausgeglichen werden sollen.

Durchsetzung des Stabilitätspakts und des "Verfahrens bei einem übermäßigen Ungleichgewicht" mit Sanktionen, die wirklich "spürbar" sind: EU-Empfehlungen zur Optimierung politischer Beschlüsse auf nationaler Ebene gibt es bereits seit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht. Vollkommen neu ist jedoch, dass diese Empfehlungen nun von nahezu automatischen Strafen für die Länder des Euroraums flankiert werden sollen. Erreicht werden soll dies durch die sogenannte umgekehrte Mehrheitsabstimmung, die zumindest fragwürdig ist, handelt es sich doch um ein völlig neues Verfahren, das bislang vom Vertrag nicht abgedeckt wird. Einfach ausgedrückt, bedeutet dies: Der Kommissionsvorschlag, einem Mitgliedstaat, der den Empfehlungen der Kommission nicht nachkommt, eine jährliche Strafe von 0,1 bis 0,2 % des BIP aufzuerlegen, wird angenommen, sofern der Rat der Finanzminister nicht binnen zehn Tagen mit qualifizierter Mehrheit dagegen stimmt. Das Bestrafungsverfahren wird so weitgehend automatisiert, und die Mitgliedstaaten werden hierdurch gezwungen, die politischen Empfehlungen der EU ernsthaft zu beachten.

2.5.2   Am 23. November 2011 ergänzte die Kommission das "Sixpack" um zwei neue Verordnungen: die erste zur verbesserten Überwachung von Mitgliedstaaten, deren Finanzstabilität ernsthaft in Gefahr ist, die zweite zur Kontrolle und Korrektur von Haushaltsentwürfen der Mitgliedstaaten. Durch erstere werden die länderspezifischen wirtschaftspolitischen Empfehlungen für Staaten, die einem makroökonomischen Anpassungsprogramm unterliegen, erweitert, verstärkt und vertieft. Die Missachtung dieser Empfehlungen führt zur Einstellung der Zahlungen aus den Struktur- und dem Sozialfonds der EU. Durch die zweite erhält die Kommission weiter reichende Befugnisse zur Überwachung der nationalen Haushaltsverfahren, wobei die Mitgliedstaaten zur Einführung verbindlicher Regeln für die Größe von Haushaltsdefiziten verpflichtet werden. Durch beide Verordnungen würden der gegenseitige Druck und die inhärenten prozyklischen Effekte mit den wohlbekannten Folgen verstärkt.

2.5.3   Das sechs Monate pro Jahr umfassende sogenannte Europäische Semester wurde eingerichtet, um widersprüchliche haushaltspolitische Anforderungen der Mitgliedstaaten zu vermeiden und die Durchsetzung der Europa-2020-Zielvorgaben zu überwachen. Dadurch soll gewährleistet werden, dass die Mitgliedstaaten die Leitzielvorgaben der EU tatsächlich rechtzeitig in ihrer Haushaltsplanung berücksichtigen, und zwar vor der Abstimmung über den Haushalt des Folgejahres im jeweiligen nationalen Parlament. Bei der Steuerung steht zwar die Wirtschaftspolitik im Vordergrund, doch wird sie sich vor allem auf Sozialsysteme auswirken, indem sie die Mitgliedstaaten durch die Drohung mit (halb-)automatischen Strafen zu einer Reformierung derselben zwingt.

3.   Soziale Folgen der neuen Vorschriften

3.1   Im mittlerweile vierten Jahr der Finanz- und Wirtschaftskrise setzt sich die Verschlechterung der Wirtschafts- und Beschäftigungsaussichten in Europa fort. 23 Millionen Menschen sind ohne Arbeit, nach den neuesten Arbeitslosenzahlen (4) betrug die Erwerbslosenquote im September 2011 in den 27 Mitgliedstaaten 9,7% und im Euroraum 10,2%, was einem Anstieg gegenüber dem Vorjahreszeitraum entspricht. Zwischen 2008 und 2011 stieg die Jugendarbeitslosenquote von 15,5% auf 21,4% und die Nichterwerbstätigenquote von 55,6% auf 56,9%. In Griechenland und Spanien ist fast jeder zweite Jugendliche arbeitslos (5). Das heißt, dass mehr als fünf Millionen junge Menschen keine Arbeit oder keinen Ausbildungsplatz haben. Durch die bis Mitte 2011 verzeichnete Zunahme der Beschäftigtenzahl um 1,5 Mio. konnten die massiven Verluste von 6 Mio. Arbeitsplätzen während der Krise nicht aufgefangen werden. Der Beschäftigungszuwachs ergibt sich hauptsächlich aus dem Anstieg bei befristeten Arbeitsverträgen und verstärkter Teilzeitarbeit.

3.2   Angesichts dessen wurden die erwarteten Wirtschaftswachstumszahlen drastisch nach unten korrigiert, und die Europäische Kommission stellte in ihrer vor Kurzem veröffentlichten Herbstprognose 2011-2013 fest, dass "der Aufschwung der EU-Wirtschaft zum Stillstand gekommen [ist]" und "die Arbeitslosigkeit auf ihrem derzeit hohen Niveau verharren [dürfte]" (6).

3.3   Die weltweite Bankenkrise der Jahre 2007-2009 ging nahtlos in die gegenwärtige Staatsschuldenkrise über, da die Staaten erhebliche Mittel in die Bankenrettung und staatliche Bürgschaften steckten, um das Währungssystem über Wasser zu halten. Entsprechend stiegen die durchschnittlichen Schulden von 60 auf 80% des BIP, wodurch der Spielraum für auto–matische Stabilisatoren und sonstige antizyklische Maßnahmen erheblich eingeengt wurde. Das heißt, dass Beschäftigungs- und Sozialpolitik die Hauptlast bei der Anpassung tragen müssen. Die verschiedenen politischen Initiativen der EU durchzieht der rote Faden, dass die Löhne und Gehälter als hauptsächliches Anpassungsinstrument verwendet werden sollen, und zwar über Lohnkürzungen und Lohndeflation.

3.4   Der EWSA ist der Meinung, dass diese Entwicklung sowohl für das grundsätzliche wirtschaftliche Wohlergehen als auch für das soziale Gefüge in Europa gefährliche Folgen haben könnte. Wie der Ausschuss für Sozialschutz in seinem Bericht über die sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise betonte, werden bereits durchgeführte oder geplante Sparmaßnahmen Folgen für die soziale Inklusion haben, indem Leistungen und Angebote für schutzbedürftige Gruppen wie z.B. Menschen mit Behinderungen gestrichen werden. Dies wird sich nachteilig auf den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und deren Qualität auswirken, mit negativen Folgen für Menschen und Unternehmen (7). Hohe Zinssätze machen es Mitgliedstaaten nahezu unmöglich, ihr Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung zu verringern. Griechenland beispielsweise verzeichnet seit dem Frühjahr 2011 einen Primärüberschuss in seinem Staatshaushalt, doch steigt das Defizit aufgrund der untragbaren Zinslast unvermindert an.

3.5   Sparmaßnahmen, die gerade die notwendigen sozialen Investitionen gefährden, werden die Abwärtsspirale noch verstärken. Da sich keine neuen Wachstumsmöglichkeiten eröffnen, wirken sich Ausgabenkürzungen zugleich negativ auf der Habenseite aus und führen etwa zu sinkenden Steuereinnahmen und zu steigenden Sozialausgaben für Erwerbslose. Es droht ein weiterer Anstieg des Haushaltsdefizits, was möglicherweise katastrophale Folgen auf den Finanzmärkten nach sich zieht, die die Tendenzen in allen Mitgliedstaaten genau beobachten.

3.5.1   Zudem können Sparmaßnahmen, durch die die Endnachfrage in einem Mitgliedstaat zurückgeht, Kettenreaktionen in anderen Staaten auslösen, die zu einer Abwärtsspirale führen, und zwar entweder entlang der Wertschöpfungskette des gesamten Binnenmarktes oder über Handel. Durch die gleichzeitige Einleitung von Sparprogrammen in mehreren Staaten werden die Wachstumsaussichten weiter eingetrübt, und es ist möglich, dass auf diese Weise ein Teufelskreis der Unsicherheit entsteht, u.a. bei Investitionen in Aus- und Weiterbildung, Forschung und Innovation, Beschäftigung und Verbrauch.

3.6   Bei der Vorbereitung und Durchführung von Steuerungsmaßnahmen der EU ist der Ausschuss der Auffassung, dass genau geprüft werden sollte, ob und inwieweit negative wirtschaftliche Entwicklungen in den Mitgliedstaaten und Regionen auch mit Marktungleich–gewichten, wirtschaftlichen Konzentrationsprozessen und Marktmissbrauch großer Handelskonzerne zusammenhängen. Dagegen sollten nach Meinung des Ausschusses auf allen Ebenen wirksame, z.B. koordinierte steuerpolitische Gegenmaßnahmen ergriffen und in die Konsolidierungsmaßnahmen einbezogen werden. Die Wettbewerbsfähigkeit der KMU sollte dabei gleichermaßen wie die exportorientierte Industrieproduktion gestärkt werden. Dies sollte durch notwendige strukturelle Maßnahmen zur Sicherung des Wachstums und der Schaffung von Beschäftigung begleitet werden.

3.7   Der EWSA bedauert, dass alle damit zusammenhängenden politischen Maßnahmen auf Asymmetrie gegründet und strukturell einseitig sind: In einem Schreiben des Kommissionsmitglieds Olli Rehn kommt zum Ausdruck, dass die Kommission hinsichtlich der Ungleichgewichte innerhalb des Euro-Währungsgebiets zwar die Probleme erkennt, die durch hohe Zahlungsbilanzdefizite hervorgerufen werden können, doch hohe Leistungsbilanzüberschüsse als unproblematisch für den Zusammenhalt der Gemeinschaftswährung erachtet (8). Eine Neubestimmung der Bedingungen für die Wettbewerbslage impliziert, dass das Problem bei denjenigen liegt, die Schuldenlasten auf sich nehmen, um Zahlungsbilanzdefizite zu finanzieren, während Staaten, die Überschüsse erwirtschaften, darin bestärkt werden.

3.8   Bei der Ausweisung "makroökonomischer Ungleichgewichte" legt die Kommission die Indikatoren so fest, dass dynamische Gehaltsentwicklungen in den einzelnen Wirtschaftszweigen unverzüglich angezeigt und untersucht werden, wohingegen auf Lohnstagnation setzende Mitgliedstaaten einfach aus dem Blickfeld geraten. Es werden auch "relative" Vergleiche erwogen, bei denen die Entwicklung der Lohnstückkosten mit denen der Hauptkonkurrenten verglichen wird. Diese Art Vergleich kann dazu dienen, eine Auseinanderentwicklung der Wettbewerbsfähigkeit zu erkennen, darf jedoch nicht dazu führen, dass Lohnerhöhungen automatisch negativ und niedrige Löhne und Lohnabschlüsse automatisch positiv bewertet werden. Stattdessen muss die Entwicklung der Produktivität und Inflation als Orientierung für die Erhöhung der Löhne und Gehälter anerkannt werden.

3.9   Der EWSA bedauert insbesondere, dass die Mitgliedstaaten sich zu Maßnahmen und Verhaltensregeln verpflichtet haben, die außerhalb ihrer Reichweite liegen und ihrer Einflussnahme entzogen sind. In Artikel 3 der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte wird ein Warnmechanismus erwähnt, dessen Kern eine Indikatorentafel (ein sogenanntes Scoreboard) bildet. Durch diese Indikatoren werden sowohl die unteren als auch die oberen Schwellen–werte für interne und externe makroökonomische Ungleichgewichte bestimmt, deren Über–schreiten ein Verfahren bei einem übermäßigen Ungleichgewicht nach sich ziehen soll. Zu diesen Indikatoren zählen auch die Lohnstückkosten, trotz der Tatsache, dass diese hauptsächlich das Ergebnis autonomer Tarifverhandlungen der Sozialpartner sind und nicht in die staatliche Wirtschaftspolitik fallen.

3.10   Daher vertritt der EWSA den Standpunkt, dass die Sozialpartner sowohl im gesamten Euroraum als auch auf nationaler Ebene dauerhaft in die Umsetzung der Verordnung eingebunden werden sollten. Der Ausschuss betont, dass unabhängig davon, in welcher Form die Mitwirkung der Sozialpartner an der Umsetzung institutionalisiert wird, deren Autonomie nicht infrage gestellt werden darf und die ILO-Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 in vollem Umfang beachtet werden müssen. Ferner sollte die Beachtung der allgemeinen Ziele der Europäischen Union, insbesondere des sozialen Fortschritts und der nach oben gerichteten Harmonisierung der EU-Sozialpolitik, ein wesentlicher Bestandteil sein, und ebenso müssen soziale Grundrechte berücksichtigt werden, die sich aus Artikel 52 Absatz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben.

3.11   In Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Schwierigkeiten und Veränderungen ist es wichtig, Sozialverbände in die Prozesse wie auch in die Durchführung von Steuerungs- und Konso–lidierungsmaßnahmen einzubeziehen. Sie leisten wertvolle Beiträge für Bildung und Prävention, Beschäftigung und sozialen Frieden, der auf der Achtung der Menschenwürde und gesellschaftlicher Solidarität basiert.

4.   Soziale Folgen der Maßnahmen in den Mitgliedstaaten

4.1   Der EWSA ist sehr besorgt über die sozialen Folgen dieser Krise, die sich in den meisten Mitgliedstaaten deutlich zeigen, und empfiehlt, die Strukturreformen wachstums- und beschäftigungsfreundlich anzulegen. Die Gewährung und Förderung von Arbeitnehmer- und grundlegenden sozialen Rechten wirkt sich positiv auf die gesamtwirtschaftliche Produktivität aus. Grundsätzlich muss sichergestellt werden, dass die Handlungsfähigkeit der Regierungen durch ausreichende Steuereinnahmen sichergestellt und Steuerbetrug nachdrücklich bekämpft wird.

4.1.1   Der EWSA nimmt mit Besorgnis die wachsenden nationalen und regionalen Divergenzen zur Kenntnis. Diese bedrohen den Einigungsprozess nachdrücklich, weil erstmals der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt innerhalb der bestehenden Union massiv abnimmt. In der Vergangenheit haben sich soziale und wirtschaftliche Divergenzen nur im Zusammenhang mit der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten vorübergehend vergrößert.

4.2   Der Ausschuss für Sozialschutz kommt in seinem Bericht "The social impact of the crisis" zu dem Schluss, dass sich die soziale Lage weiter Teile der Bevölkerung, insbesondere von Jugendlichen, Zeitarbeitskräften und Einwanderern, durch die Finanz- und Wirtschaftskrise erheblich verschlechtert habe und Arbeitslose in allen Mitgliedsländern eine der am stärksten von Armut bedrohten Gruppen seien (9). Soziale Unruhen und Proteste in Griechenland, Spanien und vielen weiteren Mitgliedstaaten sind die Folge.

4.3   Auch die jüngste Eurostat-Umfrage 2011 zeigt, dass die EU-Bürger besorgt sind und wachsende Armut feststellen:

Eine große und weiter wachsende Mehrheit der Menschen in Europa ist der Ansicht, dass die Armut auf dem Vormarsch ist. Gefragt, ob die Armut in den vergangenen drei Jahren zu- oder abgenommen habe, antworten 87 % aller Menschen in Europa, dass sie zugenommen habe. Die Auffassung, dass die Armut in den vergangenen drei Jahren zugenommen habe, wird noch viel stärker vertreten als im Herbst 2010. Nur 22 % der Menschen in Europa glauben, dass genügend getan wird, um die Armut zu bekämpfen (10).

4.4   Der EWSA ist tief besorgt, dass Europa aufgrund der sozialen Folgen der Krisenbewältigung noch tiefer gespalten wird und in der Folge die Unterstützung der Menschen verliert. Europa muss jedoch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückgewinnen.

4.5   Er ist der Ansicht, dass alles getan werden muss, damit die Sparmaßnahmen nicht das Armutsrisiko erhöhen. Es muss eine wirksame soziale Folgenabschätzung durchgeführt werden, in der untersucht wird, wie die Ziele, mindestens 20 Millionen Menschen in den nächsten zehn Jahren einen Weg aus der Armut und der sozialen Ausgrenzung zu eröffnen, unter den veränderten Bedingungen eingehalten werden können, und welcher Maßnahmen es dazu bedarf. Die Kehrseite wachsender Armut sind wachsende Vermögen und Gewinne, was in einigen Mitgliedstaaten durch inadäquate Steuer- und Haushaltsstrategien befördert wird. Die Architektur der wirtschaftspolitischen Steuerung Europas und die Umsetzung des Europäischen Semesters darf nicht dazu führen, dass das Ziel der Armutsreduzierung im Rahmen der übergreifenden Europa-2020-Strategie nicht erreicht werden kann.

5.   Notwendigkeit umfassender sozialer Folgenabschätzungen

5.1   Der EWSA hat 2011 hervorgehoben, dass die horizontale Sozialklausel (HSK, Artikel 9 AEUV) eine wesentliche Neuerung darstellt und die Union bei der Durchführung ihrer Politik (11) verpflichtet.

5.2   Der EWSA hat in diesem Zusammenhang bereits darauf hingewiesen, dass die HSK auf die großen Bereiche und die Gesamtstruktur der neuen sozial- und wirtschaftspolitischen Steuerung auf EU-Ebene im Rahmen der Europa-2020-Strategie, auf die sich der Europäische Rat 2010 geeinigt hat, angewandt werden muss (12). Dazu gehören sowohl das Europäische Semester und das sogenannte Sixpack als auch der Euro-Plus-Pakt und die Rettungsschirme.

5.3   Der EWSA bekräftigt, dass die Krisenmaßnahmen in keinem Fall dazu führen dürfen, dass die in der Charta der Grundrechte garantierten Rechte verletzt werden. Andererseits sollte festgelegt werden, welche Maßnahmen innerhalb eines Jahres ergriffen werden, um die Wahrung der Grundrechte sicherzustellen (13).

5.4   Der Ausschuss für Sozialschutz und die Europäische Kommission haben gemeinsam kritisiert, dass bislang nur wenige Mitgliedstaaten Abschätzungen der sozialen Folgen der Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen durchgeführt hätten (14).

5.5   Der EWSA bekräftigt, dass Abschätzungen der sozialen Folgen der neuen Vorschriften für die wirtschaftspolitische Steuerung dringend notwendig sind. Die EU hat sich zur Förderung der sozialen Inklusion verpflichtet und dies nicht nur mit quantitativen Zielen verbunden, sondern auch qualitativ mit grundlegenden sozialen Rechten im Vertrag verankert. Dies betrifft die Lebensqualität der Menschen unmittelbar und ist bei den Folgenabschätzungen quantitativ und qualitativ zu berücksichtigen und darzulegen. Zu den Rechtsetzungsvorschlägen gab es nur vereinzelt Folgenabschätzungen, wobei die sozialen Folgen häufig nur eine begrenzte Rolle spielten, zudem wurden die Ergebnisse oft nicht berücksichtigt (15).

6.   Europa braucht einen sozialen Investitionspakt

6.1   Angesichts des in bisher nicht gekannter Art und Weise erfolgenden direkten und indirekten Eingriffs in soziale Rechte, Strukturen und Errungenschaften bedarf es eines umfassenden Konzepts, in dem – auf der Grundlage ausführlicher und unabhängiger sozialer Folgenabschätzungen – folgende Elemente verstärkend miteinander verbunden werden:

6.1.1   Rechtzeitige und umfassende Beteiligung der Sozialpartner bei allen Maßnahmen

6.1.1.1

Alle bisher getroffenen und in der Zukunft geplanten Maßnahmen sollten nur nach einer ausführlichen Beteiligung der Sozialpartner erfolgen. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus Artikel 152 AEUV. Das gilt insbesondere auch für die als rein wirtschaftlich oder haushaltsmäßig deklarierten Sparvorgaben, die auf Verschlechterungen im sozialen Bereich abzielen. Als ein Beispiel für die notwendige Beteiligung der Sozialpartner sei auf die Einsetzung der EU-Taskforce für Griechenland verwiesen. Darüber hinaus sind die Sozialverbände und Nichtregierungsorganisationen rechtzeitig und umfassend an allen Maßnahmen zu beteiligen.

6.1.2   "Sozialer Investitionspakt"

6.1.2.1

Grundsätzlich ist der EWSA der Ansicht, dass man sich nicht aus einer solchen Krise – wie in Griechenland und anderen Mitgliedstaaten – heraussparen, sondern nur aus ihr herauswachsen kann. Im Rahmen der wirtschaftspolitischen Steuerung schlägt der EWSA vor, nachhaltige Investitionen in Qualifikationen, Infrastruktur und Produkte vorzunehmen und Investitionen in die Sozialwirtschaft, das soziale Unternehmertum (16) und soziale Dienstleistungen zu befördern.

6.1.2.2

Bewerkstelligt werden soll dies durch einen Sozialinvestionspakt. Der EWSA schließt sich deshalb der gleichlautenden Forderung von Vandenbroucke, Hemerijk und Palier an. Diese sehen die Hauptaufgabe darin, sowohl auf EU-Ebene als auch in den Mitgliedstaaten für eine wechselseitige Unterstützung langfristiger sozialer Investitionen und kurzfristiger Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen zu sorgen. Durch die Zielvorgaben der Europa-2020-Strategie könne der Rahmen dafür geschaffen werden. Voraussetzung dafür sei die Verankerung eines EU-Sozialinvestitionspakts in der wachstumsorientierten Haushaltspolitik und den Finanzvorschriften. Dies impliziere, dass die neue makroökonomische und haushaltspolitische Überwachung von einem Sozialinvestitionspakt flankiert werden müsse (17).

Der Ausschuss sieht mit großer Sorge, welche sozialen Folgen es hat, wenn im Zuge der Krisenmaßnahmen insbesondere kleine Renten gekürzt werden. Er fordert erneut, dass die Kommission erste Schritte hin zu einer EU-weiten Definition von angemessenen Renten vornehmen sollte (18).

6.1.3   Erschließung neuer Einnahmequellen für öffentliche Haushalte

6.1.3.1

Die öffentlichen Haushalte werden nicht für alles heranzuziehen sein, von Bankenrettungen und Steigerungen der Sozialausgaben über innovative Investitionen bis hin zur Unternehmensförderung. Ein Erschließen neuer Einnahmequellen für den Staat ist unumgänglich. Dies muss zeitgleich mit einer Steigerung der Effizienz und Treffsicherheit der öffentlichen Ausgaben erfolgen. Der EWSA ist der Ansicht, dass es einer Stärkung der Steueraufkommensbasis der Mitgliedstaaten bedarf, u.a. durch Erhebung von Finanztransaktionssteuern, mittels Schließung von Steueroasen, der Beendigung des Steuersenkungswettlaufs sowie durch Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung. Gleichzeitig muss die Qualität der Investitionen viel stärker im Mittelpunkt stehen, wenn sich alle Mitgliedstaaten zu sozialen Investitionen verpflichten und die Haushalte durch Wachstum und Reformen konsolidieren. Darüber hinaus ist wohl ein generelles Überdenken der Steuersysteme angebracht, wobei Fragen hinsichtlich der Beiträge unterschiedlicher Arten von Einkommen und Vermögen zu berücksichtigen sein werden (19).

6.1.4   "Sozialer Rettungsschirm" durch gleichwertige "sozialere Ausrichtung" (social governance)

6.1.4.1

Ohne einen "sozialen Rettungsschirm" (Jean-Claude Juncker) bleibt die Architektur der EU unvollständig und wird das Rad Europas zurückgedreht. Europa würde zu einer reinen Wirtschafts- und Haushaltsunion degradiert, weit entfernt von den Festlegungen auf eine soziale Marktwirtschaft. Davor warnt der EWSA nachdrücklich.

6.1.4.2

Der EWSA spricht sich für verantwortungsvolles staatliches Handeln im wirtschaftlichen und sozialen Bereich (economic and social governance) aus. So muss die kurzfristige Konsolidierung viel stärker verknüpft werden mit den Zielen der Europa-2020-Strategie, eine Stärkung intelligenten Wachstums, sozialen Zusammenhalts und sozialer Inklusion zu erreichen.

6.1.4.3

Die EU muss weiterhin sicherstellen, dass bei allen wirtschaftlichen und haushaltspolitischen Maßnahmen die sozialen Zielbestimmungen aus dem Primärrecht sowie die sozialen Grundrechte einschließlich insbesondere der Rechte auf Kollektivverhandlungen und Streik umfassend eingehalten werden und soziale Errungenschaften nicht verschlechtert werden dürfen.

6.1.5   Einberufung eines Konvents für ein auf sozialen Fortschritt ausgerichtetes Konzept bei den anstehenden Vertragsänderungen

6.1.5.1

Der EWSA fordert nachdrücklich die Einsetzung eines Konvents. Angesichts der jetzt auf der Tagesordnung stehenden weitreichenden Vertragsänderungen ist sowohl eine breite Debatte als auch die demokratische Legitimation nötig. Wie beim letzten Konvent sind die nationalen Parlamente sowie das Europäische Parlament, die Sozialpartner und der EWSA zu beteiligen. Für den Zwischenbericht und den Fahrplan muss sichergestellt werden, dass diese Vertragsänderungen eine gleichwertige soziale Flankierung erhalten und das Ergebnis in den für März vorgeschlagenen Bericht über die Art und Weise der Durchführung der vereinbarten Maßnahmen aufgenommen wird.

6.1.6   Absicherung und Förderung der Tarifautonomie der Sozialpartner

6.1.6.1

Der EWSA bekräftigt seine Position, dass die Verpflichtungen der Grundrechtecharta für alle Organe und Einrichtungen der EU gelten, weshalb Eingriffe in die Tarifautonomie absolut unzulässig sind und die Europäische Kommission gehalten ist, sofort dagegen vorzugehen. Keinesfalls darf sie selbst Empfehlungen an Mitgliedstaaten geben, die eine Verletzung der Grundrechtecharta beinhalten. Sie ist vielmehr gehalten, alles zu tun, um die Grundrechte nicht nur zu wahren, sondern auch zu fördern. Die Krise ist ein Testfall, wie gut die Grundrechtskultur in Europa verankert ist (20).

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA zur "Sozialagenda", ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 65.

(2)  Stellungnahmen des EWSA zu der "Steuer auf Finanztransaktionen", ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 81, und zu dem "Jahreswachstumsbericht", ABl. C 132 vom 3.5.2011, S 26.

(3)  Vgl. die Auflistung in der Stellungnahme des EWSA zum "Jahreswachstumsbericht", ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 26.

(4)  http://epp.eurostat.ec.europa.eu/cache/ITY_PUBLIC/3-31102011-BP/DE/3-31102011-BP-DE.PDF.

(5)  Gemeinsamer Beschäftigungsbericht 2011, COM(2011) 815 final, S. 2 und 4.

(6)  http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/11/1331&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=de.

(7)  Gemeinsame Bewertung (2010) der sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der ergriffenen politischen Maßnahmen durch den Ausschuss für Sozialschutz und die Europäische Kommission, S. 9-10.

(8)  An Jan Vincent-Rostowski adressiertes Schreiben vom 4. November 2011 zur Behandlung von Leistungsbilanzdefiziten und -überschüssen in Verfahren bei einem übermäßigen Ungleichgewicht.

(9)  Siehe die "Aktualisierung (2010) der gemeinsamen Bewertung der sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der ergriffenen politischen Maßnahmen durch den Ausschuss für Sozialschutz und die Europäische Kommission", 26. November 2010 (16905/10, SOC 793, ECOFIN 786), S. 2.

(10)  Eurobarometer Spezial 377.

(11)  Stellungnahme des EWSA zu der "Stärkung des EU-Zusammenhalts und der EU-Koordinierung im Sozialbereich". ABl. C 24 vom 28.01.2012, S. 29.

(12)  Ebenda.

(13)  Stellungnahme des EWSA zu der "Strategie zur Umsetzung der Grundrechtecharta"ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 74.

(14)  Siehe Fußnote 9.

(15)  So die Bewertung des EAPN 2011.

(16)  Ein wesentlicher Bestandteil des europäischen Sozialmodells ist die soziale Unternehmensführung. Der EWSA begrüßt es, dass die Kommission einen politischen Rahmen und einen Aktionsplan für die Förderung der sozialen Unternehmensführung in Europa eingeleitet hat, und erachtet deren vollständige Umsetzung sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene als bedeutsam. Stellungnahme des EWSA zum Thema "Soziales Unternehmertum und soziale Unternehmen"ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 1.

(17)  Vandenbroucke, Frank, et al., The EU needs a social investment pact, OSE No 5, 2011, S. 5.

(18)  Stellungnahme des EWSA zu dem "Grünbuch Pensionen", ABl. C 84 vom 17.3.2011, S. 38.

(19)  Stellungnahme des EWSA zu den "Ergebnissen des Beschäftigungsgipfels", ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 70 - Ziffer 3.4.2.

(20)  Siehe Fußnote 13.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/29


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Sozialwirtschaft in Lateinamerika“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 143/06

Berichterstatter: Miguel Ángel CABRA DE LUNA

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 18. Januar 2011, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

"Die Sozialwirtschaft in Lateinamerika".

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 24. Januar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 141 gegen 3 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Gegenstand der Stellungnahme ist eine Auseinandersetzung mit der Sozialwirtschaft in Lateinamerika als organisiertem Bereich der Zivilgesellschaft, der von der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union im Allgemeinen ausgeschlossen war. Bei der Behandlung dieses Themas wird der Vielfalt Lateinamerikas und den Unterschieden zwischen beiden Regionen Rechnung getragen. Zu Zwecken dieser Stellungnahme wird es daher – unabhängig von anderen möglichen Begriffsbestimmungen – als zweckmäßig erachtet, den Terminus "Sozial- und Solidarwirtschaft" (SSW) zu verwenden.

1.2   Die Vereinten Nationen haben in ihrer Entschließung 47/90 festgelegt, den ersten Samstag im Juli jedes Jahres zum Internationalen Tag der Genossenschaften zu erklären, und in ihrer Entschließung 64/136 das Jahr 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften ausgerufen. Die ILO hat bei verschiedenen Gelegenheiten (insbesondere in ihrer Entschließung 193) die positiven Aspekte des Genossenschaftswesens und der SSW anerkannt. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank haben ihr Interesse an diesem Sektor bekundet. Die EU ihrerseits hat wiederholt die Bedeutung des Genossenschaftswesens und der SSW anerkannt. Die Europäische Investitionsbank (EIB) wiederum beteiligt sich an Projekten mit lateinamerikanischen Unternehmen der SSW. Der Mercosur und andere lateinamerikanische Institutionen haben sich ebenfalls in dieser Richtung geäußert. Die Stellungnahme schließt sich dem an.

1.3   Mit dieser Stellungnahme soll zudem die Grundlage für die Arbeiten des EWSA zur Vorbereitung des 7. Treffens der Organisationen der Zivilgesellschaft der EU und Lateinamerikas geschaffen werden, das 2012 in Santiago de Chile stattfinden wird. Sowohl zu den vorbereitenden Arbeiten als auch zum Treffen selbst sollen Vertreter der SSW aus Lateinamerika und der EU eingeladen werden, um im Wege eines konstruktiven Dialogs über den Inhalt dieser Stellungnahme zu diskutieren. Die Ergebnisse dieses Dialogs sollen im Rahmen des 7. Treffens ebenfalls erörtert werden. Der EWSA stellt fest, dass die SSW in Lateinamerika gravierende Situationen von sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit und Grundrechtsverletzungen löst. In den Bestrebungen um menschenwürdige Arbeit und die Überwindung der sozioökonomischen Informalität ist sie ein zentrales Instrument, das für die lokalen Entwicklungsprozesse und den sozialen Zusammenhalt von wesentlicher Bedeutung ist. Die SSW fördert Pluralität und Wirtschaftsdemokratie. Die Unterstützung aller dieser Potenziale und Wirkungen ist daher vorrangig und trägt zu einer notwendigen Veränderung des Produktionsmodells bei.

1.4   Das Nebeneinanderbestehen verschiedener Ausprägungen der SSW in Lateinamerika und ihre Zusammenarbeit werden als besonders nützlich erachtet. Einerseits muss gefördert werden, dass die stärker unternehmerisch ausgerichteten Teile der SSW Ziele übernehmen, die auf den Grundsätzen der Solidarität beruhen, anstatt der Gewinnsteigerung Vorrang einzuräumen, und dass sie stärker dem Gemeinwohl dienen. Andererseits müssen sich die Teile der SSW mit einer stärker auf den sozialen und politischen Wandel ausgerichteten Komponente dazu bekennen, dass Unternehmen effizient wirtschaften und Gewinne erzielen müssen, indem sie Netze schaffen, die ein Fortbestehen auf dem Markt ermöglichen. Deshalb darf die SSW nicht in der Wirtschaft der Armut verharren, sondern muss um eine Kehrtwende bemüht sein, indem sie Entwicklung, wirtschaftliche Effizienz und soziale Gerechtigkeit miteinander vereint, um Asymmetrien jeglicher Art zu beseitigen.

1.5   Die SSW in Lateinamerika hat mit wesentlichen Entwicklungsschwierigkeiten zu kämpfen: eine der gravierendsten ist die mangelnde soziale und institutionelle Sichtbarkeit. Hinzu kommt das Fehlen strenger Mess- und Quantifizierungsprozesse, was die Feststellung ihrer Reichweite und ihrer beträchtlichen gesellschaftlichen Auswirkungen verhindert. Die Erarbeitung international anerkannter Statistiken in den lateinamerikanischen Ländern muss dringend vorangetrieben werden, und zwar unter Mitarbeit internationaler Organisationen wie CEPAL, ACI-Américas, Fundibes, Cicopa oder Ciriec. Auch die fehlende institutionelle Präsenz ihrer Vertretungsorganisationen ist ein schwerwiegendes Problem, das dadurch gelöst werden muss, dass sie von der öffentlichen Verwaltung und anderen sozialen Akteuren als Gesprächspartner innerhalb der beratenden Institutionen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik anerkannt werden. Die Wirtschafts- und Sozialräte und weitere Gremien der gesellschaftlichen Teilhabe sind ein geeignetes Instrument, um auch die Organisationen der SSW zu beteiligen.

1.6   Bis auf einige bemerkenswerte Ausnahmen stellt das Fehlen umfassender und partizipativer öffentlicher Maßnahmen zugunsten der SSW ein großes Hindernis für deren Konsolidierung und Weiterentwicklung dar: Es gilt, unbedingt von Vorschlägen, die auf rein wirtschaftlichen Direkthilfen ohne Gegenleistungen beruhen, abzukommen und Maßnahmen zur Behebung des Problems ihrer Finanzierungsquellen zu unterstützen. Es müssen strukturpolitische Maßnahmen von allgemeinem Interesse ergriffen werden, wozu auch Beschlüsse über Rechtsvorschriften gehören, und die Bildung, Innovation und Berufsbefähigung, auch im Hochschulbereich, müssen verbessert werden. Der Beitrag der SSW zum Ausbau des Sozialschutzes muss durch Gesundheitssysteme verstärkt werden, die von den Nutzern mitverwaltet werden. Es bedarf der Konsolidierung echter staatlicher Strategien, die über sukzessive Regierungswechsel hinaus eine Kontinuität aufweisen.

1.7   In Zusammenarbeit können Gewerkschaften und andere soziale Akteure der SSW eine wesentliche Rolle dabei spielen, institutionelle Mechanismen zur Bekämpfung von Unregelmäßigkeiten und Betrug in der informellen Wirtschaft und bei Scheinselbstständigen zu entwickeln. Sie können außerdem dazu beitragen, menschenwürdige Arbeit zu gewährleisten und universelle und qualitativ hochwertige öffentliche Dienste sowie Qualifizierungsmaßnahmen anzustoßen.

1.8   Die in dieser Stellungnahme genannten Überlegungen und Vorschläge sollten im Rahmen einer internationalen Kooperationspolitik der EU gegenüber Lateinamerika im Bereich der SSW aufgegriffen werden. Es müssen Kooperationsprojekte erörtert werden, die darauf abzielen, solide Unternehmungen der SSW als Akteure des sozialen Zusammenhalts, der lokalen Entwicklung, der Pluralität, der Wirtschaftsdemokratie sowie der umfangreichen Überführung in die formelle Wirtschaft und Beschäftigung einzusetzen. Die SSW muss als vorrangig für die Zusammenarbeit der EU erachtet werden. Hauptziel sollte es dabei sein, die Konsolidierung von Netzen zu fördern, die als Akteure die konkrete Umsetzung der Maßnahmen im Bereich der Wirtschaftszusammenarbeit und der partnerschaftlichen Entwicklung ermöglichen. Die Projekte für die Zusammenarbeit im Bereich der SSW sollten die Koordinierung ihrer Akteure und Netze fördern und Zersplitterung und Dopplungen vermeiden: Es ist von grundlegender Bedeutung, dass die internationale und strategische Ausrichtung der Maßnahmen verstärkt wird.

1.9   Überdies müssen in diesen Zeiten der weltweiten Krise die Geschäfts- und Handelsbeziehungen zwischen der SSW in der EU und in Lateinamerika gestärkt werden. Bewährte Praktiken der SSW in Lateinamerika können hier als nachahmenswerte Beispiele dienen. In den Handelsabkommen mit den lateinamerikanischen Ländern muss die Entwicklung des Mittelstandes und von Klein- und Kleinstunternehmen sowie konkret von Unternehmen der SSW gefördert werden.

2.   Die Sozialwirtschaft in Lateinamerika

2.1   Ein Doppelbegriff

2.1.1   Der Auseinandersetzung mit dem Thema Sozial- und Solidarwirtschaft in Lateinamerika in dieser Stellungnahme liegen zwei unausweichliche Prämissen zugrunde: zum einen die Feststellung, dass sich die soziale Wirklichkeit der EU von der in Lateinamerika unterscheidet, und zum anderen, dass Lateinamerika nicht homogen ist. Dementsprechend ist die größtmögliche Achtung dieser Vielfalt der Ausgangspunkt für diese Untersuchung. Außerdem sollen Gemeinsamkeiten gefunden werden, die eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe ermöglichen, und dies unter Berücksichtigung der Veränderungen, die sich in beiden Regionen vollziehen (1).

2.1.2   In Lateinamerika werden hauptsächlich zwei Begriffe verwendet: "Sozialwirtschaft" und "Solidarwirtschaft". "Solidarwirtschaft" ist allgemeiner verbreitet, wobei gegensätzliche begriffliche Auffassungen bezüglich seiner Bedeutung bestehen (bspw. das Konzept der "Economía Popular"). Der Begriff "Sozialwirtschaft" hat sich in Europa etabliert; er entspricht einem eindeutig unternehmerisch gefärbten Konzept, das sich als alternative, gesonderte Handlungsform in das System einfügt und den "Erwerbszweck" als solchen nicht problematisiert. Hier lautet die entscheidende Frage, wie der erwirtschaftete Überschuss zu verteilen ist, da die Unternehmenstätigkeiten der Sozialwirtschaft ja wettbewerbsfähig und gewinnbringend sein müssen. In der EU hat der Begriff der Sozialwirtschaft weiten Konsens erzielt (2); in Lateinamerika herrschen unterschiedliche Meinungen.

2.1.3   In den letzten Jahren hat sich – vor allem infolge der politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in Lateinamerika – der Begriff "Sozial- und Solidarwirtschaft" (SSW) für diesen Sektor durchgesetzt (3). Daher schlagen wir ihn als Referenzbegriff in Bezug auf Lateinamerika vor.

2.1.4   Zunächst ist anzuführen, dass die gesamte SSW aus privatrechtlichen Körperschaften besteht, die zur Erfüllung persönlicher und sozialer Bedürfnisse und nicht zur Vergütung von Investoren gegründet werden. Die Situation der SSW in Lateinamerika unterscheidet sich von Land zu Land, wenngleich natürlich einige der Modelle eindeutig in allen Ländern auszumachen sind. Ausgehend von diesen gemeinsamen Elementen lässt sich vielleicht eine einheitlichere Auslegung des Begriffs erzielen. Die SSW in Lateinamerika setzt sich generell zusammen aus: Genossenschaften, Gesellschaften auf Gegenseitigkeit, Stiftungen, Vereinen, Arbeitsgenossenschaften, sozialsolidarischen Organisationen, zivilrechtlichen Zusammenschlüssen und Kleinstunternehmen verschiedener Art. Diese Unternehmen und Organisationen beruhen auf Solidarität und sozialer Verantwortung. Die meisten dieser Unternehmen sind auf dem Markt tätig; sie schaffen jedoch bisweilen Sondermärkte (fairer Handel), für die andere als Wettbewerbskriterien gelten.

2.1.5   Die Organisationen und Unternehmen der SSW unterscheiden sich in ihren Merkmalen von öffentlichen und privaten marktwirtschaftlichen Organisationen und Unternehmen, produzieren jedoch ebenfalls Waren und Dienstleistungen. Daher sind die Unternehmen der SSW weder ausschließlich oder überwiegend gemeinnützig noch kommen sie ohne jeglichen Erwerbszweck aus: Erträge sind notwendig. Der springende Punkt ist die Art der Verteilung der Gewinne aus der Geschäftstätigkeit – diese werden nicht nur an der Rendite gemessen, sondern auch an dem sozialen Mehrwert, den sie leisten.

2.2   Umfang und Messung

2.2.1   Eines der großen Probleme, die die Entwicklung der lateinamerikanischen SSW behindern, ist die Schwierigkeit der systematischen Erhebung von Informationen über diesen Sektor, worin seine gesellschaftliche "Unsichtbarkeit" begründet liegt. Die tatsächliche Reichweite der SSW sollte genau bekannt sein – und nicht nur vermutet werden. Dieses Fehlen an Messgrößen erschwert es ungemein herauszufinden, welche soziale Relevanz sie hat und was genau den Unterschied im Vergleich zu anderen Unternehmensarten hinsichtlich der Auswirkungen ihrer wirtschaftlichen, sozialen und solidarischen Tätigkeiten tatsächlich ausmacht. Gleiches wird auch in Europa für diesen Sektor gefordert: statistische Erfassung; Schaffung zuverlässiger öffentlicher Register; Satellitenkonten für jeden institutionellen Bereich und Wirtschaftszweig für mehr Sichtbarkeit (4).

2.3   Organisationen der SSW

2.3.1   Wie in vielen EU-Mitgliedstaaten muss auch in Lateinamerika vorrangig der Mangel an einer ausreichend konsolidierten, integrierten und wirksamen Vertretung der SSW behoben werden. Ungeachtet der großen Fortschritte der letzten Jahre ist es nach wie vor erforderlich, die Vertretungsstrukturen der unterschiedlichen Arten der SSW zu integrieren, wobei es gilt, der Pyramidenstruktur – von unten nach oben, nach Branchen und Gebietsebene – zu folgen und Zersplitterung, Konkurrenz und Korporativismus zu vermeiden. Diese Organisationen müssen den lokalen und regionalen Behörden nahestehen, damit sie als Pole des gesellschaftlichen Nutzens und der Innovation wahrgenommen werden, die auf die drängendsten sozialen und wirtschaftlichen Probleme reagieren können.

2.3.2   Wenn die Organisationen der SSW (5) die Anerkennung erringen, die ihnen echte Dialog- und Verhandlungsfähigkeit verleiht, konsolidieren sie ihre Einflusssphäre, um Synergien in den Bereichen Kapazitätsaufbau, Unternehmenseffizienz, soziale Unternehmensverantwortung, neue Managementmodelle und Bekämpfung von Missständen sowie letztlich eine bessere Resonanz innerhalb des Wirtschaftssystems zu erzielen.

2.4   Öffentliche Maßnahmen

2.4.1   Eine der anstehenden Aufgaben für die SSW besteht darin, aus einer Position der gegenseitigen Achtung und Unabhängigkeit heraus Vereinbarungen und Bündnisse mit den Behörden zu erreichen. Öffentliche Maßnahmen sind daher vorrangiges Anliegen und Ziel der SSW in Lateinamerika. Maßnahmen, die in erster Linie auf direkten Finanzhilfen ohne Gegenleistungen beruhen, sind nicht steuerbare und unvorhersehbare Finanzierungsquellen und können auch zu einem Druck- und Manipulationsmittel werden. Durch reine Abhilfe- oder Unterstützungsmaßnahmen wird schlechten Praktiken Vorschub geleistet.

2.4.2   Es gilt, umfassende und partizipative Maßnahmen zu fördern, die mit den Hauptzielsetzungen der SSW und denen der Regierungen übereinstimmen, die an der Fähigkeit der SSW interessiert sind, Ressourcen der Gemeinschaft und auf dem Markt zu mobilisieren, um dem Allgemeinwohl mithilfe innovativer Lösungen für komplexe Probleme zu dienen. Zwischen den Behörden und den Organisationen der SSW bestehen eindeutige Affinitäten bezüglich der sozialen Zielsetzungen, die Grundbedürfnisse der Menschen zu erfüllen (6).

2.4.3   Der Zugang zu Finanzierung ist für die SSW ein permanentes Problem, das ihre Entwicklung stark bremst. Die SSW speist sich in erster Linie aus den Beiträgen ihrer Mitglieder und Förderer und nicht aus dem Spekulationskapital Dritter. Gleichzeitig finden durch die SSW Praktiken Verbreitung, die dem Allgemeinwohl zugutekommen. Im Allgemeinen fehlt es der öffentlichen Hand an der nötigen Durchsetzungskraft, um mithilfe von Gesetzesreformen und angemessenen gesamtwirtschaftlichen Maßnahmen der SSW Wege einer regelmäßigen Finanzierung zu eröffnen. Es fehlt an staatlichen Strategien, bei denen die SSW in die allgemeine Wirtschaftsplanung einbezogen wird, an Maßnahmen zur Finanzierung der Wirtschaft durch Zufluss von neuem Kapital mit Verstärkung des Risikokapitals, an einer Finanzierung der wirtschaftlichen Teilhabe von Arbeitnehmern und Gesellschaftern, an einer Unterstützung für die Bildung von Unternehmensgruppen und an einer Förderung der Beteiligung der SSW an öffentlichen Aufträgen. Es ist dringend eine Umformulierung derjenigen Maßnahmen vonnöten, durch die der Entwicklung eigener Finanzinstitute der SSW (wie der Ethikbanken und der Mikrofinanzierung) unnötige Hürden in den Weg gestellt werden.

2.4.4   Den meisten Staaten fehlt es an klaren politischen Handlungslinien, um innerhalb ihrer verschiedenen Verwaltungsebenen, -kompetenzen und -strukturen koordinierte Programme aufzustellen, in denen die SSW einen institutionellen und branchenübergreifenden Rahmen findet. Die Verwaltungsverfahren sind nicht flexibel genug, und es mangelt an einer wirksamen staatlichen und supranationalen Harmonisierung der großen Linien zur Förderung und Unterstützung der SSW. Es fehlen öffentliche Maßnahmen, um die Zerstörung kleiner Sozialunternehmen und des solidarischen Produktionsgefüges vor Ort zu verhindern, sowie Maßnahmen der beruflichen Fortbildung und Unternehmensführung, insbesondere im kommunalen Bereich (7), und Maßnahmen zur Anpassung der Rahmenregelungen für die verschiedenen Akteure der SSW. Es muss insbesondere auf das Erfordernis hingewiesen werden, öffentliche Bildungsmaßnahmen zugunsten der SSW umzusetzen (Empfehlung 193 der ILO von 2002). Die öffentliche Verwaltung, einschließlich der Hochschulen, und die SSW haben keine ausreichenden Kooperationsbemühungen unternommen.

2.5   Wirtschaftsentwicklung in Lateinamerika und Rolle der SSW

2.5.1   Gerechte Wirtschaftsentwicklung und gerechtes Wirtschaftswachstum

2.5.1.1

Lateinamerika durchläuft eine – vom Standpunkt des konventionellen Wachstums her – günstige gesamtwirtschaftliche Entwicklung, auch wenn es von Land zu Land Unterschiede gibt. Die bestehenden Altlasten führen jedoch dazu, dass dieses Wachstum weiter vor dem Hintergrund extrem ungleicher sozialer Wirklichkeiten erreicht wird, mit massiver, in bestimmten sozialen Schichten unverändert hoher Arbeitslosigkeit, allgemeiner Arbeitsprekarität und Gebieten, die von sozialer Ausgrenzung und Armut geprägt sind. Die Aufwertung eines "vorausschauenden Staates", der sich der unhaltbaren sozialen Spaltung der Gesellschaft bewusst ist, scheint jedoch einem gerechteren Wachstum (8) sowie dem Umweltschutz förderlich zu sein.

2.5.1.2

Der Beitrag einer konsolidierten SSW in Lateinamerika zum Entwicklungsmanagement ist vor allem darauf ausgerichtet, Lösungen für gravierende Situationen von Armut, Ungleichheit, Ausgrenzung, Informalität, Ausbeutung, fehlendem sozialen Zusammenhalt und Betriebsverlagerungen zu schaffen, kurz eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Reichtum zu erzielen und so zu einer notwendigen Veränderung des Produktionsmodells beizutragen. Hier kommt die SSW ins Spiel, die ein Angebot an Wohlfahrtsleistungen schafft und gegenüber anderen Wirtschaftszweigen Vorteile bei der Effizienz der Zuteilung und Produktion sozial wichtiger Güter und Dienstleistungen bietet. Die SSW ist in der Lage, weite Bevölkerungskreise auch in Gebieten zu erreichen, die generell weit von den Macht- und Wirtschaftszentren entfernt liegen, und kann damit eine gerechtere Entwicklung herbeiführen.

2.5.2   Informelle Wirtschaft und soziale Rechte

2.5.2.1

Die informelle Wirtschaft ist ein in Lateinamerika weitverbreitetes und auch in einigen Gebieten der EU (Schattenwirtschaft) in Erscheinung tretendes Phänomen. Sie ist gekennzeichnet durch Arbeits- oder Wirtschaftstätigkeiten, die ganz oder teilweise ohne Sozialschutz und unter Missachtung der einschlägigen Gesetzesvorschriften durchgeführt werden. Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und schlechte Arbeitsbedingungen laufen den Erklärungen der ILO über menschenwürdige Arbeit zuwider (9). Das ist ein akutes Problem. Es wurde eine direkte Verbindung zwischen informeller Beschäftigung oder Unterbeschäftigung und den Armutsindikatoren festgestellt, mit einer Häufung bei Frauen, jungen Menschen, der Bevölkerung indigener oder afrikanischer Herkunft und Menschen mit Behinderungen, sowohl was die Informalität der Arbeit als auch die Ungleichheit bei der Bezahlung und Behandlung betrifft. Zusammen mit anderen Akteuren ist die SSW dagegen ein wirksames Instrument zur Bekämpfung der Informalität, da mit ihrer Hilfe Unternehmen und Menschen in die Legalität bzw. den Sozialschutz überführt werden. Darüber hinaus dient sie zur Vermeidung von Praktiken, die darauf hinauslaufen, aus Eigeninteresse öffentliche Dienstleistungen zu externalisieren, bei deren Erbringung es an Garantien fehlt, die Qualität nicht gesichert ist und der Sozialschutz der Begünstigten ausgehöhlt wird. In Zusammenarbeit können die Gewerkschaften und andere soziale Akteure wie die SSW eine wesentliche Rolle dabei spielen, institutionelle Mechanismen zur Bekämpfung von Unregelmäßigkeiten und Betrug in der informellen Wirtschaft und bei Scheinselbstständigen zu entwickeln. Sie können außerdem dazu beitragen, menschenwürdige Arbeit zu gewährleisten und universelle und qualitativ hochwertige öffentliche Dienste sowie Qualifizierungsmaßnahmen anzustoßen.

2.5.2.2

Die Rolle der SSW wird von der ILO anerkannt, da die Werte und Prinzipien, auf denen sich die Unternehmen der SSW stützen, die Achtung der Grundsätze und Grundrechte am Arbeitsplatz umfasst (10). Die SSW hat diesbezüglich bewiesen, dass sie in der Lage ist, die Sozialschutzleistungen auf Menschen und Verbraucher auszuweiten, die nicht von Systemen der sozialen Sicherung abgedeckt werden, und außerdem zur Beseitigung der Ungleichgewichte am Arbeitsmarkt beizutragen und Gleichbehandlung zu gewährleisten.

2.5.2.3

Es gibt viele informelle Gruppen von Selbstständigen in der SSW, denen es an Berufsbildungsmöglichkeiten, Finanzierung und offizieller Anerkennung fehlt. Durch die zwischen Kleinerzeugern oder Handwerkern bestehenden Verbindungen der Gegenseitigkeit und des Vertrauens könnten mithilfe von Unternehmungen der SSW Formalisierungsverfahren eingeleitet werden, da bspw. nicht organisierte Erzeuger kaum eine Möglichkeit des Zugangs zum formellen Markt haben. Der Beitrag der SSW zum Ausbau des Sozialschutzes muss durch Gesundheitssysteme verstärkt werden, die von den Nutzern mitverwaltet werden. Vorrangige Aufgabe ist die Ausmerzung der Informalität innerhalb der SSW selbst.

2.5.3   Lokale Entwicklung und sozialer Zusammenhalt

2.5.3.1

Die angestrebte Festlegung von Mindestparametern für den sozialen Zusammenhalt gilt als wesentlich für jedweden Entwicklungsansatz (11). Die Behörden auf lokaler Ebene werden sich allmählich bewusst, wie wichtig eine Unterstützung von Unternehmern der SSW für die Wiederbelebung ländlicher und städtischer Gebiete ist. Diese Unternehmen schaffen Arbeitsplätze vor Ort, ihre Überschüsse gelangen auf örtlicher Ebene in Umlauf, und es kommt so zu einer Akkumulierung, die der Reinvestition in demselben Gebiet dient. Auf diese Weise werden primäre Prozesse des sozialen Zusammenhalts mithilfe der lokalen Steuerung der Investitionen, Produkte und Dienstleistungen sowie des Umlaufs der Überschüsse sichergestellt, die dann in der lokalen und regionalen Wirtschaft mobilisiert werden und eine ökonomische Stabilisierung bewirken.

2.5.3.2

Die SSW besitzt die Fähigkeit, eine Unternehmenskultur und ein Wirtschaftsgefüge aufzubauen und auszuweiten und die Wirtschaftstätigkeit mit lokalen Produktionserfordernissen zu verknüpfen. Die SSW setzt Prozesse der internen Entwicklung in ländlichen Gebieten, der Reaktivierung von Industriebrachen und der Wiederbelebung heruntergekommener Stadtteile in Gang. Dadurch werden erhebliche territoriale Ungleichgewichte korrigiert, und zwar ohne ein einheitliches Muster für die lokale Entwicklung zu verfolgen, sondern vielmehr dadurch, dass verschiedene Formen je nach den sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen in den einzelnen Gebieten nebeneinander bestehen.

2.5.3.3

Die SSW erleichtert die territoriale Autonomie, indem sie der Zivilgesellschaft bei der Bestimmung des territorialen Entwicklungsmodells und der Steuerung der Prozesse des Wachstums und Strukturwandels besondere Relevanz einräumt. Das Genossenschaftswesen in der Landwirtschaft ist wesentlicher Bestandteil dieser Prozesse. Die Maßnahmen zur Förderung des sozialen Zusammenhalts müssen auf die lokale Ebene (im ländlichen und städtischen Raum) ausgerichtet sein, um grundlegende Sozialdienste, Infrastrukturen und Bildung zu gewährleisten. Die SSW spielt bei dieser Aufgabe eine unverzichtbare Rolle.

2.5.4   Pluralität und Wirtschaftsdemokratie

2.5.4.1

Die SSW ist kein Randbereich, sondern ein konstituierendes Element des Wirtschaftssystems, das neben dem öffentlichen und dem privatwirtschaftlichen Sektor besteht. Damit führt sie eine Wirtschaftspluralität ein, die Gegengewichte zu den anderen beiden Sektoren ermöglicht. Die SSW trägt zur nachhaltigen Entwicklung bei, fördert Zusammenschlüsse und sorgt über ihre Bildungsförderungssysteme für Chancengleichheit. Sie ist von wesentlicher Bedeutung, um soziale Stabilität, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, die Umverteilung des Einkommens und die Aktivierung wirtschaftlicher Alternativen zu erreichen.

2.5.4.2

Die Funktionsweise der SSW auf der Grundlage des Demokratieprinzips und der Teilhabe der Bürger an Entscheidungen über ihre Wirtschaftsprozesse setzt eine ständige Fortbildung in Demokratie und Bürgerschaft voraus. Die SSW stützt das Entstehen eines sozialen Gefüges, und ihr Potenzial zur erfolgreichen Mitwirkung an der Lösung von Konflikten und der Förderung von Frieden und sozialer Gerechtigkeit macht sie zu einem unersetzbaren Bestandteil des Wirtschafts- und Sozialsystems in Lateinamerika. Dieses Potenzial sollte gefördert werden.

3.   Internationale Zusammenarbeit im Bereich SSW

3.1   Notwendigkeit der Zusammenarbeit

3.1.1   Die SSW in der EU und in Lateinamerika teilt ähnliche Grundsätze und Praktiken. Diese Gemeinsamkeiten können die Zusammenarbeit zwischen beiden Regionen sowohl in Bezug auf die nachhaltige Entwicklung als auch die Geschäfts- und Handelsbeziehungen voranbringen.

3.1.2   Wie der EWSA bereits an anderer Stelle geäußert hat, muss in den Handelsabkommen mit lateinamerikanischen Ländern die Entwicklung kleiner, mittlerer und Kleinstunternehmen sowie konkret der SSW gefördert werden (12).

3.2   Netze

3.2.1   Netze aus Vertretungsorganisationen der SSW, Sozialunternehmen, Zentren für Information, Quantifizierung und Innovation sowie für Hochschulbildung können Plattformen errichten, die auf eine Überwindung der genannten großen Defizite hinarbeiten. Die EU kann bei der Erreichung dieser Vorsätze besonders nützlich sein. Die Maßnahmen dürfen allerdings nicht ausschließlich auf Länder oder Gebiete mit dem niedrigsten Einkommen ausgerichtet sein, sondern müssen auch auf die aufstrebenden Länder mit mittlerem Einkommen abzielen, die ihren sozialen Zusammenhalt und ihr Wachstum auf gerechte Weise konsolidieren wollen. Die Existenz einer von trägfähigen Netzen unterstützten SSW würde zur Ermittlung der dringendsten Grundbedürfnisse und wirksamsten Projekte beitragen und die internationale Zusammenarbeit der EU dadurch selektiver machen. Die EU-Maßnahmen zur Herstellung einer Verbindung zwischen den Netzen in Lateinamerika und anderen Entwicklungsregionen (Afrika, Asien usw.) auf Grundlage der SSW können von größtem Gewicht sein (13).

3.3   Entwicklungszusammenarbeit und gemeinsame Entwicklung in der SSW

3.3.1   Die EU kann die Zusammenarbeit mithilfe der Umsetzung von Unternehmensplänen der SSW für die nachhaltige Entwicklung  (14) angehen, an denen die betreffenden Regierungen Lateinamerikas beteiligt werden und Organisationen der SSW aus beiden Kontinenten mitwirken, indem sie Programme zur Begleitung und technischen Unterstützung für die Unternehmen im Rahmen aktiver beschäftigungspolitischer Maßnahmen aufstellt. Auf diese Weise würde die Präsenz der EU in Lateinamerika als mehr angesehen als ein rein kommerzielles Interesse.

4.   2012 als Wendepunkt: Internationales Jahr der Genossenschaften (VN); 7. Treffen der organisierten Zivilgesellschaft der EU/Lateinamerika

4.1   Die Vereinten Nationen haben mit einer Entschließung ihrer Vollversammlung (64/136) das Jahr 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften ausgerufen. Zu den wichtigsten Erklärungen der Entschließung, in denen der Beitrag des Genossenschaftswesens zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der ganzen Welt herausgestrichen wird, gehört u.a., dass die VN für 2012 zu besonderen Anstrengungen zur aktiven Förderung der Genossenschaften aufruft. Mit dieser Stellungnahme unterstützt der EWSA den Inhalt dieser Entschließung in sämtlichen Bestimmungen und stimmt mit ihren Vorschlägen überein.

4.2   2012 findet außerdem das 7. Treffen der organisierten Zivilgesellschaft der Europäischen Union/Lateinamerika statt. Im Rahmen dieses Treffens und seiner vorbereitenden Sitzungen werden mit Vertretern der SSW aus Lateinamerika und der EU Arbeitssitzungen über den Inhalt dieser Stellungnahme abgehalten, um gemeinsame Empfehlungen für das Schlussdokument zu vereinbaren.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Arbeitsdokument COM(2009) 647 zur "EU-Strategie bis 2020". "Wirtschaftliche und soziale Aspekte der Beziehungen EU/Lateinamerika", ABl. C 347 vom 18.12.2010, S. 48-54.

(2)  EWSA-Stellungnahme INT/447 "Unterschiedliche Unternehmensformen", ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 22-28; "Toia"-Bericht (INI/2250/2008); EWSA-Stellungnahme "Förderung der Genossenschaften in Europa" (ABl. C 234 vom 22.9.2005); EWSA-Stellungnahme "Sozialwirtschaft und Binnenmarkt" (ABl. C 117 vom 26.4.2000). In diesem Zusammenhang das neue spanische und portugiesische Gesetz zur Sozialwirtschaft von 2011 sowie weitere einzelstaatliche Normen zur Regelung der SSW.

(3)  So verfährt bspw. die ILO im neueren Arbeitsdokument ihres Internationalen Bildungszentrums (ITC-ILO) von 2010 zum Thema "Social and solidarity economy: building a common understanding".

(4)  In Lateinamerika gibt es zwar keine zuverlässige Statistik, laut Untersuchungen von FUNIDBES aus dem Jahr 2009 kann jedoch von einem vorläufigen Näherungswert von über 700 000 Organisationen der SSW mit ca. 14 Mio. Mitgliedern ausgegangen werden. Außerdem macht der Umfang der informellen Wirtschaft der gesamten Region eine exakte bzw. ungefähre Gesamtquantifizierung überaus schwierig. Die ACI ihrerseits hält Lateinamerika für die Region mit dem "schnellsten Wachstum" im Hinblick auf neue Genossenschaften und Mitglieder (2009). Die uruguayische Inacoop gibt für 2008 einige Zahlen an: 1 164 Genossenschaften mit 907 698 aktiven Mitgliedern und einer Jahresproduktion von 1,708 Mrd. US-Dollar (3,2% der Gesamtproduktion), 27 449 Arbeitnehmer. Weitere Angaben für 2008: Argentinien: 12 760 Genossenschaften, an die 9 392 713 Personen gebunden sind; 4 166 Gesellschaften auf Gegenseitigkeit, an die 4 997 067 Personen gebunden sind; 289 460 Arbeitnehmer (Quelle: INAES). Chile: 1 152 Genossenschaften mit 1 178 688 daran gebundenen Personen; 536 Gesellschaften auf Gegenseitigkeit (Quelle: Fundibes). Kolumbien: 8 533 Genossenschaften mit 139 703 daran gebundenen Personen; 273 Gesellschaften auf Gegenseitigkeit mit 4 758 daran gebundenen Personen (Quelle: Confecoop). Guatemala: 841 Genossenschaften mit 1 225 359 daran gebundenen Personen (verschiedene Quellen). Paraguay: 453 Genossenschaften mit 1 110 000 daran gebundenen Personen (Quellen: Fundibes). Brasilien: s. Fußnote 9. In einigen Studien wird auch auf die Widerstandskraft der SSW angesichts der Krise hingewiesen. Bei all diesen Daten und Schätzungen handelt es sich jedoch eher um Vermutungen und Näherungswerte denn um verifizierbare Fakten.

(5)  Beispiele für Vertretungseinrichtungen: Confecoop (Kolumbien), Conacoop (Costa Rica), Confecoop (Guatemala), Conpacoop (Paraguay), Confederación Hondureña de Cooperativas (Honduras), OCB (Brasilien), Conacoop (Dominikanische Republik), Cudecoop (Uruguay), Consejo Mexicano de Empresas de la Economía Solidaria und Cosucoop (Mexiko). International: ACI-Américas, CICOPA u.a.

(6)  Öffentliche Einrichtungen für die SSW: Infocoop (Costa Rica), Dansocial (Kolumbien), Incoop (Paraguay), INAES (Argentinien), Senaes (Brasilien), Inacoop (Uruguay) oder Insafocoop (El Salvador).

(7)  Entsprechend den Ausführungen über KMU in der EWSA-Stellungnahme REX/180 (15.2.2006) "Die Beziehungen EU/Mexiko", ABl. C 88 vom 11.4.2006, S. 85-93.

(8)  Laut Daten der CEPAL (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik) lebt über die Hälfte der Bevölkerung (350 Mio. Menschen) unter der Armutsgrenze, und 22 Mio. Kinder müssen arbeiten, um zu überleben. Als beispielhaft sind hier die von den Regierungen Brasiliens in den letzten zehn Jahren getroffenen Maßnahmen hervorzuheben, durch die Millionen Menschen die größte Armut überwinden können. Die brasilianische SSW hat über SENAES und die Strategie seines Verantwortlichen Prof. Paul Singer zu diesen Errungenschaften beigetragen. Singer erklärte unlängst, die SSW brauche "mehr Geld, mehr Markt und mehr Wissen".

(9)  Gemäß der Karte der Solidarwirtschaft in Brasilien gibt es in dem Land 22 000 Unternehmen, von denen ein Drittel informell ist (www.fbes.org.br). Siehe auch EWSA-Stellungnahme REX/232 "Beziehungen EU/Zentralamerika", ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 138-143, EWSA-Stellungnahme SOC/250 "Menschenwürdige Arbeit für alle", ABl. C 93 vom 27.4.2007, S. 38-41 und Arbeitsdokument vom 12.10.2009 zu den Strategien für die "Beibehaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere für Frauen und junge Menschen" der Parlamentarischen Versammlung EU/Lateinamerika.

(10)  Arbeitsdokument von 2011 zum Thema "Social and solidarity economy: building a common understanding" http://socialeconomy.itcilo.org/en/2011-readers. Auch als Referenz für Ziffer 3.2 dieser Stellungnahme.

(11)  Siehe u.a. folgende Dokumente: EWSA: 6. Treffen der organisierten Zivilgesellschaft EU/Lateinamerika von 2010. Arbeitsdokumente der CEPAL für das Iberoamerikanische Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Santiago de Chile von 2007. EWSA-Stellungnahme REX/257 "Beziehungen EU/Brasilien", ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 93-99. EWSA-Stellungnahme REX/232 "Beziehungen EU/Zentralamerika", ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 138-143. EWSA: Assoziierungsabkommen EU/Zentralamerika. Gipfeltreffen von Guadalajara EU/Lateinamerika. EWSA: 4. Treffen der organisierten Zivilgesellschaft EU/Lateinamerika und Karibik von 2006. EWSA-Stellungnahme REX/210 "Beziehungen EU/Andengemeinschaft", ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 81-90. EWSA-Stellungnahme REX/180 "Beziehungen EU/Mexiko", ABl. C 88 vom 11.4.2006, S. 85-93. EWSA-Stellungnahme REX/135 "Gesamtamerikanisches Freihandelsabkommen", ABl. C 110 vom 30.4.2004, S. 40-54. EWSA-Stellungnahme REX/13 (ABl. C 169 vom 16.6.1999). Besonders relevant: EWSA-Stellungnahme REX/152 "Sozialer Zusammenhalt in Lateinamerika und der Karibik", ABl. C 110 vom 30.4.2004, S. 55-71.

(12)  EWSA-Stellungnahme REX/277 "Die Förderung wirtschaftlicher und sozialer Aspekte in den Beziehungen EU/Lateinamerika", ABl. C 347 vom 18.12.2010, S. 48-54. Siehe auch die vom EWSA verabschiedeten Standpunkte zu den verschiedenen Handelsabkommen mit Ländern der Region.

(13)  Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang die Rolle Chinas auf weltweiter Ebene sowie die Bedeutung, die dem Land in vielerlei Hinsicht als Teil strategischer Allianzen zukommt. In Lateinamerika gibt es wichtige Netze, wie RED DEL SUR (Mercosur), Unisol (Brasilien) oder den Fonds FIDES (Mexiko).

(14)  Der enge Zusammenhang zwischen SSW und ökologischer Nachhaltigkeit ist einer ihrer Kennmerkmale. Siehe diesbezüglich Kapitel 9 des in Fußnote 10 genannten Dokuments zu "grünen Arbeitsplätzen". Siehe auch ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 14-20 und ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 65-71.


22.5.2012   

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Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/35


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Landwirtschaft und Handwerk — gemeinsam erfolgreich für den ländlichen Raum“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 143/07

Berichterstatter: Adalbert KIENLE

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 22. September 2011, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

"Landwirtschaft und Handwerk - gemeinsam erfolgreich für den ländlichen Raum" (Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 20. Januar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 23. Februar) mit 184 Stimmen bei 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1   Mit dieser Initiativstellungnahme will der EWSA der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat Impulse für die Politikausgestaltung, ganz besonders im Hinblick auf die Weiterentwicklung der 2. Säule der GAP und der Strukturfonds für den Zeitraum 2014 bis 2020 geben. Die Initiativstellungnahme soll einen Beitrag zur Umsetzung der EU-Strategie Europa 2020 leisten, der sich in konkreten Vorschlägen zur künftigen ELER- und EU-Strukturförderung sowie anderer EU-Regelwerke manifestiert. Für die Organisationen der Zivilgesellschaft aus Landwirtschaft und Handwerk bedeutet das klare Bekenntnis zur Regionalität bzw. zu regionalen Wertschöpfungsketten eine wichtige Unterstützung ihrer Aktivitäten. Gleichzeitig erhofft sich der EWSA mit seiner Stellungnahme auch wichtige Impulse für die nationalen Debatten.

1.2   Angesichts der vorliegenden Legislativvorschläge der Europäischen Kommission für die Förderperiode 2014 bis 2020 vom 5. und 12. Oktober 2011 zur ELER- und Strukturfondsförderung gibt der EWSA folgende Empfehlungen:

1.2.1

Die vorgeschlagenen erweiterten investiven KMU-Fördermöglichkeiten im ELER sind im Hinblick auf regionale Kooperationen zwischen Unternehmen des ländlichen Raums und hier insbesondere im Hinblick auf Handwerk und Landwirtschaft zu erweitern und entsprechend zu qualifizieren. Dazu sollten auch regionale Kommunikations- und Mentorennetzwerke der Unternehmer vor Ort initiiert und unterstützt werden.

1.2.2

EU-Ansätze für lokale Initiativen in ELER und den Strukturfonds sind eine wichtige Möglichkeit, regionale Aktivitäten von Handwerk, Landwirtschaft, Tourismus und Handel zu unterstützen. Dazu aber sollten diese Förderansätze die Interessen der Wirtschafts- und Sozialpartner in den Vordergrund stellen.

1.2.3

Wissens-, Informations- und Innovationstransfer sind in den KMU nachhaltig zu fördern, um im ländlichen Raum Beschäftigung zu fördern und zu sichern sowie ressourcen- und klimaeffiziente Wirtschaftsweisen zu unterstützen. Traditionelle Kenntnisse und Erfahrungen dürfen nicht in Vergessenheit geraten, sondern sollten als wertvoller Erfahrungsschatz bewahrt und genutzt werden.

1.2.4

Regionale Wertschöpfungsketten sind für Handwerk, Landwirtschaft, Tourismus, Handel und den gesamten ländlichen Raum eine große Zukunftschance. Ihnen sollte Augenmerk besonders im Hinblick auf regionale Dachmarken sowie gemeinsame Verarbeitung und Vermarktung gewidmet werden.

1.2.5

Handwerks- und Landwirtschaftsunternehmen sind auf eine hinreichende wirtschaftsnahe Infrastruktur angewiesen. Dazu müssen vor allem die Strukturfonds die Voraussetzungen schaffen, zum Beispiel durch die Bereitstellung von flexiblen Regionalbudgets.

2.   Einleitung

2.1   Landwirtschaft und Handwerk prägen als mittelständisch strukturierte Branchen in großer Vielfalt die Wirtschaft des ländlichen Raums und sichern maßgeblich die Versorgungsstrukturen und das gesellschaftliche Leben in Dörfern und Kleinstädten der EU.

2.2   Im Rahmen der anstehenden Weiterentwicklung der EU-Förderung ländlicher Räume für die Periode 2014 bis 2020 will die Initiativstellungnahme einen Beitrag zur Erschließung zusätzlicher Wertschöpfungspotenziale von Landwirtschaft und Handwerk in ländlichen Räumen leisten. Aktuellen Anlass dazu geben die Legislativvorschläge der Kommission zur GAP und zur Kohäsionspolitik nach 2013. Unter anderem wird darin die ELER-Förderung auf kleine bzw. alle Unternehmen im ländlichen Raum ausgeweitet, was eine wichtige Änderung darstellt. Hinsichtlich der Vermittlung von Wissen und Kompetenzen will die vorliegende Initiativstellungnahme die europäische Diskussion über intelligentes, integratives und nachhaltiges Wachstum befördern. Außerdem geht es um die Verbesserung der Voraussetzungen, damit integrative, branchenübergreifende Maßnahmen nachhaltigen Einfluss auf Lebensqualität und Wirtschaftskraft auf dem Land nehmen und unter den Bedingungen der rückläufigen Bevölkerungszahl Versorgungsstrukturen sichern können. Gleichzeitig will die Initiativstellungnahme die öffentliche Diskussion zur Bewältigung der Auswirkungen des demografischen Wandels beflügeln und nationale Debatten zur Sicherung der Wettbewerbskraft und Vitalität ländlicher Räume befördern.

3.   Situation

3.1   Die im ländlichen Raum ansässigen und verankerten kleinen und mittleren Betriebe von Handwerk und Landwirtschaft bilden sowohl durch ihre ökonomische Tätigkeit als auch durch ihr gesellschaftliches Engagement ein großes Potenzial, um bestehende wirtschaftliche und soziale Strukturen zu stärken und zukünftige Herausforderungen zu bewältigen. Sie gestalten Lebensqualität unmittelbar selbst mit und tragen durch ihre Produkte und Dienste zur Herausbildung regionaler Identitäten bei. Sie bewahren wichtige Traditionen und sind gleichzeitig Träger von Innovationen. Handwerk und Landwirtschaft stehen für Modernität und Nachhaltigkeit, qualitätsvolle Produkte, Energiesicherung, nachhaltige Umwelt- und Naturschutz und Bewahrung von Kulturerbe. Die in Handwerk und Landwirtschaft tätigen Menschen sind hochqualifiziert, eigenverantwortlich tätig und in hohem Maße anpassungs- und lernfähig. Diese Eigenschaften sind Grundlage für viele wirtschaftliche und soziale Erfolgsmodelle in Dörfern und Kleinstädten des ländlichen Raums.

3.2   Nahezu alle ländlichen Regionen in der EU weisen noch große Potentiale bei der Erschließung gemeinsamer Wertschöpfung von Handwerk und Landwirtschaft auf. Diese Potentiale liegen in der Kooperation bei der Produktion, Verarbeitung und Vermarktung auf regionaler und überregionaler Ebene. Sie liegen aber auch in einem fairen Wettbewerb unter den Akteuren und in der gleichgewichtigen Partizipation von Frauen und Männern.

3.3   Ländliche Räume sind in der EU sehr unterschiedlich strukturiert. Neben sehr wohlhabenden ländlichen Regionen mit geringer Arbeitslosigkeit und solidem Wachstum verdichten sich in anderen Gebieten wirtschaftliche Problemlagen, Abwanderung und Alterung. Auch sind die Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten in akzeptabler räumlicher Nähe nicht immer gegeben. Es besteht die Gefahr der verstärkten Abkopplung von sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen und infrastrukturellen Standards.

3.4   Vor allem ältere Menschen sind auf kurze Wege und eine gut erreichbare Nahversorgung angewiesen; junge Menschen benötigen zudem eine gut funktionierende Basis-Infrastruktur wie Internet, Kindergarten und Grundschule. Im Rahmen des demographischen Wandels stehen ländliche Infrastrukturen und ihre Ver- und Entsorgungssysteme vor großen Anpassungsnotwendigkeiten. Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen wird die Kompetenz der ansässigen Wirtschaft – insbesondere der kleinen und mittleren Betriebe – heute häufig nur unzureichend eingebunden. Die sozial verantwortlichen und vor Ort engagierten Unternehmen des Handwerks und der Landwirtschaft leisten einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration behinderter Menschen.

3.5   Um einzeln oder gemeinsam wirtschaftlich erfolgreich sein zu können, sind Handwerk, Landwirtschaft und andere regionale Wirtschaftspartner auf schnelles Internet vor Ort angewiesen. Vielfach aber mangelt es besonders in peripheren ländlichen Gebieten an einer ausreichenden Breitbandversorgung.

3.6   Regionalität prägt zunehmend die gesellschaftliche Diskussion. Regionalität ist Ausdruck einer Verantwortungs- und Wertegesellschaft und Voraussetzung für nachhaltiges Wirtschaften und Zusammenleben. Häufig aber fehlt es in der Region an entsprechenden Impulsen oder die Anreize zur Hebung regionaler Wertschöpfungspotenziale sind zu schwach. Der Austausch zwischen den Unternehmern einer Region ist vielfach nicht oder nur unzureichend entwickelt.

3.7   Handwerk und Landwirtschaft stehen gemeinsam vor den wachsenden Herausforderungen eines verbesserten Ressourcen- und Klimaschutzes. Ressourcen- und Klimaeffizienz sind sowohl für das Handwerk als auch für die Landwirtschaft gemeinsame Schlüsselworte für zukunftsorientierte Unternehmensstrategien. Durch die Zusammenarbeit beider Branchen kann der ländliche Raum wesentliche Impulse zur Bewältigung gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen geben.

4.   Ziele

4.1   Für den EWSA ist es wesentlich, dass die europäischen Institutionen und die nationalen Regierungen und Verwaltungen die Potenziale von Handwerk und Landwirtschaft besser erkennen, politisch aufgreifen und damit ländliche Regionen als Zukunftsräume sichern helfen.

4.2   Der EWSA unterstützt die Erschließung zusätzlicher gemeinsamer Wertschöpfungspotenziale von Handwerk und Landwirtschaft mit Nachdruck.

Es gilt, regionale Wertschöpfungsketten von Landwirtschaft und Handwerk zusammen mit anderen Branchen wie dem Handel, dem Tourismus, dem Gesundheitssektor oder der Holzwirtschaft zu initiieren bzw. zu stärken; dabei sollten faire Wettbewerbsregeln gelten und Strukturen geschaffen werden, um die regionalen wirtschaftlichen Potenziale mit Hilfe der ansässigen KMU besser erschließen zu können.

Die Erhaltung, Diversifizierung, Neugründung und Weiterentwicklung von KMU in ländlichen Räumen und branchenübergreifende wirtschaftliche Kooperationen sollten unterstützt werden.

Zur besseren Unterstützung von kleineren Betrieben im ländlichen Raum sollten niederschwellige Angebote zur Wirtschafts-, Innovations- und Kompetenzförderung ausgebaut werden; in allen Regionen Europas gilt es, hinreichende Zugangsmöglichkeiten zu Aus- und Weiterbildung sowie anwendungsbezogenen Transfer von Wissen über die die Zukunft bestimmenden Spitzentechnologien zu schaffen.

Schulkinder sollen bei lokalen Handwerkern und Landwirten traditionelle und moderne Herstellungsweisen kennenlernen und von den Werten einer eigenverantwortlichen und selbständigen Arbeit erfahren.

Die Produktion, Verarbeitung und Vermarktung von regionalen Lebensmitteln und anderen regionalen Rohstoffen sollte konsequent auf spezifische regionale Anforderungen und Qualitäten ausgerichtet werden; entsprechend sollten Qualitätssicherungssysteme sowie die Markenbildung und das Marketing gefördert werden.

Es gilt, ressourcen- und klimaeffiziente Wirtschaftsweisen zu unterstützen.

Die Versorgungseinrichtungen, Infrastrukturen und das gesellschaftliche Leben müssen im ländlichen Raum gesichert und gestärkt werden.

Als zentrale Voraussetzung zur Erschließung von Wertschöpfungspotenzialen in ländlichen Räumen durch KMU gilt es, die Anbindung an moderne Breitbandnetze zu fördern.

Es gilt, dezentrale Energieversorgungssysteme und Energieeffizienzmaßnahmen als große Chance für zusätzliche Wertschöpfungspotenziale zu begreifen.

Angesichts des gravierenden demografischen Wandels müssen qualifizierte Fachkräfte in den ländlichen Regionen gehalten und für zukunftsfähige Tätigkeiten in den Unternehmen des Handwerks und der Landwirtschaft gewonnen werden.

Unbedingt gilt es, die Institutionen, Organisationen und Betriebe im ländlichen Raum, voran der Landwirtschaft und des Handwerks, zu einem engeren zivilgesellschaftlichen Dialog und einer stärkeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit anzuregen und aus vorhandenen guten Beispielen zu lernen.

4.3   Um diese Potenziale für die regionale Wirtschaft partnerschaftlich künftig besser aktivieren zu können, will der EWSA drei Förderziele besonders hervorgehoben wissen:

4.3.1   Schwerpunkt "Regionalität und Wertschöpfung"

Ein wesentliches Potenzial von Landwirtschaft und Handwerk besteht in ihrer lokalen und regionalen Verwurzelung. Gerade in einer globalisierten Welt gewinnen das Lokale und Regionale an Bedeutung. Vielfach liegt im örtlichen Handeln ein Schlüssel zur Lösung aktueller Probleme. Der Ausbau regionaler Wertschöpfungsketten spielt daher eine zunehmende Rolle. Besonders im Lebensmittelbereich bestehen in vielen Regionen traditionell enge Anknüpfungspunkte und Kooperationen zwischen Landwirtschaft und Handwerk, die in diesen Gebieten einen wichtigen Mehrwert für den Verbraucher schaffen. Hier gibt es viele positive Beispiele, deren Weiterentwicklung und Verbreitung in andere Regionen angestrebt werden sollte. Dies sollte auch Vorbild für andere Produkt- und Dienstleistungsbereiche sein, wie zum Beispiel die Holzverarbeitung und den ländlichen Tourismus. Gleichzeitig kann diese Zusammenarbeit einen Beitrag zur Sicherung von Nahversorgungsstrukturen und zur Vermeidung von Verkehr und damit zum besseren Klimaschutz leisten.

Das Denken in Wertschöpfungsketten über eine intensivere Kooperation der wichtigen ländlichen Akteure erlaubt es auch, die Produktion und die Vermarktung von Lebensmitteln auf spezifische regionale Anforderungen und Qualitäten auszurichten und eine unverwechselbare örtliche Identität zu schaffen. Die Entwicklung regionaler Dachmarken zur gemeinsamen Vermarktung entspricht dem wachsenden Bedürfnis der Verbraucher an die Qualität und Herkunft der Produkte. Wie bei Lebensmitteln sollten auch bei handwerklichen Produkten Qualitäts- und Herkunftszeichen eingeführt werden.

4.3.2   Schwerpunkt "Energie und Rohstoffe"

Die Installierung von dezentralen Energieversorgungssystemen und Energieeinsparungsmaßnahmen im ländlichen Raum wird in Europa in Zukunft deutlich an Bedeutung gewinnen und bildet ein ideales Kooperationsfeld zwischen Handwerk und Landwirtschaft. Erneuerbare Energien und nachwachsende Rohstoffe können ihre ökologische Energiebilanz nur dann voll entfalten, wenn sie in den Regionen weiterverarbeitet werden, in denen sie produziert werden. Dafür braucht man Experten vor Ort.

Ein weiteres zukunftsträchtiges Feld der regionalen Zusammenarbeit ist der Bereich des Anbaus, der Verarbeitung und der Vermarktung von erneuerbaren Roh- und Werkstoffen.

4.3.3   Schwerpunkt "Fachkräftesicherung"

Die Unternehmen in Landwirtschaft und Handwerk haben es im Rahmen des demografischen Wandels und der in peripheren ländlichen Gebieten erkennbaren Abwanderung in Ballungsräume zunehmend schwer, hoch qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen (1). Wie in einer weiteren EWSA-Stellungnahme bereits dokumentiert, gilt der Beschäftigung von Frauen ein besonderes Augenmerk (2). Die weichen Standortfaktoren der Lebensqualität, über Wohn-, Bildungs-, Freizeit- und Kulturangebote und vor allem die Angebote für junge Familien müssen zur langfristigen Standortsicherung gestärkt werden. Die Anstrengungen der Wirtschaftspartner zur frühzeitigen Sensibilisierung von Schülern und Jugendlichen für Zukunftsberufe in Handwerk und Landwirtschaft sind durch die Politik über die Arbeitsämter und das öffentlichen Schulwesen zu flankieren. Die Beschäftigungsfähigkeit der in diesen Berufen ausgebildeten Menschen ist hoch und besonders hoch einzuschätzen, wenn es gilt, sich neuen Herausforderungen des Arbeitsmarktes anpassen zu müssen (3).

5.   Maßnahmen

5.1   Zur Umsetzung der vorgenannten Ziele hält es der EWSA für erforderlich, auf der Europa Strategie 2020 zur Förderung von intelligentem, integriertem und nachhaltigem Wachstum konsequent aufzubauen, die Förderung ländlicher Räume über den ELER mit seinen sechs Förderprioritäten und über die Strukturfonds angemessen zu berücksichtigen und mit integrierten Politikansätzen nachhaltigen Einfluss auf Lebensqualität und Wirtschaftskraft auf dem Land zu nehmen. Eine sektor- und fondsübergreifende Herangehensweise käme der Entwicklung gemeinsamer Wertschöpfungsketten, der Verringerung der Abwanderung und der Stabilisierung von Versorgungsstrukturen im ländlichen Raum und damit allen ansässigen Wirtschaftsbranchen und Bevölkerungsgruppen vor Ort zugute.

