ISSN 1725-2407

doi:10.3000/17252407.C_2011.248.deu

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 248

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

54. Jahrgang
25. August 2011


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

472. Plenartagung am 15. und 16. Juni 2011

2011/C 248/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Rolle und Prioritäten der Kohäsionspolitik im Rahmen der Europa-2020-Strategie (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des ungarischen Ratsvorsitzes)

1

2011/C 248/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Intelligente Strategien der haushaltspolitischen Konsolidierung — Wo sind die Wachstumsmotoren für Europa? Wie kann das Arbeitskräftepotenzial unserer Volkswirtschaften angesichts der unabdingbaren Haushaltskonsolidierung bestmöglich genutzt werden? (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des ungarischen Ratsvorsitzes)

8

2011/C 248/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung und Integration der Roma in Europa (Sondierungsstellungnahme)

16

2011/C 248/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Auswirkungen der EU-Politik auf Beschäftigungschancen, Ausbildungsbedarf und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Verkehrsgewerbe (Sondierungsstellungnahme)

22

2011/C 248/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Nachhaltige Entwicklung der EU-Verkehrspolitik und TEN-V-Planung (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des künftigen polnischen Ratsvorsitzes)

31

2011/C 248/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Beitrag der Zivilgesellschaft zur Östlichen Partnerschaft (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des künftigen polnischen Ratsvorsitzes)

37

2011/C 248/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Integration der Wasserpolitik in andere relevante Politikfelder der EU (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des ungarischen Ratsvorsitzes)

43

2011/C 248/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Rolle der EU und ihre Beziehungen zu Zentralasien sowie der Beitrag der Zivilgesellschaft (Initiativstellungnahme)

49

2011/C 248/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Auf dem Weg zu einem Assoziierungsabkommen EU-Mercosur: der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft (Initiativstellungnahme)

55

2011/C 248/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Der interkulturelle Dialog und die Roma: die Schlüsselrolle der Frauen sowie von Erziehung und Bildung (Ergänzende Stellungnahme)

60

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

472. Plenartagung am 15. und 16. Juni 2011

2011/C 248/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Besteuerung des FinanzsektorsKOM(2010) 549 endg.

64

2011/C 248/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Schlussfolgerungen aus dem Fünften Bericht über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt: Die Zukunft der KohäsionspolitikKOM(2010) 642 endg.

68

2011/C 248/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die nationalen Parlamente: Überprüfung des EU-HaushaltsKOM(2010) 700 endg.

75

2011/C 248/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Strategie der Europäischen Union für den DonauraumKOM(2010) 715 endg.

81

2011/C 248/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Intelligente Regulierung in der Europäischen UnionKOM(2010) 543 endg.

87

2011/C 248/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Grünbuch — Weiteres Vorgehen im Bereich der Abschlussprüfung: Lehren aus der KriseKOM(2010) 561 endg.

92

2011/C 248/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Zentralbank — Ein EU-Rahmen für Krisenmanagement im FinanzsektorKOM(2010) 579 endg.

101

2011/C 248/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der Sanktionsregelungen im FinanzdienstleistungssektorKOM(2010) 716 endg.

108

2011/C 248/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Grünbuch — Weniger Verwaltungsaufwand für EU-Bürger: Den freien Verkehr öffentlicher Urkunden und die Anerkennung der Rechtswirkungen von Personenstandsurkunden erleichternKOM(2010) 747 endg.

113

2011/C 248/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 89/666/EWG, 2005/56/EG und 2009/101/EG in Bezug auf die Verknüpfung von Zentral-, Handels- und GesellschaftsregisternKOM(2011) 79 endg. — 2011/0038 COD

118

2011/C 248/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Gesamtkonzept für den Datenschutz in der Europäischen UnionKOM(2010) 609 endg.

123

2011/C 248/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Europäische Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung: Ein europäischer Rahmen für den sozialen und territorialen ZusammenhaltKOM(2010) 758 endg.

130

2011/C 248/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Mitteilung zur MigrationKOM(2011) 248 endg.

135

2011/C 248/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen StoffenKOM(2010) 781 endg. — 2010/0377 COD

138

2011/C 248/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung für das europäische KinoKOM(2010) 487 endg.

144

2011/C 248/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zur Reform der EU-Beihilfevorschriften über Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem InteresseKOM(2011) 146 endg.

149

2011/C 248/27

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Reifen von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern und über ihre Montage (Kodifizierter Text)KOM(2011) 120 endg. — 2011/0053 COD

153

2011/C 248/28

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (Kodifizierter Text)KOM(2011) 189 endg. — 2011/0080 COD

154

 

Berichtigungen

2011/C 248/29

Berichtigung der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Hin zu einer ökologisch effizienten Wirtschaft — die Wirtschaftskrise als Chance für den Beginn einer neuen Ära im Energiebereich begreifen (Initiativstellungnahme) (ABl. C 128 vom 18.5.2010)

155

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

472. Plenartagung am 15. und 16. Juni 2011

25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Rolle und Prioritäten der Kohäsionspolitik im Rahmen der Europa-2020-Strategie“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des ungarischen Ratsvorsitzes)

2011/C 248/01

Berichterstatter: Etele BARÁTH

Am 15. November 2010 ersuchte der Ständige Vertreter der Republik Ungarn bei der Europäischen Union, Peter GYÖRKÖS, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss im Namen des ungarischen Ratsvorsitzes um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum Thema:

Rolle und Prioritäten der Kohäsionspolitik im Rahmen der Europa-2020-Strategie“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 31. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 16. Juni) mit 141 gegen 9 Stimmen bei 22 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen und Bemerkungen

1.1   Empfehlungen

1.1.1   Nach Ansicht des EWSA wird durch die Reaktion der Europäischen Union auf die Krise, die Philosophie der Europa-2020-Strategie, ihre Ziele und ihre Leitinitiativen der geeignete Weg vorgegeben. Außerdem hält er die ergriffenen Maßnahmen und die vorgeschlagenen Instrumente für vielversprechend. Ebenso wie beim Euro-Plus-Pakt stehen die unerlässlichen qualitativen Veränderungen und die Elemente des potenziellen Wachstums im Mittelpunkt der Strategie.

1.1.2   Die EU vertieft und verstärkt auch weiterhin den Integrationsprozess. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten bis 2020 entscheidende Veränderungen an ihren Institutionen sowie Rechts- und Finanzsystemen werden vornehmen müssen, insbesondere in Bezug auf die Qualität, wenn sie die Integration stärken wollen. Dazu sind gleichzeitig eine dauerhafte (nachhaltige) Stabilität, die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit (Wachstumspotenzial) und die Konsolidierung des Aufholprozesses (wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt) notwendig.

1.1.3   In mehreren Stellungnahmen hat der EWSA hervorgehoben, dass die Kohäsionspolitik für die Union ein „historischer Wert“ ist, und ihre drei Ziele, d.h. Konvergenz, erhöhte regionale Wettbewerbsfähigkeit durch die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie intensivere territoriale Zusammenarbeit, gewahrt und gestärkt werden müssen. Die weniger entwickelten europäischen Länder und Regionen müssen stärker in die Infrastruktur und anderes Kapital investieren, was von wesentlicher Bedeutung für die Beschleunigung des potenziellen Wachstums ist.

1.1.4   Der EWSA vertritt zwar die Auffassung, dass die zur Unterstützung der Kohäsionspolitik vorgesehenen Finanzmittel weitgehend positive Ergebnisse gezeitigt haben, ist jedoch der Ansicht, dass diese Mittel umstrukturiert und weiterentwickelt werden können und müssen und insbesondere bei der Finanzierung und der Tätigung von Ausgaben die Wirksamkeit und Effizienz verbessert werden könnten. Die Instrumente der Kohäsionspolitik müssen so mit der Europa-2020-Strategie harmonisiert werden, dass sie der europäischen Aufholpolitik nicht schaden.

1.1.5   Der EWSA empfiehlt, im Rahmen der Überprüfung der derzeitigen Ziele und Instrumente der Kohäsionspolitik die Möglichkeit zu prüfen, diese umzugestalten, um sie folgendermaßen mit den Elementen der Europa-2020-Strategie abzustimmen:

1.1.5.1   Derzeitige Ziele und Instrumente der Kohäsionspolitik

Kohäsionspolitik

Ziele

Strukturfonds und Instrumente

 

 

Konvergenz/ nachhaltiges Wachstum

EFRE

ESF

Kohäsionsfonds

 

 

 

 

Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung

EFRE

ESF

 

 

 

 

 

Europäische territoriale Zusammenarbeit

EFRE

 

 

1.1.5.2   EU-2020: drei miteinander verknüpfte Prioritäten

a)

Intelligentes Wachstum: Entwicklung einer auf Wissen und Innovation gestützten Wirtschaft;

b)

nachhaltiges Wachstum: Förderung einer effizienteren, ökologischeren und wettbewerbsfähigeren Wirtschaft;

c)

integratives Wachstum: Förderung einer Wirtschaft mit hoher Beschäftigung und sozialem und territorialem Zusammenhalt.

1.1.5.3   Der EWSA schlägt vor, den Schwerpunkt der Kohäsionspolitik eindeutig auf die gesellschaftspolitischen, sozialen und solidaritätsorientierten Ziele sowie auf die Nutzung der Strukturfonds für Investitionen in enger Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Fonds zu legen. Anderenfalls könnte der soziale und territoriale Zusammenhalt durch die Ausrichtung der Europa-2020-Strategie auf ein starkes Wirtschaftswachstum, was an sich völlig in Ordnung ist, in den Hintergrund gedrängt werden.

1.1.5.4   Wenn die Reihenfolge der Wettbewerbs- und der Wachstumsziele für die Strukturfonds geändert und das „Multifonds“-Konzept als entscheidender Faktor zugelassen würde, dann würden die Ziele der Europa-2020-Strategie und des Zusammenhalts miteinander vereinbar und die Strukturfonds der EU könnten besser zur Erhöhung der regionalen Wettbewerbsfähigkeit beitragen.

EU- 2020-Strategie

Kohäsionspolitik

(reformierte Struktur)

Ziele/ Instrumente

Leitinitiativen

Ziele/Instrumente

Strukturfonds und Instrumente

 

 

 

 

Intelligentes Wachstum

„Eine Digitale Agenda für Europa“, „Innovationsunion“, „Jugend in Bewegung“

Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung

 

 

 

Forschung/Innovation, Bildung, Digitale Gesellschaft

Größere Wettbewerbsfähigkeit/attraktiverer Standort, Entwicklung der Humanressourcen/Bildung usw., Innovation/Wissensgesellschaft

Nachhaltiges Wachstum

„Ressourcenschonendes Europa“, „Industriepolitik im Zeitalter der Globalisierung“

Konvergenz

 

 

 

Umweltfreundliche Energieträger/umweltbewusste Gesellschaft, Netzentwicklung/Kleinbetriebe

Entwicklung der Umwelt und der Infrastruktur als Wachstumsgrundlage, Auf- und Ausbau von institutionellen Kapazitäten

Integratives Wachstum

„Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten“, „Europäische Plattform zur Bekämpfung der Armut“

Europäische territoriale Zusammenarbeit

 

 

 

Gleichberechtiger Zugang/ mehr und hochwertigere Arbeitsplätze

Lokale, regionale und makroregionale Zusammenarbeit

1.1.6   Der EWSA räumt ein, dass die oben dargelegte strukturelle Angleichung tiefgreifende Änderungen mit dem Schwerpunkt auf der Definition detaillierter Ziele erfordern würde: Unter anderem müssen ergänzende Wettbewerbsziele festgelegt werden und die territoriale Zusammenarbeit muss auf die Förderung der Entwicklung der Makroregionen ausgedehnt werden. Wenn sich keine direkten Verbindungen zwischen der Europa-2020-Strategie und der Kohäsionspolitik der EU herstellen lassen, könnten ihre Ziele und Mittel sowie die Wirksamkeit ihrer Umsetzung deutlich leiden.

1.1.7   Eine solcher strukturelle Angleichung ließe sich dadurch erreichen, dass die EU die Kohäsion und die Kohäsionspolitik im weiteren Sinne als eine mit der Wettbewerbsfähigkeit gleichrangige Priorität anerkennt, was sich in den für diese beiden Prioritäten vorgesehenen Mitteln widerspiegeln müsste. Zugleich geht es jedoch nicht nur darum, auch künftig weiter Geld für die Kohäsion auszugeben, sondern darum, es wirksamer einzusetzen.

1.1.7.1   Der EWSA fordert nachdrücklich eine Verbesserung der Vorschläge für das System der Ex-ante- und Ex-Post-Konditionalität, das zur Kontrolle der Effizienz und Wirksamkeit der Kohäsionspolitik der Union eingeführt werden soll. Durch dieses System darf jedoch nicht die Vereinfachung der kohäsionspolitischen Instrumente in ihrer Gesamtheit untergraben werden; im Gegenteil, dadurch sollten die Umsetzungskosten gesenkt und die Vorhersagbarkeit verbessert werden. Der EWSA hofft, dass die institutionellen und administrativen Veränderungen ein einfacheres und effizienteres System mit sich bringen werden. Es gilt, ein Modell zu entwickeln, mit dem die bei der Verwirklichung der Ziele der Europa-2020-Strategie, der nationalen Reformprogramme und der Kohäsionspolitik bestehenden Wechselwirkungen vor dem Hintergrund der spezifischen Gegebenheiten der verschiedenen Länder und Regionen, die aus der Kohäsionspolitik Nutzen ziehen, bewertet werden können.

1.1.8   Auch der EWSA ist der Ansicht, dass alle Politikbereiche der Union zum Erfolg der Europa-2020-Strategie beitragen sollten. In der EU-Haushaltsüberprüfung wurde ein neuer strategischer Programmplanungsansatz für die Kohäsionspolitik entworfen. Der EWSA befürwortet uneingeschränkt die Entwicklung eines gemeinsamen strategischen Rahmens durch die Europäische Kommission, in dem die Ziele und Vorsätze von Europa 2020 in Investitionsprioritäten umgesetzt werden. Der Rahmen würde sich auf sämtliche EU-Fonds erstrecken und darüber hinaus alle anderen Finanzinstrumente der EU umfassen.

1.1.9   Der EWSA bekräftigt, dass mit dem Europäischen Sozialfonds – als EU-Instrument für Investitionen in die Humanressourcen – die drei Prioritäten der Europa-2020-Strategie unterstützt werden sollten, d.h. intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum. Die Politik in den Bereichen Beschäftigung, allgemeine und berufliche Bildung, aktive Integration und Chancengleichheit ist hierbei ein Schlüsselelement.

1.1.10   Der EWSA ist der Ansicht, dass zur Erreichung der erweiterten Ziele eine Stärkung der institutionellen Struktur des ESF und eine Erhöhung seiner Effizienz erforderlich sind, ohne zusätzlichen bürokratischen Aufwand zu verursachen. Es ist wichtig, dass der ESF eine führende Rolle bei der Verbesserung der Situation besonders benachteiligter sozialer Gruppen (z.B. Einwanderer, Minderheitsgruppen, Menschen mit Behinderungen oder Roma) und bei der Sicherstellung integrationsfreundlicher Bedingungen spielt.