5.2   Konkrete Ansatzpunkte zur Ausgestaltung der künftigen EU-Strukturpolitik in ländlichen Räumen sind aus Sicht des EWSA insbesondere:

Investive Förderung von Diversifizierung, Neugründung, Betriebsübergaben und Weiterentwicklung von KMU in ländlichen Gebieten;

Förderung und Initiierung branchenübergreifender Kooperationen und Plattformen (zum Beispiel über die Einrichtung von regelmäßig stattfindenden "runden Tischen");

Förderung regionaler (traditioneller) Wirtschaftskreisläufe mit kurzen Transportwegen;

Förderung von regionalen Dachmarken zur gemeinsamen Verarbeitung und Vermarktung regionaler Produkte und Dienste;

Förderung von Qualität und Qualitätssicherungssystemen als Schlüssel zum erfolgreichen Absatz von Produkten;

Förderung von ressourcen- und klimaeffizienten Wirtschaftsweisen;

Unterstützung von gezieltem Wissens- und Kompetenztransfer an Unternehmen des Handwerks, der Landwirtschaft sowie anderen Wirtschaftspartnern im ländlichen Raum;

Förderung von Innovationspartnerschaften zwischen Forschung und Praxis unter besonderer Berücksichtigung anwendungs- und prozessorientierter Innovationen für KMU;

Sicherung und Ausbau der wirtschaftsnahen Infrastruktur im ländlichen Raum (insbesondere Breitband);

Flankierung der Maßnahmen der Wirtschafts- und Sozialpartner zur Sicherung des zukünftigen Fachkräftebedarf;

Öffentlichkeitsarbeit durch Betriebsbesichtigungen für Schulen und Bevölkerung;

Ausbau des bestehenden "LEADER"-Ansatzes zur deutlich stärkeren Einbeziehung von Unternehmern und zur Hebung wirtschaftlicher Potenziale im ländlichen Raum;

Förderung von aus KMU-Unternehmern bestehenden Mentorennetzwerken, besonders im Hinblick auf die Begleitung von Kooperationen;

Schaffung und Weiterentwicklung von Plattformen zur Sammlung und Verbreitung von "Best Practices" der regionalen Entwicklung und der Kooperation zwischen ländlichen Wirtschafts- und Sozialpartnern;

Förderung von ländlichen Regionen durch Bereitstellung von flexiblen Regionalbudgets.

Brüssel, den 23. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  CESE 1704/2007, ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 47.

(2)  CESE 1175/2011, ABl. C 318, 29.10.2011, S. 43.

(3)  Idem.


22.5.2012   

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C 143/39


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Standpunkt des EWSA zur Vorbereitung der UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung (Rio+20)“(ergänzende Stellungnahme)

2012/C 143/08

Hauptberichterstatter: Hans-Joachim WILMS

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Januar 2012, gemäß Artikel 29 Buchstabe A der Durchführungsbestimmungen zur Geschäftsordnung eine ergänzende Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

"Standpunkt des EWSA zur Vorbereitung der UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung (Rio+20)" (ergänzende Stellungnahme).

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten beschloss der Ausschuss auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar), Hans-Joachim WILMS zum Hauptberichterstatter zu bestellen, und verabschiedete mit 211 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Die Vereinten Nationen werden vom 20. bis 22. Juni 2012 in Rio de Janeiro in Brasilien eine Konferenz für nachhaltige Entwicklung veranstalten. In der zweiten Sitzung des Vorbereitungskomitees für die Konferenz wurden alle Mitgliedstaaten, relevante Organisationen im UN-System und Interessenträger aufgefordert, bis zum 1. November 2011 beim Sekretariat Eingaben und Beiträge einzureichen, aus denen ein Text erstellt werden sollte, der dann seinerseits als Grundlage für den im Januar 2012 veröffentlichten "Null-Entwurf" der Schlussfolgerungen der UN-Konferenz dienen sollte.

1.2

Der Ausschuss hat zu dem gemeinsamen Standpunkt der EU und ihrer Mitgliedstaaten in diesem Kontext mit seiner im September 2011 verabschiedeten Stellungnahme zu der "Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Rio+20: Hin zu einer umweltverträglichen Wirtschaft und besserer Governance – Beitrag der europäischen organisierten Zivilgesellschaft" (1) beigetragen.

1.3

Im Einklang mit dem in dieser Stellungnahme aufgestellten Aktionsplan hat der Ausschuss den Dialog mit der Zivilgesellschaft innerhalb und außerhalb Europas weiter ausgebaut. Auf internationaler Ebene findet dieser Dialog im Rahmen der Diskussionsforen der Zivilgesellschaft EU/Brasilien und EU/China, der Sitzungen des Ausschusses mit der Gesellschaftskammer der Russischen Föderation und der AICESIS statt. Weitere Aktivitäten sind im Rahmen der AKP-Zusammenarbeit geplant.

1.4

Auf europäischer Ebene hat der Ausschuss einen breit angelegten Dialog über die Themen der Rio+20-Konferenz eingeleitet und erste Reaktionen auf den am 10. Januar 2012 veröffentlichten "Null-Entwurf" der Konferenz-Schlussfolgerungen eingeholt. Ziel dieses Dialogs war es, den Boden für die vom Ausschuss am 7./8. Februar 2012 veranstaltete einschlägige Konferenz der Zivilgesellschaft "Nachhaltigkeit fördern, Verantwortung zeigen! Die europäische Zivilgesellschaft auf dem Weg zu Rio+20" und eine gemeinsame Botschaft der Konferenzteilnehmer zu bereiten.

1.5

In dieser ergänzenden Stellungnahme bekräftigt der Ausschuss die Empfehlungen und Schlussfolgerungen aus seiner Stellungnahme zu der "Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Rio+20: Hin zu einer umweltverträglichen Wirtschaft und besserer Governance – Beitrag der europäischen organisierten Zivilgesellschaft" (2) und macht sich die Botschaft seiner Konferenz "Nachhaltigkeit fördern, Verantwortung zeigen! Die europäische Zivilgesellschaft auf dem Weg zu Rio+20" zu Eigen.

2.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

2.1

Der Ausschuss ist davon überzeugt, dass die aktuellen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Krisensituationen eng miteinander verzahnt sind und nicht mehr so weitergemacht werden kann wie bisher.

2.2

Der Ausschuss schließt sich der Botschaft der von ihm am 7./8. Februar 2012 in Brüssel veranstalteten Konferenz zum Thema "Nachhaltigkeit fördern, Verantwortung zeigen! Die europäische Zivilgesellschaft auf dem Weg zu Rio+20" an:

2.3

Die führenden Politiker der ganzen Welt müssen sich auf der Rio+20-Konferenz der Vereinten Nationen auf einen konkreten Aktionsplan für nachhaltige Entwicklung und Beseitigung der Armut in Abstimmung auf die Kapazitätsgrenzen der Erde festlegen. Die Förderung einer grünen Wirtschaft muss Teil einer übergreifenden Nachhaltigkeitsstrategie sein, in der soziale, ökologische und wirtschaftliche Aspekte ausgewogen berücksichtigt sind und die gleichzeitig auf Verteilungs- und Generationengerechtigkeit abhebt.

2.4

Die Beseitigung der Armut und ein sicherer Zugang aller zu einer ausreichenden Versorgung mit Nahrung, sauberem Wasser und nachhaltiger Energie müssen als oberste Priorität der Rio+20-Agenda angesehen werden. Die Förderung einer umweltverträglichen lokalen Landwirtschaft in Entwicklungsländern leistet einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Armut und zur Ernährungssicherheit und unterstützt die Entwicklung wirtschaftlich florierender ländlicher Gebiete. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau bei der Ausübung ihrer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte muss sichergestellt werden.

2.5

Die politischen Entscheidungsträger werden aufgerufen, ihrer Verpflichtung zur Umsetzung der Millenniumsentwicklungsziele nachzukommen und weitere Maßnahmen zu ergreifen, um die erforderliche wirksame Finanzierung zu sichern. Vor allem sollten die Industrieländer dringend ihre Zusage erfüllen, mindestens 0,7% ihres Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe aufzuwenden.

2.6

Die europäischen Verhandlungsführer müssen auf einen wesentlich höheren Stellenwert der sozialen Dimension der nachhaltigen Entwicklung hinwirken, als in dem Nullentwurf vorgesehen ist. Die sich immer weiter öffnende Sozial- und Wohlstandsschere innerhalb der einzelnen Länder und zwischen den Ländern behindert die Bemühungen um nachhaltige Entwicklung und Verteilungsgerechtigkeit und macht dringliches Handeln erforderlich. Im Zuge eines gerechten Wandels müssen menschenwürdige Arbeit und hochwertige Arbeitsplätze sichergestellt werden. Die Ratifizierung und Anwendung der ILO-Kernarbeitsnormen und die vorbehaltlose Unterstützung der ILO-Initiative für den Aufbau einer sozialen Grundsicherung tun Not.

2.7

Die politischen Entscheidungsträger werden aufgefordert, sich in Rio auf einen Fahrplan für eine grüne Wirtschaft mit klaren Zielen und Kontrollmechanismen festzulegen, der einen wirtschaftlich effizienten, sozial gerechten und umweltverträglichen Übergang zu einer nachhaltigen Gesellschaft gewährleistet. Der Umstellungsprozess muss kontinuierlich von der Zivilgesellschaft begleitet werden und u.a. auf dem sozialen Dialog aufbauen.

2.8

Die europäischen Länder und die anderen Industrieländer müssen sich in Rio zu einer erheblichen Senkung ihres Verbrauchs der begrenzten natürlichen Ressourcen der Erde verpflichten. Die europäischen Entscheidungsträger werden dazu angehalten, die vereinbarten EU-Ziele umzusetzen und Vorbereitungen zu treffen, um darüber hinauszugehen. Die Schwellenländer sollten natürliche Ressourcen effizienter zu nutzen.

2.9

Es muss der Ausstieg aus nicht nachhaltigen Produktions- und Verbrauchsmustern vollzogen werden, und zwar unter Rückgriff auf eine breite Palette von Konzepten wie regulatorische und fiskalische Instrumente, ein ökologisch und sozial verantwortliches Beschaffungswesen, die Abschaffung von umweltschädlichen Beihilfen, Forschung im Bereich Öko-Innovation, die Internalisierung von Umweltkosten sowie andere marktbasierte Anreize, und unter gleichzeitiger Förderung einer nachhaltigen Lebensweise und der aktiven Einbeziehung der Verbraucher in den Wandel. In Rio sollte ein Zehnjahres-Arbeitsprogramms für Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch angenommen werden.

2.10

In dem Nullentwurf werden die Grenzen des BIP als Indikator für Wohlergehen erkannt und die Einbindung der Zivilgesellschaft in die schleunige Entwicklung ergänzender Indikatoren gefordert.

2.11

Die Initiative, bis 2015 globale Nachhaltigkeitsziele aufzustellen, in deren Rahmen die drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung auf ausgewogene Weise miteinander vereinbart werden, ist gutzuheißen. In Rio sollte ein alle Beteiligten einbeziehender Prozess eingeleitet werden, in dessen Rahmen die Millenniumsentwicklungsziele mit umfassenden globalen Nachhaltigkeitszielen verknüpft, eine Strategie verankert und Nachhaltigkeitsindikatoren mitsamt klaren Mechanismen der Verantwortlichkeit festgelegt werden.

2.12

Es ist notwendig, in Rio einen neuen Global Deal abzuschließen, um die für die Schaffung einer grünen Wirtschaft notwendigen Investitionen zu gewährleisten.

2.13

Es wird anerkannt, dass dem Privatsektor bei der Nachhaltigkeitswende eine wesentliche Rolle und Verantwortung zukommt. Die grüne Wirtschaft ist als Chance für die Unternehmen zu begreifen. Unternehmen und Industrie sollten diese Chance nutzen. Die Politik sollte über klare, stabile und vorhersagbare Rahmenbedingungen für grünes Wirtschaften das Vertrauensklima, den Regelungsrahmen und Anreize für die erforderlichen Investitionen schaffen.

2.14

Es sollten ein neuer Rat für nachhaltige Entwicklung, der die UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung ersetzen soll, sowie eine neue UN-Umweltagentur auf der Grundlage des UNEP eingerichtet werden. Über diese beiden Gremien sollte die wirksame Einbindung der in den Hauptgruppen vertretenen Zivilgesellschaft sichergestellt werden.

2.15

Der Vorschlag, einen Bürgerbeauftragten für die Belange künftiger Generationen einzusetzen, wird begrüßt.

2.16

Die politischen Entscheidungsträger müssen auf der Rio+20-Konferenz zusätzliche Maßnahmen vereinbaren, um bei dem Übergang zu einer nachhaltigen Gesellschaft eine wirksamere Beteiligung der Zivilgesellschaft sicherzustellen und auf globaler, nationaler, regionaler und lokaler Ebene eigenverantwortliches Handeln zu erreichen. Es müssen die rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen für den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen, für Dialog sowie für demokratische Teilhabe und Kontrolle geschaffen werden. Bei der Förderung der zivilgesellschaftlichen Debatte sollten Multistakeholderforen wie Wirtschafts- und Sozialräte oder nationale Räte für Nachhaltige Entwicklung zum Vorbild genommen werden. Auch tun mehr Sensibilisierungskampagnen und Programme für Erziehung zu nachhaltiger Entwicklung Not.

2.17

Weltweit sollte sich die Zivilgesellschaft weiterhin dafür einsetzen, dass die Ergebnisse von Rio+20 den zu bewältigenden Herausforderungen angemessen sind. Die Zivilgesellschaft muss globale Verantwortung übernehmen!

2.18

Der vom UNCSD-Vorbereitungskomitee vorgelegte Nullentwurf ist eine gute Verhandlungsgrundlage. Er bleibt jedoch immer noch weit hinter den Erfordernissen zurück.

2.19

Die europäischen Regierungschefs müssen ihrer Verantwortung gerecht werden und sich in die Rio+20-Konferenz einbringen. Die EU-Verhandlungsführer sind aufgerufen, sich bei der Formulierung des Abschlussdokuments für ehrgeizigere Ziele, Fristen, Finanzierung, rechtliche Verpflichtungen und Umsetzungsmodalitäten einzusetzen. Nach der Rio+20-Konferenz muss die übergreifende EU-Nachhaltigkeitsstrategie überprüft und mit neuer Dynamik erfüllt werden.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 102.

(2)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 102.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

478. Plenartagung am 22. und 23. Februar 2012

22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/42


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (2014-2020)“

COM(2011) 608 final — 2011/0269 (COD)

2012/C 143/09

Berichterstatter: Martin SIECKER

Ko-Berichterstatter: Jean-Pierre HABER

Der Rat beschloss am 24. Oktober 2011 und das Europäische Parlament am 25. Oktober 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 175 Absatz 3 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (2014-2020)"

COM(2011) 608 final – 2011/0269 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 9. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 23. Februar) mit 158 gegen 10 Stimmen bei 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt, dass die Kommission einen Vorschlag zur Neuauflage der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) vorgelegt hat. Gleichzeitig ist der Ausschuss jedoch nicht davon überzeugt, dass alle Probleme des Fonds durch die Vorschläge der Kommission ausgeräumt werden. Die Zahl der Anträge auf Unterstützung durch den EGF ist nach wie vor sehr niedrig, und der EWSA ist nicht der Auffassung, dass eine Ausweitung des Fonds auf die Landwirtschaft die richtige Lösung hierfür darstellt. Der Ausschuss empfiehlt vielmehr einige zusätzliche Maßnahmen zur Verbesserung der Inanspruchnahme des EGF, z.B. durch Senkung der Schwellen und Beschleunigung der Verfahren, da das Instrument als solches in den Fällen, in den es zum Einsatz kam, relativ gute Ergebnisse erzielt hat.

1.2

Einer der Gründe für die unzureichende Inanspruchnahme ist das langsame und bürokratische Verfahren des EGF aufgrund seines spezifischen Charakters. Die Kommission kann nicht ohne Rücksprache mit dem Europäischen Parlament und dem Rat entscheiden. Wenn jedoch die Haushaltsbehörde beteiligt ist, sind äußerst zeitaufwendige Verfahren erforderlich für die Bewilligung aller eingereichten Anträge, mit hohen Verwaltungskosten für die Bewilligung, die anderweitig besser genutzt werden könnten.

1.3

Der EWSA empfiehlt, die Schwelle von 500 Entlassungen auf 200 Entlassungen als Interventionskriterium zu senken. Er empfiehlt auch, die Quote der Kofinanzierung durch die EU auf 75% zu erhöhen, um die Inanspruchnahme des EGF weiter zu verbessern. Der EWSA begrüßt des Weiteren die Tatsache, dass der Ausdruck "Arbeitskraft" nunmehr auch Arbeitnehmer mit befristetem Arbeitsvertrag und Leiharbeitnehmer umfasst. Der EWSA begrüßt ebenfalls die vorgesehene Ausdehnung auf Selbstständige. Sie sind wesentliche und wichtige Akteure des Arbeitsmarkts und gehören zu den von den Folgen von Globalisierung und Wirtschaftskrisen am ersten betroffenen Gruppen. Der EGF war hingegen niemals zur Unterstützung von Arbeitgebern gedacht, und deshalb lehnt es der EWSA ab, den EGF auf geschäftsführende Inhaber von KMU auszudehnen. Die GD Unternehmen verfügt eigens über eine Abteilung, die sich mit KMU-Politik mitsamt umfangreichen Unterstützungsprogrammen befasst. Der EGF sollte nicht mit diesen Programmen in Konflikt geraten.

1.4

Der EWSA schlägt zwei weitere Möglichkeiten zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit des EGF vor: Erstens könnten die KMU durch eine groß angelegte Informationskampagne über die Möglichkeiten des EGF informiert werden; zweitens könnten die Sozialpartner schon von Anfang an in die Antragsverfahren des Fonds einbezogen werden. Auch möchte der EWSA seine Verwunderung über die Entscheidung des Rats vom Dezember 2011 zum Ausdruck bringen, die Möglichkeit der Inanspruchnahme des EGF bei der Bekämpfung unerwarteter sozialer Auswirkungen der Wirtschaftskrise in den beiden letzten Jahren der gegenwärtigen Laufzeit des Fonds (2012 und 2013) zurückzuziehen – zumal aus der Übersicht über die Anträge ersichtlich ist, dass der Fonds in diesem Bereich leistungsfähig ist. Der EWSA appelliert daher an den Rat, diese Entscheidung zu überdenken, und befürwortet ganz klar die Verlängerung des Fonds von 2014 bis 2020.

1.5

Der EWSA ist nicht mit dem Vorschlag einverstanden, den EGF auf die Landwirtschaft auszuweiten. Er anerkennt gleichwohl, dass für den Sektor etwas getan werden muss, wenn künftige Handelsabkommen wie z.B. der Mercosur-Vertrag in Kraft treten. Der Mercosur wird zwar der EU insgesamt voraussichtlich Vorteile bieten, aber innerhalb der EU werden diese der Industrie und den Dienstleistungen zugute kommen, wohingegen die Landwirtschaft zur Kasse gebeten wird. Die Kommission geht davon aus, dass künftige Handelsabkommen sich möglicherweise ebenso auswirken. Es ist gerecht, die Landwirtschaft für solche Nachteile zu entschädigen, aber das sollte mittels für den Sektor maßgeschneiderten Lösungen erfolgen, z.B. im Rahmen der Strukturfonds in Verbindung mit der Gemeinsamen Agrarpolitik. Der EWSA fordert, dass der EGF, der gegründet wurde, um gekündigte Arbeitnehmer bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu unterstützen, auch weiterhin für diesen Zweck reserviert bleibt.

1.6

Der EWSA setzt sich dafür ein, dass der Fonds in Krisenzeiten beibehalten wird und insbesondere bei der Verlagerung von Industriestandorten innerhalb der Europäischen Union genutzt werden kann.

2.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags

2.1

Die Europäische Kommission legte im März 2006 einen Vorschlag zur Einrichtung eines Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) vor. Ziel war es, einmalige spezifische Unterstützungsmaßnahmen bereitstellen, um die Wiedereingliederung von entlassenen Arbeitnehmern in das Erwerbsleben in bestimmten Gebieten oder Sektoren zu erleichtern, die unter einer schwerwiegenden Störung der Wirtschaftsentwicklung zu leiden haben, wie z.B. Verlagerung von Arbeitsplätzen in Drittländer, eine massive Ausdehnung der Einfuhren oder der andauernde Verlust von Marktanteilen der EU in einer bestimmten Branche. Das Hauptkriterium für die Unterstützung durch den EGF war der Tatbestand von mindestens 1 000 Entlassungen in einem Unternehmen oder einem Konzern in der gleichen Branche in einer Region oder in zwei aneinandergrenzenden Regionen.

2.2

Der EGF wurde für den Zeitraum von 2007-2013 eingerichtet und umfasste Maßnahmen wie Umschulung, Unterstützung zur Erlangung eines neuen Arbeitsplatzes, Unterstützung bei Unternehmensgründungen und Lohnergänzungsleistungen. Der EGF interveniert auf Anfrage eines Mitgliedstaats. Der von der EU bezahlte Betrag durfte nicht 50% der voraussichtlichen Gesamtkosten sämtlicher von dem Mitgliedstaat geplanten Maßnahmen übersteigen. Aufgrund der Wirtschaftskrise wurden 2009 die Kriterien für eine Unterstützung durch den EGF angepasst. Die Schwelle bezüglich der Entlassungen wurde von 1 000 auf 500 gesenkt und der Finanzierungsanteil der EU bei EGF-Projekten von 50% auf 65% angehoben.

2.3

Die Europäische Kommission legte im Oktober 2011 einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vor, um den EGF im Programmzeitraum 2014-2020 fortzuführen. Es soll ein Beitrag zu den Zielen der Strategie Europa 2020 geleistet und die Unterstützungen auf die Landwirtschaft ausgeweitet werden. Um sicherzustellen, dass die Unterstützung durch den EGF den Arbeitskräften unbeschadet ihres Arbeitsvertrags oder Beschäftigungsverhältnisses zuteil wird, wurde der Begriff "Arbeitskraft" ausgeweitet und umfasst nun nicht nur Arbeitnehmer mit unbefristetem Arbeitsvertrag, sondern auch Arbeitnehmer mit befristetem Vertrag, Leiharbeitnehmer und geschäftsführende Inhaber von Kleinst-, Klein- und mittleren Unternehmen sowie Selbstständige einschließlich Landwirte. Die Beteiligung der EU an EGF-Projekten beträgt zwischen 50 und 65%.

2.4

Die Kommission schlägt vor, dass der EGF aufgrund der Unvorhersehbarkeit und Dringlichkeit der Umstände, unter denen der EGF intervenieren muss, auch weiterhin vom mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) ausgenommen ist. Die Ausgaben auf EU-Ebene sollten ergebnisorientiert sein. Für EGF-bezogene Ausgaben gibt der MFR das Ziel vor, dass mindestens 50% der unterstützten Arbeitskräfte innerhalb von 12 Monaten einen neuen und festen Arbeitsplatz finden sollten. Damit die Kommission feststellen kann, ob die Mitgliedstaaten erfolgreich auf dieses Ziel hinarbeiten, werden die Mitgliedstaaten nach 15 Monaten einen Zwischenbericht vorlegen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EGF wurde als eine Art Soforthilfeinstrument eingerichtet, um der EU eine rasche und flexible Reaktion zur Unterstützung von Arbeitnehmern zu ermöglichen, die Aufgrund der Globalisierung arbeitslos wurden. Für den gesamten siebenjährigen Zeitraum von 2007-2013 standen für den EGF 3,5 Mrd. EUR zur Verfügung. In den ersten fünf Jahren (von 2007-2011) wurden von den insgesamt für diesen Zeitraum verfügbaren 2,5 Mrd. EUR nur 364 Mio. EUR verwendet. Die Hauptgründe für die geringe Verwendung des EGF liegen in den langsamen und schwerfälligen Verwaltungsverfahren, in der hohen Schwelle von 1 000 Entlassungen und dem niedrigen Kofinanzierungssatz von 50%. Die Verwendung verbesserte sich 2009, nachdem die Quote der maximalen Kofinanzierung durch die EU – in bestimmten Fällen – auf 65% angehoben wurde und auch Anträgen stattgegeben wurde, die sich nicht nur auf die Bewältigung der Folgen der Globalisierung, sondern auch der Wirtschaftskrise bezogen.

3.2

Nach diesen Anpassungen stieg die Inanspruchnahme des EGF von acht Anträgen in 2007 und fünf in 2008 auf 29 in 2009 und 2010. Im Jahr 2011 wurde acht Anträgen stattgegeben, weitere 18 werden noch geprüft. Der EGF wurde mehr für die Bekämpfung der Krisenfolgen als zur Abfederung der Globalisierungsfolgen eingesetzt: in drei Jahren gab es 53 Anträge im Rahmen der Krisenbewältigung (von der Ausweitung des EGF in 2009, um die Krisenfolgen mit zu berücksichtigen, bis November 2011) gegenüber 26 Anträge in Bezug auf die Globalisierung in fünf Jahren. Die 53 krisenbezogenen Anträge betrafen 48 607 Arbeitskräfte und die 26 globalisierungsspezifischen Anträge 28 135 Arbeitskräfte, sodass insgesamt 76 742 bei der Erhaltung ihrer Beschäftigungsfähigkeit unterstützt wurden.

3.3

Bei der Halbzeitbewertung des EGF wurde auf der Grundlage der 15 für den Zeitraum von 2007-2009 damals zur Verfügung stehenden Abschlussberichte untersucht, wie viele betroffene Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres wieder eine Stelle gefunden hatten. Die Wiederbeschäftigung lag durchschnittlich bei 41,8%. Die Wiederbeschäftigungsquote überstieg die 50%-Marke in 6 von 15 der ersten, durch den EGF kofinanzierten Fälle, wohingegen sie in 9 von 15 Fällen unterhalb der Zielmarke blieb. Die Ergebnisse bei der Wiederbeschäftigung weisen starke Unterschiede auf: von der sehr hohen Quote von 78,2% in einem Fall in Deutschland zu wesentlich geringeren Quoten von 4-6% bei Fällen in Portugal, Spanien und Italien. Es wäre zu überlegen, ob ein Teil der Hilfen nicht an die Ergebnisse der Unterstützung gebunden werden sollte, um so vergleichbare Raten der Wirksamkeit der Hilfe zu erreichen. Mittelfristig (12 Monate und mehr nach dem Auslaufen der Unterstützung durch den EGF) stieg die Wiederbeschäftigungsquote bei der Mehrzahl der Fälle (für die Informationen vorliegen) an – trotz der Auswirkungen der globalen Wirtschaftskrise auf die lokale Wirtschaft. Die Wiederbeschäftigungsquote nach einer Förderung durch den EGF stieg im Zeitablauf in 8 Fällen an und nahm in 3 Fällen ab. Im Schnitt stieg die Wiederbeschäftigungsquote in diesen Fällen um 7% an. Die generelle Schlussfolgerung, dass abgesehen von der geringen Inanspruchnahme des Fonds die Ergebnisse gut sind, scheint gerechtfertigt zu sein.

3.4

Was nicht untersucht wurde ist der dritte Grund für die geringe Inanspruchnahme des EGF, und zwar die Tatsache, dass der Fonds über kein eigenes Budget verfügt. Die Haushaltsbehörde, d.h. das Europäische Parlament und der Rat, hat demnach über jeden einzelnen Antrag zu befinden und die Förderwürdigkeit festzustellen. Trotz der Tatsache, dass dieses Modell – eine Einrichtung außerhalb der bestehenden Strukturen der EU – eine rasche und flexible Reaktion ermöglichte, sind die einzuhaltenden Verwaltungsverfahren aus Gründen der Exaktheit sehr zeitaufwendig und umständlich. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kosten für die Genehmigung hoch sind – wie z.B. für die Übersetzung in 22 Sprachen, die Räumlichkeiten und die Unterlagen für die Verhandlungen, die Zeit der Teilnehmer, die Verdolmetschung – und dies alles in den einzelnen Etappen des Genehmigungsverfahrens. Sämtliche Anträge wurden genehmigt, und es darf gefragt werden, ob die Ausgaben für die Genehmigungsverfahren nicht besser zu Gunsten der betroffenen Arbeitnehmer getätigt werden sollten. Der Vorteil des derzeitigen EGF-Verfahrens liegt in der großen Transparenz und der Sichtbarkeit des Engagements der EU bei der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung. Wenngleich Transparenz und Öffentlichkeitswirkung von größter Bedeutung sind, ist es jedoch erforderlich, das Verfahren zu beschleunigen und die Kosten zu senken.

3.5

Im Vorschlag und den begleitenden Dokumenten (1) werden weitere Optionen erwähnt: die Einbindung des EGF in den ESF oder die Fortführung des EGF als eigenständiger Fonds mit eigenen Haushaltsmitteln. Beide Optionen haben ihre Vor- und Nachteile. Der Hauptnachteil bei einer Einbindung des EGF in den ESF ist die Notwendigkeit einer eindeutigen Zuweisung von Haushaltsmitteln ungeachtet der Tatsache, dass sich Massenentlassungen nicht planen und programmieren lassen. Eindeutige Vorteile wären die stärkere Kohärenz und Komplementarität mit dem ESF, die mögliche Verkürzung des Beschlussfassungsprozesses und die Vereinfachung und Straffung der Antragsverfahren. Option 3 – die Fortführung des EGF als eigenständige Einrichtung mit eigenen Haushaltsmitteln – hat bei einer Reihe von Nachteilen lediglich nur einen Vorteil: die größere Sichtbarkeit der europäischen Solidarität.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Zunächst möchte der EWSA seine Verwunderung über die Entscheidung des Rates vom Dezember 2011 zum Ausdruck bringen, die Möglichkeit der Inanspruchnahme des EGF bei der Bekämpfung unerwarteter sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise zurückzuziehen, wo doch Soforthilfe in den beiden letzten Jahren der gegenwärtigen Laufzeit des Fonds (2012 und 2013) erforderlich ist. Der Überblick über die bis zum 17. November 2011 eingegangenen Anträge auf EGF-Beihilfen zeigt sehr deutlich, dass der Fonds in diesem Bereich relativ leistungsfähig ist – und hinsichtlich des ursprünglichen Ziels der Abfederung von Globalisierungsfolgen weniger gut funktioniert. Der EWSA fordert folglich den Rat auf, die Inanspruchnahme des EGF zur Bekämpfung der Krisenfolgen zu gestatten, solange die Krise noch nicht vorüber ist. Der EWSA möchte mit aller Deutlichkeit klarstellen, dass er es wünscht, dass der um die Bekämpfung der Krisenfolgen erweiterte Anwendungsbereich des EGF bei der Neuauflage beibehalten wird und die Schwellen für eine Inanspruchnahme weiter gesenkt werden.

4.2

Obwohl die Zahl der Anträge nach 2008 gestiegen ist, ist die Inanspruchnahme des EGF nach wie vor sehr gering. Daher ist es logisch, die Schwellen für Anträge auf EGF-Beihilfen stärker als vorgeschlagen zu senken. In den vorläufigen Ergebnissen der Halbzeitbewertung des EGF wird im Zusammenhang mit der Senkung der Schwelle der Entlassungen von 1 000 auf 500 festgehalten, dass diese gesenkte Zahl unter bestimmten Umständen immer noch zu hoch ist, da auch ein Verlust von 200 bis 300 Arbeitsplätzen in einem bestimmten lokalen und regionalen Umfeld einen erheblichen Schock auslösen konnte. Die bestehende Schwelle von 500 Arbeitnehmern ist eventuell immer noch zu hoch, wenn bestimmte laufende Prozesse der Verlagerung von Arbeitsplätzen und der Ausgliederung (Outsourcing) berücksichtigt werden. Der EWSA empfiehlt deshalb, diese Schwelle auf 200 Arbeitskräfte zu senken.

4.3

Der EWSA schlägt zwei weitere Möglichkeiten zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit des EGF vor: KMU sind im Allgemeinen zu klein und verfügen über zu wenig Ressourcen, um sich über die Möglichkeiten der Hilfen, die die EU unter bestimmten Umständen gewährt, auf dem Laufenden zu halten. Möglicherweise ringen viele KMU mit Problemen, für die der EGF eine Lösung bereithalten würde, jedoch wissen sie noch nicht einmal von der Existenz dieses Fonds und können ihn demnach auch nicht nutzen. Der EWSA geht von einem enormen Potenzial aus, das erschlossen werden könnte, wenn geschäftsführende Inhaber von KMU mit einer groß angelegten Informationskampagne über die Möglichkeiten des EGF informiert würden. Eine weitere Idee, die eine positive Wirkung auf die Leistungsfähigkeit des EGF haben könnte, wäre die Einbeziehung der Sozialpartner in die Antragsverfahren des Fonds schon von Anfang an.

4.4

Die bislang durchgeführte Evaluierung weist darauf hin, dass sich die größten Vorbehalte der Mitgliedstaaten in der ersten Phase des EGF teilweise auf den hohen Satz der beizusteuernden Eigenmittel beziehen. Aus diesem Grund wurden die Anteile 2009 verändert, mit anscheinend positiver Wirkung. Da die gegenwärtige Krise immer noch entschlossene aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erfordert, legt der EWSA nahe, die Quote der Kofinanzierung durch die EU auf 75% anzuheben, um die Nutzung des EGF zu verbessern.

4.5

Die Kommission schlägt vor, das bisherige Modell des EGF als Kriseninterventionsinstrument außerhalb des MFR beizubehalten. Der Nachteil dabei liegt in den langsamen und langwierigen Verwaltungsverfahren. Der bürokratische Aufwand ist auf Engpässe – teils in Brüssel und teils in den Mitgliedstaaten – zurückzuführen. Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Lösung für diese Engpässe zu finden, damit das Verfahren flexibler und schneller und von potenziellen Antragstellern nicht mehr als Hemmschwelle wahrgenommen wird. So werden Anträge z.B. von den Regionen gestellt, diese müssen aber auf nationaler Ebene behandelt werden. Dadurch wird das Verfahren erheblich verlangsamt, und eine Überarbeitung dieser Verfahren könnte zu erheblichen Effizienzgewinnen führen.

4.6

Der EWSA begrüßt, dass der Ausdruck "Arbeitskraft" in der neuen Verordnung nicht auf Arbeitnehmer mit unbefristetem Arbeitsvertrag begrenzt wird, sondern auch Arbeitnehmer mit befristetem Arbeitsvertrag und Leiharbeitnehmer umfasst. Der EWSA hegt mehr Vorbehalte in Bezug auf die Aufnahme von Selbstständigen. Der EGF wurde als flexibles Instrument zur Förderung von Arbeitnehmern eingerichtet, die durch die Globalisierung ihren Arbeitsplatz verloren haben. Der Status von Selbstständigen unterscheidet sich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat ganz erheblich und reicht von hochqualifizierten, am Arbeitsmarkt gesuchten Fachleuten über wirtschaftlich abhängige Selbstständige, die sich de facto in der gleichen Lage wie Angestellte befinden, bis hin zu Einmannunternehmen. Ein großer Teil dieser Selbstständigen bilden einen maßgeblichen Teil des Arbeitsmarkts. Selbstständige bekommen mitunter als erste die Folgen von Globalisierung und Wirtschaftskrisen zu spüren. Daher regt der EWSA an, den EGF auf diese Arbeitsmarktteilnehmer auszudehnen, um Arbeitslosigkeit zu verhindern und eine bessere Nutzung des Fonds zu fördern.

4.7

Hinsichtlich der geschäftsführenden Inhaber von KMU bleibt der EWSA skeptisch. Geschäftsführende Inhaber von KMU beschäftigen Arbeitnehmer und sind somit als Arbeitgeber anzusehen, die jedoch keine Förderung aus dem EGF erhalten können, weil dieses Instrument Arbeitnehmern vorbehalten ist, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Die Unterstützung für die betroffenen Unternehmen könnte leicht zu einer Verzerrung des Wettbewerbs mit anderen KMU führen. Beihilfen des EGF für diese Gruppe würden sich mit den Maßnahmen der GD Unternehmen für KMU überschneiden, die ein breites Angebot von Programmen für Aus- und Weiterbildung und Innovation bereitstellt. Deshalb ist der EWSA der Auffassung, dass KMU als solche nicht für EGF-Beihilfen in Betracht kommen. Allerdings sind die Arbeitnehmer dieser KMU dann umfasst, wenn sie ihre Arbeit aufgrund unerwarteter Folgen der Globalisierung verlieren und die sonstigen Förderbedingungen des EGF erfüllen.

4.8

Der EWSA ist nicht damit einverstanden, den EGF auf Landwirte auszudehnen. Die Kommission rechtfertigt ihren Vorschlag, dass bis zu mehr als 80% der EGF-Mittel für Agrarbetriebe verwendet werden sollen, mit einem Verweis auf die Verhandlungen über künftige Handelsabkommen. Die EU hat bereits berechnet, dass Verträge wie der Mercosur-Vertrag zwischen der EU und einigen lateinamerikanischen Ländern für die EU insgesamt von Vorteil sein werden, aber dass innerhalb der EU vorwiegend die Industrie und der Dienstleistungssektor davon profitieren werden, wohingegen die Landwirtschaft Nachteile haben wird. Viele solcher künftiger Abkommen werden voraussichtlich die gleiche Wirkung haben.

4.9

Im Vorschlag heißt es, dass der EGF "einmalige Unterstützungsmaßnahmen für Arbeitnehmer (…), die infolge des durch die zunehmende Globalisierung von Produktion und Handelsströmen ausgelösten tiefgreifenden strukturellen Wandels ihren Arbeitsplatz verloren haben" leisten soll. Im gleichen Absatz fügt die Kommission hinzu, "dass die EU mit dem EGF auch in der Lage sein sollte, bei Massenentlassungen infolge schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene Unterstützung zu leisten, die aufgrund einer unvorhergesehenen Krise aufgetreten sind. Außerdem soll der EGF-Interventionsbereich ausgedehnt werden, um Landwirten in Fällen, in denen sich der Markt für landwirtschaftliche Erzeugnisse durch den Abschluss von Handelsabkommen durch die EU verändert hat, eine vorübergehende Unterstützung zur Erleichterung der Anpassung an die neue Marktlage zu gewähren."

4.10

Wichtige Gründe sprechen dagegen, den Anwendungsbereich des EGF auf die Landwirtschaft auszudehnen. Die Probleme, mit denen die Landwirtschaft infolge dieser Handelabkommen zu kämpfen haben wird, sind struktureller Natur. Denn kommende Verträge werden voraussichtlich die gleichen Folgen haben, der EGF ist jedoch nur ein zeitlich befristetes Instrument. Überdies dauert die Aushandlung von Handelsabkommen wie der Mercosur-Vertrag im Allgemeinen mehrere Jahre, sodass nicht von "schwerwiegenden wirtschaftlichen Störungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene (…), die aufgrund einer unvorhergesehenen Krise aufgetreten sind" gesprochen werden kann. Vielmehr werden schwerwiegende wirtschaftliche Störungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene auftreten, die durch bewusste und sorgfältig vorbereitete Maßnahmen der Europäischen Union herbeigeführt werden. Es steht außer Frage, dass die Landwirtschaft für diese Lasten zu entschädigen ist. Aber dies sollte im Rahmen eines speziell für die Landwirtschaft konzipierten Instruments erfolgen. Der EWSA fordert, dass der EGF, der gegründet wurde, um gekündigte Arbeitnehmer bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu unterstützen, auch weiterhin für diesen Zweck reserviert bleibt.

Brüssel, den 23. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  SEC(2011) 130, 1131 und 1133 final.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/46


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten (Neufassung)“

COM(2011) 714 final — 2011/0314 (CNS)

2012/C 143/10

Berichterstatter: Peter MORGAN

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 20. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 115 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten (Neufassung)"

COM(2011) 714 final – 2011/0314 (CNS).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 2. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 230 gegen 4 Stimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Änderungsrichtlinie. Er stellt mit Zufriedenheit fest, dass die geänderte Richtlinie und die Mutter-/Tochter-Richtlinie nun angeglichen werden. Besonders begrüßt wird die Mindestbeteiligung von 10 %, ab der ein Unternehmen als verbundenes Unternehmen gilt. Dies hatte der Ausschuss bereits im Juli 1998 (1) gefordert.

1.2

Der Ausschuss stellt fest, dass dieser Vorschlag zu einer Senkung der Steuereinnahmen vieler Mitgliedstaaten führen wird. In Zeiten klammer öffentlicher Finanzen der Mitgliedstaaten ist davon auszugehen, dass es einige Zeit brauchen wird, die Zustimmung der 27 Mitgliedstaaten zu erhalten. Die geltende Richtlinie wurde schließlich vom Rat erst fünf Jahre nach Veröffentlichung des Vorschlags angenommen.

1.3

Der EWSA unterstützt diesen Vorschlag und fordert die Mitgliedstaaten dazu auf, ihre Zustimmung eher früher als später zu geben, damit die Quellensteuern angeglichen und ein weiteres Hindernis für ein reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts beseitigt werden kann.

2.   Einleitung

2.1

In der Europäischen Union gab es bislang zwei parallele legislative Vorgehensweisen für die Beseitigung der Doppelbesteuerung von Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten. Die Mutter-/Tochter-Richtlinien betreffen die Doppelbesteuerung von Dividenden. Der zweite legislative Ansatz zielt darauf ab, die Doppelbesteuerung von Zinsen und Lizenzgebühren zu beseitigen. Diese beiden Ansätze wurden nicht aufeinander abgestimmt.

2.2

Die erste Mutter-/Tochter-Richtlinie (90/435/EG) wurde 1990 angenommen. Der Kernpunkt war, dass die Muttergesellschaft mindestens 25 % der Anteile an der Tochtergesellschaft halten musste, um in den Genuss der Steuerbefreiung zu kommen. Eine Änderungsrichtlinie (2003/123/EG) wurde vom Rat Ende 2003 angenommen. Dabei wurde die für die Steuerbefreiung erforderliche Mindestbeteiligung schrittweise bis Januar 2009 auf 10 % gesenkt. Mit der Änderungsrichtlinie wurde auch die Liste der unter die Richtlinie fallenden Gesellschaften aktualisiert.

2.3

Es wurde vorgeschlagen, für Zinsen und Lizenzgebühren den gleichen zeitlichen Rahmen anzulegen wie für die Mutter-/Tochter-Richtlinie. Diesem Punkt wurde im Ruding-Bericht (2) von 1992 Priorität gegeben. Bis zur Veröffentlichung der Vorschläge der Kommission im Jahr 1998 (COM(1998) 67) konnte in der Frage jedoch kein Konsens erzielt werden. Das Thema blieb umstritten, da es für einige Mitgliedstaaten Vorteile und für andere Nachteile bedeutete, und so wurde die Richtlinie (2003/49/EC) erst im Juni 2003 vom Rat angenommen. Aufgrund der Auseinandersetzungen wurden für Zinsen und Lizenzgebühren Übergangsfristen für Griechenland, Spanien und Portugal gewährt. In einer weiteren Richtlinie von 2004 wurden die Übergangsvereinbarungen auf bestimmte neue Mitgliedstaaten ausgedehnt (Tschechische Republik, Lettland, Litauen und Polen, mit einem Zusatzprotokoll von 2005, um auch Bulgarien und Rumänien mit einzuschließen).

2.4

Der EWSA begrüßte in seiner vom Plenum im Juli 1998 verabschiedeten Stellungnahme den Vorschlag für Zinsen und Lizenzgebühren von 1998 (3). Die Stellungnahme enthielt vier besondere Bemerkungen: eine betraf den Vorschlag, die Mindestbeteiligung auf 10 % zu senken. Die anderen drei Punkte waren Klärungen.

2.5

Im Juni 2006 veröffentlichte die Europäische Kommission eine Untersuchung über die Umsetzung der Richtlinie. Am 11. November 2011 verabschiedete die Kommission aufgrund dieser Untersuchung einen neuen Vorschlag zur Neufassung der Richtlinie, der auf eine Erweiterung des Anwendungsbereichs abzielt. Damit werden die Vorschriften für Zinsen und Lizenzgebühren an die Bestimmungen der Mutter-/Tochter-Richtlinie angeglichen.

2.6

Es wurde eine Folgeabschätzung bezüglich einer Reihe von Optionen durchgeführt, bevor sich die Kommission für die Option entschied, die Angleichung der Richtlinie für Zinsen und Lizenzgebühren an die Mutter/Tochter-Richtlinie in Bezug auf Zinszahlungen vorzuschlagen.

2.7

Laut Folgenabschätzung dürften

bei Zinszahlungen die Ausfälle einen Betrag von 200 bis 300 Mio. EUR nicht übersteigen. Betroffen wären die 13 Mitgliedstaaten, die noch immer Quellensteuern auf ins Ausland überwiesene Zinszahlungen erheben (Belgien, Bulgarien, die Tschechische Republik, Griechenland, Ungarn, Irland, Italien, Lettland, Polen, Portugal, Rumänien, Slowenien und das Vereinigte Königreich);

bei Zahlungen von Lizenzgebühren die Ausfälle einen Betrag von 100 bis 200 Mio. EUR nicht übersteigen. Betroffen wären hier die sieben Mitgliedstaaten mit der – gemessen am BIP – größten Negativbilanz bei den Lizenzgebühren (Bulgarien, die Tschechische Republik, Griechenland, Polen, Portugal, Rumänien und die Slowakei). Diese Option wurde von der Mehrheit der Akteure, die sich an der öffentlichen Konsultation beteiligt haben, bevorzugt.

2.8

Gemäß der Folgenabschätzung würden die in diesem Vorschlag für eine Neufassung enthaltenen Initiativen, durch die in einer Vielzahl der Fälle die Quellensteuer entfallen würde, zu einer geschätzten Einsparung bei den Befolgungskosten zwischen 38,4 und 58,8 Mio. EUR führen.

3.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags

3.1

Der am 11. November 2011 angenommene Vorschlag der Kommission hat folgende Zielsetzungen:

Änderung des Anwendungsbereichs der Richtlinie durch Erweiterung der Liste der unter die Richtlinie fallenden Gesellschaften;

Senkung der Mindestbeteiligung, die erforderlich ist, damit ein Unternehmen als verbundenes Unternehmen gilt, von 25 % unmittelbare Beteiligung auf 10 % Beteiligung;

Erweiterung der Bestimmung des Begriffs "verbundenes Unternehmen" durch Einbeziehung mittelbarer Beteiligungen;

Klarstellen, dass die Mitgliedstaaten die Rechtsvorteile der Richtlinie den einschlägigen Unternehmen eines Mitgliedstaats nur dann gewähren müssen, wenn die betreffenden Zahlungen von Zinsen oder Lizenzgebühren nicht von der Körperschaftsteuer befreit sind. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass bei einem Unternehmen, das Körperschaftsteuer zahlt, Auslandseinkünfte in Form von Zinsen und Lizenzgebühren durch eine innerstaatliche steuerliche Sonderregelung von der Steuer befreit sind. Der Quellenstaat wäre in diesen Fällen nicht verpflichtet, die in der Richtlinie vorgeschriebene Befreiung von der Quellensteuer zu gewähren;

die Übergangsfristen werden nicht geändert.

3.2

Die Vorteile der Richtlinie werden – wie bereits bei der Mutter-/Tochter-Richtlinie – nur den Gesellschaften gewährt, die in der EU der Körperschaftsteuer unterliegen, steuerlich in einem Mitgliedstaat ansässig sind und einer im Anhang der Richtlinie aufgelisteten Rechtsform entsprechen. Da in dem Anhang zur Richtlinie nur die Rechtsformen der 15 Mitgliedstaaten aufgeführt sind, die bereits vor dem 1. Mai 2004 Mitglied der EU waren, wurden nun die in den neuen Mitgliedstaaten bestehenden Gesellschaftsformen durch die Richtlinie 2004/66/EG des Rates vom 26. April 2004 hinzugefügt.

3.3

Der neue von der Kommission angenommene Änderungsvorschlag ist eine Neufassung all dieser Richtlinien, um im Anhang eine aktualisierte Liste der Gesellschaften aufzuführen. Die vorgeschlagene neue Liste umfasst auch

die Europäische Gesellschaft (Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 und Richtlinie 2001/86/EG des Rates), die ab 2004 gegründet werden kann, und

die Europäische Genossenschaft (Verordnung (EG) 1435/2003 und Richtlinie 2003/72/EG des Rates), die ab 2006 gegründet werden kann.

3.4

Die geänderte Richtlinie soll am 1. Januar 2013 in Kraft treten.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA zu dem "Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten", ABl. C 284 vom 14.9.1998, S. 50.

(2)  "Bericht des unabhängigen Sachverständigenausschusses zur Unternehmensbesteuerung", März 1992.

(3)  ABl. C 284 vom 14.9.1998, S. 50.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/48


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Aktionsprogramms für Zoll und Steuern in der Europäischen Union für den Zeitraum 2014-2020 (FISCUS) und zur Aufhebung der Entscheidungen Nr. 1482/2007/EG und Nr. 624/2007/EG“

COM(2011) 706 final — 2011/0341 (COD)

2012/C 143/11

Berichterstatter: Bryan CASSIDY

Der Rat beschloss am 20. Dezember 2011 und das Europäische Parlament am 14. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß den Artikeln 33 und 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Aktionsprogramms für Zoll und Steuern in der Europäischen Union für den Zeitraum 2014-2020 (FISCUS) und zur Aufhebung der Entscheidungen Nr. 1482/2007/EG und Nr. 624/2007/EG"

COM(2011) 706 final – 2011/0341 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 2. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 231 gegen 3 Stimmen bei 11 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt den Vorschlag für das Programm FISCUS grundsätzlich. Er möchte jedoch folgende Aspekte betonen:

Es muss dafür gesorgt werden, dass die nationalen Zoll- und Steuerverwaltungen gut genug ausgestattet sind, um den Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts gerecht zu werden.

Für die Bereiche Zoll und Steuern muss ein stets aktuelles und effizientes IT-System zur Verfügung stehen. Dazu gehören auch Elemente wie der Modernisierte Zollkodex (MZK).

Der Ausschuss erwartet eine eingehendere Bewertung der Auswirkungen auf den Haushalt der EU und die Haushalte der Mitgliedstaaten.

Die Haushaltsübersicht für das Programm FISCUS lässt eine Steigerung des Gesamthaushalts für beide Bereiche, Zoll und Steuern, um 9% im Vergleich zu den derzeitigen Programmen erkennen. Für den Bereich Zoll sind Mittel in Höhe von 479 622 792 EUR vorgesehen (für den Bereich Steuern 23 692 892 EUR). Dies entspricht einer Aufstockung um 13% für den Zollbereich und einer Kürzung um 1% für den Steuerbereich.

1.2

Dem Ausschuss ist bewusst, dass die Mitgliedstaaten in den Arbeitsgruppen des Rates unterschiedliche Positionen vertreten. Seiner Auffassung nach muss die Kommission nachweisen können, dass die Mitgliedstaaten beträchtliche Einsparungen am Haushalt des Programms FISCUS im Vergleich zu den derzeitigen Programmen vornehmen werden. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass es für die Kommission schwierig werden könnte, die Zustimmung des Parlaments zur Erhöhung der Ausgaben aus dem EU-Haushalt zu erhalten, wenn keine Informationen über entsprechende Einsparungen in den Haushalten der Mitgliedstaaten gegeben werden.

1.3

Der Ausschuss verweist auf seine Bemerkung in seiner Stellungnahme zum Aktionsprogramm für das Zollwesen (1), in der er eine weiterreichende Integration der Zollverfahren gemäß den Lissabon-Zielen fordert und betont, dass dies ohne eine Integration der Verwaltungen selbst zu erreichen ist.

1.4

Ein wichtiger Teil des neuen Programms betrifft die Verbesserung der Aus- und Fortbildung der Beamten der Mitgliedstaaten und die Effizienz der dazu ergriffenen Maßnahmen (2).

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1

Die Zoll- und Steuerpolitik der EU leistet einen wesentlichen jährlichen Beitrag zur Erhebung von Einnahmen für die Haushalte der EU und der Mitgliedstaaten. Darüber hinaus profitieren die Bürger und Unternehmen der EU erheblich von diesen Maßnahmen, sei es durch die Verhinderung unsicherer oder illegaler Einfuhren, die Gewährleistung eines reibungslosen Handels und eines starken Binnenmarkts oder durch die Senkung von Befolgungskosten und den Abbau von Bürokratie für grenzübergreifend tätige Unternehmen.

2.2

Der Vorschlag für eine Verordnung (COM(2011) 706 final) ist eine wichtige Etappe in den bereits vor vielen Jahren begonnenen Bemühungen, die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zum Schutz ihrer finanziellen Interessen sowie jener der Union zu rationalisieren und zu koordinieren: 2010 machten Zölle und damit zusammenhängende Abgaben 12,3% des EU-Haushalts aus. Im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020, den die Kommission im Juni 2011 angenommen hat, wird unter anderem eine neue Generation von Zoll- und Fiscalis-Programmen vorgeschlagen. Diese beiden Programme – zuletzt Zoll 2013 und Fiscalis 2013 – haben sich über die Jahre getrennt voneinander, dabei jedoch parallel entwickelt. Sie werden nun, und das ist eine echte Neuerung in der Strategie der Kommission, in einem einzigen Programm (FISCUS) zusammengeführt.

2.3

FISCUS ist nicht nur das Ergebnis der "Vereinfachungspolitik", wie die Kommission selbst es nennt, sondern trägt auch der wichtigen Tatsache Rechnung, dass "die Zusammenarbeit zwischen den Zoll- und Steuerbehörden und anderen beteiligten Parteien " unterstützt werden muss. Der wichtigste positive Aspekt eines solchen Programms ist das Gewicht, das dem menschlichen Faktor beigemessen wird: Die Zusammenarbeit bei Zoll und Steuern, ist "in den Bereichen Vernetzung der Beteiligten und Kompetenzausbau […] angesiedelt" (3). Zwar ist der Aufbau von technischen und IT-Kapazitäten natürlich wichtig, doch kommt dem menschlichen Faktor nach wie vor vorrangige Bedeutung zu. Dies wird vom EWSA immer wieder betont.

2.4

Das FISCUS-Projekt der Kommission ist ein auf sieben Jahre angelegtes Programm, das am 1. Januar 2014 anlaufen soll. Die Finanzausstattung, mit der die Kosten des Programms für die gesamte Laufzeit (2014-2020) gedeckt werden sollen, beträgt 777 600 000 EUR (zu jeweiligen Preisen). Dabei handelt es sich um einen erheblichen Betrag, und es ist schwer abzuschätzen, inwieweit die gesteckten Ziele damit erreicht werden. Mit dem Programm werden neun verschiedene Arten gemeinsamer Maßnahmen gefördert: Finanzhilfen, öffentliche Beschaffungsaufträge und die Erstattung von Kosten, die den externen Sachverständigen entstanden sind.

2.5

Der größte Teil der Kosten betrifft die Aus- und Fortbildung von Beamten und gemeinsame IT-Initiativen, doch können auch "Ausgaben für Vorbereitungs-, Überwachungs-, Kontroll-, Prüf- und Evaluierungstätigkeiten" (4) gedeckt werden. Nach Auffassung des EWSA ist bei der Überwachung der Umsetzung der gemeinsamen Maßnahmen besondere Sorgfalt erforderlich, er hofft jedoch, dass dieselbe Aufmerksamkeit auch der Umsetzung der nationalen Maßnahmen gilt, um einen Mangel an Einheitlichkeit zu vermeiden.

2.6

Das Aktionsprogramm verfolgt dieselben spezifischen Ziele wie frühere und gegenwärtige Programme. Der EWSA hat zu diesem Thema bereits Bemerkungen abgegeben, die nicht erneut vorgebracht werden müssen, mit Ausnahme eines Aspekts, der immer wieder angesprochen wird, bislang jedoch offenbar ohne Erfolg: ein regelmäßiger Informationsaustausch zwischen den Zoll- und Steuerbehörden zur Aufdeckung von Betrug und/oder Steuerhinterziehung (5).

2.7

Der erste Bereich, die Vernetzung der Beteiligten, dürfte den Austausch bewährter Verfahren und operativer Kenntnisse ermöglichen. Dies ist kein neuer Aspekt, denn dieses Ziel wurde, sogar mit genau denselben Worten, in vielen, wenn nicht gar allen früheren Programmen formuliert. Aus den verschiedensten Gründen waren die Maßnahmen in der Vergangenheit nicht immer erfolgreich, meist lag es an Sprachschwierigkeiten und unterschiedlichen Erfahrungen oder der verschiedenen Herkunft der Teilnehmer. Die neue Ausrichtung auf die Zusammenarbeit der verschiedenen Verwaltungen, wie sie in FISCUS vorgesehen ist, dürfte den Austausch von Erfahrungen und die Heranbildung exzellenter Fachleute begünstigen. Dies verdient die Unterstützung durch die EU.

2.8

Der zweite Bereich sieht nach den Worten der Kommission " eine Finanzierung von modernsten IT-Infrastrukturen und –Systemen durch das Programm vor, um Zoll- und Steuerverwaltungen in der Union die Entwicklung einer umfassenden E-Verwaltung zu ermöglichen" (6). Auch dieser Punkt war in mehr oder minder derselben Formulierung in früheren Programmen enthalten. Hier waren die Ergebnisse jedoch weniger zufriedenstellend, was auf den unterschiedlichen Stand der Informationstechnologien in den Mitgliedstaaten sowie – leider recht häufig – auf die mangelnde Bereitschaft einiger (oder zahlreicher) Mitgliedstaaten zurückzuführen ist, neue Arbeitsmethoden oder Ausrüstungen einzuführen.

2.9

Die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Mitgliedstaaten ist das größte Hindernis beim Aufbau eines soliden europäischen Steuernetzwerks. Zwar beschränkt sie sich nicht auf die Informationstechnologien, tritt aber in diesem Bereich am deutlichsten zutage. Der EWSA hat diese Haltung in vielen Stellungnahmen zu steuerlichen Initiativen der EU kritisiert (7). Er hofft, dass die gegenwärtige Krise gezeigt hat, dass sich kein Land gegenüber Entwicklungen isolieren kann, die globale Auswirkungen haben, und dass die einzige Lösung in der Zusammenarbeit besteht.

2.10

Im Verlauf des Jahres 2011 hat ein externer Auftragnehmer nach Anhörung von Vertretern der Wirtschaft eine Zwischenbewertung der beiden Programme "Zoll 2013" und "Fiscalis 2013" vorgenommen. Ein anderer externer Auftragnehmer hat eine Studie zu einem möglichen Rahmen für ein künftiges Programm FISCUS angefertigt. Der Zwischenbewertung zufolge gab es keine nennenswerten Hindernisse, und es wurden auch keine besonderen Maßnahmen zur Behebung unerwünschter Ereignisse vorgeschlagen.

2.11

Mit dem Programm FISCUS werden die beiden gegenwärtig getrennt laufenden Programme für die Bereiche Zoll und Steuern zusammengeführt. Dies entspricht den Zielen der Kommission, nämlich Vereinfachung und Verringerung der Kosten, ohne die Tätigkeiten in den einzelnen Bereichen zu beeinträchtigen.

2.12

Mit der neuen Verordnung wird die Entscheidung Nr. 1482/2007/EG über ein Gemeinschaftsprogramm zur Verbesserung der Funktionsweise der Steuersysteme im Binnenmarkt (Fiscalis 2013) aufgehoben. Durch die Entscheidung Nr. 624/2007/EG wurde ein Aktionsprogramm für das Zollwesen in der Gemeinschaft (Zoll 2013) eingerichtet. Beide Entscheidungen werden somit aufgehoben.

2.13

Die Kommission hat umfassende Konsultationen im Steuer- und im Zollbereich durchgeführt. In beiden Fällen wurde eine Liste mit Problemen erstellt, die im Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen, Folgenabschätzung, Teil I (Zoll) und Teil II (Fiscalis) beigefügt sind (8).

2.14

Die Kommission hat vor Einführung des neuen Programms eine Folgenabschätzung vorgenommen, aus der deutlich wird, dass in Bezug auf die europäischen Informationssysteme und den Austausch von Informationen im Zusammenhang mit künftigen Entwicklungen in diesem Bereich noch zahlreiche Unklarheiten bestehen. Einige von ihnen werden in der Stellungnahme des EWSA zum Aktionsprogramm für das Zollwesen (9) erörtert. Die zur Verbesserung des Programms Fiscalis nötigen Maßnahmen werden eingehend in der Stellungnahme des EWSA zur Verbesserung der Funktionsweise der Steuersysteme im Binnenmarkt (Fiscalis 2013) (10) beschrieben.

2.15

Der EWSA stimmt den von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen grundsätzlich zu, weist jedoch darauf hin, dass die Frage der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Agenturen, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene, eine Art Leitmotiv bei vielen EU-Themen ist. Aus vielen Gründen sind in diesem Bereich in der Regel nur langsame und zähe Fortschritte zu verzeichnen, vor allem weil die nationalen Behörden die nötige Begeisterung vermissen lassen.

2.16

Der EWSA billigt den Vorschlag der Kommission für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Zoll- und Steuerbehörden. Allerdings sollte dies erst der Anfang eines Vorgehens sein, das der EWSA bereits bei vielen Gelegenheiten angeregt hat (11), nämlich einer strukturierten Zusammenarbeit zwischen allen Agenturen, nationalen wie europäischen, die mit der Bekämpfung von Betrug und Verbrechen wie Geldwäsche, organisierter Kriminalität, Terrorismus und Schmuggel befasst sind.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 78, Ziffer 1.3.

(2)  Eine entsprechende Forderung wurde in Ziffer 1.2 der Stellungnahme des EWSA "Verbesserung der Funktionsweise der Steuersysteme im Binnenmarkt (Fiscalis 2013)" erhoben, ABl. C 93 vom 27.4.2007, S. 1.

(3)  COM(2011) 706 final, S.2, Abschnitt 1 dritter Absatz.

(4)  COM (2011) 706 final, Artikel 10 Absatz 2.

(5)  Stellungnahmen des EWSA "Mehrwertsteuer/Betrugsbekämpfung", ABl. C 347 vom 18.12.2010, S.73 und "Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich", ABl. C 255 vom 22.9.2010, S.61.

(6)  COM(2011) 706 final, S.2, Abschnitt 1 dritter Absatz.

(7)  Stellungnahmen des EWSA "Mehrwertsteuer/Betrugsbekämpfung", ABl. C 347 vom 18.12.2010, S.73; "Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich", ABl. C 255 vom 22.9.2010, S.61; "Steuerbetrug bei der Einfuhr", ABl. C 277 vom 17.11.2009, S.112; "Beitreibung von Steuerforderungen", ABl. C 317 vom 23.12.2009, S.120 und "Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung", ABl. C 317 vom 23.12.2009, S.120.

(8)  Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen – Folgenabschätzung, SEC(2011) 1318 final.

(9)  ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 78.

(10)  ABl. C 93 vom 27.4.2007, S. 1.

(11)  Stellungnahmen des EWSA "Mehrwertsteuer/Betrugsbekämpfung", ABl. C 347 vom 18.12.2010, S.73; "Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich", ABl. C 255 vom 22.9.2010, S.61; "Steuerbetrug bei der Einfuhr", ABl. C 277 vom 17.11.2009, S.112; "Beitreibung von Steuerforderungen", ABl. C 317 vom 23.12.2009, S.120 und "Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung", ABl. C 317 vom 23.12.2009, S.120.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/51


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Jahreswachstumsbericht 2012“

COM(2011) 815 final

2012/C 143/12

Hauptberichterstatter: David CROUGHAN

Die Europäische Kommission beschloss am 23. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Jahreswachstumsbericht 2012"

COM(2011) 815 final.

Das Präsidium beauftragte den Lenkungsausschuss Europa 2020 am 6. Dezember 2011 mit den Vorarbeiten zu diesem Thema.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) David CROUGHAN zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 171 gegen 19 Stimmen bei 21 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

EINLEITUNG

i

Der vorliegende Stellungnahmeentwurf, der für die Frühjahrstagung des Europäischen Rates erarbeitet wird, enthält Bemerkungen zum "Jahreswachstumsbericht 2012" der Kommission.

ii

Mit dem Jahreswachstumsbericht wird das Europäische Semester 2012 zur wirtschaftspolitischen Steuerung eingeleitet, das zugleich das erste Europäische Semester im Rahmen des vereinbarten Rechtsrahmens für die verstärkte wirtschaftpolitische Steuerung ("Sechserpack") ist.

iii

In diesem Bericht werden die Prioritäten der EU dargelegt, die nach Ansicht der Kommission in den nächsten zwölf Monaten bei wirtschafts- und haushaltspolitischen Maßnahmen und Reformen gesetzt werden müssen, um das Wachstum und die Beschäftigung zu fördern, wie es die Europa-2020-Strategie vorsieht. Nach ihrer Billigung auf der Ratstagung im März müssen die Mitgliedstaaten diesen Prioritäten in ihrer nationalen Politik und ihrem Staatshaushalt Rechnung tragen.

iv

In Teil I dieses Stellungnahmeentwurfs wird auf allgemeine Fragen eingegangen, die mit dem Jahreswachstumsbericht zusammenhängen, wie dessen Schwerpunkt auf dem Wachstum, der Haushaltskonsolidierung und der Durchführung von im Rahmen des Europäischen Semesters vereinbarten Reformen sowie die Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft und Sozialpartner in den Prozess des Jahreswachstumsberichts.

v

Teil II enthält besondere Bemerkungen und Empfehlungen zu verschiedenen Politikbereichen der EU. Sie gehen detailliert auf die fünf Prioritäten ein, die die Kommission im Jahreswachstumsbericht festlegte: Inangriffnahme einer differenzierten, wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung, Wiederherstellung einer normalen Kreditvergabe an die Wirtschaft, Förderung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Bewältigung der sozialen Folgen der Krise und Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. Diese Beiträge stammen aus verschiedenen Stellungnahmen des EWSA neueren Datums; mit ihnen wird der Standpunkt aktualisiert, den der Ausschuss in seiner im März 2011 verabschiedeten Stellungnahme (1) zum Jahreswachstumsbericht geäußert hat.

vi

Der vorliegende Stellungnahmeentwurf knüpft außerdem an die Stellungnahme zum Europäischen Semester 2011 an, die der Ausschuss im Dezember 2011 verabschiedet hat (2).

TEIL I

BOTSCHAFTEN DES EWSA FÜR DIE FRÜHJAHRSTAGUNG DES EUROPÄISCHEN RATES

Anders als bei allen anderen Gipfeltreffen der letzten Zeit muss die Union ihre politische Fähigkeit unter Beweis stellen, die Schuldenkrise durch ehrgeizige und hinlängliche Maßnahmen in Angriff zu nehmen, um das Vertrauen wiederherzustellen. Zu diesen Maßnahmen gehört eine wesentlich stärkere Ausrichtung auf Wachstum.

A.    EINLEITUNG

1.   Der Jahreswachstumsbericht 2012 wird von der Kommission vor einem düsteren Hintergrund vorgelegt: Die Union wird derzeit von der schwersten finanziellen, wirtschaftlichen, sozialen und Vertrauenskrise ihrer Geschichte erschüttert. Die Krise hat weitreichende Konsequenzen: Schwierigkeiten für Privathaushalte und Unternehmen, zunehmende Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit, steigende Zahl der von Armut und Ausgrenzung bedrohten Menschen, Beunruhigung in der Gesellschaft, Gefahr eines verstärkten Nationalismus und Populismus.

2.   Der Ausschuss äußert seine tiefe Sorge über die mangelnde Umsetzung der im Rahmen des Europäischen Semesters eingegangenen Verpflichtungen auf der einzelstaatlichen Ebene. Die EU muss mehr denn je ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, das Vertrauen der Verbraucher und Investoren effektiv wiederherzustellen, indem sie ambitionierte Lösungen für die derzeitigen Herausforderungen findet. Ohne ein entschlossenes Handeln und die wirksame Durchführung von Reformen durch die europäischen Institutionen und die Mitgliedstaaten wird sich Europa einer langwierigen Wachstumskrise und einer immer größeren Divergenz gegenübersehen, was zu weiterem Druck auf die Eurozone führen wird.

3.   Während das Europäische Semester 2012 mit kräftig nach unten korrigierten Wachstumsprognosen und der deutlichen Gefahr einer Rezession beginnt, bedauert der Ausschuss, dass es dem Gipfel im Dezember 2011 nicht gelang, das Vertrauen in die politische Steuerung der Europäischen Union wiederherzustellen, welches vielmehr angesichts ihrer Ergebnisse von Gipfel zu Gipfel in den letzten achtzehn Monaten immer mehr geschwunden ist. Der auf dem Gipfel offensichtlich fehlende Wille, die im Jahreswachstumsbericht dargelegten, tief verwurzelten Probleme in Angriff zu nehmen, hat dazu geführt, dass immer wieder politische Rezepte vorgelegt wurden, in die die Regierungen und Investoren weltweit und insbesondere die EU-Bürger kein Vertrauen setzen.

4.   Der Ausschuss hält die bislang für die Schulden- und die damit verbundene Finanzkrise vorgeschlagenen Lösungen für unvollständig, sie können einige tief verschuldete Länder länger von den Märkten fernhalten als geplant und bergen die ernsthafte Gefahr eines weiteren Übergreifens auf einige größere Mitgliedstaaten. Die Möglichkeit einer ungeordneten Insolvenz Griechenlands kann nach wie vor nicht ausgeschlossen werden; ein solcher Zahlungsausfall könnte ernsthafte negative Auswirkungen auf andere Länder mit Staatsverschuldungsproblemen haben und eine Reihe von Ereignissen mit schweren Folgen nicht nur für die europäische Wirtschaft, sondern auch die Weltwirtschaft ins Rollen bringen. Die Europäische Union hat keinen Weg gefunden, wie sie mit ihrer zweifellosen Wirtschaftsstärke in Schwierigkeiten geratene Mitgliedstaaten vor finanziellen Angriffen schützen kann, mit der Folge, dass die Weltmärkte das Gebäude Europa ernstlich ins Wanken bringen, indem sie dessen strukturelle Fragmentierung angreifen. Es handelt sich also gleichermaßen um ein politisches wie um ein wirtschaftliches Problem.

5.   Der Ausschuss ist besorgt, dass die dadurch entstandene hohe Unsicherheit der Realwirtschaft der EU in Form eines Investitions-, Produktions- und Beschäftigungsrückgangs schadet, da sich die Investoren sicherere Häfen suchen und sogar die Möglichkeit eines Zusammenbruchs der Euro-Zone mit all seinen katastrophalen weltweiten Folgen in Betracht ziehen.

6.   In früheren Krisen der europäischen Integration hat sich gezeigt, dass Europa stark genug ist, Lösungen zu finden. Der Ausschuss ruft die europäischen Institutionen und die Mitgliedstaaten auf, politischen Mut und politische Weitsicht zu zeigen und neben dem wirtschaftlichen Aufschwung und Investitionen eine stärkere Integration zu fördern, was in der jetzigen Lage der einzige Ausweg aus der Krise ist.

7.   Die EU muss von dem aktuellen Ansatz stückchenweiser Notmaßnahmen zur Krisenbewältigung abrücken und dauerhafte Lösungen für die durch diese Krise aufgezeigten strukturellen Probleme erarbeiten, um das Wohlergehen der Europäer langfristig zu sichern. Zu diesem Zweck muss eine europäische Brandmauer gegen weitere Angriffe errichtet werden, den krisengeschüttelten Ländern muss Zeit für ihre wirtschaftliche Erholung gewährt werden und zusätzlich müssen gezielte Maßnahmen zur Ankurbelung des europäischen Wirtschaftswachstums getroffen werden.

8.   Die erforderlichen Maßnahmen für eine glaubwürdige Bewältigung der Schuldenkrise seitens der EU müssen mit einer stärkeren Fiskalunion einhergehen. Der Ausschuss begrüßt die Einführung einer erheblich strengeren Überwachung der nationalen Haushaltspolitik im Rahmen des Europäischen Semesters und die Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten im Rahmen des Fiskalpakts eingehen müssen, wenngleich die Notwendigkeit der Prüfung der sozialen Auswirkungen derartiger Maßnahmen hervorgehoben werden muss. Allerdings muss die neue Architektur der wirtschaftspolitischen Steuerung Europas die Autonomie der Sozialpartner und ihre Tarifverhandlungsfreiheit wahren.

9.   Darüber hinaus bekräftigt der Ausschuss nachdrücklich seine Unterstützung der übergreifenden Europa-2020-Strategie, die einen positiven Ausblick auf die Zukunft bietet und einen kohärenten Rahmen für die Durchführung zukunftsweisender Reformen für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum bildet. Außerdem erinnert er daran, dass für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den wirtschaftlichen, beschäftigungspolitischen und sozialen Aspekten der Strategie gesorgt werden muss.

10.   Besorgniserregend ist aus Sicht des Ausschusses die deutliche Schwächung der Gemeinschaftsmethode zugunsten eines zwischenstaatlichen Ansatzes, hauptsächlich getragen von sehr wenigen Mitgliedstaaten, was den politischen Antworten etwas Gezwungenes gibt. Teilweise deswegen, weil die EU-Institutionen bei dem zwischenstaatlichen Ansatz der vergangenen beiden Jahre eine untergeordnete Rolle gespielt haben, wurden die akuten Probleme der Europäischen Union nicht aus dem Blickwinkel der Union, sondern aus der Perspektive und nach den politischen Erfordernissen einzelner Mitgliedstaaten behandelt.

11.   Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass binnen fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, den 25 Mitgliedstaaten am 30. Januar abgeschlossen haben, auf Grundlage einer Auswertung der Erfahrungen mit seiner Umsetzung die notwendigen Schritte mit dem Ziel unternommen werden, den Inhalt des Vertrags in das Regelwerk der Europäischen Union zu überführen. Daher ruft der Ausschuss die Länder, die sich nicht an dem zwischenstaatlichen Prozess beteiligten (3), der zu dem Vertrag führte, dazu auf, ihren Standpunkt in dieser Hinsicht zu überdenken.

12.   Der Ausschuss spricht sich für eine starke Rolle der Europäischen Kommission, die mutige Vorschläge vorlegen sollte, und eine vollständige Einbeziehung des Europäischen Parlaments – angesichts seiner größeren Transparenz und Legitimität – in den Prozess des Europäischen Semesters aus.

13.   Der Ausschuss dankt der Kommission, dass sie den Jahreswachstumsbericht 2012 bereits Ende November 2011, d.h. früher als ursprünglich vorgesehen, veröffentlicht hat. Dies hat dem EWSA trotz des weiterhin bestehenden Zeitdrucks die Gelegenheit gegeben, über den Jahreswachstumsbericht zu beraten, sein Netz der nationalen Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbarer Einrichtungen zu konsultieren und die vorliegende Stellungnahme zu erarbeiten, bevor auf der Frühjahrstagung des Europäischen Rates über die jährlichen Prioritäten entschieden wird.

B.    RICHTIGE AUSRICHTUNG AUF WACHSTUM

14.   Der Ausschuss hält den Jahreswachstumsbericht 2012 in verschiedener Hinsicht für besser als seinen Vorgänger.

15.   Der Ausschuss begrüßt, dass der Schwerpunkt allgemein auf das Wachstum gelegt wird, und zeigt sich erfreut darüber, dass in den Jahreswachstumsbericht 2012 viele der in der jüngsten Stellungnahme des EWSA zum Jahreswachstumsbericht 2011 (4) zum Ausdruck gebrachten Ansichten eingeflossen sind.

16.   Der EWSA betont, dass sich die Staatsverschuldungskrise nur mit einer ausreichenden Wachstumsrate bewältigen lässt, insbesondere in Ländern, die unter Druck geraten sind. Eine niedrige Priorität für das Wachstum würde das erhebliche Risiko mit sich bringen, zahlreiche Volkswirtschaften in der Union in die Rezession und einige sogar in eine Depression zu treiben.

17.   Im Jahreswachstumsbericht wird festgestellt, dass die Finanzmärkte die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung der Mitgliedstaaten anhand langfristiger Wachstumsaussichten, ihrer Fähigkeit, weitreichende Beschlüsse zur Strukturreform zu fassen, und ihrem Engagement bei der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit bewerten.

18.   Der Ausschuss stimmt mit dem Jahreswachstumsbericht dahingehend überein, dass die Wachstumsaussichten aller EU-Mitgliedstaaten von der entschiedenen Bewältigung der Staatsschuldenkrise und einer soliden Wirtschaftspolitik abhängen und dass zu viel Zeit und Energie für Notmaßnahmen, aber nicht genug Zeit für politische Veränderungen aufgewandt wird, die unsere Volkswirtschaften wieder zu mehr Wachstum führen werden.

19.   Der Ausschuss stimmt voll und ganz zu, dass der Schwerpunkt gleichzeitig auf Reformmaßnahmen mit kurzfristigen Wachstumseffekten und auf das mittelfristig richtige Wachstumsmodell gelegt werden muss.

20.   Der Ausschuss weist erneut darauf hin, dass die drei Aspekte des Wachstums – intelligent, nachhaltig und integrativ – miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig verstärken. Wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte müssen gleichgewichtig behandelt werden.

21.   Das Wiederankurbeln des Wachstums muss mit anderen im Lissabon-Vertrag verankerten Zielen übereinstimmen, wie dem Wohlbefinden der Menschen. Der Reformbedarf sollte als Chance begriffen werden, unseren Lebensstil nachhaltiger zu gestalten.

22.   Alle Mitgliedstaaten müssen Nachdruck auf wachstumsfördernde Reformen legen.

23.   Die besondere Lage der fünf Mitgliedstaaten, die EU- bzw. IWF-Finanzhilfen erhalten  (5)

23.1   Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die Kommission und der Rat die Mitgliedstaaten durch detaillierte länderspezifische Empfehlungen weiter dazu anhalten sollten, Maßnahmen für ein langfristiges Wachstum vorzusehen und umzusetzen. Der Ausschuss bedauert, dass den fünf Mitgliedstaaten, die EU- bzw. IWF-Finanzhilfen erhalten, im Jahr 2011 lediglich empfohlen wurde, die in den Beschlüssen über die Finanzhilfen festgelegten Maßnahmen weiter umzusetzen.

23.2   Der Ausschuss ist akut beunruhigt über die Entscheidung der Kommission, diese fünf Länder 2012 von der Pflicht zur Ausarbeitung der zweiten Runde der nationalen Reformprogramme zu befreien. Der EWSA erkennt an, dass die nationalen Reformprogramme viel Wiederkehrendes enthalten und dass diese Länder ihre nationalen Ziele in Bezug auf die Europa-2020-Strategie vorlegen. Dennoch schließt dies diese Länder vom neuen Politikgestaltungsprozess im Zentrum der Europa-2020-Strategie aus, mit dem die notwendige wirtschaftliche Konvergenz durch Reformen und die Anwendung vorbildlicher Verfahren hergestellt werden sollte. So wird insbesondere unterbunden, dass die Bürger und die Sozialpartner auf der einzelstaatlichen Ebene an der Durchführung und Überprüfung der nationalen Reformprogramme mitwirken. Dies steht in krassem Widerspruch zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom März 2011, in denen die umfassende Einbeziehung der nationalen Parlamente, der Sozialpartner und anderer Beteiligter im Rahmen des Europäischen Semesters zugesichert wurde.

24.   In Wachstum investieren – unter den gegenwärtigen Umständen keine leichte Aufgabe

24.1   Dem Ausschuss ist bewusst, dass sich das Festlegen angemessener wachstumsfördernder Maßnahmen als schwierig erweisen kann. Die aktuell schwierige Lage der EU in Bezug auf Wachstum ist nicht allein der Krise geschuldet, sondern auch durch zusätzliche Probleme bedingt, die sich auf ihre Wirtschaftsleistung auswirken, wie verringerte Wettbewerbsfähigkeit, Globalisierung, Ressourcenknappheit (Energie, Fachkräfte usw.), Klimawandel und Bevölkerungsalterung.

24.2   Um die Ziele der Europa-2020-Strategie zu erreichen, sind umfangreiche Investitionen erforderlich, z.B. in Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), herkömmliche und neue Infrastrukturen, Forschung und Entwicklung, Innovation, Bildung und Qualifikationen sowie in Energieeffizienz. Investitionen in die Ökologisierung der Wirtschaft werden Innovationen anregen und die Nachfrage nach neuen Produkten wecken; dies steigert das Wachstum und trägt zugleich zur Nachhaltigkeit der Weltwirtschaft bei.

24.3   In Zeiten von Sparzwängen ist dies eine besonders schwere Aufgabe. Der Nutzen solcher öffentlicher Investitionen auf einzelstaatlicher oder europäischer Ebene für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum ist jedoch erheblich, und sie können eine beträchtliche Mobilisierungswirkung auf zusätzliche private Investitionen haben.

24.4   Der Ausschuss vertritt die Ansicht, dass die Europäische Union mehr Investitionen in Projekte braucht, die den Strukturwandel fördern und die dazu beitragen können, die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten auf den Pfad nachhaltigen Wachstums zu steuern. Passende Projekte sollten mit den Zielen der Europa-2020-Strategie in Einklang stehen, z.B. langfristige Infrastrukturprojekte von großem öffentlichem Interesse und mit Einnahmepotenzial.

24.5   In diesem Zusammenhang unterstützt der Ausschuss voll und ganz die im Zusammenhang mit der Europa-2020-Strategie lancierte Initiative für projektbezogene Anleihen  (6) zur Finanzierung umfangreicher Infrastrukturprojekte in den Bereichen Energie, Verkehr und IKT. Dies wird sich positiv auf die Märkte für Projektanleihen auswirken und den Projektträgern helfen, eine langfristige Fremdfinanzierung aus dem Privatsektor einzuwerben.

24.6   Nach Ansicht des Ausschusses muss auf der europäischen Ebene mehr zur Erzeugung von Investitionen unternommen werden. Die verfügbaren Strukturmittel müssen für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und die Rückkehr auf den Wachstumspfad eingesetzt werden. Die Zuweisung von EU-Mitteln sollte an die Ergebnisse sowie an die Vereinbarkeit mit den Zielen der Europa-2020-Strategie gebunden werden.

24.7   Der Ausschuss begrüßt die rasche Verabschiedung einer Übereinkunft zur Anhebung der Kofinanzierungssätze für die Strukturfonds durch das Parlament und den Rat. Diese Übereinkunft betrifft Länder, die Finanzhilfen von der EU, der EZB und dem IWF erhalten und soll die rasche Mobilisierung von EU-Mitteln für Wachstumsmaßnahmen sowie eine bessere Ausschöpfung der Mittel ermöglichen (7).

24.8   Angesichts des starken Drucks auf die einzelstaatlichen Haushalte und den EU-Haushalt müssen die Mitgliedstaaten und die europäischen Gesetzgeber harte Entscheidungen treffen und Prioritäten setzen, um in "Wachstumsverstärker" zu investieren, wie in Bildung und Qualifikationen, Forschung und Entwicklung, Innovation, Umweltschutz, Netzinfrastrukturen wie Hochgeschwindigkeitsverbindungen im Internet sowie die Verbindung von Energie- und Verkehrsnetzen.

24.9   Die bedeutende Rolle von Unternehmertum, sozialem Unternehmertum und Unternehmensgründungen – insbesondere von KMU einschließlich sozialer Unternehmen – für den Aufschwung muss hervorgehoben werden. Sie bringen Wirtschaftswachstum, Unternehmensinnovation und Qualifikationen entscheidend voran und schaffen viele Arbeitsplätze.

24.10   Die Arbeitslosigkeit erreicht zurzeit in vielen Ländern der Union ein unerträgliches Ausmaß, was enorme soziale und wirtschaftliche Kosten mit sich bringt. Daher sind kurz- und mittelfristige Maßnahmen erforderlich, um den Zugang von jungen Menschen und Frauen zum Arbeitsmarkt zu erleichtern, die Wiedereingliederung der aufgrund der Krise aus dem Arbeitsmarkt ausgeschiedenen Arbeitnehmer zu ermöglichen sowie Ausbildung und Umschulung zu fördern. Bis 2020 müssen in der EU 17,6 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden.

C.    ÜBERBETONUNG DER HAUSHALTSKONSOLIDIERUNG

25.   Der Ausschuss stimmt der nötigen Haushaltskonsolidierung voll und ganz zu, um schwerwiegende Haushaltsungleichgewichte zu korrigieren und Vertrauen wiederherzustellen. Die starke Schwerpunktsetzung auf Sparmaßnahmen im Fiskalpakt findet der Ausschuss jedoch besorgniserregend. Diese Maßnahmen müssen wirksam auf ihre sozialen Folgen hin überprüft werden; zugleich muss alles darangesetzt werden, sicherzustellen, dass das Armutsrisiko und die Gefahr der sozialen Ausgrenzung durch sie nicht erhöht werden. Zwischen Haushaltskonsolidierung und Wachstum muss ein ausgewogenes Verhältnis bestehen. Haushaltsdisziplin an sich und Sparmaßnahmen werden nicht ausreichen, um die EU auf den Pfad der Nachhaltigkeit zu führen. Wenn Sparmaßnahmen in einem gewissen Umfang notwendig sind, müssen dabei die soziale Ausgewogenheit und ihre Auswirkungen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen berücksichtigt werden. Der Ausschuss stimmt der Warnung der Generaldirektorin des IWF Christine Lagarde zu, dass es die Gefahr einer Rezession vergrößern würde, wenn ganz Europa in pauschales Sparen verfällt.

26.   Der Ausschuss befürchtet, dass sich die aktuelle Krise mit dem Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, den 25 Mitgliedstaaten am 30. Januar abgeschlossen haben, nicht lösen lässt. Mit dem Vertrag muss künftig eine bessere Befolgung des Stabilitäts- und Wachstumspakts erreicht werden, doch er weist in seiner Ausrichtung auf das Haushaltsgleichgewicht Schwachstellen auf und enthält keine Hinweise auf das Frühwarnsystem oder auf das System der Indikatoren (das sog. Scoreboard) zur Vermeidung von in der Wirtschaft, z.B. in der Privatwirtschaft, entstehenden Ungleichgewichten, von Einbußen der Wettbewerbsfähigkeit und von Immobilienblasen – all diese Faktoren trugen erheblich zur jetzigen Krise bei. Wirtschaftswachstum gehört mit zur Lösung und muss durch entschiedene spezielle Maßnahmen angekurbelt werden, insbesondere in den Mitgliedstaaten am Rande einer tiefen Rezession. Konsolidierungsbestrebungen und Reformen müssen Hand in Hand mit wachstumsfördernden Maßnahmen gehen.