1.1.11   Der EWSA weist darauf hin, dass sich die Koordinierung politischer Maßnahmen, die über verschiedene Fonds der europäischen Kohäsionspolitik sowie Instrumente der Europa-2020-Strategie finanziert werden, sich auf ihre ursprünglichen Ziele auswirken und ihre territoriale Integrität beeinflussen kann, was zu einer Veränderung der Ziele führen kann; bei ihrer Umsetzung können grundlegend neue Gesichtspunkte auftreten. Es ist erforderlich, iterative Planungs-, Ausrichtungs- und Kontrollmechanismen vorzusehen. Der Kerngedanke des iterativen Prozesses liegt darin, dass bei dem „Partnerschaftsabkommen“ nicht nur die vorbereitenden Schritte der Entwicklung, sondern auch der vollständige Umsetzungsprozess, die Durchführungsbedingungen und die Effizienzmessung definiert werden müssen; die Parteien müssen jedoch auch für die Tatsache offen sein, dass die Gesamtziele der Verwaltungsausschüsse auf der Grundlage der kontinuierlichen Überwachung der Begünstigten geändert werden könnten.

1.1.12   Der Ausschuss betont, dass die Verwaltung der einzelnen Fonds, vor allem des Kohäsionsfonds, der Strukturfonds und des Innovationsfonds, im Hinblick auf die Verwirklichung der Ziele der Europa-2020-Strategie stärker koordiniert werden muss.

1.1.13   Der EWSA stimmt zu, dass zur Vermeidung von Konflikten auf lange Sicht viele Gründe dafür sprechen, sämtliche Elemente der Strukturpolitik der EU (einschließlich beispielsweise Europa 2020, Kohäsionspolitik, GAP oder EIB) zu einem voll und ganz kohärenten Paket allgemeiner politischer Maßnahmen der EU zusammenzufassen, das als EU 2050 bezeichnet werden könnte. Dies würde eine verstärkte politische und fachliche Zusammenarbeit und Koordinierung ermöglichen, ohne das Ende individueller Politikbereiche zu bedeuten. Allerdings lässt sich dies natürlich nur schwer verwirklichen, solange die Zuständigkeit für die verschiedenen Teile der betroffenen Politikbereiche zwischen der EU und den Mitgliedstaaten aufgeteilt ist. Die Stärkung der regionalen Dimension könnte ein geeignetes Mittel zur allmählichen Erreichung des angestrebten Ziels sein.

1.1.14   Für die Entwicklung eines polyzentrischen Europas mit untereinander verbundenen intelligenten Standorten ist Teamarbeit erforderlich, was nur möglich sein wird, wenn die verschiedenen Interessenträger zusammenarbeiten. Die Zusammenarbeit in transnationalen Bereichen sowie makroregionale Entwicklungsstrategien, die Interessenträger aus unterschiedlichen Ländern und Branchen zusammenbringen, sind ein gangbarer Weg.

1.2   Regionen und Zusammenhalt

1.2.1   Nach Meinung des EWSA hängt die Wettbewerbsfähigkeit der EU weitgehend von der Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der Regionen ab.

1.2.2   Der EWSA hält die aufkommende makroregionale Zusammenarbeit in mehr als einer Hinsicht für wesentlich. Wie er bereits in mehreren Stellungnahmen betont hat (zum Ostsee- und Donauraum) können im Rahmen der Strukturfonds gewährte Fördermittel die Konzipierung von Strategien im Rahmen materieller und immaterieller transeuropäischer Netze ermöglichen, die die Europäische Union benötigt, um ihre Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität zu stärken.

1.2.3   Nach dem Dafürhalten des EWSA hängt die Zukunft der Europäischen Union und die Stärkung ihrer politischen Einheit auch von der Frage ab, ob der auf Statistiken beruhende regionale Ansatz, der an den nationalen Grenzen haltmacht, überwunden werden kann. Es ist offensichtlich, dass die Fortschritte der letzten Jahre hin zu Regionalität, komplexen Programmen und horizontalen Verbindungen sowie zur Stärkung der lokalen Produktionssysteme (Cluster) der Weg sind, auf dem sich die soziale und die territoriale Dimension der europäischen Wirtschaft entfalten können.

1.2.4   Es hat nach Meinung des EWSA keinen Sinn, im Rahmen unterschiedlicher politischer Maßnahmen parallele oder sogar zuweilen völlig identische Ziele zu verfolgen oder ein weiteres Instrumentarium als die recht gut eingeführten Kohäsionsinstrumente zu entwickeln.

1.2.4.1   Das kommende Jahrzehnt wird in immer größerem Maße das der funktionalen Region sein. Die Regionen können ein oder mehrere Zentren besitzen, über grenzübergreifende horizontale regionale oder vertikale wirtschaftliche Kontakte verfügen und vom rechtlichen, finanziellen und institutionellen Potenzial einer „verstärkten Zusammenarbeit“ profitieren. So kann eine neue Bedeutung des Begriffs „Regionalität“ dem intelligenten Europa eine neue Dimension verleihen. Dennoch ist ein Aufholprogramm erforderlich, da es rückständige Regionen gibt und auch in Zukunft geben wird.

1.2.5   Nach Ansicht des EWSA sollten folgende Bereiche angegangen werden: Umwandlung der EU in einen erfolgreichen globalen Wirtschaftsakteur, Stärkung des Wachstumspotenzials, Verringerung der regionalen Unterschiede, Unterstützung von Kleinstbetrieben sowie kleinen und mittleren Unternehmen, die an der Peripherie tätig sind, Freisetzung neuer Ressourcen, Sensibilisierung für die Umwelt und einen gesunden Lebensstil, Verbesserung der Qualität des Bildungswesens, Motivierung der jungen Generationen, Förderung der Innovation, Erhöhung der Bereitschaft, sich einzubringen, sowie Vertiefung der europäischen Identität.

1.3   Städte und Ballungsräume

1.3.1   Der EWSA betont, dass die Wettbewerbsfähigkeit der EU in hohem Maße von ihren Megastädten und Ballungsräumen abhängt, in denen die Unternehmen die städtische Wirtschaft und die Netze zwischen den Weltmärkten nutzen können. Die städtischen Gebiete können generell als Wachstumsmotor sowie als Drehscheiben für Kreativität und Innovation fungieren. Höhere Wachstumsraten und neue Arbeitsplätze sind möglich, vorausgesetzt es ist eine kritische Masse von Akteuren, wie Unternehmen, Hochschulen und Forschern gegeben. Städtische Probleme, ob sie nun mit Umweltzerstörung oder sozialer Ausgrenzung zusammenhängen, erfordern eine spezifische Lösung und die direkte Einbeziehung der betroffenen Regierungsebene.

1.3.2   Nach Auffassung des EWSA sollte eine ehrgeizige Städteagenda entwickelt werden, in der die zur Bewältigung der städtischen Probleme verfügbaren Finanzmittel klarer definiert sind und den lokalen Behörden eine größere Rolle bei der Konzipierung und Umsetzung der Strategien für die städtische Entwicklung eingeräumt wird.

1.3.3   Je nach ihrer geografischen Lage werden die städtischen Systeme durch verschiedene Einzugsgebiete ergänzt. Der EWSA hält die Beibehaltung des „traditionellen“ Antagonismus zwischen Stadt und Land für nicht akzeptabel. Die Vorteile, die Partnerschaften zwischen städtischen und ländlichen Gebieten bringen können, hängen in hohem Maße von mit dem örtlichen Kontext zusammenhängenden und letztlich einzigartigen Faktoren ab.

1.4   Ländliche Gebiete und Landwirtschaft

1.4.1   Nach Ansicht des EWSA spielen die Kohäsionspolitik auf der einen und die Gemeinsame Agrarpolitik auf der anderen Seite eine entscheidende Rolle für die Europa-2020-Strategie, vor allem wenn es um die integrierte territoriale Entwicklung geht. Denn die Landwirtschaft ist als wichtige Quelle wirtschaftlicher Dynamik nach wie vor ein strategischer Sektor für die EU und zwar sowohl was die Ernährungssicherheit als auch was das Wachstums- und Beschäftigungspotenzial der ländlichen Gebiete oder ihren Beitrag zur Eindämmung des Klimawandels angeht.

1.4.2   Insofern sind die Synergien dieser beiden Politikbereiche auf gemeinsame und integrierte Ziele auszurichten, um aus der Europäischen Union eine intelligente, nachhaltige und integrative Wirtschaft mit hohem Beschäftigungsniveau, hoher Produktivität und starkem sozialen Zusammenhalt zu machen.

1.4.2.1   Nach Auffassung des EWSA kommt intelligenten und global vernetzten Orten in ländlichen Gebieten bei der konkreten Realisierung des im Rahmen der Europa-2020-Strategie anvisierten Aufschwungs eine Rolle zu. Genauso wie in städtischen Gebieten sind die Netze dort eine entscheidende Organisationsform für Unternehmen und regionale Entwicklung.

2.   Schlussfolgerungen

2.1   Der EWSA stimmt zu, dass die politischen Verweise der Europa-2020-Strategie auf die Innovationserfordernisse aufgrund des Klimawandels, der Energieeffizienz, der erneuerbaren Energieträger, des Gesundheitswesens und des demographischen Wandels strukturellen Verbindungen mit den Zielen aufweisen, die in den Bereichen Bildung, Forschung und Entwicklung sowie digitale Gesellschaft festgelegt wurden. Diese bilden auch auf regionaler Ebene eine Brücke zwischen den Zielen der Kohäsionspolitik und der Europa-2020-Strategie.

2.1.1   Im Übrigen sieht der EWSA einen Widerspruch zwischen den verschiedenen theoretischen Konzepten und den in der Praxis verwendeten Begriffen. Mit dem Vertrag von Lissabon, der die Territorialität des Kohäsionsprozesses legitimierte, hat die Regionalität eine andere Dimension erhalten. Es ist nicht einerlei, wie die „Region“ künftig in der Regionalpolitik definiert wird. Es ist eine Definition erforderlich, bei der sowohl aus regionaler und institutioneller Sicht aus als auch unter dem Gesichtspunkt der entsprechenden rechtlichen und finanziellen Instrumente eine Schnittmenge gefunden wird, um ein dynamisches, nachhaltiges Wachstum in Europa sicherzustellen.

2.1.1.1   Der EWSA erkennt an, dass das Aufkommen makroregionaler Strategien ein positiver Prozess ist, der eng mit dem durch den Vertrag von Lissabon eingeführten Konzept des territorialen Zusammenhalts zusammenhängt. Es muss darauf hingearbeitet werden, dass die Regionalpolitik im eigentlichen Sinn die Zusammenarbeit zwischen den größeren oder weiter voneinander entfernten europäischen Regionen, die jedoch gemeinsame Zusammenarbeitsinteressen haben, wirkungsvoll ergänzt.