27.   Der Ausschuss findet den im Jahreswachstumsbericht enthaltenen Ruf nach verstärkten Sparmaßnahmen für die Haushaltskonsolidierung, selbst bei einem sich verschlechternden Wirtschaftsklima, besorgniserregend. Er empfiehlt Mitgliedstaaten, die ein Finanzhilfeprogramm in Anspruch nehmen, "trotz möglicherweise veränderter makroökonomischer Bedingungen weiterhin die vereinbarten Haushaltsziele" anzustreben; er empfiehlt Mitgliedstaaten, die im Defizitverfahren eine erhebliche Konsolidierungslücke aufweisen, "ihre Konsolidierungsanstrengungen" zu "intensivieren", "mögliche Abwärtskorrekturen am makroökonomischen Hauptszenario sollten nicht zu Verzögerungen bei der Korrektur übermäßiger Defizite führen".

28.   Stabilisierung durch Eurobonds

28.1   Finanzinstitute investieren in Staatsanleihen, von denen sie annehmen, dass sie für ihre eigenen Bilanzen risikofrei sind; daher legen die Institute gegenwärtig ihr Geld lieber bei der EZB an, als die riskanteren Anleihen einiger Mitgliedstaaten zu kaufen, und entziehen dem Finanzsystem so Liquidität.

28.2   Als Teil des Auswegs muss ein größeres und glaubwürdigeres europäisches Bollwerk gegen den Marktdruck errichtet werden; hierfür sollte die Europäische Zentralbank entweder direkt oder indirekt unter dem Dach der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) oder des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) eine noch größere Rolle spielen.

28.3   Der Ausschuss erkennt an, dass entscheidende Konsequenzen für das moralische Risiko bestehen, die einer Lösung bedürfen; im Vergleich mit dem möglichen Zusammenbruch der Eurozone ist dieses Problem jedoch gering. Da die Mitgliedstaaten nicht bereit sind, für die Schulden anderer Mitgliedstaaten zu haften, und die EZB diese Rolle schwerlich ausüben kann, muss die Einführung von Stabilitätsanleihen nach Ansicht des Ausschusses dringend ins Auge gefasst werden. Nach der Veröffentlichung eines Grünbuchs zu Stabilitätsanleihen durch die Kommission wird der Ausschuss in einer gesonderten Stellungnahme darauf eingehen.

D.    UMSETZUNG STEHT ZU RECHT IM BLICKFELD

29.   Mit der Europa-2020-Strategie soll die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union in einem zunehmenden weltweiten Wettbewerb sichergestellt werden. Der Ausschuss befürwortet daher voll und ganz, dass die Kommission im gesamten Jahreswachstumsbericht den Mangel an sachgerechter Umsetzung der Reformen auf der einzelstaatlichen Ebene ins Blickfeld gerückt hat.

30.   Der Ausschuss stellt sehr besorgt fest, dass der Fortschritt der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Hinweise des Jahreswachstumsberichts 2011 trotz der gebotenen Eile hinter den Erwartungen zurückbleibt. Auf der EU-Ebene gefällte Entscheidungen schlagen sich zu spät in politischen Beschlüssen auf einzelstaatlicher Ebene nieder.

31.   Der EWSA hält die Mitgliedstaaten dringend dazu an, die in ihren nationalen Reformprogrammen festgelegten Reformen voll umzusetzen. Sie müssen Eigenverantwortung für die in Hinblick auf die künftige wirtschaftspolitische Steuerung benötigten Veränderungen übernehmen. Dies unterstreicht die notwendige Stärkung des Prozesses des Europäischen Semesters durch eine umfassendere Beteiligung nationaler Parlamente, der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten an der Erörterung der nationalen Reformprogramme und an der Überprüfung des Fortschritts bei ihrer Umsetzung.

32.   Der Ausschuss beklagt, dass die in den nationalen Reformprogrammen 2011 enthaltenen Verpflichtungen nicht ausreichen, um die meisten Ziele auf EU-Ebene zu erreichen; angesichts der aufkeimenden Befürchtung eines Verfehlens der Europa-2020-Ziele ruft der Ausschuss die Kommission und insbesondere die Regierungen der Mitgliedstaaten dazu auf, ihre Bemühungen zu verstärken und diese im Programm sehr klar ausgemachte Lücke zu schließen sowie sicherzustellen, dass die Regierungen, Interessenvertreter und Bürger in allen Ländern ihr Reformprogramm beherzigen und umsetzen.

33.   Der EWSA fordert auch die Kommission dazu auf, sicherzustellen, dass alle Mitgliedstaaten, auch diejenigen, die Finanzhilfen von der EU bzw. vom IWF erhalten, je nach ihren Möglichkeiten zur Einhaltung der Leitzielvorgaben beitragen.

E.    BEDEUTUNG DES JAHRESWACHSTUMSBERICHTS UND EINBEZIEHUNG DER ORGANISIERTEN ZIVILGESELLSCHAFT UND DER SOZIALPARTNER

34.   Der Jahreswachstumsbericht bildet die Basis, auf der das notwendige gemeinsame Verständnis für die Handlungsprioritäten auf einzelstaatlicher und EU-Ebene für 2012 herzustellen ist, die anschließend in die einzelstaatlichen wirtschafts- und haushaltspolitischen Entscheidungen und die Ausarbeitung von nationalen Reformprogrammen und von Stabilitäts- oder Konvergenzprogrammen durch die Mitgliedstaaten einfließen sollten.

35.   Daher kommt dem Jahreswachstumsbericht eine bedeutende politische Rolle zu und der Ausschuss meint, dass er nicht auf einen technokratischen Prozess beschränkt werden darf, sondern dass in ihm die Ansichten des Europäischen Parlaments und der Hauptbeteiligten, wie der organisierten Zivilgesellschaft und der Sozialpartner, berücksichtigt werden müssen.

36.   Unter den gegenwärtigen Bedingungen eines kompletten Vertrauensverlustes in Bezug auf den bisherigen Umgang mit der Krise und eines Vertrauensverlustes in die Europäische Union als solche muss Europa seine Bürgerinnen und Bürger mit ins Boot holen. Der soziale und der zivile Dialog müssen auf allen Ebenen gestärkt werden, um einen breiten Konsens über nötige Reformen herzustellen.

37.   Maßnahmen zur Verbesserung der europäischen Wirtschaftssteuerung sollten einhergehen mit Schritten zur Erhöhung ihrer Legitimität, Zurechenbarkeit und Eigenverantwortlichkeit.

38.   Der Ausschuss fordert eine bessere und wirksame Einbeziehung der Beteiligten aus der organisierten Zivilgesellschaft am europäischen Semester: Dies betrifft auf der EU-Ebene den Jahreswachstumsbericht und die Ausarbeitung länderspezifischer Empfehlungen und auf der einzelstaatlichen Ebene den ganzen Prozess der Ausarbeitung, Umsetzung und Überprüfung künftiger nationaler Reformprogramme. In den nationalen Reformprogrammen sollte genau angegeben werden, in welchem Umfang die Beteiligten aktiv in den Prozess einbezogen wurden und wie ihre Anregungen berücksichtigt wurden.

39.   Die Europa-2020-Strategie für Wachstum kann nur aufgehen, wenn die ganze Gesellschaft mit an diesem Strang zieht und jeder der Beteiligten seine Verantwortung voll übernimmt. In Zeiten wichtiger Entscheidungen mit Auswirkungen auf das Leben aller Beteiligten ist die gemeinsame Verantwortung für Reformen nötiger denn je.

40.   Der Ausschuss beabsichtigt, sich weiter aktiv in die Umsetzungsphase der Europa-2020-Strategie und die Folgemaßnahmen des Jahreswachstumsberichts einzubringen. Er wird die gemeinsame Arbeit mit seinem Netz der nationalen Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbarer Einrichtungen fortsetzen, um die Konsultation, Beteiligung und Mobilisierung der organisierten Zivilgesellschaft sowohl auf der europäischen als auch auf der einzelstaatlichen Ebene zu verbessern.

TEIL II

VORSCHLÄGE DES AUSSCHUSSES ZU DEN VON DER EUROPÄISCHEN KOMMISSION VORGESCHLAGENEN PRIORITÄTEN

i

Der Ausschuss unterstützt die fünf Prioritäten, die der Kommission zufolge als Grundlage für den politischen Schwerpunkt für 2012 dienen sollen: Inangriffnahme einer differenzierten, wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung; Wiederherstellung einer normalen Kreditvergabe an die Wirtschaft; Förderung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit; Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der sozialen Folgen der Krise; und Modernisierung der Verwaltungen.

ii

Dieser Teil II enthält eine Reihe spezifischer Beiträge zu den oben genanten Prioritäten. Diese Aussagen sind vor allem Zitate aus verschiedenen, 2011 verabschiedeten Stellungnahmen des EWSA, die Standpunkte aus der im März 2011 verabschiedeten Stellungnahme des EWSA zum Jahreswachstumsbericht 2011 (8) aufgreifen.

1.   Inangriffnahme einer differenzierten, wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung

1.1   Haushaltskonsolidierung

1.1.1

Der EWSA bekräftigt seine in der EWSA-Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht 2011 unter Ziffer 1: "Die Haushalte konsequent konsolidieren" und Ziffer 2: "Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte" vorgebrachten Ansichten.

1.1.2

Hinsichtlich der Haushaltskonsolidierung ist der EWSA, wie in Ziffer 1.1 und 1.2 seiner Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht 2011 (9) ausgeführt, der Ansicht, dass es darum geht, die öffentlichen Finanzen wieder ins Gleichgewicht zu bringen und gleichzeitig eine geringere Nachfrage zu vermeiden, die zu einer Rezession und damit zu weiteren Defiziten führen würde, durch die die europäische Wirtschaft in eine Abwärtsspirale geraten würde. Schuldenabbauprogramme sollten eingeleitet werden, die auf die in der Europa-2020-Strategie genannten Zielsetzungen für den wirtschaftlichen Aufschwung sowie die sozialen und beschäftigungspolitischen Ziele abgestimmt sein müssen.

1.1.3

Europa muss die wirtschaftspolitische Steuerung intensivieren, um Haushaltsdisziplin in allen Mitgliedstaaten - insbesondere im Euro-Raum - zu gewährleisten. Das vereinbarte Reformpaket - der sogenannte "Sechserpack" muss - zusammen mit den neuen Legislativvorschlägen und dem zugehörigen Europäischen Semester für bessere Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitiken und engere Überwachung durch die EU – rasch und korrekt umgesetzt werden.

1.1.4

Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten allein ist nach Auffassung des Ausschusses jedoch keine ausreichende Vorbedingung für Wachstum und Beschäftigung sowie für wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt. Der Ausschuss ist darüber besorgt, dass die gegenwärtigen Bedingungen für die Emission von Staatsanleihen zu einer Marktlage geführt haben, in der die zarte Blüte von Stabilität und Wachstum erneut bedroht wird.

1.1.5

Deshalb begrüßt der Ausschuss das Grünbuch über die mögliche Einführung von Stabilitätsanleihen. Er ist der Auffassung, dass unter der Bedingung strikter Auflagen und einer entsprechenden Steuerung auf Unionsebene - um moralisches Risiko auszuschließen und ein verantwortungsbewusstes und vorhersagbares Verhalten der Regierungen der Mitgliedstaaten zu fördern - das Management der Staatsanleihen mit gemeinsamen Bürgschaften im Euro-Raum ein wichtiger Beitrag ist, um die akuten Probleme zu bewältigen und um der Spar-Wachstums-Falle zu entkommen.

1.1.6

Bei einer solchen Entwicklung kann die Europäische Zentralbank (EZB) ihr Programm zum Aufkauf von Staatanleihen auslaufen lassen. Dieses ist gegenwärtig erforderlich, um einzelnen Mitgliedstaaten die Refinanzierung ihrer Staatsschulden zu ermöglichen. Die EZB könnte sich stattdessen für die Unterstützung der neuen Stabilitätsanleihen entscheiden, was – zumindest in einer Übergangsphase – den Marktakteuren zusätzliche Sicherheit bieten würde.

1.2   Vorrangige Vornahme wachstumsfreundlicher Ausgaben

1.2.1

Der Ausschuss unterstützt eine vorrangige Vornahme wachstumsfreundlicher Ausgaben voll und ganz. Insbesondere muss verhindert werden, dass die Maßnahmen zur Überwindung der Wirtschaftskrise und der Staatsverschuldung die öffentlichen Investitionen in allgemeine und berufliche Bildung gefährden. Bei der Beurteilung ihrer mittelfristigen Haushaltsziele sollten die Mitgliedstaaten den öffentlichen Forschungs- und Bildungsinvestitionen besondere Aufmerksamkeit widmen.

1.2.2

Als außerordentlich wichtig haben sich staatliche Fördermaßnahmen für Forschung und Innovation mit entsprechenden Programmen erwiesen. Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission, den Rat und das Europäische Parlament auf, diese Programme mit Blickrichtung auf Energieeffizienz und Diversifizierung auszubauen und sie dauerhaft in die Entwicklungsmaßnahmen einzubeziehen.

1.2.3

Trotz der schwierigen aktuellen Wirtschaftslage empfiehlt der EWSA, noch stärker in Forschung, Entwicklung und Einsatz sowie in Kompetenzentwicklung und in die wissenschaftlichen Tätigkeiten, die in energieintensiven Industrien zur Anwendung gelangen, zu investieren. Diese Investitionen sollten im nächsten Rahmenprogramm entsprechend unterstützt werden und den Austausch von Erfahrungen und Ergebnissen zumindest innerhalb von Europa ermöglichen. Die europäischen und nationalen Programme sollten stärker auf Forschung und Innovation für Energieeffizienz ausgerichtet sein.

1.3   Aktive Arbeitsmarktpolitiken und Arbeitsverwaltungen

1.3.1

Wie der Ausschuss bereits in seiner Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht 2011 (10) hervorhob, sollte die Mobilisierung der Menschen zur Arbeitssuche vor allem durch das Angebot leistungsfähiger Dienstleistungen seitens der Arbeitsvermittlungsagenturen gewährleistet werden und weniger durch sogenannte Anreize bei den Arbeitslosenunterstützungen. (…) Bei der aktuellen Rekordarbeitslosigkeit ist das Problem auf den Arbeitsmärkten nicht der Mangel an Arbeitskräften generell, sondern in einigen Mitgliedstaaten eher der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften sowie der massive Mangel an verfügbarer Beschäftigung. Eine stärkere Berücksichtigung muss der Entwicklung einer intelligenten Nachfragepolitik geschenkt werden, die künftiges Wachstum und Innovation fördert und zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze beiträgt.

1.3.2

Der Ausschuss betonte, dass die öffentlichen Arbeitsmarktdienste die Aufgabe haben, aktiver an der Ausbildungsmaßnahmen für vorrangige Zielgruppen mitzuwirken, z.B. für die Arbeitnehmer mit geringen Qualifikationen oder prekären Arbeitsverhältnissen und für die am meisten schutzbedürftigen Gruppen (Menschen mit Behinderungen, ältere Arbeitslose, Einwanderer usw.). Die Arbeitsbehörden sollten auch eine aktivere Rolle bei der Vermittlung von Langzeitarbeitslosen und der Entwicklung aktiver Beschäftigungs- und Berufsbildungsmaßnahmen spielen. Viele Ländern müssen die von den öffentlichen Arbeitsverwaltungen gewährte spezifische Unterstützung massiv ausbauen, wobei vermehrte Aufmerksamkeit Benachteiligten (v.a. jenen mit Migrationshintergrund) gelten muss.

1.4   Reform und Modernisierung der Pensions- und Rentensysteme

1.4.1

Der Ausschuss sieht zwar den Reform- und Modernisierungsbedarf der Pensions- und Rentensysteme, vertritt jedoch die Ansicht, dass diese eher aufgrund des Mangels an Arbeitsplätzen und Investitionen als aufgrund der demografischen Entwicklung unter Druck geraten. Gebraucht werden Initiativen zur Förderung einer längeren Lebensarbeitszeit, flankiert durch eine effiziente Wachstums- und Beschäftigungspolitik. Nur eine echte Politik für "aktives Altern", die auf ein stärkeres Engagement im Bereich Bildung und lebenslanges Lernen abzielt, kann zu einem deutlichen Anstieg der Beschäftigungsraten älterer Menschen beitragen, die ihre Tätigkeit wegen gesundheitlicher Probleme, der Arbeitsintensität, vorzeitiger Entlassung oder mangelnder Möglichkeiten der Ausbildung oder des Wiedereintritts in den Arbeitsmarkt aufgeben. Der EWSA steht auch einer Anhebung des gesetzlichen Rentenalters als Antwort auf die demografische Herausforderung sehr kritisch gegenüber. Eine Anhebung des gesetzlichen Ruhestandsalters kann den Druck auf andere Säulen des Sozialsystems, z.B. Invalidenrenten oder Mindesteinkommen, erhöhen (so wie in einigen Mitgliedstaaten geschehen), was den Fortschritt hin zu stabileren öffentlichen Finanzen unterminiert. Der EWSA hält es viel eher für angebracht, das effektive Pensionsantritts- bzw. Renteneintrittsalter dem geltenden gesetzlichen Rentenalter anzunähern.

1.4.2

Insbesondere muss sich der konsequente Umbau in Richtung alternsgerechte Arbeitswelt aus Sicht des EWSA aus einem Bündel an Maßnahmen ergeben, zu dem insbesondere folgende Kernelemente gehören: Anreize für Unternehmen zur Schaffung alternsgerechter Arbeitsplätze und zur Stabilisierung bestehender Beschäftigung älterer Arbeitnehmer, offensive Arbeitsmarktpolitik zur Wiedereingliederung älterer Arbeitsloser ins Erwerbsleben, umfassende Beratung und Begleitung Arbeitsuchender sowie maßgeschneiderte Vermittlungsunterstützung, Maßnahmen, die darauf abzielen, physisch und psychisch länger im Erwerbsleben verbleiben zu können, Maßnahmen zur Erhöhung der Integrativität der Arbeitsplätze für ältere Menschen mit Behinderungen, Maßnahmen, um die Bereitschaft des Einzelnen zu erhöhen, auch länger zu arbeiten, wozu auch die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen und zur Gesundheitsvorsorge gehört, Entwicklung und sozialpartnerschaftliche Aushandlung gesundheitsfördernder Arbeitszeitmodelle auf sektoraler und betrieblicher Ebene über die gesamte Berufslaufbahn hinweg, Betriebliche, tarifvertragliche und rechtliche Maßnahmen zur Gewährleistung stärkerer Beteiligung Älterer an Weiterbildung, bewusstseinsbildende Maßnahmen zugunsten älterer Arbeitnehmer, breite gesellschaftliche Sensibilisierung, um Stereotype und Vorurteile gegenüber älteren Beschäftigten abzubauen und den Begriff des "Alterns" positiv zu besetzen, Beratung und Unterstützung von Unternehmen insbesondere KMU bei der vorausschauenden Personalplanung und Entwicklung einer alters- und alternsgerechten Arbeitsorganisation, Schaffung adäquater Anreize, Ältere in Beschäftigung zu setzen und in Beschäftigung zu halten, ohne den Wettbewerb dadurch zu verzerren, Schaffung sozialverträglicher Anreize zur längeren Erwerbstätigkeit im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen zum Rentenantrittsalter für alle, die Arbeit finden und arbeiten können, und wo möglich oder erwünscht, Ausbau innovativer und attraktiver Modelle zum gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in die Altersversorgung innerhalb der gesetzlichen Rentensysteme.

1.4.3

Außerdem verweist der EWSA in Bezug auf die Richtlinie 2003/41/EG über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung auf Ziffer 5.7 seiner Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht 2011 (11).

1.5   Eine wachstumsfreundliche Steuerpolitik

1.5.1

Der EWSA verweist auf Ziffer 1.4 seiner Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht 2011 (12), in der er aussagt, dass neue Finanzierungsquellen aufgetan werden müssen, um die Steuerlast zu tragen.

1.5.2

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Finanzsektor zu den Bemühungen um die Haushaltskonsolidierung einen angemessenen und substanziellen Beitrag leisten sollte.

Die globale Einführung einer Finanztransaktionssteuer sollte einer EU-weiten Finanztransaktionssteuer vorgezogen werden. Falls sich jedoch die Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf globaler Ebene als nicht machbar erweisen sollte, würde der EWSA unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Folgenabschätzung die Einführung einer EU-Finanztransaktionssteuer vorschlagen.

1.5.3

In Bezug auf die Mehrwertsteuer (MwSt) befürwortet der EWSA vorbehaltlos die Initiative der Kommission, Überlegungen zur Möglichkeit einer grundsätzlichen Überarbeitung des Mehrwertsteuersystems anzustellen. Die operativen Kosten für die Nutzer und der administrative Aufwand für die Verwaltungen sollten verringert werden. Ein besonders heikles Problem ist die Behandlung grenzüberschreitender Umsätze.

1.5.4

Der EWSA unterstützt und begrüßt den Vorschlag für eine neue "Verordnung über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Verbrauchsteuern" (13) als notwendig und nützlich für eine wirksame Steuererhebung und die Bekämpfung von Verbrauchsteuerbetrug.

1.5.5

Um Doppelbesteuerung zu beseitigen und für eine verstärkte Verwaltungsvereinfachung bei grenzübergreifenden Sachverhalten empfiehlt der EWSA die Einrichtung einziger Anlaufstellen, an denen die Bürger informiert werden, Steuern entrichten und die notwendigen Bescheinigungen und Unterlagen zur grenzüberschreitenden Verwendung in der gesamten EU erhalten können.

1.5.6

In diesem Zusammenhang ruft der EWSA zur Einrichtung einer Beobachtungsstelle für grenzübergreifende Besteuerung unter der Leitung der Europäischen Kommission auf, um laufend detaillierte Informationen über bestehende Steuerhemmnisse und deren Entwicklung zu bekommen.

1.5.7

Der EWSA unterstützt das Vorhaben einer gemeinsamen Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), weil mit der GKKB für Unternehmen mit grenzüberschreitender Tätigkeit bessere Bedingungen geschaffen werden.

1.5.8

Der EWSA erwartet, dass die GKKB zu einer erheblichen Senkung der steuerlichen Befolgungskosten und zum Abbau von Verzerrungen des innergemeinschaftlichen Wettbewerbs durch steuerrechtliche Regeln führt. So dürfte die GKKB den fairen und nachhaltigen Wettbewerb fördern und sich positiv auf das Wachstum und die Beschäftigung auswirken.

1.5.9

Der Ausschuss unterstützt die Überarbeitung der Richtlinie zur Besteuerung von Energieerzeugnissen, die den Mitgliedstaaten Gelegenheit bietet, im Einklang mit der Europa-2020-Strategie einen Teil der Steuerbelastung von Arbeit oder Kapital auf eine Besteuerung umverteilen, die umweltfreundliche und energieeffiziente Verhaltensmuster fördert.

1.5.10

Die Komponente "CO2-abhängige Steuer" ist eine Ergänzung zum Emissionshandelssystem (EU-EHS).

1.5.11

Der Ausschuss bedauert jedoch, dass die Neufassung nicht ehrgeiziger und kohärenter ist. Die Europäische Kommission hat bereits von Anfang an Ausnahmebestimmungen in ihren Vorschlag aufgenommen, um verschiedene Mitgliedstaaten zu beschwichtigen.

1.5.12

Bei Heizstoffen fehlt ein entsprechendes Preissignal über die Besteuerung – und dies könnte auch nach der Überarbeitung der Energiesteuerrichtlinie der Fall bleiben.

1.5.13

Einige Sektoren (u.a. Landwirtschaft, Bau, öffentlicher Verkehr) bleiben jedoch nach wie vor teilweise oder zur Gänze steuerbefreit. All diese Ausnahmen entbehren der Logik und dürften bei denjenigen, für die sie nicht gelten, kaum auf Verständnis stoßen.

2.   Wiederherstellung einer normalen Kreditvergabe an die Wirtschaft

2.1   Ein gesundes Finanzsystem

2.1.1

Es ist wichtig, die gravierenden Mängel bei der Regulierung und Überwachung des internationalen Finanzwesens abzustellen. Das wachsende Ungleichgewicht in der Finanzbranche bezüglich Privatisierung der Gewinne und Vergemeinschaftung der Verluste muss so schnell wie möglich beseitigt werden. Es müssen rechtliche Rahmenbedingungen festgelegt werden, damit die Finanzintermediäre ihrer vordringlichen Aufgabe als Dienstleister für die Realwirtschaft nachkommen und Kredite für reale Vorhaben zur Verfügung stellen und in Vermögenswerte investieren, anstatt auf Verbindlichkeiten zu spekulieren. Jedwede öffentliche Unterstützung für Finanzinstitute muss mit den notwendigen Verbesserungen ihrer Unternehmensführung einhergehen - als ein erster Schritt hin zur grundlegenden Reform der Branche zur Unterstützung der Agenda für Wachstum und Beschäftigung.

2.1.2

Der EWSA teilt die Bedenken der Kommission, dass die Unterstützung insolventer Finanzinstitute auf Kosten der öffentlichen Haushalte und gleicher Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt in Zukunft nicht mehr länger vertretbar sein wird. Der EWSA hofft, dass die Kommission eine gründliche Folgenabschätzung hinsichtlich der erforderlichen Kosten, Humanressourcen und Gesetzesreformen durchführen wird. Zu einem realistischen Vorschlag sollte ein Zeitplan für die Einstellung von Personal gehören, wobei zu berücksichtigen ist, dass geeignete Fachkräfte möglicherweise nicht unmittelbar auf dem Markt verfügbar sind.

2.1.3

Der EWSA begrüßt die Reaktionen der Europäischen Kommission und der OECD auf die zunehmende Komplexität und Undurchsichtigkeit des Finanzsystems. Gleichzeitig fordert er den Finanzsektor zur ordnungsgemäßen Anwendung dieses neuen Rechtsrahmens und zum Einsatz von Selbstregulierung auf, um ein angemessenes und ehrliches Vorgehen und somit auch den Zugang zu transparenten Finanzprodukten zu fördern.

2.1.4

Der EWSA fordert, die Vermittlung von Finanzwissen als Pflichtfach auf die Lehrpläne des Bildungssystems zu setzen und in Fortsetzung davon in die Pläne zur Weiterbildung und Umschulung von Arbeitnehmern aufzunehmen. Unter anderem soll dadurch das bewusste Sparen durch eine Hervorhebung sozial verantwortlicher Finanzprodukte gefördert werden. Eine umfassend zugängliche Vermittlung von Kenntnissen in Finanzangelegenheiten kommt der gesamten Gesellschaft zugute.

2.1.5

Der EWSA verweist auf Ziffer 3.6 seiner Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht 2011 (14) und begrüßt die Initiativen zu Leerverkäufen und Kreditausfall-Swaps. So werden miteinander kollidierende Regelungen beseitigt und Klarheit für diesen Bereich der Finanzmärkte geschaffen; außerdem werden die zuständigen Behörden mit den notwendigen Befugnissen ausgestattet, um für die von der Verordnung erfassten Finanzinstrumente zusätzliche Transparenzvorschriften zu erlassen.

2.1.6

Der Ausschuss begrüßt die Bestimmungen zur Markttransparenz, von denen er erwartet, dass sie sich sehr positiv auswirken. Er begrüßt Regulierungsfunktion der Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde (ESMA), macht jedoch darauf aufmerksam, dass ein Übermaß an Eingriffen die Märkte destabilisieren könnte.

2.1.7

Damit eine praktikable Regelung für Bankensanierungsfonds zustande kommt, spricht sich der EWSA dafür aus, dass sich die Mitgliedstaaten im Vorfeld auf die Einführung einheitlicher Methoden und Regeln einigen, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden.

2.1.8

Ein wichtiger Punkt ist die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Der EWSA befürchtet, dass der BSF durch die Umlenkung von Mitteln die Möglichkeiten des Bankensektors zur Kreditvergabe einschränkt.

2.1.9

Nach Ansicht des EWSA sollte die Kommission, bevor sie Schritte zur Einführung von Bankabgaben einleitet, eine sorgfältige Bewertung der kumulativen Auswirkungen der Abgaben und BSF vornehmen. Eine Entscheidung zur Einführung des BSF setzt Überlegungen dazu voraus, wie viel die ganze Regelung kostet, inwieweit sie die Möglichkeiten des Bankensektors zur Kreditvergabe beeinträchtigt und wie lange es dauert, bis der BSF zum Tragen kommt oder seine geplante Größe erreicht. Der EWSA empfiehlt, bei diesen Überlegungen vom ungünstigsten Fall auszugehen.

2.1.10

Der EWSA begrüßt ausdrücklich, dass nach dem Verordnungsvorschlag multilaterale Interbankenentgelte für Lastschriften künftig grundsätzlich verboten sind. Das schafft Klarheit und Transparenz der in den Zahlungsvorgängen zugrundeliegenden komplexen Vertragsbeziehungen. Dies kommt insbesondere den kleinen und mittleren Unternehmen zugute.

2.1.11

Die von der Kommission durchgeführte Folgenabschätzung kommt zu dem Schluss, dass KMU durch die neuen Kapitalanforderungen nicht besonders benachteiligt werden. Der Ausschuss hegt diesbezüglich aber Zweifel und legt der Kommission nahe, die Entwicklung der Kreditvergabe der Banken und die Bankgebühren für KMU genau zu überwachen. Außerdem tritt der EWSA dafür ein, dass die Überprüfung des Risikoratings für KMU-Kredite von der Kommission durchgeführt wird.

2.1.12

Das Gegengewicht zur neuen Verordnung muss die Durchführung von Regelungen für die Erholung und die Sanierung sein, die auf Instrumenten wie z.B. Abwicklungsplänen (living wills) beruhen. Während die Staaten weiterhin für kleinere Einlagen bürgen, muss das moralische Risiko (moral hazard) infolge der unbegrenzten staatlichen Unterstützung für insolvente Banken beseitigt werden. Wenn die Lage eindeutig genug ist, müssen Investoren, Kreditgeber und Direktoren unmittelbar für die künftige wirtschaftliche Gesundheit eines jeden Kreditinstituts verantwortlich sein.

3.   Förderung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit für heute und morgen

3.1   Der EWSA bekräftigt die in seiner Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht 2011 unter Ziffer 8 "Ausschöpfung des Binnenmarktpotenzials", Ziffer 9 "Beschaffung von privatem Kapital zur Finanzierung des Wachstums" und Ziffer 10 "Kostengünstige Energieversorgung" vorgebrachten Ansichten.

3.2   Forschung und Innovation

3.2.1

Der EWSA empfiehlt, dass die Europäische Kommission durch ergänzende strukturelle Maßnahmen innerhalb der Kommission und der sie unterstützenden Beratungsorgane eine integrierte Strategie für Forschung und Innovation entwickelt und das zukünftige Budget zur Förderung von Forschung und Innovation anhebt.

3.2.2

Der EWSA begrüßt ferner, dass es die politische Hauptaufgabe ist, europaweit zuverlässige und innovationsfreundliche Rahmenbedingungen und ausreichend Freiraum zu schaffen, um so potenzielle Erfinder und Innovationsprozesse von der Behinderung zu befreien, welche durch die derzeitige Fragmentierung und Überladung der Regelwerke und die vielfältigen bürokratischen Hürden – aufgeteilt auf 27 Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission – aufgebaut ist.

3.2.3

Der Ausschuss empfiehlt, sich noch viel stärker auf den Abbau von Hindernissen zu konzentrieren, welche der raschen Implementierung von Innovationen und einer Realisierung der Innovationsunion entgegenstehen. Um den gesamten Innovationsprozess besser zu fördern, ist nach Meinung des Ausschusses eine sorgfältige und mit den betroffenen Akteuren abgestimmte Überprüfung der Beihilfe-, Vergabe- und Wettbewerbsregeln erforderlich, welche diesem Ziel entgegenstehen (15) können. Ursache ist die Balance bzw. der mögliche Konflikt zwischen Wettbewerbsrecht und Innovationsförderung. Deswegen dürfen Wettbewerbs-, Beihilfe- und Vergaberecht nicht innovationshemmend angewandt werden. Es könnten sogar Reformen erforderlich sein. Innovationen müssen manchmal auch davor geschützt werden, dass sie von Konkurrenten erworben und anschließend unterdrückt werden, um den Innovationsprozess zu blockieren.

3.2.4

Der Ausschuss begrüßt insbesondere, dass Innovationen in einem umfassenden, vernetzten Sinn verstanden und definiert werden.

3.2.5

Der Ausschuss empfiehlt, flankierende Maßnahmen, finanzielle Unterstützung und Bewertungskriterien auf beide Arten von Innovationen auszurichten: sowohl auf jene eher inkrementellen Innovationen, die auf herrschende Marktkräfte und gesellschaftliche Bedürfnissen reagieren, als auch auf die mehr radikalen Innovationen, die ihrerseits die Marktkräfte beeinflussen und neue gesellschaftliche Bedürfnisse schaffen, aber häufig zunächst eine besonders schwierige Durststrecke überwinden müssen.

3.2.6

Der Ausschuss betont die wichtige Rolle von KMU und Kleinstunternehmen im Innovationsprozess und empfiehlt, Förderprogramme und -maßnahmen insbesondere auch auf ihre spezifischen Anforderungen zuzuschneiden. Er empfiehlt zudem, in Überlegungen einzutreten, ob und wie Neugründungen für eine angemessene Karenzzeit von einem Großteil der ansonsten üblichen Auflagen und Vorschriften entlastet werden könnten, und ob zudem spezielle weitere Anreize geschaffen werden könnten. Dies gilt auch für Unternehmen der Sozialwirtschaft.

3.3   Binnenmarkt

3.3.1

Der EWSA begrüßt das ehrgeizige Ziel der Kommission, das Wachstum anzukurbeln und das Vertrauen in den Binnenmarkt zu stärken. Er weist darauf hin, dass der Binnenmarkt ein Kernstück des europäischen Integrationsprozesses ist und den europäischen Interessenträgern unmittelbar spürbaren Nutzen und den europäischen Volkswirtschaften nachhaltiges Wachstum bringen kann. Ein funktionierender, zukunftsorientierter Binnenmarkt ist daher im gegenwärtigen Kontext für die politische und wirtschaftliche Zukunft der Europäischen Union nicht nur wünschenswert, sondern entscheidend wichtig. Um diesen Nutzen zu bewirken, muss sich die Kommission bei ihren Vorschlägen ehrgeizige Ziele setzen, die über die Beseitigung kleiner Einzelprobleme hinausweisen.

3.3.2

Der EWSA bekräftigt seine Forderung nach einem ganzheitlichen Ansatz. Seiner Meinung nach ist die Förderung des Wachstums und des Wirtschaftspotenzials zwar wichtig, aber der Schwerpunkt der Vorschläge sollte stärker auf den Verbrauchern und Bürgern als unabhängigen Akteuren bei der Schaffung des Binnenmarktes liegen.

3.3.3

Der EWSA plädiert für Nulltoleranz bei Nichtumsetzung von EU-Vorschriften durch die Mitgliedstaaten und erinnert den Rat und die Kommission daran, dass eine verspätete, uneinheitliche und unvollständige Umsetzung ein großes Hemmnis für einen funktionierenden Binnenmarkt ist. Sehr begrüßenswert fände er die Veröffentlichung von Entsprechungstabellen durch die Mitgliedstaaten, da sie zu mehr Ansehen und einem besseren Verständnis des Binnenmarktes beitragen würden.

3.4   Digitaler Binnenmarkt

3.4.1

Hinsichtlich des digitalen Binnenmarkts verweist der EWSA auf Ziffer 8.12 seiner Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht 2011 und hat in mehreren Stellungnahmen aus dem Jahr 2011 (16) nachdrücklich das in der Digitalen Agenda formulierte Ziel unterstützt, aus einem digitalen Binnenmarkt, der auf einem schnellen bis extrem schnellen Internet beruht, einen nachhaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen zu ziehen.

3.4.2

Diesbezüglich begrüßt der Ausschuss das ideenreiche Konzept der Kommission zur massiven Förderung von Koinvestitionsvereinbarungen für die Förderung schneller und ultraschneller Breitbanddienste, forderte jedoch die Festlegung noch ehrgeizigerer Ziele für den Internetanschluss, damit Europa international auch weiterhin wettbewerbsfähig bleibt. Der Ausschuss betont die Bedeutung der Grundsätze der Netzneutralität als grundlegende politische Ziele auf EU-Ebene und fordert einen dringlichen und proaktiven Ansatz, um diese Grundsätze im EU-Recht festzuschreiben und somit sicherzustellen, dass das Internet in ganz Europa offen bleibt.

3.4.3

Bezüglich des "eGovernment-Aktionsplans" und des "Interoperabilitätsrahmens" begrüßt der EWSA den Aktionsplan der Kommission für eine nachhaltige und innovative Form des eGovernment, wobei er darauf verwies, dass die auf der Ministerkonferenz in Malmö im Jahr 2009 eingegangenen Verpflichtungen eingehalten werden sollten. Ferner befürwortet der Ausschuss eine Plattform für den Informations-, Erfahrungs- und Codes-Austausch auf der Grundlage von Open-source-Software, wie im Europäischen Interoperabilitätsrahmen beschrieben, wobei er betont, dass die meisten Hindernisse derzeit auf das Fehlen einer grenz- und sektorübergreifenden Rechtsgrundlage für Interoperabilität, divergierende nationale Rechtsvorschriften und die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten sich für untereinander inkompatible Lösungen entscheiden, zurückzuführen sind.

3.4.4

Bezüglich des Themas "Verbesserung der digitalen Kompetenzen, Qualifikationen und Integration" vertritt der EWSA die Ansicht, dass Ungleichheiten beim IKT-Zugang die logische Folge wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten sind, und betonte, dass alle Bürger das Recht haben müssen, als digital mündige Bürger alle Medieninhalte kritisch beurteilen zu können. Ferner führt der Ausschuss an, dass die EU und die Mitgliedstaaten die digitale Teilhabe aller durch lebensbegleitende Vermittlung digitaler Kompetenzen für berufliche und/ oder persönliche Anwendung und Bürgerbeteiligung sicherstellen sollten und dass der Zugang zu Infrastruktur und Ausstattung als Grundrecht gelten muss.

3.5   Informationsgesellschaft

3.5.1

Bezüglich der "neuen Roaming-Verordnung" erachtet der EWSA die vorgeschlagene Senkung der Preisobergrenzen als verhältnismäßig und angemessen, um zu gewährleisten, dass diese Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu erschwinglichen Preisen verfügbar und zugänglich ist, und als Schritt in die richtige Richtung, sprich dass es auf mittlere Sicht keine speziellen Roaming-Gebühren mehr gibt. Der Ausschuss bedauert jedoch, dass dem Kommissionsvorschlag keine Abschätzung der Folgen der neuen Maßnahmen für die Beschäftigung und die Arbeitsbedingungen in diesem Sektor beigefügt war.

3.6   Energie

3.6.1

Der EWSA ist der Ansicht, dass durch effiziente grenzüberschreitende Märkte Versorgungssicherheit, eine optimale Krisenbewältigung und ein geringeres Risiko von letztlich immer an den Endverbraucher weitergegebenen Zusatzkosten eher gewährleistet werden können. Eine schrittweise Verbesserung des Energiebinnenmarkts ermöglicht erhebliche Einsparungen zugunsten der Unternehmen und der privaten Verbraucher.

3.6.2

Der EWSA stellt fest, dass auf den Energiegroßmärkten der Union nach wie vor unterschiedliche Bedingungen und Diskriminierung herrschen. Die Integration der Märkte ist völlig unzureichend, u.a. aufgrund der strukturellen Defizite des Netzes, insbesondere beim grenzüberschreitenden Netzverbund. Es gibt noch immer gravierende Hindernisse, die einem diskriminierungsfreien Zugang zum Netz und zum Stromabsatz im Wege stehen.

3.6.3

Der Ausschuss erachtet es als unerlässlich, den Aufbau eines Europas der Energie fortzusetzen, in dem die allgemeinen Interessen der Union und die Interessen der Verbraucher gewahrt werden, die Energieversorgung sichergestellt wird, mit Hilfe entsprechender Maßnahmen, mit denen dafür gesorgt wird, dass die Vorteile allen gleichermaßen zugutekommen, und kontrolliert wird, ob die Kosten angemessen sind, die soziale, ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit gesichert wird und die Integrität des Marktes als unverzichtbare Komponente für die Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft geschützt wird.

3.6.4

Der EWSA fordert eine Verzahnung der Innen- und Außenpolitik sowie der damit zusammenhängenden Politikfelder, wie der Nachbarschaftspolitik und der Umweltschutzpolitik. Der Unilateralismus im Energiebereich muss mit Hilfe einer soliden gemeinsamen Politik der Solidarität in Energiefragen überwunden werden, deren Grundlage eine Diversifizierung sowie ein auf die Bedingungen und Merkmale der einzelnen Mitgliedstaaten zugeschnittener Energiemix, aber vor allem die ökologische Nachhaltigkeit bildet.

3.6.5

In Bezug auf den Wachstumsbeitrag von Energie

weist der EWSA darauf hin, dass Energieeffizienz und Energieeinsparungen in erster Linie vom Engagement der Bürger, Unternehmen und Arbeitnehmer und einer Änderung ihres Verhaltens abhängen;

betont er, dass die Erhöhung der Energieeinsparungen der wirtschaftlichen Entwicklung, dem sozialen Wohlergehen und der Lebensqualität zuträglich sein sollte;

unterstreicht er die Bedeutung der Wahl der richtigen Instrumente und hält freiwillige Vereinbarungen für nützlich, wobei verpflichtende Maßnahmen erforderlich sind, wenn positive Anreize versagen;

unterstreicht er die Bedeutung der Kraft-Wärme-Kopplung als hocheffizientes Energieerzeugungskonzept;

spricht er sich gegen die Festlegung eines verbindlichen Gesamtenergieeffizienzziels aus und empfiehlt vielmehr, alle Bemühungen auf wirksame Ergebnisse auszurichten;

verweist er auf die notwendige Sicherstellung der finanziellen Unterstützung und Investitionen, um das große Potenzial in den neuen Mitgliedstaaten auszuschöpfen.

3.6.6

Bezüglich des "Energieaktionsplans" empfiehlt der EWSA der Kommission Folgendes:

eine eingehende Prüfung Weißer Zertifikate vorzunehmen und zu veröffentlichen;

gezielte Maßnahmen, für einzelne Fälle von großem ungenutzten Energieeinsparungspotenzial einzusetzen und zugleich zu gewährleisten, dass in bestimmten Sonderfällen staatliche Beihilfen gewährt werden können;

einen gesicherten Netzzugang für KWK-Strom zur Auflage zu machen, um den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung bei der Wärme- und Stromerzeugung wesentlich zu steigern.

3.6.7

Mit Blick auf Maßnahmen zur Förderung von Verhaltensänderungen empfiehlt der EWSA der Kommission:

die Energieverbraucher in den Mittelpunkt zu stellen;

die Rolle des öffentlichen Sektors bei der Verbesserung der Energieeffizienz als nachahmenswertes Beispiel für Unternehmen und Haushalte stärker zu fördern;

das menschliche Verhalten zu untersuchen und gezielte Informations- und Sensibilisierungskampagnen für die verschiedenen Nutzergruppen auszuarbeiten;

sicherzustellen, dass die Nutzer von ihrem Handeln profitieren;

ggf. notwendige, überlegt gestaltete und effektive Anreize bereitzustellen, da selbst kleine Anreize große Wirkung zeigen können;

dass Bauunternehmen und Regierungen dafür Sorge tragen, dass zusätzliche Investitionen in Gebäude auch einen Wertzuwachs bringen;

Aus- und Fortbildung im Bausektor zu erweitern und anzupassen;

die Durchführung von Schulungen zu den Themen Energieeffizienz und grünes Beschaffungswesen für Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung zu fördern;

dass die Europäische Kommission die Probleme untersucht und gegebenenfalls die Bestimmungen im Zusammenhang mit dem Energieausweis für Gebäude und das neue System der Energiekennzeichnung von Elektrogeräten überarbeitet;

dass die Europäische Kommission außerdem die Auswirkungen der Verbreitung von intelligenten Messgeräten auf die Energieverbraucher bewertet und zusätzliche Maßnahmen vorschlägt, um echte Vorteile zu erzielen;

gut funktionierende langfristige freiwillige Vereinbarungen auf nationaler Ebene fortzuführen und auszubauen und sie auch auf den öffentlichen Sektor umzulegen;

alle Interessenträger, d.h. Bürger, Unternehmen und Arbeitnehmer, umfassend einzubinden.

3.6.8

Nach dem Dafürhalten des EWSA sind verstärkte Maßnahmen zur Bekämpfung der Energiearmut erforderlich, die einer Ausgrenzung immer größerer Bevölkerungsteile zu führen droht. (Die grünen Optionen können sich als kostspielig erweisen [erhöhte Tarife und/oder steuerliche Belastung], insbesondere für benachteiligte Bevölkerungsgruppen.) Außerdem muss der europäische Sachverstand gebündelt werden, um neue effiziente, nachhaltige und wettbewerbsfähige "grüne" Arbeitsplätze zu schaffen und Unterschiede abzubauen (17) und somit dem "Bürger als Verbraucher" den "Zugang zu Energiedienstleistungen und zur Beschäftigung in kohlenstoffarmen Wirtschaftssektoren" (18) zu garantieren.

3.7   Verkehr

3.7.1

Hinsichtlich des Wachstumsbeitrags des Verkehrs stimmt der EWSA der Auffassung zu, dass das Ziel des Verkehrsweißbuchs einer Senkung der CO2-Emissionen um 60 % bis 2050 im Einklang mit der allgemeinen Klimapolitik der EU steht und einen guten Mittelweg zwischen der von der Gesellschaft geforderten raschen Verringerung der Treibhausgasemissionen und der Möglichkeit bietet, rasch alternative Kraftstoffe einzuführen, damit das Verkehrswesen weiterhin seinen wichtigen Beitrag zur EU-Wirtschaft leisten kann. Der Ausschuss schlägt vor, dieses langfristige Ziel des Fahrplans um weitere spezifischere messbare mittelfristige Ziele zu ergänzen, die auf die Verringerung der Ölabhängigkeit, den Abbau der Lärmbelastung und die Eindämmung der Luftverschmutzung ausgerichtet sind.

3.7.2

Die Kommission greift die Notwendigkeit auf, die Wettbewerbsfähigkeit von Verkehrsalternativen zum Straßenverkehr zu stärken. Der Ausschuss unterstützt dieses Ziel, sofern es durch die Förderung von Kapazität und Qualität des Eisenbahn-, Binnenschiff- und Kurzstreckenseeverkehrs und effiziente intermodale Dienste erreicht wird und die Entwicklung effizienter und nachhaltiger Straßenverkehrsdienste in der EU nicht behindert.

3.7.3

Hinsichtlich des Verkehrs im Binnenmarkt weiß der Ausschuss um die grundlegende Rolle des Verkehrs als Faktor für Wettbewerb und Wohlstand und die Notwendigkeit, ein integriertes europäisches Verkehrssystem zu schaffen, die Nachhaltigkeit zu verbessern sowie CO2-arme Verkehrsträger, Energie- und Ressourceneffizienz, Sicherheit, Versorgungsunabhängigkeit und Verringerung der Verkehrsüberlastung zu fördern. Er befürwortet den Stellenwert, der optimierten multimodalen Logistikketten und einer effizienteren Nutzung der Verkehrsinfrastruktur beigemessen wird. Er befürwortet gleichfalls die stärkere Ausrichtung des Fahrplans auf marktbestimmte Maßnahmen im Vergleich zu den früheren Weißbüchern.

3.8   Industrie

3.8.1

Hinsichtlich der Industrie unterstützt der EWSA nachdrücklich den ganzheitlichen Ansatz und eine verstärkte Verzahnung der EU-Politikbereiche sowie eine umfassendere industriepolitische Koordinierung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten. Das Ziel ist eine nachhaltige europäische Industrie, die in der Weltwirtschaft wettbewerbsfähig ist.

3.8.2

Diese verstärkte Verzahnung sollte nach Auffassung des EWSA zu integrierten Ansätzen in einem gänzlich funktionsfähigen Binnenmarkt im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft führen, und zwar durch intelligente Regulierung, FuE und Innovation, Zugang zu Finanzmitteln, energieeffiziente und CO2-arme Wirtschaft, Maßnahmen in den Bereichen Umwelt, Verkehr, Wettbewerb und Beschäftigung, Verbesserung von Qualifikationen und Kompetenzen, Handel und verwandte Themen sowie Zugang zu Rohstoffen.

3.8.3

Trotz eindeutiger Fortschritte bestehen die Zergliederung des Binnenmarkts und eine mangelnde Fokussierung fort, was teilweise auf divergierende Konzepte von Wirtschaft zurückzuführen ist. Der Bezug zwischen der Vollendung des Binnenmarkts und der Industriepolitik wird allzu häufig übersehen. Der EWSA hat mehrfach gefordert, angemessene Voraussetzungen zu schaffen, wobei maßgeschneiderte Regelungen für Sektoren und thematische Fragen nötig sind, die den weitverzweigten globalen "value networks" Rechnung tragen.

3.8.4

Die Industriepolitik betrifft alle Arten von miteinander verbundenen Verarbeitungs- und Dienstleistungsbranchen. Die Grenzen zwischen diesen Branchen verwischen sich mehr und mehr. Die KMU werden immer wichtiger, was die Wertschöpfung wie auch die Schaffung von Arbeitsplätzen betrifft. Diese Faktoren erfordern eine intelligente horizontale und sektorspezifische Gesetzgebung und/oder Regulierung sowie flankierende Maßnahmen. Dabei muss die Komplexität der internationalen Netze und integrierten Verarbeitungsprozesse berücksichtigt werden.

3.9   Dienstleistungen

3.9.1

Der EWSA hält die Schlussfolgerungen der Kommission bezüglich der Auswirkungen der Dienstleistungsrichtlinie und des Funktionierens des Dienstleistungssektors für verfrüht. Die Richtlinie ist erst vor wenigen Jahren in Kraft getreten. Die Mitgliedstaaten sind mit der Richtlinie nicht gleichermaßen zufrieden und müssen sie auf ihre Weise in ihr jeweiliges Recht umsetzen.

3.9.2

Die Dienstleistungsrichtlinie ist im Rahmen des alten Vertrags angenommen worden, in dem wirtschaftliche Interessen noch die höchste Priorität innerhalb des Binnenmarktes genossen. Im Vertrag von Lissabon wurde der Primat der Wirtschaft gebrochen – anderen Interessen wird nunmehr ein ebenso hoher Stellenwert beigemessen. Eine Prüfung der Beziehungen zwischen der auf den alten Vertrag zurückgehenden Rechtsetzung und Rechtsprechung und dem neuen Vertrag ist sehr interessant.

3.10   Die externe Dimension des Wachstums

3.10.1

Mit Blick auf die externe Dimension des Wachstums und die Rohstoffversorgungssicherheit fordert der EWSA eine aktivere Außenpolitik zur Sicherung der Versorgung der EU-Wirtschaft mit Rohstoffen. Zu diesem Zweck sollten Leitlinien für eine "Rohstoffdiplomatie" entwickelt und unter den Mitgliedstaaten vereinbart werden. Bilaterale Handelsabkommen und Diplomatie sind von größter Bedeutung für eine sichere Versorgung der Wirtschaft in der EU mit kritischen Rohstoffen. Dies stellt den neu geschaffenen Europäischen Auswärtigen Dienst gleich vor eine schwere Aufgabe. Es bedarf nicht nur einer direkten Schwerpunktsetzung auf die Sicherung entscheidender Rohstoffe, sondern in den Zielländern muss auch ein für die EU-Interessen günstiges Umfeld geschaffen werden. Es gilt, sich die Tatsache zu Nutze zu machen, dass die EU zu den populärsten und wichtigsten Märkten in der Welt gehört.

3.10.2

Bezüglich des Zugangs zu den öffentlichen Beschaffungsmärkten von Drittländern ist der EWSA der Ansicht, dass die EU auf der Grundlage ihres Primär- und Sekundärrechts ihre Verhandlungsposition stärken muss, um ihren Zugang zu den öffentlichen Märkten der Drittländer zu verbessern. Denn die EU hat mehr als 80 % ihres öffentlichen Beschaffungsmarkts geöffnet, während andere entwickelte Wirtschaften dies lediglich zu 20 % getan haben.

3.10.3

Der Ausschuss fordert das Europäische Parlament, den Rat und die Kommission mit Nachdruck dazu auf, sowohl auf EU-interner als auch auf internationaler Ebene zu gewährleisten, dass die Interessen der Union in puncto Zugang zu den öffentlichen Märkten wirksamer und strategischer vertreten werden, damit sie gegenüber ihren Partnern in der Welt an Glaubwürdigkeit gewinnt und die Beständigkeit und Weiterentwicklung des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells unterstützt wird.

3.10.4

Als einer der außenpolitischen Aspekte der Strategie Europa 2020 hat die Handelspolitik der EU die Aufgabe sicherzustellen, dass der Handel zu einem stetigen Wachstum - das für die Überwindung der Krise jetzt noch fehlt – beiträgt und dabei den Fortbestand der sozialen Marktwirtschaft gewährleistet und den Übergang zu einer CO2-armen Wirtschaft unterstützt. Bezüglich einiger Themen hält es der Ausschuss für erforderlich, dass die EU das geltende Recht, insbesondere bei den staatlichen Zuschüssen und Beihilfen, klarstellt. Sie muss auf ihren Werten und Normen bestehen und dabei ggf. die Verfahren des WTO-Organs zur Streitbeilegung (Dispute Settlement Body, DSB) anwenden, um zur Schaffung einer Rechtsprechung beizutragen, die ihrer Sicht eines fairen Wettbewerbs gerecht wird, insbesondere im Hinblick auf die Schwellenländer.

3.10.5

Mit Blick auf Handel und Investitionen kommt es dem EWSA vor allem darauf an, dass die Investitionssicherheit sowohl im Interesse der Unternehmen in der EU als auch im Interesse der Entwicklungsländer gewährleistet ist. Der EWSA begrüßt die neue Zuständigkeit der Europäischen Kommission für ausländische Direktinvestitionen, die die Verhandlungsmacht der EU stärken wird und dazu führen dürfte, dass die EU zu einem wichtigeren Akteur wird und dadurch besseren Zugang zu wichtigen Drittlandsmärkten bei gleichzeitigem Investitionsschutz erhalten wird, was Europas internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessern dürfte. Gleichzeitig insistiert der EWSA, dass die Handels- und Investitionspolitik der Union mit der Wirtschaftspolitik und den übrigen Politikfeldern der EU im Einklang stehen und kompatibel sein muss, wozu auch Bereiche wie Umweltschutz, menschenwürdige Arbeit, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz und Entwicklung zählen. In den Investitionsabkommen der EU sollte ein offenes Investitionsumfeld mit einem wirksamen Schutz für EU-Investoren kombiniert und auch sichergestellt werden, dass die Investoren in den Ländern, in denen sie investieren, Flexibilität im Hinblick auf ihre Geschäftstätigkeit genießen. Dabei sollte die EU nach Ansicht des Ausschusses unbedingt die Gelegenheit ergreifen, um die von ihr ausgehandelten Investitionsabkommen zu verbessern und auf den neuesten Stand zu bringen, wobei sie sich auf ihre eigenen Stärken stützen und nicht lediglich andere nachahmen sollte. Die EU sollte die jüngsten Entwicklungen im internationalen Investitionsrecht sowie in der Investitionspolitik und -praxis (einschließlich Schiedsverfahren zwischen Staaten und Investoren) kritisch hinterfragen, um sicherzustellen, dass ihre Vorstellungen und ihr Ansatz im Hinblick auf künftige Investitionsabkommen und Investitionskapitel in Freihandelsabkommen sowohl auf dem neuesten Stand als auch nachhaltig sind.

3.10.6

Nach Ansicht des EWSA sollte die Internationalisierung der KMU stärker vorangetrieben werden, indem ihr Zugang zu den neuen Märkten erleichtert und dadurch auch ihre Fähigkeit zur Schaffung von Arbeitsplätzen erhöht wird.

3.10.7

Bilaterale Handelsübereinkommen wie die vor kurzem geschlossenen Freihandelsabkommen mit Kolumbien, Peru und Südkorea bieten viele wirtschaftliche Chancen, über die die Unternehmen in angemessener Form informiert werden sollten. Nach Ansicht des Ausschusses sollten bilaterale Abkommen als Maßnahmen angesehen werden, die mit einer multilateralen Lösung nicht nur vereinbar sind, sondern diese letztlich sogar stärken. Auch die Kommission bezeichnet den Handel als Grundlage des europäischen Wohlstands. Der Ausschuss hebt jedoch hervor, dass bei dieser neuen Reihe von Verhandlungen ein qualitativ anderer Ansatz verfolgt werden muss: Mit einem bilateralen Ansatz könnte es möglich sein, regionale und nationale Besonderheiten stärker zu berücksichtigen als dies bei multilateralen Übereinkommen der Fall ist, die zwangsläufig einen breiteren Ansatz verfolgen. Der EWSA betont, dass diese Verflechtungen auch die Akzeptanz und Weiterentwicklung vorbildlicher Verfahrensweisen auf dem Gebiet des Umweltschutzes und die Durchsetzung des Konzepts der nachhaltigen Entwicklung fördern sowie zur Entwicklung höherer Sozial- und Beschäftigungsstandards beitragen. Europa muss seine gemeinsamen Präferenzen in den bilateralen Verhandlungen zur Geltung bringen, und zwar im sozialen Bereich ebenso wie im Bereich der Nahrungsmittelsicherheit und des Umweltschutzes. Im Hinblick auf die Frage der weltweiten Ernährungssicherheit ist der Welthandel gleichzeitig ein Teil des Problems und ein Teil der Lösung. Die Regeln des Welthandels müssen insbesondere in den am wenigsten entwickelten Ländern die Ernährungssicherheit fördern und ihnen nach dem Grundsatz der differenzierten Sonderbehandlung von Entwicklungsländern einen freien Zugang zu den Märkten sowohl der entwickelten Länder also auch der Schwellenländer gewähren.

3.10.8

Der EWSA begrüßt den Vorschlag von Kommissionsvizepräsident Antonio Tajani, vor Unterzeichnung eines Handels- und Partnerschaftsabkommens zwischen der EU und Drittländern eine "Wettbewerbsfähigkeitsprüfung" einzuführen. Der Ausschuss ist ebenfalls der Meinung, dass jedwede anderen politischen Initiativen (z.B. in den Bereichen Energie-, Handels-, Umwelt-, Sozial- und Verbraucherschutzpolitik) vor ihrer Realisierung auf ihre Auswirkungen auf die industrielle Wettbewerbsfähigkeit geprüft werden müssen.

3.10.9

Für die Entwicklung einer ökologischen Wirtschaft in einem wettbewerbsorientierten globalisierten Umfeld und die Aufrechterhaltung seiner Führungsrolle in diesem Bereich sollte Europa in seinem eigenen Interesse und im Interesse des Klimas an seinem ehrgeizigen Ziel einer Verringerung der Treibhausgasemissionen festhalten. Der EWSA schlägt vor, Folgenabschätzungen (zu den Aspekten Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und Umwelt) durchzuführen und öffentliche Debatten zu veranstalten, um sich auf die Veränderungen zwischen 2020 und 2050 vorzubereiten und den Wirtschaftsakteuren und Bürgern einen stabilen Rahmen für ihre Zukunftsannahmen zu geben.

3.11   Mobilisierung des EU-Haushalts für mehr Wachstum und Beschäftigung

3.11.1

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass die Europäische Union aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise und der in einer Art Dominoeffekt wachsenden Haushaltsdefizite in den meisten Mitgliedstaaten derzeit weder über die Haushaltsmittel zur Umsetzung ihrer politischen Strategie noch über die Mittel zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen verfügt, die ihr aus dem Vertrag von Lissabon erwachsen.

3.11.2

Seiner Ansicht nach muss der EU-Haushalt gestärkt werden und eine Hebelwirkung entfalten. Die nationalen Haushalte und der europäische Haushalt müssen einander ergänzen, damit größenbedingte Einsparungen zur Verwirklichung der großen politischen Ziele der EU gelingen.

3.11.3

Der EWSA fordert, dass der Haushalt der EU in Sachen verantwortungsvolles Regierungshandeln, Effizienz, Transparenz und Kontrolle der Verwaltungsausgaben vorbildlich sein muss.

3.11.4

Der Begriff der "angemessenen Gegenleistung" muss nach Auffassung des EWSA aufgegeben werden, weil er im Widerspruch zu den Werten der Solidarität und des gegenseitigen Nutzens der europäischen Integration steht. Vielmehr muss der Grundsatz der Subsidiarität Anwendung finden, indem jene Verfahren auf die europäische Ebene übertragen werden, die ihren Inhalt und ihre Wirksamkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten verloren haben. Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission, zum Prinzip der Eigenmittel zurückzukehren, die völlig neu festgelegt werden oder an die Stelle nationaler Steuern treten können.

3.11.5

Der EWSA fordert nachdrücklich ein angemessenes Niveau an privaten und öffentlichen Finanzressourcen für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation zum Ausgleich schwindender Haushaltsmittel. Er begrüßt sehr die angekündigte Verbesserung der grenzüberschreitenden Bedingungen für Risikokapital sowie die Vorschläge für projektbezogene Euro-Anleihen, über die öffentliche und private Finanzmittel für vorrangige Investitionsvorhaben im Energie-, Verkehrs- und IKT-Bereich beschafft werden sollen. Projektbezogene Anleihen auch für andere Bereiche, z.B. Forschungs- und Demonstrationsprojekte, sollten geprüft werden. Die Struktur- und Kohäsionsfonds müssen ebenfalls auf industriepolitische Ziele ausgerichtet werden. Es bedarf neuer kreativer Ideen, um privates Kapital in den Industriesektor zu holen.

3.11.6

Es ist äußerst wichtig, die Finanzmittel der EU in den Bereichen FuE aufrechtzuerhalten oder sogar aufzustocken. Europäische Großprojekte, z.B. im Energiesektor und zur Verwirklichung einer gesamteuropäischen Infrastruktur, die von einem oder mehreren Mitgliedstaaten kofinanziert werden, sollten Hebelwirkungen erzielen.

3.11.7

Im Oktober 2010 hat die Kommission eine Mitteilung mit dem Titel "Regionalpolitik als Beitrag zum intelligenten Wachstum im Rahmen der Strategie Europa 2020" (19) angenommen, in der sie die Wichtigkeit der Entwicklung von Innovation, Forschung und Entwicklung in der ganzen Union deutlich unterstreicht und die potenzielle Rolle der Regionalpolitik in diesem Zusammenhang hervorhebt. In der Mitteilung betont sie außerdem die bisher nur schleppende Inanspruchnahme der Mittel, die für Innovationen bereitstehen. Es ist daher eine verpasste Gelegenheit, dass der 2011 von der Kommission vorgelegte Vorschlag zur Änderung Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates hinsichtlich bestimmter Vorschriften zur finanziellen Abwicklung für bestimmte Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind (COM(2011) 482 final), keine 100 %-Finanzierung von Innovations-Projekten durch die Union erlaubt, was besonders den KMU zugutekommen würde.

3.11.8

Der EWSA hat das TEN-V-Programm stets befürwortet und bekräftigt erneut seine Unterstützung dieses Programms. Er stellt allerdings fest, dass der Verkehrsinfrastrukturbedarf des erweiterten Europas größer geworden ist, weswegen Überlegungen darüber angestellt werden sollten, wie die derzeitige Politik und die zu ihrer Umsetzung vorhandenen Instrumente auf die sich abzeichnenden Herausforderungen abgestimmt werden können.

3.11.9

Ein höherer Marktanteil von alternativen Verkehrsträgern erfordert erhebliche Infrastrukturinvestitionen, wobei im Übrigen auch in die Straßenverkehrsinfrastruktur investiert werden muss. Privatinvestitionen und Infrastrukturentgelte sind kein Patentrezept. Der Ausschuss steht der Internalisierung der externen Kosten im Verkehrswesen positiv gegenüber; dies hat er auch bereits in früheren Stellungnahmen betont. Er hält es für richtig, dass gemäß dem Verursacherprinzip die echten gesellschaftlichen Kosten des Verkehrs in wirtschaftlichen Instrumenten für eine nachhaltige Ausrichtung des Marktverhaltens berücksichtigt werden. Die Einnahmen aus diesen zusätzlichen Abgaben sollten in die Entwicklung des nachhaltigen Verkehrs und die Optimierung des gesamten Verkehrssystems fließen, um eine wahrhaft nachhaltige Mobilitätspolitik zu verwirklichen. Diese Abgaben sollten strikt von Gebühren getrennt werden, die zum Zweck einer Finanzierung erhoben werden, d.h. nach dem Prinzip der Kostentragung durch die Nutzer.

3.11.10

Der EWSA hält einen Policy-Mix für notwendig, der Folgendes umfasst:

Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz;

sichere Systeme zur CO2-Abscheidung und Speicherung;

wettbewerbsfähige Entwicklung der erneuerbaren Energieträger;

Umstellung der Kraftwerke auf eine kohlenstoffarme Energieerzeugung;

Maßnahmen zum Ausbau der hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplung (Combined heat and power production, CHP).

3.11.11

Was die Instrumente des integrierten europäischen Energiemarkts anbelangt, muss nach dem Dafürhalten des EWSA unverzüglich ein auf einem Konsens beruhendes Programm für Investitionen auf folgenden Gebieten aufgestellt werden:

intelligente Netze und Verbesserung der Energieübertragungsnetze;

Forschung und Entwicklung gemeinsamer Programme in den Bereichen nachhaltige Energienutzung, Nanowissenschaften und Nanotechnologie, auf große Netzsysteme angewandte Informatik und Domotikmikrosysteme;

Fähigkeit zur Regulierung komplexer Systeme und Bereitstellung eines stabilen Bezugsrahmens für die Industrie und für die öffentlichen und privaten Akteure;

intensiverer strukturierter und interaktiver Dialog mit den Sozialpartnern, den Verbrauchern und der Öffentlichkeit.

3.11.12

Der EWSA fordert eine prioritäre Behandlung der in den Nachbarländern durchgeführten Projekte zur Energiediversifizierung, wie z.B. des Energiekorridors EU/Kaspisches Meer/ Schwarzes Meer, insbesondere der Nabucco-Erdgas-Pipeline, der Flüssigerdgasinfrastruktur (LNG), des Ausbaus des Stromnetzverbundes und der Erweiterung des europäischen Verbundnetzes für Strom (MEDRING) und Gas in Richtung Mittelmeerraum sowie der Durchführung neuer Erdölinfrastrukturprojekte von europäischen Interesse wie Odessa–Danzig und Constanța–Triest und der Nord-Stream-Gasleitung.

4.   Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Bewältigung der sozialen Folgen der Krise

4.1.1

Nach Auffassung des EWSA ist die wichtigste Voraussetzung für die Schaffung neuer Arbeitsplätze ein nachhaltiges und stabiles Wirtschaftswachstum. Der EWSA stellt zu seiner Zufriedenheit fest, dass einige Institutionen und Organisationen Vorschläge für die Überwindung der Wirtschaftskrise gemacht haben, bei denen der sozialen Dimension der Konjunkturerholung Rechnung getragen wurde.

4.1.2

Der Ausschuss hält es für wichtig, Initiativen einzuleiten, die die Entwicklung der Wirtschaftszweige mit dem höchsten Beschäftigungspotenzial erleichtern, wie emissionsarme, ressourceneffiziente Branchen ("grüne Arbeitsplätze"), Gesundheit und Soziales ("weiße Arbeitsplätze") und digitale Branchen.

4.1.3

Nach Ansicht des EWSA sollten die wichtigsten Maßnahmen darauf abzielen, das Potenzial des neuen Unternehmergeistes, insbesondere unter den Frauen, auszubauen, Arbeitsplätze für junge Menschen zu schaffen und die Leitinitiative "Jugend in Bewegung" voranzubringen.

4.1.4

Der EWSA misst der Verbreitung der Unternehmerkultur und des Unternehmergeistes in einer unternehmerfreundlichen Atmosphäre, in der die Marktrisiken bekannt sind und der Wert der menschlichen Arbeitskraft anerkannt wird, Tarifverträge eingehalten und nationale Gepflogenheiten beachtet werden, grundlegende Bedeutung bei.

4.1.5

Der EWSA fordert insbesondere, einen Zeitplan vorzulegen, um zeitnah die notwendigen Voraussetzungen für die Entwicklung neuer innovativer Unternehmen und die Unterstützung bestehender KMU zu schaffen sowie zur Entstehung neuer Arbeitsplätze beizutragen, die zur Bewältigung der Krise und zur Ankurbelung eines nachhaltigen Wachstums erforderlich sind. Die geplanten Maßnahmen sollten dabei auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene konzipiert werden und sowohl gewerbliche und nichtgewerbliche Unternehmen als auch die Sozialwirtschaft umfassen. Neben diesem Zeitplan sollte auch dafür gesorgt werden, dass Arbeitslose und junge Menschen geschult werden und so Zugang zu den neuen Arbeitsplätzen erhalten.

4.1.6

Die Förderung grüner Arbeitsplätze muss nach dem EHS-Modell über einen Mix aus Anreiz- und Strafmaßnahmen erfolgen, mit denen die nötigen Ressourcen bereitgestellt werden, ohne jedoch die bereits leeren Staatskassen weiter zu belasten. Dieser Finanzierungsansatz, der von entscheidender Bedeutung sein wird, setzt voraus, dass alle Beteiligten mitspielen, denn die Europa-2020-Strategie und die Hilfsprogramme können nicht funktionieren, wenn die Mitgliedstaaten keinen haushaltspolitischen Spielraum mehr haben. Die Unternehmen, die sich dazu verpflichten, die Qualität der Arbeitsplätze zu verbessern und nachhaltigere Herstellungsverfahren anzuwenden, sollten ermutigt und gefördert werden. Sie benötigen einen klaren und stabilen Rechtsrahmen, möglichst mit international vereinbarten Regeln. Eine rasche, einvernehmliche Lösung des Problems des europäischen Patents wäre sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung.

4.1.7

Wie der Ausschuss in seiner Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht 2011 betonte, kommt einer angemessenen Lohnpolitik eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der Krise zu. Gesamtwirtschaftlich betrachtet gewährleistet eine Orientierung des Lohnzuwachses am jeweils nationalen gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwachs die Balance zwischen ausreichender Nachfrageentwicklung und Wahrung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit. Die Sozialpartner müssen daher bemüht sein, Lohnmäßigungen im Sinne einer Beggar-thy-neighbour-Politik zu vermeiden und die Lohnpolitik vielmehr an der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung zu orientieren. Diesbezüglich lehnt der EWSA den ebenfalls in ihrer Mitteilung zum Jahreswachstumsbericht 2012 enthaltenen Vorschlag der Kommission von Grund auf ab, insbesondere durch die Forderung nach "Reformmaßnahmen" für die Dezentralisierung der Tarifverhandlungen in die einzelstaatlichen Lohnfindungsmechanismen einzugreifen. Die Autonomie der Sozialpartner und ihre Tarifverhandlungsfreiheit dürfen keinesfalls weiter in Frage gestellt werden, wie dies auch in der "Sechserpack"-Verordnung Nr. 1176/2011 sehr deutlich klargestellt wurde.

4.1.8

EWSA stellt fest, dass Unternehmen unterschiedliche Arten von Arbeit nutzen, was zu neuen Formen der Beschäftigung führt. Hierbei handelt es sich auch um prekäre Beschäftigungsverhältnisse, bei denen Menschen mit zeitlich befristeten Verträgen, gegen ein geringes Entgelt, mit geringer sozialer Absicherung und ohne Rechtsschutz beschäftigt werden. Nicht jedes befristete Beschäftigungsverhältnis ist prekär, hochqualifizierte Selbstständige kommen auf dem Arbeitsmarkt sehr gut auf der Grundlage von Aufträgen über die Runden. Befristete Beschäftigungsverhältnisse sind jedoch per definitionem sehr wohl prekär, wenn es sich um gering qualifizierte oder ungelernte Arbeit in der Fertigung und bei Dienstleistungen handelt. Flexicurity kann eine Lösung für den Bedarf von Unternehmen an flexibler Beschäftigung sein, dies jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die mit dieser Beschäftigung verbundene Sicherheit ein ähnlich hohes Niveau hat wie die Sicherheit eines unbefristeten Beschäftigungsverhältnisses.

4.2   Strukturelles Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften

4.2.1

Ein Schlüsselelement für die Lösung der Probleme liegt in einer guten und effizienten Zusammenarbeit zwischen Bildungseinrichtungen, Unternehmen, Sozialpartnern und Behörden, vor allem in Bezug auf die Antizipierung des künftigen Kompetenzbedarfs und das Ergreifen einschlägiger Initiativen im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung. Der EWSA ruft dazu auf, die Qualität und Wirksamkeit der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu verbessern und sie dadurch attraktiver und bedeutsamer zu machen. Den Prozentsatz junger Leute, die ein Hochschulstudium aufnehmen, als einzigen Indikator festzulegen, ist ein bildungspolitischer Irrweg und geht an den auf dem Arbeitsmarkt nachfragten Kompetenzen vorbei. Zwischen den Systemen der allgemeinen und beruflichen Bildung muss ein ausgewogenes Verhältnis hergestellt werden.

4.2.2

Als Folge der demografischen Entwicklungen – eine alternde Erwerbsbevölkerung und immer weniger junge Menschen, die in den Arbeitsmarkt eintreten – und des raschen technologischen Wandels in Produktionsprozessen droht ein großer Fachkräftemangel in Europa. Daher ist es äußerst wichtig, dass alle (dauerhaft) Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten und niemand ausgegrenzt wird. Der EWSA unterstreicht, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Möglichkeit haben müssen, ihre beruflichen und anderen Qualifikationen auf dem neuesten Stand zu halten und während ihres Berufslebens neue Kompetenzen zu erwerben. Auf diese Weise sind sie in der Lage, sich an Veränderungen in ihrer Arbeitsumgebung anzupassen, und zudem kann die Nachfrage nach Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt gedeckt werden. In der guten und effizienten Organisation dieses Prozesses besteht eine der wichtigsten Aufgaben der EU, wenn sie im Vergleich zu anderen Weltregionen wettbewerbsfähig bleiben möchte.

4.2.3

Der EWSA hebt hervor, dass Arbeitnehmer insbesondere Zugang zu Programmen für die berufliche Aus- und Weiterbildung haben müssen. Da Untersuchungen zeigen, dass Arbeitnehmer mit dem größten Qualifizierungsbedarf solche Programme am wenigsten nutzen, sind für unterschiedliche Gruppen von Arbeitnehmern unterschiedliche Maßnahmen erforderlich.

4.2.4

Ein großer Teil der zur Verfügung stehenden Mittel muss für die am geringsten qualifizierten Arbeitnehmer aufgewandt werden, da sie den größten Bedarf an ergänzenden beruflichen Bildungsmaßnahmen haben. Machbar wäre dies, indem jeder Arbeitnehmer ein individuelles Fortbildungskontingent erhält, dessen Höhe umgekehrt proportional zu seinem Qualifikationsniveau ist, so dass für die am geringsten qualifizierten Arbeitnehmer die meisten Mittel bereitgestellt werden.

4.2.5

Für ältere Arbeitnehmer ist eine altersbewusstere Personalpolitik erforderlich. Zwar wird in vielen EU-Mitgliedstaaten das Rentenalter angehoben, doch verlieren viele ältere Arbeitnehmer ihren Platz auf dem Arbeitsmarkt schon vor Erreichen des heutigen Renteneintrittsalters, u.a. weil sie mit der Entwicklung nicht Schritt halten können. Eine gezielte und spezifische Schulung kann einen Beitrag zur Lösung dieses Problems leisten.

4.2.6

Schulungen sowie Aus-, Fort- und Weiterbildungen müssen vor allem wirkungsvoll sein. In verschiedenen Mitgliedstaaten wurde mit neuen, wirkungsvolleren Aus-, Fort- und Weiterbildungsmethoden experimentiert, dabei wurde insbesondere die Bedeutung des "Lernens am Arbeitsplatz" wiederentdeckt. Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der Weiterentwicklung derartiger Konzepte und ersucht die Kommission, für einen Austausch bewährter Verfahren in diesem Bereich Sorge zu tragen und dadurch zu solchen Maßnahmen anzuregen.

4.3   Förderung der Beschäftigung insbesondere junger Menschen und Langzeitarbeitsloser

4.3.1

Der EWSA wiederholt seine Forderung nach messbaren europäischen Vorgaben zur Jugendbeschäftigung: insbesondere 1.) eine Zielvorgabe zur signifikanten Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit sowie 2.) eine maximale Frist von vier Monaten zur Aktivierung Arbeit bzw. Lehrstellen suchender Jugendlicher. Die Überlassung spezifischer Zielvorgaben zur Jugendbeschäftigung auf Ebene der Mitgliedstaaten hat jedenfalls wenig gefruchtet, nur einzelne Länder haben entsprechende Ziele in ihren Nationalen Reformprogrammen formuliert.

4.3.2

Der EWSA zeigt sich erfreut, dass seine Forderung, wonach die Mitgliedstaaten gewährleisten sollen, dass alle jungen Menschen innerhalb von vier Monaten nach Schulabschluss eine Anstellung haben, ihre Ausbildung fortsetzen bzw. in Aktivierungsmaßnahmen eingebunden sein sollen, in Form des Vorschlages zu einer "Jugendgarantie", Aufnahme in die Leitinitiative "Jugend in Bewegung" gefunden hat.

4.3.3

Mitgliedstaaten mit besonders angespannter Arbeitsmarktlage im Jugendbereich, die derzeit zugleich restriktive Haushaltsvorgaben zu erfüllen haben, sollen erleichterten Zugang zu Mitteln aus EU-Fonds für Maßnahmen im Sinne der "Jugendgarantie" erhalten. Notwendig sind pragmatische und flexible Vorgehensweisen und Vereinfachungen bei der Administration der Mittelnutzung bis hin zum temporären Entfall nationaler Ko-Finanzierungen beim Mittelbezug durch den ESF sowie anderer europäischer Fonds.

4.3.4

Der EWSA hat bereits betont, wie wichtig es ist, trotz der Neubewertung der Haushaltsprioritäten, die durch die Wirtschaftskrise in allen EU-Staaten erforderlich wurde, die Bereitstellung nationaler und europäischer Mittel für Bildung, Ausbildung und Beschäftigung junger Menschen beizubehalten und wo notwendig aufzustocken. In diesem Sinn fordert der EWSA, in der neuen Finanzplanung ab 2014 ausreichend Mittel des ESF für jugendspezifische Initiativen sicherzustellen.

4.3.5

Einige Länder haben unter entsprechenden Konditionalitäten den Zugang zu Arbeitslosenleistungen für benachteiligte Gruppen - so auch Jugendliche - in der Krise verbessert. Diese Maßnahmen waren aber zeitlich beschränkt oder unterliegen dem Risiko der Rücknahme im Rahmen geplanter Sparpakete. Der EWSA fordert generell auf, die Anforderungen an Jugendliche zur Anspruchsberechtigung für Unterstützungsleistungen bei Beschäftigungslosigkeit zu überprüfen und die Aussichten jener zu verbessern, die einen Arbeitsplatz suchen, aber bislang überhaupt keinen Anspruch hatten. Auch die Aufnahme entsprechender Zielvorgaben in den Nationalen Reformprogrammen ist anzuraten. Dies wäre ein bedeutender Beitrag zur Bekämpfung der prekären Situation vieler Jugendlicher im Übergang auf den Arbeitsmarkt.

4.3.6

Bei 15- bis 24-Jährigen ist nicht nur die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie bei Erwachsenen, sondern auch der Anteil unsicherer Arbeitsverhältnisse (in einigen Ländern mehr als 60 %), die Zunahme nicht-regulierter Ausbildungen und Praktika (v.a. in südlichen Ländern) sowie die Arbeit unterhalb des Qualifikationsniveaus. Der EWSA rät von unbeständigen und perspektivlosen Lösungen bei der Integration in die Arbeitswelt ab: Statt auf prekäre Beschäftigung und unsichere Arbeitsverträge zu setzen, sind Maßnahmen zu implementieren, die sicherstellen, dass befristete Beschäftigung und Arbeitsstellen mit geringer Bezahlung und sozialer Absicherung nicht zur Norm für Jugendliche werden. Was die Kommissionsinitiative zu Praktika anbelangt, so unterstützt der EWSA einen entsprechenden europäischen Qualitätsrahmen, für den auch bei den Unternehmen geworben werden sollte, damit diese lernfördernde Arbeitssituationen mit bindenden Verträgen insbesondere auch für bildungsbenachteiligte Jugendliche anbieten. Das duale System der Lehre mit allgemeiner und beruflicher Bildung zeitigt in mehreren Ländern positive Ergebnisse und sollte bezüglich seiner teilweisen Übertragbarkeit untersucht werden.

4.3.7

Die andauernde krisenbedingte Stagnation der Nachfrage nach Arbeitskräften führt zu einem Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit, die wiederum ernsthafte Probleme bei der Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt und zunehmende Armut – gemessen am Bevölkerungsanteil im erwerbsfähigen oder jüngeren Alter in Haushalten ohne Anschluss an den Arbeitsmarkt – mit sich bringt. Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, besonderes Augenmerk auch auf die Schaffung eines integrativen zweiten Arbeitsmarktes zu richten, innerhalb dessen öffentliche Mittel zur Schaffung einer angemessenen Zahl adäquater Arbeitsplätze verwendet werden, um sicherzustellen, dass Langzeitarbeitslose den Anschluss zur Arbeitswelt halten und ihre Kenntnisse verbessern. Eine Zunahme von Armut durch Arbeitsmarktferne würde hierdurch verhindert und den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nach der Krise ein sanfter Übergang in den ersten Arbeitsmarkt ermöglicht.

4.4   Soziales Unternehmertum

4.4.1

Soziale Unternehmen sind ein zentrales Element des europäischen Sozialmodells. Sie leisten einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag und tragen zur Verwirklichung der Europa-2020-Ziele bei, indem sie Arbeitsplätze schaffen, innovative Lösungen entwickeln, die den Bedürfnissen der Allgemeinheit entsprechen, und den sozialen Zusammenhalt, die Integration und die aktive Bürgerschaft stärken.

4.4.2

Der Ausschuss vertritt die Ansicht, dass die Förderung des sozialen Unternehmertums und der sozialen Unternehmen es insbesondere im derzeitigen rauen Wirtschaftsklima ermöglichen wird, ihr Wachstumspotenzial und die ihnen innewohnenden Möglichkeiten der gesellschaftlichen Wertschöpfung zu nutzen. Die Erschließung dieses Potenzials erfordert die Entwicklung und Umsetzung eines umfassenden politischen Rahmens, an dem ein breites Spektrum an Interessenträgern aller gesellschaftlichen Bereiche (zivilgesellschaftlich, privat, öffentlich) auf sämtlichen Ebenen (lokal, regional, national und europäisch) teilnimmt.

4.4.3

Die Mitgliedstaaten und die EU-Organe müssen dafür sorgen, dass soziale Unternehmen bei staatlichen politischen Initiativen und Programmen berücksichtigt werden, die auf alle Arten von Unternehmen abzielen.

4.4.4

Besserer Zugang zu Kapital und maßgeschneiderte Finanzierungsinstrumente sind für soziale Unternehmen besonders wichtig. Die Kommission sollte in den Mitgliedstaaten bereits existierende vorbildliche Verfahren und Innovationsinitiativen wie Hybridkapital und Formen der Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Kapital erfassen und bekannt machen und dafür Sorge tragen, dass der derzeitige ordnungspolitische Rahmen der EU die Entwicklung neuer Instrumente nicht behindert.

4.4.5

Von entscheidender Bedeutung ist, dass der nächste Programmplanungszeitraum für die Strukturfonds ausdrücklich Programme zur Förderung der Neugründung und Entwicklung sozialer Unternehmen umfasst.

4.4.6

Die Kommission sollte einen EU-weiten Vergleich von für soziale Unternehmen besonders geeigneten Konzepten für die öffentliche Finanzierung starten. Ferner sollte sie Ausschreibungen, bei denen soziale Aspekte eine Rolle spielen, fördern und deren Häufigkeit prüfen und die Frage der übergenauen, verkomplizierenden Umsetzung von Vorgaben bei Ausschreibungsverfahren angehen. Bei der Überprüfung der Regeln für staatliche Beihilfen sollte die Kommission prüfen, ob soziale Dienstleistungen von allgemeinem Interesse gänzlich ausgenommen werden können, bzw. eine Befreiung von der Mitteilungspflicht für öffentliche Dienstleistungen geringen Umfangs und für bestimmte soziale Dienstleistungen zulassen, um die Neugründung weiterer sozialer Unternehmen zu fördern.

4.4.7

Aufgrund der vielfältigen Rechtsformen und besonderen sozialen Aufgaben sozialer Unternehmen werden diesen in einigen Mitgliedstaaten steuerliche Begünstigungen gewährt.