2.2   Die Schnittpunkte zwischen u.a. räumlich (d.h. regional, territorial und städteübergreifend) definierten Programmpaketen machen Zonen mit entwicklungsfördernden Aktivitäten deutlich, die über einen oder mehrere großstädtische Kerne verfügen, ohne jedoch andere auszuschließen oder an den Rand zu drängen. Europäische „Kompetenzzentren“, die auf der Grundlage von für die einzelnen Wirtschaftszweige charakteristischen Innovationsfähigkeiten definiert werden, sind keine zufällige Ansammlung einzelner Fähigkeiten und Kompetenzen in einem bestimmten Ballungsraum, sondern durch räumlich klar definierbare Verbindungen zusammengetragenes Wissen.

2.2.1   „Kompetenz“ ist nur dank quantitativer Entwicklungen möglich, die im System der kohäsionspolitischen Ziele in Bezug auf Umwelt, Infrastruktur, allgemeine Bildung oder berufliche Bildung ihren Ausdruck finden. Typisch für derartige Gebiete ist ihre Offenheit. Teilhabe ist überall möglich, aber aus Gründen der Qualität ergeben sich entsprechende Chancen langfristig um die Gravitationszentren herum. Die Vorhersagbarkeit basiert zu Recht auf der historisch prognostizierbaren Stabilität der multidimensionalen Fähigkeiten der Regionen.

2.3   Für den Erfolg der Innovation ist es unerlässlich, neue Formen der Demokratie zu fördern. Die üblichen Formen der gesellschaftlichen Konsultation müssen weiterentwickelt werden und mit Hilfe von auf der partizipativen Demokratie basierenden Instrumenten müssen Kompetenzen freigesetzt werden, um die organisierte Zivilgesellschaft dazu zu bringen, mehr Interesse bzw. „Bereitschaft“ für eine Einbeziehung gemäß den Grundprinzipien der EU-Verträge zu zeigen.

2.4   Bei der Innovation geht es darum, neue Ideen und Vorschläge in die Praxis umzusetzen, den Wettbewerb zu antizipieren und durch die Nutzung vorhandenen Wissens absehbare Prozesse vorwegzunehmen. Ihre Komplexität bedeutet, dass sie menschliche Fertigkeiten, fachliche Fähigkeiten und wirtschaftliche Beziehungen in all ihrer Vielfalt miteinander kombinieren kann. Selbstverständlich bieten städtische Zentren als Drehkreuz die richtigen Bedingungen – den unerlässlichen Rahmen –, ohne die dies alles bloße Theorie bliebe.

2.5   Aus diesem Grund muss – auf der Grundlage territorialer Analysen – ein immanenter Bestandteil von Systemen und politischen Maßnahmen zur finanziellen Förderung darin bestehen, Innovationsförderung und Aufholmaßnahmen parallel zu koordinieren.

2.6   Zwar ist die Europa-2020-Strategie ein umfassendes Programm für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit und Strukturpolitik, doch aus einer weiteren, globalen Perspektive ist sie auch ein Programm zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit Europas auf dem Weltmarkt.

2.7   Die Ziele der Europa-2020-Strategie und der Kohäsionspolitik stehen mit dem oben Gesagten in Einklang. Was die Europa-2020-Strategie anbelangt, mangelt es dem institutionellen Rahmen für ihre Umsetzung jedoch an gemeinsamen, neuen finanziellen und rechtlichen Elementen, die dank ihres Zusammenspiels zu effizienzsteigernden Faktoren werden könnten. Das Argument, dass sich die Entwicklung eines innovationsorientierten „intelligenten“ Europas durch eine Neukonzipierung und Integration der Kohäsionsinstrumente beschleunigen ließe, hat zwar seine Richtigkeit, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Bandbreite der Instrumente erweitert wird, indem die durch die Integration verschiedener Quellen entstandenen Synergien genutzt werden.

3.   Debatte

3.1   Die politische Neustrukturierung Europas wurde durch die am Ende des Jahres aufgetretene Krise beschleunigt.

3.1.1   Die Europäische Union ist, teilweise aufgrund der weltweiten Krise, gezwungen, ihre wirtschaftliche Integration zu verstärken. Der Ausschuss hält dies für einen positiven Prozess, da er die EU stärkt, aber auch für einen schwierigen Prozess, denn die Zusammenarbeit der 27 Länder funktioniert nicht reibungslos. Trotz aller damit einhergehenden Schwierigkeiten ist einer der Leitgedanken dieser verstärkten wirtschaftlichen (und zwangsläufig auch politischen) Integration die Ausarbeitung einer „Wirtschaftspolitik der EU“. Diese ruht auf drei Hauptpfeilern  (1) :

a)

Stabilität

Mit Hilfe des Stabilitäts- und Wachstumspakts dehnt die EU die gemeinsame Kontrolle der Sektoren aus, die ein Stabilitätsrisiko in sich bergen, und richtet einen Mechanismus zur Krisenbewältigung (Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus (ESFM) und Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM)) ein.

b)

Wachstum und Wettbewerb

Zu diesem Zweck hat die EU die Europa-2020-Strategie und den Europa-Plus-Pakt verabschiedet.

c)

Aufholprozess

Die EU betreibt die Kohäsions- und die Gemeinsame Agrarpolitik, um die sozialen, wirtschaftlichen und territorialen Unterschiede zu verringern.