4.5   Schutz der Schwächsten

4.5.1

Wie der Ausschuss bereits in seiner Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht 2011 betonte und auch die Kommission implizit anerkennt, müssen die Sozialleistungen als produktive Investition aufgefasst werden. Eine an eine dynamische Arbeitsmarktpolitik gekoppelte Arbeitslosenunterstützung ermöglicht es, die Wirtschaft zu stabilisieren und dank einer Verbesserung der Qualifikationen und effizienter Initiativen in den Bereichen Beschäftigungssuche und Umschulung die aktive Anpassung an den Wandel zu fördern. Bezüglich der Maßnahmen, die auf eine Straffung der Kriterien für die Förderungswürdigkeit abzielen, ist Umsicht geboten. Es besteht die Gefahr, dass ausgegrenzte Personen noch mehr an den Rand gedrängt werden, was ihre berufliche (Wieder-)Eingliederung erheblich erschwert. Dieser Verdrängungsprozess könnte zudem noch den nachteiligen Nebeneffekt haben, dass andere Bereiche des sozialen Netzes wie die Sozialhilfe oder die Berufsunfähigkeitsunterstützung stärker belastet werden, was nicht wünschenswert erscheint.

4.5.2

Der EWSA betont, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht nur das Recht auf den Zugang zu beruflichen Bildungsprogrammen haben, sondern auch Einkommenssicherheit und soziale Absicherung benötigen, um in einer sich rasch verändernden Gesellschaft optimal funktionieren zu können.

4.5.3

Der EWSA fordert die europäischen Institutionen auf, die europäischen Sozialstandards überzeugter durchzusetzen. Die mangelnde Tatkraft in diesem Bereich hat u.a. dazu geführt, dass mehr Menschen trotz Erwerbstätigkeit in Armut leben, die Unterschiede wie auch die Angst vor der Zukunft zunehmen und zugleich das Vertrauen der Bürger untereinander sowie das Vertrauen in die Institutionen und in den Staat abnehmen. Dieses schwindende Vertrauen trifft nicht nur den jeweiligen Staat, sondern auch die EU-Institutionen, wie die wachsende Europaskepsis in einigen Mitgliedstaaten zeigt.

4.5.4

Aus Sicht des EWSA dürfen die Sparmaßnahmen das Armutsrisiko nicht erhöhen und die Ungleichheiten, die in den letzten Jahren bereits angestiegen sind, nicht weiter verschärfen. Bei allen Maßnahmen, aus der Krise herauszukommen, ist darauf zu achten, dass sie nicht der Belebung von Nachfrage und Beschäftigung und der Abfederung sozialer Härten zuwiderlaufen. Die Mitgliedstaaten müssen dabei auch beachten, dass die Maßnahmen zur Überwindung der Wirtschaftskrise und der Staatsverschuldung nicht die öffentlichen Investitionen in Arbeitsmarktpolitik und die allgemeine und berufliche Bildung gefährden. Der EWSA fordert wirksame soziale Folgenabschätzungen, um zu untersuchen, wie das EU-Ziel, mindestens 20 Mio. Menschen bis 2020 den Weg aus Armut und sozialer Ausgrenzung zu eröffnen, erreicht werden kann.

4.5.5

Sparmaßnahmen treffen in erster Linie jene am härtesten, die von staatlichen Transferleistungen abhängig sind, darunter auch jene mit prekären Arbeitsverhältnissen und andere benachteiligte Gruppen am Arbeitsmarkt. Die am stärksten von Arbeitslosigkeit Betroffenen sind in aller Regel auch jene, die erschwerten und limitierten Zugang zu Unterstützungsleistungen haben. Daher bedarf es ausreichender, effektiver und nachhaltiger sozialer Sicherungsnetze, wobei auf die am stärksten betroffenen und benachteiligten Gruppen am Arbeitsmarkt besonders geachtet werden muss.

5.   Modernisierung der Verwaltungen

5.1.1

Mit Blick auf die Modernisierung der Verwaltungen impliziert gute Regierungsführung für den EWSA ein Regieren im Mehrebenensystem ("Multi-Level-Governance)" und Partnerschaften mit repräsentativen zivilgesellschaftlichen Organisationen auf regionaler Ebene.

5.1.2

"Multi-Level-Governance" ist ein flexibles Gefüge von Beziehungen zwischen der Kommission, den Regierungen sowie den regionalen und lokalen Behörden, das jeweils auf konkrete Situationen und thematische Erwägungen zugeschnitten wird; nicht aber eine starre Kompetenzhierarchie der verschiedenen Verwaltungsebenen. Eine gute Regierungsführung ist gekennzeichnet durch aufgeschlossene Beziehungen und eine weniger strenge Anwendung des "Subsidiaritätsprinzips".

5.1.3

Partnerschaft ist ein zentrales Instrument gemeinsamen Engagements und trägt zu einer besseren Wirksamkeit öffentlicher Ausgaben und Maßnahmen bei. Als in diesem Sinne zweckmäßig könnten sich neue Formen der "wirksamen Partnerschaft" erweisen. Sie würden flankierend zur Innovationsstrategie alle öffentlichen und privaten Akteure, darunter auch Banken, einbeziehen und wären mit einfachen, klaren und wirksamen Regeln versehen, die für die gesamte Laufzeit der Projekte Fristen, Zuständigkeiten und gegebenenfalls auch Sanktionen festlegen.

5.1.4

Der EWSA ruft die EU-Institutionen sowie die Mitgliedstaaten und die Regionen dazu auf, dem wichtigsten Grundsatz des Small Business Act (SBA) – Vorfahrt für KMU – bei Entscheidungen auf europäischer, nationaler und territorialer Ebene den höchsten Stellenwert einzuräumen. Er empfiehlt den Mitgliedstaaten und den Regionen ferner, alle ihre politischen Maßnahmen zur Förderung der KMU sowie ihre Wirtschafts- und Industriepolitik auf diesen Grundsatz zu stützen. Er ist der Auffassung, dass der SBA insbesondere für die EU-Organe eine verbindlichere Form annehmen sollte. In diesem Zusammenhang ist der EWSA gegen den aktuellen Vorschlag der Europäischen Kommission, KMU und Kleinstunternehmen von bestimmten EU-Vorschriften freizustellen.

5.1.5

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten durch die Bestellung nationaler KMU-Beauftragter bei der Umsetzung des SBA unterstützt werden sollten. Er empfiehlt auch die Bestellung von KMU-Beauftragten auf regionaler Ebene.

5.1.6

Bleibt noch der Übergang zur Phase "KMU-freundlich handeln" ("Act small first"). Der SBA wird nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn eine echte partnerschaftliche Multi-Player- und Multi-Level-Governance umgesetzt wird. Es muss gewährleistet werden, dass die Wirtschafts- und Sozialpartner sowie alle repräsentativen öffentlichen und privaten Akteure am politischen Reflexionsprozess und am Gesetzgebungsverfahren von Beginn an beteiligt werden. Der EWSA spricht sich folglich dafür aus, dass die repräsentativen Organisationen der verschiedenen KMU-Kategorien wirksam am Gesetzgebungs- und Beschlussfassungsverfahren auf allen Ebenen mitwirken.

5.1.7

Der EWSA stimmt dem Rat und der Kommission zu, dass eine wirksame Multi-Level-Governance und eine bessere Governance bei der Anwendung der EU-Fonds und bei der Umsetzung von EU-Politiken wünschenswert sind. Dies ist keine Frage des Ob, sondern des Wie. Es ist eine Sache der Feinabstimmung zwischen den Bottom-up-Initiativen und den Rahmenbedingungen des Top-down-Prozesses.

5.1.8

Für besonders begrüßenswert hält der Ausschuss den Vorschlag für eine stärkere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und anderer Akteure an der Ausarbeitung, Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts, was sich konkret in längeren Fristen für öffentliche Konsultationen und in der Vereinfachung und wirksameren Gestaltung der Vertragsverletzungsverfahren niederschlägt.

5.1.9

Der EWSA begrüßt die Modernisierung der europäischen Politik im Bereich des öffentlichen Auftragswesens vor dem Hintergrund eines besser funktionierenden Binnenmarkts, der effizienter, innovativer, umweltfreundlicher und sozialer sein soll. Der EWSA unterstreicht, dass sich die innovativen, ökologischen und sozialen Aspekte der Europa-2020-Strategie auch auf das öffentliche Auftragswesen auswirken und für dieses von Bedeutung sind.

5.1.10

Der EWSA betont, dass nach wie vor folgende Grundsätze gelten: Offenheit und Transparenz, Effizienz, Rechtssicherheit, Preis-Leistungs-Verhältnis, Wettbewerb, Marktzugang für KMU und freie Berufe, Verhältnismäßigkeit, zunehmende grenzübergreifende Verträge, Vermeidung von Diskriminierung und Korruption sowie unbedingte Professionalität.

5.1.11

Unnötiger Verwaltungsaufwand ist im Interesse aller Beteiligten abzubauen. Komplizierte Rechtsvorschriften und die in den Mitgliedstaaten weit verbreitete übergenaue Umsetzung ("Vergolden") müssen vermieden werden.

5.1.12

Der EWSA empfiehlt eine Analyse von bewährten Verfahrensweisen und Beispielen in den Mitgliedstaaten sowie die anschließende Schaffung von Maßnahmen für die Öffnung der Märkte.

5.1.13

Der EWSA begrüßt das Interesse der Kommission, die politischen, legislativen und administrativen Verfahren für eine rationellere und angemessenere Erarbeitung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu vertiefen.

5.1.14

Nach Auffassung des EWSA sollten solche Aspekte besser definiert werden wie die Art und Weise der Durchführung von Ex-ante-Folgenabschätzungen durch alle für die Umsetzung zuständigen EU-Institutionen, die Art und Zusammensetzung des für die Kontrolle der Folgenabschätzungen zuständigen Gremiums, die dabei verwendeten Parameter und die Frage, wie und mit welchen neuen Mitteln für mehr Transparenz gesorgt werden soll.

5.1.15

Der Ausschuss begrüßt die Initiative, die öffentlichen Verwaltungen durch die Einrichtung von "einheitlichen Ansprechpartnern" zu modernisieren. Die administrative Zusammenarbeit in grenzübergreifenden Angelegenheiten kann nur begrüßt werden. Diese Zusammenarbeit sollte auch auf Politikbereiche ausgedehnt werden, in denen die Einhaltung von Verpflichtungen zur Diskussion steht.

5.1.16

Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, die Governance für den Binnenmarkt durch eine verstärkte Verwaltungszusammenarbeit zu verbessern, indem das Binnenmarkt-Informationssystem (IMI) ausgebaut und weiterentwickelt wird.

5.1.17

Das Binnenmarkt-Informationssystem als wichtigstes technisches Instrument für die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Verwaltungen verfügt über zusätzliches Potenzial als Schnittstelle für die Nutzer des Binnenmarktes.

5.1.18

Der EWSA ist der Ansicht, dass das IMI entscheidend zur Veränderung der Verwaltungszusammenarbeit im Binnenmarkt und zur Anpassung an die Anforderungen und Erwartungen der Bürger und Unternehmen sowie der Organisationen der Zivilgesellschaft beitragen kann, und weist auf die Rolle hin, die Letztere künftig bei der Weiterentwicklung und dem Betrieb des Systems spielen können.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Jahreswachstumsbericht: Das Gesamtkonzept der EU zur Krisenbewältigung nimmt weiter Gestalt an" (COM(2011) 11 final), ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 26-38.

(2)  Stellungnahme des EWSA zu dem "Abschluss des ersten Europäischen Semesters für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik: Orientierungen für die Politik der Mitgliedstaaten 2011-2012", ABl. C 43 vom 15.2.2012, S. 8-12.

(3)  Das Vereinigte Königreich und die Tschechische Republik.

(4)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem "Jahreswachstumsbericht: Das Gesamtkonzept der EU zur Krisenbewältigung nimmt weiter Gestalt an" (COM(2011) 11 final), ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 26-38.

(5)  Griechenland, Irland, Lettland, Portugal und Rumänien.

(6)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen "Eine Pilotphase für die Europa-2020-Projektanleiheninitiative" – COM(2011) 660 final.

(7)  Standpunkt des Europäischen Parlaments, festgelegt in erster Lesung am 13. Dezember 2011 im Hinblick auf den Erlass der Verordnung (EU) Nr. …/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates hinsichtlich bestimmter Vorschriften zur finanziellen Abwicklung für bestimmte Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind - P7_TC1-COD(2011)0209.

(8)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem "Jahreswachstumsbericht: Das Gesamtkonzept der EU zur Krisenbewältigung nimmt weiter Gestalt an", COM(2011) 11 final, ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 26-38.

(9)  Ebd.

(10)  Ebd.

(11)  Ebd.

(12)  Ebd.

(13)  Siehe COM(2011) 730.

(14)  Ebd.

(15)  ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 8, Ziffer 4.8.

(16)  Z.B. in den Stellungnahmen ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 53; ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 92; ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9; ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 131, ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 139.

(17)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 65.

(18)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 81.

(19)  Siehe Dokument COM(2010) 553.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/69


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Grünbuch über den Online-Vertrieb von audiovisuellen Werken in der Europäischen Union: Chancen und Herausforderungen für den digitalen Binnenmarkt“

COM(2011) 427 final

2012/C 143/13

Berichterstatter: Jacques LEMERCIER

Die Europäische Kommission beschloss am 13. Juli 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Grünbuch über den Online-Vertrieb von audiovisuellen Werken in der Europäischen Union: Chancen und Herausforderungen für den digitalen Binnenmarkt"

COM(2011) 427 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 1. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 226 Stimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) möchte auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs aufmerksam machen, der im Bereich des Urheberrechts beim Austausch von Dateien über das Internet die Einhaltung eines Gleichgewichts zwischen mehreren Grundrechten fordert (1). Das Urheberrecht ist nicht absolut, und seine Einhaltung kann nicht über eine generelle Filterung des Internets durch die Anbieter von Internetzugangsdiensten (Internet Service Providers, ISP – siehe Rechtssache SABAM gegen Scarlet) auferlegt werden. Die Erhebung von Gebühren für elektronische Datenträger in mehreren Mitgliedstaaten darf sich nicht auf Träger beziehen, die für eine andere Nutzung als die Kopie digitaler audiovisueller Inhalte verwendet werden, wie etwa die zur Unternehmensverwaltung eingesetzten digitalen Festplatten (Rechtssache Padawan). Einige überzogene nationale Rechtsvorschriften sollten unter Berücksichtigung der sich wandelnden Rechtsprechung des EU-Gerichtshofs überarbeitet werden, damit sie der Entwicklung des Online-Vertriebs audiovisueller Werke nicht entgegenstehen.

1.2   Ein weiterer Wachstumsfaktor für den Markt dieser Werke besteht in der Einführung attraktiver Geschäftsmodelle zu erschwinglichen Preisen, wodurch diese Angebote digitaler audiovisueller Inhalte zu erheblich niedrigeren Kosten offeriert werden können als dies beim Vertrieb von CDs und DVDs der Fall ist. Diese beträchtliche Einsparung von Vertriebskosten sollte den Verbrauchern zugute kommen und gleichzeitig den Schöpfern ein ausreichendes Einkommen sichern, um ihnen die Weiterführung ihrer künstlerischen und literarischen Schaffensarbeit zu ermöglichen. Das Urheberrecht sollte zudem geändert werden, um dem Allgemeininteresse und den Erfordernissen des öffentlichen Interesses gerecht zu werden, beispielsweise durch die Pflicht zur Gewährleistung der Zugänglichkeit von Menschen mit Behinderungen ohne eine Sanktionierung durch Zugangskosten. Es müssen noch weitere Überlegungen über die Möglichkeiten einer Ausweitung der Ausnahmen und Schrankenregelungen angestellt werden, um den Zugang der am stärksten benachteiligten Gruppen zu Bibliotheken und öffentlichen Kulturzentren zu begünstigen, wie der EWSA dies in seiner Stellungnahme von 2010 vorgeschlagen hat (2).

1.3   Das Internet ist zum universellen Träger von Online-Angeboten geworden. Bestimmte technische und rechtliche Anforderungen sollten mittels rechtsverbindlicher Normen festgelegt werden, um die Achtung der Privatsphäre durch die Vertreiber von Inhalten sowie die Neutralität des Internets zu gewährleisten. Das Internet darf auf nominative Beschwerde des Inhabers der Urheberrechte oder verwandter Schutzrechte bei Vorliegen hinreichender Beweise für das illegale Kopieren ohne ausdrückliche und nominative Anordnung eines Richters nicht Gegenstand einer allgemeinen Filterung (3) sein.

1.4   Desgleichen ist der EWSA der Meinung, dass die mit der Verwaltung audiovisueller Werke beauftragten Einrichtungen und die Bibliotheken nicht durch eine übermäßige Verstärkung der Vorschriften zum Schutz des Urheberrechts behindert werden sollten, da ihre Rolle letztlich darin besteht, die Werke zu bewahren und zu verbreiten. Das kulturelle Ziel dabei ist, die Künstler und Schöpfer auf lange Sicht bekannt zu machen und zu schützen und den Zugang der größtmöglichen Öffentlichkeit und insbesondere von Schülern und Studenten zu diesen geistigen Werken zu ermöglichen, und zwar im Sinne des Allgemeininteresses wie des Erfolgs der Strategie 2020, der Digitalen Agenda und der Kulturstrategie (4). Der Richtlinienentwurf zu verwaisten Werken, den der EWSA (5) unterstützt, sollte ebenfalls in vollem Umfang zum Gelingen der europäischen und nationalen Strategien zur Förderung der Kultur beitragen.

1.5   Der grenzübergreifende Markt für den Vertrieb von Online-Werken verursacht keine größeren Zugangsprobleme für die drei wichtigsten transnationalen Vertreiber, die drei Viertel des Marktes beherrschen und über sämtliche finanziellen und technologischen Mittel verfügen, um der europäischen und weltweiten Öffentlichkeit ihre Kataloge anzubieten.

1.5.1

Der EWSA fordert die Kommission insbesondere auf, konkrete Vorschläge speziell für die zahlreichen KMU-KMI zu machen, die den wahren kulturellen und künstlerischen Reichtum Europas in der Vielfalt seiner Sprachen und seiner Literatur- und Filmschöpfungen ausmachen, um ihre aktive Teilnahme am Binnenmarkt des Online-Vertriebs audiovisueller Inhalte zu ermöglichen.

1.6   Der EWSA macht auf einige Vorschläge der KEA-Cema-Studie von Oktober 2010 aufmerksam, wie etwa die gemeinsame Nutzung der Kataloge und die einheitlichen Ansprechpartner für die Verbreitung der Inhalte an das europäische Publikum (6). Die Analyse der Marktentwicklungen ist zudem gründlich und relevant. Es werden Vertriebsstrategien und neue Geschäftsmodelle entworfen, um den legalen Vertrieb der Werke zu fördern, damit auf diese Weise die Einkünfte für jede Vertriebssparte maximiert und die Werke bestmöglich zur Geltung gebracht werden können. Die Angebotsförderung ist neben den klassischen Werbemitteln gekennzeichnet durch den Einsatz der sozialen Medien, des Buzz-Marketings.

1.7   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Schaffung eines umfassenden einheitlichen Europäischen Urheberrechtskodexes, wie er von der Kommission vorgeschlagen wird, zur notwendigen Stärkung der Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in Form einer Richtlinie beitragen kann. Dieser Kodex würde die vielfältigen in der EU bestehenden Richtlinien im Bereich des Urheberrechts ersetzen und wäre Gegenstand regelmäßiger Berichte über die effektive Umsetzung durch die Mitgliedstaaten. Die Europa-2020-Strategie (7) sollte ebenfalls in diesen Europäischen Urheberrechtskodex integriert werden.

1.7.1

Durch einen Europäischen Urheberrechtskodex könnte die Frage des Ursprungslandes in Bezug auf die anzuwendenden Rechtsvorschriften relativiert werden, um zu einer echten Harmonisierung zu gelangen. Im Falle der öffentlichen Finanzierung eines filmischen Werkes durch einen Mitgliedstaat sollte dieser Staat mit Blick auf die Feststellung der zugrunde liegenden Rechtsvorschriften generell als Ursprungsland beibehalten werden. Die Kommission sollte im Hinblick auf die Wahl der anzuwendenden Rechtsvorschriften auch die Möglichkeit eines "europäischen Ursprungs" vorsehen (8).

1.7.2

Es muss die Möglichkeit ins Auge gefasst werden, missbräuchliche Klauseln in den Verträgen über die Abtretung von Rechten des bzw. der tatsächlichen Urheber(s) des Werkes zu vermeiden. Allzu häufig werden diese Rechte nämlich für alle bestehenden und künftigen Technologien vom Urheber an den Produzenten abgetreten, ohne dass eine Klausel über die Beteiligung an den künftigen, durch die Verwendung neuer Träger und Verbreitungsmittel (Blue-Ray, IPTV (9) usw.) entstehenden Einnahmen vorgesehen ist.

1.7.3

Inhalte dürfen nicht als Waren betrachtet werden. Dies gilt es bei den Überlegungen über den Online-Vertrieb – d.h. eine kulturelle Dienstleistung zur Verbreitung von Sinn (Bedeutung) – zu bedenken.

1.7.4

Der EWSA unterstreicht erneut die Notwendigkeit, den Zugang zu Breitbandverbindungen bereitzustellen, um den Internetnutzern einen qualitativ hochwertigen und schnellen Empfang audiovisueller Werke über Kabelfernsehen, IPTV und VoD (10) zu ermöglichen.

1.8   Die Möglichkeiten zur Schaffung von Datenverwaltungssystemen in Bezug auf die Rechteinhaberschaft an audiovisuellen Werken (11) sollten geprüft werden, wobei die Besonderheiten und Erfordernisse der KMU-KMI der Branche im Mittelpunkt der Überlegungen der zuständigen Kommissionsdienststellen stehen sollten. Gleiches gilt für das Problem der Schaffung von Mehrgebietslizenzen, die für einen einheitlichen Rechtstitel auf dem europäischen Markt stehen. Die europäischen Kleinproduzenten sollten ermutigt und unterstützt werden (12), ihre Kataloge in einem System zur Identifizierung von Werken zu europäisieren, das einen (freiwilligen) Teil mit Informationen über die Inhaber der in Form einer Mehrgebietslizenz vergebenen Urheberrechte und verwandter Schutzrechte umfasst.

1.9   Das System zum Erwerb der Rechte sollte die transparente und gerechte Verteilung des für die Rechteinhaber bestimmten Einkommensanteils garantieren (13). Die Verwaltung durch Verwertungsgesellschaften muss Gegenstand jährlicher unabhängiger Kontrollen sein und für die Urheber und die Öffentlichkeit zugänglich sein, damit ihre Tätigkeiten und ihre Beiträge zur kulturellen Entwicklung auf demokratische Weise kontrolliert werden können (14).

1.10   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Kommission auf der Grundlage der Reaktionen der Interessenträger auf das Grünbuch nach einer im ersten Halbjahr 2012 durchgeführten Konferenz der Interessenträger – darunter öffentliche Einrichtungen (15), der EWSA in seiner spezifischen Funktion sowie Gewerkschaften und Verbraucherverbänden auf europäischer Ebene – die Erarbeitung eines Weißbuch schon ab dem zweiten Halbjahr 2012 erwägen sollte, in dem konkrete Vorschläge zu den Folgemaßnahmen enthalten sein sollten, die ergriffen werden müssen, um trotz sprachlicher Hürden einen europäischen Binnenmarkt für audiovisuelle Werke zu schaffen. Der EWSA ist sich der rechtlichen und technischen Hindernisse bewusst, die einem Voranbringen dieses wichtigen Dossiers im Weg stehen, hält diese Hindernisse jedoch keineswegs für unüberwindbar.

2.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsmitteilung

2.1   Dieser Text steht in direktem Zusammenhang mit der Europa-2020-Strategie und knüpft an die Mitteilung der Kommission "Ein Binnenmarkt für Rechte des geistigen Eigentums" an, die sogenannte IPR-Strategie (Intellectual Property Rights) (16).

2.2   Der audiovisuelle Sektor ist ein wichtiger Wirtschaftszweig, der sechs Millionen Menschen in der EU beschäftigt und 500 Mrd. EUR jährlich erwirtschaftet, d.h. 3% des europäischen BIP. Dank des technischen Fortschritts hat die Verbreitung audiovisueller Werke einen tief greifenden Wandel erfahren. Digitaltechnologie, schnelle und ultraschnelle Breitbanddienste, Cloud Computing und die Möglichkeit des Empfangs audiovisueller Werke auf PCs und Mobiltelefonen verändern die herkömmlichen Vertriebsnetze nachhaltig.

2.3   Im Grünbuch werden mehrere Wege aufgezeigt; dabei wird jedoch ein einheitliches Modell der Verwaltung der Urheberrechte auf der Grundlage grenzübergreifender und europaweiter Lizenzen propagiert.

2.4   Die Kommission ist der Ansicht, dass der Erwerb von Rechten für die Online-Übertragung audiovisueller Werke (Filme usw.) über das Gebiet der Erstausstrahlung hinaus vereinfacht werden muss. Gleiches gilt für die Ausstrahlung von Abrufprogrammen, für die andere als die für die Erstausstrahlung erworbenen Rechte benötigt werden.

2.5   Im Grünbuch wird präzisiert, dass die zeitgleiche Übertragung einer Sendung den Erwerb einer Sondergenehmigung seitens der Rechteinhaber voraussetzt.

2.6   In der "Satelliten- und Kabelrichtlinie" (17) ist für die zeitgleiche Weiterverbreitung von Programmen aus anderen Mitgliedstaaten vorgeschrieben, dass die Rechte von einer Verwertungsgesellschaft wahrgenommen werden müssen. Diese Rechte kommen zu denen hinzu, die direkt von den Sendeunternehmen erteilt werden.

2.7   Bezüglich der Kabelweiterverbreitung weist die Kommission darauf hin, dass die Vertreterorganisationen der Rechteinhaber juristisch nicht immer befugt sind, Lizenzen für diese Rechte zu erteilen.

2.8   Seit einigen Jahren schließlich bieten auch die Betreiber von DSL (Digital Subscriber Line – digitaler Teilnehmeranschluss), IPTV (Internet Protocol Television – Internetfernsehen) und DTT (Digital Terrestrial Television – digitales Antennenfernsehen) sowie neue digitale Plattformen Weiterverbreitungsdienste für Sendungen an, was die Einhaltung der derzeitigen Rechtsvorschriften noch schwieriger macht.

2.9   Wirtschaftlich gesehen betrug die EU-Produktion 2009 nahezu 1 200 Spielfilme, wobei europäische Filme in der EU einen Kinobesucheranteil von nicht einmal 25% haben, gegenüber 68% für die US-Filme. Dahingegen machen europäische Produktionen nur 7% des US-Marktes aus. Bei der Vermarktung eines Films setzen die Produzenten und Vertreiber in der EU auf eine zeitliche Staffelung: Im Allgemeinen läuft der Film zuerst in den Kinos an, wird dann zunächst auf Video und anschließend als Abrufvideo bereitgestellt und schließlich über Bezahlfernsehen und zuletzt über frei empfangbare Sender ausgestrahlt. Aufgrund der Entwicklung von außerhalb des Produktionslandes angebotenen Videoabrufdiensten vervielfacht sich die Zahl der Partner und somit der Verträge.

Um die Zahl dieser Verfahren zu verringern, schlägt die Kommission eine kollektive Verwaltung der Werke und die Einführung eines einheitlichen Ansprechpartners für die kollektive Lizenzierung vor.

2.10   Ein weiterer Teil des Grünbuchs befasst sich mit der Vergütung von Autoren:

Die Vergütung von Autoren wird in den meisten EU-Mitgliedstaaten von den Produzenten mittels Pauschalzahlungen als "Ablösung" für ihren Beitrag zum audiovisuellen Werk vorgenommen. In diesen Ländern erhalten die Autoren bei der Online-Verbreitung des Werkes somit nicht systematisch eine zusätzliche Vergütung. In einigen Ländern ziehen die Verwertungsgesellschaften, die die Autoren vertreten, eine Vergütung pro Nutzung ein. In anderen Ländern ist der Endvertreiber für die Zahlung dieser Leistungen verantwortlich.

2.11   Bezüglich der Vergütung von ausführenden Künstlern:

Die Vergütung der ausführenden Künstler ist heute ebenso wie die Vergütung von Autoren im Wesentlichen vertraglich und pauschal festgesetzt. Die Kommission schlägt die Einführung eines gerechteren Vergütungssystems vor, wobei dieses Recht von Verwertungsgesellschaften wahrzunehmen ist. Im Grünbuch wird jedoch darauf hingewiesen, dass durch diese neuen Rechte eine wirtschaftliche und somit rechtliche Unsicherheit für die Produzenten entstünde, die die Online-Verbreitung dieser Werke behindern würde.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Mit dem Grünbuch setzt die Kommission den Aufbau des europäischen Binnenmarkts über die Konvergenz nationaler Vorschriften fort.

Die Branche, um die es hier geht, betrifft die Kultur und ihre digitalen Verbreitungskanäle. Dieser Bereich ist sehr speziell und sensibel, da er der Geschichte eines Landes, seiner Sprache, seinen Traditionen und seinen Sehnsüchten Ausdruck verleiht. Er kann weder als klassischer Wirtschaftszweig noch als herkömmlicher Sektor von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse aufgefasst werden. Der Ansatz der Kommission in ihrem Grünbuch kann als übermäßig verbraucherorientiert erscheinen. Ihre Analyse der einzelnen Mechanismen ist jedoch gründlich und nahezu erschöpfend.

3.2   In dem sehr dichten Text werden zahlreiche höchst unterschiedliche Themen angegangen, doch das Hauptziel der Kommission bleibt der Aufbau eines Binnenmarktes in dieser Branche.

3.3   Bezüglich der Situation der Verbreitung audiovisueller Werke und der damit einhergehenden Rechte stützt sich die Kommission auf mehrere Feststellungen:

Erstens, dass das derzeitige System nicht funktioniert und für den Endverbraucher komplex und teuer ist. Zweitens, dass durch die Aggregation der nationalen Produktionen die Rentabilität des gesamten Marktes gesteigert werden könnte. Die von den großen Anbietern von Internetzugangsdiensten oder von iTunes unabhängigen VoD-Dienste haben Schwierigkeiten mit der Erlangung territorialer oder europäischer Exklusivrechte an den Werken, deren Rechte häufig bei den Produzenten liegen, die eine Maximierung ihrer Einkünfte auf anderen Wegen (insbesondere durch den Verkauf von DVDs) anstreben.

3.4   Hin zu einer zentralisierten Verwaltung der Lizenzen (Aggregation der Mittel und Informationsquellen, um die Branche weiterzuentwickeln):

Im Grünbuch wird die Online-Vermarktung der Urheberrechte für gebietsübergreifende Dienstleistungen vorgeschlagen und dafür plädiert, ein einheitliches Lizenzmodell einzuführen, das die Erteilung von Mehrgebietslizenzen ermöglicht.

Nach Ansicht des EWSA kann dies für bestimme Sprachgebiete eine Lösung sein.

3.5   Aufgrund der vielfältigen Vertriebskanäle und interaktiven Empfänger und der Mobilität der Kunden entsteht ein starker Druck auf die wirtschaftlichen Modelle der Vertriebsnetze.

3.6   Die Erteilung von Genehmigungen und Lizenzen wird heute im Wesentlichen national gehandhabt und beruht auf der Aushandlung von Verträgen zwischen dem Produzenten des Werkes und dessen Online-Verbreiter. Der EWSA erkennt an, dass das von der Kommission vorgeschlagene System unbestreitbare Vorteile bietet, insbesondere für die Geschwindigkeit und die Einfachheit des Zugangs zu den von den Produzenten gelieferten Daten. Es kann ein zusätzlicher Hebel für die Verbreitung nationaler Werke sein, die ansonsten lokal blieben.

3.7   Es ist jedoch festzustellen, dass durch die Umsetzung der Richtlinie über Satellitenrundfunk vor fünfzehn Jahren keine gesamteuropäischen Satellitenrundfunkdienste geschaffen wurden.

3.8   Zu der Einrichtung eines europäischen Registers von Werken, das schwer einschätzbare Risiken mit sich bringen kann:

Der EWSA ist der Ansicht, dass diese Datenbank nur Auskunftszwecken dienen sollte.

Insbesondere darf der Zugang zum Schutz der Urheberrechte nicht dadurch bedingt sein, ob ein Werk registriert ist oder nicht.

3.9   Eine solche europäische Stelle hätte den Vorteil, dass sie die europäischen Produktions- und Vertriebskräfte bündeln würde, um so den großen Hollywood-Studios, die sich in Europa organisieren, die Stirn zu bieten.

Interessanterweise arbeiten die großen US-Filmstudios (Warner Bros., Disney usw.) gerade an einem internationalen System von Identifizierungsnummern für audiovisuelle Werke (Entertainment Identifier Registry).

3.10   Ebenso sind französische Produzenten seit 2004 mit der Entwicklung der ISAN (International Standard Audiovisual Number) beschäftigt. Die oben genannten Zahlen zur Produktion europäischer und US-Filme sind besorgniserregend. Zur Erinnerung: US-Produktionen machen im Rahmen dieses Systems 75% aller Kinostarts in Europa aus. Es ist daher von fundamen–taler Bedeutung, wie eine solche Stelle geführt und geleitet wird.

3.11   Bekannterweise sind es die Produzenten, die im Zuge ihrer kommerziellen Verhandlungen mit den Vertreibern den Betrag der Urheberrechte, der den Autoren und Rechteinhabern zu zahlen ist, vertraglich und pauschal festsetzen und dessen Auszahlung garantieren. Das Problem der Vergütung der Rechteinhaber kann durch eine zentralisierte Verwaltung teilweise gelöst werden. Die verlockende Idee, ein Verfahren der Vergütung in Abhängigkeit von den über mehrere Jahre hinweg gemessenen Einschaltquoten in Gang zu setzen, erscheint jedoch schwerlich realisierbar.

3.12   Es besteht ein echter Interessenkonflikt zwischen Filmproduzenten und -vertreibern und Mitwirkenden. Auf der einen Seite wollen die Produzenten, dass der Film in den Kinos startet, um die bestmögliche Werbung für ihre Werke zu sichern; auf der anderen Seite fordern die Vertreiber eine raschere Bereitstellung der Werke, um sie als Video und über Bezahl- und Abrufsender verfügbar machen zu können.

3.13   Der EWSA vertritt die Meinung, dass angesichts des zunehmenden Einflusses von IPTV, ASDL und digitaler Plattformen über eine Modulierung dieser Zeitspannen verhandelt werden sollte. Für ältere Werke, die keinen ausschließlichen Rechten mehr unterliegen, erscheint die Einführung eines Systems zur Identifizierung und Erfassung der Werke in Verbindung mit einer Datenbank der Rechteinhaber sehr zweckmäßig.

3.14   Die Kommission setzt folglich auf die gemeinsame Verwaltung von Werken (Datenbanken), um die Branche zu beleben. Es stellt sich die Frage, ob die EU in der Lage sein wird, der Machtstellung der US-Konzerne entgegenzutreten. Denn eine abrupte Abkehr von den derzeitigen nationalen Systemen birgt reale Gefahren.

3.15   Nach Auffassung des EWSA müssen vor einer etwaigen Abkehr von den derzeitigen nationalen Systemen bzw. deren Schwächung ernsthafte Abwägungen vorgenommen werden. Wie vorstehend erwähnt, leisten die Lobbys, die für die Verteidigung der Interessen der US-Unternehmen eintreten, effiziente Arbeit und drängen natürlich auf eine Liberalisierung dieser äußerst lukrativen Branche.

3.16   Die Kommission möchte mit diesem Vorhaben die Verbreitung europäischer Werke fördern und regulieren. Die technischen und regulatorischen Signale seitens der Kommission sind deshalb insofern wichtig, als sie einen schon von anderer Seite eingeleiteten Liberalisierungsprozess beschleunigen können.

3.17   Der EWSA unterstützt vorbehaltlos sämtliche Maßnahmen der Kommission, die auf die Erleichterung des Zugangs der Bürger zu Online-Werken abzielen. Dieser Zugang sollte im ganzen EU-Gebiet und zu erschwinglichen Preisen möglich sein. Er würde eine bessere Verbreitung der Kultur der Mitgliedstaaten ermöglichen und die Bildung junger Europäerinnen und Europäer erleichtern. Im Übrigen ist der EWSA der Ansicht, dass bestimmte Formen der "Versionierung" wie das Einfügen von Werbeblöcken in ursprünglich werbungsfrei konzipierte Werke den kulturellen Zielen des Online-Vertriebs zuwiderlaufen, selbst wenn mithilfe dieser qualitativ geringerwertigen Versionen ein kostenloser oder sehr billiger Vertrieb solcher verschnittener Werke möglich wäre. Diese Überlegung könnte in einen freiwilligen Qualitätskodex von Online-Vertreibern für internetgestützte, kabelgebundene oder terrestrische Übertragung aufgenommen werden, die sich zur größtmöglichen Achtung der Originalwerke verpflichten.

3.18   In der Stellungnahme des EWSA zur Mitteilung der Kommission "Ein Binnenmarkt für die Rechte des geistigen Eigentums" (18) werden die vielen unterschiedlichen nationalen Modelle und die widersprüchlichen Konzepte für die Verwaltung der Urheberrechte im Kulturbereich hervorgehoben. Da die Überlegungen noch nicht ganz abgeschlossen sind, ist der EWSA der Meinung, dass als Erstes die Grundsätze eines europäischen Kodexes bestimmt werden sollten. Zunächst sollte dieser – auf der Wahrung der kulturellen Eigenheiten jedes Landes beruhende – Kodex darauf beschränkt sein, einfache, unumstößliche Grundsätze festzulegen, die jedes Land bei der Erteilung der Lizenzen zu beachten hätte.

3.19   Der EWSA hält es nicht für sinnvoll, das Recht des Ursprungslands auszuweiten, da durch die Wahl des Niederlassungslandes des Dienstleisters dieser ansonsten richtige Grundsatz umgangen werden kann. Die Kommission hat zugleich Maßnahmen und Konsultationen eingeleitet, damit die Betreiber von Datenübermittlungsdiensten in neue Netze investieren, die einen hochwertigen Datenfluss zu erschwinglichen Preisen garantieren können.

3.20   Im Grünbuch wird nahegelegt, dass die gemeinsame Verwaltung der Rechte das Wachstum der digitalen Netze anregt. Dafür muss allerdings sichergestellt werden, dass die Netzbetreiber über die Finanzkraft zur Modernisierung und Erweiterung ihrer Übertragungskapazität verfügen. Deshalb bietet die Stellungnahme des EWSA zum Thema "Offenes Internet und Netzneutralität" (19) hilfreiche Anhaltspunkte für einige Aussagen des Grünbuchs.

3.21   In der "Satelliten- und Kabelrichtlinie" ist für die zeitgleiche Weiterverbreitung von Programmen aus anderen Mitgliedstaaten vorgeschrieben, dass die Rechte von einer Verwertungsgesellschaft wahrgenommen werden müssen. Diese Rechte kommen zu denen hinzu, die direkt von den Sendeunternehmen erteilt werden. Dieses doppelte, schwerfällig erscheinende Verfahren ist erforderlich, um Blackouts während der Sendung zu vermeiden (Verwendung von Datenträgern, die schon für andere Übertragungen genutzt werden).

3.22   Die Kommission ist der Ansicht, dass nationale Finanzierungssysteme für die Entwicklung des audiovisuellen Sektors von grundlegender Bedeutung sind, und unterstützt das MEDIA-Programm, mit dem die gebietsübergreifende Verbreitung von Werken gefördert werden soll. Der EWSA pflichtet dem bei, stellt jedoch fest, dass diese Beihilfen weniger werden und eine massive Bündelung von Geldgebern zur Finanzierung eines Films zu beobachten ist.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Jüngste Rechtssachen: Padawan und SABAM.

(2)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 52.

(3)  Rechtssache SABAM gegen Scarlet.

(4)  COM(2007) 242 final.

(5)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 66.

(6)  "Multi-Territoriy Licensing of Audiovisual Works in the European Union", unabhängige Studie im Auftrag der Europäischen Kommission, GD Gesellschaft und Medien, Oktober 2010. Siehe auch die Mitteilung über kreative Online-Inhalte im Binnenmarkt, COM(2007) 836 final.

(7)  ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 28.

(8)  28. Regelung, vom EWSA im Bereich des europäischen Vertragsrechts bereits vorgeschlagen, ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 26.

(9)  IPTV (Internet Protocol Television) – Internetfernsehen.

(10)  VoD (Video on Demand ) – Abrufvideo.

(11)  Arbeiten von Produzenten an einem internationalen System von Identifizierungsnummern für audiovisuelle Werke (ISAN, International Standard Audiovisual Number), das jedoch keine Informationen über die Rechteinhaberschaft enthält und freiwillig ist. Einige der großen amerikanischen Studios arbeiten an einem ähnlichen System (EIDR, Entertainment Identifier Registry): http://eidr.org/how-eidr-works/. Dieses Identifizierungssystem umfasst eine Kodiernummer und liefert den Entwicklern Programmierschnittstellen, enthält jedoch keine Erwähnung der Rechteinhaberschaft an den Werken.

(12)  Beispielsweise mithilfe des MEDIA-Programms mit einer Laufzeit bis voraussichtlich 2013, das anschließend durch ein neues Förderprogramm ersetzt werden könnte.

(13)  ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 28.

(14)  Ebd.

(15)  Nationale Einrichtungen zur Finanzierung von Filmen, Bibliotheken und Kulturzentren.

(16)  COM(2011) 287 final.

(17)  Richtlinie 93/83/EWG (ABl. L 248 vom 6.10.1993, S. 15).

(18)  ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 28.

(19)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 139.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/74


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Finanzinstrumente und zur Änderung der Verordnung (EMIR) über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister“

COM(2011) 652 final — 2011/0296 (COD)

2012/C 143/14

Hauptberichterstatter: Edgardo Maria IOZIA

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 25. November bzw. am 15. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Finanzinstrumente und zur Änderung der Verordnung [EMIR] über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister"

COM(2011) 652 final - 2011/0296 (COD).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch am 25. Oktober 2011 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) Edgardo Maria IOZIA zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 99 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Verordnungsvorschlag der Kommission und spricht sich für dessen baldige Annahme aus, um den Anlegerschutz wirksamer zu gestalten und die in dieser Richtlinie enthaltenen Prinzipien auf alle Finanzinstrumente auszudehnen (1).

1.2   Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass der Vorschlag darauf abzielt:

die Transparenz der Transaktionen und die Meldung von Transaktionsdaten an die zuständigen Behörden zu verbessern;

den Handel mit Derivaten nur an organisierten Handelsplätzen zuzulassen;

Barrieren zu beseitigen, die einen diskriminierungsfreien Zugang zu Clearing-Einrichtungen verhindern;

die Aufsicht in Bezug auf Finanzinstrumente und Derivatepositionen zu verstärken;

die Erbringung von Dienstleistungen durch Drittlandfirmen ohne Zweigniederlassung zu überwachen;

die Auswirkungen des automatisierten und algorithmischen Handel zu überwachen und einzudämmen.

1.3   Die vorgeschlagene Verordnung bewirkt mehr Markttransparenz und beinhaltet Maßnahmen zur Verringerung der Fragmentierung. Durch einheitliche Anwendung der Rechtsvorschriften wird das im Falle der Finanzmärkte sehr hohe Risiko von Aufsichtsarbitrage gebannt, wobei die Endnutzer von der (zumindest theoretisch) zu erwartenden Verringerung der Transaktionskosten profitieren.

1.4   Die Kommission sollte in ihren Legislativvorschlägen deutlich herausstellen, welche Vorteile den einzelnen von der Rechtsvorschrift betroffenen Akteuren (Einzelkunden von Finanzdienstleistungen, KMU, Betreibern und Behörden) daraus entstehen.

1.5   Ein allgemeiner Aspekt, den die Kommission entschieden verfolgen sollte, betrifft die Programme zur Vermittlung von Finanzwissen. Der Ausschuss hat dieses Thema erst unlängst wieder in einer Initiativstellungnahme angesprochen (2).

1.6   Auch wenn die durch die neue Verordnung entstehenden Kosten nicht sehr erheblich zu sein scheinen, äußert der EWSA doch Bedenken hinsichtlich der möglichen makroökonomischen Kosten für das Finanzsystem, die in der Folgenabschätzung offenbar nicht angemessen bewertet wurden. In dieser Frage fordert der EWSA bereits seit längerem eine Studie, um "zur Vermeidung negativer Auswirkungen […] die Regulierungsmaßnahmen in ihrer Gesamtheit in Bezug auf die notwendigen Maßnahmen für das Finanzsystem und den Kapitalmarkt genau zu untersuchen. Ein stabiles und effizientes System sollte für Finanzstabilität und Liquidität für die Realwirtschaft sorgen" (3). Der Ausschuss begrüßt, dass die Kommission nun die Einleitung dieser Untersuchung beschlossen hat, die für das Verständnis der Gesamtauswirkungen der Regulierungsmaßnahmen unverzichtbar ist, und spricht sich für deren baldige Veröffentlichung aus.

1.7   Der Ausschuss wirft die Frage auf, inwieweit Artikel 40 der Verordnung über delegierte Rechtsakte mit Artikel 290 AEUV vereinbar ist. Die delegierten Rechtsakte stimmen in Zahl, Inhalt und Bedingungen nicht mit den Bestimmungen des Vertrags überein und entziehen zu viele für die Struktur der Verordnung grundlegende Themen dem üblichen Rechtsetzungsverfahren. Der Ausschuss empfiehlt daher eine sorgfältige Überlegung im Hinblick auf die Herstellung der vollständigen Übereinstimmung zwischen AEUV und Artikel 40.

2.   Vorschlag für eine Verordnung

2.1   Die Finanzmärkte haben sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Neue Produkte und Handelsplätze sind in Erscheinung getreten und technische Innovationen wie der Hochfrequenzhandel haben die Finanzwelt revolutioniert.

2.2   Die Vorschläge stellen auf eine Erhöhung der Effizienz, Belastbarkeit und Transparenz der Märkte sowie auf die Stärkung des Anlegerschutzes ab. Der neue Rechtsrahmen räumt den Regulierungsbehörden größere Aufsichtsbefugnisse ein und legt klare Regeln für die Funktionsweise aller Handelstätigkeiten fest.

2.3   Kernelemente des Vorschlags

2.3.1

Robustere und effizientere Marktstrukturen: Die multilateralen Handelssysteme und geregelten Märkte werden bereits in der geltenden Fassung der MiFID abgedeckt. Die überarbeitete Fassung bezieht nun aber eine neue Form von Handelsplätzen in den Rechtsrahmen ein: die "organisierten Handelssysteme" (OTF). Dabei handelt es sich um organisierte Plattformen, die derzeit keiner Regulierung unterliegen, jedoch eine immer wichtigere Rolle spielen. So werden beispielsweise standardisierte Derivatkontrakte zunehmend auf diesen Plattformen gehandelt. Die vorgeschlagenen neuen Rechtsvorschriften sollen die Lücke schließen. Die überarbeitete MiFID wird auch künftig unterschiedliche Geschäftsmodelle zulassen, gleichzeitig aber gewährleisten, dass für alle Handelsplätze dieselben Transparenzvorschriften gelten und dass Interessenkonflikten entgegengewirkt wird.

2.3.2

Berücksichtigung technologischer Innovationen: In der überarbeiteten MiFID sind darüber hinaus neue Schutzvorkehrungen für den algorithmischen Handel und den Hochfrequenzhandel vorgesehen. Letztere haben zu einer gewaltigen Beschleunigung des Handels geführt und bergen potenzielle systemische Risiken.

2.3.3

Die Schutzvorkehrungen beinhalten die Verpflichtung, den gesamten algorithmischen Handel einer angemessenen Regulierung zu unterwerfen, ausreichend Liquidität bereitzustellen und Vorschriften einzuführen, die verhindern, dass die An- und Verkäufe der betreffenden Händler die Volatilität zusätzlich erhöhen. Schließlich werden die vorgeschlagenen Rechtsvorschriften für bessere Zugangsregelungen bei wichtigen Nachhandelsdienstleistungen wie beispielsweise dem Clearing sorgen, wo anderenfalls der Wettbewerb zwischen verschiedenen Handelsplätzen beeinträchtigt zu werden droht.

2.4   Erhöhung der Transparenz: Durch Einführung der Kategorie der OTF soll die Transparenz der Handelstätigkeiten auf den Aktienmärkten erhöht werden, auch was die sogenannten "Dark Pools" (Handelsvolumen oder Liquidität, die nicht auf öffentlichen Plattformen bereitgestellt werden) anbelangt. Ausnahmen wären nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Außerdem ist ein neues Transparenzregime für Märkte, an denen andere Finanzinstrumenten als Aktien gehandelt werden, vorgesehen (dies sind Schuldverschreibungen, strukturierte Finanzprodukte, Derivate). Aufgrund der neuen Anforderung, sämtliche Marktdaten an einem einzigen Handelsplatz verfügbar zu machen, wird es zudem den Anlegern erleichtert, sich einen Überblick über alle Handelsaktivitäten in der EU zu verschaffen und eine Entscheidung in voller Sachkenntnis zu treffen.

2.5   Stärkung der Aufsichtsbefugnisse und strengere Regelungen für Warenderivatemärkte: Die Vorschläge sehen eine Stärkung der Rolle und der Befugnisse der Regulierungsbehörden vor. In Abstimmung mit der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) werden die Aufsichtsbehörden unter genau festgelegten Bedingungen über die Möglichkeit verfügen, bestimmte Produkte, Dienstleistungen oder Praktiken zu verbieten, wenn eine Gefahr für den Anlegerschutz, die Finanzstabilität oder das ordnungsgemäße Funktionieren der Märkte besteht.

2.6   Verbesserung des Anlegerschutzes: Aufbauend auf den bereits bestehenden umfassenden Vorschriften sieht die überarbeitete MiFID strengere Anforderungen an Portfolioverwaltung, Anlageberatung und das Anbieten komplexer Finanzprodukte, wie strukturierter Produkte, vor. Zur Vermeidung potenzieller Interessenkonflikte wird es unabhängigen Beratern und Portfoliomanagern untersagt sein, Zahlungen an Dritte zu leisten oder Zahlungen Dritter oder sonstige finanzielle Vorteile anzunehmen. Schließlich sollen für alle Wertpapierfirmen geltende Regeln zur Corporate Governance und Verantwortung des Managements eingeführt werden.

3.   Bemerkungen und Anregungen

3.1   Nach Angaben der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) ist der Nominalwert aller im Umlauf befindlichen Derivate von 601,046 Billionen US-Dollar im Dezember 2010 auf 707,569 Billionen US-Dollar im Juni 2011 gestiegen (BIS QuarterlyReview, Dezember 2011).

3.2   Mit den vorgeschlagenen neuen Rechtsvorschriften sollen die Effizienz, Integrität und Transparenz der Märkte, insbesondere der kaum geregelten, erhöht und damit der Anlegerschutz gestärkt werden.

3.3   In den letzten zwanzig Jahren ist das Volumen des Finanzhandels weltweit explosionsartig angestiegen und hat riesige Mengen an Liquidität auf die Finanzmärkte gespült. Dieses beispiellose Wachstum, das hauptsächlich durch kurzfristige Spekulationen verursacht wurde, ging nicht mit einem entsprechenden Wachstum der Realwirtschaft, der Beschäftigung und der Löhne und Gehälter einher. Der EWSA hält den Verordnungsvorschlag für notwendig und geeignet, zur Eindämmung dieser Marktauswirkungen beizutragen.

3.4   Die ursprüngliche Funktion der Finanzmärkte besteht darin, die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern und dabei Informationsasymmetrien abzubauen, wodurch ein effizienter Ressourceneinsatz gefördert wird. Die Krise hat bekanntlich deutlich gemacht, dass die Märkte nicht richtig funktioniert haben, da die Marktteilnehmer sich in ihrem Handeln nicht von Erwägungen der informationsbasierten Wirtschaft leiten ließen und die Finanzmärkte für rein spekulative Ziele auf kurze und kürzeste Sicht benutzten.

3.5   Die europäischen Märkte wurden dabei mit äußerst kurzfristiger Liquidität förmlich überschwemmt, wobei gleichzeitig Anreize fehlten (und immer noch fehlen), anstelle der Finanzwirtschaft die Realwirtschaft zu fördern. Durch dieses Verhalten werden Wirtschaft und Finanzmärkte, die normalerweise zusammenhängen, noch stärker voneinander entkoppelt, wobei immer undurchschaubare, abstraktere und komplexere Instrumente kreiert werden.

3.6   Spekulation ist Teil der Marktlogik und marktinhärent. Sie gewährleistet Liquidität und zeigt Störungen auf. Spekulationsgeschäfte auf kürzeste Sicht dagegen bringen keinen wirtschaftlichen oder sozialen Nutzen und tragen entscheidend zur Bildung von Finanzblasen bei. Die derzeitige Tendenz muss dringend umgekehrt werden, indem die Investitionen der Anleger wieder auf das Wachstum der Realwirtschaft gelenkt werden.

3.7   Vor diesem Hintergrund bietet der Vorschlag für eine Verordnung sicherlich geeignete Maßnahmen und Instrumente, um den offensichtlichen Schwächen und Unausgewogenheiten des Systems zu begegnen.

3.8   Der neue Rechtsrahmen für die Systeme des organisierten Handels schreibt für alle Handelstätigkeiten konkretere Regeln für ihre Funktionsweise vor. Für die Portfolioverwaltung, die Anlageberatung und das Anbieten von Finanzprodukten werden strenge Vorschriften eingeführt. Mit den neuen Bestimmungen werden neue Pflichten zur Verantwortung des Managements eingeführt und die Regeln zur Corporate Governance überarbeitet, was die Finanzhändler zu einer erheblichen Neuorganisation ihrer Unternehmensstruktur zwingen wird. Nach Ansicht des EWSA sind die durch die neuen Rechtsvorschriften eingeführten Pflichten zwar aufwändig, aber im Hinblick auf die Ziele der Verordnung durchaus angebracht und konsequent.

3.9   Mit dem Vorschlag für eine Verordnung wird eine neue Form von Handelsplätzen eingeführt, nämlich die "organisierten Handelssysteme" (OTF). Der EWSA befürwortet diese Bestimmung, da sie die Integration der unterschiedlichen Handelssysteme, die von den verschiedenen Gegenparteien verwendet werden, ermöglicht. Dieses System wird dem Markt insgesamt helfen, die Möglichkeiten zu vergleichen, die der Einsatz unterschiedlicher, in Konkurrenz zueinander stehender Instrumente bietet, wobei letztere auch weiterhin die bestmögliche Ausführung (best execution) gewährleisten müssen.

3.10   Die Rechtsvorschrift erstreckt sich zudem auch auf die Zuständigkeiten der Behörden und räumt diesen besondere Befugnisse im Bereich des Verkaufs von Produkten und Dienstleistungen ein, die die Anlegerinteressen sowie die Marktstabilität schwer beeinträchtigen können.

3.11   Überdies kommt der Transparenzgrundsatz nicht nur für die Märkte, sondern auch auf der Ebene der Aufsichtsbehörden zur Anwendung. Die zuständigen Behörden können demnach Transaktionsdaten untereinander austauschen, um die Gefahr von Marktmissbrauch zu bannen. Der EWSA befürwortet ausdrücklich diese Aspekte des Verordnungsvorschlags, da es sich dabei um wichtige Maßnahmen zur Stärkung des Anlegerschutzes handelt.

3.12   Nach Ansicht maßgeblicher Marktteilnehmer "hat die neue Regulierung grundsätzliche Bedeutung und wird die Struktur der europäischen Finanzmärkte verändern". So gilt es zum Beispiel ein inhärentes systemisches Risiko zu berücksichtigen, das in der jüngsten Finanzkrise zu Tage getreten ist. Eine Bankeninsolvenz kann die Erfüllung der im Zusammenhang mit OTC-Transaktionen eingegangenen Verpflichtungen gefährden und damit auf die jeweiligen Gegenparteien, auf andere Institute überspringen. Die neue Regulierung verringert das Gegenparteirisiko auf dem OTC-Markt. Die vorgeschlagene Verordnung wird eine erhebliche Verminderung der OTC-Transaktionen herbeiführen.

3.13   Ein weiteres Ziel der neuen Verordnung, dem der EWSA nur zustimmen kann, ist die Zusammenführung von Daten über alle OTC-Transaktionen und nicht nur über diejenigen, die über zentrale Clearingstellen abgewickelt werden. Die Daten müssen den Aufsichtsbehörden übermittelt werden, die damit eine wirksame Marktüberwachung gewährleisten können. Eine solche ist nämlich derzeit mangels Daten nicht möglich. Im Hinblick auf diese Aspekte wird in der Verordnung jedoch eine offene, vorab nicht festgelegte Struktur vorgeschlagen. So soll erst in späteren Entscheidungen der Betreiber oder der ESMA festgelegt werden, welche Kategorien von Derivaten über ein zentrales Clearing abgewickelt werden müssen. Aus diesem Grund kann bislang nicht konkret abgeschätzt werden, welcher Anteil des derzeitigen Handels in Zukunft auf diesem Weg abgewickelt wird.

3.14   Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Tatsache, dass die vorgeschlagene EU-Verordnung keinerlei Hinweis auf die Marktstruktur der künftigen zentralen Gegenparteien enthält. Daher können entweder die derzeit bestehenden Strukturen (z.B. die Cassa di compensazione e garanzia der italienischen Börse) ausgebaut oder einige wenige europaweit tätige große Clearingstellen neu geschaffen werden. Das sind dann jedoch nur Vermutungen, die Verordnung selbst sagt nichts darüber aus. Neben der Entscheidung für eine konkrete Struktur müssen jedoch noch weitere Fragen von grundlegender Bedeutung herausgestellt werden: Wie erfolgt das Risikomanagement und wie effizient sind die Überwachungsinstrumente im Hinblick auf die Vermeidung weiterer verheerender Insolvenzen.

3.15   Darüber hinaus dürfte die Vereinheitlichung des Handels durch die vorgeschriebene Abwicklung über zentrale Gegenparteien die Kosten verringern. Der Konzentrationsprozess könnte durchaus solche Auswirkungen haben, wobei hierüber keine Gewissheit besteht. Die neuen Vorschriften ermöglichen, sofern sie richtig umgesetzt werden, eine bessere Bemessung der Risiken, die in der jüngeren Vergangenheit von den Kreditmaklern häufig unterbewertet wurden, um die Umsätze und kurzfristigen Profite zu maximieren.

4.   Einige Schwachstellen

4.1   Anlass zur Sorge geben die Kosten für die Umsetzung der vorgeschlagenen Verordnung, die offenbar unterbewertet wurden und zu einem Zeitpunkt anfallen, zu dem die Finanzinstitute bereits hohe gesetzliche Anforderungen hinsichtlich ihrer Rentabilität und Kosten erfüllen müssen und daher unter Druck stehen. Die Finanzinstitute müssen effizient und zur Förderung der Wirtschaft arbeiten, aber auch angemessene Renditen erwirtschaften, weshalb befürchtet wird, dass diese Kosten lediglich an die Anleger und Kunden weitergegeben werden. Der Ausschuss vertritt die Ansicht, dass die Nutzer und Unternehmen, insbesondere die KMU, davor geschützt werden sollten.

4.2   Nach Schätzungen der Kommission werden die einmaligen Befolgungskosten 512 bis 732 Mio. EUR und die laufenden Kosten 312 bis 586 Mio. EUR betragen. Diese Kosten scheinen zu niedrig angesetzt. So sind die operativen Kosten für die Einrichtung der technischen Infrastruktur zur Erfüllung allein der Anforderungen hinsichtlich der Meldung von Daten mit einem Fragezeichen zu versehen; diese Kosten allein könnten bereits die genannte Gesamtkostensumme überschreiten. Die Kommission hat nun endlich die vom EWSA seit längerem geforderte und gewünschte Untersuchung eingeleitet, die für ein Verständnis der zeitlichen und finanziellen Gesamtauswirkungen der Regulierungsmaßnahmen erforderlich ist, wobei sich der Ausschuss für deren baldige Veröffentlichung ausspricht.

4.3   Werden den Finanzinstituten im Zuge der weltweiten rechtlichen Änderungen weiter Kosten und immer komplexere Anforderungen auferlegt, werden sie ernsthaft erwägen, welche Geschäftsbereiche sie aufgeben oder in andere Rechtsgebiete verlagern müssen.

4.4   Dem Grundsatz der Risikoverminderung durch mehr Transparenz werden viele zustimmen, doch es gilt, besser zu begreifen, welche Gesamtauswirkungen die Rechtsvorschriften auf die Wettbewerbsfähigkeit Europas auf dem weltweiten Markt für Finanzdienstleistungen haben werden.

4.5   Auch stellt sich die Frage, wer denn nun von den neuen rechtlichen Maßnahmen im Hinblick auf mehr Transparenz unmittelbar und tatsächlich profitiert. Die bessere Informationslage kommt nämlich sicherlich den Investmentbanken und den Hedgefunds zugute, gilt das aber auch für das Geschäftsbankensegment?

4.6   Der Ausschuss wirft die Frage auf, ob die sehr zwingenden Vorschriften zu den sogenannten "Dark Pools" nicht auch die Fähigkeit der Verwaltungsgesellschaften für Spareinlagen beeinträchtigt, optimale Geschäfte im Interesse ihrer Kunden (letztendlich der Sparer) zu tätigen.

4.7   Ein Ziel der vorgeschlagenen Verordnung besteht darin, die Finanzmärkte zu vereinheitlichen, zu harmonisieren und zusammenzuführen. Kleinanleger kennen sich häufig kaum mit den Finanzinstrumenten aus, die ihnen in ihrem Referenzmarkt zur Verfügung stehen. Deshalb unterstützt der Ausschuss zwar einerseits die angestrebte Konsolidierung der verschiedenen Handelsplattformen, empfiehlt der Kommission aber zugleich, möglichst bald Programme für die Vermittlung von Finanzwissen zu fördern. Ohne ein angemessenes Wissen und Bewusstsein bei den Anlegern könnten die erwarteten Auswirkungen des eingeleiteten Harmonisierungsprozesses nämlich ausbleiben.

4.8   Zu den wichtigsten Konsequenzen der neuen Regelung zählt auch die Ausweitung der Kategorien von Anlageinstrumenten, für die die Bestimmungen gelten: neben Aktien sollen zugleich auch alle anderen Finanzinstrumente unter die Verordnung fallen. Der von der vorgeschlagenen Verordnung ausgehende Impuls hin zu einem wettbewerbsorientierten Handel auf der Grundlage des Clearings börsengehandelter Derivate wird sich, so er weiter verfolgt wird, sehr nachhaltig auf die Struktur des Marktes auswirken. Rasche Fortschritte in dieser Richtung werden höchstwahrscheinlich zuerst bei den Rentenmärkten erzielt, von denen einige bereits auf mehreren elektronischen Plattformen arbeiten.

4.9   In der vorgeschlagenen Verordnung ist in Artikel 40 eine lange Liste delegierter Rechtsakte enthalten, zu denen die Kommission befugt wird. Inhaltlich erstrecken sich diese Rechtsakte auf einen eher großen Bereich (u.a. Festsetzung der Geld-Brief-Kurse, Art und Ausmaß der Aufträge, Inhalt der Daten, die geregelte Märkte und Wertpapierfirmen für jede Kategorie der betreffenden Finanzinstrumente veröffentlichen müssen usw. usf.). Der Ausschuss wirft die Frage auf, inwieweit Artikel 40 der Verordnung mit Artikel 290 AEUV in der im Lissabon-Vertrag enthaltenen geänderten Fassung vereinbar ist. Laut Vertrag kann nämlich "in Gesetzgebungsakten […] der Kommission die Befugnis übertragen werden, Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes zu erlassen". Ausgehend von der Prüfung der Inhalte, die in der vorgeschlagenen Verordnung für delegierte Rechtsakte vorgesehen sind, schätzt der Ausschuss ein, dass es sich dabei durchaus um wesentliche und nicht um zweitrangige Vorschriften handelt. Deshalb ist er der Auffassung, dass die in Artikel 40 der Verordnung enthaltene Liste delegierter Rechtsakte zu umfangreich und nicht mit dem AEUV vereinbar ist.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 44.

(2)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S.24.

(3)  ABl. C 107 vom 6.4.2011, S.21.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/78


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2004/109/EG zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, sowie der Richtlinie 2007/14/EG der Kommission“

COM(2011) 683 final — 2011/0307 (COD)

2012/C 143/15

Berichterstatter: Paulo BARROS VALE

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 30. November bzw. 15. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 50 und 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2004/109/EG zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, sowie der Richtlinie 2007/14/EG der Kommission"

COM(2011) 683 final — 2011/0307 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 1. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 232 gegen 3 Stimmen bei 11 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

1.1

Der Vorschlag zur Änderung der Transparenzrichtlinie ist Bestandteil eines größeren, von der Kommission aufgelegten Maßnahmenpakets zur Förderung des Zugangs zur Finanzierung für kleine und mittlere Unternahmen (KMU). Er ist zugleich Ausdruck der Bemühungen um eine Wiederherstellung des Vertrauens der Anleger sowie der Bedeutung, die der Bereitstellung hochwertiger Informationen für den Markt beigemessen wird. Der hier geprüfte Vorschlag zur Änderung geht auf Empfehlungen zurück, die in einem unabhängigen Bericht der Beratungsgesellschaft Mazars, in der Anhörung der Interessengruppen und in deren Einschätzungen, im Bericht der Kommission vom Mai 2010 und in der Folgenabschätzung für die einzelnen ermittelten Optionen formuliert wurden. Der Ausschuss stimmt den Zielen und dem Inhalt des Vorschlags zu, hält es jedoch für angebracht, dazu eine Reihe von Anmerkungen vorzubringen.

1.2

Die vorgeschlagenen Änderungen, die den Markt für kleine und mittlere Emittenten attraktiver machen sollen, werden auf alle Unternehmen Anwendung finden. Die größten Auswirkungen der Vereinfachungen werden wahrscheinlich nicht die eigentliche Zielgruppe der Überarbeitung spüren, sondern vielmehr die auf dem Markt tätigen Großunternehmen. Die Anforderungen der Transparenzrichtlinie werden kaum als Hindernis für den Markteintritt kleiner und mittlerer Emittenten angesehen, was aber nicht heißt, dass diese Vereinfachungen kein maßgeblicher Faktor bei der Entscheidung über eine Emission sind und wesentliche Auswirkungen auf die Marktattraktivität für die KMU haben. Diese Vereinfachungen gefährden zwar nach Ansicht der Interessengruppen weder die Glaubwürdigkeit des Markts noch den Anlegerschutz, haben jedoch wirtschaftliche Effekte, die in Großunternehmen potenziell größer ausfallen werden, sich aber auch in irgendeiner Form in den KMU niederschlagen werden, weshalb sie für diese Unternehmensart, die in der europäischen Wirtschaft am stärksten vertreten ist, von Belang sind.

1.3

Die Veröffentlichung der Quartalsberichte ist seit 2004 eine heftig diskutierte Frage, wobei sich verschiedene Seiten dagegen ausgesprochen haben. Deshalb empfiehlt der EWSA, diese Frage mit Umsicht zu erörtern. Die seinerzeit vorhergesagten negativen Folgen der obligatorischen Veröffentlichung haben sich bewahrheitet (so die Zunahme der Quantität, nicht aber der Qualität der Informationen, die hohen finanziellen und Opportunitätskosten, die Verfolgung eines kurzfristigen Ansatzes wegen der Notwendigkeit, dem Markt Ergebnisse zu liefern, zulasten einer längerfristigen Strategie). Der Druck im Hinblick auf kurzfristige Ergebnisse kann auch als eine der Ursachen für die Krise gelten, denn der Finanzsektor war ja geradezu genötigt, in jedem Quartal noch bessere Ergebnisse vorzulegen. Da die erforderliche und gewünschte Transparenz nicht in Frage steht, weil die Verbreitung wichtiger Informationen mittels Einhaltung der Prospekt-Richtlinie und der Marktmissbrauch-Richtlinie gewährleistet ist, befürwortet der EWSA eine Abschaffung der obligatorischen Veröffentlichung, wobei die Entscheidung über die erforderliche Menge an Informationen dem Markt überlassen wird.

1.4

Von einigen wird ins Feld geführt, dass die komplizierte Erarbeitung der Berichte erhebliche Opportunitäts- und andere Kosten für die Auftragsvergabe an externe Experten verursacht. Die Ausarbeitung von Berichtsmustern durch den Ausschuss der europäischen Wertpapierregulierungsbehörden (jetzt ESMA) schlägt sich zwar vielleicht nicht unbedingt in einer erheblichen Kostenreduzierung nieder; die Initiative könnte aber durchaus Einsparungen für die KMU bringen, die durch die Verwendung dieser Muster keine externen Firmen mit der Erstellung dieser Berichte beauftragen müssen. Schließlich sei noch angemerkt, dass sich in Mustern nur schwer sämtliche Situationen vorhersehen lassen, was dazu führen kann, dass nur vereinfachte Informationen übermittelt werden, oder sogar wichtige Informationen gar nicht, weil sie nicht im Muster vorgesehen sind.

1.5

Die Ausweitung der Definition von Finanzinstrumenten, die der Mitteilungspflicht unterliegen, ist Ausdruck der Bestrebungen, die Vorschriften an die Neuerungen auf dem Markt anzupassen und folglich mit den Entwicklungen Schritt zu halten. Durch die Änderung wird die Transparenzrichtlinie an die im Vereinigten Königreich und in Portugal bereits beschlossenen und in anderen EU-Mitgliedstaaten und weiteren Ländern der Welt in Vorbereitung befindlichen Maßnahmen angepasst. Auch in Frankreich gab es eine Gesetzesinitiative auf diesem Gebiet, die sich jedoch als unzureichend erwiesen hat. Die Befürchtungen, dass der Markt mit unnötigen Informationen regelrecht überflutet werden könnte, sind angesichts der Erfahrungen in den Ländern, in denen die Vorschriften bereits Informationen dieser Art verlangen, unbegründet, wobei zahlreiche Interessengruppen vorschlagen, von den britischen Erfahrungen auf diesem Gebiet zu lernen.

1.6

In Bezug auf die Schaffung des Europäischen Informationsmechanismus weist der EWSA darauf hin, dass sich die Zusammenführung der bestehenden nationalen Datenbanken aufgrund der Inkompatibilität der darin verwendeten Technologien als kompliziert erweisen könnte. Obgleich sich eine Reihe von Interessenträgern (vor allem mit Blick auf die Informationen für Anleger und Analysten) für die Schaffung dieses Mechanismus ausspricht, bedarf es einer Kosten-Nutzen-Analyse für die Einführung und Unterhaltung des Mechanismus. Dessen ungeachtet ist dies eine wichtige Maßnahme, die zur Weiterentwicklung des Binnenmarkts beiträgt.

1.7

Im Hinblick auf den neuen Wortlaut von Artikel 6 der Richtlinie über die obligatorische Meldung von Zahlungen, die an staatliche Stellen geleistet werden, spricht sich der Ausschuss dafür aus, diese Bestimmung noch weiter zu fassen. Die Bedeutung der Meldung von Zahlungen durch Emittenten, die in der mineralgewinnenden Industrie oder der Industrie des Holzeinschlags in Primärwäldern tätig sind, steht außer Frage. Der Geltungsbereich dieses Artikels könnte aber noch darüber hinausgehen und auch die Konzessionen für Dienstleistungen von öffentlichem Interesse an Privatunternehmen(Betrieb von Verkehrs-, Telekommunikations-, Energie- und Glücksspielnetzen) beinhalten, und zwar entweder durch die bloße Gewährung solcher Konzessionen oder die Gründung öffentlich-privater Partnerschaften. Es sollte eine Meldepflicht für sämtliche Transaktionen dieser Art mit staatlichen Stellen (aufgeschlüsselt nach Land und Projekt) geben. Da das Ziel dieser Maßnahme darin besteht, die Regierungen zu einer verantwortlichen Nutzung ihrer Einnahmen zu veranlassen, sollten die gezahlten Beträge in Zusammenhang mit anderen Infrastruktur- und Ressourcengewinnungstätigkeiten eines Lands, die über die bereits in der Richtlinie vorgesehenen Tätigkeiten hinausgehen, nicht außer Acht gelassen werden.

1.8

Im Hinblick auf die vorgesehenen Sanktionen spricht sich der EWSA dafür aus, nicht nur ein Höchstmaß für die Strafen, sondern auch ein Mindestmaß festzulegen, um sicherzustellen, dass Verstöße nicht ungestraft bleiben und die Strafen abschreckend wirken und unrechtmäßige Verhaltensweisen tatsächlich ahnden, wobei zugleich die Methoden der einzelnen Mitgliedstaaten miteinander harmonisiert werden sollten.

1.9

Unter Berücksichtigung des derzeitigen Rahmens ist ein Szenario mit einem plötzlichen Anstieg der Nachfrage zwar wenig wahrscheinlich, doch sollte zumindest darauf hingewiesen werden, dass der Vorschlag zur Vereinfachung der Bestimmungen der Transparenzrichtlinie zusammen mit anderen geplanten Maßnahmen zur Erhöhung der Marktattraktivität zu mehr Transaktionen führen könnte, wobei die diesbezüglichen Auswirkungen auf die Funktionsweise des Marktes noch nicht abgeschätzt wurden. Zugleich könnten die größere Sichtbarkeit der KMU und die größere Attraktivität für Anleger die Bildungsdefizite der Verbraucher herausstellen, aufgrund derer sie nicht in der Lage sind, die verfügbaren Informationen richtig zu deuten und damit fundierte Entscheidungen zu treffen.

2.   Kontext des Vorschlags

2.1

Gemäß Artikel 33 der Transparenzrichtlinie (Richtlinie 2004/109/EG (1)) legte die Kommission einen Informationsbericht über die Umsetzung der Richtlinie in den zwei Jahren seit ihrem Inkrafttreten vor. Darin kam sie zu dem Schluss, dass die in der Richtlinie enthaltenen Anforderungen von einer Mehrheit der betroffenen Akteure als wichtig für das ordnungsgemäße und wirksame Funktionieren des Markts betrachtet werden.

2.2

Der Vorschlag zur Änderung der Richtlinie wurde in der Erwägung vorgelegt, dass es eine politische Priorität der Kommission ist, den Regelungsrahmen für kleine und mittlere Emittenten und ihren Zugang zu Kapital zu verbessern. Ziel des Vorschlags ist es, die für börsennotierte KMU geltenden Verpflichtungen bei gleichzeitiger Erhaltung des Anlegerschutzes verhältnismäßiger zu gestalten. Der Vorschlag zielt zudem auf die Stabilität des Finanzsystems durch die Gewährleistung der Transparenz wirtschaftlicher Akquisitionen und des Anlegervertrauens sowie auf eine stärkere Ausrichtung auf langfristige Ergebnisse. Schließlich sollen durch die Erleichterung des Zugangs zu vorgeschriebenen Informationen auf Ebene der Union die funktionelle Integration der europäischen Wertpapiermärkte gestärkt und eine bessere grenzüberschreitende Sichtbarkeit börsennotierter KMU sichergestellt werden.

2.3

Anzumerken ist, dass der hier geprüfte Vorschlag zur Überarbeitung auf eine unabhängige Studie der Beratungsgesellschaft Mazars zurückgeht, auf deren quantitative und qualitative Ergebnisse sich die Kommission bei der Erstellung des in Artikel 33 der Richtlinie vorgesehenen Berichts an das Europäische Parlament und den Rat über die Umsetzung der Richtlinie gestützt hat. Berücksichtigt wurden auch Berichte, die vom Ausschuss der europäischen Wertpapierregulierungsbehörden (CESR) und der Expertengruppe "Europäische Wertpapiermärkte" (ESME) auf diesem Gebiet vorgelegt wurden.

2.4

Dabei werden zwei verbesserungsbedürftigen Bereiche genannt: Weil der Ansatz der einer Mindestharmonisierung ist, ermöglicht es die Richtlinie den Mitgliedstaaten, restriktivere Maßnahmen zu treffen, was Probleme hinsichtlich der Anwendbarkeit verursacht und die Kosten ansteigen lässt. Zudem fehlen weniger restriktive Maßnahmen für KMU, die deshalb vor einem Gang auf den Finanzmarkt zurückschrecken. Überdies müssen einige der in der Richtlinie enthaltenen Definitionen klarer formuliert und bestimmte Begriffe mit ähnlicher Bedeutung konsequenter und eindeutiger verwendet werden. Schließlich wird auch darauf hingewiesen, dass die Bestimmungen über die Meldepflicht verbessert werden müssen.

2.5

Die Auswirkungen der verschiedenen ermittelten Optionen wurden analysiert, was zu folgenden Entscheidungen führte:

2.5.1

Um mehr Flexibilität in Bezug auf die Frequenz und den Zeitpunkt der Veröffentlichung regelmäßiger Finanzinformationen – insbesondere für KMU – zu ermöglichen, sieht der Vorschlag die Abschaffung der Pflicht zur Vorlage von Quartalsfinanzberichten für alle börsennotierten Gesellschaften vor. Obgleich die Maßnahme auf eine Vereinfachung für die KMU abzielt, wird in der gewählten Option nicht zwischen den Zielgruppen unterschieden, um keine Regelung mit zweierlei Maß einzuführen, was für die Anleger verwirrend wäre. Es wird erhofft, dass sich die Maßnahme in einer Kostenreduzierung und in einer stärkeren Ausrichtung auf langfristige Ergebnisse niederschlägt, da der Druck für die Vorlage der Quartalsberichte wegfällt. Der Anlegerschutz wird nicht in Frage gestellt, da die Bestimmungen der Prospekt-Richtlinie und der Marktmissbrauch-Richtlinie weiter eingehalten werden müssen und damit gewährleistet ist, dass die Märkte die Informationen über wichtige Ereignisse und/oder Fakten erhalten, die potenziell für den Kurs des zugrunde liegenden Wertpapiers relevant sind.

2.5.2

Um den erläuternden Teil der Finanzberichte für KMU zu vereinfachen, wird die ESMA beauftragt, dafür nicht obligatorische Muster zu erstellen, wobei die gewählte Option erneut für alle Unternehmen gilt. Erwartet wird nicht nur eine Verringerung der Kosten, sondern auch eine bessere Vergleichbarkeit der Informationen für die Anleger und eine stärkere grenzüberschreitende Sichtbarkeit der KMU.

2.5.3

Zur Schließung von Lücken in den Mitteilungspflichten in Bezug auf bedeutende Stimmrechtsanteile wird vorgeschlagen, die Regelung auf sämtliche Instrumente auszuweiten, die eine mit Beteiligungen und Aktienbezugsrechten vergleichbare Wirkung haben.

2.5.4

Im Hinblick auf die Beseitigung von Divergenzen bei den Mitteilungspflichten in Bezug auf bedeutende Beteiligungen besteht die Option in der Zusammenrechnung von gehaltenen Aktien und Finanzinstrumenten, die Zugang zu Aktien verleihen, einschließlich Derivaten mit Barausgleich.

2.6

Die wichtigsten Änderungen im Hinblick auf eine klarere Formulierung der Richtlinie und die Erleichterung des Zugangs der KMU zum Markt sind folgende:

2.6.1

Für Emittenten aus Drittstaaten, die nicht innerhalb von drei Monaten ihren Herkunftsmitgliedstaat gewählt haben, wird ersatzweise ein Standard-Herkunftsmitgliedstaat festgelegt.

2.6.2

Die Vorschrift zur Veröffentlichung von Zwischenmitteilungen der Geschäftsleitung und/oder Quartalsfinanzberichten wird aufgehoben

2.6.3

Die Definition von Finanzinstrumenten, die der Mitteilungspflicht unterliegen, wird ausgeweitet.

2.6.4

Im Hinblick auf die Mitteilungspflichten für bedeutende Beteiligungen werden Aktien und Finanzinstrumente zusammengerechnet. Es ist jedoch den Mitgliedstaaten weiterhin erlaubt, nationale Schwellen für die Mitteilung bedeutender Beteiligungen festzusetzen, die niedriger sind als in der Transparenzrichtlinie vorgesehen, und zwar unter Berücksichtigung der Gegebenheiten der einzelnen Märkte und soweit dies zur Gewährleistung einer angemessenen Transparenz notwendig ist.

2.6.5

Der Kommission wird ermächtigt, die von der ESMA ausgearbeiteten technischen Regulierungsstandards in Bezug auf die technischen Anforderungen für den Zugang zu vorgeschriebenen Informationen auf Unionsebene zu erlassen, um den Zugang zu Finanzinformationen zu verbessern und damit die Suche in 27 verschiedenen nationalen Datenbanken zu vermeiden. Ziel ist die Schaffung eines europäischen Mechanismus für vorgeschriebene Informationen.

2.6.6

Im Hinblick auf die Nutzung der natürlichen Ressourcen wird eine Meldepflicht für die Zahlungen eines Unternehmens auf individueller oder konsolidierter Ebene an staatliche Stellen eingeführt.

2.6.7

Die Befugnisse der zuständigen Behörden zur Verhängung von Strafen werden gestärkt, wobei die Sanktionen oder Maßnahmen wegen Verstoß gegen die Bestimmungen veröffentlicht werden müssen.

3.   Im Vorschlag aufgeworfene Fragen

3.1

Die Änderung der Transparenzrichtlinie zielt u.a. darauf ab, die regulierten Märkte für kleine und mittlere Emittenten attraktiver zu machen. Eine höhere Marktattraktivität für die KMU ist von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung und das Wachstum des Markts. Die vorgeschlagenen Änderungen der Transparenzrichtlinie stellen daher eine positive Initiative dar, ermöglichen sie doch die Vereinfachung bestimmter Verfahren, ohne dabei die Qualität der Informationen infrage zu stellen, die für die Entscheidungen der Anleger und die Marktinterpretation durch Analysten wesentlich sind. Diese Vereinfachungen werden sich zweifellos positiv auf die Kosten sämtlicher börsennotierten Gesellschaften auswirken, bei den KMU jedoch besonders stark zu Buche schlagen.

3.2

Ungeachtet dieser Vereinfachungen ist und bleibt dies ein Sektor, dessen Regeln und Terminologie den Verbrauchern nur schwer verständlich sind. Obgleich die umfassende Schulung der Bevölkerung auf diesem Gebiet ein kompliziertes Unterfangen ist, kommt hier dem Verbraucherschutz große Bedeutung zu, wenn es darum geht, die Verbraucher im Hinblick auf die Verwendung von Fachsprache zu schützen, indem Aufsichtsbehörden und staatliche Stellen Bildung und Informationen anbieten. Dies ist ein Bereich, den es im Rahmen künftiger Maßnahmen zu berücksichtigen gilt.

3.3

Die Ausarbeitung der vorgesehenen Muster für den erläuternden Teil der Berichte kann zur einfacheren Interpretation der Informationen und zu ihrer besseren Vergleichbarkeit beitragen. Obgleich es sich bei der Ausarbeitung von Mustern um ein komplexes Unterfangen handelt und sich in den Mustern möglicherweise nicht sämtliche Situationen vorhersehen lassen, wird ihre Verwendung zu einer Verringerung der Kosten insbesondere für KMU führen und zugleich auch den Verbrauchern die Interpretation der Daten erleichtern.

3.4

Es soll hier hervorgehoben werden, wie wichtig die Abschaffung der Pflicht zur Veröffentlichung von Quartalsfinanzberichten ist. Im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung des Markts muss unbedingt das auf kurzfristige Erfolge ausgerichtete Vorgehen bekämpft werden, und diese Maßnahme trägt wesentlich dazu bei. Nur ein langfristiger Ansatz ermöglicht die Innovation, die ein Schlüsselfaktor für das nachhaltige und integrative Wachstum - eine Priorität der Strategie "Europa 2020" - ist.

3.5

Die Ausweitung der Definition von Finanzinstrumenten, die der Mitteilungspflicht unterliegen, ist einer der Schwerpunkte der geänderten Transparenzrichtlinie. Die Innovation im Finanzbereich hat zur Schaffung neuer Arten von Finanzinstrumenten geführt, die im Hinblick auf ihre Transparenz in den Regelungsrahmen einbezogen werden müssen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Änderungen zur Schließung von Lücken in den Mitteilungspflichten in Bezug auf bedeutende Stimmrechtsanteile und in Bezug auf bedeutende Beteiligungen führen und damit verhindern, dass heimlich Unternehmensbeteiligungen aufgebaut oder bedeutende Beteiligungen dem Markt ohne vorherige Warnung mitgeteilt werden, so wie dies bereits der Fall war.

3.6

Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Mechanismus für die Speicherung vorgeschriebener Informationen auf Unionsebene ist ein ehrgeiziges Ziel, das energisch verfolgt werden muss. Es handelt sich zweifelsohne um ein wichtiges Instrument zur Vertiefung des Binnenmarkts, wobei allerdings auch das Kosten-Nutzen-Verhältnis für die Einführung und Unterhaltung dieses Mechanismus berücksichtigt werden muss.

3.7

Unter die Transparenzrichtlinie fallen nunmehr auch Zahlungen an staatliche Stellen durch Emittenten, die in der mineralgewinnenden Industrie tätig sind. Dieser Vorschlag der Kommission ist eine Neuerung und soll die finanziellen Auswirkungen der Tätigkeit eines Unternehmens im Aufnahmestaat deutlich machen, was die Transparenz erhöht. Der Ausschuss ist überzeugt, dass der Vorschlag aber noch darüber hinausgehen und diese Mitteilungspflicht auch für die Summen vorsehen könnte, die für andere Tätigkeiten bzw. Konzessionen für Dienstleistungen von öffentlichem Interesse an Privatunternehmen (Betrieb von Verkehrs-, Telekommunikations-, Energie- und, Glücksspielnetzen) gezahlt werden. Dabei handelt es sich um erhebliche Beträge.

3.8

Auch die Bestimmungen über Strafen wurden in diesem Vorschlag überarbeitet: Die Befugnisse der zuständigen Behörden werden gestärkt und um die Möglichkeiten des Entzugs von Stimmrechten und der Veröffentlichung der verhängten Strafen erweitert. Hervorzuheben ist, dass zwar ein Höchstmaß für die Geldstrafen festgelegt wird, aber kein Mindestmaß, obgleich eine solche Mindestgeldstrafe eine wichtige abschreckende Wirkung hätte.

3.9

Die Vereinfachung der Vorschriften und die daraus zu erwartende höhere Attraktivität des Markts werden sich möglicherweise in einem Anstieg der Zahl der Transaktionen niederschlagen, wobei nicht bekannt ist, wie sich das auf das ordnungsgemäße Funktionieren sowohl der Börsen als auch der Regulierungsbehörden auswirken wird, die hoffentlich in der Lage sein werden, einen eventuellen plötzlichen Anstieg der Zahl der Transaktionen zu bewältigen.

3.10

Obwohl es sich hier nicht um eine Frage im unmittelbaren Zusammenhang mit der Transparenzrichtlinie handelt, möchte der Ausschuss doch diese Gelegenheit nutzen, um auf eines der großen Hindernisse für das Wachstum des Markts hinzuweisen, nämlich die von den Wertpapiermärkten erhobenen Gebühren. Sowohl die Kosten für die Zulassung zur Börsennotierung als auch die laufenden jährlichen Kosten für den Verbleib auf dem Wertpapiermarkt sind erheblich und schrecken die Unternehmen ab, den Börsengang zu wagen. Daher würde jede Maßnahme auf diesem Gebiet den Unternehmen eine solche Entscheidung wesentlich erleichtern.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. L 390, 31.12.2004, S. 38-57, Stellungnahme des EWSA veröffentlicht in ABl. C 80 vom 30.3.2004, S. 128.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/82


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Sozialfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1081/2006“

COM(2011) 607 final — 2011/0268 (COD)

2012/C 143/16

Berichterstatter: Xavier VERBOVEN

Mitberichterstatter: Miguel Ángel CABRA DE LUNA

Der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament beschlossen am 27. Oktober 2011 bzw. am 25. Oktober 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Sozialfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1081/2006"

COM(2011) 607 final – 2011/0268 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. Januar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 217 gegen 5 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Grundsatz des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts ist ebenso wie der Grundsatz der Solidarität im Vertrag verankert und zusammen sind sie zwei der bedeutendsten Säulen für die Integration der Völker, der Bürgerinnen und Bürger sowie der Regionen. Als wichtigstes europäisches Finanzinstrument zur Förderung der Humanressourcen wird der Europäische Sozialfonds (ESF) weiterhin zum Erreichen des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts beitragen, wie in Artikel 162 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgesehen.

1.2   Der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt muss weiterhin im Zentrum der Europa-2020-Strategie stehen. Alle Akteure der Zivilgesellschaft, einschließlich der Freiwilligenarbeit, werden ausdrücklich als wichtige Faktoren für die Erreichung der Ziele der Europa-2020-Strategie anerkannt, was auch durch die Schlussfolgerungen des Rates vom 3. Oktober 2011 (1) untermauert wird.

1.3   Der EWSA befürwortet, dass in Übereinstimmung mit Artikel 10 des Vertrags die durch den ESF finanzierte Umsetzung der Prioritäten dazu beitragen sollte, Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. Weiter sollte der ESF dazu beitragen, dass sämtliche Verpflichtungen aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die u. a. die Bereiche Bildung, Beschäftigung sowie Barrierefreiheit betreffen, eingehalten werden.

1.4   Der Europäische Sozialfonds muss das Hauptinstrument für die Umsetzung der Ziele der Europa-2020-Strategie sein, insbesondere in den Bereichen Beschäftigung, Bildung, soziale Eingliederung und Armutsbekämpfung. Er muss die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der integrierten Leitlinien und nationalen Reformprogramme ergriffenen Maßnahmen unterstützen. Nach Ansicht des EWSA sollten die nationalen Reformprogramme u.a. Ziele für die soziale Eingliederung der schutzbedürftigsten Bevölkerungsgruppen enthalten, das heißt von jungen Menschen, Frauen, Migranten, Langzeitarbeitslosen, älteren Menschen und Behinderten – um die nationalen Reformprogramme auf die Einhaltung der im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte der Menschen mit Behinderungen enthaltenen Verpflichtungen auszurichten – sowie von Angehörigen ethnischer Minderheiten. Die nationalen Reformprogramme sollten auch Ziele zur Erreichung des in der Europa-2020-Strategie festgelegten Kernziels, die Zahl der in Armut lebenden Menschen bis 2020 um 20 Millionen zu reduzieren, enthalten.

1.5   Die Förderung von Beschäftigung und sozialer Eingliederung (insbesondere durch Beschäftigung) vor allem der schutzbedürftigsten Bevölkerungsgruppen, das heißt von jungen Menschen, Frauen, Migranten, Langzeitarbeitslosen, älteren Menschen, Behinderten und Angehörigen ethnischer Minderheiten, ist ein vorrangiges Ziel des ESF und soll es auch bleiben, und zwar überall in der EU. Mindestens 40 % der insgesamt in jedem Mitgliedstaat zur Verfügung stehenden ESF-Mittel müssen für das thematische Ziel "Förderung der Beschäftigung und Unterstützung der Mobilität der Arbeitskräfte" bereitgestellt werden.

1.6   Der EWSA befürwortet den Schwerpunkt der sozialen Innovation und die Fördermöglichkeiten für Projekte im Bereich der Sozialwirtschaft, des sozialen Unternehmertums und der Sozialunternehmen.

1.7   Die Erhöhung der Investitionen in Infrastrukturen, regionale Wettbewerbsfähigkeit und Unternehmensentwicklung muss mit Maßnahmen zur Schaffung dauerhafter Arbeitsplätze in den Politikbereichen Arbeitsmarkt, allgemeine und berufliche Bildung, soziale Eingliederung, Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer, Unternehmen und Unternehmer sowie zur Förderung von Verwaltungskapazitäten einhergehen.

1.8   Die europäische Beschäftigungsstrategie und die EU-Politik zur sozialen Eingliederung müssen wieder ins Zentrum der EU-Prioritäten rücken, und für die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen müssen mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden.

1.9   Der EWSA vertritt die Ansicht, dass der gemeinsame strategische Rahmen die sich aus den Zielen der Europa-2020-Strategie ergebenden Investitionsprioritäten widerspiegelt, indem er auf die Chancen eingeht, die ein offenerer und zugänglicherer Arbeitsmarkt insbesondere den auf dem Arbeitsmarkt am schwierigsten zu vermittelnden Personen bietet (wie junge Menschen, Frauen, Migranten, Langzeitarbeitslose, ältere Menschen, Behinderte und Angehörige ethnischer Minderheiten u.a.).

1.10   Der EWSA unterstützt den Beitrag des ESF zu den anderen Zielen der Europa-2020-Strategie: Forschung und Innovation, einfacher Zugang zu und Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologien, Förderung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen, Umweltschutz, Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft und nachhaltige Nutzung von Ressourcen.

1.11   Der EWSA unterstützt die thematischen Schwerpunkte und die Komplementarität mit den anderen bestehenden Finanzierungsinstrumenten, um eine ausreichende und deutliche Wirkung zu erzielen.

1.12   Der EWSA unterstützt den Vorschlag, mindestens 20 % der gesamten ESF-Mittel für das thematische Ziel "Förderung der sozialen Eingliederung und Bekämpfung der Armut" bereitzustellen, mit dem die Eingliederung der auf dem Arbeitsmarkt am schwierigsten zu vermittelnden Bürgerinnen und Bürger angestrebt wird.

1.13   Das Partnerschaftsprinzip, das Wirtschafts- und Sozialpartner sowie Vertreter der Zivilgesellschaft umfasst, darunter Partner des Umweltbereichs, Nichtregierungsorganisationen und Stellen für die Förderung von Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung, ist der wesentliche Garant für ein gutes Funktionieren der Maßnahmen im Rahmen der Strukturfonds und insbesondere des Europäischen Sozialfonds.

1.14   Der "europäische Verhaltenskodex für die Umsetzung des Partnerschaftsprinzips" muss die Rolle der einzelnen Partner auf den verschiedenen Ebenen klären und festlegen und ebenso klarstellen, dass – wenngleich ausschließlich die Sozialpartner für den sozialen Dialog zuständig sind – allen gemäß Artikel 5 des Vorschlags für eine Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen über die Fonds (2) anerkannten Partnern der Zugang zu den verschiedenen Umsetzungsphasen der Fonds gewährt werden muss, einschließlich Ausarbeitung und Umsetzung der operationellen Programme; für die angemessene Finanzierung zur Sicherstellung ihrer Teilnahme muss gesorgt werden.

1.15   Der EWSA lehnt den Vorschlag der Kommission zur Anwendung von mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt verknüpften finanziellen Sanktionen und Anreizen bei den Strukturfonds komplett ab.

1.16   Die Strukturfonds allein reichen nicht aus, um der Krise standzuhalten. Europa braucht eine andere wirtschaftspolitische Steuerung auf der Grundlage einer verantwortungsvollen Wirtschaftsführung, die auf Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Investitionen – auch in Humankapital – abzielt und in der Gerechtigkeit, Zusammenhalt, Solidarität und der Grundsatz der sozialen Eingliederung gefördert werden. Der EU-Haushalt muss entsprechend diesen Prinzipien umgestaltet werden.

1.17   Die für den Europäischen Sozialfonds vorgesehenen Haushaltsmittel müssen mindestens auf dem Niveau des letzten Programmplanungszeitraums bleiben. Sie sollten auch dazu verwendet werden, die Beteiligung der Öffentlichkeit, die Unterstützung der Zivilgesellschaft und das Bewusstsein für die gemeinsamen europäischen Werte zu fördern.

2.   Hintergrund: Die Vorschläge zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU und zur Kohäsionspolitik 2014-2020

2.1   Der neue politische Rahmen für das kommende Jahrzehnt, das heißt die Europa-2020-Strategie, ist vom Europäischen Rat am 17. Juni 2010 gebilligt worden.

2.2   Die Kommission hat am 29. Juni 2011 den Vorschlag für den "Ein Haushalt für Europa 2020" veröffentlicht, mit dem die neuen Finanzperspektiven der EU für den Zeitraum 2014-2020 festgelegt werden.

2.3   Am 6. Oktober 2011 hat die Kommission ihre Legislativvorschläge zu den Strukturfonds veröffentlicht, darunter auch zum Europäischen Sozialfonds.

2.4   Zu diesen Vorschlägen fand eine breit angelegte Anhörung der Zivilgesellschaft und der beteiligten Akteure statt. Die Konsultation wurde am Jahresende abgeschlossen. Im Januar 2012 wird die Kommission ihr letztes Paket von Vorschlägen zum gemeinsamen strategischen Rahmen veröffentlichen, das dem Europäischen Parlament, dem Rat, dem Ausschuss der Regionen und dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss vorgelegt werden wird.

2.5   Speziell in Bezug auf die Zukunft des ESF hat der EWSA am 15. März 2011 eine Stellungnahme zum Thema "Die Zukunft des Europäischen Sozialfonds nach 2013" (3) verabschiedet. Es soll nun untersucht werden, ob die Kernpunkte im Vorschlag der künftigen ESF-Verordnung berücksichtigt wurden, der Gegenstand der vorliegenden Stellungnahme ist.

2.6   Zum wirtschaftlichen Rahmen: Um die neuen Finanzperspektiven angemessen zu analysieren, muss auf den allgemeinen Zusammenhang hingewiesen werden, also auf die Herausforderungen im Zuge der Globalisierung, die Demographie- und Migrationsperspektiven und insbesondere die tiefgreifende Wirtschaftskrise, welche die Prinzipien, auf denen die Europa-2020-Strategie beruhte, grundlegend verändert hat. Infolgedessen ist es von zentraler Bedeutung, dass höhere Investitionen in Infrastrukturen, regionale Wettbewerbsfähigkeit und Unternehmensentwicklung –insbesondere der KMU und der Unternehmen der Sozialwirtschaft – begleitet werden von Maßnahmen zur Schaffung dauerhafter Arbeitsplätze in den Politikbereichen Arbeitsmarkt, allgemeine und berufliche Bildung, soziale Eingliederung, Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer, Unternehmen und Unternehmer.

2.7   Die Ziele und Instrumente der Europa-2020-Strategie, die im Grunde positiv sind, müssen besser ausgerichtet und an die neue Lage angepasst werden. Dies muss im Rahmen eines geregelten und integrativen Arbeitsmarktes erfolgen, der den Bürgerinnen und Bürgern Europas, insbesondere den auf dem Arbeitsmarkt am schwierigsten zu vermittelnden Personen (wie jungen Menschen, Frauen, Migranten, Langzeitarbeitslosen, älteren Menschen, Behinderten und Angehörigen ethnischer Minderheiten u.a.), Chancen auf sichere und hochwertige Arbeitsplätze bietet, die ihren Berufsqualifikationen entsprechen.

2.8   Hinsichtlich der Anwendung und der praktischen Aspekte für den Zugang zu ESF-Mitteln sind zahlreiche Verbesserungen vorzunehmen, vor allem ein Bürokratieabbau vor und während der Umsetzung des operationellen Programms, d.h. Lockerung der Verfahren für den Zugang zu Finanzmitteln, insbesondere Beschleunigung des Zahlungssystems zur Minimierung der finanziellen Belastung derjenigen, die die Programme ausführen, und Vereinfachung der Rechnungslegung und der Kontenbereinigung; ferner sollte u.a. der Grundsatz einheitlicher Sätze flächendeckender, aber gleichzeitig auch realistisch zur Anwendung gebracht werden.

2.9   Der EWSA vertritt die Ansicht, dass der gemeinsame strategische Rahmen die sich aus den Zielen der Europa-2020-Strategie ergebenden Investitionsprioritäten widerspiegelt, indem er auf die Chancen eingeht, die ein offenerer und zugänglicherer Arbeitsmarkt insbesondere den auf dem Arbeitsmarkt am schwierigsten zu vermittelnden Personen bietet (wie junge Menschen, Frauen, Migranten, Langzeitarbeitslose, ältere Menschen, Behinderte und Angehörige ethnischer Minderheiten u.a.). Die Globalzuschüsse sollten vermehrt dafür eingesetzt werden, kleinen Nichtregierungsorganisationen den Zugang zu den Fonds zu erleichtern.

2.10   Der ESF muss das Hauptinstrument für die Umsetzung der Ziele der Europa-2020-Strategie sein, insbesondere in den Bereichen Beschäftigung, Bildung, soziale Eingliederung und Armutsbekämpfung. Er muss die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der integrierten Leitlinien und nationalen Reformprogramme ergriffenen Maßnahmen unterstützen. Nach Ansicht des EWSA sollten die nationalen Reformprogramme u.a. Ziele für die soziale Eingliederung der schutzbedürftigsten Bevölkerungsgruppen enthalten, das heißt von jungen Menschen, Frauen, Migranten, Langzeitarbeitslosen, älteren Menschen und, Behinderten – um die nationalen Reformprogramme auf die Einhaltung der im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte der Menschen mit Behinderungen enthaltenen Verpflichtungen auszurichten – sowie von Angehörigen ethnischer Minderheiten. Die nationalen Reformprogramme sollten auch Ziele zur Erreichung des in der Europa-2020-Strategie festgelegten Kernziels, die Zahl der in Armut lebenden Menschen bis 2020 um 20 Millionen zu reduzieren, enthalten.

2.11   Der Europäische Sozialfonds sollte dazu verwendet werden, die Beteiligung der Öffentlichkeit, die Unterstützung der Zivilgesellschaft und das Bewusstsein für die gemeinsamen europäischen Werte zu fördern.

3.   Allgemeine Bemerkungen zum Vorschlag der künftigen ESF-Verordnung

3.1   Der Haushalt der EU muss aufgestockt werden, besonders in den Kapiteln zur Förderung von Wirtschaftswachstum, sozialem Zusammenhalt, Innovation (einschließlich sozialer Innovation) und nachhaltiger Entwicklung auf nationaler und regionaler Ebene.

3.2   Der EWSA ist in Kenntnis des Kommissionsvorschlags der Ansicht, dass das Gesamtvolumen des EU-Haushalts in jedem Fall geringer ausfallen wird, trotz der möglichen Einführung einer Finanztransaktionssteuer und der Mittelerhöhung für den Europäischen Sozialfonds.

3.3   Wie bereits im laufenden Programmplanungszeitraum erhielten die Regionen eine ihrem wirtschaftlichen Entwicklungsgrad entsprechende Unterstützung. Dieser Entwicklungsgrad darf jedoch nicht allein nach dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf bemessen werden. Auch andere Kriterien müssen herangezogen werden, wie z.B. Arbeitslosenquoten, Beschäftigungs- und Erwerbsquoten, Qualifizierungsgrade, Armutsquoten, das Niveau an Wohlstand und sozialer Eingliederung sowie die Schulabbrecherquoten.

3.4   Der Einführung einer neuen Kategorie von "Übergangsregionen" mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-BIP von 75-90 % kann der EWSA zustimmen, sofern sie nicht die Höhe der Mittelzuwendungen für die Kategorie der schwächsten Regionen untergräbt. Angesichts ihrer Schutzbedürftigkeit müssen Beschäftigungsmaßnahmen für die auf dem Arbeitsmarkt am schwierigsten zu vermittelnden Personen (Langzeitarbeitslose, junge Menschen, Frauen, Migranten, ältere Menschen, Behinderte und Angehörige ethnischer Minderheiten) unabhängig von der Kategorie einer Region finanziert werden können.

3.5   Die Strukturfonds sind die Hauptinstrumente, um die Kluft im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen, den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete und die Kluft zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu verringern, und zwar im Rahmen einer Strategie, die auf ein sogenanntes "intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum" in den Mitgliedstaaten, Regionen und Gebieten abzielt.

3.6   Es versteht sich von selbst, dass angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise die Europäische Beschäftigungsstrategie wieder ins Zentrum der EU-Prioritäten rücken muss und mehr Mittel für die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen zur Verfügung gestellt werden müssen.

3.7   Nach Auffassung des EWSA ist der Europäische Sozialfonds das Mittel der Wahl, mit dem die Umsetzung der EU-Sozialpolitik unterstützt werden kann, insbesondere in den Bereichen Beschäftigung, Bildung sowie soziale Eingliederung und Armutsbekämpfung; diese vorrangige Rolle sollte er auch im Rahmen der Europa-2020-Strategie behalten.

3.8   Der ESF darf nicht auf die Umsetzung der aktuellen Beschäftigungsleitlinien beschränkt werden. Die Rolle des ESF bei der Umsetzung der sozialen Agenda (4) muss ebenfalls verstärkt werden.

3.9   Der ESF sollte gleichzeitig die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der nationalen Reformpläne verfolgten politischen Maßnahmen unterstützen und dazu beitragen, andere vorrangige Ziele der Europa-2020-Strategie zu erreichen, wie etwa verstärkte Investitionen in Forschung und Innovation, die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen, der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft und die nachhaltige Nutzung von Ressourcen.

3.10   Im aktuellen Ausnahmezustand muss der ESF auch ausnahmsweise auf die Bewältigung der Wirtschaftskrise ausgerichtet werden und die am schlechtesten gestellten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Bürgerinnen und Bürger vor den Auswirkungen schützen. Nach Überwindung der Krise sollte er für Präventivmaßnahmen, unter anderem für die menschliche Sicherheit bzw. die Fähigkeit des Menschen, ein Gefühl der Sicherheit aufrechtzuerhalten bzw. aufzubauen (securitability), verwendet werden. Konkret muss er – hoffentlich übergangsweise – Unterstützung leisten für Langzeitarbeitslose, auf dem Arbeitsmarkt am schwierigsten zu vermittelnde Personen, junge Menschen, Frauen, Migranten, ältere Menschen, Behinderte und Angehörige ethnischer Minderheiten u.a..

3.11   Um dies zu erreichen, muss der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung nach Dafürhalten des EWSA den Europäischen Sozialfonds ergänzen und unter Umständen schließlich in ihm aufgehen, um das Hauptaugenmerk besser auf die Arbeitslosigkeit richten und seine Inanspruchnahme vereinfachen zu können. Ferner sollte unbedingt gewährleistet werden, dass die Grundprinzipien der beiden Fonds auch miteinander in Einklang stehen, vor allem in Bezug auf die Partnerschaft und insbesondere die Mitwirkung der Sozialpartner.

3.12   Der EWSA schlägt vor, aus Gründen der Komplementarität und der Kohäsion den Fonds für die Anpassung an die Globalisierung mit dem Fachwissen des Europäischen Sozialfonds in sozialen Belangen zu vereinen. Da der ESF über den Sachverstand für eine recht rasche Prüfung der Anträge verfügt, würde die Zustimmung der Haushaltsbehörden auf Grundlage der positiven Einschätzung des ESF so zu einer Formalität.

3.13   Der EWSA spricht sich gegen die Einbeziehung von Landwirten in den Kompetenzbereich des Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung aus, indem entweder der Kernbereich des Fonds oder gar seine Verwaltung dem Agrarsektor übertragen wird. Die GAP und die "neue Krisenreserve" in der Landwirtschaft müssen eine wirksamere Unterstützung der Agrarindustrie ermöglichen. Nach Ansicht des EWSA sollte auch gewährleistet sein, dass die ESF-Mittel zur technischen Hilfe weiterhin für die Zivilgesellschaft verfügbar und zugänglich sind (die technische Hilfe ist in der ESF-Verordnung nicht ausdrücklich genannt).

3.14   Nach Ansicht des EWSA muss das Partnerschaftsprinzip eine wesentliche Rolle spielen um sicherzustellen, dass die mit den EU-Strukturfonds einhergehenden Maßnahmen richtig funktionieren. Die Strukturfondsverordnungen müssen das Partnerschaftsprinzip eindeutig definieren, statt sich schlicht auf "aktuelle nationale Regelungen und Praktiken" zu beziehen, und sie müssen die Aufgaben der einzelnen Partner auf regionaler und lokaler Ebene klar festlegen. Der EWSA empfiehlt, die (auch in der Europa-2020-Strategie hervorgehobene) Rolle der Zivilgesellschaft bei der Umsetzung von Projekten zur sozialen Integration und zur Armutsbekämpfung ausdrücklich anzuerkennen.

4.   Besondere Bemerkungen und Vorschläge zu den einzelnen Kapiteln

4.1   Allgemeine Bestimmungen

4.1.1

Der EWSA begrüßt den themenspezifischen Ansatz, bei dem sich vier "thematische Ziele" in Interventionskategorien oder Investitionsprioritäten niederschlagen:

Förderung der Beschäftigung und Unterstützung der Mobilität der Arbeitskräfte

Investitionen in Bildung, Kompetenzen und lebenslanges Lernen

Förderung der sozialen Eingliederung und Bekämpfung der Armut

Verbesserung der institutionellen Kapazitäten und Förderung einer effizienten öffentlichen Verwaltung

4.1.2

Mindestens 40 % der insgesamt in jedem Mitgliedstaat zur Verfügung stehenden ESF-Mittel müssen für das thematische Ziel "Förderung der Beschäftigung und Unterstützung der Mobilität der Arbeitskräfte" bereitgestellt werden. Der EWSA unterstützt den Vorschlag, mindestens 20 % der gesamten ESF-Mittel für das thematische Ziel "Förderung der sozialen Eingliederung und Bekämpfung der Armut" bereitzustellen, um die soziale Eingliederung durch Beschäftigung und berufliche Bildung zu fördern, insbesondere in Bezug auf die schutzbedürftigsten Gruppen wie junge Menschen, Frauen, Migranten, ältere Menschen, Behinderte und Angehörige ethnischer Minderheiten u.a.; dies gilt besonders im Hinblick auf das Ziel, die Zahl der Menschen, die in Armut leben, bis zum Jahr 2020 um mindestens 20 Millionen zu verringern.

4.1.3

Im Rahmen der Europa-2020-Strategie ist die Förderung von Beschäftigung, sozialer Eingliederung und Bildung ein vorrangiges Ziel des ESF und soll es auch bleiben.

4.1.4

Der ESF muss die territorialen Beschäftigungspakte und die lokalen Initiativen für Beschäftigung, soziale Eingliederung und Bildung sowie die Marktstimulation durch neue Unternehmensgründungen, vor allem von KMU und Unternehmen der Sozialwirtschaft, sowie insbesondere durch Förderung der digitalen Integration, der Kultur und Kreativität als Faktoren einer erhöhten Beschäftigungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger unterstützen. Darüber hinaus sollte er dazu verwendet werden, die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Entscheidungsfindung, die Unterstützung der Zivilgesellschaft und das Bewusstsein für die gemeinsamen europäischen Werte zu fördern.

4.1.5

Der EWSA befürwortet den Schwerpunkt der sozialen Innovation und die Fördermöglichkeiten für Projekte im Bereich der Sozialwirtschaft, des sozialen Unternehmertums und der Sozialunternehmen.

4.1.6

Der EWSA begrüßt die Unterstützung transnationaler Zusammenarbeit durch den ESF als Mittel zur Förderung des Lernens voneinander und so zur Steigerung der Wirksamkeit der durch den ESF unterstützten Politiken.

4.2   Besondere Bestimmungen für die Programmplanung und Umsetzung – Das Partnerschaftsprinzip

4.2.1

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass das Partnerschaftsprinzip eine wesentliche Rolle spielen muss, um sicherzustellen, dass die mit den EU-Strukturfonds einhergehenden Maßnahmen richtig funktionieren.

4.2.2

Die Strukturfondsverordnungen müssen das Partnerschaftsprinzip eindeutig definieren, statt sich schlicht auf "aktuelle nationale Regelungen und Praktiken" zu beziehen, und sie müssen die Aufgaben der einzelnen Partner auf regionaler und lokaler Ebene klar festlegen. Dazu muss für eine ausreichende Finanzierung Sorge getragen werden.

4.2.3

Der "europäische Verhaltenskodex für die Umsetzung des Partnerschaftsprinzips" muss die Rolle der einzelnen Partner auf den verschiedenen Ebenen klären und festlegen und ebenso klarstellen, dass – wenngleich ausschließlich die Sozialpartner für den sozialen Dialog zuständig sind – allen gemäß Artikel 5 des Vorschlags für eine Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen über die Fonds (5) anerkannten Partnern der Zugang zu den verschiedenen Umsetzungsphasen der Fonds gewährt werden muss, einschließlich Ausarbeitung und Umsetzung der operationellen Programme; für die angemessene Finanzierung zur Sicherstellung ihrer Teilnahme muss gesorgt werden.

4.2.4

Die Partner müssen von Anfang an Zugang zu Mitteln für die technische Hilfe haben, damit sie an der Konzipierung, Implementierung und Überwachung der Strukturfondsprogramme strategisch beteiligt sind. Die technische Hilfe ist auch wichtig, um die Vertretung in den Begleitausschüssen, welche die operationellen Programme auf allen Ebenen festlegen und umsetzen, zu gewährleisten und sicherzustellen, dass potenziellen Projektentwicklern technische Unterstützung zur Verfügung steht.

4.2.5

Die gegenwärtige Praxis der Konsultation, bei der die Sozialpartner zusammen mit den Mitgliedstaaten im ESF-Ausschuss angehört werden, könnte als vorbildliches Verfahren auf alle Fonds ausgeweitet werden. Der EWSA empfiehlt, in dieselbe Plattform Mechanismen für die Mitwirkung aller Partner aufzunehmen, die gemäß Artikel 5 der Verordnung mit allgemeinen Bestimmungen über die Fonds anerkannt sind.

4.2.6

Die Unterstützung der Einbeziehung der Sozialpartner und anderer Beteiligter, vor allem von Nichtregierungsorganisationen, an den durch den ESF geförderten Maßnahmen darf nicht auf die ärmsten Regionen bzw. die durch den Kohäsionsfonds geförderten Regionen, beschränkt werden, sondern muss vielmehr auf alle Mitgliedstaaten und Regionen der EU ausgedehnt werden.

4.2.7

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass 2 % aller ESF-Mittel für die Unterstützung der Einbeziehung der Sozialpartner zur Verfügung gestellt werden sollen und weitere 2 % für die Beteiligung anderer Partner, die gemäß Artikel 5 der Verordnung mit allgemeinen Bestimmungen über aus dem ESF geförderte Maßnahmen anerkannt sind.

4.3   Besondere Bestimmungen für Verfahren, Leistungen und "Konditionalitäten"

4.3.1

Der EWSA teilt die Ansicht, dass die Fonds besser aufeinander abgestimmt und ihre Evaluierung, ihre Leistung und ihre Endergebnisse verbessert werden sollten.

4.3.2

Der EWSA befürwortet alle Maßnahmen mit dem Ziel, die Prioritäten der Strukturfonds zu begrenzen und auf ihren Ursprungszweck zurückzuführen, die bürokratischen Auflagen und Kosten zu verringern und die Ausgaben und Zahlungen zu beschleunigen.

4.3.3

Es müssen also Leistungsindikatoren festgelegt werden, aber es sind auch quantitative und qualitative Kriterien vonnöten. Dies beinhaltet die Evaluierung der Ergebnisse unter den Gesichtspunkten der Wirksamkeit der ergriffenen Maßnahmen, der Qualität der geschaffenen Arbeitsplätze sowie eines Verzeichnisses aller zur Gewährleistung sozialer Eingliederung umgesetzter positiver Maßnahmen.

4.3.4

Der EWSA hat jedoch starke Vorbehalte gegen die geplante durchweg ergebnisgebundene Zuweisung der Mittel. Im Bereich der Beschäftigungspolitik und allgemein der Sozialpolitik lassen sich die Ergebnisse schwieriger bemessen und sind weniger deutlich sichtbar als beispielsweise in der Verkehrspolitik. Dies gilt insbesondere, wenn sie ausschließlich auf rein wirtschaftliche (‧harte‧) Resultate wie Arbeitsplätze reduziert werden; stattdessen sollten eher angemessene Ergebnisse für die am schwierigsten zu helfenden Gruppen, z.B. eine zurückgelegte Wegstrecke, und ‧weiche‧ Ergebnisse, wie z.B. eine Freiwilligentätigkeit, angeregt werden. Zudem bedeutet eine ergebnisgebundene Mittelzuweisung, dass die auf dem Arbeitsmarkt am schwierigsten zu vermittelnden Personen – die also kurzfristig am wenigsten "positive" Ergebnisse erzielen können – Gefahr laufen, nur einen eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu den Fonds zu erhalten. Daher, und auch um die Ergebnisse bewerten zu können, die mit den durch den ESF kofinanzierten Programmen erzielt werden, muss die ESF-Verordnung unbedingt angemessene "Gemeinsame Output- und Ergebnisindikatoren für die Teilnehmer" vorschlagen, um diese Schwierigkeiten und die Komplexität der Leistung zu berücksichtigen.

4.3.5

Die ESF-Verordnung muss in den "gemeinsamen Outputindikatoren betreffend die Einrichtungen" die Anzahl der partnerschaftlich entwickelten Projekte aufnehmen und in den "gemeinsamen Indikatoren für längerfristige Ergebnisse betreffend die Teilnehmer" die Teilnehmer, die ihr Maß an sozialer Abhängigkeit verringert haben.

4.3.6

Die Bedingungen für die Verwendung von EU-Mitteln sollten sicherlich auf ausgewählte und wirksame Ziele abstellen, aber nicht den schwächsten Mitgliedstaat benachteiligen, und sie sollten auf die Förderung von Wirtschaftswachstum, auf mehr Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt abzielen.

4.3.7

Der EWSA lehnt den Vorschlag der Kommission zur Anwendung von mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt verknüpften finanziellen Sanktionen und Anreizen bei den Strukturfonds energisch ab. Diese Sanktionen würden nur die ohnehin geschwächten Mitgliedstaaten, Regionen und Gemeinden benachteiligen.

4.3.8

Darüber hinaus würde die europäische Solidarität, die ohnehin noch nicht weit genug geht, durch die Nichteinhaltung der gesamtwirtschaftlichen Verpflichtungen bedroht. Dies würde sich in einer Verarmung der schutzbedürftigsten Völker und Bevölkerungsgruppen der Europäischen Union auswirken, was den Grundprinzipien der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie der im Vertrag von Lissabon erneut bekräftigten Kohäsionspolitik widerspricht.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  3114. Tagung des Rates Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz am 3. Oktober 2011 in Luxemburg, Punkt 12.

(2)  COM(2011) 615 final.

(3)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 8.

(4)  "Eine erneuerte Sozialagenda: Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität im Europa des 21. Jahrhunderts" (COM(2008) 412 final).

(5)  COM(2011) 615 final.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/88


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Programm der Europäischen Union für sozialen Wandel und soziale Innovation“

COM(2011) 609 final — 2011/0270 (COD)

2012/C 143/17

Hauptberichterstatterin: Laure BATUT

Das Europäische Parlament beschloss am 25. Oktober 2011 und der Rat beschloss am 16. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Programm der Europäischen Union für sozialen Wandel und soziale Innovation"

COM(2011) 609 final – 2011/0270 (COD).

Am 25. Oktober 2011 beauftragte das Präsidium die Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft mit den Vorarbeiten des Ausschusses (Hauptberichterstatterin: Laure BATUT).

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten beschloss der Ausschuss auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 23. Februar), Laure BATUT zur Hauptberichterstatterin zu bestellen, und verabschiedete mit 168 gegen 2 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen des EWSA

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hat sich bereits mit dem Konzept der sozialen Innovation beschäftigt und dabei auf die unscharfen Bereiche dieses Begriffs und die damit verbundenen Unwägbarkeiten hingewiesen (1). Er hat aber auch bereits die Vorzüge der Innovation am Arbeitsplatz anerkannt (2). In Übrigen sind zahlreiche Akteure Tag für Tag mit "sozialer Innovation" beschäftigt, ohne dies selbst zu wissen, indem sie einfach nur ihre Arbeit gut verrichten.

1.2   Der EWSA fordert die Kommission auf, die Ziele im Bereich der "sozialen Innovation" und des "sozialen Wandels" in ihrem Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation (3) zu definieren. Diese Konzepte befinden sich in der Erprobung und sollten weder die nationalen sozialen Sicherungssysteme noch die Arbeitsrechtsgesetzgebung ersetzen. Die Integration der Bevölkerung in den Arbeitsmarkt ist möglicherweise vorteilhaft für die Wettbewerbsfähigkeit, der EWSA ist jedoch der Ansicht, dass die Krise nicht als Vorwand für systemische Änderungen genommen werden darf, durch die die Ausnahme zur Regel würde.

1.3   Der EWSA fordert die Aufnahme schriftlicher Klauseln in das untersuchte Programm, um sicherzustellen, dass die Aktivitäten im Bereich der sozialen Innovation Ergänzungen sein werden, die nicht in Konkurrenz zu den sozialen Rechten und den sozialen Sicherungssystemen der Mitgliedstaaten und auch nicht zu der Rechtssicherheit stehen, die diese ihren Angehörigen bieten.

1.4   Der EWSA empfiehlt der Kommission, ihr Vorhaben auf das Ziel einer Angleichung der sozialen Rechte in den Mitgliedstaaten auf dem Wege des Fortschritts (4) zu stützen, um die Unterschiede untereinander auszugleichen und dadurch die Mobilität zu erleichtern.

1.5   Zudem empfiehlt er der Kommission, die zu erwartenden Auswirkungen der in den drei Unterprogrammen Progress, EURES und Mikrofinanzierung erwähnten Synergien sowie die Verzahnung mit den EU-Fonds (insbesondere mit dem ESF und dem EuFSU) (5) zu erläutern und die Vereinbarkeit ihrer jeweiligen Durchführungsbestimmungen darzulegen, bei denen nicht immer eine vollständige Transparenz gegeben ist.

1.6   Der EWSA fordert eine Verankerung der Rolle der Sozialpartner und der Nichtregierungsorganisationen in den drei Unterprogrammen des Programms für sozialen Wandel und soziale Innovation.

1.7   Der EWSA fordert zudem die Aufnahme einer Flexibilitätsklausel in das Programm, damit es nach einer Halbzeitüberprüfung angepasst werden kann. Dabei würde 2017 eine vorläufige Bilanz der Entwicklungen im Sozialbereich gezogen, die dem Parlament übermittelt und den beratenden Ausschüssen und deren repräsentativen Organisationen zur Stellungnahme vorgelegt würde.

1.8   Nach Auffassung des EWSA sollte die Bezeichnung des Programms bei Beibehaltung der drei Unterprogramme in "Programm für die Begleitung des sozialen Fortschritts, der Mobilität und der Integration" geändert werden.

1.9   In Bezug auf das Unterprogramm "Progress" sind nach Ansicht des EWSA folgende Maßnahmen erforderlich:

Erfassung der Art der dank Progress geschaffenen Arbeitsplätze;

Bekanntmachung der Erfolge und Sichtbarmachung der positiven Ergebnisse, wobei diese mittels Online-Zusammenstellung öffentlich zugänglich gemacht und ein Austausch darüber ermöglicht werden sollte;

Definition des Begriffs "Erprobung" und dessen Anwendungsbereichs sowie der Akteure, Maßnahmen und des Kreises der Begünstigten;

Beibehaltung der Förderfähigkeit von Projekten zur Sicherstellung der Geschlechtergleichstellung und/oder der Einhaltung des Diskriminierungsverbots;

Verzicht auf die überwiegende Ausrichtung von Progress auf administrative Analyse- und Erfassungsaufgaben zugunsten eines größeren praktischen Nutzens;

Vereinfachung der Dokumente und Kontrollverfahren;

Präzisierung der Rolle sozialer Unternehmen im Bereich der Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse;

Erläuterung der Synergien zwischen dem Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation, dem EuFSU und dem ESF sowie Differenzierung der anzuwendenden Durchführungsbestimmungen in Abhängigkeit davon, wie stark Sozialunternehmen jeweils soziale Zielsetzungen verfolgen.

1.10   In Bezug auf EURES empfiehlt der EWSA folgendes:

Bewahrung des ursprünglichen Geistes von EURES mit dessen regionalen Zuständigkeiten und der Einbindung der Sozialpartner;

Bekräftigung des Grundsatzes, dass das Angebot menschenwürdiger Beschäftigungsverhältnisse Vorrang vor dem Angebot von Mikrokrediten und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen haben muss;

Bestätigung des Ziels, die Mobilität zu fördern und sogleich gegen Sozialdumping vorzugehen;

Ankündigung der Änderung der Rechtsgrundlage einschließlich Öffnung für private Vermittlerdienste (6) und Klärung der Auswirkungen auf den ESF und die Mittelzuweisung;

Klärung der doppelten Finanzierung von EURES (Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation und ESF) und der Auswirkungen der Überlappungen in Bezug auf den Haushalt und die Kontrollverfahren;

Definition der gezielten Mobilität und Erfassung der Arten von Verträgen, die dank EURES abgeschlossen werden, wobei die neue Rolle der Kommission als Zentralstelle im Hinblick auf eine Erörterung erwähnt werden sollte;

Anerkennung der Notwendigkeit der Übertragbarkeit aller sozialen Rechte und der Systeme zur Anerkennung von Befähigungsnachweisen;

Ergänzung um Maßnahmen zur Förderung der digitalen Integration.

1.11   In Bezug auf das Unterprogramm "Mikrofinanzierung und soziales Unternehmertum" empfiehlt der EWSA folgendes:

Wahrung des Subsidiaritätsprinzips

Möglichkeit eines Aufteilungsschlüssel für die einzelnen Mitgliedstaaten;

Erarbeitung gestaffelter Hilfen für einen präziser definierten Kreis Begünstigter (Größe der förderfähigen Sozialunternehmen);

Bekanntmachung des Projekts, um Bürger, die sich um eine Förderung bewerben könnten, vor unreglementierten und skrupellosen Mikrofinanzierungen zu schützen, sowie Bereitstellung von Informationen zur Mikrofinanzierung in allen EU-Amtssprachen auf der Startseite der einschlägigen Internetportale;

explizitere Formulierung der Rolle des EIF und der EIB sowie deren Hebelwirkung;

Festlegung von Regeln für die Kreditgeber, damit diese ihrer Verantwortung voll nachkommen.

2.   Hintergrund

2.1   Die Europa-2020-Strategie umfasst auch eine Strategie für eine Sozialagenda für das Europa des 21. Jahrhunderts. Der Vorschlag für das Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation fügt sich in diesen Rahmen ein. Nach Angaben des Ausschusses für Sozialschutz ist jeder fünfte Europäer von Armut und Ausgrenzung bedroht, wobei sich diese ohnehin schon negative Bilanz durch die sozialen Auswirkungen der Krise weiter zu verschlechtern droht. Die Maßnahmen der EU und der Mitgliedstaaten zielen darauf ab, bis 2020 mindestens 20 Mio. Menschen aus der Armut zu befreien; erreicht werden sollen diese Ziele in den Bereichen Beschäftigung und soziale Eingliederung vor allem mit Hilfe von Instrumenten wie ESF, Progress, ELER (7), EFRE und Mikrofinanzierung.

2.2   Allgemeine Ziele des Programms

2.2.1   Die Kommission schlägt vor, drei bestehende Programme (Progress, europäisches Mikrofinanzierungsinstrument und EURES) zusammenzuführen, um angesichts der derzeitigen Staatsschuldenkrise die Vergabe von Fördermitteln wirksamer zu gestalten und deren Verwendung besser zu kontrollieren.

2.3   Die Achsen des neuen Programms

2.3.1   Im Programm Progress für Beschäftigung und soziale Solidarität aus dem Jahre 2006 wurde im Hinblick auf die Vergleichbarkeit zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten die Schaffung von Anzeigern für die soziale Lage in Europa empfohlen.

2.3.1.1

Im Zeitraum 2014-2020 soll Progress zur Förderung von Beschäftigung, zur Erfassung vergleichbarer Daten und zur Nutzung der bisherigen Erfahrungen beitragen, wobei mittels ergebnisorientiertem Ansatz und unter Einsatz von Haushaltsmitteln in Höhe von 575 Mio. EUR bzw. 82,1 Mio. EUR jährlich die Kapazität der Netze der europäischen Zivilgesellschaft zur Umsetzung der sozialpolitischen Ziele der EU gestärkt werden soll. 17% der Mittel sind dabei für die soziale Erprobung bestimmt.

2.3.2   Im Rahmen von EURES sind die Europäische Kommission und die öffentlichen Arbeitsverwaltungen auf europäischer Ebene miteinander vernetzt. Das Netz, das auf langjährigen Kontakten der Gewerkschaften und später der Sozialpartner fußt, erleichtert die Mobilität der Arbeitnehmer in Grenzgebieten. Seit 2002 werden damit drei Ziele verfolgt: Aufbau eines europäischen Mobilitätsportals, Schaffung grenzübergreifender Partnerschaften zwischen den öffentlichen Arbeitsverwaltungen und den Sozialpartnern sowie Aktionspläne in den Mitgliedstaaten im Hinblick auf den Abgleich von Stellenangeboten und Stellengesuchen (20 Mio. EUR). EURES wird auf die gesamte EU ausgeweitet, und die Mitgliedstaaten verwenden 70% der Gesamtmittel für die "Aktionspläne".

2.3.2.1

Für den Zeitraum 2014-2020 bestehen die Ziele darin, im Rahmen des Programms für sozialen Wandel und soziale Innovation mit Finanzmitteln in Höhe von 143 Mio. EUR (20,5 Mio. EUR jährlich) unionsweit die Mobilität insbesondere der jungen Menschen sicherzustellen und auf europäischer Ebene Statistiken und Informationen zu verwalten, eine jährliche Bilanz einschließlich eines Austauschs aufzustellen, das Portal mittels Mehrsprachigkeit zu verbessern, in naher Zukunft private Arbeitsvermittler einzubinden und die Durchführung des Programms der aus den Mitteln des ESF geförderten nationalen Aktivitäten zu gewährleisten.

2.3.3   Mit Hilfe des Mikrofinanzierungsinstruments für Beschäftigung und soziale Eingliederung (2010) soll der Zugang zu Mikrokrediten für jene Menschen verbessert werden, die Schwierigkeiten haben, eine Beschäftigung zu finden oder einen Kredit zu erhalten. Auch Selbständige und soziale Kleinstunternehmen können gefördert werden. Programmverwalter ist der Europäische Investitionsfonds. Auf diese Weise können sich die kreditvergebenden Finanzinstitutionen auf den EIF und die EIB als Bürgen für das Risiko eventueller Ausfälle stützen und mehr Finanzmittel einbringen. In den 27 EU-Mitgliedstaaten wurden im Zeitraum von drei Jahren (2010-2013) 200 Mio. EUR aufgebracht.

2.3.3.1

Auch im Zeitraum 2014-2020 sollen der Zugang zu Mikrofinanzierung und das soziale Unternehmertum mittels garantierter Kredite von bis zu 25 000 EUR durch Bereitstellung von Finanzmitteln in Höhe von 191,6 Mio. EUR auf sieben Jahre (27 Mio. EUR jährlich) gefördert werden.

2.4   Hauptelemente des Vorschlags

2.4.1   Die Mittelausstattung für das neue Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation beläuft sich auf 958 Mio. EUR, das sind nur 10% mehr als im Jahr 2007. Als Teil der Strategie Europa 2020 beruht das Programm auf den gleichen Grundsätzen: Partnerschaft, Abstimmung, Ex-ante-Auflagengebundenheit, gesundes Haushaltsumfeld, Stärkung der Zusammenarbeit und des territorialen Zusammenhalts sowie weitere Vereinfachung.

2.4.2   In diesem Zusammenhang schlägt die Kommission, die auf lange Sicht vor allem die Struktur der sozialen Sicherungssysteme in der EU durch die Förderung der "Modernisierung" der Sozialpolitiken der Mitgliedstaaten (8) zu verändern beabsichtigt, folgendes vor:

Schaffung von Synergien zwischen den drei Programmen untereinander sowie mit dem Europäischen Sozialfonds;

Erarbeitung einheitlicher Verfahren zur Information, Kommunikation, Verbreitung, Verwaltung und Bewertung sowie

Verlagerung des Schwerpunkts auf größere Projekte mit erheblichem europäischen Mehrwert.

2.4.3   Das Programm hat fünf Ziele:

Stärkung des Gefühls der Verantwortung für die Ziele der Union in den Bereichen Beschäftigung, Soziales und Ausgrenzung;

Förderung der verantwortungsvollen Regierungsführung, des gegenseitigen Lernens und der sozialen Innovation;

Modernisierung und Anwendung des EU-Rechts;

Förderung der geografischen Mobilität und

Verbesserung des Zugangs zu Mikrofinanzierungen.

3.   Allgemeine Bemerkungen des EWSA

3.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss erachtet den Vorschlag bezüglich der Rationalisierung der Unterstützungsmaßnahmen der EU für Arbeitssuchende für interessant und räumt ein, dass es keine leichte Aufgabe ist, ein Programm für sieben Jahre aufzustellen, wenn das vorherige noch zwei Jahre Laufzeit hat.

3.2   Er bedauert, dass das Ziel einer Angleichung der sozialen Rechte in den Mitgliedstaaten auf dem Wege des Fortschritts, mit Hilfe derer die Unterschiede untereinander aufgehoben und somit die Mobilität erleichtert werden sollen, nicht als allgemeines Ziel (9) angeführt wird.

3.3   Der EWSA weist darauf hin, dass die Sozial- und die Kohäsionspolitik geteilte Zuständigkeiten der EU (10) sind. Die EU ist bei allen ihren Handlungen gehalten, dies ebenso zu respektieren wie die allgemein anzuwendenden Bestimmungen von Art. 9 AEUV (11) sowie jene der Artikel 8 und 10.

3.4   In diesem Zusammenhang wünscht der EWSA, dass die beiden wichtigen Fragen der Gleichheit und der Bekämpfung von Diskriminierung, die bislang immer Teil sozialpolitischer Maßnahmen waren und dann der Generaldirektion Justiz übertragen wurden, weiterhin förderfähig im Sinne von Progress sind, denn Diskriminierung nimmt häufig die Form ungleicher Bezahlung bzw. sozialer Ungleichheit an. Diese Fragen werden in dem Erwägungsgrund 10 und in den Artikeln 7 und 8 des Vorschlags für eine Verordnung über den ESF (12) aufgegriffen und die Frage der Gleichheit steht nach wie vor im Sozialkapitel des Vertrags.

3.5   Zudem findet es der EWSA bedauerlich, dass die von der Verknüpfung der drei Unterprogramme Progress, EURES und Mikrofinanzierung erwarteten Synergien in dem Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation nicht herausgestrichen werden. Ebenso hätte der Rolle der Regionen Rechnung getragen werden können. Auch die Möglichkeiten zur Erzielung von Synergien mit anderen EU-Programmen in den Bereichen Bildung und Förderung der Beschäftigung junger Menschen sowie mit der wichtigen Initiative für junge Menschen "Dein erster EURES-Arbeitsplatz" werden nicht ausgelotet.

3.6   Der EWSA ist der Auffassung, dass die tatsächlich vergebenen Mittel, die Ausschöpfungsrate und die in der Praxis bei den Projekten auftretenden Schwierigkeiten (siehe Mikrofinanzierung und Schaffung von Arbeitsplätzen) einer Bewertung unterzogen werden müssen, damit daraus Schlüsse für das neue Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation gezogen werden können; außerdem legt die Kommission nicht dar, wie der erhebliche europäische Mehrwert ermittelt werden wird, der ein Kriterium für die Förderfähigkeit neuer Projekte sein soll. Die Ausgangsbasis für die Festlegung der Zielsetzungen durch die Kommission ist somit unklar, und zwar umso mehr, als die Bewertung des Vorläuferprogramms noch aussteht, und auch die Bewertung des Mehrwerts des neuen Programms ist mehr als subjektiv.

3.7   Nach einem Vergleich mit dem Vorschlag für eine Verordnung über den ESF, ist der EWSA der Auffassung, dass Platz und Rolle der Sozialpartner in den drei Unterprogrammen des Programms hätten erwähnt werden sollen – im Wortlaut der ESF-Verordnung wird ihnen eine "entscheidende Rolle in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und soziale Eingliederung" (13) eingeräumt.

3.8   Der EWSA ist ebenso der Ansicht, dass die Rolle der Nichtregierungsorganisationen in dem Programm, das teilweise aus ESF-Mitteln finanziert wird, hätte erwähnt werden müssen. So wird im Entwurf einer Verordnung über den ESF im Erwägungsgrund 9 (14) ausgeführt: "Für eine effiziente und wirksame Umsetzung der aus dem ESF unterstützten Maßnahmen bedarf es einer verantwortungsvollen Verwaltung und einer guten Partnerschaft zwischen allen relevanten territorialen und sozioökonomischen Akteuren, insbesondere den Sozialpartnern und Nichtregierungsorganisationen."

3.9   Die Organisationen der Zivilgesellschaft werden im Programm zur Mitarbeit aufgefordert (15), und ihr Platz sollte nach Ansicht des EWSA bestätigt werden. Sie könnten dann eine Rolle bei der Umsetzung der Maßnahmen spielen.

3.10   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission der digitalen Integration (16) in den geplanten Maßnahmen mehr Augenmerk schenken sollte, da die neuen IK-Technologien ein bereichsübergreifender Hebel für Integration und Beschäftigung sind.

4.   Zur Methodik

4.1   Der EWSA stellt fest, dass der Titel des Vorschlags "Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation" lautet und das Ziel darin besteht, drei bestehende EU-Programme ohne Innovationen fortzuführen. Die Kommission schlägt die drei Unterprogramme auf die Bereiche sozialer Wandel und soziale Innovation durch soziale Erprobung auszurichten, definiert aber weder in den Erwägungsgründen, noch im Text des Vorschlags und auch nicht in der Ex-ante-Bewertung, worin das eigentliche Ziel der "sozialen Innovation" besteht.

4.2   Bei den in verschiedenen Ländern durchgeführten wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema "soziale Innovation" wird von der Vorstellung ausgegangen, dass das Modell Produktion-Verbrauch am Ende sei, um zu dem Schluss zu gelangen, dass es an der Zeit sei, die sozialen Strukturen zu verändern, indem die Rollenaufteilung zwischen den einzelnen Kategorien von Akteuren und Interessengruppen aufgebrochen wird, was jedoch angesichts der Tatsache, dass es keine endgültige Definition des Begriffs "Innovation" gibt, zu Unwägbarkeiten hinsichtlich der Wahl des Governance-Modells in den Unternehmen (und nicht nur in den Sozialunternehmen) sowie hinsichtlich des Platzes der Arbeitnehmervertretungen und der Form des sozialen Dialogs (17) führen würde. Für diese Forscher würde der soziale Wandel auch die sozialen Sicherungssysteme betreffen. Das europäische "Sozialmodell" soll probeweise überarbeitet werden, ohne neue Rechtsbestimmungen zu erlassen. Mit dem Unterprogramm Progress (18) sollte eine "evidenzbasierte Politik""zusammen mit den Sozialpartnern, zivilgesellschaftlichen Organisationen und anderen interessierten Kreisen" gefördert werden.

4.3   In ihrem Vorschlag spricht sich die Europäische Kommission für die "soziale Erprobung" aus, ohne darzulegen, welche Art von Innovation und Wandel ihrer Auffassung nach angestrebt werden sollte. Dies ist ein soziologischer Ansatz, der die Bürgerinnen und Bürger täuschen könnte, da nicht absehbar ist, wohin die Reise letztlich gehen soll. Der EWSA ist der Ansicht, dass zuerst ergründet werden müsste, weshalb und inwiefern der Markt, die öffentlichen Dienste und die EU-Mittel den sozialen Bedürfnissen nicht gerecht werden konnten, warum der Reichtum nicht umverteilt wurde, um Menschen in Schwierigkeiten ihre Unabhängigkeit zu sichern, wie dies in der Grundrechtecharta verankert ist.

4.4   Der EWSA ist der Auffassung, dass in Erfahrung gebracht werden müsste, welchen gesellschaftlichen Wandel Innovation auf lange Sicht bringen soll, was jedoch mit einer Vorgehensweise von unten nach oben und mittels des darauf Bezug nehmenden gegenständlichen Verordnungsvorschlags nicht möglich sein wird.

4.5   Die Systeme der sozialen Sicherheit sind bei den Bürgerinnen und Bürgern für ihre Nachhaltigkeit bekannt und besitzen eine hohe Legitimität. Nach Auffassung des EWSA kann die "Erprobung und Umsetzung in größerem Maßstab von innovativen Lösungen, mit denen sozialen Bedürfnissen begegnet werden soll" (19) zu einer Abschwächung der großen Solidaritätsmaßnahmen, zu Klientelpolitik sowie zur Fragmentierung der sozialen Bewegung und ihrer Formen der Vertretung führen.

4.6   Das Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation müsste gewährleisten, dass die Aktivitäten im Bereich der sozialen Innovation in Ergänzung zu den sozialen Rechten (20) und den nationalen sozialen Sicherungssystemen stehen und nicht an deren Stelle treten sollen. Der EWSA unterstreicht, dass die soziale Innovation nicht an die Stelle der auf dem Recht fußenden Systeme treten oder die langfristige Sicherheit verdrängen darf, die diese Systeme den Menschen, auch den schwächsten unter ihnen, bieten.

4.7   Für die benachteiligten Bevölkerungsgruppen bestünde ein echter sozialer Wandel weniger in grundlegenden Sozialreformen, sondern vielmehr darin, dass sie Zugang zu Beschäftigung, Wohnraum und Verkehrsmitteln bekommen. Was die Menschen, die in der EU leben, vor allem brauchen, sind gute Arbeitsplätze. Erwähnt werden müsste in dem Programm auch die Frage des Wohnraums, da sie alle Akteure in den Bereichen Beschäftigung und Integration betrifft (21).

4.8   Der EWSA weist außerdem darauf hin, dass Art. 153 Abs. 4 des AEUV hinsichtlich sozialer Sicherung im engeren Sinne (22) den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, die Grundprinzipien ihres sozialen Sicherungssystems festzulegen sowie strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten bzw. zu beschließen, die selbstverständlich mit den Verträgen vereinbar sein müssen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1   Nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses wäre es zweckmäßig, in den Entwurf der Verordnung einen Verweis auf der Subsidiaritätsprinzip sowie eine Begriffsbestimmung für den erwarteten "hohen Mehrwert" aufzunehmen.

5.2   Zu Progress

5.2.1   Die Maßnahmen, Akteure und der Kreis der Begünstigten werden in dem Vorschlag nicht ausreichend definiert (23). Es wird nicht angegeben, ob bei der Analyse und insbesondere hinsichtlich der Festlegung der Palette sozialer Indikatoren (24) den Standpunkten der Sozialpartner (25) und der Nichtregierungsorganisationen Rechnung getragen wurde.

5.2.2   Das Programm Progress hat "schwer messbare" Ziele und nutzt "subjektive Variabeln", obwohl im Finanzbogen zu dem Vorschlag angegeben wird, dass die Durchführung ergebnisorientiert ist (26). Die Auswirkungen auf das Ziel "Beschäftigung" werden nicht erfasst; das Instrument erscheint kaum praxistauglich. Für den EWSA müssten anhand der bereits vorliegenden Daten Schlüsse aus den Projekten gezogen und eine Online-Zusammenstellung der positiven Ergebnisse geschaffen werden. Der AdR empfiehlt, vor einer Fortführung zu analysieren, welche Arbeitsplätze mit Hilfe der Förderungen geschaffen wurden. So könnte es die Kommission vermeiden, Empfehlungen für Strukturreformen auszusprechen, die auf einer unzuverlässigen Bewertung beruhen.

5.2.3   Das Ziel steht in keinem Verhältnis zu den eingesetzten Mitteln: Mit der angekündigten Mittelaufstockung der drei Unterprogramme für den Zeitraum 2014-2020 um 10% im Vergleich zu 2007 können keine neuen Maßnahmen erschlossen werden.

5.2.4   Zu großes Augenmerk wird in dem Vorschlag der Verwaltung gewidmet (27): Das Geld der Steuerzahler sollte direkt den Bürgerinnen und Bürgern zu gute kommen. Wichtig wäre zu wissen, wie hoch beispielsweise der Anteil der Mittel für die Bekämpfung der Armut sein wird.

5.2.5   Die Bewertung der geförderten Projekte kann wie bereits in der Vergangenheit durch die Hinzuziehung externer Prüfunternehmen Kosten verursachen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Dokumente und Verfahren vereinfacht und vereinheitlicht werden sollten.

5.2.6   In Bezug auf die Sozialunternehmen (28) wünscht der EWSA:

auf das Subsidiaritätsprinzip und die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten hinzuweisen;

eine Definition ihrer Rolle bei den Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse;

Synergien zwischen dem Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation und dem Vorschlag vom 7. Dezember 2011 für eine Verordnung über den "Europäischen Fonds für soziales Unternehmertum", der die Gründung von Sozialunternehmen fördern soll (Verleihung eines EuFSU-Siegels);

von der Bedeutung sozialer Ziele abhängige Governance-Regeln, die den Investoren auferlegt würden und die Rolle der Banken, gegebenenfalls einschließlich bindender Bestimmungen zur Kreditwürdigkeit;

eine Förderfähigkeit für die Selbständigen.

5.3   Zu EURES

5.3.1   EURES soll zu 15% aus dem Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation und größtenteils aus dem ESF finanziert werden. Die haushaltstechnische Überschneidung der beiden Programme macht die Sache für die Bürger nicht unbedingt transparenter: Die Mittel aus den Strukturfonds werden nach NUTS2 regional vergeben, die Mittel aus dem Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation hingegen nicht.

5.3.2   Die Aktivitäten auf nationaler und grenzübergreifender Ebene werden aus dem Europäischen Sozialfonds finanziert und Aktivitäten auf europäischer Ebene (29) aus dem Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation. Für den ESF-Teil kommen die Bestimmungen für die Beteiligung von Partnern zur Anwendung, dies gilt jedoch nicht für den Teil des Programms für sozialen Wandel und soziale Innovation.

5.3.3   Der EWSA bezweifelt die Sinnhaftigkeit der Zusammenführung derart unterschiedlicher Elemente unter einem einzigen Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation, da die Haushaltskontrolle dann schwieriger als bei der vorherigen Programmplanung ausfallen wird. Auch die Aufteilung der Finanzbeiträge zwischen ESF, Kommission und Mitgliedstaaten ist nicht klar geregelt. Dadurch kommt es zur Anwendung unterschiedlicher Vorschriften für die Ausschussverfahren und die Überwachung der Durchführungsrechtsakte der Kommission (30).

5.3.4   Der EWSA fragt sich, ob es für die Kommission sachdienlich ist, ein zentralisiertes System zu schaffen und die regionale Dynamik von EURES auszubremsen, obwohl diese seit langem existierende "soziale Innovation" durch ihre lange Laufzeit gezeigt hat, dass die Akteure vor Ort die besten Ergebnisse erzielen. 2007 wollte das Parlament sogar die Mittel dafür aufstocken (31). Der EWSA erinnert daran, dass die Mobilität nicht ein Ziel an sich ist, sondern nur eine Unterstützung im Falle der Notwendigkeit, eine Beschäftigung in einem anderen Land der EU suchen zu müssen.

5.3.5   Nach Auffassung des EWSA sollten in dem Vorschlag folgende Elemente Erwähnung finden:

der Grundsatz, dass das Angebot menschenwürdiger Beschäftigungsverhältnisse Vorrang vor dem Angebot von Mikrokrediten und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen haben muss;

die Bestätigung des Ziels, die Mobilität zu fördern und sogleich gegen Sozialdumping vorzugehen;

Arten der Arbeitsverträge, die mit Hilfe von EURES abgeschlossen wurden;

die Definition des Begriffs "gezielte Mobilität".

die angekündigte Änderung der Rechtsgrundlage von EURES (32);

die Notwendigkeit einer Übertragbarkeit der Rechte mobiler Bürgerinnen und Bürger sowie neuer Bestimmungen zur Anerkennung von Befähigungsnachweisen (33);

5.3.6   Nach Auffassung des EWSA ist es wichtig, die Rolle der Sozialpartner im Rahmen von EURES auch weiterhin klar festzulegen.

5.4   Zu Mikrofinanzierung und sozialem Unternehmertum

5.4.1   Der EWSA fordert, die Bürgerinnen und Bürger umfassend über das Internet (digitale Integration) über dieses Programm zu informieren, damit sie vor Mikrofinanzierungsangeboten zu Wucherzinsen aus der informellen Wirtschaft gefeit sind. Es sollte nicht vergessen werden, dass die in Artikel 22 des Vorschlags genannten Personen sozial schwache Menschen sind, und dass sie andere Hilfen als Mikrofinanzierungen und Unterstützung im Wettbewerb als Unternehmer benötigen. Diese können sich als Risiko und Falle für diese Personen erweisen und niemals eine abhängige Beschäftigung ersetzen.

5.4.2   Zudem ist der EWSA der Auffassung, dass ein Aufteilungsschlüssel für die einzelnen Mitgliedstaaten erwogen werden sollte.

5.4.3   Außerdem sollte nach Ansicht des EWSA die vom EIF und der EIB erwartete Hebelwirkung besser erläutert und der Kreis der Begünstigten klarer festgelegt werden. Tatsache ist, dass die Summe von 25 000 EUR für eine Person, die gerade ihren Arbeitsplatz verloren hat (Art. 22 Abs. 1 Buchst. a), für ein Sozialunternehmen mit Beschäftigten und Geldmitteln (Art. 22 Abs. 3) oder für einen Selbständigen und sein Kleinstunternehmen ganz unterschiedliche Auswirkungen haben wird, und die Sicherheiten von den Kreditgebern unterschiedlich bewertet werden. Folgende Punkte müssten daher geklärt werden:

Was an diesem Unterprogramm ist "sozial"?

Wer sind die Begünstigten (insbesondere die Größe der förderfähigen Sozialunternehmen)?

Was ist ein "soziales Kleinstunternehmen"?

Wie wird die bereitgestellte Hilfe umgesetzt und wie hoch ist die konkrete Deckung (100 %)?

Sollten eventuell Kriterien für eine Art von Staffelung der Unterstützungsleistungen festgelegt werden?

Wie kann die Ex-post-Bewertung vereinfacht werden, um die Bilanzierung zu erleichtern und die Kosten für die Kontrolle zu senken?

5.4.4   Seitens der Kreditgeber:

Es sollten für sie klarere Regeln aufgestellt werden, damit sie ihre Aufgabe erfüllen, ohne die Kreditnehmer mit zusätzlichen und versteckten Anforderungen zu belasten;

es sollten Bewertungsmaßnahmen zur raschen Erstellung einer Schlussbilanz vorgesehen werden.

5.4.5   Der EWSA wünscht, dass der Mehrwert dieser Maßnahmen größer ausfällt als die laut vorläufiger Bewertung mit dem vorherigen Programm erzielten Ergebnisse: 1,2 neue Arbeitsplätze pro vergebenem Mikrokredit (34).

Brüssel, den 23. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 77.

(2)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 22.

(3)  Programm für sozialen Wandel und soziale Innovation (PCIS), COM(2011) 609 final.

(4)  Artikel 151 AEUV.

(5)  Europäischer Sozialfonds und Europäischer Fonds für soziales Unternehmertum.

(6)  Arbeitsprogramm der Kommission für das Jahr 2012, COM(2011) 777 final.

(7)  Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums.

(8)  COM(2011) 609 final: Ziffer 1 der Erwägungsgründe und Artikel 4 Abs. 1 Buchst.c.

(9)  Art. 151 Abs. 1 AEUV.

(10)  Art. 4 Abs. 2 Buchst. b und c AEUV.

(11)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 24 vom 28.1.2012, Seite 29.

(12)  COM(2011) 607 final.

(13)  COM(2011) 607 final, Erwägungsgrund 5.

(14)  COM(2011) 607 final, Erwägungsgrund 9.

(15)  COM(2011) 609 final, Erwägungsgrund 9.

(16)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9.

(17)  Social innovation Review, Standford Graduate School of Business, Herbst 2008, J.A. Phills, K. Deiglmeier, D.T. Miller; Social Innovation, J. Howaldt & M. Schwarz, IMO-Dortmund, Mai 2010; Transformations et Innovation sociale en Europe: quelles sorties de crise ?, N. Richez-Battesti & D. Vallade, P.U de Louvain-Cahiers du CIRTES 5, Sept. 2010, S.45; S. Bacq & F. Janssen, ibid, S. 207.

(18)  Art. 3 Absatz a) des Verordnungsentwurfs und Stellungnahme des EWSA, ABl. C 255 vom 14.10.2005, S. 67.

(19)  Art. 9 Abs. 1 und Art. 3 des Vorschlags haben einen sehr weiten Anwendungsbereich – COM(2011)609 final.

(20)  Artikel 151 Absatz 1 AEUV.

(21)  Art.1, 7, 15, 24, 34 Abs. 3 und 52 Abs. 3 der EU-Grundrechtecharta, Art. 8 der EMRK sowie Art. 30 und 31 der überarbeiteten Europäischen Sozialcharta.

(22)  COM(2011) 609 final, Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und b.

(23)  Siehe z.B. Ex-ante-Bewertung, S. 42.

(24)  COM(2011) 607 final, Art. 6.

(25)  COM(2011) 609 final, Art. 15 Buchstabe a und c.

(26)  "Finanzbogen zu Vorschlägen für Rechtsakte", Ziffer 1.4.3. im Anhang zu COM(2011) 609 final, S. 32.

(27)  COM(2011) 609 final, Art. 5 Abs. 3.

(28)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 1.

(29)  Jugendportal und –projekt "Dein erster EURES-Arbeitsplatz".

(30)  Verordnung (EU) Nr. 182/2011.

(31)  Entschließung des EP vom 15.9.2007.

(32)  Mitteilung der Kommission COM(2011) 777 final.

(33)  Vorschlag für eine Richtlinie vom 19.12.2011 (COM(2011) 883 final).

(34)  "Finanzbogen zu Vorschlägen für Rechtsakte", Ziffer 1.4.3. im Anhang zu COM(2011) 609 final, S. 32.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/94


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten“

COM(2011) 813 final — 2011/0390 (CNS)

2012/C 143/18

Berichterstatter: Wolfgang GREIF

Der Europäische Rat beschloss am 12. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 100 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten"

COM(2011) 813 final – 2011/0390 (CNS).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. Januar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 111 Stimmen gegen 1 Stimme bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Forderungen und Empfehlungen

1.1   Die Arbeitsmarktaussichten trüben sich im vierten Jahr der Finanzkrise europaweit zunehmend ein. Der EWSA ist tief besorgt, dass vor dem Hintergrund der derzeit in der EU forcierten politischen Prämissen zur austeritätsorientierten Krisenbewältigung die im Rahmen des Schwerpunkts "Integratives Wachstum" der EU-2020-Strategie formulierten Zielvorgaben für die Beschäftigung wahrscheinlich nicht zu erreichen sein werden. Die gleichzeitige Einleitung von Sparprogrammen in der EU birgt die Gefahr in sich, die sich gegenseitig verstärkende Abwärtsbewegung zu beschleunigen und die Wachstumsaussichten weiter einzutrüben, was sich auf die Binnennachfrage als letzte Stütze der Konjunktur ebenso negativ auswirken wird, wie auf die Stabilisierung und die Schaffung von Beschäftigung.

1.2   Europa manövriert sich in den kommenden Jahren in eine äußerst angespannte Beschäftigungslage. Bestimmte Gruppen sind überdurchschnittlich betroffen: Jugendliche, niedrig Qualifizierte, Langzeitarbeitslose, Personen mit Migrationshintergrund, Roma, Alleinerziehende. Um hier entgegenzuwirken, bedarf es rasch zielgerichteter europäischer und nationaler Investitionen mit hoher Beschäftigungswirkung, die koordiniert umgesetzt werden sollten, um beschäftigungspolitische Effekte zu erhöhen.

1.3   Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Jugendarbeitslosigkeit und der bleibenden hohen Zahl der Langzeitarbeitslosen unterbreitet der EWSA folgende auf den Bereich der Beschäftigung fokussierte politische Empfehlungen zur Umsetzung der Beschäftigungsleitlinien:

In Ergänzung zur Zielvorgabe einer generell EU-weit zu erreichenden Beschäftigungsquote sollten künftig messbare EU-Vorgaben auch zu gesonderten Zielgruppen wie Langzeitarbeitslosen, Frauen, Älteren und insbesondere auch Jugendlichen (Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Verbesserung der Beschäftigungssituation) festgeschrieben werden. Die weitgehende Verlagerung der Formulierung konkreter Ziele im Bereich der Beschäftigungspolitik auf die Ebene der Mitgliedstaaten hat sich bislang wenig bewährt.

In diesem Zusammenhang ist insbesondere an einen Indikator zur substanziellen Verringerung der Anzahl jener Jugendlichen zu denken, die weder in Beschäftigung noch in Ausbildung stehen (sog. NEETs).

Der EWSA begrüßt den Vorschlag zur sogenannten "Jugendgarantie" der Kommission, wonach die Mitgliedstaaten gewährleisten sollen, dass alle jungen Menschen innerhalb von vier Monaten nach Schulabschluss eine Anstellung haben, ihre Ausbildung fortsetzen bzw. in Maßnahmen zur Aktivierung und zur Integration in den Arbeitsmarkt eingebunden sein sollen. Im Rahmen der Nationalen Reformpläne sind diesbezüglich konkrete Maßnahmen zu formulieren.

Länder mit besonders angespannter Arbeitsmarktlage im Jugendbereich, die zugleich restriktive Budgetvorgaben zu erfüllen haben, sollten erleichterten Zugang zu Mitteln aus EU-Fonds für Maßnahmen im Sinne der "Jugendgarantie" erhalten (Vereinfachungen bei der Mittelnutzung bis hin zum temporären Entfall nationaler Ko-Finanzierungen).

Trotz angespannter Haushaltslagen in den Mitgliedstaaten ist die Bereitstellung nationaler und europäischer Mittel für Bildung und Beschäftigung junger Menschen und Langzeitarbeitsloser beizubehalten und wo notwendig aufzustocken. In diesem Sinn sind im neuen Finanzplan ab 2014 ausreichend Mittel des ESF aber auch anderer EU-Fonds für jugendspezifische Initiativen sicherzustellen.

In allen EU-Ländern sind die Zugangsbedingungen zu Unterstützungsleistungen bei beschäftigungslosen Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen, die einen Arbeitsplatz bzw. eine Ausbildung suchen, zu überprüfen und ggf. zu verbessern. Die Aufnahme entsprechender Zielvorgaben in den Nationalen Reformprogrammen wird angeraten.

Der EWSA rät von einer Überzahl unbeständiger und perspektivloser Lösungen bei der Integration Jugendlicher in die Arbeitswelt ab: Statt auf prekäre Beschäftigung und unsichere Arbeitsverträge zu setzen, sind Maßnahmen zu implementieren, die sicherstellen, dass befristete Beschäftigung und Arbeitsstellen mit geringer Bezahlung und schlechter sozialer Absicherung nicht zur Norm werden.

Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, besonderes Augenmerk auf die Schaffung eines umfassenden zweiten Arbeitsmarktes zu richten, innerhalb dessen öffentliche Mittel zur Schaffung einer angemessenen Zahl adäquater Arbeitsplätze verwendet würden. Somit würde sichergestellt, dass Langzeitarbeitslose die Gewohnheit zu arbeiten, beibehalten und ihre Fähigkeiten und Kenntnisse verbessern. Eine Zunahme von Armut trotz Erwerbstätigkeit würde hierdurch verhindert und diesen Personen nach der Krise ein sanfter Übergang in den ersten Arbeitsmarkt ermöglicht.

Was die Kommissionsinitiative zu Praktika anbelangt, so unterstützt der EWSA einen entsprechenden europäischen Qualitätsrahmen, um lernfördernde Arbeitssituationen mit bindenden Verträgen zu fördern. Das in einigen Mitgliedstaaten seit längerer Zeit mit Erfolg praktizierte duale System der Lehre mit allgemeiner und beruflicher Bildung sollte bezüglich seiner teilweisen Übertragbarkeit untersucht werden.

2.   Einleitung

2.1   Der Rat der EU hat am 21. Oktober 2010 beschlossen, die neuen beschäftigungspolitischen Leitlinien bis 2014 unverändert zu belassen, um das Hauptaugenmerk auf die Umsetzung zu legen. Aktualisierungen sollten auf ein Mindestmaß beschränkt bleiben.

2.2   Trotzdem nimmt der EWSA die gemäß Artikel 148 (2) AEUV vorgesehene jährliche Befassung zum Anlass, auf die Umsetzung der Leitlinien zurückzukommen,

um der Frage nachzugehen, ob die Erreichung der festgelegten Zielvorgaben vor dem Hintergrund aktueller Trends auf den Arbeitsmärkten und den derzeit in der EU forcierten politischen Prämissen zur Krisenbewältigung vorangebracht werden kann;

darüber hinaus wird v.a. die sich zuspitzende Lage der Jugendarbeitslosigkeit sowie jene der Langzeitarbeitslosen in den Blick genommen und dazu dringend gebotene politische Empfehlungen unterbreitet.

2.3   Der EWSA zeigt sich erfreut, dass bei der Endfassung der Leitlinien in 2010 mehrere seiner Vorschläge (1) Aufnahme in den Beschlusstext des Rates gefunden haben, stellt aber zugleich fest, dass andere dargelegte Defizite nicht beachtet wurden. Er kommt daher auf einige zentrale Kommentare aus seiner Stellungnahme zurück, die nach wie vor von dringender Relevanz sind. So wurde u.a. befunden,

dass die Leitlinien vor dem Hintergrund der Krise die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als oberste Priorität ungenügend widerspiegeln;

dass die neuen Leitlinien von einem deutlich geschwächten europäischen Ansatz geprägt sind, indem sie neben wenigen europäischen Kernzielen die beschäftigungspolitische Zielformulierung gänzlich den Mitgliedstaaten überlässt;

dass in Ergänzung zur Zielvorgabe einer generell zu erreichenden Beschäftigungsquote messbare EU-Vorgaben auch zu gesonderten Zielgruppen wie Langzeitarbeitslosen, Frauen, Älteren und auch Jugendlichen festgeschrieben werden sollen;

dass darüber hinaus EU-Vorgaben u.a. auch zur Geschlechtergleichstellung, beim Kampf gegen Langzeitarbeitslosigkeit, gegen Arbeitsverhältnisse mit mangelnder sozialer Absicherung, gegen Jugendarbeitslosigkeit und Armut von Kindern und Jugendlichen notwendig sind;

dass die Leitlinien keinerlei konkrete Ausführungen zur Qualität der Arbeit enthalten.

2.4   In dieser Stellungnahme werden diese Punkte vor dem Hintergrund aktueller Trends auf den europäischen Arbeitsmärkten in der laufenden Wirtschaftskrise in den Blick genommen.

3.   Zunehmend angespannte Beschäftigungslage im Zuge der Krise

3.1   Die Finanzkrise entwickelte sich zur fundamentalen Wirtschafts-, Schulden- und Sozialkrise (2). Von offizieller Seite wird festgestellt, dass die Erholung der EU-Wirtschaft beendet ist. Auch die Arbeitsmarktaussichten trüben sich zunehmend ein (3). Die Folgen der Krise spitzen sich zu – nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Einbrüche in vielen EU-Ländern, sondern v.a. auch, weil die große Mehrheit der Regierungen auf die sog. Schuldenkrise, die u.a. aufgrund der massiven Deregulierung der Finanzmärkte in den letzten Jahren entstanden ist, mit forcierter Sparpolitik reagiert und so versucht, die Finanzmärkte zu beruhigen. In fast allen EU-Ländern steht im Zuge der Umsetzung der neu adaptierten Regeln zur wirtschaftspolitischen Steuerung im Euro-Raum und darüber hinaus die Reduzierung öffentlicher Defizite mit zum Teil empfindlichen Einschnitten bei öffentlichen Ausgaben, fokussiert auf Einschränkungen von Sozialausgaben und öffentlichen Diensten, im Mittelpunkt der anstehenden Konsolidierung (4). Diese Politik verengt die Arbeitsmarktchancen, nicht zuletzt jener, die bisher schon zu den benachteiligten Gruppen gezählt haben.

3.2   Europa wird vor diesem Hintergrund in den kommenden Jahren eine äußerst angespannte Beschäftigungslage erleben. Im vierten Jahr der Finanz- und Wirtschaftskrise setzt sich die Verschlechterung der Beschäftigungsaussichten fort. Trotz konjunkturstützender Anstrengungen in erster Reaktion auf die Krise sowie wirtschaftlicher Erholung in einzelnen EU-Ländern stieg die Arbeitslosigkeit in der EU 2008-2011 von 6,9 % auf 9,4 % (5).

3.3   Somit sind heute mehr als 22 Mio. Menschen EU-weit ohne Arbeit, wobei es große Unterschiede in der EU gibt: So divergieren die Arbeitslosenraten im 2. Quartal 2011 (2011Q2) zwischen weniger als 5,5 % in Österreich, Luxemburg und den Niederlanden bis zu mehr als 14 % in Irland, Litauen, Lettland und Griechenland und 21 % in Spanien. Jugendliche sind noch weit stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. In mehreren Ländern – nicht nur im Süden Europas – kam es während der Krise zu einer beunruhigenden Zuspitzung: zur Verdoppelung der Arbeitslosenquote etwa in Spanien, Irland und – ausgehend von niedrigem Niveau – auch in Dänemark, in den baltischen Ländern sogar zu einer Verdreifachung; lediglich in Deutschland und Luxemburg gab es bis 2010 einen Rückgang der Arbeitslosigkeit. Trotz steigender Arbeitslosigkeit ist in einigen Ländern auch ein Anstieg offener Stellen zu verzeichnen. Auf Grund der demografischen Entwicklung sowie des anhaltenden Strukturwandels ist damit zu rechnen, dass sich dieses Paradoxon in den nächsten Jahren noch verschärfen wird.

Junge und Geringqualifizierte waren während der Krise besonders von steigender Arbeitslosigkeit getroffen, wobei beide Gruppen bereits zuvor deutlich über dem Durchschnitt lagen.

Die Arbeitslosenrate von Personen mit geringem Bildungsgrad liegt 2011Q2 bei 16,3 %, Personen mit mittlerer und hoher Bildung weisen eine Quote von 8,6 % bzw. 5,3 % auf.

Die Arbeitslosenrate sowohl bei Männern als auch bei Frauen aller Altersgruppen ist gestiegen. Sie liegt in 2011Q2 bei 9,4 %, respektive 9,5 %. In der ersten Phase der Krise stieg die Arbeitslosenrate von Männern schneller, da in stärkerem Maße von Männern dominierte Branchen (z.B. Verarbeitungs- und Bauindustrie) betroffen waren. In der zweiten Phase stieg die Arbeitslosenrate von Frauen steiler an, da nun infolge der ergriffenen Sparmaßnahmen die von Frauen dominierten Bereiche (z.B. Dienstleistungen, öffentlicher Sektor) betroffen wurden.

Arbeitsmigranten, die bereits vor der Krise höhere Arbeitslosenraten als der Durchschnitt aufwiesen, sind übermäßig von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit betroffen. Ihre Arbeitslosenrate liegt 2011Q2 bei 16,3 %.

Die Langzeitarbeitslosigkeit (>12 Monate), die wegen der starken Eintritte in die Arbeitslosigkeit, statistisch vorübergehend stark gesunken war, liegt in 2011Q2 im EU-Schnitt mit 43 % wieder auf Vorkrisenniveau. Stark und frühzeitig von der Krise betroffene Länder (Spanien, Irland, baltische Länder) weisen starke Zuwächse gegenüber 2008 auf. In naher Zukunft wird diese Gruppe aufgrund stagnierender Nachfrage deutlich größer werden.

3.4   Vor dem Hintergrund, dass die Jugendarbeitslosigkeit bereits vor der Krise besorgniserregende Ausmaße angenommen hat, hat der EWSA bereits aufgezeigt, dass sie jetzt zu einem der bedrohlichsten Probleme auf dem europäischen Arbeitsmarkt geworden ist (6). Sie nahm generell dramatisch zu und beträgt derzeit EU-weit knapp 21 %. Mehr als 5 Mio. junge Menschen (15-24 Jahre) sind heute ohne Arbeit oder Ausbildungsplatz, was mit enormen individuellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen verbunden ist: aktuelle Schätzungen von Eurofound weisen Kosten von mehr als 100 Mrd. EUR pro Jahr aus, die aufgrund des Ausschlusses Jugendlicher vom Arbeitsmarkt erwachsen (7). In Griechenland und Spanien sind mehr als 40 % der Jugendlichen arbeitslos, in Lettland, Litauen und Slowakei annähernd jeder dritte.

Die Sorge über die Jugendarbeitslosigkeit wird durch zwei Indikatoren genährt: die Arbeitslosenrate (8) und die NEET-Rate, die beide gestiegen sind. Der NEET-Indikator ist insofern besonders interessant, als er Auskunft über die Situation junger Menschen im Alter von 15-24 Jahren gibt, die sich nicht in Beschäftigung, Bildung oder Ausbildung ("Not in Employment, Education or Training") befinden.

Zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten sind deutliche Unterschiede zu verzeichnen: am besten ist die Situation in Dänemark, den Niederlanden, Slowenien und Österreich mit Raten von unter 7 %, während die Lage in Italien und Bulgarien mit Raten zwischen 19,1 % und 21,8 % besonders schwierig ist. Der Durchschnitt der EU-27 liegt 2010 bei 12,8 %. Durch die Krise scheinen sich die NEET-Raten insbesondere in Spanien, Irland, Litauen, Estland und Lettland verschlechtert zu haben.

Schulabbrecher bilden eine weitere Kategorie von Personen, die aufgrund geringer Bildung ein hohes Arbeitslosigkeitsrisiko haben. Trotz des Fakts, dass sich die Schulabbrecherquoten in einigen Ländern (z.B. Spanien, Portugal, Estland, Lettland und dem Vereinigten Königreich) in der Krise verringert haben, liegt die Quote 2010 im europäischen Durchschnitt mit 14,1 % nach wie vor deutlich oberhalb des Europa-2020- Ziels von unter 10 % (9). Die Länderunterschiede sind groß: Portugal und Spanien verzeichnen Raten von über 28 % und die Schulabbrecherquote in Malta liegt bei fast 37 %, während die Quoten in der Slowakei, der Tschechischen Republik und in Slowenien unter 5 % liegen (10).

3.5   Diese Entwicklung bei den Arbeitslosenraten spiegelt sich auch in der Beschäftigungsquote, die während der Krise merklich gesunken ist: im EU-Schnitt bei den 20-64-Jährigen von 70,5 % in 2008Q2 auf 68,9 % in 2011Q2. Bereits bei Verabschiedung der Leitlinien 2010 war klar, dass ein ganzes Jahrzehnt erforderlich sein wird, um die gut 10 Mio. Arbeitsplätze wiederzugewinnen, die seit Ausbruch der Krise verloren gegangen sind. Die Lage hat sich seither kaum verbessert. Im EU-Durchschnitt sind zwischen 2010Q2 und 2011Q2 nur minimale Beschäftigungszuwächse zu verzeichnen; einige Ländern weisen im letzten Jahr deutliche Zuwächse auf (Estland, Litauen, Lettland und Malta) in anderen sinkt die Beschäftigung weiterhin deutlich (Griechenland, Bulgarien, Slowenien und Rumänien). Insgesamt sind die EU-Länder nach wie vor weit von der Erreichung des EU-2020-Kernziels einer allgemeinen Beschäftigungsquote von 75 % (für 20-64-Jährige) entfernt (11). Während der Wirtschaftskrise sind Jugendliche nicht nur weit stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als alle anderen Altersgruppen, sie hatten auch weit größere Beschäftigungsrückgänge hinzunehmen.

3.6   Entsprechend den Entwicklungen während der Lissabon-Phase hat sich in der Krise der allmähliche Anstieg der Teilzeitbeschäftigung fortgesetzt. Unter Berücksichtigung der deutlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern ist die Teilzeitbeschäftigungsquote in der EU von 17,6 % der Gesamtbeschäftigung in 2008Q2 auf 18,8 % in 2011Q2 angestiegen.