3.2   Die beschlossenen Veränderungen sowie die verabschiedeten grundlegenden Dokumente und Strategien liefern ein Rezept für die Erneuerung. Darin werden die Bedingungen und Instrumente festgelegt, für deren Nutzung die politischen Entscheidungsträger der EU und der Mitgliedstaaten gemeinsam verantwortlich sind. Die verschiedenen für die gemeinsame Nutzung zur Verfügung stehenden Instrumente dienen Stabilität, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit sowie dem Aufholprozess.

3.3   Die Aufgabe, die Europa-2020-Strategie und die Kohäsionspolitik miteinander in Einklang zu bringen, birgt bereits an sich eine Dichotomie in sich. Sie gibt eine Vorstellung von der im Gegensatz von Freiheit der Marktwirtschaft und sozialer bzw. territorialer Angleichung liegenden Gefahr. Heute, in Zeiten begrenzter Mittel, in denen die Förderung des einen Aspekts auf Kosten des anderen geht, ist diese Gefahr noch größer. Die Stärkung des Zusammenhalts sollte durch die Verbesserung der Bedingungen für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit erreicht werden. Die weniger entwickelten Mitgliedstaaten oder Regionen dürfen im aktuellen globalen Kontext keine Zeit mehr verlieren.

3.4   In mehreren Mitgliedstaaten wurden die öffentlichen Finanzen durch die Krise nachhaltig geschwächt. Zu einem Zeitpunkt, zu dem auch die Kosten der Bevölkerungsalterung bereits zu spüren sind, werden sie sich nur schwer konsolidieren lassen.

3.5   Bei der Europa-2020-Strategie wird – ganz zu Recht – nicht zwischen den nur langfristig durchführbaren strukturellen Reformen und Maßnahmen zur Förderung eines kurzfristigen Aufschwungs unterschieden.

3.6   Der Erfolg dieser Strategie darf nicht von kurzfristigen Konjunkturtrends abhängen. Gerade die in die langsamen, strukturellen Veränderungen investierten Ressourcen „steuern“ die Sektoren, die wiederum dank ihrer wettbewerbsfähigen Innovation in der Lage sind, das System selbst zu erneuern.

3.7   Die Elemente des potenziellen Wachstums stehen im Einklang mit mehreren Zielen der Strategie (und zwar zu Recht); allerdings gibt es auch einige ungewollte Diskrepanzen.

3.7.1   Unter den Zielen der Europa-2020-Strategie – mit Blick auf das Wachstumspotenzial – beziehen sich höhere Beschäftigungsquoten und Qualifikationsniveaus auf quantitative und qualitative Aspekte der Arbeitskräfte. Die Ziele im Bereich Forschungs- und Entwicklungsausgaben sowie Klima und Energie hängen mit der Qualität des investierten Kapitals und der ökologischen Nachhaltigkeit zusammen. Zugleich lässt die Strategie jedoch einige Quantität und Qualität des Kapitals bestimmende Faktoren (Investitionen und deren technische Standards) sowie die Gesamtfaktorproduktivität vermissen. In der Strategie wird den Ausgaben für Forschung und Entwicklung große Bedeutung beigemessen, doch wird unternehmensinterne bzw. wirtschaftliche und soziale Innovation, die nicht mit Forschung und Entwicklung gleichzusetzen ist, darin nicht gründlich genug behandelt.

3.7.2   Angesichts des oben Gesagten spiegelt die Europa-2020-Strategie einen wirtschaftlichen Ansatz wider, der mit den Bedürfnissen und Merkmalen langsam wachsender entwickelter Volkswirtschaften mit ihren bedeutenden Forschungs- und Entwicklungskapazitäten in Einklang steht, in denen die Investitionsraten relativ niedrig sind, weil sich über lange Zeit selbst derart niedrige Raten als ausreichend für die Sicherstellung der erforderlichen strukturellen Veränderungen erwiesen haben. In den entwickelten Ländern kommt Forschung und Entwicklung sowie Innovation zweifellos eine Schlüsselrolle beim Wirtschaftswachstum zu. So gesehen steht die Wettbewerbsfähigkeit zwar nicht in Widerspruch zur Kohäsion, drängt diese aber in den Hintergrund.

3.7.3   Damit die neuen EU-Mitgliedstaaten mit einem niedrigeren wirtschaftlichen Entwicklungsstand aufholen können, sind jedoch Investitionen in die Infrastruktur und in anderen Bereichen erforderlich. In diesen Ländern sind weniger Forschung und Entwicklung als die Investitionen der wichtigste Motor für das Wirtschaftswachstum. Im Dokument der Kommission (2) wird die Kohäsion zwar in dieser Hinsicht erwähnt, doch wird in dem Entwurf der Akzent nicht ausreichend darauf gesetzt, die weniger entwickelten Mitgliedstaaten bei ihrem Aufholprozess zu unterstützen.