Frauen sind in Teilzeit deutlich überrepräsentiert mit einer durchschnittlichen Rate von 31,6 in 2011Q2 im Vergleich zu 8,1 bei Männern.

Junge Arbeitnehmer sind mit einer EU-weiten Zunahme der Teilzeitbeschäftigungsquote von diesem Phänomen deutlich stärker betroffen als Arbeitnehmer mittleren Alters und ältere Arbeitnehmer.

Die Teilzeitbeschäftigung hat außerdem unter den Arbeitnehmern mit geringstem Bildungsgrad stärker zugenommen.

Kurzarbeit ermöglicht den Menschen während der Krise im Kontakt mit dem Arbeitsmarkt zu bleiben und bietet ihnen eine gute Ausgangsposition, um nach der Krise wieder in Vollzeitbeschäftigung zu wechseln.

Während der Krise ist jedoch auch die Zahl der Arbeitnehmer in unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung  (12) beträchtlich angewachsen. In den Ländern, die am stärksten von der Krise betroffen sind (baltische Staaten, Spanien, Irland), stieg die Quote unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung zwischen 2008 und 2010 deutlicher an als im Durchschnitt. Für Frauen ist Teilzeitbeschäftigung auf Grund der Betreuung von Kindern oder erwerbsunfähigen Erwachsenen in vielen Ländern nach wie vor hoch.

3.7   Die Zahl der befristeten Arbeitsverhältnisse stieg in der EU 2007Q2 auf einen Spitzenwert von 14,6 %. Die Daten der EU-Arbeitskräfteerhebung enthalten unter dieser Rubrik auch Leiharbeitnehmer, es sei denn es liegt ein unbefristeter schriftlicher Arbeitsvertrag vor (13). Da Arbeitnehmer mit befristeten Verträgen und Leiharbeitnehmer in der Krise stark von Arbeitslosigkeit betroffen waren, sank deren Anteil 2009Q2 zusammengenommen auf ein Tief von 13,5 %. Der jüngste Anstieg auf 14,2 % in 2011Q2 zeigt, dass Unternehmen dazu tendieren, Arbeitnehmer auf der Grundlage befristeter Verträge wie auch über Leiharbeitsfirmen neu einzustellen. Erkennbar wird hieraus nicht zuletzt, dass die Arbeitgeber wenig Vertrauen in die Dauerhaftigkeit des Konjunkturaufschwungs haben und sich bemühen, auf die Situation zu reagieren.

Die länderspezifischen Unterschiede im Umfang mit der befristeten Beschäftigung sind beträchtlich: während in einigen zentral- und osteuropäischen Mitgliedstaaten, wie Rumänien, Bulgarien, Litauen und Estland, die Quote unter 5 % liegt, weisen Portugal, Spanien und Polen Quoten von etwa 23-27 % auf.

Die Wahrscheinlichkeit eines befristeten Beschäftigungsverhältnisses ist bei jungen Arbeitnehmern (15-24 Jahre) mit Abstand am höchsten (2010: 42,2 %). Dies trifft für fast alle Länder zu. Zu einem gewissen Maß ist es in vielen Bereichen üblich geworden, dass junge Menschen zunächst ein befristetes Arbeitsverhältnis eingehen. Oft ist dieses allerdings unfreiwillig. Dies ist einer der Gründe dafür, dass sich die Arbeitsmarktsituation junger Menschen während der Krise dramatisch verschlechtert hat.

Zudem sind etwa 20 % der Geringqualifizierten befristet beschäftigt – eine Quote, die weitaus höher ist als bei Arbeitnehmern mit mittlerer und hoher Qualifikation (etwa 12-13 %).

Der Anteil der unfreiwillig befristet Beschäftigten ist zwischen 2008 und 2010 um etwa 2 % angestiegen; dieses Phänomen ist besonders in Litauen und Irland zu beobachten, zwei der am stärksten von der Krise betroffenen Länder, sowie in der Tschechischen Republik, in Dänemark und Großbritannien.

3.8   Armut trotz Erwerbstätigkeit: Aus den Daten von Eurostat für 2009 geht hervor, dass sowohl Beschäftigte in befristeter Beschäftigung als auch Teilzeitbeschäftigte, aber auch junge Menschen und Alleinerziehende ein höheres Risiko haben, trotz Erwerbstätigkeit in Armut zu geraten als Arbeitnehmer in unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen und Vollzeit-Beschäftigte.

Für jüngere Arbeitnehmer (18-24 Jahre) besteht ein weitaus höheres Risiko von Armut trotz Arbeit  (14) als dies durchschnittlich für die Gruppe der 25-64-Jährigen in mehreren EU-Mitgliedstaaten der Fall ist.

In ähnlicher Weise sind auch Alleinerziehende, für die eine Teilzeitbeschäftigung oft nicht vermeidbar ist, und Geringqualifizierte sowohl unverhältnismäßig stark von dem Phänomen der Zeitarbeit und Teilzeitarbeit betroffen als auch bei den Vollzeit-Niedriglohnjobs überdurchschnittlich stark vertreten, was sich in einem höheren Anteil an armen Erwerbstätigen niederschlägt.

4.   EU-weite Austeritätspolitik verschärft Arbeitsmarktlage und erschwert Erreichung beschäftigungspolitischer Ziele

4.1   Durch die gleichzeitige Einleitung von Sparprogrammen in der EU kann sich die gegenseitig verstärkende Abwärtsbewegung beschleunigen und die Wachstumsaussichten können weiter eingetrübt werden. Da manche Länder nicht zugleich den notwendigen Strukturreformen genügend Aufmerksamkeit widmen und sich keine neuen Wachstumsmöglichkeiten eröffnen, wirken Ausgabenkürzungen negativ auf die Binnennachfrage als letzte Stütze der Konjunktur und führen zu sinkenden Steuereinnahmen und steigenden Sozialausgaben. Es droht ein weiterer Anstieg der Haushaltsdefizite und somit die zunehmende wirtschaftspolitische Handlungsunfähigkeit von immer mehr EU-Staaten. Dieser Weg, die Budgetkonsolidierung vornehmlich an Austerität zu orientieren, ist somit nicht nur sozial bedenklich, er unterminiert auch die Möglichkeit zukunftsorientierter wirtschaftlicher Erholung. Der EWSA ist tief besorgt, dass mit diesen Maßnahmen die Krise nicht überwunden werden kann und auch die in der EU-Beschäftigungsstrategie formulierten Zielvorgaben nicht zu erreichen sein werden.

4.2   Der EWSA wiederholt daher seine Forderung nach einem weiteren europäischen Konjunkturprogramm mit umfangreicher arbeitsmarktpolitischer Wirkung in der Größenordnung von 2 % des BIP (15). Neben zusätzlichen nationalen Investitionen, die koordiniert umgesetzt werden sollen, um beschäftigungspolitische Effekte zu erhöhen, gilt es, europäische Investitionsprojekte zu identifizieren. Die geplanten Ausgaben sollten sich im Umfang von 1 % auf Investitionen mit hoher Beschäftigungswirkung beziehen sowie darüber hinaus explizit auf arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die je nach regionaler Arbeitsmarktlage in den EU-Ländern unterschiedliche Formen annehmen können.

4.3   Die öffentlichen Haushalte werden nicht für alles heranzuziehen sein, von Bankenrettungen über soziale und innovative Investitionen bis hin zur Unternehmensförderung. Aus Sicht des EWSA ist im Zuge intelligenter Konsolidierungen der Haushalte neben Ausgabenkürzungen, die sozialverträglich gestaltet sein sollten, auch die Erschließung neuer Einnahmequellen unumgänglich. Insbesondere bedarf es einer Stärkung der Steueraufkommensbasis der Mitgliedstaaten. Darüber hinaus ist ein generelles Überdenken der Steuersysteme angebracht, wobei Fragen hinsichtlich der Beiträge unterschiedlicher Arten von Einkommen und Vermögen zu berücksichtigen sein werden. Dies hat gleichzeitig mit einer Steigerung der Effizienz und Treffsicherheit öffentlicher Ausgaben zu erfolgen.

4.4   Aus Sicht des EWSA dürfen die Sparmaßnahmen das Armutsrisiko nicht erhöhen und die Ungleichheiten, die in den letzten Jahren bereits angestiegen sind, nicht weiter verschärfen. Bei allen Maßnahmen, aus der Krise herauszukommen, ist darauf zu achten, dass sie nicht der Belebung von Nachfrage und Beschäftigung während und nach der Krise und der Abfederung sozialer Härten zuwiderlaufen. Die Mitgliedstaaten müssen dabei auch beachten, dass die Maßnahmen zur Überwindung der Wirtschaftskrise und der Staatsverschuldung nicht die öffentlichen Investitionen in Arbeitsmarktpolitik und die allgemeine und berufliche Bildung gefährden. Der EWSA fordert wirksame soziale Folgenabschätzungen, um zu untersuchen, wie das EU-Ziel, mindestens 20 Mio. Menschen bis 2020 den Weg aus Armut und sozialer Ausgrenzung zu eröffnen, erreicht werden kann.

4.5   Sparmaßnahmen treffen in erster Linie jene am härtesten, die von staatlichen Transferleistungen abhängig sind, darunter auch jene mit prekären Arbeitsverhältnissen und andere benachteiligte Gruppen am Arbeitsmarkt. Die am stärksten von Arbeitslosigkeit Betroffenen sind in aller Regel auch jene, die erschwerten und limitierten Zugang zu Unterstützungsleistungen haben. Daher bedarf es ausreichender, effektiver und nachhaltiger sozialer Sicherungsnetze, wobei auf die am stärksten betroffenen und benachteiligten Gruppen am Arbeitsmarkt (u.a. Jugendliche, Migrant/innen, Roma, Behinderte, Alleinerzieherinnen, Niedrigqualifizierte) besonders geachtet werden muss.

4.6   Was die Herausforderungen betrifft, die mit der Alterung in Europa auf die Arbeitsmärkte zukommt, hat der EWSA kürzlich Stellung bezogen und dabei festgehalten, dass die bei weitem effektivste Strategie in der größtmöglichen Nutzung vorhandener Beschäftigungspotenziale liegt. Dies ist nur durch gezielte Wachstumspolitik und die Verfolgung einer Teilhabechancen eröffnenden Politik zu erreichen. Sie erstreckt sich über die altersgerechte Gestaltung der Arbeitswelt, den Ausbau der Aus- und Weiterbildung, die Schaffung qualitativ hochwertiger und produktiver Arbeitsplätze, die Sicherstellung leistungsfähiger sozialer Sicherungssysteme, umfassende Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie u.a.m. (16) Darüber hinaus ist das wirtschaftliche Potential der "Seniorenwirtschaft" ("Silver Economy") voll zu nutzen.

5.   Forderungen und Empfehlungen zur Jugendbeschäftigung und zur Langzeitarbeitslosigkeit

5.1   Festschreibung ambitionierter EU-Zielvorgaben zur Jugendbeschäftigung

5.1.1

In den bestehenden Leitlinien findet sich ein Indikator zur Verringerung der Anzahl Junger, die weder Arbeit haben noch eine schulische oder berufliche Ausbildung absolvieren (NEET). Zwar haben die Mitgliedstaaten Maßnahmen entlang der unterschiedlichen Besonderheiten der NEET-Untergruppen diversifiziert, wobei auch besonders Benachteiligten Aufmerksamkeit geschenkt wurde (17), trotzdem fehlen nach wie vor konkrete Zielvorgaben zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und zur Verbesserung der Beschäftigungssituation von Jugendlichen. Der EWSA wiederholt seine Forderung, dass dieser zentrale Punkt in den Leitlinien weit deutlicher zum Ausdruck kommen muss, v.a. über die Ergänzung messbarer europäischer Vorgaben zur Jugendbeschäftigung: insbesondere 1.) eine Zielvorgabe zur signifikanten Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit sowie 2.) eine maximale Frist von vier Monaten zur Aktivierung Arbeit bzw. Lehrstellen suchender Jugendlicher. Die Überlassung spezifischer Zielvorgaben zur Jugendbeschäftigung auf Ebene der Mitgliedstaaten hat jedenfalls wenig gefruchtet, nur einzelne Länder haben entsprechende Ziele in ihren Nationalen Reformprogrammen formuliert (18).

5.2   "Jugendgarantie" im Bereich NEET durch Mitgliedstaaten konsequent umsetzen

5.2.1

Der EWSA zeigt sich erfreut, dass seine Forderung, wonach die Mitgliedstaaten gewährleisten sollen, dass alle jungen Menschen innerhalb von vier Monaten nach Schulabschluss eine Anstellung haben, ihre Ausbildung fortsetzen bzw. in Maßnahmen zur Aktivierung und zur Integration in den Arbeitsmarkt eingebunden sein sollen, in Form des Vorschlages zu einer "Jugendgarantie" Aufnahme in die Leitinitiative "Jugend in Bewegung" gefunden hat (19). Der EWSA schließt sich in diesem Kontext uneingeschränkt den Aufforderungen der Kommission an, wonach die Mitgliedstaaten umgehend entsprechende Hürden zu identifizieren haben. Im Rahmen der Nationalen Reformpläne sind diesbezüglich konkrete Maßnahmen zu formulieren, um diese zu beseitigen. Hierzu wird es in vielen Ländern notwendig sein, die von den öffentlichen Arbeitsverwaltungen gewährte spezifische Unterstützung massiv auszubauen, wobei vermehrte Aufmerksamkeit Benachteiligten (v.a. auch jenen mit Migrationshintergrund und Roma) gelten muss.

5.2.2

Die Mitgliedstaaten sind dabei auch gefordert, die generell in den Beschäftigungsleitlinien vereinbarten Prioritäten auch im Bereich Jugendlicher effektiv umzusetzen und sich entsprechend ambitionierte Vorgaben und Ziele zu setzen, wozu u.a. auch ausgewogene Maßnahmen zur Erhöhung der Flexibilität und Sicherheit, die Förderung der Arbeitskräftemobilität, die Schaffung angemessener Systeme der Sozialen Sicherung zur Absicherung des Übergangs am Arbeitsmarkt sowie die Förderung des Unternehmertums und adäquater Rahmenbedingungen zum Erhalt und zur Schaffung von Arbeitsplätzen insbesondere auch im KMU-Bereich gehören.

5.3   Vermehrte EU-Mittel und leichterer Zugang zu EU-Mitteln zur Bekämpfung der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit

5.3.1

Um die Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit kurzfristig zu senken, drängt der EWSA auf gesonderte Maßnahmen im Bereich der Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, gerade auch in Zeiten angespannter Haushaltslagen. Die Kommission hat aktuell in ihrer Initiative "Chancen für junge Menschen" (20) sinngemäß gefordert, dass schnelle und unbürokratische Hilfe v.a. in jenen Ländern notwendig ist, die am stärksten von Jugendarbeitslosigkeit betroffen sind (21). Mitgliedstaaten mit besonders angespannter Arbeitsmarktlage im Jugendbereich und hoher Langzeitarbeitslosigkeitsrate, die derzeit zugleich restriktive Budgetvorgaben zu erfüllen haben, sollen erleichterten Zugang zu Mitteln aus EU-Fonds insbesondere für Maßnahmen im Sinne der "Jugendgarantie" sowie hinsichtlich von Investitionen zur Schaffung von Arbeitsplätzen erhalten. Notwendig sind pragmatische und flexible Vorgangsweisen und Vereinfachungen bei der Administration zur Mittelnutzung bis hin zum temporären Entfall nationaler Ko-Finanzierungen beim Mittelbezug durch den ESF sowie anderer europäischer Fonds.

5.4   Angemessene Mittel zur Bekämpfung der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit im neuen EU-Budget

5.4.1

Der EWSA hat bereits betont, wie wichtig es ist, trotz der Neubewertung der Haushaltsprioritäten, die durch die Wirtschaftskrise in allen EU-Staaten erforderlich wurde, die Bereitstellung nationaler und europäischer Mittel für Bildung, Ausbildung und Beschäftigung von jungen Menschen und Langzeitarbeitslosen beizubehalten und wo notwendig aufzustocken (22). In diesem Sinn fordert der EWSA, in der neuen Finanzplanung ab 2014 ausreichend Mittel des ESF für Initiativen für junge Menschen und Langzeitarbeitslose sicherzustellen  (23). Darüber hinaus sollte aus Sicht des EWSA u.a. auch geprüft werden, wie auch die anderen EU-Fonds für Maßnahmen im Kampf gegen die Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit genutzt werden können.

5.5   Verbesserter Zugang Jugendlicher und Langzeitarbeitsloser zu Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosigkeit

5.5.1

Die EU-Mitgliedstaaten unterscheiden sich erheblich hinsichtlich Zugang und Leistungsumfang bei sozialen Sicherungsleistungen nicht nur für Jugendliche. In den Beschäftigungsleitlinien wurden die Mitgliedstaaten richtigerweise aufgefordert, ihre sozialen Sicherungssysteme anzupassen, um bei flexibleren Arbeitsmärkten keine Sicherheitslücken aufkommen zu lassen. Das betrifft alle Altersgruppen gleichermaßen. Aus Sicht des EWSA wurde bislang jedoch der in den meisten Mitgliedstaaten feststellbare stark eingeschränkte Zugang Jugendlicher zu Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosigkeit zu wenig thematisiert (24). Einige Länder haben unter entsprechenden Konditionalitäten den Zugang zu Arbeitslosenleistungen für benachteiligte Gruppen – so auch Jugendliche – in der Krise verbessert. Diese Maßnahmen waren aber zeitlich beschränkt oder unterliegen dem Risiko der Rücknahme im Rahmen geplanter Sparpakete.

5.5.2

Der EWSA fordert, in allen Mitgliedstaaten die Zugangsbedingungen auf Unterstützungsleistungen beschäftigungsloser Jugendlicher und Langzeitarbeitsloser, die arbeitsbereit sind und einen Arbeitsplatz bzw. eine Ausbildung suchen, zu überprüfen und ggf. zu verbessern. Auch die Aufnahme entsprechender Zielvorgaben in den Nationalen Reformprogrammen ist anzuraten. Dies wäre ein bedeutender Beitrag zur Bekämpfung der prekären Situation vieler Jugendlicher im Übergang auf den Arbeitsmarkt.

5.6   Kampf prekärer Arbeit und nicht-regulierter Formen im Bereich Lehre/Praktika

5.6.1

Bei 15- bis 24-Jährigen ist nicht nur die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie bei Erwachsenen, sondern auch der Anteil unsicherer Arbeitsverhältnisse (in einigen Ländern mehr als 60 %), die Zunahme nicht-regulierter Ausbildungen und Praktika (v.a. in südlichen Ländern (25)) sowie die Arbeit unterhalb des Qualifikationsniveaus. Der EWSA rät von einer Überzahl unbeständiger und perspektivloser Lösungen bei der Integration in die Arbeitswelt ab: Statt auf prekäre Beschäftigung und unsichere Arbeitsverträge zu setzen, sind Maßnahmen zu implementieren, die sicherstellen, dass befristete Beschäftigung und Arbeitsstellen mit geringer Bezahlung und schlechter sozialer Absicherung nicht zur Norm für Jugendliche werden.

5.6.2

Der EWSA hat in zahlreichen Stellungnahmen zu notwendigen Handlungsfeldern hinsichtlich der Anpassung im Bereich der Bildung und Qualifikation Stellung genommen, um u.a. auch sicherzustellen, dass junge Menschen die Ausbildung erwerben, die am Arbeitsmarkt auch nachgefragt wird (26). Um bestehenden Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, verursacht u.a. durch ungenügende Qualifikationen, begrenzte geografische Mobilität oder unangemessene Entlohnung (27), zu begegnen, sind die Ausbildungseinrichtungen gefordert, die Anpassung ihrer Lehrpläne auch an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes zu orientieren, aber auch die Arbeitgeber, ihre Kanäle zum Anwerben von neuen Arbeitnehmern zu erweitern, ebenso wie die Behörden, die in effektive aktive Arbeitsmarktmaßnahmen investieren müssen. Auch die Auszubildenden selbst tragen eine Verantwortung hinsichtlich der künftigen Beschäftigungsfähigkeit.

5.6.3

Was die Kommissionsinitiative zu Praktika anbelangt, so unterstützt der EWSA einen entsprechenden europäischen Qualitätsrahmen, für den auch bei den Unternehmen geworben werden sollte, damit diese lernfördernde Arbeitssituationen mit beidseitig bindenden Verträgen insbesondere auch für bildungsbenachteiligte Jugendliche anbieten. Das duale System der Lehre mit allgemeiner und beruflicher Bildung zeitigt in mehreren Ländern positive Ergebnisse und sollte bezüglich seiner teilweisen Übertragbarkeit untersucht werden.

5.7   Grundsätze für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit

5.7.1

Der EWSA schlägt Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vor, die sich auf die folgenden Grundsätze stützen: Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit von Jugendlichen durch eine Reform der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung, die zu einer besseren Abstimmung der Qualifikationen auf die Erfordernisse des Arbeitsmarkts führt und Partnerschaften zwischen Schulen, Wirtschaft und Sozialpartnern umfasst; aktive Arbeitsmarktmaßnahmen, einschließlich einer besseren Förderung und mehr Anreizen für Jugendliche, eine Beschäftigung anzunehmen; Überprüfung der Auswirkungen der Vorschriften zum Kündigungs- bzw. Beschäftigungsschutz; Förderung von unternehmerischer Initiative bei jungen Menschen.

5.8   Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit und Verlust des Kontakts zum Arbeitsmarkt

5.8.1

Die andauernde krisenbedingte Stagnation der Nachfrage nach Arbeitskräften führt zu einem Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit, die wiederum ernsthafte Probleme bei der Integration in den Arbeitsmarkt und zunehmende Armut trotz Erwerbstätigkeit mit sich bringt. Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, besonderes Augenmerk auch auf die Schaffung eines zweiten Arbeitsmarktes zu richten, innerhalb dessen öffentliche Mittel zur Schaffung einer angemessenen Zahl adäquater Arbeitsplätze verwendet werden. Somit würde sichergestellt, dass Langzeitarbeitslose den Anschluss zur Arbeitswelt erhalten und ihr Know-how verbessern. Eine Zunahme von Armut trotz Erwerbstätigkeit würde hierdurch verhindert und diesen Personen nach der Krise ein sanfter Übergang in den ersten Arbeitsmarkt ermöglicht.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  EWSA-Stellungnahme zu dem "Vorschlag für einen Beschluss des Rates über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten – Teil II der integrierten Leitlinien zu Europa 2020", Berichterstatter: Herr GREIF (ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 66).

(2)  Der EWSA hat in zahlreichen Stellungnahmen und bei unterschiedlichen Gelegenheiten zu den Auswirkungen der Krise und notwendigen Schritten ihrer Bewältigung Stellung bezogen. So etwa in prominenter Weise in einer Erklärung seines Präsidenten bei der Plenartagung im Dezember 2011; http://www.eesc.europa.eu/resources/docs/di_ces20-2011_di_de.doc.

(3)  Siehe etwa die Europäische Kommission in ihrer kürzlich veröffentlichten Herbstprognose 2011-2013.

(4)  Zu den sozialen Folgen der neuen Economic Governance siehe die EWSA-Stellungnahme vom 22.2.2012 zu dem Thema "Soziale Auswirkungen der neuen Vorschriften für die wirtschaftspolitische Steuerung", Berichterstatterin: Frau BISCHOFF (Siehe Seite 23 dieses Amtsblatts).

(5)  Wenn nicht anderweitig erwähnt, beruhen die Daten auf der Arbeitskräfteerhebung der Europäischen Union (AKE): (http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/labour_market/introduction) und beziehen sich auf das 2. Quartal 2011. Die Altersgruppe bezieht sich in der Regel auf die 15-64-Jährigen.

(6)  S. Kapitel 7 der EWSA-Stellungnahme zu dem Thema "Jugend in Bewegung'", Berichterstatter: Herr TRANTINA, Mitberichterstatter: Herr MENDOZA CASTRO (ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 55).

(7)  Die Kosten dieses Ausschlusses Jugendlicher vom Arbeitsmarkt belaufen sich nach neuesten Berechnungen von Eurofound in der EU auf knapp 100 Mrd. EUR pro Jahr.

(8)  Um mögliche Verzerrungen aufgrund der hohen Nichterwerbsquoten unter jungen Menschen, die noch in Ausbildung sind, zu reduzieren, werden hiermit alle erwerbsaktiven Jugendlichen erfasst.

(9)  http://ec.europa.eu/europe2020/priorities/smart-growth/index_en.htm

(10)  http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/education/introduction.

(11)  Siehe EMCO/28/130911/EN-rev3, S. 27ff.

(12)  Unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung ist definiert als "konnte keinen ganztägigen Arbeitsplatz finden".

(13)  Es ist zu empfehlen, dass Eurostat zukünftig Werte getrennt für befristet Beschäftigte und Leiharbeitnehmer ausweist.

(14)  Weniger als 60 % des Median-Äquivalenzhaushaltseinkommens.

(15)  Siehe Absatz 3.1 der EWSA-Stellungnahme vom zu den "Ergebnisse des Beschäftigungsgipfels", Berichterstatter: Herr GREIF (ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 70).

(16)  EWSA-Stellungnahme "Die Zukunft des europäischen Arbeitsmarktes – auf der Suche nach einer wirksamen Reaktion auf die demografische Entwicklung", Berichterstatter: Herr GREIF (ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 1).

(17)  "Young People and NEETs in Europe: first findings" – EUROFOUND – EF1172EN http://www.eurofound.europa.eu/pubdocs/2011/72/en/1/EF1172EN.pdf.

(18)  Lediglich vier Länder (Belgien, Tschechien, Bulgarien, Estland) formulierten 2011 nationale Ziele zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in ihren Nationalen Reformplänen.

(19)  "Jugend in Bewegung" COM(2010) 477, Kapitel 5.4.

(20)  Siehe die entsprechenden Vorschläge der Kommission in der aktuellen Initiative "Chancen für junge Menschen" COM(2011) 933.

(21)  In Leitlinie 7, Ratsbeschluss 2010/707/EU.

(22)  S. EWSA-Stellungnahme zu dem Thema "Jugend in Bewegung'" (ABl. 132/55 vom 3.5.2011), Kapitel 8 der EWSA-Stellungnahme zu dem Thema "Krise, Bildung und Arbeitsmarkt", Berichterstatter: Herr SOARES (ABl. C 318/50 vom 29.10.2011).

(23)  So fordert der EWSA, mindestens 40 % der ESF-Ressourcen zur Förderung der Beschäftigung sowie der beruflichen Mobilität sicherzustellen, womit in hohem Ausmaß Maßnahmen für Jugendliche im Zentrum der lancierten Projekte stehen würden. Siehe dazu die EWSA-Stellungnahme zu dem Thema "Europäischer Sozialfonds" (Siehe Seite 82 dieses Amtsblatts), Berichterstatter: Herr Verboven, Mitberichterstatter: Herr Cabra de Luna, Absatz 1.5 und 4.1.

(24)  Daten der Arbeitskräfteerhebung (Eurostat) weisen für Jugendliche (15-24 Jahre) im EU27-Schnitt einen um dreimal geringeren Zugang zu Leistungen in der Arbeitslosigkeit aus als für andere Gruppen, wobei keine nachhaltige Verbesserung in der Krise festgestellt wurde.

(25)  Dies ist weniger ein Problem in nordeuropäischen Ländern mit langjähriger praktischer Erfahrung regulierter Beziehungen zwischen Auszubildenden, Ausbildungsinstitutionen und Arbeitgebern. Das gleiche gilt für jene Länder, in denen es ein gewachsenes und bewährtes System der dualen Lehrlingsausbildung gibt (Deutschland, Österreich).

(26)  Siehe hierzu die in Bearbeitung befindliche EWSA-Stellungnahme zu dem Thema "Modernisierung von Europas Hochschulsystemen" (ABl. C XX, S. XX); die EWSA-Stellungnahme "Jugendbeschäftigung, Berufsqualifikationen und Mobilität" (ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 11), Berichterstatterin Frau Andersen; sowie die EWSA-Stellungnahme zum Thema "Postsekundäre Berufsbildung" (ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 1), Berichterstatterin Frau Drbalová.

(27)  Siehe COM(2011) 933: Initiative "Chancen für junge Menschen".


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/102


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Programm ‚Gesundheit für Wachstum‘, das dritte mehrjährige EU-Aktionsprogramm im Bereich der Gesundheit, für den Zeitraum 2014-2020“

COM(2011) 709 final — 2011/0339 (COD)

2012/C 143/19

Hauptberichterstatterin: Béatrice OUIN

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 30. November 2011 bzw. am 12. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Programm ‧Gesundheit für Wachstum‧, das dritte mehrjährige EU-Aktionsprogramm im Bereich der Gesundheit, für den Zeitraum 2014-2020"

COM(2011) 709 final – 2011/0339 (COD).

Das Präsidium beauftragte die Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft am 6. Dezember 2011 mit den Vorarbeiten zu diesem Thema. Hauptberichterstatterin war Béatrice OUIN.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 23. Februar) Béatrice OUIN zur Hauptberichterstatterin und verabschiedete mit 169 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Initiative der Kommission: Die Auflegung dieses dritten Programms ist in diesen Zeiten der Krise eine gute Nachricht für alle EU-Bürgerinnen und -Bürger. Er nimmt erfreut zur Kenntnis, dass dem Bereich Gesundheit ein eigenes Programm gewidmet wird, dessen – wenn auch bescheidenes – Budget zudem aufgestockt wurde.

1.2

Der EWSA befürwortet die Neuausrichtung auf eine begrenzte Anzahl von Prioritäten und die Erhöhung der Obergrenze der Finanzhilfen für die Länder, deren Bruttonationaleinkommen je Einwohner weniger als 90% des EU-Durchschnitts beträgt (1).

1.3

Der EWSA teilt die Ansicht, dass eine bessere Verwendung der finanziellen und personellen Mittel angestrebt werden muss, warnt jedoch vor Bestrebungen, die Haushaltsmittel und die öffentlichen Gesundheitsdienste in Zeiten der Krise zu beschneiden.

1.4

Der EWSA sieht den besonderen Nutzen eines Tätigwerdens der EU im Bereich der Gesundheit darin, dass sie den Austausch bewährter Praktiken und die grundsätzliche Berücksichtigung von Gesundheitsfragen in allen Politikbereichen fördern und zum Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten und der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung beitragen kann.

1.5

Der EWSA betont nachdrücklich die Bedeutung der Prävention, um die Gesundheit der Bevölkerung zu bewahren: Gesundheitserziehung, Verbesserung der Arbeits-, Lebens- und Wohnbedingungen. Wer gesund alt werden will, muss sein Leben lang etwas dafür tun.

1.6

Der EWSA erklärt, dass aufgrund des allgemeinen Arbeitskräftemangels in dieser Branche gemeinsame Lösungen gefunden werden müssen: berufliche Chancengleichheit, Neugewichtung der Kompetenzen und Gehälter, Anerkennung des hohen fachlichen Niveaus, Berücksichtigung der durch informelle Arbeit innerhalb der Familie erworbenen Fertigkeiten, Durchmischung der Arbeitsplätze, Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitgestaltung, lebensbegleitendes Lernen, Umgestaltung des Laufbahnendes unter Berücksichtigung der körperlichen und psychischen Belastungen der Gesundheitsfachkräfte.

1.7

Der EWSA hält es für besser, Arbeitslose in diesen Berufen auszubilden, als bereits ausgebildete Arbeitnehmer aus Drittländern oder anderen EU-Mitgliedstaaten anzuwerben, um zu vermeiden, dass ihre Kompetenzen ihrem Herkunftsland fehlen.

1.8

Der EWSA weist eindrücklich auf die Notwendigkeit hin, den Familien und dem Umfeld (Freunde, Nachbarn usw.) die Mittel an die Hand zu geben, um sich um Kranke und abhängige Personen kümmern zu können, was auch eine Andersverteilung der lebenslangen Arbeitszeit erfordert.

1.9

Der EWSA ermutigt zum Austausch von Erfahrungen mit der Inanspruchnahme von Online-Gesundheitsdiensten sowohl durch Fachkräfte als auch durch Laien und fordert die Festlegung europäischer Rahmenbedingungen, um

bei einem grenzüberschreitenden Austausch von Krankenakten oder ärztlichen Verschreibungen vertrauliche Daten zu schützen,

die Richtigkeit der auf Websites für die Allgemeinheit verbreiteten Informationen mithilfe eines Systems der Akkreditierung durch die zuständigen Gesundheitsbehörden zu gewährleisten.

1.10

Der EWSA ist der Ansicht, dass zu den Prioritäten (Rauchen, Alkohol, Fettleibigkeit und HIV) auch die neuen Risiken hinzugenommen werden sollten, die im Zusammenhang stehen mit

dem Klimawandel, der Umweltverschmutzung, der Verbreitung chemischer Produkte und den Nanotechnologien,

der Sicherheit von Arzneimitteln und Prothesen und dem Arzneimittelüberkonsum,

den Veränderungen der Lebens- und Ernährungsgewohnheiten und ihren Auswirkungen auf die menschliche Fortpflanzung,

der psychischen Gesundheit, wie Stress, Depressionen und Alzheimer.

1.11

Der EWSA vertritt die Meinung, dass neue Technologien im Gesundheitswesen weiter gefördert werden sollten, um die Arbeitsbelastung der dort Beschäftigten zu verringern, die Qualität der Versorgung und Betreuung der Patienten zu verbessern und die Mobilität älterer Menschen zu erhalten und zu erhöhen.

2.   Hintergrund

2.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat in den letzten zwei Jahren zahlreiche Stellungnahmen zu Gesundheitsfragen verabschiedet – von der Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheiten und Alkoholismus über Alzheimer und Krebs bis hin zum Kampf gegen das Rauchen und die Sicherheit von Patienten (2).

2.2

Obgleich das Gesundheitswesen einen wertvollen Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten kann, lässt sich Gesundheit nicht auf diesen Aspekt reduzieren. Um die Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme zu verbessern, die dann in Aktion treten, wenn die Krankheit ausgebrochen ist, gilt es zunächst, die Gesundheit der Bevölkerung durch Prävention und volksgesundheitliche Maßnahmen zu bewahren und Gesundheitsfragen in alle Politikbereiche einzubetten. Auch wäre es zweckdienlich, über mehr Statistiken zu den Tätigkeiten der Gesundheitssysteme zu verfügen.

2.3

Die Wirtschaftskrise hat zu herben Haushaltseinschnitten geführt, die die Qualität der öffentlichen Gesundheitsdienste und den Zugang aller zu den Versorgungsleistungen gefährden. Um die Gesundheit der Bevölkerung in einem Kontext der demografischen Veränderungen und des Klimawandels zu bewahren, ist eine angemessene Mittelausstattung erforderlich.

2.4

Um gesund zu bleiben, bedarf es einer schon im Kindesalter beginnenden Gesundheitserziehung (durch Familie, Bildungseinrichtungen und Medien), einer gesunden Ernährung für alle Altersgruppen, einer Begrenzung des Kontakts mit gefährlichen Produkten, menschenwürdiger Lebens- und Arbeitsbedingungen usw. Besonderes Augenmerk muss auf dem gesunden Altwerden liegen, da die größten Nutzer der Versorgungssysteme – abgesehen von Neugeborenen – ältere Menschen sind. Die Grundlagen für ein gesundes Altwerden müssen früh gelegt werden.

2.5

Bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen und Prävention sind die besten Mittel, um die Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten und somit Fehlzeiten am Arbeitsplatz und Gesundheitskosten zu verringern.

2.6

Die wichtigsten Geißeln, die es zu bekämpfen gilt, sind Armut und soziale Ausgrenzung: Kälte, Hunger, unausgewogene Ernährung, mangelnde Hygiene, schlechte Wohnverhältnisse, häufig in Kombination mit Einsamkeit, fehlende Vorsorgemedizin usw. leisten der Entwicklung von Krankheiten und insbesondere chronischen Krankheiten Vorschub, was mit sehr hohen Kosten für die Sozialschutzsysteme, d.h. für alle Beitragszahler, verbunden ist.

2.7

Der EWSA teilt das Ziel, zu innovativen und nachhaltigen Gesundheitssystemen beizutragen, die gemeinsame Instrumente und Mechanismen zur Behebung des Mangels an Personal und Finanzmitteln entwickeln müssen. Es ist erforderlich, mehr Mittel in die häusliche Pflege und in die Versorgung von Leichtpflegefällen zu investieren und dazu für die Krankenhauspflege vorgesehene Gelder umzuschichten. Dadurch würde die wichtige Rolle anerkannt, die Familien bei der Gesunderhaltung der Bevölkerung und Stärkung der Nachhaltigkeit des Gesundheitssystems spielen.

2.8

Die Gesundheitserziehung beginnt schon von frühester Kindheit an in der Familie, wo Konzepte wie Hygiene, ausgewogene Ernährung, Verhalten, aber auch ein stabiles affektives Umfeld geprägt werden. Die Familie ist der Ort, an dem man die Regeln lernt, um gesund zu bleiben. Sie ist es auch, die die Kranken pflegt – zum einen, weil für viele Krankheiten kein Krankenhausaufenthalt erforderlich ist und die Menschen zu Hause im familiären Umfeld bleiben können, und zum anderen, weil für einen Kranken die Besuche der nächsten Familienangehörigen und Verwandten eine psychologische und materielle Stütze sind, ergänzend zum Krankenhauspersonal. Diese wesentliche Funktion der Familie und des sozialen Umfelds muss erhalten werden, denn wenn ein Mensch krankheitsbedingt in seinen Fähigkeiten eingeschränkt ist, hat er zuallererst das Bedürfnis, von seinen engsten Angehörigen umgeben und unterstützt zu werden.

2.9

Die Veränderungen in der Familienstruktur sind für die geistige und körperliche Gesundheit nicht folgenlos, und es muss im Vorfeld dafür gesorgt werden, dass die Familie ein Umfeld bleibt, das Geborgenheit vermittelt.

2.10

Dass die "häusliche Pflege durch Familienangehörige immer seltener möglich ist", ist keine unumstößliche Tatsache. Kranke wollen nicht in erster Linie von Gesundheitsfachkräften behandelt werden. Für Behandlungen, die eine spezielle Fachkompetenz verlangen, ist die Familie kein Ersatz für Fachkräfte. Doch für alle Aufgaben im Zusammenhang mit der Begleitung der häuslichen Pflege müssen die Kranken und ihre Familie die Wahl haben. Daher sollte, wenn ein Familienmitglied gepflegt werden muss, allen Erwerbstätigen ein Fernbleiben vom Arbeitsplatz ermöglicht werden.

2.11

Zu einer Zeit, in der alle Rentensysteme überarbeitet werden müssen, sollte die Gelegenheit ergriffen werden, die Lebensarbeitszeit neu auszutarieren. Wenn es die höhere Lebenserwartung möglich macht, länger zu arbeiten, so müssen Frauen und Männer während ihres Berufslebens Anspruch auf lange, nach dem Vorbild des Altersruhestands finanzierte Auszeiten (in Voll- oder Teilzeit) haben, um sich um kranke Verwandte oder hilfsbedürftige alte Menschen zu kümmern. Es sollte eine größere Wahlfreiheit eingeführt werden, damit abhängig Beschäftigte ihren Bedürfnissen entsprechend über ein durch ihre Arbeit finanziertes Zeitguthaben verfügen können, und dies nicht nur im Ruhestand. Die europäischen Sozialpartner, die bereits den Elternurlaub ausgehandelt haben, könnten daran anknüpfend nun über Urlaub und Zeitkonten verhandeln, die notwendig sind, um Familie und Beruf besser miteinander zu vereinbaren.

2.12

Damit die Familie weiterhin der vorrangige Ort der Solidarität bleibt, müssen ihr auch die nötigen Mittel dazu zur Verfügung stehen. Schon heute muss bei der Berechnung der Sozialversicherungs- und Rentenansprüche die Zeit berücksichtigt werden, die Menschen für die Begleitung eines kranken oder hilfsbedürftigen Familienangehörigen aufwenden.

2.13

Es müssen ferner Dienste entwickelt werden, um hilfsbedürftigen Personen bei der Bewältigung von Situationen des täglichen Lebens unter die Arme zu greifen: Hilfe bei der Körperpflege, im Haushalt, bei der Essenszubereitung oder Nachtwache. Diese Sparte der Beschäftigungen im Bereich der Familienhilfe erlebt einen starken Aufschwung: Hier entstehen Arbeitsplätze. In zu vielen Ländern ist die häusliche Pflege noch immer eine informelle, nicht angemeldete, ungeschützte Beschäftigung ohne anerkannte Berufsqualifikation, die häufig von Migrantinnen ausgeübt wird. Sie ist ein wichtiger Bereich für die Gleichstellung von Frauen und Männern, in dem die Stereotypen schwer wiegen, das fachliche Niveau nicht anerkannt wird, die Verträge prekär sind oder gänzlich fehlen und sehr niedrige Gehälter gezahlt werden – und das, obwohl diese Beschäftigungen unverzichtbar sind, um das Rad der Wirtschaft am Laufen zu halten. Das jüngst von der ILO angenommene Übereinkommen über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte dürfte zu besseren moralischen Anforderungen und mehr Professionalität in diesem Sektor führen, vorausgesetzt, es werden Finanzierungsbedingungen geschaffen, die nicht ausschließlich zu Lasten der bedürftigen Kranken oder ihrer Familie gehen.

3.   Ziele des Programms

3.1

In dem Programm wird vorgeschlagen, innovative Lösungen zu verbreiten, um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken. In dieser Zeit der massiven Arbeitslosigkeit in Europa muss die Frage gestellt werden, weshalb es mit der Anwerbung von Arbeitskräften im Gesundheitswesen hapert. Diese Berufssparte mit hohem Frauenanteil lockt weder genügend junge Menschen noch ausreichend Männer an. Gründe hierfür sind die mangelnde Anerkennung der Qualifikationen und Kompetenzen, schwierige Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen und niedrige Gehälter. Die berufliche Gleichstellung muss über die Verbesserung der Gehaltssituation, eine stärkere Anerkennung der fachlichen Kompetenzen sowie den Zugang zu lebensbegleitenden Fortbildungsmaßnahmen gehen.

3.2

Eine wichtige Neuerung bestünde darin, die Präsenz von Männern in diesem Sektor zu stärken, wofür entsprechende Maßnahmen erforderlich sind. Die Sozialpartner sollten Maßnahmen fördern, um mehr unterrepräsentierte Gruppen mit ins Boot zu holen. Es ist Wachsamkeit geboten, wenn Pflegekräfte aufgrund ihres Selbstständigenstatus Pausenzeiten vernachlässigen und bis zur Erschöpfung durcharbeiten. Ein weiterer Fokus müssen sämtliche technische Innovationen sein, die es ermöglichen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und die Arbeit weniger beschwerlich zu machen.

3.3

Im Gesundheitswesen, in dem die Belastungen hoch sind, bedürfen die Kranken rund um die Uhr sieben Tage pro Woche der Pflege. Zudem sind Nachtschichten und wenig familienverträgliche Arbeitszeiten erforderlich. Um zufriedenstellende Arbeitsbedingungen zu erreichen, muss das Personal eng in die Entscheidungen eingebunden werden. Die Sozialpartner müssen im Rahmen des sektorspezifischen sozialen Dialogs die Umsetzung innovativer Arbeitsplatzkonzepte vorsehen, wie die individuelle Dienstplanverwaltung ("Self-rostering"), die mithilfe von Telematikinstrumenten unterstützt werden kann.

3.4

Die Sozialpartner müssen mit den Behörden zusammenarbeiten, um die Praxis des lebenslangen Lernens, die interne Arbeitsplatzmobilität und den Erwerb von Kompetenzen im Bereich Management und Organisation zu fördern. Um die Vereinbarkeit von Arbeit und Lernen zu erleichtern, müssen sie eine Reihe von Optionen berücksichtigen, darunter Abordnungen, arbeitsbegleitende Weiterbildung und Online-Lernen. Die Erweiterung der beruflichen Möglichkeiten trägt wesentlich dazu bei, den Verbleib des Personals sicherzustellen.

3.5

Dem Arbeitskräftemangel dadurch entgegenzuwirken, dass die Ausbildung von Arbeitslosen gefördert und ein angemessenes Gehalt gezahlt wird, ist eine bessere Lösung, als bereits ausgebildete Arbeitnehmer aus Drittländern anzuwerben: Diese Ärzte, Pflegekräfte, Physiotherapeuten usw. aus Afrika, Asien oder Lateinerika werden den Ländern, die ihnen ihre Ausbildung finanziert haben, letztlich fehlen. Die europäischen Sozialpartner im Gesundheitsbereich haben einen Verhaltenskodex für die grenzübergreifende, ethisch vertretbare Einstellung und Weiterbeschäftigung von Krankenhauspersonal erarbeitet. Er muss angewandt und ausgeweitet werden. Für den Fall, dass sich Fachkräfte aus Drittländern doch in Europa niederlassen wollen, schlug der EWSA in einer Stellungnahme zu Gesundheit und Migration 2007 die Einrichtung eines Ausgleichsfonds vor, damit andere Fachkräfte in ihrem Land ausgebildet werden können (3).

3.6

Das erste Ziel des Programms besteht darin, "die europäische Zusammenarbeit zur Technologiefolgenabschätzung (HTA) im Gesundheitswesen [zu] fördern und das Potenzial der Gesundheitstelematik und der IKT im Gesundheitswesen [zu] ermitteln […]". Es müssen europäische Rahmenbedingungen zum Schutz vertraulicher Daten (z.B. Krankenakten oder ärztliche Verschreibungen) beim grenzüberschreitenden Austausch festgelegt werden.

3.7

Das zweite Ziel des Programms ist die "Verbesserung des Zugangs zu medizinischem Fachwissen und Informationen über spezifische Erkrankungen – auch grenzübergreifend – und Entwicklung gemeinsamer Lösungen und Leitlinien zur Verbesserung der Qualität der Gesundheitsversorgung und der Patientensicherheit, um den Bürgerinnen und Bürgern mehr Zugang zu besserer und sichererer Gesundheitsversorgung zu geben". Websites zu Gesundheitsfragen für die Allgemeinheit, die sehr hohe Besucherzahlen verzeichnen, verbreiten medizinische Informationen und tragen zur Gesundheitserziehung bei. Durch die Konsultation dieser Seiten kann sich für harmlose Beschwerden ein Arztbesuch vermeiden lassen. Indem sie über den Nutzen traditioneller oder alternativer Heilverfahren, Behandlungen auf pflanzlicher Basis, Thermalkuren, Massagen usw. informieren, tragen sie zur Erhaltung der Gesundheit bei. Eine bessere Kenntnis der eigenen Person, der eigenen psychischen und physiologischen Bedürfnisse zu propagieren, dient dazu, den Gesundheitszustand der Bevölkerung zu verbessern und die Überinanspruchnahme von Pflegeleistungen und den Überkonsum von Arzneimitteln einzuschränken. Es sollten Austausche organisiert und europäische Rahmenbedingungen festgelegt werden, um die Richtigkeit der öffentlich verbreiteten Informationen zu gewährleisten (Akkreditierung). Damit soll eine Zunahme der Fälle verhindert werden, in denen es nur um Profitstreben geht und die Gutgläubigkeit der Kranken ausgenutzt wird.

3.8

Der Austausch bewährter Praktiken für die in dieser oder jener Region umgesetzten Methoden muss angeregt werden, um den Zugang zu den Dienstleistungen zu verbessern und den Verbleib bzw. die Niederlassung von Ärzten und qualifiziertem Pflegepersonal in ländlichen Gebieten oder städtischen Problemvierteln bei der Planung der Gesundheitssysteme und -politiken und individueller Dienstleistungen zu ermöglichen.

3.9

Mit dem dritten Ziel wird die "Ermittlung, Verbreitung und Förderung des Know-how-Transfers bezüglich validierter wirtschaftlicher Präventionsmaßnahmen durch Bekämpfung der Hauptrisikofaktoren, wie Rauchen, Alkoholmissbrauch und Adipositas sowie HIV/Aids" vorgeschlagen. In einem Programm, in dem es so viel um Innovation geht, muss auch ein Austausch über die neuen, für die Zukunft ebenso wichtigen Risikofaktoren gefördert werden.

3.10

Mit dem Klimawandel, der zunehmenden Umweltverschmutzung, den veränderten Lebensgewohnheiten (Sesshaftigkeit, stundenlanges Sitzen vor dem Bildschirm usw.) und der Verbreitung zahlreicher chemischer Stoffe, deren Langzeiteffekte auf die Gesundheit unbekannt sind, treten neue Beschwerden und chronische Krankheiten auf, die zu den wichtigsten Problemen des 21. Jahrhunderts zählen werden.

3.11

Asbest war seit seiner ersten Verwendung in Industrie und Baugewerbe Ende des 19. Jahrhunderts bis zu seinem Verbot Ende des 20. Jahrhunderts für den Tod Zehntausender Arbeitnehmer verantwortlich.

3.12

In der Landwirtschaft kommen Pestizide und andere chemische Produkte zum Einsatz, deren schädliche Auswirkungen auf den Organismus erst langfristig zutage treten. In Studien werden Bedenken hinsichtlich der Krebsrate bei Landwirten laut. Diese Produkte verbreiten sich in der Luft, im Wasser und in den Nahrungsmitteln. Zur längeren Aufbewahrung und Geschmacksveränderung von Lebensmitteln setzt die Agrar- und Lebensmittelindustrie auch Zusatzstoffe ein.

3.13

Hinzu kommen Reinigungsmittel für den Hausgebrauch und für Arbeitsstätten, die vielen in der Industrie eingesetzten Produkte sowie die Arzneimittel. Der Überkonsum von Arzneimitteln hat schon jetzt die Resistenz gegen Antibiotika zur Folge. Diese Antibiotika werden auch Mastvieh verabreicht und verbreiten sich im Wasser. Zusammen ergeben diese Produkte eine in der Umwelt vorhandene "Chemiesuppe", die u.a. zum raschen Anstieg von Allergien und Krebs geführt zu haben scheint. Auch Elektrosmog ist eine Quelle von Belastungen.

3.14

Eine weitere besorgniserregende Frage ist die, welche Folgen eine Exposition gegenüber Produkten und Strahlungen sowie Veränderungen der Lebensweise auf die Fortpflanzungsfähigkeit der Menschen haben. Auch wenn die sinkenden Geburtenzahlen vor allem auf soziologische Ursachen zurückzuführen sind, dürfen die zunehmenden physiologischen Schwierigkeiten zahlreicher Paare mit Kinderwunsch nicht außer Acht gelassen werden.

3.15

Unter den neuen Risiken ist der Stress am Arbeitsplatz eine der Ursachen von Depressionen, der sogar zu Suizid führen kann. Auch gegen den Stress unter Arbeitslosen und allgemein all denjenigen, die das Gefühl haben, für die Gesellschaft nutzlos zu sein, sollte etwas unternommen werden. Das psychische Wohlbefinden ist ein wesentlicher Bestandteil des Gesundheitszustands der Bevölkerung.

3.16

Wer gesund alt werden will, muss sein Leben lang etwas dafür tun. Hierbei spielen die Arbeitsbedingungen eine wichtige Rolle: Die Lebenserwartung für Büroangestellte, Schichtarbeiter oder Landarbeiter ist nicht die gleiche. Zur Gesundheit im Alter trägt beispielsweise bei, die Beschwerlichkeit der Arbeit herabzusetzen, die Nachtarbeit zu begrenzen und die Stressbelastung zu verringern.

3.17

Für Gesundheit im Alter ist es wesentlich, das Gefühl der gesellschaftlichen Nützlichkeit zu bewahren, weiterhin ein soziales Netz um sich herum zu haben, sich seine Neugier zu erhalten, weiterhin beruflich oder ehrenamtlich aktiv zu bleiben, sich körperlich zu betätigen und auf eine gesunde Lebensführung zu achten.

3.18

Ein weiteres Thema, das des Lebensendes, hätte einen Meinungsaustausch auf europäischer Ebene verdient, weil es dabei um die Verantwortung des Einzelnen und sein Verhältnis zur Vorstellung von einem menschenwürdigen Leben geht. Heutzutage sterben die meisten Menschen im Krankenhaus; das Ende des Lebens ist somit ein wichtiges Thema.

3.19

Die Entwicklung von Palliativdiensten, die dem Sterbenskranken die Leidenszeit ersparen, wenn eine Heilbehandlung nicht mehr anschlägt, ist unerlässlich. Diese Dienste werden nicht in allen Krankenhäusern angeboten, oder es können nicht alle aufgenommen werden, die sie benötigen.

3.20

Das vierte Ziel des Programms lautet "Entwicklung gemeinsamer Konzepte und Nachweis ihres Werts für bessere Abwehrbereitschaft und Koordinierung in gesundheitlichen Krisenfällen, um die Bürgerinnen und Bürger vor grenzübergreifenden Gesundheitsbedrohungen zu schützen". Epidemien kennen keine Grenzen, die Zusammenarbeit in diesem Bereich ist daher wesentlich. Aus diesen Maßnahmen sollten Lehren gezogen werden, um in Zukunft eine Verschwendung der Ressourcen zu vermeiden. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen den unter die Gesundheitserziehung fallenden Präventivmaßnahmen, die dauerhaft festgelegt werden können, und Maßnahmen, die den Kauf von Produkten von begrenzter Haltbarkeit umfassen. Ein Austausch über die Kosten und Resultate könnte es ermöglichen, Methoden zu entwickeln, die den Zielsetzungen angemessen sind.

Brüssel, den 23. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  EE, HU, LV u.a.

(2)  Siehe die Stellungnahmen des EWSA:

 

ABl. C 18/74 vom 19.1.2011.

 

ABl. C 339/1 vom 14.12.2010.

 

ABl. C 255/72 und 76 vom 22.9.2010.

 

ABl. C 128/89 vom 18.5.2010.

 

ABl. C 228/113 vom 22.9.2009.

 

ABl. C 318/10 vom 23.12.2009.

 

ABl. C 306/64 vom 16.12.2009.

 

ABl. C 317/105 vom 23.12.2009.

 

ABl. C 218/91 vom 11.9.2009.

 

ABl. C 175/116 vom 28.7.2009.

 

ABl. C 77/115 vom 31.3.2009.

 

ABl. C 224/88 vom 30.8.2008.

 

ABl. C 77/96 vom 31.3.2009.

(3)  EWSA-Stellungnahme, ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 123.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/107


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Sicherheit von Offshore-Aktivitäten zur Prospektion, Exploration und Förderung von Erdöl und Erdgas“

COM(2011) 688 final — 2011/0309 (COD)

2012/C 143/20

Berichterstatter: George Traill LYON

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 17. November bzw. am 29. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 192 Absatz 1 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Sicherheit von Offshore-Aktivitäten zur Prospektion, Exploration und Förderung von Erdöl und Erdgas“

COM(2011) 688 final – 2011/0309 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 20. Januar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 111 gegen 2 Stimmen bei 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Schwere Zwischenfälle vor den Küsten sind zwar selten, gehen aber oft mit katastrophalem Folgen für Mensch, Umwelt, Wirtschaft und Klima einher.

1.2

Die Notwendigkeit eines konsequenten Ansatzes auf EU-Ebene bezüglich der Sicherheit von Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten ist weithin anerkannt.

1.3

Dieses Ziel lässt sich am besten erreichen, indem die höchsten Standards, die in weiten Teilen der Branche bereits angewandt werden, allgemein verbreitet und umgesetzt werden.

1.4

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss unterstützt die von der Europäischen Kommission empfohlene „Option 2“ als das Maßnahmenpaket, das zur Erreichung der Ziele des Vorschlags am besten geeignet ist.

1.5

Ziel dieser Verordnung sollte es sein, die Regulierungstätigkeit im Zusammenhang mit den Reformmaßnahmen verstärkt zu dezentralisieren und den zuständigen nationalen Behörden und Interessenträgern zu übertragen und für die vorgeschlagene EU-weite Gruppe der für Offshore-Aktivitäten zuständigen Behörden eine klar festgelegte, aber begrenzte Rolle vorzusehen.

1.6

Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission auf, ihre Beratungen zu den Punkten Produktsicherheit, finanzielle Leistungsfähigkeit und insbesondere Unternehmenshaftung rasch abzuschließen.

1.7

EU-Betreiber, die in Exploration und Förderung außerhalb des Hoheitsgebiets der EU tätig sind, sollten zum Export der höchsten EU-Standards angehalten werden.

2.   Einleitung

2.1

Am 27. Oktober 2011 legte die Europäische Kommission ihren Vorschlag für eine Verordnung über die Sicherheit von Offshore-Aktivitäten zur Prospektion, Exploration und Förderung von Erdöl und Erdgas vor.

2.2

Angesichts der von der Ölbohrplattform Deepwater Horizon im April 2010 im Golf von Mexiko ausgelösten Umweltkatastrophe und des laut Europäischer Kommission erheblichen Risikos eines schweren Unfalls in der europäischen Offshore-Industrie besteht kaum ein Zweifel an der Dringlichkeit, mit der die in der Folgenabschätzung der Europäischen Kommission (die diesem Vorschlag beigefügt ist, allerdings nur auf Englisch vorliegt) dargelegten Probleme angegangen und geeignete Maßnahmen ergriffen werden müssen. Dabei geht es um Folgendes:

Bewusstmachung und weitestmögliche Vermeidung besonders gefahrenträchtiger Unfälle;

Begrenzung und Eindämmung der Folgen schwerer Katastrophen;

verbesserter Schutz der Meeresumwelt und der Küstenwirtschaft vor den Auswirkungen der Umweltverschmutzung;

Notwendigkeit der Verbesserung der Bandbreite und Wirksamkeit von zwischen den Mitgliedstaaten koordinierten Notfallmaßnahmen;

Notwendigkeit der Ausarbeitung klarer Leitlinien (früher oder später) zur Haftung von Offshore-Auftragnehmern für direkte und indirekte Verluste, die Dritten entstehen;

Notwendigkeit der Schaffung und Harmonisierung der notwendigen Rahmenbedingungen für den sicheren Betrieb von Offshore-Einrichtungen und -Anlagen;

Wiederherstellung des Vertrauens der Öffentlichkeit in eine sichere, sachgemäß verwaltete und regulierte Offshore-Erdöl- und -Erdgasindustrie.

2.3

Nach Meinung der Europäischen Kommission sollte diesbezüglich am besten vorgegangen werden wie folgt:

Verbesserung der Verfahren für die Sicherheitsüberprüfung, die Lizenzvergabe, die Festlegung von Vorschriften und die Überwachung betreffend die Auftragnehmer und Betreiber in der Branche;

Förderung einer Sicherheitskultur in den Unternehmen;

Beseitigung von Unstimmigkeiten zwischen den Praktiken der Mitgliedstaaten;

bessere Verwaltung und Koordination der Einsatzressourcen und Reaktionsfähigkeit;

bessere Überprüfung der sicherheitskritischen Ausrüstung (einschl. der Überprüfung durch einen unabhängigen Dritten);

Evaluierung der Verfahrensweisen mit Blick auf Produktsicherheit, Gewährleistung der finanziellen Leistungsfähigkeit sowie zivilrechtliche Haftung und Entschädigungsregelungen der Offshore-Betreiber.

2.4

Zur Erreichung dieser Ziele plädiert die Europäische Kommission speziell für das Modell „beste Praxis der Union“: ein Paket von Reformen, die großteils auf der langjährigen und allgemein anerkannten Praxis des Sektors im Nordseeraum beruhen. Erwartete Ergebnisse sind mehr Zusammenarbeit in den Bereichen Risikobewertung, Notfallplanung, Notfallmaßnahmen sowie gemeinsame Nutzung von Informationen, Fachwissen und Ressourcen. Bei diesem Modell („Option 2“ der Folgenabschätzung) ist in jedem Mitgliedstaat die Einrichtung einer „zuständigen Behörde“ vorgesehen, die übergeordnet für die Angelegenheiten der Erdöl- und Erdgaswirtschaft zuständig ist, sowie die Gründung einer EU-weiten „Gruppe der für Offshore-Aktivitäten zuständigen Behörden“ zur Aufstellung neuer Sicherheitsnormen, zur Erleichterung von EU-Regulierungsprogrammen und zur Gewährleistung einer einheitlichen Berichterstattung über Staatsgrenzen hinweg.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Im europäischen Offshore-Erdöl- und -Erdgassektor sind fast 1 000 Anlagen in Betrieb, und zwar 486 im Vereinigten Königreich, 181 in den Niederlanden, 123 in Italien, 61 in Dänemark, 7 in Rumänien, 4 in Spanien, 3 in Polen, jeweils 2 in Deutschland, Griechenland und Irland sowie 1 Anlage in Bulgarien.

3.2

Nach Meinung des Ausschusses muss bei sämtlichen Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten und in ihrem Umfeld die Sicherheit an oberster Stelle stehen. Er begrüßt daher diese Initiative der Europäischen Kommission.

3.3

Der Schwerpunkt der Verordnung liegt zwar in erster Linie auf der Verhütung und Eindämmung der Umweltauswirkungen von Offshore-Vorfällen und -Unfällen, in der Folgenabschätzung werden jedoch begrüßenswerterweise auch die Aspekte Gesundheit, Sicherheit und Wohlergehen der Arbeitnehmer in der Offshore-Erdöl- und -Erdgasindustrie aufgegriffen.

3.4

Der Ausschuss ist sich darüber im Klaren, dass die Erfordernisse des Vorschlags gegen den Bedarf der EU an Energie und Energieversorgungssicherheit abgewogen werden müssen.

3.5

Es besteht zwar in der EU kein Regelwerk, das speziell der Sicherheit von Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten gewidmet ist, aber es gibt verschiedene Richtlinien, die Sachverhalte erfassen, die eng mit den in dem Vorschlag angesprochenen Aspekten zusammenhängen, wie etwa die Umwelthaftungsrichtlinie (2004/35/EG), die Abfallrahmenrichtlinie (2008/98/EG), die Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung (85/337/EWG in ihrer geänderten Fassung), Maßnahmen gemäß der Rahmenrichtlinie über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (89/391/EWG) über Mindestvorschriften zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer in den Betrieben, in denen durch Bohrungen Mineralien gewonnen werden, oder die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (2008/56/EG). Da diese Richtlinien mit den Zielen des Vorschlags nicht deckungsgleich sind, können sie jeweils nur teilweise angewandt werden, soweit das ohne besondere Anpassungen überhaupt möglich ist. So bezieht sich beispielsweise die Umwelthaftungsrichtlinie auf die Verschmutzung des Meeres, nicht aber auf die Schädigung der Gewässer der ausschließlichen Wirtschaftszone oder die Verschmutzung des Festlandsockels, deren Schutz unter die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie fallen muss.

3.6

Immer wieder wird (von Beobachtern) kritisiert, dass (aufgrund von Richtlinien, Selbstregulierung, internationalen Abkommen und Protokollen) bestehende Sicherheits-, Sanierungs-, Haftungs- und Entschädigungsstandards oftmals zusammenhangslos anmuten und ineffizient umgesetzt werden – zurückzuführen ist dies auf unterschiedliche Schwerpunkte und Auslegungen, Gleichgültigkeit gegenüber dem Grundgedanken der Um- und Durchsetzungsmechanismen, auch wenn sie im Einzelnen umgesetzt werden, sowie auf eine schwach ausgeprägte Unternehmenskultur. Das schadet der Glaubwürdigkeit der Rechtsetzung und ist unbefriedigend. Daher ist der in dem Vorschlag skizzierte Neuanfang zu begrüßen.

3.7

Die Europäische Kommission erachtet die von der Offshore-Industrie im Nordseeraum freiwillig oder verpflichtend angewendeten Praktiken und Verfahren als „beste Betriebspraktiken“, „beste Praktiken in der Union“, „die besten verfügbaren Praktiken […], die in Normen und Leitfäden der Behörden festgelegt sind“, derzeit beste Standards („current best standard“), „bestmögliche Praktiken“, „anerkannte, weltweit beste Praktiken zur Begrenzung des Risikos ernster Gefahren“ mit ergebnisorientierten Regulierungsansätze „von weltweitem Spitzenniveau“. Dennoch sieht der Ausschuss das relativ hohe Restrisiko mit Sorge und ist der Meinung, dass mit diesem Verordnungsvorschlag die Sicherheitskultur in den Offshore-Unternehmen gestärkt wird.

3.8

Diese Praktiken konnten durch Exploration, technische Entwicklung und praktische Erfahrungen (manchmal auch bittere Erfahrungen wie die Unfälle auf den Bohrinseln Alexander L. Kielland (1980) und Piper Alpha (1988)) weiterentwickelt und ausgefeilt werden. Der Ausschuss ist sich bewusst, dass dies ein kontinuierlicher Prozess ist, der ständig bewertet werden muss; seiner Meinung nach stehen die Betreiber der Einführung neuer Maßnahmen und Leitlinien bzw. der Anpassung bestehender Standards und Verfahren, wo immer dies notwendig oder sinnvoll erscheint, offen gegenüber und vollziehen derartige Änderung rasch. Mit dieser Verordnung wird ein einheitlicher Rahmen hierfür geschaffen.

3.9

Kohärente, umfassende und allgemein anwendbare Grundsätze, Verfahren und Kontrollmechanismen in der EU, wie sie in der Verordnung angesprochen werden, sind angebracht und für eine verantwortungsvolle Governance der Erdöl- und Erdgasbranche mit Blick auf die Entwicklung neuer Explorations- und Förderungsfelder notwendige Voraussetzung. Der Ausschuss hält fest, dass die Europäische Kommission „Option 2“ als am besten vertretbaren Ansatz erachtet.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Die Europäische Kommission unterstreicht an mehreren Stellen die Risiken eines schweren Erdöl- oder Erdgasunfalls in EU-Gewässern und bezeichnet diese als „signifikant für das gesamte Unionsgebiet“, realistischer als sie vielleicht erscheinen („more real than they may appear“) und unannehmbar hoch („unacceptably high“). Der Ausschuss wäre an der konkreten Untermauerung dieser Aussage interessiert.

4.2

Der Ausschuss hegt Bedenken in Bezug auf die Wahl einer Verordnung als bevorzugtes Rechtsinstrument, da der Kommissionsvorschlag folgende Auswirkungen zeitigen könnte:

Aushöhlung oder Zersetzung der „besten Praxis“ derjenigen Betreiber und Mitgliedstaaten, die sich an das Nordsee-Basismodell halten, durch die Einführung neuer und komplexer Legislativverfahren, begleitender unverbindlicher Leitlinien („soft law“) und Änderungen aufgrund der der Europäischen Kommission übertragenen Befugnisse;

zusätzliche und möglicherweise unnötige Kosten, Störungen, Verzögerungen, Überschneidungen und Verwirrung innerhalb und außerhalb der Offshore-Industrie sowie (möglicherweise in der Übergangszeit) eine Gefährdung der Sicherheit; der Ausschuss hofft, dass mit einer umsichtig formulierten Verordnung diese Bedenken ausgeräumt werden können.

4.3

Zwar kann argumentiert werden, dass das bestehende Modell der besten Praxis, namentlich das Nordsee-Modell, in Verbindung mit der Rolle von Organisationen wie dem Forum der Offshore-Aufsichtsbehörden des Nordseeraums (North Sea Offshore Authorities Forum – NSOAF), der Oil Spill Prevention and Response Advisory Group, der Offshore Oil Pollution Liability Association Ltd, dem Internationalen Forum der Regulierungsbehörden (International Regulators Forum) und den The Operators Co-operative Emergency Services hinreichend Subsidiarität in der Praxis im Zusammenhang mit Maßnahmen der Mitgliedstaaten veranschaulicht und der „Level-up“-Ansatz der Europäischen Kommission auch im Wege einer Richtlinie verwirklicht werden könnte, doch ist sich der Ausschuss der wesentlichen Vorteile einer Verordnung im Sinne von Dringlichkeit und Rechtsicherheit bewusst und befürwortet, dass die Europäische Kommission diese als Legislativinstrument bevorzugt. Der Ausschuss erwartet, dass in dieser Verordnung die bestehenden Unstimmigkeiten zwischen Mitgliedstaaten ausgeräumt und die besten Elemente, Grundsätze und Standards des Nordsee-Modells übernommen und wiedergegeben werden.

4.4

Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission auf, mitzuteilen, ob und wenn ja, in welchem Maß die Bestimmungen von Artikel 194 Absatz 2 AEUV bei der Ausarbeitung des Vorschlags berücksichtigt wurden.

4.5

Die EU-Sicherheitskultur muss, wo immer dies möglich ist, von allen EU-Betreibern innerhalb und außerhalb der Hoheitsgewässer der Union einheitlich umgesetzt werden. Daher schlägt der Ausschuss vor, die Möglichkeit eines Systems der Überprüfung durch einen unabhängigen Dritten zu beleuchten, um spezifisch dieses Ziel zu verwirklichen.

4.6

Die Deepwater-Horizon-Katastrophe hat erneut gezeigt, dass die finanziellen Anforderungen an die Betreiber erhöht werden müssen, damit diese bei Unfällen jeder Art in der Lage sind, ihren Haftungs- und Entschädigungsverpflichtungen nachzukommen. Der Ausschuss empfiehlt daher, die Einführung einer zwingenden Haftpflichtversicherung (oder eines vergleichbaren und angemessenen Haftungsschutzes) zu prüfen und eine Revisionsklausel in die Verordnung aufzunehmen, um diese wichtige Frage in naher Zukunft aufzugreifen.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/110


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines Gemeinschaftssystems zur Registrierung von Beförderern radioaktiven Materials“

COM(2011) 518 final

2012/C 143/21

Berichterstatter: Ludvík JÍROVEC

Die Europäische Kommission beschloss am 30. August 2011 gemäß Artikel 31 Euratom-Vertrag, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines Gemeinschaftssystems zur Registrierung von Beförderern radioaktiven Materials"

COM(2011) 518 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 117 gegen 3 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss empfiehlt die Annahme der vorgeschlagenen Verordnung. Er stimmt mit der Europäischen Kommission überein, dass die Auswirkungen dieser Verordnung zwei Jahre nach ihrer Umsetzung bewertet werden müssen. Es ist außerdem sinnvoll, nach fünf Jahren erneut zu prüfen, welche Hemmnisse für den reibungslosen Ablauf von Beförderung radioaktiven Materials in der Europäischen Union noch bestehen.

1.2

Der Ausschuss spricht sich für die in der Folgenabschätzung vorgeschlagene Option 2 aus, in der eine "Verordnung mit harmonisierten Vorschriften und effizientere Rolle der zuständigen Behörden" vorgesehen ist.

1.3

Die Mitgliedstaaten sollten für die Harmonisierung der Registrierungskriterien Sorge tragen.

1.4

Das Online-System für die Registrierung von Beförderern muss vorab eingeführt, getestet und einsatzfähig sein, wenn diese Verordnung in Kraft tritt.

1.5

Nach Meinung des Ausschusses würde die Einrichtung einer neuen Agentur, wie sie in Option 3 in Betracht gezogen wird, zu einer Erhöhung des Verwaltungsaufwands für Unternehmer führen und die Wirksamkeit der Verordnung insgesamt beeinträchtigen.

1.6

Der Ausschuss hält fest, dass der Versicherungsschutz, der von den Beförderern gefordert wird, je nach Mitgliedstaat unterschiedlich ist. Dieser Versicherungsschutz darf zwar aufgrund der Rechtsgrundlage nicht Teil des Registrierungsverfahrens sein, doch fordert der Ausschuss die Mitgliedstaaten auf, die notwendigen Versicherungsbestimmungen zu vereinheitlichen.

1.7

Die in der Verordnung enthaltenen Begriffsbestimmungen sollten sich so weit wie möglich mit dem IAEO-Glossar decken, insbesondere für den Begriff "Beförderer"; allerdings müssen sie auch im Einklang mit den Euratom-Rechtsvorschriften, insbesondere Richtlinie 96/29/Euratom, stehen.

1.8

Der Antragsteller sollte die Möglichkeit haben, seinen Antrag zu korrigieren oder um weitere Informationen zu ergänzen; der Antrag sollte nicht einfach ohne weitere Prüfung abgelehnt werden können (Artikel 5 Absätze 7 und 10).

2.   Einleitung und Inhalt des Verordnungsvorschlags

2.1

Ziel dieses Vorschlags ist die Ablösung der nationalen Melde- und Genehmigungsverfahren durch ein einziges Registrierungssystem für Beförderer radioaktiven Materials; dies wird zur Vereinfachung des Verfahrens, zur Verringerung des Verwaltungsaufwands und zur Beseitigung der Zugangshemmnisse beitragen und gleichzeitig dafür sorgen, dass die bislang erreichten hohen Strahlenschutzstandards aufrechterhalten werden.

2.2

Die für Beförderer radioaktiven Materials auf europäischer Ebene geltenden Rechtsvorschriften stützen sich in Bezug auf den Verkehrsbereich auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), und in Bezug auf den Strahlenschutz, einschließlich der Vorschriften für den Schutz der Gesundheit der Arbeitskräfte und der Bevölkerung, auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom).

2.3

Das auf dem AEUV beruhende Recht wurde durch die Richtlinie 2008/68/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über die Beförderung gefährlicher Güter im Binnenland vereinfacht, die für alle Landverkehrsträger gilt.

2.4

In der Richtlinie 96/29/Euratom des Rates vom 13. Mai 1996 werden die grundlegenden Sicherheitsnormen für den Schutz der Gesundheit der Arbeitskräfte und der Bevölkerung gegen die Gefahren durch ionisierende Strahlungen festgelegt. Nach Artikel 30 Euratom-Vertrag sind unter diesen Grundnormen zu verstehen:

die zulässigen Höchstdosen, die ausreichende Sicherheit gewähren;

die Höchstgrenze für die Aussetzung gegenüber schädlichen Einflüssen und für schädlichen Befall;

die Grundsätze für die ärztliche Überwachung der Arbeitskräfte.

Die Mitgliedstaaten ergreifen nach Artikel 33 die geeigneten Maßnahmen, um die Beachtung der Grundnormen sicherzustellen.

2.5

Um den Schutz der Gesundheit der Arbeitskräfte und der Bevölkerung zu gewährleisten und ihre Arbeit gezielter ausrichten zu können, müssen die Behörden der Mitgliedstaaten wissen, welche Personen, Organisationen oder Unternehmen überprüft werden sollen. Deswegen sind die Mitgliedstaaten nach Artikel 3 und Artikel 4 der Richtlinie gehalten, bestimmte, mit einer Gefährdung durch ionisierende Strahlung verbundene Tätigkeiten der Meldepflicht (Notifizierung) und der Pflicht zur vorherigen Genehmigung zu unterwerfen oder sie zu verbieten.

Die Richtlinie 96/29/Euratom gilt für alle Tätigkeiten, die mit einer Gefährdung durch ionisierende Strahlung aus einer künstlichen oder natürlichen Strahlenquelle verbunden sind, unter anderem für die Beförderung.

2.6

Da Beförderungsvorgänge häufig grenzübergreifend sind, muss ein Beförderer diese Melde- und Genehmigungsverfahren unter Umständen in allen betreffenden Mitgliedstaaten durchlaufen. Darüber hinaus haben die Mitgliedstaaten für diese Verfahren unterschiedliche Systeme eingeführt, so dass sich die Beförderungsvorgänge und die Genehmigungsverfahren noch komplexer gestalten.

2.7

Durch diese Verordnung werden die gemäß der Richtlinie 96/29/Euratom des Rates eingerichteten Melde- und Genehmigungssysteme der Mitgliedstaaten durch eine einzige Registrierung in einem europäischen System für die Registrierung von Beförderern (Electronic System for Carrier Registration - ESCReg) ersetzt. Die Beförderer sollten die Registrierung über eine zentrale Internet-Schnittstelle beantragen. Die Anträge werden von der jeweiligen nationalen zuständigen Behörde geprüft, die die Registrierung vornimmt, wenn der Antragsteller die grundlegenden Sicherheitsnormen erfüllt. Gleichzeitig ermöglicht das System den zuständigen Behörden einen besseren Überblick darüber, welche Beförderer in ihrem Land tätig sind.

2.8

In der Verordnung ist ein "abgestufter Ansatz" vorgesehen, indem Beförderer, die ausschließlich "freigestellte Versandstücke" befördern, vom Registrierungsverfahren ausgenommen werden. Andererseits stellt die Verordnung es den Mitgliedstaaten frei, zusätzliche Anforderungen für die Registrierung von Beförderern festzulegen, die spaltbares und hochradioaktives Material transportieren.

2.9

Andere Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, nationale Gesetze und internationale Regeln in Bezug auf den physischen Schutz, Sicherungsmaßnahmen und Haftung gelten auch weiterhin, insbesondere die Richtlinie 2008/68/EG.

2.10

Mit dieser Verordnung würden Ressourcen bei den zuständigen Behörden frei gemacht, die derzeit in diese Verwaltungsverfahren eingebunden sind, da eine Registrierung nur mehr von einer einzigen zuständigen Behörde geprüft werden müsste.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss spricht sich für die in der Folgenabschätzung vorgeschlagene Option 2 aus, in der eine "Verordnung mit harmonisierten Vorschriften und effizientere Rolle der zuständigen Behörden" vorgesehen ist.

3.2

Eine Verordnung ginge einen Schritt weiter als eine Empfehlung, indem unmittelbar anwendbare harmonisierte Vorschriften wie beispielsweise ein einheitliches Registrierungssystem für Beförderer vorgeschlagen würden; damit würden schrittweise die verschiedenen Anmelde- und Genehmigungssysteme in den Mitgliedstaaten abgeschafft und den Beförderern Zugang zum Verkehrsmarkt der EU-27 in einem "verschlankten" Verfahren gegeben. Um den erforderlichen Datenaustausch zu ermöglichen, würde die Kommission ein sicheres Online-Registrierungssystem einrichten.

3.3

Obwohl die von ECORYS - den unabhängigen Experten, die eine flankierende Studie für die Kommission durchführten - geprüften Optionen offenbar insgesamt gesehen eher bescheidene Auswirkungen haben, fallen diese Auswirkungen für einen so kleinen Sektor ins Gewicht. Die Auswirkungen werden in fünf Gruppen eingeteilt: Ausgaben und Gebühren des öffentlichen Sektors, Auswirkungen im Bereich der Rechtsetzung, des Verkehrs, der Sicherheit, der Umwelt sowie soziale Auswirkungen.

3.4

Kleine und mittlere Unternehmen werden voraussichtlich entsprechend den Gesamteinsparungen profitieren, die durch diese Optionen erzielt werden: Je höher die Einsparungen insgesamt, desto höher auch die Einsparungen für diese Unternehmen, die aufgrund komplexer Verfahren und hoher Kosten derzeit häufig vom Markt ausgeschlossen sind.

3.5

Eine Verordnung könnte für das Basisszenario, unter anderem durch die gegenseitige Anerkennung von Erlaubnissen für Beförderer, zu Einsparungen in Höhe von 13,6 Mio. EUR jährlich führen. Durch einen solchen Ansatz würden der Verwaltungsaufwand für Beförderer, Nutzer und Produzenten reduziert und gleichzeitig Ressourcen bei den Behörden frei gemacht, die dann zumindest teilweise eingesetzt werden könnten, um die Einhaltung der Vorschriften zu prüfen; das Fehlen solcher Überprüfungen gehört zu den Problemen, auf die bereits hingewiesen wurde.

3.6

Da eine Verordnung bindend ist, wird diese Option effektiv zur Erreichung der Ziele beitragen - d.h. Vereinfachung des Systems, Schaffung von Transparenz und Beseitigung von Hemmnissen für einen funktionierenden Binnenmarkt, und gleichzeitig ein hohes Sicherheitsniveau aufrechterhalten.

3.7

Nach Meinung des Ausschusses würde die Einrichtung einer neuen Agentur, wie sie in Option 3 in Betracht gezogen wird, zu einer Erhöhung des Verwaltungsaufwands für Unternehmer führen und die Wirksamkeit der Verordnung insgesamt beeinträchtigen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Die in der Verordnung enthaltenen Begriffsbestimmungen sollten sich so weit wie möglich mit dem IAEO-Glossar decken, insbesondere für den Begriff "Beförderer"; allerdings müssen sie auch im Einklang mit den Euratom-Rechtsvorschriften, insbesondere Richtlinie 96/29/Euratom, stehen.

4.2

Der Ausschuss stimmt mit der Europäischen Kommission überein, dass die Auswirkungen dieser Verordnung zwei Jahre nach ihrer Umsetzung bewertet werden müssen. Es ist außerdem sinnvoll, nach fünf Jahren erneut zu prüfen, welche Hemmnisse für den reibungslosen und sicheren Ablauf von Beförderungen radioaktiven Materials in der Europäischen Union noch bestehen.

4.3

Mit dem vorliegenden Verordnungsvorschlag wird ein gemeinsames und einheitliches System zur Registrierung von Beförderern radioaktiven Materials eingerichtet. Gemäß Artikel 3 Absatz 3 kann ein Beförderer radioaktives Material ohne zusätzliche Registrierung im Rahmen dieser Verordnung befördern, sofern er bereits über eine Registrierung für die Verwendung radioaktiven Materials oder den Umgang mit und die Beförderung derartigen Materials verfügt. Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission auf, gemeinsam mit den Interessenträgern die Möglichkeit von Übergangsvereinbarungen für die Beförderer zu beleuchten, für die bereits eine Beförderungsregistrierung vorgenommen wurde.

4.4

Gemäß Artikel 3 Absatz 4 sind für Material, das ein besonderes Gesundheitsrisiko birgt, zusätzliche Registrierungsanforderungen zulässig. Der Ausschuss fordert, dass in dieser Materialliste auch Material aufgenommen wird, das gemäß einer multilateralen Erlaubnis befördert wird.

4.5

Der Ausschuss hält fest, dass der Versicherungsschutz, der von den Beförderern gefordert wird, je nach Mitgliedstaat unterschiedlich ist. Dieser Versicherungsschutz darf zwar aufgrund der Rechtsgrundlage nicht Teil des Registrierungsverfahrens sein, doch fordert der Ausschuss die Mitgliedstaaten auf, die notwendigen Versicherungsbestimmungen zu vereinheitlichen.

4.6

Das Online-System für die Registrierung von Beförderern muss vorab eingeführt, getestet und einsatzfähig sein, um den Beförderern und den zuständigen Behörden die erforderliche Sicherheit zu geben. Die Verlängerung des Übergangszeitraums vor Inkrafttreten der Verordnung je nach den konkreten Übergangsvereinbarungen (siehe Ziffer 4.3) würde ebenfalls in diese Richtung gehen.

4.7

Der Antragsteller sollte die Möglichkeit haben, seinen Antrag zu korrigieren oder um weitere Informationen zu ergänzen; der Antrag sollte nicht einfach ohne weitere Prüfung abgelehnt werden können (Artikel 5 Absätze 7 und 10).

4.8

Die Mitgliedstaaten sollten für die Harmonisierung der Registrierungskriterien Sorge tragen.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/113


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung grundlegender Sicherheitsnormen für den Schutz vor den Gefahren einer Exposition gegenüber ionisierender Strahlung“

COM(2011) 593 final — 2011/0254 (NLE)

2012/C 143/22

Berichterstatter: Richard ADAMS

Die Europäische Kommission beschloss am 28. September 2011, gemäß Artikel 31 des Euratom-Vertrags den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung grundlegender Sicherheitsnormen für den Schutz vor den Gefahren einer Exposition gegenüber ionisierender Strahlung"

COM(2011) 593 final – 2011/0254 (NLE).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 118 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Schlussfolgerungen

1.1.1

Der Ausschuss begrüßt diesen Vorschlag, der auf der Grundlage der jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Gefahren ionisierender Strahlung den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt thematisiert, definiert und ausweitet.

1.1.2

Insbesondere die Zusammenfassung von fünf bestehenden Richtlinien zu einem folgerichtigen, kohärenten und einheitlichen Sicherheitskonzept wird sich in der Praxis positiv auf die Umsetzung der Anforderungen auswirken.

1.2   Empfehlungen

1.2.1

Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass den Mitgliedstaaten nach der Umsetzung in einzelstaatliches Recht eventuell zusätzliche Anforderungen vorgeschrieben werden. Der Ausschuss hält es für besonders wichtig, den für die Umsetzung auf einzelstaatlicher Ebene zuständigen Behörden angemessene Mittel an die Hand zu geben, damit Wort und Geist der Rechtsvorschriften entsprochen werden kann. Dazu muss insbesondere ein qualitätsbezogener Ansatz in Form umfassender Bildungs- und Schulungsmaßnahmen gewählt werden.

1.2.2

Der Ausschuss befürwortet voll und ganz die Ausweitung der Schutzbestimmungen auf die Umwelt und empfiehlt eingedenk der noch ausstehenden Veröffentlichung der Internationalen Kommission für Strahlenschutz (ICRP) zur Anwendung der Kriterien die Annahme der Kapitel IX-Bestimmungen, sobald diese Kriterien formell gelten.

1.2.3

Der Ausschuss begrüßt die fundierte Arbeit aller Beteiligten, die diesem Vorschlag zugrunde liegt, und empfiehlt seine schnellstmögliche Annahme.

2.   Hintergrund der vorgeschlagenen Richtlinie

2.1   Ionisierende Strahlung ist in der Umwelt allgegenwärtig. Jeder Erdbewohner ist natürlicher Hintergrundstrahlung ausgesetzt. Sie wird von natürlichen Radionukliden in den Gesteinen, Böden, der Nahrung und der Luft emittiert. Mit der geologischen Beschaffenheit variieren auch die Konzentration der Strahlung und der radioaktiven Substanzen (wie Radon) aus Gesteinen und Böden, mithin ist die Strahlenbelastung ortsabhängig. Dazu kommt die kosmische Strahlung. Kosmische Strahlung ist in großen Höhen und mit zunehmender geografischer Breite intensiver, so dass Flugpersonal und Vielflieger einer entsprechend höheren Belastung ausgesetzt sind. Des Weiteren gibt es die durch den Menschen freigesetzte künstliche Strahlung. Der größte Teil davon entsteht durch medizinische Anwendungen. Durch industrielle Verfahren wie die Durchstrahlungsprüfung von Schweißnähten kommt es zu Exposition am Arbeitsplatz, durch kerntechnische Anlagen an die Umgebung abgegebene radioaktive Stoffe belasten die Bevölkerung, und in der Umwelt sind auch noch Spuren von Radioaktivität aus Kernwaffentests und der militärischen Verwendung von Uranmunition nachweisbar.

2.2   Für Strahlung gibt es viele praktische Anwendungen in der Medizin und der Forschung, im Bauwesen und in anderen Bereichen. Strahlung ist vor allem deshalb gefährlich, weil sie in Zellen lebender Organismen Moleküle ionisieren und dadurch biochemische Veränderungen auslösen kann. Die Schädigungen können bis zum Zelltod oder zur irreversiblen Veränderung der genetischen Information (DNA-Schäden) führen. Deshalb wurden frühzeitig, noch bevor die durch Strahlung ausgelösten schädigenden Reaktionsmechanismen im Einzelnen erkannt waren, einzelstaatliche Schutzmaßnahmen und Rechtsvorschriften festgelegt und auf EU-Ebene von Anfang an im Rahmen des Euratom-Vertrags gemeinsame Maßnahmen entwickelt.

2.3   Die europäischen Rechtsvorschriften folgen bezüglich der Festlegung geeigneter Schutzmaßnahmen seit jeher den Empfehlungen der ICRP; 2007 hat diese Organisation neue detaillierte Empfehlungen für den Strahlenschutz herausgegeben, die den Entwicklungen der letzten 20 Jahre Rechnung tragen. Zu diesen Entwicklungen gehören die Zunahme der durch den Menschen freigesetzten künstlichen Strahlung und die laufenden Forschungsarbeiten über die Auswirkungen von natürlicher Strahlung, wie sie beispielsweise durch Radon verursacht wird. Ziel der vorgeschlagenen Richtlinie ist es, auf der Grundlage der jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse ein hohes Schutzniveau für Arbeitnehmer, Patienten und die Bevölkerung gegenüber den gesundheitsschädlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung sicherzustellen. Des Weiteren bezieht sie neue Bereiche wie den Umweltschutz mit ein.

2.4   Die vorgeschlagene umfangreiche Richtlinie besteht aus 110 Artikeln sowie 16 Anhängen und umfasst insgesamt mehr als 100 Textseiten. Sie beinhaltet im Prinzip eine Zusammenfassung und konsolidierte Neufassung von fünf bestehenden Richtlinien (1) in einer einzigen Richtlinie, wobei verbindliche Vorschriften zum Schutz vor Radonexposition in Gebäuden und vor Baumaterialien mit erhöhten Radioaktivitätswerten, zur Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen im Zusammenhang mit der Ableitung radioaktiver Stoffe aus kerntechnischen Anlagen und zur Vermeidung von Umweltschäden bei Unfällen eingeführt werden.

2.5   Kurz zusammengefasst wird diese neue Richtlinie den europäischen Bürgern einen besseren Gesundheitsschutz im Zusammenhang mit ionisierender Strahlung bringen, vor allem durch

wirksamere Aufklärungs- und Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit der Exposition gegenüber Radon in Innenräumen;

besseren Schutz der Arbeitnehmer in den Sektoren, in denen Baumaterialien verarbeitet werden, die natürliche Radionuklide enthalten;

besseren Schutz vor ionisierender Strahlung bei medizinischen Anwendungen und Begrenzung der Expositionshäufigkeit;

besseren Schutz und erhöhte Mobilität für externe Fachkräfte in der Kernindustrie.

2.6   Die in den EU-Mitgliedstaaten geltenden rechtlichen Anforderungen werden harmonisiert und an internationale Standards angepasst. Mit besonderem Augenmerk auf die nukleare Sicherheit werden unter dem Eindruck der Nuklearkatastrophe von Fukushima strengere Auflagen für den Umgang mit Notfallexpositionssituationen vorgeschlagen.

2.7   Die Richtlinie ergänzt die Richtlinie über radioaktive Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch, zu der sich der Ausschuss kürzlich in einer Stellungnahme geäußert hat (2).

2.8   Die von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) genehmigten internationalen Sicherheitsgrundnormen (International Basic Safety Standards) spiegeln einen internationalen Konsens wider, doch ist ihre Einhaltung nicht verbindlich. Auch berücksichtigen sie die weltweit unterschiedlichen Möglichkeiten der einzelnen Staaten hinsichtlich ihrer Umsetzung. Die Richtlinie löst sich von diesem Ansatz, indem einheitliche Normen für die Mitgliedstaaten vorgegeben und zudem die Binnenmarktvorschriften beachtet werden. Dem Richtlinienvorschlag ging ein umfassender Konsultationsprozess voraus, bei dem die Sachverständigengruppe nach Artikel 31 Euratom-Vertrag, die IAEO, HERCA (Heads of the European Radiological Protection Competent Authorities), IRPA (International Radiation Protection Association) und weitere Interessenträger gehört wurden.

2.9   Rechtsgrundlage des Richtlinienvorschlags ist der Euratom-Vertrag. Der Ausschuss kann die Bedenken, ob der seit 1957 nicht mehr geänderte Vertrag sich als Grundlage für den Umgang mit Umweltbelangen eignet, in gewisser Weise nachvollziehen. Allerdings ist eine Überarbeitung des Euratom-Vertrags in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich, während die Umweltschutzanliegen drängende Realität sind. Seinerzeit, also 1957, stand Artikel 37 Euratom-Vertrag für bahnbrechende, verbindliche, grenzübergreifende primärrechtliche Vorgaben für den Schutz der Umwelt und der Menschen.

3.   Zusammenfassender Überblick über die vorgeschlagene Richtlinie

3.1   Eine ausführliche Zusammenfassung einer so komplexen Richtlinie würde den Rahmen einer Ausschussstellungnahme sprengen. Stattdessen wird der Ansatz der Kommission stichpunktartig unter Verweis auf relevante Kapitel dargestellt.

Allgemeiner Ansatz

Kapitelüberschriften

Überarbeitung und Konsolidierung der Sicherheitsgrundnormen

Expositionssituationen

Schutzsystem

Bestehende Expositionssituationen

Radon (Arbeitsplatz, Wohnungen)

Baumaterialien

Leben in kontaminierten Gebieten

Absichtliche Expositionen

Rechtfertigung und Kontrolle

abgestufte Vorgehensweise

Expositionskategorien

Notfall-Expositionssituationen

Notfall-Einsatzkräfte

Notfallmanagementsystem und Notfallpläne

Information der Öffentlichkeit

Institutionelle Infrastruktur

Neugefasste Richtlinien

Umsetzung in einzelstaatliches Recht

Kapitel I: Gegenstand und Anwendungsbereich

Kapitel II: Begriffsbestimmungen

Kapitel III: Strahlenschutzsystem

Kapitel IV: Anforderungen an Ausbildung, Fortbildung und Unterweisung im Bereich des Strahlenschutzes

Kapitel V: Rechtfertigung und aufsichtsrechtliche Kontrolle der Tätigkeiten

Kapitel VI: Schutz von Arbeitskräften, Auszubildenden und Studierenden

Kapitel VII: Schutz von Patienten und anderen Personen bei medizinischer Exposition

Kapitel VIII: Schutz der Bevölkerung

Kapitel IX: Umweltschutz

Kapitel X: Anforderungen an die aufsichtsrechtliche Kontrolle

Kapitel XI: Schlussbestimmungen

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass dieser Vorschlag auf der Grundlage der jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Gefahren ionisierender Strahlung erstellt wurde, und begrüßt den Ansatz, den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt zu thematisieren, zu definieren und auszuweiten.

4.2   Die Kommission hat beschlossen, fünf bestehende Richtlinien in einer gemeinsamen Neufassung zu konsolidieren, was sich in der Praxis positiv auf die Umsetzung der Anforderungen auswirken wird und einen folgerichtigen, kohärenten und einheitlichen Sicherheitsansatz ermöglicht.

4.3   Eine Reihe vergleichender Analysen der Durchführung und einzelstaatlichen Umsetzung bisheriger Richtlinien hat diverse Schwachstellen an den Tag gebracht. Dies liegt nicht an der Umsetzung in nationales Recht, sondern an der praktischen Handhabung, bspw. bezüglich der für Bildungs- und Schulungsmaßnahmen bereitgestellten Mittel, der öffentlichen Sensibilisierungskampagnen, der Anerkennung der Fachkompetenz vor Ort, der Information der Öffentlichkeit über richtiges Verhalten bei Unfällen usw.

4.4   Der Ausschuss schlägt vor, dass die Kommission zur Unterstützung der zuständigen nationalen Behörden Workshops zur Erörterung rechtlicher und praktischer Schwierigkeiten bei der Umsetzung auf einzelstaatlicher Ebene veranstalten sollte, um den zunehmenden Anfragen im Zusammenhang mit den Umsetzungsvorschriften entgegenzukommen und eventuellen Problemen zu begegnen. Auch sollte die Einrichtung von Beobachtungsstellen der Zivilgesellschaft, die neben den zuständigen nationalen Behörden die Umsetzung der Rechtsvorschriften in konkrete Maßnahmen überwachen und bewerten, gefördert werden.

4.5   Der Ausschuss bedauert, dass die Richtlinie zwar die Strahlenexposition durch natürliche Quellen und durch künstliche Quellen im Zivilbereich umfassend abdeckt, dass aber durch militärische Anwendungen freigesetzte Strahlung ausgeklammert werden kann, da die Tätigkeiten des militärischen Bereichs nicht in den Anwendungsbereich des Euratom-Vertrags fallen (3).

4.6   Der Ausschuss begrüßt, dass in dem Richtlinienvorschlag dem Schutz des Rechts der Bürger Rechnung getragen wird, ihre Exposition gegenüber menschengemachter künstlicher Strahlung, die beispielsweise durch den zunehmenden Einsatz von Sicherheitskontrollgeräten wie Ganzkörperscannern verursacht wird, möglichst gering zu halten.

4.7   Der Ausschuss befürwortet nachdrücklich die Ausweitung der Schutzbestimmungen auf die Umwelt, macht jedoch darauf aufmerksam, dass erst die noch ausstehenden Kriterien der Internationalen Kommission für Strahlenschutz (ICRP) formell festgelegt sein müssen, bevor verbindliche quantitative Vorgaben gemacht werden können. Diese spezifischen Kriterien beruhen auf allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnissen und sind als gemeinsame Grundlage für alle Mitgliedstaaten geeignet.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. L 180 vom 9.7.1997, S.22-27.

ABl. L 346 vom 31.12.2003, S.57-64.

ABl. L 349 vom 13.12.1990, S.21-25.

ABl. L 357 vom 7.12.1989, S.31-34.

ABl. L 159 vom 29.6.1996, S.1-114.

(2)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S.122.

(3)  EuGH, Urteil vom 12.4.2005 – C-61/03.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/116


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung der Fazilität ‚Connecting Europe‘ “

COM(2011) 665 final — 2011/0302 (COD)

2012/C 143/23

Berichterstatter: Raymond HENCKS

Der Rat beschloss am 17. November 2011 und das Europäische Parlament am 13. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 172 und 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung der Fazilität ‧Connecting Europe‧"

COM(2011) 665 final – 2011/0302 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 132 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

Diese Stellungnahme ist Teil eines Pakets von fünf Stellungnahmen, die der EWSA zur Fazilität "Connecting Europe" (CEF) und ihren von der Europäischen Kommission im Oktober 2011 vorgelegten Leitlinien erarbeitet. Dieses Paket umfasst die Stellungnahmen TEN/468 zur "Fazilität ‧Connecting Europe‧" (Berichterstatter: Raymond HENCKS), TEN/469 zu "Leitlinien für ein transeuropäisches Telekommunikationsnetz" (Berichterstatter: Antonio LONGO), TEN/470 zu "Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur" (Berichterstatter: Egbert BIERMANN), TEN/471 zu "Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes" (Berichterstatter: Stefan BACK) und TEN/472 zu "Europa-2020-Projektanleiheninitiative für Infrastrukturprojekte" (Berichterstatter: Armin DUTTINE).

1.   Schlussfolgerungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt sowohl den Plan der Europäischen Kommission, 50 Mrd. EUR des nächsten mehrjährigen Haushaltsplans 2014-2020 für die Verbesserung der Vernetzung der Verkehrs-, Energie- und digitalen Kommunikationsnetze in der EU bereitzustellen, als auch das Prinzip der europäischen Anleihen für Infrastrukturvorhaben, den sogenannten "EU-Projektanleihen", die einen Multiplikatoreffekt durch die Mobilisierung von öffentlichem und privatem Kapital bewirken können. Dieses Kapital ist notwendig, um dem Investitionsbedarf in Höhe von geschätzten 1 000 Mrd. EUR nachzukommen.

1.2

Gezielte Investitionen in diese Kerninfrastrukturen kurbeln den Handelsverkehr, das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit an und schaffen wieder mehr Arbeitsplätze, insbesondere in Zeiten, in denen die EU stark darauf angewiesen ist.

1.3

Da die klassische Finanzierung von Investitionen durch öffentliche Mittel in diesen Krisenzeiten immer schwieriger wird, stellt diese in der EU neue Art der Finanzierung in enger Zusammenarbeit mit der Europäischen Investitionsbank unter bestimmten Vorbehalten (s. Stellungnahme TEN/472) eine zusätzliche innovative Möglichkeit dar, um Kapital von Pensionsfonds, Versicherungsgesellschaften und anderen Akteuren des Kapitalmarktes, die in langfristige Projekte investieren wollen, anzulocken.

1.4

Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, "innovative Lösungen" zur stärkeren Mobilisierung der privaten Ersparnisse zu suchen, doch ist er der Auffassung, dass diese Lösungen nicht nur auf Großanleger abstellen, sondern dass sie ebenfalls Kleinanleger ansprechen sollten.

1.5

Die Bedeutung ausreichender Investitionen in adäquate, moderne, flexible, nachhaltige und (v.a. für Menschen mit Behinderungen) zugängliche Infrastrukturnetze darf jedoch nicht einzig und allein unter finanziellen Gesichtspunkten, sondern muss auch unter dem Aspekt des gesellschaftlichen und territorialen Zusammenhalts sowie des Umweltschutzes und der Sicherung der Energieversorgung betrachtet werden.

1.6

Nur durch eine Bündelung der nationalen, regionalen und lokalen öffentlichen und privaten Finanzmittel mit denen der Europäischen Union können die festgelegten Ziele im Bereich der Vernetzung der Infrastrukturnetze erreicht werden.

1.7

Folglich sollte die Kommission die Kofinanzierungsprojekte natürlich danach auswählen, ob es Projekte mit einem großen Mehrwert für die EU sind, aber sie sollte hierbei auch die nationalen oder regionalen Entwicklungsbedürfnisse im Bereich der Infrastruktur berücksichtigen.

1.8

Bei Investitionen in die Infrastruktur kommen auch bedeutende europäische und nationale Sicherheitsaspekte zum Tragen, die bei der Ausarbeitung von Projekten und der Einleitung von Genehmigungsverfahren berücksichtigt werden sollten. Sie sind im Grunde Grundvoraussetzung für die konkrete Vollendung der Integration der immer noch bestehenden "Inseln" in der EU.

1.9

Die EU muss den Mitgliedstaaten demnach auch in Zukunft kontinuierlich entsprechende Mittel zuführen, um der gesellschaftlichen und geografischen Spaltung bezüglich des Zugangs zu den Infrastrukturen der nationalen Netze entgegenzuwirken, und zwar mittels europäischer Strukturfonds.

1.10

Der EWSA begrüßt den Vorschlag einer zentralisierten Verwaltung der Projekte zur Vernetzung transeuropäischer Verkehrs-, Energie- und Digitalinfrastrukturnetze. Durch die Nutzung der Synergien zwischen diesen drei Sektoren und die Verbesserung der Betriebsvorschriften, allen voran die Straffung der Genehmigungsverfahren bei Vorhaben von gemeinsamem Interesse und die Verkürzung der Ausführungsfristen, können die Kosten gesenkt und die Wirksamkeit der Projekte erhöht werden.

1.11

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, die Initiativen der Kommission auf diesem Gebiet zu unterstützen und die Kapitalmärkte und andere Investoren zu sensibilisieren und für eine aktive Beteiligung am Erfolg des Vorhabens zu gewinnen.

2.   Einleitung

2.1

Im Rahmen des Vorschlags für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (2014-2020) hat die Kommission konkrete Maßnahmen zur Förderung der integrierten Infrastrukturen in der EU in den Bereichen Verkehr, Energie und digitale Kommunikation vorgeschlagen.

2.2

In den vergangenen zehn Jahren sind die Ausgaben für Infrastruktur in Europa insgesamt zurückgegangen, obgleich gezielte Investitionen in diesem Bereich angesichts der Wirtschaftskrise einen wichtigen Faktor der Konjunkturbelebung darstellen und für Europas wirtschaftliche Zukunft ausschlaggebend sind.

2.3

Um diese Infrastrukturen weiterzuentwickeln und den Wachstumsprioritäten im Rahmen der neuen Strategie für den Binnenmarkt nachzukommen, schlägt die Kommission die Schaffung eines neuen Instruments vor, der sogenannten "Fazilität ‧Connecting Europe‧".

2.4

Es liegt auf der Hand (und der EWSA hat dies auch bereits in zahlreichen Stellungnahmen herausgestellt), dass modernste, intelligente, nachhaltige und tadellos vernetzte Straßen-, Eisenbahn-, Wasserstraßen-, Flug- und multimodale Verkehrsnetze, aber auch Strom-, Erdöl- und Gasleitungsnetze sowie Breitbandnetze für den integrierten Wirtschaftsraum elementar sind. Die fehlenden Abschnitte und die Engpässe in der Vernetzung europäischer Netze sind für die Vollendung des Binnenmarktes von großem Nachteil: Sie spalten Regionen und machen Europa, insbesondere im Energiebereich, von Drittstaaten abhängig.

2.5

Gezielte Investitionen in diese Kerninfrastrukturen kurbeln den Handelsverkehr, das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit an, schaffen wieder mehr Arbeitsplätze, insbesondere in Zeiten, in denen die EU stark darauf angewiesen ist.

2.6

Nun sind Investitionen in Bauprojekte großer Infrastrukturnetze von Natur aus langfristige Projekte, die beträchtliche Investitionen erfordern, deren wirtschaftliche Rentabilität mit großen Risiken verbunden ist (Unterschätzung der Kosten, Überschätzung des Verkehrsaufkommens, Risiken aufgrund der Komplexität des Finanzierungssystems), insbesondere während der Errichtungsphase und der Anfangsbetriebszeit der genannten Netze.

2.7

Da diese Projekte nicht alleine durch öffentliche Gelder auf nationaler, lokaler und europäischer Ebene finanziert werden können, schlägt die Kommission ein neues Haushaltsinstrument, die Fazilität "Connecting Europe", sowie überarbeitete Leitlinien für die Bereiche Verkehr, Energie und IKT vor, um weitere öffentliche und private Anleger anzulocken und gleichzeitig den Infrastrukturprojekten Glaubwürdigkeit zu verleihen und ihr Risikoprofil für private Investoren zu senken.

2.8

Zu diesem Zweck hat die Kommission in folgenden Dokumenten eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet:

Vorschlag für eine Verordnung zur Schaffung der Fazilität "Connecting Europe" (EWSA-Stellungnahme: TEN/468);

Vorschlag für eine Verordnung über die Grundregeln für die Gewährung von Gemeinschaftszuschüssen für transeuropäische Verkehrs- und Energienetze (EWSA-Stellungnahme: TEN/472);

Vorschlag für eine Verordnung über Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes (EWSA-Stellungnahme: TEN/471);

Vorschlag für eine Verordnung zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur (EWSA-Stellungnahme: TEN/470);

Vorschlag für eine Verordnung über Leitlinien für transeuropäische Telekommunikationsnetze (EWSA-Stellungnahme: TEN/469).

3.   Inhalt der Mitteilung über die integrierten Infrastrukturen in Europa und des Vorschlags für eine Verordnung zur Schaffung der Fazilität "Connecting Europe"

3.1

Um die Investitionen in die transeuropäischen Netze für Verkehr, Energie und digitale Kommunikation zu beschleunigen und die notwendigen Finanzmittel sowohl aus dem öffentlichen als auch dem privaten Sektor zu mobilisieren, schlägt die Kommission für den Zeitraum 2014-2020 Folgendes vor:

Einplanung eines Investitionsbedarfs für die Vernetzung europäischer Netze in Höhe von etwa 1 000 Mrd. EUR, die wie folgt verteilt werden:

Energie

Strom

140 Mrd. EUR

Gas

70 Mrd. EUR

CO2

2,5 Mrd. EUR

Erdöl

zur Erinnerung

Verkehr

(Straße, Schiene, Seeverkehr-, Binnenschifffahrt, Luftverkehr)

 

500 Mrd. EUR

davon 250 Mrd. EUR für das Kernnetz;

eine Verteilung des Finanzmittelbedarfs auf die unterschiedlichen Verkehrsmittel erfolgt je nach Projektvergabe

Breitband

 

270 Mrd. EUR

Bereitstellung von 50 Mrd. EUR für Investitionsprojekte zur Vernetzung EU-weiter Netze, davon 40 Mrd. EUR aus dem EU-Haushalt und 10 Mrd. EUR aus dem Kohäsionsfonds für Verkehrsinfrastrukturen. Die Mittel werden wie folgt zugewiesen:

Energie

9,1 Mrd. EUR

Verkehr

31,7 Mrd. EUR

Telekommunikation/Digitale Netze

9,2 Mrd. EUR

Kofinanzierung von Projekten von gemeinsamem Interesse im Bereich der transeuropäischen Vernetzung, die von der Kommission (auf Vorschlag der Mitgliedstaaten) ausgewählt werden, mit Kofinanzierungssätzen zwischen 20 und 75% der förderfähigen Kosten, in Ausnahmefällen sogar bis zu 80 oder 100% der Kosten.

Steigerung des Anziehungspotenzials für Finanzmittel aus dem Privatsektor durch die Einführung von EU-Projektanleihen für Infrastrukturvorhaben ("EU project bonds"), um das Risiko für Drittinvestoren zu senken. Der Europäischen Investitionsbank (EIB) wird somit aus dem EU-Haushalt Kapital zur Verfügung gestellt, mit dem ein Teil des Risikos, das die EIB durch die Kofinanzierung der förderfähigen Projekte eingeht, gedeckt werden kann. Der EU-Haushalt stellt demnach eine Art Garantie dar, damit die EIB die entsprechenden Projekte finanziert, doch müsste sie das Restrisiko übernehmen.

Während einer Pilotphase (2012-2013) mit fünf bis zehn Projekten würden nach Einschätzung der Kommission die der EIB bereitgestellten Finanzmittel der EU in Höhe von max. 230 Mio. EUR, die ausschließlich durch eine Umverteilung nicht verwendeter Mittel aus bereits bestehenden Investitionsprogrammen finanziert würden, weitere Anleger anlocken, die bis zu 4,6 Mrd. EUR investieren könnten.

Maximierung der Synergien zwischen den Programmen für die Sektoren Energie, Verkehr und IKT, um einerseits eine kohärente Strategie und eine auf eindeutigen und harmonisierten Kriterien basierende Projektauswahl der Kommission und andererseits Überwachung und Kontrolle zu gewährleisten, damit die Finanzmittel der EU gezielt und wirksam eingesetzt werden.

Einführung von Maßnahmen zur Vereinfachung der bestehenden Vorschriften, insbesondere die Ausrichtung der Indikatoren auf die Ziele der Strategie Europa 2020, eine Verkürzung der Genehmigungsfristen, eine zentralisierte Verwaltung für die drei Sektoren und ggf. die Einrichtung einer Exekutivagentur, gemeinsame Vergabekriterien und gemeinsame jährliche Arbeitsprogramme, die Schaffung eines gemeinsamen Ausschusses zur Koordinierung der Fazilität und schließlich die Übertragung der Befugnis zum Erlass delegierter Rechtsakte an die Kommission.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA befürwortet die von der Kommission ergriffenen Maßnahmen zur Förderung und Koordinierung der Investitionen in strategische Projekte von europäischem Mehrwert und den Vorschlag, für den Zeitraum 2014-2020 alternative Lösungen zur klassischen Subventionsfinanzierung anzubieten.

4.2

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, eine zentralisierte Finanz- und Verwaltungsfazilität und gemeinsame Arbeitsprogramme für Projekte zur Vernetzung transeuropäischer Netze sowie von Verkehrs-, Energie- und Digitalinfrastrukturnetzen zu schaffen, die direkt von der Kommission und ggf. mit der Unterstützung einer Exekutivagentur verwaltet werden. Durch die Nutzung der Synergien zwischen diesen drei Sektoren und die Verbesserung der Betriebsvorschriften, allen voran die Straffung der Genehmigungsverfahren bei Vorhaben von gemeinsamem Interesse und die Verkürzung der Ausführungsfristen, können die Kosten gesenkt und die Wirksamkeit der Projekte erhöht werden.

4.3

Der EWSA unterstützt mithin den Vorschlag, die Projekte, die der EU einen Mehrwert bringen und für Europa notwendig sind, vorrangig zu behandeln, um die transeuropäischen Netze an die Infrastrukturnetze der Mitgliedstaaten anzubinden. Er möchte jedoch darauf hinweisen, dass die Europäische Union im Sinne des gesellschaftlichen und territorialen Zusammenhalts den Mitgliedstaaten auch in Zukunft kontinuierlich entsprechende Mittel zuführen muss, um einer gesellschaftlichen und geografischen Spaltung bezüglich des Zugangs zu den Infrastrukturen der nationalen Netze entgegenzuwirken und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, und zwar mittels europäischer Strukturfonds.

4.4

Der EWSA stellt fest, dass adäquate, moderne, flexible, nachhaltige und (v.a. für Menschen mit Behinderungen) zugängliche Infrastrukturnetze nicht einzig und allein unter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet werden dürfen. Unerlässlich sind diese Investitionen auch aufgrund der Aspekte des gesellschaftlichen und territorialen Zusammenhalts und des Umweltschutzes, welche daher auch von der Kommission bei der Auswahl von Kofinanzierungsprojekten berücksichtigt werden müssen.

4.5

Bei Investitionen in die Infrastruktur kommen auch bedeutende europäische und nationale Sicherheitsaspekte zum Tragen, die bei der Ausarbeitung von Projekten und der Einleitung von Genehmigungsverfahren berücksichtigt werden sollten. Sie sind nämlich Grundvoraussetzung für die konkrete Vollendung der Integration der immer noch bestehenden "Inseln" in der EU.

4.6

So beachtlich der finanzielle Beitrag der EU in Höhe von 50 Mrd. EUR auch ist, so stellt er doch nur einen kleinen Teil des von der Kommission errechneten Investitionsbedarfs dar.

4.7

In jedem Fall muss der größte Anteil an Finanzmitteln von den Mitgliedstaaten und den Privatanlegern bereitgestellt werden – der finanzielle Beitrag der EU soll lediglich als "Startkapital" dienen, um die Mitgliedstaaten und die Märkte zu weiteren Investitionen anzuregen.

4.8

Nun führen jedoch Haushaltsengpässe und die Sanierung der öffentlichen Haushalte dazu, dass die meisten Mitgliedstaaten ihre Investitionsprogramme senken oder aussetzen wollen, was sich zweifelsohne negativ auf den Investitionszufluss aus privaten Quellen auswirken wird.

4.9

Nur durch eine Bündelung der nationalen, regionalen und lokalen öffentlichen und privaten Finanzmittel mit denen der Europäischen Union können die festgelegten Ziele im Bereich der Infrastrukturnetze erreicht werden.

4.10

Die Investitionen in die Infrastrukturen sollen den Übergang zu einer CO2-armen Wirtschaft und Gesellschaft erleichtern.

4.11

In Einklang mit der Verpflichtung der Kommission, die Ziele der Strategie Europa 2020, insbesondere bezüglich des Klimawandels, in den Programmen der Union zu berücksichtigen und mindestens 20% des Unionshaushalts diesen Zielen zu widmen, begrüßt der EWSA das Vorgehen der Kommission, den EU-Haushalt für Investitionen zu nutzen und so einen Multiplikatoreffekt zu bewirken, der zur Mobilisierung von privatem Kapital führt. Um die regulierungsbedingten Risiken und die Kapitalkosten für Drittinvestoren, die langfristige Investitionsmöglichkeiten suchen, zu senken und da die klassische Finanzierung von Investitionen durch öffentliche Mittel in diesen Krisenzeiten immer schwieriger wird, stellt diese in der EU neue Art der Finanzierung in enger Zusammenarbeit mit der Europäischen Investitionsbank unter bestimmten Vorbehalten (s. Stellungnahme TEN/472) eine zusätzliche innovative Möglichkeit dar, um Kapital von Pensionsfonds, Versicherungsgesellschaften und anderen Akteuren des Kapitalmarktes, die in langfristige Projekte investieren wollen, anzulocken.

4.12

Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, "innovative Lösungen" zur stärkeren Mobilisierung der privaten Ersparnisse zu suchen, doch ist er der Auffassung, dass diese Lösungen nicht nur auf Großanleger abstellen, sondern dass sie ebenfalls Kleinanleger ansprechen sollten.

4.13

Mangels einer anderen denkbaren Lösung kann der EWSA die Zurückhaltung oder gar Protesthaltung einiger Mitgliedstaaten gegenüber von Projektanleihen für Infrastrukturprojekte nur bedauern, und hofft, dass die Pilotphase, während der bis zu 230 Mio. EUR des derzeitigen EU-Haushalts für den Zeitraum 2012-2013 bereitstehen, die Kapitalmärkte, Pensionsfonds, Versicherungsgesellschaften usw. zu langfristigen Investitionen anregen und sie von der Richtigkeit der geplanten Maßnahmen überzeugen kann.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/120


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Leitlinien für transeuropäische Telekommunikationsnetze und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 1336/97/EG“

COM(2011) 657 final — 2011/0299 (COD)

2012/C 143/24

Berichterstatter: Antonio LONGO

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 15. November 2011 bzw. am 30. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 172 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Leitlinien für transeuropäische Telekommunikationsnetze und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 1336/97/EG"

COM(2011) 657 final – 2011/0299 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 126 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

Diese Stellungnahme ist Teil eines Pakets von fünf Stellungnahmen, die der EWSA zur Fazilität "Connecting Europe" (CEF) und zu den diesbezüglichen, von der Europäischen Kommission im Oktober 2011 veröffentlichten Leitlinien erarbeitet. Dieses Paket umfasst folgende Stellungnahmen: TEN/468 "CEF" (Berichterst.: HENCKS), TEN/469"Leitlinien für transeuropäische Telekommunikationsnetze" (Berichterst.: LONGO), TEN/470"Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur" (Berichterst.: BIERMANN), TEN/471"Leitlinien für ein transeuropäisches Verkehrsnetz" (Berichterst.: BACK) und TEN/472 "Projektanleiheninitiative" (Berichterst.: DUTTINE).

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Verwirklichung des Ziels der Digitalen Agenda für Europa, unter Einsatz von Festnetz- und Mobilfunktechnik ein universelles Hochgeschwindigkeits-Breitbandnetz zu schaffen, erfordert Maßnahmen zur Beseitigung der "digitalen Engpässe", der Hindernisse aufgrund des fehlenden Verbunds und mangelnder technischer Interoperabilität sowie der zwischen einzelnen Gebieten und sozialen Schichten auf nationaler und EU-Ebene existierenden Kluft.

Im Rahmen ihres Vorschlags über Leitlinien für transeuropäische Telekommunikationsnetze hat die Kommission die Vorhaben von gemeinsamem Interesse zum Aufbau von Breitbandnetzen und Infrastrukturen für digitale Dienste zusammengestellt, mit denen die Hindernisse für die Entwicklung des digitalen Binnenmarkts und das Problem der im Vergleich zu den Mitbewerbern unzureichenden europäischen Investitionen in Breitbandnetze angegangen werden sollen.

1.2

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt daher die Entscheidung der Kommission, die Fazilität "Connecting Europe" einzuführen, und vertritt die Auffassung, dass die Schwerpunktsetzung auf die Breitbandnetze eine konkrete und positive Antwort auf die in der Digitalen Agenda für Europa gestellten Anforderungen ist und das Problem der unzureichenden Investitionen in diese Netze angeht (1).

1.3

Wie der Ausschuss in zahlreichen Stellungnahmen betont hat, ist der Zugang aller Bürger zu Breitbandverbindungen nicht nur ein Schlüsselfaktor für die Entwicklung der modernen Volkswirtschaften, sondern auch eine Voraussetzung für die Schaffung neuer Arbeitsplätze, für einen stärkeren Zusammenhalt und die Lebensqualität und die digitale Integration der Menschen und ganzer wirtschaftlich und kulturell benachteiligter Gebiete (2).

1.4

Die Festlegung von Zielen und Prioritäten für die Vorhaben von gemeinsamem Interesse entspricht dem grundlegenden Erfordernis, die finanziellen Ressourcen optimal zu nutzen und unter Vermeidung des Gießkannenprinzips genau umrissene Ziele zu erreichen.

In diesem Zusammenhang ist es von grundlegender Bedeutung, dass die zu finanzierenden Vorhaben auch den Verbund und die Interoperabilität der nationalen Netze fördern, ohne die der digitale Binnenmarkt unvollendet bliebe.

1.5

Der EWSA empfiehlt der Kommission, bei den Auswahlkriterien für die zu finanzierenden Projekte äußerste Wachsamkeit und große Strenge walten zu lassen, damit die Mittel dafür eingesetzt werden, eine europaweite Anbindung zu gewährleisten, die Gebiete in Randlage zu fördern, die KMU beim Zugang zur digitalen Wirtschaft zu unterstützen und den sozialen Zusammenhalt zu verbessern. Um dies zu erreichen und die Institutionen und Bürger zu informieren, wäre es sinnvoll, wenn die Kommission regelmäßig einen Bericht über die Nutzung der Mittel vorlegen würde.

1.6

Der EWSA äußert gewisse Bedenken hinsichtlich des relativ vagen Charakters von Artikel 5 Absatz 6, demzufolge die Kommission ermächtigt wird, "delegierte Rechtsakte zur Änderung der Beschreibung der Vorhaben von gemeinsamem Interesse im Anhang" zu erlassen. Politisch motivierte Einschätzungen (siehe Artikel 5 Absatz 7 Buchstabe b, wo von "neuen politischen Prioritäten" die Rede ist) oder durch Lobbygruppen ausgeübter Druck sollten auf ein Minimum begrenzt werden. Vielmehr sollte solchen Kriterien wie technische Innovation, Mehrwert und Übereinstimmung mit den Zielen Vorrang gegeben werden. Der EWSA betont, dass die delegierten Rechtsakte zeitlich und inhaltlich klar begrenzt sein sollten.

1.7

Nach Auffassung des EWSA ist es wichtig, dass bei den zu finanzierenden Vorhaben dem Grundsatz der technischen Neutralität Rechnung getragen wird, der für ein wirklich offenes Internet von wesentlicher Bedeutung ist (3).

1.8

Die Mittel müssen in offene und für alle zugängliche Netzlösungen investiert werden, die den Marktzugang neuer Betreiber mit effizienterer Technik und zu für Bürger und Unternehmen tragbaren Preisen ermöglichen.

1.9

Der EWSA begrüßt ferner, dass die Kommission die Zuweisung der in der Verordnung vorgesehenen Mittel besser mit den Mitteln anderer Initiativen abstimmt, wodurch eine doppelte Mittelvergabe wie auch die Vernachlässigung bestimmter Bereiche vermieden wird.

1.10

Die auch von der Kommission empfohlene Kartierung auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene sollte so schnell wie möglich vorgenommen werden, um Versorgungslücken aufzudecken und neue Initiativen privater und öffentlicher Investoren anzuregen.

1.11

Auch die Bereitschaft zu einer Zusammenarbeit mit Drittländern und internationalen Organisationen ist wichtig, um die Interoperabilität zwischen den jeweiligen Telekommunikationsnetzen zu verbessern.

1.12

Schließlich bekräftigt der EWSA erneut seine Überzeugung, dass es nunmehr zwingend erforderlich ist, den Internetzugang in den Grundversorgungskatalog aufzunehmen (4), und ist der Auffassung, dass dies im Hinblick auf eine wettbewerbsfähigere und integrativere EU eine der Prioritäten darstellt. Bis dieses Ziel verwirklicht ist, muss jedoch jedem Bürger ein kostengünstiger öffentlicher oder privater Breitbandzugang garantiert werden.

2.   Kontext und Inhalt

2.1

Am 29. Juni 2011 verabschiedete die Kommission neue Leitlinien für die transeuropäischen Telekommunikationsnetze und veröffentlichte einen Vorschlag für einen neuen mehrjährigen Finanzrahmen für den Zeitraum 2014-2020 (5), der die Schaffung eines neuen integrierten Instruments (Fazilität "Connecting Europe") für Investitionen in vorrangige Vorhaben von gemeinsamem Interesse im Bereich der Verkehrs-, Energie- und Telekommunikationsinfrastruktur beinhaltet. Die Mittelausstattung dieser Fazilität (EU-Kofinanzierung mit großem Mehrwert) beläuft sich auf insgesamt 50 Mrd. EUR, davon 9,2 Mrd. EUR für digitale Netze und Dienste, während der Mittelbedarf auf mindestens 270 Mrd. EUR veranschlagt wird.

2.2

Darüber hinaus schlägt die Kommission die Einführung europäischer Anleihen (Projektanleihen) vor, bei denen das Risiko für Drittinvestoren geringer ist, damit mehr Kapital öffentlicher oder privater Investoren eingeworben werden kann. Die Mittel der EU werden dabei eingesetzt, um der Europäischen Investitionsbank (EIB) Kapital zur teilweisen Deckung des Risikos zur Verfügung zu stellen, das die EIB bei der Kofinanzierung förderfähiger Vorhaben eingeht. Der EU-Haushalt wird also eine Art Bürgschaft für die Finanzierung von Vorhaben durch die EIB gewähren, doch muss die Bank das übrige Risiko selbst tragen. In einer Pilotphase (2012-2013) werden Mittel in Höhe von 20 Mio. EUR, die aus der Umverteilung der nicht ausgeschöpften Mittel der europäischen Telekommunikationsprogramme stammen, auf die EIB übertragen, was nach den Erwartungen der Kommission weitere öffentliche oder private Investoren mobilisieren dürfte.

2.3

Von den Leitlinien für die europäischen Telekommunikationsnetze der Kommission betreffen einige die Ziele und Prioritäten im Zusammenhang mit den Breitbandnetzen und der Infrastruktur für digitale Dienste:

die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu verbessern, indem die KMU gefördert werden;

den Verbund und die Interoperabilität der nationalen Netze und den Zugang zu diesen Netzen zu fördern und

einen digitalen Binnenmarkt zu schaffen.

2.4

Mit der Verordnung wird darauf abgezielt, die Engpässe abzubauen, die der Vollendung des digitalen Binnenmarkts im Wege stehen, indem die Netzanbindung und der Zugang zu einer Infrastruktur digitaler öffentlicher Dienste gefördert werden. Angestrebt wird eine Beseitigung der angebotsseitigen Probleme, von denen die zahlreichen Unternehmensinsolvenzen und die sinkenden Investitionen in Breitbandnetze und in Dienstleistungen, die von öffentlichem Interesse, aber wenig rentabel sind (z.B. elektronische Gesundheitsdienste, elektronischer Personalausweis, elektronische Auftragsvergabe und deren grenzüberschreitende Interoperabilität), zeugen. Außerdem kann die Nachfrage nach Dienstleistungen nur dann steigen, wenn sämtliche Bürger Zugang zu digitalen Netzen haben.

2.5

Zu den Vorschlägen gehören innovative Finanzinstrumente, mit denen dank einer Hebelwirkung öffentliche und private Investitionen mitgetragen werden können, und eine Kofinanzierung mittels Subventionen in den Infrastrukturbereichen mit dem Ziel, bis 2020 die Ziele der Digitalen Agenda für Europa zu erreichen, d.h. flächendeckender Zugang zu Internetgeschwindigkeiten von 30 Mbit/s und Internetanbindung mit über 100 Mbit/s von mindestens 50 % aller Haushalte.

2.6

Die Prioritäten für Vorhaben von gemeinsamem Interesse sind:

ultraschnelle Breitbandnetze, die eine Datenübertragungsgeschwindigkeit von mindestens 100 Mbit/s gewährleisten;

Breitbandnetze zur Anbindung von Inseln und Gebieten in Randlage an die zentralen Gebiete der Union und Sicherstellung, dass in diesen Gebieten die Breitbandverbindungen Datenübertragungsgeschwindigkeiten von mindestens 30 Mbit/s ermöglichen;

Unterstützung von Kerndienstplattformen im Bereich der Strukturen für digitale Dienste;

Aktionen, die Synergien und Interoperabilität zwischen unterschiedlichen Vorhaben von gemeinsamem Interesse im Telekommunikationsbereich erzielen;

Vorhaben von gemeinsamem Interesse können auch elektronische Behördendienste umfassen, die bereits im Rahmen anderer Unionsprojekte wie des Programms ISA ("Interoperabilitätslösungen für europäische öffentliche Verwaltungen") umgesetzt werden;

Zusammenarbeit mit Drittländern und internationalen Organisationen, um die Interoperabilität zwischen den Netzen zu fördern;

die Kommission fordert eine zeitlich unbefristete Ermächtigung zur Änderung der Beschreibung eines Vorhabens von gemeinsamem Interesse im Anhang.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Zur Schaffung von Synergien und im Rahmen einer strategischen Vision schlägt die Kommission erstmals ein einheitliches Finanzierungsinstrument für die drei Sektoren Verkehr, Energie und Telekommunikation vor. Dieser neue Ansatz ist von großer Bedeutung und kann auch der Infrastrukturpolitik der einzelnen Mitgliedstaaten als Vorbild dienen. Darüber hinaus wird die Fazilität "Connecting Europe", mit der das Ziel intelligenter, nachhaltiger und lückenloser Netze verfolgt wird, einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts bilden. Schließlich kann weiteres Kapital aus privaten und öffentlichen Quellen mobilisiert werden, indem die Glaubwürdigkeit von Infrastrukturvorhaben erhöht und die Risiken verringert werden.

3.2

Bei diesem neuen Szenario kommt den Breitbandnetzen und -diensten besondere Bedeutung zu. Der EWSA hat bereits betont, wie wichtig es ist, einen angemessenen Zugang der Bürger zu Breitbanddiensten zu gewährleisten, wobei die Nutzern von einer echten Konkurrenz zwischen den Betreibern profitieren müssen und dies mit einzelstaatlichen Maßnahmen zur Förderung von Investitionen in Infrastruktur und Innovation einhergehen muss (6).

3.3

Investitionen in die Telekommunikation, insbesondere in Breitbandnetze und Infrastrukturen für digitale Dienste sind eine notwendige Voraussetzung für ein intelligentes und zugleich auch nachhaltiges und integratives Wirtschaftswachstum in der Union. Dank dieses finanziellen Engagements und dieser Verordnung mit Durchführungsmaßnahmen rückt das in der Digitalen Agenda für Europa aufgestellte Ziel näher, bis 2020 einen Datendurchsatz von mindestens 30 Mbit/s für alle und von mindestens 100 Mbit/s bei der Hälfte der Haushalte zu erreichen.

3.4

Mit der Entscheidung über die Fazilität "Connecting Europe" greift die Kommission endlich die vom EWSA zum Ausdruck gebrachten Zweifel (7) hinsichtlich des relativ unklaren und vagen Charakters des in der Mitteilung "Eine Digitale Agenda für Europa" enthaltenen Aktionsplans und der unzureichenden Investitionen in Telekommunikationsnetze auf, die auf die schlechten Gewinnaussichten bei vielen Versorgungsunternehmen und die objektiven Schwierigkeiten der Regionen in Randlage zurückzuführen sind. Dies bildet ein großes Hindernis für die Schaffung eines leicht zugänglichen, schnellen und nachhaltigen einheitlichen europäischen Raums für die lokalen Gebietskörperschaften, die Bürger, die Unternehmen und den Non-Profit-Sektor.

3.5

Der EWSA hat in zahlreichen Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass der Zugang aller Bürger zu Breitbandverbindungen nicht nur ein Schlüsselfaktor für die Entwicklung der modernen Volkswirtschaften, sondern auch eine Voraussetzung für die Lebensqualität und die digitale Integration der Menschen und ganzer wirtschaftlich und kulturell benachteiligter Gebiete ist (8). Es ist darauf hinzuweisen, dass es bereits in der Mitteilung vom 20. März 2006 (9)"Überwindung der Breitbandkluft" heißt, dass "die umfassende Verbreitung von Breitbandzugängen eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung einer modernen Wirtschaft und einer der wesentlichen Aspekte der Lissabonner Agenda [ist]".

3.6

Die Notwendigkeit eines starken europäischen Engagements in diesem Bereich wurde auch einvernehmlich und nachdrücklich auf der ersten Konferenz "Digital Agenda Assembly" bekräftigt, die am 16./17. Juni 2011 unter Leitung der Vizepräsidentin der Kommission Neelie Kroes in Brüssel stattfand und an der mehr als 1 000 Interessenträger teilnahmen (10): weltweit führende Inhalteanbieter, Gerätehersteller, Investoren und Dienstebetreiber. Die Einschätzung der Kommission, wonach das gegenwärtige Investitionsmodell für die Telekommunikation nicht genügt, um den Aufbau erschwinglicher und hochwertiger Breitbandinfrastrukturen (Geschwindigkeit, Stabilität, erschwingliche Kosten und Zugänglichkeit für alle) zu erreichen, fand die Zustimmung der Redner auf dieser Konferenz. In diesem Zusammenhang hält der EWSA die Untersuchung der Situation in Indien für nützlich. Die indische Bundesregierung hat angekündigt, bis 2014 über 600 Mio. Bürger mittels eines Mix aus Kabel- und Wirelesstechnologien an das Breitbandnetz anzuschließen. Größenmäßig ist dieses Vorhaben mit der EU vergleichbar, weshalb das EWSA-Dialogforum EU/Indien eingeschaltet werden könnte, um aus den Erfahrungen der Inder zu lernen und nachahmenswerte Vorgehensweisen zu übernehmen (11).

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Zu den Vorhaben von gemeinsamem Interesse, die sich nach Ansicht der Kommission mit diesen Mitteln förderfähig sind, gehören: transeuropäische Hochgeschwindigkeits-Backboneverbindungen für öffentliche Verwaltungen, grenzüberschreitend erbrachte elektronische Behördendienste, die auf vollständig interoperabler Identifizierung und Authentifizierung basieren (Verfahren für die Unternehmensgründung, grenzübergreifende Ausschreibung von Aufträgen, elektronischer Rechtsverkehr, elektronische Gesundheitsdienste, insbesondere radiologische Ferndiagnose), Fernzugang zum Kulturerbe, Sicherheit des Internet für Kinder und Bekämpfung von Betrug im Internethandel sowie intelligente Energiedienstleistungen.

4.2

Diese Vorhaben tragen zum Wirtschaftswachstum bei und unterstützen die Entwicklung des Binnenmarkts, da sie die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft einschließlich der KMU steigern. Durch sie werden mittels Förderung des Verbunds und der Interoperabilität der nationalen Telekommunikationsnetze sowie des Zugangs zu diesen Netzen die Lebensqualität der Bürger und die Rahmenbedingungen für Unternehmen und Behörden verbessert.

4.3

Die Kommission hatte bereits die wichtigsten Probleme ermittelt, die in Angriff genommen werden müssen, um die Ziele der Digitalen Agenda für Europa (12) (einer der sieben Leitinitiativen der Europa-2020-Strategie) zu verwirklichen. In diesem Zusammenhang hat der EWSA betont, dass eine "unzulängliche Umsetzung der politischen Initiativen […] die Stagnation in der europäischen digitalen Wirtschaft aufgrund von Fragmentierung und Unterinvestition noch verstärkt [hat]" (13).

4.4

Der Ausschuss befürwortet den Vorschlag der Kommission insofern, als darin Initiativen der Mitgliedstaaten gefordert werden, um den EU-Bürgern ein integriertes Netz mit nützlichen Inhalten und Diensten zur Verfügung zu stellen, auch wenn in dem Vorschlag noch nicht die Möglichkeit eines europäischen elektronischen Personalausweises (eID) für die Unionsbürger in Betracht gezogen wird, um die Erbringung elektronischer Dienste und die Durchführung des elektronischen Geschäftsverkehrs zu erleichtern. Dies war bereits Gegenstand einer gesonderten Empfehlung des EWSA (14).

4.5

Mit dem von der Kommission vorgeschlagenen Finanzinstrument ließe sich ein Problem lösen, das bislang die Möglichkeiten zur Schaffung einer starken Infrastruktur einschränkt. Wenn für Infrastrukturen für digitale Dienste einzig und allein auf Mittel aus den Strukturfonds und dem Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (CIP) zurückgegriffen wird und auch das nur bei Pilotprojekten, kann keine ausreichende kritische Masse für einen umfassenden Aufbau digitaler Dienste erreicht werden. Derzeit wird in vielen Regionen aufgrund des mangelnden Wettbewerbs und des hohen Marktrisikos zu wenig in Breitbandnetze investiert und sind die öffentlichen Dienste wenig entwickelt und aufgrund der Fragmentierung der technischen Lösungen nicht interoperabel. Wenn sich das nicht ändert, wird es keinen echten digitalen Binnenmarkt geben und werden viele EU-Bürger ausgeschlossen sein.

4.6

Nach Auffassung des EWSA ist es wichtig, dass bei den mit diesen Mitteln zu finanzierenden Vorhaben dem Grundsatz der technischen Neutralität Rechnung getragen wird, der für ein wirklich offenes Internet von wesentlicher Bedeutung ist (15).

4.7

Darüber hinaus vertritt der EWSA seit Jahren nachdrücklich, dass es nunmehr zwingend erforderlich ist, den Internetzugang in den Grundversorgungskatalog aufzunehmen (16). Es ist erneut festzustellen, dass die Kommission dieser wichtigen Frage aus dem Weg geht, denn Kommissionsmitglied Neelie Kroes hat ja im Zuge einer Überprüfung des Umfangs des Universaldienstes eine Integration der mobilen Telekommunikationsdienste und Hochgeschwindigkeitsverbindungen ausgeschlossen (17). Zu diesem Schluss sei die Kommission auf der Grundlage der im März 2010 eingeleiteten öffentlichen Konsultation gelangt, die eine große Belastung der Telekom-Branche und Auswirkungen auf die Verbraucherpreise in den Mitgliedstaaten mit noch geringer Versorgungsdichte aufgezeigt haben soll.

4.8

Es überrascht, dass sich die Kommission zwar einerseits durchaus der Notwendigkeit eines entscheidenden Qualitätssprungs der EU im Infrastrukturbereich bewusst ist, sich andererseits aber hinsichtlich der Zweckmäßigkeit einer Anpassung der bereits von 2002 stammenden Rechtsvorschriften über den Universaldienst im Telekommunikationsbereich (18) immer noch sehr zurückhaltend zeigt.

Der EWSA ist sich zwar über die von der Kommission aufgezeigten wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Klaren, betont aber erneut, dass jedem Bürger ein kostengünstiger und logistisch realisierbarer öffentlicher oder privater Breitbandzugang garantiert werden muss, solange dieses vorrangige und schnellstmöglich umzusetzende Ziel nicht erreicht ist.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Fazilität ‧Connecting Europe‧" (Siehe Seite 116 dieses Amtsblatts).

(2)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Zugang zu Breitbandverbindungen für alle: Überlegungen zum Umfang des Universaldienstes im Bereich der elektronischen Kommunikation", ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 8, und EWSA-Stellungnahme zum Thema "Verbesserung der digitalen Kompetenzen, Qualifikationen und Integration", ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9.

(3)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Netzneutralität", noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht, und EWSA-Stellungnahme zum Thema "Erstes Programm für die Funkfrequenzpolitik / Europäische Breitbandnetze: Investition in ein internetgestütztes Wachstum", ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 53.

(4)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Zugang zu Breitbandverbindungen für alle: Überlegungen zum Umfang des Universaldienstes im Bereich der elektronischen Kommunikation", ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 8, EWSA-Stellungnahme zum Thema "Eine digitale Agenda für Europa", ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 58, EWSA-Stellungnahme zum Thema "Erstes Programm für die Funkfrequenzpolitik / Europäische Breitbandnetze: Investition in ein internetgestütztes Wachstum", ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 53, und zahlreiche andere Stellungnahmen.

(5)  Mitteilung Ein Haushalt für "Europa 2020", COM(2011) 500 final.

(6)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Elektronische Kommunikationsnetze", ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 50.

(7)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Eine digitale Agenda für Europa", ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 58.

(8)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Zugang zu Breitbandverbindungen für alle: Überlegungen zum Umfang des Universaldienstes im Bereich der elektronischen Kommunikation", ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 8, und EWSA-Stellungnahme zum Thema "Verbesserung der digitalen Kompetenzen, Qualifikationen und Integration", ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9.

(9)  COM(2006) 129 final.

(10)  Informationen zur "Digital Agenda Assembly": http://ec.europa.eu/information_society/digital-agenda/daa/index_en.htm.

(11)  Siehe Erklärungen von AK.Bhargava, Geschäftsführer der indischen Telefongesellschaft MTNL (Manhagar Telephone Nigam Limited): "Um die Marktdurchdringung des Breitbandzugangs zu vergrößern, muss flächendeckend eine Infrastruktur vorhanden sein, die die Nachfrage antizipiert. Nötig ist eine hohe Dienstqualität, und zwar zu erschwinglichen Preisen."; Broadband Tech India, 12.9.2011.

(12)  COM(2010) 245 final/2.

(13)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Eine digitale Agenda für Europa", ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 58.

(14)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Eine digitale Agenda für Europa", ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 58.

(15)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Netzneutralität", ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 139.

(16)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Zugang zu Breitbandverbindungen für alle: Überlegungen zum Umfang des Universaldienstes im Bereich der elektronischen Kommunikation", ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 8, EWSA-Stellungnahme zum Thema "Eine digitale Agenda für Europa", ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 58, EWSA-Stellungnahme zum Thema "Erstes Programm für die Funkfrequenzpolitik / Europäische Breitbandnetze: Investition in ein internetgestütztes Wachstum", ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 53, und zahlreiche andere Stellungnahmen.

(17)  Erklärung vom 23. November 2011, siehe Pressemitteilung IP/11/1400.

(18)  Universaldienstrichtlinie 2002/22/EG vom 7. März 2002.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/125


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 1364/2006/EG“

COM(2011) 658 final — 2011/0300 (COD)

2012/C 143/25

Berichterstatter: Egbert BIERMANN

Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union beschlossen am 15. November bzw. 29. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 172 und 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 1364/2006/EG"

COM(2011) 658 final - 2011/0300 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 131 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

Diese Stellungnahme ist Teil eines Pakets von fünf Stellungnahmen, die der EWSA zur "Fazilität Connecting Europe" (CEF) und ihren von der Europäischen Kommission im Oktober 2011 vorgelegten Leitlinien erarbeitet. Dieses Paket umfasst die Stellungnahmen TEN/468 zur "Fazilität ‧Connecting Europe‧" (Berichterstatter: Raymond HENCKS), TEN/469 zu "Leitlinien für ein transeuropäisches Telekommunikationsnetz" (Berichterstatter: Antonio LONGO), TEN/470 zu "Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur" (Berichterstatter: Egbert BIERMANN), TEN/471 zu "Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes" (Berichterstatter: Stefan BACK) und TEN/472 zu "Europa-2020-Projektanleiheninitiative für Infrastrukturprojekte" (Berichterstatter: Armin DUTTINE).

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss unterstützt das Ziel, die europäische Energieinfrastruktur zu modernisieren und umfassend auszubauen. Eine leistungsfähige, versorgungssichere und stabile europäische Energieinfrastruktur ist neben der Diversifizierung der Energieträger, der Versorgungsquellen und der Transitrouten die Grundlage für eine sichere und stabile Versorgung der EU.

1.2   Die Finanzkrise hat gezeigt, dass insbesondere stabile Industriestrukturen, aber auch stabile KMU-Strukturen Wertschöpfungsfaktoren sind, die den Weg aus der Krise beschleunigen. Für beide Sektoren ist eine stabile Energieinfrastruktur, die eine hohe Versorgungssicherheit gewährleistet, die Grundvoraussetzung.

1.3   Energie muss zukünftig häufiger und in größeren Mengen über weite Strecken transportiert werden, als dies heute möglich ist. Dazu müssen, wie in dem Vorschlag der Kommission dargelegt, die Voraussetzungen geschaffen und umgesetzt werden.

1.4   Höchstspannungs-Gleichstromübertragung muss als stabiles EU-weites Netz aufgebaut werden. Bisher genutzte lineare Verbindungen sind nicht ausfallsicher.

1.5   Es müssen europäische Grenzkuppelstellen geschaffen werden, um Engpässe zu vermeiden. Ein Engpassmanagement ist ein Beitrag zur Schaffung von Versorgungsstabilität.

1.6   Erst mit einer transeuropäischen Energieinfrastruktur können alle EU-Länder ihre Standortvorteile bei nationalen Energieträgern nutzen. Dies gilt bei der Nutzung von Wasserkraft und Windkraft ebenso wie der Nutzung von Solaranlagen in Südeuropa. Auch die Nutzung von fossilen Energieträgern, z.B. Öl, Gas und Kohle, könnte dadurch optimiert werden.

1.7   Nur mit einer ausgebauten Energieinfrastruktur gelingt der Umbau zu einer nachhaltigen, sicheren und kohlendioxidärmeren Energieversorgung.

1.8   Der EWSA unterstützt die Schaffung einer Fazilität "Connecting Europe". Bisher gibt es nur Schätzungen über das aufzubringende Investitionsvolumen. Zur Umsetzung bedarf es jedoch einer konkreten Ermittlung des tatsächlichen Investitionsbedarfs sowie besserer Rahmenbedingungen und Mittel für Innovationen im europäischen Energieinfrastrukturausbau. Diese dürfen nicht zu Lasten des ebenso notwendigen Ausbaus der Verteilnetze in den Mitgliedstaaten und Regionen gehen. Notwendig sind auf allen Ebenen Netzentgelte, die private Investitionen fördern. Ebenso bedarf es wirkungsvoller öffentlicher Bürgschafts- und Förderprogramme, um private Investitionsanreize zu schaffen.

1.9   Die Kriterien der Projektvergabe sind von herausgehobener Bedeutung. Sie müssen für die Netzbetreiber, die energieerzeugende und -verbrauchende Wirtschaft sowie für die Bürgerinnen und Bürger transparent gestaltet werden. Die in dem Vorschlag formulierte Beteiligungsstruktur von Bürgern und von Regionen wird begrüßt. Deshalb befürwortet der EWSA die im Anhang des Verordnungsentwurfes formulierten Kriterien zur Projektvergabe.

1.10   Der Ausbau des europäischen Stromnetzverbundes ist erforderlich, um den Lastausgleich zu optimieren, aber auch um Effizienzpotenziale auszuschöpfen. Damit der Netzausbau nicht zum Engpass für europäisches Wachstum wird, bedarf es einer deutlichen Beschleunigung der Genehmigungsverfahren. Auch hier sind die Vorschläge des Verordnungsvorschlags zu begrüßen. Die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, die dazu notwendigen nationalen Schritte zur gesetzlichen Anpassung einzuleiten.

1.11   Grundsätzlich sind aus Sicht des EWSA mehr Akzeptanz und mehr Dialog zwischen allen Beteiligten notwendig, um die Herausforderungen beim Netzausbau zu meistern.

1.12   In der Forschung sind weitere Anstrengungen erforderlich, um mit intelligenten Netzen, Speicherkapazitäten und intelligenten Energiemixkonzepten die Schwankungen beim anfallenden Strom durch die regenerative Energiegewinnung auszugleichen. Zur Umsetzung muss eine EU-weite Rechtssicherheit geschaffen werden.

1.13   Ein besonderes Augenmerk ist auf die Stabilität des europäischen Stromnetzes bei sich verändernden Bedingungen der zunehmenden Einspeisung volatiler erneuerbarer Energien zu richten. Spannung- und Frequenzhaltung dürfen nicht schwanken.

1.14   Die Schaffung einer transeuropäischen Energieinfrastruktur setzt eine hohe Bürgerakzeptanz voraus. Die im Verordnungsvorschlag vorgeschlagenen Möglichkeiten sind hierfür ein wichtiger Schritt. Diese Möglichkeiten müssen bei Bedarf in den einzelnen EU-Ländern erweitert werden.

1.15   Sowohl beim Bau als auch beim Betrieb transnationaler Energienetze werden an die Arbeitnehmer besonders hohe Anforderungen gestellt. Eine entsprechende Qualifizierung für diese Tätigkeiten und eine Weiterbildung sind notwendiger Bestandteil der Umsetzung. Es bedarf insbesondere einer spezifischen Fortbildung hochqualifizierter Arbeitnehmer wie Führungskräfte und Ingenieure, die sich auf Innovation, Forschung und Risikoprävention im Zusammenhang mit dem Energietransport zwischen den verschiedenen Ländern wie auch auf die sich ständig weiterentwickelnde nationale Rechtsetzung erstrecken sollte. Bei der Auftragsvergabe ist auf die Einhaltung von Sozialstandards zu achten.

1.16   Der EWSA begrüßt, dass an einem umfassenden Gasnetz festgehalten wird. Die Versorgungssicherheit wird durch die Anbindung verschiedener Gasförderregionen erhöht.

1.17   Die von der EU angeregten Forschungsprojekte zur Abscheidung und Speicherung von CO2 kommen nur schleppend voran. Ein Netz, das die Forschungsstandorte und die potenziellen Speicherstätten miteinander verbindet oder zur Speicherung dient, sollte zwar schon heute geplant werden. Ob dies vor 2020 realisiert wird, ist aus heutiger Sicht aber eher zweifelhaft. Deshalb regt der EWSA einen Begleitprozess an, der die Anwendbarkeit dieser Technologie weiter erforscht und testet (siehe auch CESE 1203/2008 – "Geologische Speicherung von Kohlendioxid", Berichterstatter: Gerd WOLF) (1).

2.   Einführung

2.1   Für die europäische Politik und die europäische Gesellschaft ist es eine große Herausforderung, die Energiezukunft Europas zu gestalten. Die Umsetzung dieses Zieles setzt ein konsequentes, zielorientiertes und realitätsnahes Handeln, etwa auf Basis von Machbarkeitsstudien, voraus. Ein solches Handeln muss – über die Grenzen der Mitgliedsländer hinweg – ein gemeinsames europäisches Konzept beinhalten.

2.2   Bei einem gemeinsamen europäischen Handeln sind die drei energiepolitischen Ziele der EU-Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit die Leitorientierung. Die Verfolgung dieser drei Ziele birgt aber auch soziale Verantwortung, so die Sicherstellung, dass alle Bürger der EU Zugang zu bezahlbarer Energie erhalten.

2.3   Am 17. November 2010 verabschiedete die Kommission eine Mitteilung mit dem Titel "Energieinfrastrukturprioritäten bis 2020 und danach". Diese Mitteilung beinhaltet die Forderung nach einer neuen Energieinfrastrukturpolitik in Europa. Danach soll zukünftig Netzentwicklung transeuropäisch koordiniert werden. Dies bedeutet gleichzeitig eine Überarbeitung und Weiterentwicklung der bisher geltenden Strategien und Konzepte zu den transeuropäischen Energienetzen.

2.4   Schließlich beschloss die Kommission am 19. Oktober 2011 den "Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 1364/2006/EG". Ziel ist die Schaffung eines Energieinfrastrukturbinnenmarktes. Er soll zum 1. Januar 2013 in Kraft treten. Transeuropäische Energieinfrastruktur ist damit Teil des europäischen Energiekonzeptes 2020. Die Elemente dieses Konzepts sind die Integration aller Mitgliedstaaten ins europäische Netz, die Förderung nachhaltiger Energiegewinnung, die Erhöhung von Energieeffizienz, die Senkung der Treibhausgasemissionen und der Ausbau erneuerbarer Energien.

2.5   Energieinfrastruktur wird zukünftig eine sehr viel größere Bedeutung haben: Die Ethikkommission "Sichere Energieversorgung" der deutschen Bundesregierung bezeichnet sie als "Herzstück einer Hightech-Wirtschaft" (2).

2.5.1

Beim Stromtransport beinhaltet dies den Ausbau eines EU-weiten Höchstspannungs-Gleichstromübertragungsnetzes (Stromautobahn) einschließlich der Koppelstellen, die Erforschung und Weiterentwicklung von Stromspeichern, den Ausbau intelligenter und dezentraler Stromverteilungssysteme ("smart grids") und die Steuerung einer intelligenten Stromverwendung.

2.5.2

Erdgas wird auch zukünftig eine Schlüsselrolle beim europäischen Energiemix spielen, um Stromerzeugungsschwankungen auszugleichen und eine Grundversorgung zu sichern. Der Bau von Hochdruckleitungen und entsprechenden Speicherkapazitäten muss beschleunigt werden. Da aus heutiger Sicht die Kosten der Speicherung relativ hoch sind, muss abgewogen werden, ob Erdgasspeicherung durch andere Energiegewinnungsformen zumindest teilweise substituierbar ist.

2.5.3

Auf mittlere Sicht wird Erdöl weiterhin, insbesondere auch beim Straßenverkehr, eine zentrale Rolle spielen. Deshalb müssen auch hier die Transportstrukturen, unter Berücksichtigung einer breiten Versorgungssicherheit, ausgebaut und optimiert werden.

2.5.4

Hinzu kommt der Aufbau einer Infrastruktur für CO2-Transporte. Die Diskussion über das Pro und Contra dieser Technik wird derzeit geführt. Hier bedarf es noch zusätzlicher Forschung, Entwicklung und Akzeptanzförderung, sodass mit einer zeitverzögerten Umsetzung zu rechnen ist.

2.6   Heimische Energieträger der Mitgliedstaaten müssen in die europäische Energieinfrastruktur integriert werden. So können z.B. hochmoderne Öl- und Kohlekraftwerke einen Beitrag zur Grundversorgung und zum Ausgleich von Stromerzeugungsschwankungen leisten.

3.   Der Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates

3.1   Das inhaltliche Fundament der vorgeschlagenen "Verordnung des europäischen Parlamentes und des Rates zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur" bildet die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beteiligung an den transeuropäischen Infrastrukturmaßnahmen bei gleichzeitiger Schaffung effizienter Transportstrukturen. Bei anhaltend steigender Energienachfrage ist eine Vernetzung zu transeuropäischen Energienetzen unerlässlich. Alle Energiesektoren sind hiervon betroffen.

3.2   Der Vorschlag formuliert 12 vorrangige Energieinfrastrukturprojekte und –gebiete. Alle Mitgliedsländer sind, je nach Betroffenheit, in die einzelnen Projekte integriert. Dabei handelt es sich um:

4 Stromkorridore; dazu gehört u.a. der Aufbau eines Offshore-Netzes der nördlichen Meere und der Aufbau eines Nord-Süd-Netzes;

4 Gaskorridore; dazu gehört u.a. der Ausbau der europäischen Gasnetze mit dem Ziel einer Versorgungssicherheit;

1 Erdölkorridor; auch hier steht die Versorgungssicherheit im Vordergrund; sowie

3 vorrangige thematische Gebiete, u.a. die Realisierung intelligenter Netze, den Bau von Stromautobahnen und grenzüberschreitende CO2-Netze.

3.3   Für die vier Infrastrukturbereiche entwickelt der Kommissionsvorschlag 15 Kategorien (u.a. für Stromautobahnen, Stromspeicheranlagen, Gasleitungen, Erdöltransport und CO2-Rohrleitungen). Dies ist die Voraussetzung dafür, dass alle Beteiligten von gleichen und akzeptierten Begrifflichkeiten ausgehen.

3.4   Das Gleiche gilt für die im Kommissionsvorschlag aufgestellten verbindlichen Regeln zur Zusammenarbeit von Gruppen zur regionalen Umsetzung. Diese Spielregeln gelten für alle regionalen Gruppen und sollen die gemeinsame Zusammenarbeit optimieren. In diese Gruppen sollen alle betroffenen Interessenrichtungen integriert werden. Da die Vorhaben erhebliche Auswirkungen auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten sowie grenzüberschreitend haben, sind diese Regeln und Indikatoren unerlässlich.

3.5   Da nicht nur die Strompreise, sondern auch die Netzpreise zwischen den Mitgliedstaaten differieren, wird eine Methode zur Kosten-Nutzen-Analyse formuliert, mit der Szenarien in den einzelnen Energiesektoren, beispielsweise zu Nachfrage, Preisen und Erzeugungskapazität, entwickelt und verglichen werden können.

3.6   Schließlich werden Leitlinien für Transparenz und für die Beteiligung der Öffentlichkeit aufgestellt. Hier wird der Tatsache Rechnung getragen, dass bei den unterschiedlichen Regelungen in den Mitgliedsländern ein einheitlicher Verfahrensweg geschaffen werden muss. Es wird vorgeschlagen, ein Verfahrenshandbuch zu entwickeln. Ziel ist eine weitgehende Beteiligung der Bürger. Die dazu vorgeschlagenen verbindlichen Regelungen sollen europaweit gelten. Sie gewähren eine Anpassung der Abläufe (siehe Anhang II des Vorschlags).

3.7   Dies eröffnet gleichzeitig Chancen zur Umsetzung von Pilotprojekten zur Bürgerbeteiligung mit dem Ziel, eine europäische Beteiligungskultur zu entwickeln.

3.8   Öffentliche Beteiligung der Gebietskörperschaften, der Wirtschaft und der Bürger erfährt hier eine vollkommen neue Qualität. Es wird nicht nur die Öffentlichkeit eines Staates beteiligt, sondern die Öffentlichkeit der betroffenen Mitgliedstaaten. So entsteht quasi eine transnationale Beteiligung, was durchaus zu einer europäischen Beteiligungskultur führen kann und soll. Diesen Aspekt hat der Ausschuss der Regionen (AdR) in seiner Stellungnahme "Energieinfrastrukturprioritäten bis 2020 und danach" (3) in hinreichendem Maße hervorgehoben (siehe u.a. Ziffern 3 und 4).

3.9   Die rechtliche Basis zur Umsetzung einer möglichen Verordnung bildet insbesondere Artikel 171 Absatz 1 AEUV, der eindeutig formuliert ist, sowie auf der Verfahrensebene die Mitentscheidung nach Artikel 172. Wichtig ist, dass die fortbestehende Kompetenz der Mitgliedstaaten für den Energieträgermix gewährleistet bleibt. Die EU-Kompetenz für transeuropäische Netze ist vor diesem Hintergrund hilfreich und soll weiter ausgebaut werden.

3.10   Der Finanzrahmen zum Ausbau der europäischen Energieinfrastruktur bis 2020 wird auf rund 210 Mrd. EUR geschätzt (4). Der zu erwartende Anteil privater Investoren soll bei 50% liegen. Um diesen Anteil zu erreichen, diskutiert und entwickelt die Kommission derzeit Finanzierungsinstrumente. Ihre Bewertung ist Gegenstand der TEN-Studiengruppe "Europa-2020-Projektanleiheninitiative für Infrastrukturprojekte" (5).

3.11   Die vorgeschlagene Verordnung soll zum 1. Januar 2013 in Kraft treten. Die Finanzierungsgrundsätze dafür sind Teil des geplanten gemeinsamen Finanzrahmens 2014 bis 2020 der EU.

4.   Anmerkungen des EWSA

4.1   Energieversorgung mit einer modernen Energieinfrastruktur ist eine Grundvoraussetzung zur Fortentwicklung der europäischen Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund begrüßt der EWSA den Kommissionsvorschlag. Dies ist ein wichtiger Baustein zur Umsetzung der energiepolitischen Ziele 2020.

4.2   Die vorgeschlagene Lösung setzt auf einen Mittelweg zwischen Markttransparenz, notwendiger Regulierung und Marktfreiheit. Dies ist ein positiver Aspekt. Die Energiemärkte der Mitgliedsländer sind derzeit unterschiedlich reguliert. Es könnte zu Interessenkonflikten kommen. Deshalb wird eine Angleichung der nationalen Energiemärkte, unter Beibehaltung nationaler Notwendigkeiten, angestrebt.

4.3   Insbesondere bei den vorgeschlagenen Vorgaben für gemeinsame Indikatoren und Regeln, die für alle verbindlich sein sollen, eröffnet sich die Chance zum gemeinsamen zielgerichteten Handeln. Definitionsstreitigkeiten werden so im Vorfeld minimiert.

4.4   Das vorgegebene Ziel zum Aufbau eines Energiesupernetzes, bis hin zur Schaffung dezentraler intelligenter Netze, beinhaltet mehrere positive Folgewirkungen:

die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen, insbesondere in den europäischen Randlagen;

der Industrie- und Dienstleistungsstandort Europa wird im globalen Wettbewerb durch sichere Energieversorgung gestärkt. Dies gilt im besonderen Maße für KMU;

die Modernisierung und der Ausbau der europäischen Energieinfrastruktur ist ein Beitrag für eine höhere Energieeffizienz;

durch die Schaffung einer transnationalen Infrastruktur bei gleichzeitigem Ausbau regionaler Netze entsteht die Chance, bestehende Energieengpässe besser auszugleichen;

das Ziel eines größeren Wettbewerbs in den Energiemärkten birgt die Chance zur Preisstabilisierung oder sogar Preissenkung. Dem wirkt allerdings ein zum Teil hoher Regulierungsbedarf entgegen, der sich negativ auf die Preise auswirken kann. Ein politischer Abwägungsprozess über den einzuschlagenden Weg sollte eingeleitet werden.

4.5   Mit der geplanten Beteiligung von regionalen und lokalen Gebietskörperschaften wächst die Akzeptanz für deren vorgeschlagene Infrastrukturinnovationen. Diesen Aspekt hat der AdR in seiner Stellungnahme besonders hervorgehoben.

4.6   Die Netzregulierung ist neu auszurichten. Hier muss ein Weg gefunden werden, der die Renditeorientierung der Betreiber durch weitergehende Konzepte ersetzt. Technische Machbarkeit ist dabei eine der Kernfragen, ökonomische, nachhaltige und soziale Umsetzung sind weitere.

4.7   Ein relevanter Bestandteil für moderne Energieinfrastruktur ist die Energievorratshaltung. Bisher bezog sie sich im Wesentlichen auf Erdgas- und Erdöl. Die bisherige Energievorratshaltung wird hier um die Stromvorratshaltung erweitert. Insgesamt stellt sich die Frage, ob es sich dabei um Vorhaben von gemeinsamem Interesse oder um nationale Vorhaben handelt. Zu dieser Frage gibt es bisher keine EU-Regelungen, und es existieren gravierende rechtliche Bedenken. Die Kommission ist deshalb aufgefordert, einen Vorschlag zu entwickeln, der Rechtssicherheit bei der Energiespeicherung schafft. Der Vorschlag muss, über die bislang zur Förderung vorgesehenen Möglichkeiten zur Energiespeicherung hinaus, alle denkbar technischen Optionen berücksichtigen, so z.B. Akkus, Dampftechniken, Wasserstoff oder Methan. Wünschenswert wären zudem parallel zur Umsetzung geförderte Forschungsprojekte.

4.8   In den Mitgliedsländern mit nationalen Wirtschafts- und Sozialausschüssen sollen diese angehört werden und beratend an der Planung und Umsetzung teilnehmen.

4.9   Die nationalen Regelungen zur Arbeitnehmermitbestimmung und -beteiligung werden Bestandteil der regionalen Energieinfrastrukturprojekte. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die soziale Ausgestaltung der bestehenden und entstehenden Arbeitsplätze bei europäischen Infrastrukturprojekten.

4.10   Arbeitnehmer in Infrastrukturprojekten müssen für diese anspruchsvollen Aufgaben entsprechend qualifiziert und weitergebildet werden, damit eine reibungslose Umsetzung erfolgt.

4.11   Die EU-Bürger müssen sorgfältig über entstehende Infrastrukturprojekte informiert werden. Ohne eine breite Bürgerakzeptanz ist eine Umsetzung nicht möglich.

4.12   Infrastrukturkosten sind Teil der Endnutzerenergiepreise. Sie werden in der Praxis auf die Verbraucherpreise umgelegt. Hier besteht die Gefahr, dass Bürger von der Stromnutzung ausgeschlossen werden. Dies wird in dem Vorschlag nur am Rande aufgegriffen. Konzepte zum Ausschluss von Energiearmut in Europa müssen flankierend entwickelt werden. Hierbei ist letztlich mitentscheidend, inwieweit es gelingt, auf den Energiemärkten Wettbewerb zu erzeugen, der einer Preissteigerung entgegenwirkt.

4.13   Infrastrukturkosten werden auch dadurch optimiert, dass die richtige Energie am richtigen Ort erzeugt wird. So soll Windenergie in windreichen Regionen erzeugt werden und Sonnenenergie in sonnenreichen Regionen. Dies führt zu einer Optimierung nicht nur der Energieerzeugung, sondern auch des Energietransports.

4.14   Industrie und KMU sind nach wie vor wesentliche Wertschöpfungsfaktoren in Europa. Auch hier ist eine stabile Energieversorgung mit wettbewerbsfähigen Preisen im globalen Markt eine wichtige Voraussetzung.

4.15   Eine offene Frage ist der geplante Aufbau der Infrastruktur zum CO2-Transport. Das Pro und Contra dieser Technik wird momentan diskutiert. Da aber auf mittlere Sicht fossile Energieträger wie Erdöl, Gas und Kohle weiterhin Bestandteil des Energiemix in Europa sein werden, bedarf es flankierender Maßnahmen zur Forcierung dieser Technik und zum Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur, um die langfristigen Klimaziele der EU erreichen zu können. Allerdings gibt es derzeit kaum Pilotprojekte. Es ist fraglich, ob dies im Zeitrahmen 2020 geschehen wird oder darüber hinausgeht.

4.16   Vor diesem Hintergrund befürwortet der EWSA den Verordnungsvorschlag zur Energieinfrastruktur und unterstützt, unter Berücksichtigung seiner Anmerkungen, eine zügige Umsetzung.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 75

(2)  "Deutschlands Energiewende – Ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft", vorgelegt von der Ethik-Kommission "Sichere Energieversorgung", Berlin, 30. Mai 2011, S. 37.

(3)  ABl. C 259 vom 2.9.2011, S. 48-53

(4)  Für Hochspannungsstromübertragungsnetze, für Speicherung und intelligente Netzanwendungen werden im Vorschlag der Kommission rund 140 Mrd. EUR geschätzt, für Hochdruckgasfernleitungen rund 70 Mrd. EUR und für CO2-Transportinfrastruktur rund 2,5 Mrd. EUR.

(5)  Siehe EWSA-Stellungnahme "Europa-2020-Projektanleiheninitiative für Infrastrukturprojekte" (Siehe Seite 3 dieses Amtsblatts).


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/130


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes“

COM(2011) 650 final — 2011/0294 (COD)

2012/C 143/26

Berichterstatter: Stefan BACK

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 15. November bzw. 30. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 172 und 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes"

COM(2011) 650 final - 2011/0294 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 133 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

Diese Stellungnahme ist Teil eines Pakets von fünf Stellungnahmen, die der EWSA zur Fazilität "Connecting Europe" (CEF) und ihren von der Europäischen Kommission im Oktober 2011 vorgelegten Leitlinien erarbeitet. Dieses Paket umfasst die Stellungnahmen TEN/468 zur "Fazilität ‧Connecting Europe‧" (Berichterstatter: Raymond HENCKS), TEN/469 zu "Leitlinien für ein transeuropäisches Telekommunikationsnetz" (Berichterstatter: Antonio LONGO), TEN/470 zu "Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur" (Berichterstatter: Egbert BIERMANN), TEN/471 zu "Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes" (Berichterstatter: Stefan BACK) und TEN/472 zu "Europa-2020-Projektanleiheninitiative für Infrastrukturprojekte" (Berichterstatter: Armin DUTTINE).

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Mitteilung "Ein Wachstumspaket für integrierte Infrastrukturen in Europa" (im Folgenden "die Mitteilung") und den Vorschlag für eine Verordnung über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes (im Folgenden "der Vorschlag"). Das in der Mitteilung dargelegte Konzept und die in dem Vorschlag enthaltenen Regulierungsmaßnahmen zu seiner Umsetzung im Verkehrssektor stehen weitgehend im Einklang mit den Standpunkten, die der Ausschuss in früheren Stellungnahmen vorgebracht hat.

1.2

Der Ausschuss stimmt insbesondere mit der Europäischen Kommission überein, dass multimodale und nahtlose grenzübergreifende Infrastrukturnetze, die die Feinverteilung und eine gute Anbindung an Drittländer umfassen, für die erfolgreiche Durchführung der Europa-2020-Strategie und der Ziele des Weißbuchs "Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem" aus dem Jahr 2011 (im Folgenden das "Verkehrsweißbuch 2011") von grundlegender Bedeutung sind. Er befürwortet auch den integrierten Ansatz zwischen Verkehrs-, Energie- und digitaler Infrastrukturpolitik, um Synergien und Ressourceneffizienz sicherzustellen. Er möchte jedoch im Folgenden einige Anmerkungen vorbringen.

1.3

Der Ausschuss bedauert, dass das Ziel, Synergien mit anderen Netzen zu schaffen, in diesem Vorschlag nicht als eine der in Artikel 10 festgelegten Planungsprioritäten aufgeführt wird.

1.4

Der Ausschuss weist auf ein Kohärenzproblem zwischen den sehr langfristigen Zielen des Vorschlags und den konkreteren und kurzfristigeren Maßnahmen 2020-2030 hin.

1.5

Der Ausschuss stimmt dem Zwei-Ebenen-Konzept zu, das ein Gesamtnetz und ein Kernnetz vorsieht. Er fragt sich jedoch, ob die Kernnetzkorridore (im Folgenden "die Korridore") in Wirklichkeit nicht als eine dritte Ebene zu erachten sind, die die vorrangigen Vorhaben der geltenden Leitlinien ersetzen, da Kapitel IV des Vorschlags spezifische Kriterien für die Definition der Korridore und ihren Aufbau enthält, wodurch ihnen einen ein ganz eigener Charakter verliehen wird, der sich klar vom Rest des Kernnetzes unterscheidet. Der Ausschuss sieht auch ein Problem in Bezug auf Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit, da die Liste der Korridore und vorab festgelegten Vorhaben im Anhang zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung der Fazilität "Connecting Europe" (im Folgenden "der CEF-Vorschlag") enthalten sind, die lediglich für den Zeitraum 2014-2020 Anwendung findet, wohingegen Korridore und Vorhaben langfristig angelegt sind und ihre vorrangige Behandlung auch nach 2020 sichergestellt werden muss.

1.6

Der Ausschuss ist daher der Auffassung, dass die oben genannten Probleme in Bezug auf Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit gelöst werden könnten, indem entweder die Liste der Kernnetzkorridore und vorab festgelegten Vorhaben als Anhang in diesen Vorschlag aufgenommen wird oder aber vorgeschlagen wird, dass diese Liste genauso lang wie dieser Vorschlag Anwendung findet, vorbehaltlich künftiger Änderungen.

1.7

Der Ausschuss verweist auf die große Bedeutung der für die Kernnetzkorridore geplanten Koordinierungs- und Leitungsstruktur, um deren Verwirklichung zu erleichtern, betont jedoch dass diese schlank, zielgerichtet und kosteneffizient gestaltet und klar auf ein optimales Funktionieren der grenzübergreifenden Planungsschnittstellen auf allen Ebenen unter angemessener Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und eine Vermeidung von Engpässen in den Korridoren ausgerichtet sein muss. Der Ausschuss fordert Lösungen, um parallele Leitungsstrukturen und Funktionsüberschneidungen bei Überlappung verschiedener Korridorsysteme zu vermeiden, z.B. Kernnetzkorridore und Komponenten des europäischen Schienennetzes für einen wettbewerbsfähigen Güterverkehr.

1.8

Der Ausschuss wirft die Frage auf, ob nicht eine ausdrückliche Möglichkeit vorgesehen werden sollte, das gesamte Kernnetz (einschl. Meeresautobahnen zwischen Kernnetzhäfen) mit einem Koordinierungsmechanismus auszustatten, um die angemessene und rechtzeitige Verwirklichung des Kernnetzes, insbesondere seiner grenzübergreifenden Dimension, zu erleichtern. Der Ausschuss betont, dass ein derartiger Mechanismus eine Hilfe für die Planungsbehörden sein könnte, um einen Ausgleich zwischen nationalen Prioritäten auf verschiedener Ebene und Mehrwert der EU zu finden und letzteren auch herauszustellen.

1.9

In Bezug auf die Korridorkonfiguration hält der Ausschuss fest, dass das Hauptaugenmerk in dem Vorschlag auf ihren multimodalen und grenzüberschreitenden Charakter gelegt wird. Die in der Liste im Anhang zu dem CEF-Vorschlag aufgeführten Korridore sind an den in der Verordnung (EU) Nr. 913/2010 zur Schaffung eines europäischen Schienennetzes für einen wettbewerbsfähigen Güterverkehr genannten Schienengüterverkehrskorridoren ausgerichtet. Da eine der übergeordneten Prioritäten des Vorschlags die Schaffung eines ressourceneffizienten und multimodalen Verkehrs ist und jeder Korridor zumindest drei Verkehrsträger umfassen soll, sollten auch andere Verkehrsträger Berücksichtigung finden.