3.8   Die Europa-2020-Strategie ist ohne Kenntnis darüber, wie die Mittel zugewiesen werden, nicht zu verstehen. Einerseits gibt es eine „Grauzone“ im Zeitraum von 2010 bis 2013, in dem die aktuelle finanzielle Vorausschau weiterhin gilt, aber nicht immer im Einklang mit den Zielen der Europa-2020-Strategie steht (z.B. im Bereich der digitalen Agenda). Andererseits bestimmen die im Rahmen der Europa-2020-Strategie verabschiedeten Ziele in großem Maße die Ausgaben im nächsten Haushalt der Europäischen Union. Aufgrund dessen wäre es ratsam, die Ziele dieser Strategie mit den Prioritäten des Finanzrahmens zu verknüpfen.

3.9   Analysen zufolge zahlt sich neben zahlreichen anderen Vorteilen die in den Aufholprozess investierte Energie mehrfach aus:

erstens: nachweislich führen die aus dem EU-Haushalt stammenden Investitionen dank fortschrittlicher technologischer Transfers, eines hohen Anteils von Importen an den Investitionen, qualifizierter Arbeitskräfte, der Vorteile einer kostengünstigeren Infrastruktur und auf einer modernen Infrastruktur aufbauender, finanziell geförderter Investitionen zu einer überdurchschnittlich starken Steigerung der wirtschaftlichen Erträge in der EU (BIP);

zweitens: die Erweiterung des Binnenmarkts, die umfassende Verbreitung der Dienstleistungsaktivitäten und die Vergrößerung der Wissensbasis sind alles Faktoren, die schon an sich in beträchtlichem Maße zu den Innovationsaktivitäten beitragen;

drittens: für den KMU-Sektor bedeutet eine finanzielle Unterstützung über die Strukturfonds häufig einen Markt, Marktzugang oder Entwicklungsgelder;

schließlich können sich die Integration und der Aufholprozess möglicherweise äußerst positiv auf die am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen auswirken, die auf verschiedene Weise vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind.

3.10   Der EWSA bedauert, dass die Kommission kein Wachstumsszenario entwirft, in dem dem Potenzial des Binnenmarktes ein möglichst hoher Stellenwert eingeräumt wird, sondern sich stattdessen auf eine drastische finanzpolitische Konsolidierung als Voraussetzung für das Wachstum konzentriert. Den Wachstumsmotoren, die es den Mitgliedstaaten erlauben, ihre Haushalte zu konsolidieren und gleichzeitig den Weg eines nachhaltigen Wachstums zu beschreiten, sollte stärkere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ein ausgewogener makroökonomischer Mix, der angebots- und nachfrageorientierte Aspekte in einer ausgewogenen Art und Weise miteinander verknüpft, muss aus Sicht des EWSA zu einem integralen Bestandteil einer jeden zukunftsorientierten Wirtschaftsstrategie werden.

3.11   Es wäre besonders gut, wenn die Programme durch das Vorhandensein von „Finanzzentren“ bestimmt würden, die auf der Grundlage der erwarteten Ergebnisse und einer Risikoanalyse konzipiert werden. Dies ist sicherlich ein notwendiger Schritt, da die Globalisierung weit über territoriale Zwänge hinausgeht und die weltweite Verbreitung von „Innovationshebeln“, die in bestimmten Gebieten entstehen, sowie ihre Bündelungsfunktion werden auch künftig zunehmen.

3.11.1   Solche Gebiete müssen die Kontrolle über ihre eigenen Finanzmittel besitzen und in der Lage sein, bei der Zuweisung dieser Mittel selbst über die Rangfolge der verschiedenen Entwicklungsfaktoren zu entscheiden. Sie müssen dank einer langfristigen Einbindung in Innovationsprozesse und des entstehenden Mehrwerts entscheiden können, ob sie eine finanzielle Unterstützung gewähren oder zurückziehen.

Brüssel, den 16. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe Art. 3 Abs. 3 EUV und Art. 174 AEUV.

(2)  KOM(2010) 2020 endg.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Intelligente Strategien der haushaltspolitischen Konsolidierung — Wo sind die Wachstumsmotoren für Europa? Wie kann das Arbeitskräftepotenzial unserer Volkswirtschaften angesichts der unabdingbaren Haushaltskonsolidierung bestmöglich genutzt werden?“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des ungarischen Ratsvorsitzes)

2011/C 248/02

Berichterstatter: Gérard DANTIN

Am 15. November 2010 hat der Ständige Vertreter der Republik Ungarn bei der Europäischen Union, Peter GYÖRKÖS, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss im Namen des künftigen ungarischen Ratsvorsitzes um eine Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema ersucht:

Intelligente Strategien der haushaltspolitischen Konsolidierung — Wo sind die Wachstumsmotoren für Europa? Wie kann das Arbeitskräftepotenzial unserer Volkswirtschaften angesichts der unabdingbaren Haushaltskonsolidierung bestmöglich genutzt werden?

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 31. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 164 gegen 2 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2007 einsetzte und sich 2008 verschärfte, hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die Staatsfinanzen der europäischen Länder und beeinträchtigte insbesondere deren Haushaltslage.

1.2   Die Notwendigkeit, die öffentlichen Haushalte von den Kosten zu entlasten, die insgesamt durch die verschiedenen Konjunkturmaßnahmen, die Stützung der Banken - wie dies in einigen Mitgliedstaaten der Fall war - und durch einen nur unzureichend durch die Wirtschaftspolitik vor der Krise berücksichtigten Konjunkturrückgang entstanden sind, führt jetzt