1.10

Seiner Meinung nach sollten die Korridore auf der Grundlage des multimodalen und ressourceneffizienten Konzepts gemäß Artikel 48 und 49 des Vorschlags festgelegt werden und die wichtigsten grenzübergreifenden Fernverkehrsströme im Kernnetz erfassen und dabei die Nutzung der einzelnen Verkehrsträger und ihres Verbundes optimieren. Die Konfiguration der Korridore sollte auf Kosten-Nutzen-Analysen beruhen und unter dem Gesichtspunkt der Effizienz und der (wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen) Nachhaltigkeit auf der Grundlage von Innovation und Komodalität erfolgen. Auf diese Weise sollten bei der Festlegung der Korridore die Anforderungen sämtlicher Verkehrsträger, einschl. der Knotenpunkte, angegangen werden.

1.11

Der Ausschuss erachtet die im CEF-Vorschlag enthaltene Absicht, zusätzliche Mittel für die Bedürfnisse der Kohäsionsländer bereitzustellen, als wichtig und spricht sich dafür aus, die so zum Ausdruck gebrachte Priorität auch in diesen Vorschlag aufzunehmen, z.B. durch die Einfügung eines Zieles in Artikel 4 oder einer zusätzlichen Priorität in Artikel 10.

1.12

Der Ausschuss hält fest, dass gemäß Artikel 17 Absatz 3 des CEF-Vorschlags 80 bis 85 % der Haushaltsmittel für vorab festgelegte Vorhaben, in erster Linie im Rahmen der Kernnetzkorridore, bereitgestellt werden, die in Anhang I zum CEF-Vorschlag aufgeführt sind. Er bedauert, dass die für die Auswahl dieser Vorhaben angelegten Kriterien in keiner Weise erläutert werden. Der Ausschuss verweist auf den multimodalen Charakter der Korridore, der auch im Korridorentwicklungsplan in Artikel 53 des Vorschlags verankert ist; dies legt ebenfalls nahe, dass es eine angemessene Aufteilung der Investitionsvorhaben auf alle Verkehrsträger geben sollte (siehe auch Artikel 53 Absatz 1 Buchstabe f der Verordnung).

1.13

Angesichts der beispielsweise in Artikel 37 bis 39 des Vorschlags hervorgehobenen Bedeutung der Nachhaltigkeit stellt der Ausschuss die Frage, ob das Konzept der "Grünen Korridore" nicht als Gütezeichen in Artikel 38 zum Ausbau der Güterverkehrsdienste aufgenommen werden könnte.

2.   Einleitung

2.1

Die geltenden TEN-V-Leitlinien beruhen auf dem Beschluss aus dem Jahr 1996. Sie sollen die Verkehrsverbindungen und somit die Funktionsweise des Binnenmarktes verbessern.

2.2

Allerdings vermögen diese Leitlinien aus dem Jahr 1996, auch in ihrer geänderten Form, nicht, ein kohärentes Netz zu schaffen. Dies gilt insbesondere für vorrangige Vorhaben, mit denen bestimmte in Bezug auf Kapazität oder Anbindung problematische Punkte des Netzes angegangen werden sollen.

2.3

Die Umsetzung dieser Leitlinien ist nur langsam vorangekommen, und es sind erhebliche Verzögerungen, insbesondere bei der Durchführung der vorrangigen Vorhaben, eingetreten.

2.4

Der Ausschuss verweist auch auf die unzureichende Umsetzung in den neuen Mitgliedstaaten in Osteuropa.

2.5

Das nun von der Europäischen Kommission vorgelegte Maßnahmenpaket bestehend aus einer Mitteilung und einem Vorschlag für eine Verordnung ist das Ergebnis eines langen Konsultationsverfahrens. Der Ausschuss hat sich in dieses Verfahren eingebracht, und zwar mit der Stellungnahme zu dem "Grünbuch TEN-V" (1) und der auf Ersuchen des polnischen Ratsvorsitzes erarbeiteten Stellungnahme zum Thema "Nachhaltige Entwicklung der EU-Verkehrspolitik und TEN-V-Planung" (2). In seiner Stellungnahme zu dem Verkehrsweißbuch aus dem Jahr 2011 (3) hat er ebenfalls Fragen im Zusammenhang mit den TEN-V aufgegriffen.

2.6

Dieses Maßnahmenpaket soll als Grundlage für eine integrierte Infrastrukturpolitik für Verkehrs-, Energie- und digitalen Netze dienen, um Synergien zu schaffen, die Ressourcen effizienter zu nutzen, Engpässe und Kapazitätsprobleme zu lösen und Verkehrslücken zu schließen.

2.7

Dieses Maßnahmenpaket soll ausdrücklich zur Verwirklichung der Ziele der Europa-2020-Strategie beitragen, sprich der Schaffung einer nachhaltigen und wettbewerbsfähigen wissensbasierten Wirtschaft, die auf einer optimalen und ressourceneffizienten Netzkonfiguration beruht.

2.8

Diese Ziele sollen im Wege gesonderter Verordnungen für jeden einzelnen Sektor erreicht werden, die Leitlinien für Planung, Festlegung der Priorität und Durchführung enthalten, sowie mit einem gemeinsamen Finanzrahmen, dem CEF-Vorschlag für den Zeitraum 2014-2020, dem eine Liste von Korridoren und vorab festgelegten Vorhaben beigefügt ist, die im Zeitraum 2014-2020 für eine Gemeinschaftsfinanzierung ausgewählt wurden. Der CEF-Vorschlag ist nicht Gegenstand dieser Stellungnahme.

2.9

In dem Vorschlag werden mehrere Ziele für den Verkehrssektor festgelegt. Das wichtigste Ziel ist der Aufbau eines kohärenten Kernnetzes, das einen ressourceneffizienten multimodalen Verkehr im Binnenmarkt und seine Anbindung an die EU-Nachbarländer ermöglicht. Mit dem Vorschlag soll das Stückwerk der geltenden TEN-V-Leitlinien ersetzt, die Auslegung des Netzes verdeutlicht und seine Errichtung erleichtert werden.

2.10

Wie mit dem Verkehrsweißbuch 2011 sollen auch mit diesem Maßnahmenpaket nahtlose Verkehrströme im Binnenmarkt einschl. Logistikdienste erleichtert und so Nachhaltigkeit und Wachstum gewährleistet werden. Außerdem soll mit dem Vorschlag die grenzübergreifende Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten durch einen Rahmen für eine bessere Ressourcenverteilung und effizientere Planung verbessert werden.

2.11

Der Vorschlag umfasst auch Maßnahmen zur Entwicklung intelligenter Verkehrssysteme, zur Verbesserung umweltfreundlicher Verkehrslösungen und zur Förderung von Innovation.

2.12

In dem Vorschlag wird das Netz in zwei Ebenen unterteilt, namentlich das Gesamtnetz und das Kernnetz. Die EU-Mittel und -Maßnahmen sind auf das Kernnetz ausgerichtet, das einen hohen europäischen Mehrwert aufweisen soll (Schaffung noch fehlender grenzüberschreitender Verkehrsverbindungen, Beseitigung der Engpässe und Aufbau multimodaler Knoten). Das Kernnetz soll bis spätestens Ende 2030 und das Gesamtnetz bis spätestens Ende 2050 fertiggestellt sein.

2.13

Innerhalb des Kernnetzes wird eine Reihe von multimodalen Kernnetzkorridoren festgelegt, für die ein starker Leitungsmechanismus geschaffen und der Großteil der Haushaltsmittel bereitgestellt wird.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss begrüßt die Mitteilung und den Vorschlag und stimmt mit der Europäischen Kommission überein, dass eine funktionierende Infrastruktur für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts unerlässlich ist.

3.2

Der Ausschuss hat wiederholt einen integrierten Ansatz zur Verbindung der verschiedenen transeuropäischen Netze gefordert. Er begrüßt daher die nun unterbreiteten diesbezüglichen Vorschläge.

3.3

Der Ausschuss merkt an, dass in dem Vorschlag lediglich die Möglichkeiten für die Koordinierung zwischen den verschiedenen Netzen behandelt werden – und auch dies nur sehr allgemein. Konkretere Vorschriften sind in dem CEF-Vorschlag enthalten.

3.4

Der Ausschuss begrüßt, dass dieser Vorschlag im Einklang mit den im Verkehrsweißbuch 2011 dargelegten verkehrspolitischen Zielen steht. Er hat bereits darauf hingewiesen, dass eine stärkere Kohärenz zwischen den strategischen Maßnahmen (bis 2050) und den konkreteren Maßnahmen (2020-2030) des Weißbuchs notwendig ist. In Bezug auf die Mitteilung und den Vorschlag sind vergleichbare Schwachstellen zu bemängeln.

3.5

Der Ausschuss nimmt an, dass das Zwei-Ebenen-Konzept der Mitteilung und des Vorschlags auf das Anliegen zurückzuführen ist, ein kohärentes Verkehrsnetz für die wichtigsten Waren- und Personenverkehrsflüsse aufzubauen. Dies ist ein sinnvolles Ziel und trägt der Notwendigkeit Rechnung, bei der Begebung der begrenzten Finanzmittel Prioritäten zu setzen.

3.6

Der Ausschuss fragt sich, ob die Kernnetzkorridore, deren Rahmen in diesem Vorschlag skizziert, im Detail allerdings in einem Anhang zu dem CEF-Vorschlag dargelegt wird, nicht in Wirklichkeit eine dritte Ebene für die vorab festgelegten vorrangigen Vorhaben für den Haushaltszeitraum 2014-2020 bilden. Er weist auf die Probleme in Bezug auf Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit hin, die für Korridore und Vorhaben entstehen könnten, die bis Ende der Geltungsdauer des CEF-Vorschlags 2020 nicht vollendet sind.

3.7

Der Ausschuss stellt daher die Frage, ob die Liste der Korridore und vorab festgelegten Vorhaben nicht als Anhang zu diesem Vorschlag beigefügt werden sollte. Seiner Meinung nach stehen diese Korridore in einem engeren Bezug zu dem Vorschlag, in dem sie geregelt werden, als zu dem CEF-Vorschlag.

3.8

Der Ausschuss verweist außerdem auf Inkohärenzen in Bezug auf das Zusammenspiel zwischen Kernnetz und Korridoren, für die in dem Vorschlag ein starker und zweckdienlicher Koordinierungs- und Leitungsmechanismus vorgesehen ist. Er versteht zwar die Festlegung äußerst strenger Prioritäten für die Ressourcennutzung, ein gut entwickelter Koordinierungs- und Leitungsmechanismus könnte jedoch für das Kernnetz insgesamt sinnvoll sein, wo doch die Frist für dessen Fertigstellung in Bezug auf die Infrastrukturplanung nicht in so weiter Ferne liegt. Der Ausschuss betont insbesondere die Zweckdienlichkeit dieses Mechanismus, um einen Ausgleich zwischen nationaler Planung und Mehrwert der EU zu finden und letzteren in die nationale Planung einzubringen. Ein starker Koordinierungs- und Leitungsmechanismus ist insbesondere für Vorhaben notwendig, die per definitionem grenzübergreifend sind, wie etwa Meeresautobahnen.

3.9

Der Ausschuss fordert, dass diese Korridore multimodal ausgelegt sein müssen. Dies könnte in bestimmten Fällen zu relativ breiten Korridoren führen, die sowohl landseitige bzw. feste als auch seeseitige Anbindungen erfordern, z.B. in Form von Meeresautobahnen. Dem Straßenverkehr sollte angemessenes Augenmerk gewidmet werden, da das Kernnetz auch der tatsächlichen Verkehrsnachfrage Rechnung tragen muss. So wird der Güterverkehr Prognosen zufolge im Zeitraum 2005-2020 um 34 % zunehmen, wobei derzeit über 75 % des Verkehrsvolumens über die Straße abgewickelt werden. Nach Auffassung des Ausschusses sollte sich dieser multimodale Charakter auch bei der Auswahl der Vorhaben widerspiegeln, die alle Verkehrsträger umfassen sollten.

3.10

Der Ausschuss stimmt der Feststellung in der Kommissionsmitteilung zu, dass nun ein geeigneter Zeitpunkt für Infrastruktur-Vorschläge sein könnte, da Infrastrukturinvestitionen aufgrund der derzeitigen Finanzkrise auf immer größeres Interesse stoßen. In einem Dokument, in dem Fristen bis 2030 und 2050 gesetzt werden, muss die Bewertung der Finanzierungsmöglichkeiten jedoch längerfristig angelegt sein.

3.11

Der Ausschuss nimmt die ehrgeizige Planung für den Zeitraum 2014-2020 im Anhang zu dem CEF-Vorschlag zur Kenntnis. Er begrüßt zwar die positiven Auswirkungen auf die Einführung der im Vorschlag vorgesehenen Koordinierungs- und Leitungsmechanismen für die Kernnetzkorridore und die in dem CEF-Vorschlag enthaltene Überwachung, verweist jedoch darauf, dass die Dauer der nationalen Planungsverfahren nur schwer absehbar ist, da oftmals Beschwerde gegen Planungsentscheidungen eingelegt wird, weshalb langwierige Verfahren eher die Regel als die Ausnahme sind.

3.12

In seiner Stellungnahme zum Verkehrsweißbuch 2011 hat der Ausschuss auf die Bedeutung der Schnittstelle zwischen Fernverkehr und städtischem Verteilerverkehr hingewiesen. Deswegen begrüßt der Ausschuss den im Vorschlag diesbezüglich verfolgten Ansatz.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der Ausschuss unterstreicht, dass bei der Umsetzung der Leitlinien in Bezug auf technische Kriterien die Bedingungen vor Ort berücksichtigt werden müssen, sofern dies nicht auf Kosten der Sicherheit und Gefahrenabwehr geht. Dieser Aspekt sollte im Sinne der Ressourceneffizienz ebenfalls gebührend berücksichtigt werden können.

4.2

Die Rolle der Meeresautobahnen ist teilweise unklar, und zwar in Bezug auf Meeresautobahn-Verbindungen zwischen Häfen in verschiedenen Korridoren oder Häfen mit unterschiedlichem Status, beispielsweise zwischen einem Kernnetzhafen und einem Gesamtnetzhafen oder zwischen zwei Kernnetzhäfen, die unterschiedlichen Korridoren angehören (siehe z.B. Artikel 25 Absatz 2 Buchstabe c) des Vorschlags). Der Ausschuss bedauert diese Unschärfen, die bei der Verknüpfung von Vorhaben für Meeresautobahnen praktische Probleme aufwerfen könnten.

4.3

Die Bestimmungen in Artikel 38 des Vorschlags betreffen eigentlich das Konzept der "Grünen Korridore", das von der Europäischen Kommission mit dem Aktionsplan Güterverkehrslogistik aus dem Jahr 2007 eingeführt wurde. Der Ausschuss bedauert, dass dieser Schlüsselbegriff im Verordnungsvorschlag nicht als Gütezeichen verwendet wird.

4.4

Der Ausschuss stimmt den Anforderungen für die Straßenverkehrsinfrastruktur des Kernnetzes zu (Artikel 45 des Vorschlags). Die Schaffung zusätzlicher Infrastruktur wie von Pausenbereichen etwa alle 50 km entlang der Autobahnen sowie ausreichende und sichere Parkplätze für gewerbliche Straßenbenutzer sind von grundlegender Bedeutung. Derartige Einrichtungen mit geeigneten Bedingungen für die Ruhezeiten sind sowohl für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Fahrer als auch die Erhöhung der Straßenverkehrssicherheit wesentlich. Außerdem sind sie ein Beitrag zum Kampf gegen das organisierte Verbrechen.

4.5

Die Anforderungen für die Verfügbarkeit von alternativen umweltfreundlichen Kraftstoffen sollten erhöht werden, da die TEN-V-Leitlinien mit der Strategie für alternative Kraftstoffe (einschl. Strom, Biokraftstoffe, synthetische Kraftstoffe, Methan und Flüssiggas) verknüpft werden müssen, die die Europäische Kommission demnächst vorlegen will, um EU-weit umweltverträgliche und energieeffiziente Fahrzeuge im Kernnetz einsetzen zu können. Diesbezüglich ist der Ausschuss der Meinung, dass eine angemessene Tankinfrastruktur für alternative Kraftstoffe aufgebaut werden muss, um die Marktdurchdringung umweltfreundlicher Fahrzeuge in der EU erheblich zu beschleunigen.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem "Grünbuch TEN-V: Überprüfung der Politik – Ein besser integriertes transeuropäisches Verkehrsnetz im Dienst der gemeinsamen Verkehrspolitik", ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 101.

(2)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Nachhaltige Entwicklung der EU-Verkehrspolitik und TEN-V-Planung", ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 31.

(3)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem "Weißbuch: Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem", ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 146.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/134


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung des Beschlusses Nr. 1639/2006/EG zur Einrichtung eines Rahmenprogramms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (2007-2013) sowie der Verordnung (EG) Nr. 680/2007 über die Grundregeln für die Gewährung von Gemeinschaftszuschüssen für transeuropäische Verkehrs- und Energienetze“

COM(2011) 659 final — 2011/0301 (COD)

2012/C 143/27

Berichterstatter: Armin DUTTINE

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 17. November bzw. 12. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikeln 172, 173 (3) und 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung des Beschlusses Nr. 1639/2006/EG zur Einrichtung eines Rahmenprogramms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (2007-2013) sowie der Verordnung (EG) Nr. 680/2007 über die Grundregeln für die Gewährung von Gemeinschaftszuschüssen für transeuropäische Verkehrs- und Energienetze"

COM(2011) 659 final – 2011/0301 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 23. Februar) mit 161 gegen 2 Stimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme

Diese Stellungnahme ist Teil eines vom EWSA vorbereiteten, aus fünf Stellungnahmen bestehenden Pakets zur „Fazilität ‚Connecting Europe‘“ und den zugehörigen Leitlinien. Diese wurden von der Europäischen Kommission im Oktober 2011 veröffentlicht. Das Paket enthält die Stellungnahmen TEN/468 zur „Fazilität ‚Connecting Europe‘“ (Berichterstatter: Raymond HENCKS); TEN/469 zu den Leitlinien für ein transeuropäisches Telekommunikationsnetz (Berichterstatter: Antonio LONGO; TEN/470 zu den Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur (Berichterstatter: Egbert BIERMANN); TEN/471 zu den Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes (Berichterstatter: Stefan BACK); und TEN/472 zur Projektanleiheninitiative (Berichterstatter: Armin DUTTINE).

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt im Prinzip den Vorschlag der EU-Kommission für die Einrichtung eines Risikoteilungsinstruments zur Auflage von Projektanleihen für die vorgesehene Pilotphase für die Jahre 2012 und 2013. Er weist jedoch auf Risiken im Zuge des Instruments hin. Bevor dieses Instrument für die neue EU-Haushaltsperiode 2014-2020 fortgesetzt wird, sollte im Vorfeld die Evaluierung fortgeführt und im Zuge einer ausführlichen gesellschaftlichen Debatte intensiviert und mit besonderer Sorgfalt durchgeführt werden. Dabei sollten insbesondere die Lehren aus den Erfahrungen mit Projekten im Rahmen von öffentlich-privaten Partnerschaften (ÖPP) einfließen.

1.2

Die Chancen des vorgeschlagenen Instruments liegen insbesondere in der Mobilisierung wichtiger für die Stärkung von Wachstum, Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und die Schaffung von Arbeitsplätzen notwendiger Investitionsmittel für Infrastrukturprojekte in den Bereichen Verkehr, Telekommunikation und Energie. Mit Hilfe der Durchführung der angestrebten Projekte wird der Nutzen der europäischen Integration für die Bürgerinnen und Bürger konkret erfahrbar und damit der europäische Gedanke gestärkt.

1.3

Der Ausschuss erkennt jedoch auch Risiken. Diese ergeben sich insbesondere aus der möglichen Verlustübernahme bei den aufgelegten Investitionsprojekten. Während die mögliche Risikoübernahme für den EU-Haushalt im legislativen Vorschlag der EU-Kommission klar gedeckelt ist, wird für die Europäische Investitionsbank (EIB) durch die jeweiligen für jedes Projekt zwischen der EIB und den Investoren vereinbarten Verträge sowie einer von der EIB durchgeführten Risikostreuung über die Gesamtzahl der Projekte angenommen, dass keine weiteren Risikoübernahmen für die EIB eintreten. Um auf alle Fälle zu vermeiden, dass es durch Risikoeintritt zu negativen Auswirkungen auf die Bonität und die Reputation der EIB sowie auf die Auflage und Durchführung klassisch geförderter Projekte durch die EIB kommt, erscheint es aus Sicht des Ausschusses nötig, dass die EIB auch im Rahmen der Projektanleihen ihre konservativen Evaluierungskriterien von Projektrisiken anwendet. Insbesondere sollte die Risikoübernahme durch die EIB transparent dargestellt (1) und gegebenenfalls eine Begrenzung der Risikoübernahme vorgenommen werden. Diese Maßnahme sollte insbesondere bezüglich der Fortsetzung des Instruments für die neue EU-Haushaltsperiode 2014-2020 nach Auswertung der Erfahrungen während der Pilotphase in Erwägung gezogen werden.

1.4

Der EWSA merkt an, dass der Vorschlag der EU-Kommission zu wenig auf Fragen im Zusammenhang mit der Rückzahlung privat finanzierter Infrastrukturprojekte eingeht. Insbesondere im Verkehrsbereich sollte auf breiter gesellschaftlicher Basis über die möglichen Konsequenzen der Einführung der Nutzerfinanzierung diskutiert werden. Auch weist der Ausschuss darauf hin, dass politische Entscheidungen und gesellschaftliche Absprachen zur Erreichung nachhaltiger ökonomischer, ökologischer und sozialer Ziele durch das vorgeschlagene Instrument nicht konterkariert werden dürfen. Zur Auflage von ÖPP-Projekten dürfen keine falschen Anreize gesetzt werden. Der Ausschuss erinnert deshalb an seine Position, dass die Verschuldungskriterien für ÖPP-Projekte den Kriterien für Projekte aus der klassischen öffentlichen Auftragsvergabe entsprechen müssen.

1.5

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass mit dem vorgeschlagenen Risikoteilungsinstrument zur Auflage von Projektanleihen nur ein Teil der notwendigen Investitionsmittel für dringend notwendige Infrastrukturprojekte mobilisiert werden können. Er weist deshalb auf die Notwendigkeit hin, weitere Einnahmequellen für die öffentlichen Haushalte für öffentliche Investitionen zu mobilisieren. Hierzu verweist er insbesondere auf die Vorschläge zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer.

2.   Einleitung

2.1

Die EU-Kommission hat am 19. Oktober 2011 mehrere legislative Vorschläge und nicht-legislative Vorschläge zur Entwicklung der transeuropäischen Netze und Infrastrukturen für die Bereiche Verkehr, Energie und Telekommunikation unter dem gemeinsamen Label "Connecting Europe Facility" mit Schwerpunkt für die neue Haushaltsperiode von 2014 bis 2020 vorgelegt. Diese beziehen sich insbesondere auf die Förderleitlinien, zu fördernde Projekte, die Höhe der notwendigen Investitionsmittel und neue Finanzierungsinstrumente in den genannten Bereichen. Diese Stellungnahme bezieht sich auf die Finanzierungsaspekte. Die anderen Aspekte sind Teil weiterer Stellungnahmen des EWSA (2).

2.2

Der hier behandelte legislative Vorschlag enthält folgende Elemente: Ausdehnung des Anwendungsbereiches des Rahmenprogramms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation für die laufende EU-Haushaltsperiode (2007-2013) auf Investitionen für die Breitbandinfrastruktur und die Auflage eines Risikoteilungsinstruments für Projektanleihen für die Bereiche Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) und Breitband sowie die Transeuropäischen Netze (TEN) im Bereich der Verkehrs- (TEN-V) und Energieinfrastruktur (TEN-E).

2.3

Das vorgeschlagene Instrument wird vor dem Hintergrund von Schwierigkeiten im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise zur Finanzierung langfristig orientierter Investitionen mit Hilfe privaten Kapitals aufgelegt. Damit sollen für langfristig orientierte Infrastrukturprojekte zusätzlich auch Mittel auf den Kapitalmärkten mobilisiert werden. Bei dem vorgeschlagenen Instrument handelt es sich um ein Risikoteilungsinstrument für Projektanleihen. Dieses soll mit Hilfe eines finanziellen Beitrags aus EU-Budgetmitteln an die Europäische Investitionsbank (EIB) diese in die Lage versetzen, mit Hilfe von nachrangigen Darlehen oder nachrangigen Garantien die Kreditrisiken der Anleiheinhaber zu mindern.

2.4

Die legislative Maßnahme bezieht sich auf eine Pilotphase für die Jahre 2012 und 2013. In diesem Zeitraum soll die Wirkung des Risikoteilungsinstruments auf die Mobilisierung privater Investitionsmittel getestet werden.

2.5

Die Risikoteilung erfolgt zwischen der EU und der EIB. Dabei ist der finanzielle Beitrag aus dem EU-Haushalt auf 230 Mio. EUR beschränkt. Maximal 200 Mio. EUR sollen für die Jahre 2012 und 2013 für TEN-V- und maximal 10 Mio. EUR für TEN-E-Projekte sowie maximal 20 Mio. EUR für das Jahr 2013 für Investitionen in die Bereiche IKT- und Breitbandinfrastruktur zur Verfügung stehen.

2.6

Es wird davon ausgegangen, dass insgesamt betrachtet über alle durchgeführten Projekte mit Hilfe des Zuschusses aus dem EU-Haushalt die EIB das sogenannte First Loss absichern kann. Die genaue Höhe der maximalen Risikoübernahme durch die EIB wird vertraglich für jedes einzelne Projekt definiert. Theoretisch entspricht das maximale Risiko der EIB der Summe der eingegangenen Verträge minus der Beteiligung aus dem EU-Haushalt. Eine nominelle Deckelung des Risikos der EIB über alle Projekte hinweg ist im gesetzgebenden Vorschlag der EU-Kommission allerdings nicht wie für den EU-Haushalt vorgesehen, wenn es im Vorschlag heißt: "Das allen Geschäften inhärente Restrisiko wird von der EIB getragen." Die Definition des Restrisikos obliegt der EIB im Rahmen ihrer Risikoanalyse.

2.7

Die EU-Kommission strebt mit diesem Instrument die Mobilisierung weiterer insbesondere privater Investorenmittel an und möchte damit eine Hebelwirkung erreichen. Anvisierte Investoren sind insbesondere Versicherungen, Pensionsfonds und Staatsfonds, die eine gesicherte und langfristige Finanzanlagemöglichkeit suchen.

2.8

Die Mobilisierung von Haushaltsmitteln aus dem Budget der EU während der Pilotphase soll allein durch Umschichtungen erfolgen. Insbesondere sollen hierzu noch freie Finanzmittel aus dem bereits bestehenden "Kreditgarantieinstrument für TEN-Verkehrsprojekte" ("Loan Guarantee instrument for TEN-transport projects") (LGTT) genommen werden.

2.9

Während bei dem bestehenden Risikoteilungsinstrument LGTT eine Risikoabsicherung der kommerziellen Kreditgeber (Banken) durch die EIB erfolgt, bezieht sich der hier untersuchte legislative Vorschlag auf die Risikoabsicherung durch die EIB für Investoren in Projektanleihen. Hier wie da geht es um die Risikoabsicherung der Verschuldung von Projektgesellschaften, die Infrastrukturprojekte durchführen, wobei in der Praxis insbesondere als Projektfinanzierung durchgeführte Investitionen – und anderem öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) – hierfür in Frage kommen. Hierbei übernehmen in der Regel Projektsponsoren wie Bauunternehmen, Infrastrukturfonds, Betreibergesellschaften und zum Teil öffentliche Unternehmen neben dem Bau auch den Betrieb, die Planung und insbesondere die Finanzierung der Investitionsprojekte.

2.10

Die Auswahl der geförderten Projekte für die Pilotphase muss noch erfolgen. Dabei sollen aus dem Bereich TEN-V drei bis elf, aus dem Bereich TEN-E ein und aus dem Bereich IKT/Breitband ein bis zwei Projekte gefördert werden. Aus den Erfahrungen der Pilotphase sollen Schlussfolgerungen für die neue EU-Haushaltsperiode 2014-2020 gezogen werden.

2.11

Aspekte der Rückzahlung werden im legislativen Vorschlag und in den begleitenden Papieren durch die EU-Kommission nur am Rande dargestellt. Aus einem Papier der EIB über die Erfahrungen von LGTT geht jedoch klar hervor, dass dieses Risikoteilungsinstrument insbesondere für Projekte als geeignet betrachtet wird, die nutzerfinanziert sind (3). Ähnliches ist für Projekte zu erwarten, die mit dem hier untersuchten legislativen Vorschlag angestrebt werden.

3.   Generelle Bemerkungen

3.1

Der EWSA begrüßt im Prinzip den Vorschlag der EU-Kommission für die Einrichtung eines Risikoteilungsinstruments zur Auflage von. Projektanleihen für die vorgesehene Pilotphase für die Jahre 2012 und 2013. Er weist auf die im Folgenden dargestellten Chancen, aber auch Risiken sowie ebenfalls dargestellten Vorschläge und Bedingungen insbesondere zur Fortsetzung des Instruments nach der Pilotphase hin.

3.2

Die Chancen liegen insbesondere im Bereich der Möglichkeit der Mobilisierung zusätzlicher Investitionsmittel, wodurch die Wirkung von EU-Haushaltsmitteln gesteigert werden kann. Dies kann einen wichtigen Beitrag für die Generierung von Wachstum und Innovation, die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft, die Erreichung der Ziele der EU 2020-Strategie und die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen leisten. Mit Hilfe der Durchführung der angestrebten Projekte wird der Nutzen der europäischen Integration für die Bürgerinnen und Bürger konkret erfahrbar und damit der europäische Gedanke gestärkt.

3.3

Der Ausschuss erkennt jedoch auch Risiken. Er weist hierbei auf den inhärenten Zusammenhang zwischen der Höhe der Hebelwirkung und der Risikoübernahme durch die öffentliche Hand hin. Die Risiken ergeben sich insbesondere aus der möglichen Verlustübernahme bei den aufgelegten Investitionsprojekten. Während die mögliche Risikoübernahme für den EU-Haushalt im legislativen Vorschlag der EU-Kommission klar gedeckelt ist, wird für die EIB durch die jeweiligen für jedes Projekt zwischen der EIB und den Investoren vereinbarten Verträge sowie einer von der EIB durchgeführten Risikostreuung über die Gesamtzahl der Projekte angenommen, dass keine weiteren Risikoübernahmen für die EIB eintreten. Um auf alle Fälle zu vermeiden, dass es durch Risikoeintritt zu negativen Auswirkungen auf die Bonität und die Reputation der EIB sowie auf die Auflage und Durchführung klassisch geförderter Projekte durch die EIB kommt, erscheint es ratsam, den Einsatz des Risikoteilungsinstruments vom Grad der Risikoübernahme durch die EIB auf Basis einer transparenten Darstellung ihrer Risikoübernahme her sinnvoll zu begrenzen. Insbesondere sollte die Risikoübernahme durch die EIB transparent dargestellt (4) und gegebenenfalls eine Begrenzung der Risikoübernahme vorgenommen werden. Diese Maßnahme sollte insbesondere für die neue EU-Haushaltsperiode 2014-2020 nach Auswertung der Erfahrungen während der Pilotphase bezüglich der Fortsetzung des Instruments in Erwägung gezogen werden.

3.4

Die Beurteilung des Vorschlags der EU-Kommission hängt von den jeweiligen politischen Zielen der öffentlichen Hand in Vertretung der Interessen der Bürgerinnen und Bürger und den finanziellen Interessen der Käufer von Projektanleihen ab. Diese können gleichgerichtet sein, doch auch entgegengesetzt. Der Ausschuss empfiehlt, dass über Chancen und Risiken vor der Auflage des neuen Instruments insbesondere für die Haushaltsperiode 2014-2020 die gesellschaftliche Debatte fortgesetzt und intensiviert wird. Dabei sollten insbesondere die Lehren aus den Erfahrungen mit Projektfinanzierungen und ÖPP-Projekten einfließen.

3.5

Der EWSA weist darauf hin, dass die Umsetzung von Projektfinanzierungen die Rückzahlung der Projektschuld durch projektgebundene Einkünfte nötig macht. Insbesondere wird hierdurch das Thema Nutzerfinanzierung relevant. Während der Energie- und Telekommunikationsbereich bereits heute aufgrund der durchgeführten Liberalisierungen und Privatisierungen durch eine solche Finanzierung gekennzeichnet sind, ist dies im Verkehrsbereich, insbesondere im Falle des motorisierten Individualverkehrs bisher nur in einigen EU-Mitgliedsländern, vor allem auf Autobahnen der Fall. Diese mögliche Konsequenz sollte im Vorfeld der Umsetzung angedachter Verkehrsprojekte im Rahmen einer breiten gesellschaftlichen Debatte diskutiert werden.

3.6

Der EWSA regt an, dass überlegt werden sollte, die Stückelung von Projektanleihen so zu gestalten, dass auch Kleinsparerinnen und -sparer sich daran beteiligen können und dieses Instrument nicht nur institutionellen Anlegern zur Verfügung steht.

3.7

Ziel der Auflage des geplanten Risikoteilungsinstruments darf nicht nur die Erreichung eines möglichst hohen Hebels zur Mobilisierung zusätzlicher Investitionsmittel aus privaten Quellen sein, sondern es muss darüber hinaus gewährleistet werden, dass politische Entscheidungen und gesellschaftliche Absprachen zur Erreichung nachhaltiger ökonomischer, ökologischer und sozialer Ziele durch das vorgeschlagene Instrument nicht konterkariert werden (5). Die durch Projektanleihen aufgelegten Investitionsprojekte dürfen zum Beispiel nicht darauf beruhen, dass Sozial-, Umwelt- und Qualitätsnormen verletzt werden. Bei der Durchführung von Projekten müssen die Bau- und Instandhaltungsqualität, die ökologische Verträglichkeit und die Einhaltung von Tarifverträgen und des Arbeitsortsprinzips sowie die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, die Förderung der Innovation, die Kostenkalkulation auf Basis der Lebenszykluskosten, die sozialen und ökologischen Bedingungen des Erstellungsprozesses (6) sowie die Gewährleistung der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen mit berücksichtigt werden, solange sie objektiv nachprüfbar sind und aus nichtdiskriminierenden Kriterien bestehen. Vermieden werden müssen unzumutbare Gebührenbelastungen für Nutzerinnen und Nutzer. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die auf die häufige bis tägliche Benutzung einer Verkehrsinfrastruktur angewiesen sind, besonders wenn keine alternativen Infrastrukturen zur Verfügung stehen.

3.8

Aus diesen Anforderungen leitet sich ab, dass der Ausschuss einfordert, dass rechtzeitig vor der politischen Entscheidung zur Einsetzung des Risikoteilungsinstruments für Projektanleihen für die neue EU-Haushaltsperiode 2014-2020 die Evaluierung der Pilotphase der Projektbondinitiative fortgesetzt und auf einer breiten gesellschaftlichen Basis intensiviert werden muss. Hierbei sollten auch die Erfahrungen mit LGTT einfließen. Insbesondere muss Transparenz über die geförderten Projekte, die Mittelzuweisungen und damit induzierte Investitionsströme herrschen, was eine permanente Erfolgskontrolle und ein zeitnahes Monitoring erfordert, um rechtzeitig Schlussfolgerungen ziehen zu können. An der Evaluation beteiligt werden sollten die politischen Entscheidungsträger auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene, die Sozialpartner und Organisationen der Zivilgesellschaft wie aus dem Bereich der Wissenschaft, des Umwelt- und Verbraucherschutzes und sozialer Verbände ebenso wie die Beteiligung des EWSA und des Ausschusses der Regionen. Der europäische Gesetzgeber sollte im Vorfeld der neuen Haushaltsperiode eine Entscheidung treffen. Die aus den Unterlagen der EU-Kommission sich implizit ergebende Evaluierung erst in den Jahren 2016/2017 hält der Ausschuss für zu spät.

3.9

Für Projektfinanzierungen und ÖPP-Projekte, deren Schuldrückzahlung durch öffentliche Zahlungen garantiert wird, bestehen für die öffentliche Hand synonyme finanzielle Verpflichtungen an die Refinanzierung der Investitionsprojekte wie bei klassisch finanzierten Projekten der öffentlichen Auftragsvergabe. Um eine ausreichende Haushaltstransparenz zu gewährleisten, zusätzliche Haushaltsrisiken zu vermeiden sowie falsche Anreize für die Auflage von ÖPP-Projekten zu vermeiden und eine freie Wahl der zuständigen Behörden zwischen ÖPP-Projekten und klassisch finanzierten Projekten zu gewährleisten, wiederholt der EWSA seine Forderung, dass die Verschuldungskriterien für ÖPP-Projekte den Kriterien für Projekte aus der klassischen öffentlichen Auftragsvergabe entsprechen müssen (7).

3.10

Viele Infrastrukturprojekte in den Bereichen Energie und Telekommunikation werden anders als bestimmte Verkehrsprojekte in der EU im Allgemeinen privat finanziert und über Nutzungsentgelte refinanziert, die der Regulierung unterliegen. Dies gilt für die gesamte Netzinfrastruktur. Hier fragt sich der Ausschuss, welche zusätzlichen Projekte der europäische Gesetzgeber im Rahmen des vorgeschlagenen Finanzierungsinstrumentes anstoßen will, deren Refinanzierung offenbar nicht durch der Regulierung unterliegende Nutzungsentgelte vollständig ermöglicht werden kann. Es bedarf nach Ansicht des Ausschusses für jedes einzelne dieser in Aussicht genommenen Projekte in den Bereichen Energie und Telekommunikation einer detaillierten Begründung, warum es trotz fehlender Refinanzierungsmöglichkeit für die Entwicklung der EU als förderungswürdig erscheint. Eine Kontrolle derartiger Projekte durch den europäischen Gesetzgeber ist unverzichtbar.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Das vorgeschlagene Risikoteilungsinstrument ist ein potenzieller Ausweg aus den von der EU-Kommission dargestellten Problemen unzureichender öffentlicher Investitionsmittel und anlagesuchendem Kapital besonders institutioneller Anleger. Es stellen sich aber auch zahlreiche technische Fragen, die zusätzlich zu den im Kapitel 3 genannten politischen Anforderungen gestellt werden müssen. Der Ausschuss regt dazu an, diese Fragen vor der Auflage des vorgeschlagenen Risikoteilungsinstruments, spätestens aber zur intendierten Einführung in der neuen EU-Haushaltsperiode von 2014-2020 zu klären.

4.2

Insgesamt vertritt der Ausschuss die Auffassung, dass die EIB und der EU-Haushalt nicht nur Risiken absichern, sondern auch an den Gewinnen angemessen beteiligt werden sollten ("fair risk sharing"). Dies sollte durch die systematische Anwendung der Risiko- und Preispolitik der EIB sowie die weiteren hier vorgeschlagenen Maßnahmen zur Begrenzung des Risikos für die EIB gewährleistet werden.

4.3

Auch ist die genaue Rolle der Akteure nicht völlig klar. Unklar ist insbesondere, wer die Rolle der Anleiheversicherer (Monoliners) als einzige Kreditkontrollstelle ersetzt und in welcher Weise dies geschehen soll. In diesem Zusammenhang ist insbesondere unklar, welche Rolle hierbei die EIB spielen soll. Die Entscheidung hierüber soll zukünftigen Vereinbarungen mit den Investoren und einem Vertrag zwischen der EU-Kommission und der EIB vorbehalten bleiben. Der EWSA ruft den europäischen Gesetzgeber dazu auf, spätestens vor der möglichen Weiterführung des Instruments in der neuen EU-Haushaltsperiode 2014-2020 die technischen Details des Risikoregimes und den Umfang der Funktion als Kreditkontrollstelle durch die EIB im Rahmen des anstehenden Gesetzgebungsverfahrens zu klären, um Sicherheit für die Investoren und die öffentliche Hand zu schaffen. Auf keinen Fall darf das angestrebte Risikoteilungsinstrument dazu führen, dass die Bonität und Reputation der EIB in Gefahr gerät.

4.4

Die Erfahrungen aus den LGTT-Projekten sollten nach dem im Kapitel 3 genannten Kriterien systematisch ausgewertet werden, um Schlussfolgerungen für ein adäquates Projektdesign des Risikoteilungsinstruments für Projektanleihen zu ziehen und um negative Auswirkungen vermeiden zu helfen (8). In diesem Zusammenhang aufgeklärt werden sollten aber auch die unterschiedlichen Einschätzungen, die in der Bewertung von ÖPP-Projekten durch die verschiedenen Akteure vorgenommen wurden.

4.5

Angesichts von positiven, aber auch von zahlreichen negativen Erfahrungen bzw. Risiken im Zuge von Projektfinanzierungen und ÖPP-Projekten in Bezug auf die Dauer der Vertragsverhandlungen, der Komplexität der vertraglichen Bedingungen und Akteursbeziehungen sowie der Unsicherheit von Nachfrageeffekten fragt sich der EWSA, ob es nicht die beste Lösung wäre, die öffentlichen Haushalte mit den erforderlichen Mitteln auszustatten, um Investitionsprojekte im Rahmen der klassischen öffentlichen Auftragsvergabe aufzulegen (9). Der Ausschuss begrüßt in diesem Zusammenhang die Vorschläge der EU-Kommission zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer und erinnert in diesem Zusammenhang an seine Unterstützung für die Einführung einer solchen Einnahmequelle für öffentliche Haushalte (10).

4.6

Der Ausschuss verweist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass der durch die EU-Kommission festgestellte Investitionsbedarf für die "Connecting Europe Facility" nicht durch die alleinige Ausgabe von Projektanleihen gewährleistet werden kann. Er regt deshalb dazu an, weitere Einnahmequellen für öffentliche Investitionen zu mobilisieren.

Brüssel, den 23. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Vergleiche auch European Commission, Impact Assessment Board, DG ECFIN – Impact Assessment on a proposal for a regulation on the Europe 2020 Project Bond Initiative, point C 2 (draft version of 15 September 2011) (Ref. Ares(2011)1012531 - 23.09.2011): Hier wird eine transparentere Darstellung der Risiken für die EIB angemahnt.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema "Fazilität ‧Connecting Europe‧", Stellungnahme des EWSA zum Thema "Leitlinien für transeuropäische Telekommunikationsnetze", Stellungnahme des EWSA zum Thema "Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes" (Siehe Seite 130 dieses Amtsblatts).

(3)  Vgl. European Investment Bank: Loan Guarantee Instrument for TEN-T Projects – Mid-term Review (2011), Luxembourg 14 July 2011, Seite 4.

(4)  Vergleiche auch European Commission, Impact Assessment Board, DG ECFIN, point C 2, a.a.O. (Angaben in Fußnote 1).

(5)  So hat sich die CER im Rahmen der Konsultation skeptisch zum Einsatz des vorgeschlagenen Risikoteilungsinstruments für den Verkehrsträger Schiene geäußert. Vgl. Stakeholder Consultation on Europe 2020 Projekt Bond Initiative, Response of the European Railway and Infrastructure Companies (CER), 6 May 2011, abrufbar unter http://ec.europa.eu/economy_finance/consultation/written_responses_en.htm.

(6)  Vergleiche auch Stellungnahme des EWSA zum Thema "Europäischer Markt für öffentliche Aufträge", ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 113.

(7)  Stellungnahme des EWSA zum Thema "Private und öffentliche Investitionen", ABl. C 51 vom 17.2.2011, S. 59; vgl. auch House of Commons, Treasury Committee, Private Finance Initiative, Seventeenth Report of Session 2010-2012, London 18 July 2011: In dem Bericht wird darauf verwiesen, dass durch Nichtausweis von PFI-ÖPP-Projekten in der öffentlichen Verschuldung falsche Anreize resultieren, die das Ziel des "Best Value for Money" konterkarieren. Der Vorsitzende des Haushaltsausschuss des britischen Unterhauses Andrew Tyrie (Conservative Party) spricht sich klar für die Einbeziehung in die Verschuldungsregeln aus (vgl. http://www.parliament.uk/business/committees/committees-a-z/commons-select/treasury-committee/news/pfi-report/).

(8)  Vgl. hierzu auch European Investment Bank, a.a.O. (Angaben in Fußnote 3): Hierin werden jedoch zahlreiche der in Kapital 3 genannten Kriterien nicht untersucht.

(9)  Dieser Ansatz einer besten und zweitbesten Lösung geht auch aus der Stellungnahme der Gemeinschaft Europäischer Bahnen und Infrastrukturgesellschaften (CER, Community of European Railway and Infrastructure Companies) im Rahmen der Konsultation des hier untersuchten legislativen Vorschlags hervor. Vgl. CER, a.a.O. (Angaben in Fußnote 5).

(10)  Stellungnahme des EWSA zum Thema "Steuer auf Finanztransaktionen", ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 81 und Stellungnahme des EWSA zum Thema "Bericht der de Larosière-Gruppe", ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 57.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/139


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Führerschein in Bezug auf die Integration der Funktionen einer Fahrerkarte“

COM(2011) 710 final — 2011/0327 (COD)

2012/C 143/28

Berichterstatter: Jan SIMONS

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 17. November bzw. 14. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 91 und 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Führerschein in Bezug auf die Integration der Funktionen einer Fahrerkarte“

COM(2011) 710 final – 2011/0327 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. Februar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 122 gegen 5 Stimmen bei 12 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Zur einheitlichen Anwendung der Rechtsvorschriften wäre es aus Sicht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zweckdienlich, eine Verordnung anstelle einer Richtlinie als Rechtsinstrument zu wählen, um eigene Auslegungen seitens der Mitgliedstaaten auszuschließen.

1.2   Der Ausschuss stimmt dem letztendlichen Ziel des Kommissionsvorschlags zu, namentlich der Integration der Funktionen der Fahrerkarte in den Führerschein, um eine bessere Einhaltung der Sozialvorschriften für Lenk- und Ruhezeiten herbeizuführen; allerdings müssen für eine klare, umsetzbare und effiziente Regelung zunächst eine Reihe von Problemen gelöst werden, die nicht erschöpfend in Ziffer 4 dieser Stellungnahme zusammengefasst sind.

1.3   Sollte keine Lösung für diese Probleme gefunden werden, empfiehlt der Ausschuss, eine Studie über die Vereinbarkeit der geltenden einschlägigen Rechtsvorschriften vorzunehmen und diese dann so zu ändern, dass keinerlei Funktionalitätsverlust bei sämtlichen Generationen von digitalen Fahrtenschreibern verursacht wird. Er empfiehlt außerdem, Sozialpartner, Hersteller von Fahrtenschreibern und Kontrolleinrichtungen in die Ausarbeitung dieser Studie einzubeziehen.

1.4   Der Ausschuss hegt Zweifel an den von der Europäischen Kommission genannten Einsparungen von 100 Mio. EUR jährlich durch die Verringerung des Verwaltungsaufwands. Seiner Auffassung ist eine fundierte Untermauerung dieser Aussage notwendig, da die Folgenabschätzung der Europäischen Kommission diesbezüglich nicht genügend Aufschluss gibt.

1.5   Sollten Fahrerkarte und Führerschein letztlich zusammengeführt werden, müssen geeignete Vereinbarungen nicht nur mit AETR-Ländern, sondern auch mit Nicht-AETR-Ländern getroffen werden, damit diese Vorschriften einheitlich und korrekt gehandhabt und kontrolliert werden.

1.6   Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission auf, klar aufzuzeigen, wie sie die in Ziffer 4 dieser Stellungnahme erörterten Probleme in Verbindung mit der Zusammenführung von Fahrerkarte und Führerschein durch die Nutzung eines einzigen Mikrochips lösen will. Vielleicht ist die Einführung von zwei getrennten Mikrochips im Führerschein eine Option, mit der jedoch höchstwahrscheinlich auch nicht alle Probleme gelöst werden können.

2.   Einleitung

2.1   Am 11. November 2011 veröffentlichte die Europäische Kommission ihren „Vorschlag für eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Führerschein in Bezug auf die Integration der Funktionen einer Fahrerkarte“ (COM(2011) 710 final). Das Europäische Parlament und der Rat haben den Ausschuss gemäß Artikel 91 und 304 AEUV um eine Stellungnahme zu dieser Vorlage ersucht.

2.2   Der Ausschuss begrüßt, dass er mit diesem Vorschlag befasst wird, da dieses Thema seiner Meinung nach für die Anwendung besserer Sozialvorschriften im gewerblichen Straßenpersonen- und -güterverkehr wichtig ist.

2.3   Der Kommissionsvorschlag folgt dem Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 über das Kontrollgerät im Straßenverkehr („Fahrtenschreiberverordnung“) und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 über die Lenk- und Ruhezeiten von Fahrern.

2.4   In Bezug auf die in Ziffer 2.3 genannte Verordnung hat der Ausschuss in seiner Plenartagung am 7. Dezember 2011 eine Stellungnahme verabschiedet (1), in der er Folgendes festhält: „Der Ausschuss begrüßt die von der Kommission angestrebte Zusammenführung der Funktionsmerkmale von Fahrerkarte und Führerschein, da hierdurch die Sicherheit verbessert und die Verwaltungslasten verringert werdenzumindest soweit dies praktisch möglich ist.

2.5   Mit dem Kommissionsvorschlag sollen nun die Funktionen der Fahrerkarte in den Führerschein integriert werden, wodurch laut Europäischer Kommission betrügerische Möglichkeiten eingedämmt sowie die Kosten langfristig begrenzt werden, da anstatt zwei Dokumenten nur ein Dokument ausgestellt und erworben wird. Laut Folgenabschätzung der Europäischen Kommission sollen so jährlich rund 100 Mio. EUR eingespart werden können.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Der Ausschuss spricht sich für die Harmonisierung der Vorschriften aus, damit möglichst wenig Missverständnisse über deren Auslegung entstehen können. Die Europäische Kommission hat ihren Vorschlag in Form einer Richtlinie vorgelegt, wahrscheinlich weil die Vorschriften für den Führerschein auch in einer Richtlinie enthalten sind. Dies bietet den Mitgliedstaaten jedoch einen gewissen Auslegungsspielraum. Der Ausschuss fragt sich daher, ob ein Vorschlag für eine Verordnung nicht zweckdienlicher gewesen wäre.

3.2   Der Ausschuss unterstützt das grundlegende Ziel des Kommissionsvorschlags, und zwar eine bessere Durchsetzbarkeit der Sozialvorschriften im Straßenverkehr in Verbindung mit Betrugsbekämpfung und Verwaltungsabbau, betont jedoch, das zunächst erst einmal einige Probleme gelöst werden müssen (siehe Ziffer 4).

3.3   In Bezug auf die geschätzten jährlichen Einsparungen von 100 Mio. EUR an Verwaltungskosten durch die Verringerung des Verwaltungsaufwandes, die die Europäische Kommission aus ihrer Folgenabschätzung ableitet, vertritt der Ausschuss die Meinung, dass die Zusammenführung von Fahrerkarte und Führerschein an sich noch keine Garantie für diese Einsparungen ist. Eine Zusammenführung von Dokumenten bedeutet per definitionem noch keine größere Effizienz und Kostenersparnis.

3.4   Der Ausschuss wirft die Frage auf, ob der Kommissionsvorschlag zur Integration der Funktionen der Fahrerkarte in den Führerschein ausreichende Garantien für Fahrer bietet, wenn diese in einem Nicht-EU-Land kontrolliert werden, das Mitglied des Europäischen Übereinkommens über die Arbeit des im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrpersonals (AETR) ist. Es ist wichtig, dass bei der Einführung neuer Rechtsvorschriften klare Vereinbarungen nicht nur mit den anderen AETR-Ländern, sondern auch mit Nicht-AETR-Ländern für die Durchsetzung und Kontrolle dieser Vorschriften getroffen werden.

3.5   Sollte keine klare Lösung für die Probleme in Verbindung mit dem Kommissionsvorschlag gefunden werden, die u.a. in dieser und der folgenden Ziffer genannt werden, empfiehlt der Ausschuss, eine Studie über die Vereinbarkeit der geltenden einschlägigen Rechtsvorschriften vorzunehmen und diese dann dahingehend zu ändern, dass keinerlei Funktionalitätsverlust bei sämtlichen Generationen von digitalen Fahrtenschreibern verursacht wird. Es erscheint zweckdienlich, alle betroffenen Interessenträger, und zwar Sozialpartner, Hersteller von Fahrtenschreibern und Kontrolleinrichtungen, einzubeziehen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Die Europäische Kommission zeigt nach Auffassung des Ausschusses nicht klar genug auf, wie sie die Probleme in Verbindung mit der Zusammenführung von Fahrerkarte und Führerschein durch Nutzung eines einzigen Mikrochips lösen will.

4.1.1

Als Beispiel sei die Übertretung der Vorschriften für Lenk- und Ruhezeiten genannt: Diese kann bis zum Führerscheinentzug führen – was in vielen Fällen jedoch überzogen wäre.

4.1.2

Die Spezifikationen für den Mikrochip für die Fahrerkarte sind nicht die gleichen wie für den Führerschein. Bedeutet dies, dass die Rechtsvorschriften für den digitalen Fahrtenschreiber angepasst werden müssen?

4.1.3

Die Rechtsvorschriften für den Entzug der Fahrerkarte und des Führerscheins sind ebenfalls unterschiedlich. Diese Vorschriften sind sowohl im EU-Recht als auch in nationalen Gesetzen festgelegt und können somit nur schwer harmonisiert werden.

4.1.4

In einigen Ländern wird der Führerschein auch als Personalausweis akzeptiert. Weist sich ein Fahrer mit seinem Führerschein aus, muss er diesen aus der Halterung nehmen. Es ist jedoch verboten, die Fahrerkarte während der Registrierung, der Fahrt oder anderer Tätigkeiten aus dem Fahrtenschreiber zu nehmen.

4.1.5

In einigen Mitgliedstaaten gibt es bereits eine Kombination aus Berufsbefähigungszeugnis für Fahrer und Führerschein. Die Zusammenführung mit der Fahrerkarte wird zu einer Ausweitung der Nutzung kombinierter Karten führen.

4.1.6

Die Integration der Funktionen der Fahrerkarte in den Führerschein kann auch Auswirkungen auf das AETR-Übereinkommen haben, die noch vor Annahme des Kommissionsvorschlags ermittelt und gelöst werden müssen.

4.1.7

Laut Kommissionsvorschlag muss der Führerschein-Mikrochip auch die Informationen der Fahrerkarte enthalten. Die zwei unterschiedlichen Spezifikationen für diese Dokumente sind hier allerdings ein Problem. Nach Meinung des Ausschusses könnte der Führerschein durchaus nicht nur mit einem, sondern mit zwei Mikrochips versehen werden.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 43 vom 15.2.2012, S. 79.


22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/141


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle der Zivilgesellschaft in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Chile“

2012/C 143/29

Berichterstatter: Filip HAMRO-DROTZ

Mitberichterstatter: Francisco SILVA

Mit Schreiben vom 1. August 2011 ersuchte das Europäische Parlament den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um eine Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema:

Die Rolle der Zivilgesellschaft in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Chile”.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen unternahm im September 2011 eine Studienreise nach Chile und nahm ihre Stellungnahme am 24. Januar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 138 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) wurde vom Europäischen Parlament ersucht, diese Stellungnahme zu erarbeiten, um im Kontext der Beziehungen zwischen der EU und Chile die Rolle der chilenischen Zivilgesellschaft und die Situation von Artikel 10 des 2002 unterzeichneten Assoziationsabkommens zwischen der EU und Chile zu analysieren. In diesem Artikel ist die Schaffung eines Gemischten Beratenden Ausschusses (GBA) aus Vertretern des EWSA und der chilenischen Zivilgesellschaft vorgesehen, der jedoch aufgrund des Fehlens einer mit dem EWSA vergleichbaren Institution in Chile noch nicht eingerichtet worden ist.

1.2   Der EWSA begrüßt die guten politischen Beziehungen zwischen der EU und Chile, die durch das Assoziationsabkommen zweifellos begünstigt werden. Der EWSA befürwortet eine Überarbeitung des Assoziationsabkommens dahingehend, dass ein Kapitel über nachhaltige Entwicklung, Maßnahmen zur Förderung der Anerkennung und Umsetzung der grundlegenden Übereinkommen der ILO und eine Neuausrichtung der Zusammenarbeit auf eine Verstärkung der Zivilgesellschaft und auf Projekte von gemeinsamem Interesse wie Innovation, nachhaltige Entwicklung, Verbraucherschutz und Bildung aufgenommen werden.

1.3   Der EWSA ersucht die am Assoziationsabkommen beteiligten Seiten und die zuständigen internationalen Organisationen mit Sitz in Chile, ihre institutionelle, politische, operative und wirtschaftliche Unterstützung auf die Verstärkung und Befähigung der chilenischen Organisationen der Zivilgesellschaft zu konzentrieren, damit diese sich sowohl im Rahmen des sozialen als auch des zivilen Dialogs auf nationaler Ebene und mit der europäischen Zivilgesellschaft auf bilateraler Ebene zu kompetenten Gesprächspartnern entwickeln können.

1.4   Der EWSA betont erneut die grundlegende Bedeutung des Dialogs zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern als Fundament für einen wirtschaftlichen und sozialen Konsens, der für eine von sozialem Zusammenhalt geprägte Entwicklung und als Ausgangspunkt für einen weiter gefassten sozialen Dialog zwischen den politischen Entscheidungsträgern und den Akteuren von Wirtschaft und Gesellschaft unerlässlich ist. Dies muss zu einer besseren Verteilung des Wohlstands und zu einer offeneren Politik und einer wichtigeren Rolle für die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft führen.

1.5   Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der Schaffung eines Wirtschafts- und Sozialrates (WSR) oder einer vergleichbaren Einrichtung in Chile, wodurch die Möglichkeiten der Konsolidierung des Dialogs zwischen den verschiedenen Akteuren der Zivilgesellschaft und zwischen diesen und den betroffenen Behörden verstärkt würden; ferner würde dies Möglichkeiten für eine möglichst rasche Umsetzung von Artikel 10 des Assoziationsabkommens eröffnen. Der EWSA ist bereit, dazu mit den Erfahrungen beizutragen, die er in vergleichbaren Tätigkeiten mit anderen Ländern gewonnen hat.

1.6   Wie mit den chilenischen Verbänden anlässlich seiner Sondierungsreise nach Chile im September 2011 vereinbart, wird der EWSA mit Unterstützung der chilenischen Regierung und der EU im Rahmen des siebten Treffens der organisierten Zivilgesellschaft EU/Lateinamerika und Karibik 2012 in Santiago de Chile ein Seminar mit den repräsentativsten Vertretern der chilenischen Zivilgesellschaft veranstalten. Auf diesem Seminar werden der Nutzen und die Modalitäten der Einrichtung eines beratenden Gremiums der chilenischen Zivilgesellschaft untersucht, das gemäß Artikel 10 des Abkommens als Gegenstück zum EWSA fungieren kann.

1.7   Auch weitere Fragen von gemeinsamem Interesse für die zivilgesellschaftlichen Akteure werden erörtert, ebenso wie Möglichkeiten für den Kapazitätsaufbau, die Notwendigkeit eines kontinuierlichen und besseren Informationsaustauschs wie auch die Möglichkeit, in Zukunft regelmäßig weitere gemeinsame Aktivitäten durchzuführen. Für diese Zusammenarbeit ist die finanzielle Unterstützung seitens der Vertragsparteien des Assoziationsabkommens erforderlich.

2.   Die politische, wirtschaftliche und soziale Lage in Chile

2.1   Politische Lage

2.1.1

Chile ist eines der stabilsten und wohlhabendsten Länder in Südamerika und bildet – aufgrund seines von den Rohstoffpreisen befeuerten dauerhaften Wirtschaftswachstums, der Machtausübung durch repräsentative politische Parteien, seiner immer größeren internationalen Rolle und seiner zunehmenden Ausrichtung auf den pazifischen Raum – einen Bezugspunkt.

2.1.2

Nach der zwei Jahrzehnte währenden demokratischen Mitte-Links-Regierung der Concertación, seit 2006 unter Führung von Michelle Bachelet, trat am 11. März 2010 Präsident Sebastián Piñera seine vierjährige Amtszeit an, nachdem die Mitte-Rechts-Koalition (Coalición por el Cambio) unter seiner Führung den Wahlsieg errungen hatte.

2.1.3

In den letzten Monaten ist die politische Lage in Chile von großen sozialen Protestbewegungen geprägt gewesen, die unter der Führung von Studierenden und mit Unterstützung der Gewerkschaften stattfinden. Weitere, für die heutige politische Situation bestimmende Faktoren sind die sozialen Ungleichheiten und die Unterstützung der Regierung für das umstrittene Staudammprojekt HidroAysén, in dessen Rahmen fünf Wasserkraftwerke im chilenischen Teil Patagoniens gebaut werden sollen. Zu nennen sind insbesondere auch die Demonstrationen und Schulbesetzungen, mit denen eine Reform des Bildungswesens zur Ermöglichung des Zugangs zu einer hochwertigen öffentlichen Bildung für alle Bevölkerungsschichten in ganz Chile gefordert werden.

2.1.4

Nach Ansicht der chilenischen Zivilgesellschaft sind diese Proteste Ausdruck eines Unmuts unter den Bürgern, bei dem Forderungen nach einer gerechteren Verteilung des Wohlstands, mehr gesellschaftlicher Teilhabe und einer größeren politischen Öffnung laut werden. Die gesellschaftlichen Organisationen wissen um die Bedeutung des politischen Moments in Chile, von dem sie sich einen Wandel erhoffen: die Veränderung der Verfassung, die noch Pinochets Handschrift trägt, des Wahlsystems, das die politische Erneuerung erschwert, und des aktuellen, auf Wachstum ausgerichteten sozioökonomischen Systems, das auf der Exportkapazität einiger weniger Rohstoffe beruht, was zur unzulänglichen Wohlstandsverteilung beiträgt.

2.2   Wirtschaftliche Lage

2.2.1

Chile ist ein Land mit mittelhohem Einkommensniveau. Chile erreichte 2010 ein Wirtschaftswachstum von 5,2 %.

2.2.2

Chile ist mit Abstand der weltweit größte Lieferant von Kupfer, das 60 % der chilenischen Exporte ausmacht. Die Bankenbranche ist sehr stark und verzeichnet u.a. dank sehr hoher Zinssätze und der Verwaltung von Pensionsfonds große Gewinne. Doch das hohe Wirtschaftswachstum Chiles führte ungeachtet dieser starken Branchen nicht zu einer Verringerung der Zersplitterung anderer chilenischer Produktionssektoren, z.B. der chilenischen Lebensmittel- und Fischereiindustrie. Die chilenische Wirtschaft bekam 2008 die Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise zu spüren, jedoch weit weniger stark als viele andere Länder der Welt, wie dies in fast allen lateinamerikanischen Volkswirtschaften der Fall ist.

2.3   Soziale Lage

2.3.1

Chile ist eines der Länder mit großen Unterschieden im Pro-Kopf-Einkommen. Nach Mitte 2010 veröffentlichten Angaben hat sich die Armut zwischen 2006 und 2009 offenbar auf 15,1 % und die extreme Armut auf 3,7 % erhöht, gegenüber 13,7 % bzw. 3,2 % im Jahr 2006.

2.3.2

Die Arbeitslosigkeit stieg 2010 auf 9,6 % an, was vor allem auf die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise zurückzuführen ist, von der Chile in den zwei vorangehenden Jahren getroffen wurde. Insbesondere junge Menschen und Frauen sind von Arbeitslosigkeit betroffen. Viele der in jüngster Zeit geschaffenen Arbeitsplätze entstanden im Dienstleistungssektor, und der Prozentsatz der informellen Arbeit ist hoch.

2.3.3

Chile erreichte beim Index der menschlichen Entwicklung 2010 des UNDP Platz 45 von 169, womit das Land an oberster Stelle der lateinamerikanischen Länder steht. Chile hat seine Wohnungs-, Bildungs- und Gesundheitsstandards verbessert. Die Einkommensunterschiede haben jedoch zugenommen. Die wohlhabendsten 5 % der Haushalte verfügen über ein Pro-Kopf-Einkommen, das 830 Mal über demjenigen der einkommensschwächsten 5 % liegt. 75 % der Arbeitnehmer verdienen umgerechnet 1 000 US-Dollar, während das Pro-Kopf-BIP bei 16 000 USD liegt; das bedeutet, dass der Arbeitsmarkt bei der Umverteilung der Einkommen keine Rolle spielt. Vorsorgepläne sind selten. Kinder, junge Menschen, Frauen und Ureinwohner (1) sind die von Armut und sozialer Ausgrenzung am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen. Die Daten zeigen einen Zusammenhang zwischen Armut und Schulbesuchsquote, Armut und Arbeitslosigkeit, Armut und Frauenerwerbslosenquote (2). Es besteht beträchtliche Ungleichheit zwischen Frauen und Männern, weshalb Chile hinsichtlich der Chancengleichheit Platz 75 von 109 Ländern belegt. Generell ist das Arbeitsrecht schwach – die Tarifverhandlungen und das Streikrecht sind eingeschränkt, der Anteil der durch einen Tarifvertrag abgedeckten Arbeitnehmer ist nicht höher als 6 % –, es fehlt an landesweiten Vorschriften für Tarifverhandlungen. Die Steuerbelastung ist gering und regressiv gestaffelt.

2.3.4

Die Debatte über das Bildungsmodell ist in der gegenwärtigen Situation Chiles von zentraler Bedeutung: zum einen, weil viele Familien aufgrund der Bildungskosten für ihre Kinder stark verschuldet sind; zum anderen aber auch, weil die Forderung, Bildung als ein Recht zu verstehen, das der Staat garantieren muss, um Möglichkeiten für alle zu eröffnen, in den Mittelpunkt der nationalen Debatte gerückt ist und die gesamte chilenische Gesellschaft mobilisiert hat. Ein grundlegendes Problem besteht darin, dass die Zuständigkeit für die Bildung auf der kommunalen Ebene liegt. Die Regierung hat Verhandlungen über die Erneuerung des Bildungssystems mit den Akteuren eingeleitet, die hinter den aktuellen Protesten stehen.

2.4   Chile im aktuellen internationalen Kontext

2.4.1

Seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1990 hat Chile aktiv auf der multilateralen Bühne mitgewirkt und sich konstruktiv in die Vereinten Nationen und ihre Agenturen eingebracht und an friedenserhaltenden Maßnahmen der UNO und der EU beteiligt. Chile ist regionaler Sitz bedeutender internationaler Organisationen: ILO, Consumers International, Vereinte Nationen, Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL).

2.4.2

Auf internationaler Ebene ist Chile ein aktives und konstruktives Mitglied des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen. Chile ratifizierte 2009 das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs und das Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen. Chilenen bekleiden weltweit verschiedene führende Ämter – so sind die Leiterin der UN-Frauenorganisation, der Generaldirektor der ILO und der Generalsekretär der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) Chilenen (3). Chile wurde im Januar 2010 als erstes südamerikanisches Land in die OECD aufgenommen.

2.4.3

Chile ist Mitglied der Asiatisch-Pazifischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit (APEC) und assoziiertes Mitglied des Mercosur und der Andengemeinschaft. Das Land hat derzeit den Vorsitz der Rio-Gruppe und der Gruppe der lateinamerikanischen und karibischen Staaten inne und übt gemeinsam mit Venezuela den Vorsitz der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC) aus.

2.4.4

Die chilenische Handelspolitik war traditionell auf die Unterzeichung einer möglichst großen Zahl von Freihandelsabkommen gerichtet. In der Energieversorgung ist Chile zur Deckung von drei Vierteln seines Energiebedarfs von Importen abhängig: Es hat keine Kernenergie und erwirbt Flüssiggas von Pazifik- und Nordseeanrainerstaaten. Die Ressourcen des Landes an fossilen Energieträgern sind begrenzt, und die chilenische Energiepolitik beruht auf Kohle, mit allen sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Umwelt. Strategisch gesehen muss die langfristige Perspektive der chilenischen Energiepolitik gestärkt und diversifiziert werden.

2.4.5

Verglichen mit den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern verfügt Chile heute über eine entwickelte Infrastruktur, einschließlich neuer Technologien.

3.   Die Beziehungen zwischen der EU und Chile

3.1   Grundlage für die im Großen und Ganzen hervorragenden Beziehungen zwischen der EU und Chile ist das 2002 abgeschlossene Assoziationsabkommen. Die Beziehungen umfassen zahlreiche Kontakte und Koordinierung in den Bereichen Politik, Handel und Zusammenarbeit. Der aktuelle sektorspezifische Dialog zwischen der EU und Chile erstreckt sich auf folgende Themen: Regionalpolitik, Katastrophenvorsorge, Zukunft der bilateralen Zusammenarbeit, Beschäftigungspolitik und Menschenrechte.

3.2   Die EU ist einer der wichtigsten Handelspartner Chiles und die größte Quelle ausländischer Direktinvestitionen. Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Chile, das im vergangenen Jahrzehnt zu einem erheblichen Anwachsen der bilateralen Handelsströme geführt hat, deckt den Handel mit Gütern und Dienstleistungen, Investitionen, das öffentliche Beschaffungswesen und den Wettbewerb ab. Die EU ist Hauptempfänger der chilenischen Exporte, wobei die Bilanz für Chile mit einem Überschuss von 45 Mrd. EUR positiv ist. Das Assoziationsabkommen hat jedoch nicht die Erwartungen erfüllt, die in puncto Beschäftigung, Zusammenarbeit und nachhaltige Entwicklung damit verbunden waren.

3.3   Der europäische Markt absorbiert ein bedeutendes Exportvolumen, u.a. aus den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung, Wein und Tabak, Holz- und Kupferindustrie. Europa ist ein wichtiger Lieferant für Zwischenerzeugnisse und Kapitalgüter für die chilenische Wirtschaft. Im Abkommen ist auf beiden Seiten eine weitere Liberalisierung des Handels mit Agrarerzeugnissen und Dienstleistungen vorgesehen.

3.4   Für die Zusammenarbeit mit Chile hat die EU für den Zeitraum 2007-2013 insgesamt 41 Mio. EUR vorgemerkt. In der im Juli 2010 abgeschlossenen Zwischenüberprüfung wurde bekräftigt, dass die wesentlichen Schwerpunktsektoren auch weiterhin relevant sind, insbesondere der soziale Zusammenhalt, Innovation sowie Wettbewerbsfähigkeit, Hochschulbildung und Umwelt. Die Entwicklungszusammenarbeit mit Chile sollte angesichts des guten wirtschaftlichen Niveaus des Landes jedoch auf andere Ziele ausgerichtet werden. Chile selbst fordert Bemühungen um eine Beziehung, die auf eine strategische Partnerschaft und stärker auf Themen von gemeinsamem Interesse ausgerichtet ist. Auch die EU prüft Möglichkeiten, um bei der Überarbeitung des Abkommens 2012 Elemente einzuführen, die sich stärker an gemeinsamen Werten orientieren.

3.5   Die Ergebnisse des Assoziationsabkommens werden von der chilenischen Zivilgesellschaft nicht besonders positiv bewertet. Gewerkschaften, KMU, NRO und Organisationen des Tertiärsektors, z.B. Verbraucherverbände, sehen in dem Assoziationsabkommen eher ein Freihandelsabkommen. Sie bedauern, von dem Abkommen nicht profitiert zu haben, nicht einmal im Bereich der Kooperationsprojekte, wo sie die Direktinterventionen der Regierung ohne vorherige Konsultation der vermeintlichen Nutznießer beanstanden. Die Organisationen fordern mehr Aufmerksamkeit für Projekte zur langfristigen Stärkung der Zivilgesellschaft, zum Kampf gegen die Ungleichheit, zur Förderung des sozialen Zusammenhalts und des Verbrauchs und zur Unterstützung der Bildung branchenspezifischer Vereinigungen (es gibt 12 000 Unternehmensgewerkschaften und 39 000 Unternehmer allein im Verkehrssektor). Es wäre ferner wünschenswert, die EU-Mittel neben NRO auch Organisationen des Tertiärsektors zuzuweisen, wie Verbraucherverbänden und Organisationen von Kleinunternehmen. Neben Artikel 10 des Assoziationsabkommens gibt es weitere Artikel, die die Zusammenarbeit betreffen, so z.B. Artikel 41 und Artikel 48, zu denen die zivilgesellschaftlichen Akteure einen konstruktiven inhaltlichen Beitrag leisten können.

3.6   Gemäß Artikel 11 hat die EU die chilenische Zivilgesellschaft zur Umsetzung des Abkommens konsultiert, z.B. durch das erste Sozialforum 2006 und das zweite Sozialforum im September 2011. Die chilenischen Akteure haben großes Interesse an einem intensiveren Informationsaustausch mit europäischen Partnern und an der Umsetzung von Artikel 10 des Assoziationsabkommens geäußert. Die Europäische Kommission und der EAD scheinen weitere Konsultationen entschlossen angehen und die Bedeutung der Zivilgesellschaft stärker berücksichtigen zu wollen.

4.   Die chilenische Zivilgesellschaft: aktuelle Lage und Perspektiven für die Zusammenarbeit

4.1   Der Befund, den die chilenische Zivilgesellschaft zu Dialog und Teilhabe stellt, ist nicht sehr rosig. Sie ist der Meinung, dass es in Chile an dem politischen Willen fehlt, ein beratendes Gremium der Zivilgesellschaft einzurichten – teils aus politisch-ideologischen Gründen, teils aus Angst, dass sich dieses Gremium zu einer dritten gesetzgebenden Kammer entwickeln könnte, die mit den bestehenden Kammern konkurriert. Obwohl es bei der Ausarbeitung neuer Rechtsvorschriften unterschiedliche Grade und Arten von Kontakten mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren zu geben scheint, scheinen diese recht unstrukturiert zu sein. Generell fehlt es an landesweiten Möglichkeiten der staatsbürgerlichen Teilhabe, um eine Kanalisierung des sozialen Konflikts zu ermöglichen und soziale Ausbrüche wie die derzeitigen zu verhindern. Auf regionaler und lokaler Ebene ist auf den Mangel an Repräsentativität der kommunalen und regionalen Amtsträger hinzuweisen, die direkt von der Zentralregierung ernannt werden.

4.2   Chile hat drei große Gewerkschaftsverbände. Der größte ist der Einheitsverband der Arbeitnehmer Chiles (Central Unitaria de Trabajadores, CUT), von dem sich die Central Autónoma de Trabajadores (CAT) und die Unión Nacional de Trabajadores (UNT) abspalteten. Interne Spannungen verhindern einen konzertierten Dialog der Gewerkschaftsverbände untereinander sowie zwischen ihnen und den Arbeitgebern. Alle sind sich jedoch darüber einig, dass das Thema sozialer Dialog in Chile stiefmütterlich behandelt wird, dass die Schaffung wirksamer Mechanismen für den sozialen Dialog und eines chilenischen WSR unterstützt werden muss und dass es notwendig ist, einen Mechanismus für den Dialog mit der europäischen Zivilgesellschaft innerhalb des Assoziationsabkommens einzurichten.

4.3   Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Chile beträgt 12-13 %, mit hohen Quoten im Minen-, Banken- und Handelsgewerbe und einer gewaltigen Zahl von Gewerkschaften (ca. 12 000), hauptsächlich auf Unternehmensebene. Der soziale Dialog in Chile ist zersplittert. Den Gewerkschaften fehlt es an Verhandlungsfähigkeit, insbesondere auf Branchenebene, und die Uneinigkeit der Gewerkschaftsverbände verhindert die notwendige Koordination im Vorfeld des Dialogs. Durch die beiden von der ILO ins Leben gerufenen Dialoge zwischen CUT und CPC ist nicht das Vertrauen entstanden, das für einen dauerhaften Prozess nötig wäre.

4.4   Der wichtigste chilenische Arbeitgeberdachverband ist die Confederación de la Producción y el Comercio (CPC), die alle großen Wirtschaftszweige Chiles umspannt. Die CPC arbeitet mit den Gewerkschaften in punktuellen Dialogen zusammen und kooperiert mit der ILO in einem dreiseitigen Gremium zum Thema menschenwürdige Arbeit. Die mögliche Schaffung eines WSR oder ein strukturierter Dialog über die Arbeitsbeziehungen wurden hingegen nie mit den Gewerkschaften erörtert. Die kleinen und mittleren chilenischen Unternehmen werden durch die Organisation CONUPIA vertreten.

4.5   Die chilenische Kleinindustrie ist unterentwickelt und nur gering organisiert, wenig wettbewerbsfähig und anfällig, zahlt Niedriglöhne und hat keinen Anteil am Export. Dennoch macht sie 80 % der Beschäftigung im formellen und informellen Sektor aus. Demgegenüber gibt es in Chile eine große Konzentration einer Handvoll gewichtiger und zivilgesellschaftlich relevanter, aber wenig regulierter Wirtschaftsakteure, wie die Banken.

4.6   Die größten Verbraucherorganisationen sind CONADECUS und ODECU; ihr gesellschaftlicher Einfluss und ihre Bedeutung sind jedoch sehr begrenzt. Beide Organisationen fordern eine stärkere Beteiligung an den Kooperationsprojekten der EU im Rahmen des Assoziationsabkommens.

5.   Schlussfolgerungen

5.1   Nach Ansicht des EWSA verursacht das Assoziationsabkommen zwar keine größeren Umsetzungsschwierigkeiten, sollte jedoch u.a. durch die Aufnahme eines Kapitels zur nachhaltigen Entwicklung in das Handelskapitel aktualisiert werden, wie es in neueren Handelsabkommen zu finden ist. Die Teilhabe der Zivilgesellschaft ist wesentlicher Bestandteil der Fortführung von Beziehungen, die auf der Achtung der Rechte in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Arbeit, Umwelt und Verbraucherschutz beruhen. Das Kapitel über Zusammenarbeit sollte die Stärkung und Teilhabe der Akteure von Wirtschaft und Gesellschaft erleichtern, und seine Ziele sollten von einer klassischen Entwicklungszusammenarbeit auf andere wichtige Themen von gegenseitigem Interesse, wie Bildung, Innovation oder Ausbau der Produktionsstruktur, ausgerichtet werden. Der EWSA hält es für erforderlich, die chilenischen Organisationen der Zivilgesellschaft in die Verfahren zur Bewertung des Assoziationsabkommens einzubeziehen.

5.2   Der EWSA ist bereit, in den sektorspezifischen Dialogen mit Chile mit der EU zusammenzuarbeiten, und zwar in Fragen wie Bildung, soziale Verantwortung der Unternehmen, nachhaltige Entwicklung, sozialer Dialog, Beschäftigung, Verbraucherschutz und -information und sozialer Zusammenhalt.

5.3   Der EWSA begrüßt, dass die chilenischen Behörden sowohl auf Regierungs- als auch auf Parlamentsebene ihren Verstoß gegen Artikel 10 des Abkommens anerkannt und dass sie öffentlich erklärt haben, dem Abhilfe schaffen zu wollen. Gleichzeitig hat er die jüngsten Projekte der chilenischen Regierung zur Kenntnis genommen, systematisch Mechanismen zur Information und Konsultation der Zivilgesellschaft in allen Regierungsbereichen einzurichten. Der EWSA begrüßt diese Absichtsbekundung, äußert jedoch – mit der gebotenen Vorsicht – gewisse Vorbehalte gegenüber Vorschlägen, die eher auf eine Vervielfachung von auf bestimmte Themen oder Sektoren ausgerichteten, vereinzelten Ad-hoc-Mechanismen hinzudeuten scheinen als auf die Schaffung eines umfassenden und einheitlichen Beratungsgremiums, das in jedem Fall die Teilgremien ergänzt.

5.4   Nach Ansicht des EWSA benötigt die chilenische Zivilgesellschaft enorme politische Unterstützung und interne Anstrengungen zur Stärkung und Befähigung der einschlägigen Organisationen und um zu gewährleisten, dass sie sowohl im Rahmen der allgemeinen institutionellen Konsultation (ziviler Dialog) als auch der Arbeitsbeziehungen (sozialer Dialog) als konstruktive Gesprächspartner anerkannt werden.

5.5   Der EWSA befürwortet die Schaffung eines chilenischen institutionellen Gremiums für die Teilhabe der Zivilgesellschaft, das die Vielfalt der chilenischen Zivilgesellschaft widerspiegelt. Wie der EWSA sollte dieses Gremium auf den Grundsätzen der Repräsentativität, der Unabhängigkeit und der Legitimität der in ihr vertretenen Organisationen aufbauen. Die Schaffung einer Institution mit diesen Merkmalen setzt seiner Erfahrung nach das Bemühen um einen Konsens zwischen den verschiedenen Teilen der Zivilgesellschaft voraus. Der EWSA ist bereit und in der Lage, dazu mit den Erkenntnissen beizutragen, die er in vergleichbaren Tätigkeiten mit anderen Ländern gewonnen hat. Ein positives Beispiel aus Lateinamerika ist hierfür die Zusammenarbeit mit beratenden Gremien der Zivilgesellschaft wie dem brasilianischen CDES, dem zentralamerikanischen CC-SICA oder dem FCES des Mercosur.

5.6   Nach Ansicht des EWSA sind die sozialen Ungleichheiten und aktuellen Protestbewegungen in Chile ein weiterer Grund dafür, umfassende Kanäle für den Dialog und die beratende Teilhabe der Zivilgesellschaft an den politischen Entscheidungen und Maßnahmen einzurichten.

5.7   Ein chilenisches beratendes Gremium würde auch die Entwicklung der Beziehungen zwischen europäischen und chilenischen zivilgesellschaftlichen Organisationen erleichtern und einen positiven Schritt in Richtung gestärkter Beziehungen zwischen der EU und Chile durch die möglichst rasche Einrichtung des in Artikel 10 des Assoziationsabkommens vorgesehenen GBA darstellen.

5.8   Der GBA EU-Chile sollte zur Entwicklung, Überwachung und Anwendung des Assoziationsabkommens beitragen. Er würde Stellungnahmen auf Befassung durch den Assoziationsausschuss oder den Assoziationsrat zu allen von dem Abkommen abgedeckten Themen abgeben. Ferner könnte er von sich aus Stellungnahmen oder Empfehlungen zu Themen erarbeiten, die einen Bezug zu dem Abkommen aufweisen. Der GBA würde zu diesem Zweck weiterhin jährliche Treffen mit dem Gemischten Ausschuss EU-Chile abhalten.

5.9   Der EWSA dankt dem Gemischten Parlamentarischen Ausschuss EU-Chile für sein Interesse und seine Hilfe bei der Umsetzung von Artikel 10 des Assoziationsabkommens. Der Gemischte Parlamentarische Ausschuss und der künftige GBA sollten gute und regelmäßige Beziehungen unterhalten, um Meinungen über die Weiterverfolgung des Abkommens austauschen zu können.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Ungefähr 4,6 % der Bevölkerung, zum Großteil Mapuche.

(2)  Zahlen der OECD und der Nationalen Umfrage zur soziökonomischen Charakterisierung 2009 – www.ministeriodesarrollosocial.gob.cl.

(3)  Michelle Bachelet, Juan Somavía bzw. José Miguel Insulza.


22.5.2012   

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Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/146


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Geänderten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 in Bezug auf die Information der breiten Öffentlichkeit über verschreibungspflichtige Humanarzneimittel und hinsichtlich der Pharmakovigilanz“

COM(2011) 632 final — 2008/0255 (COD)

2012/C 143/30

Der Rat beschloss am 28. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 und Artikel 168 Absatz 4 Buchstabe c AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 in Bezug auf die Information der breiten Öffentlichkeit über verschreibungspflichtige Humanarzneimittel und hinsichtlich der Pharmakovigilanz"

COM(2011) 632 final – 2008/0255 (COD).

Da der Ausschuss sich bereits in seiner Stellungnahme CESE 1025/2009 vom 10. Juni 2009 (1) zu dem Vorschlag geäußert hat, beschloss er auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 119 Stimmen bei 6 Enthaltungen, von der Ausarbeitung einer neuen Stellungnahme abzusehen und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in der oben genannten Stellungnahme vertreten hat.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 33.


22.5.2012   

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Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/147


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG in Bezug auf die Information der breiten Öffentlichkeit über verschreibungspflichtige Arzneimittel und hinsichtlich der Pharmakovigilanz“

COM(2011) 633 final — 2008/0256 (COD)

2012/C 143/31

Der Rat beschloss am 28. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 und Artikel 168 Absatz 4 Buchstabe c AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG in Bezug auf die Information der breiten Öffentlichkeit über verschreibungspflichtige Arzneimittel und hinsichtlich der Pharmakovigilanz"

COM(2011) 633 final – 2008/0256 (COD).

Da der Ausschuss sich bereits in seiner Stellungnahme CESE 1022/2009 vom 10. Juni 2009 (1) zu dem Vorschlag geäußert hat, beschloss er auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 135 Stimmen bei 7 Enthaltungen, von der Ausarbeitung einer neuen Stellungnahme abzusehen und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in der oben genannten Stellungnahme vertreten hat.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 306 vom 16.12.2009, S.18.


22.5.2012   

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C 143/148


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2004/40/EG über Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen (elektromagnetische Felder) (18. Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG)“

COM(2012) 15 final — 2012/0003 (COD)

2012/C 143/32

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 1. Februar bzw. am 2. Februar 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 153 Absatz 2 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2004/40/EG über Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen (elektromagnetische Felder) (18. Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG)"

COM(2012) 15 final – 2012/0003 (COD).

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 138 gegen 4 Stimmen bei 9 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


22.5.2012   

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C 143/149


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1217/2009 des Rates zur Bildung eines Informationsnetzes landwirtschaftlicher Buchführungen über die Einkommenslage und die betriebswirtschaftlichen Verhältnisse landwirtschaftlicher Betriebe in der Europäischen Gemeinschaft“

COM(2011) 855 final — 2011/0416 (COD)

2012/C 143/33

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 13. Dezember 2011 bzw. am 2. Februar 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1217/2009 des Rates zur Bildung eines Informationsnetzes landwirtschaftlicher Buchführungen über die Einkommenslage und die betriebswirtschaftlichen Verhältnisse landwirtschaftlicher Betriebe in der Europäischen Gemeinschaft"

COM(2011) 855 final – 2011/0416 (COD).

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 130 Ja-Stimmen bei 9 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON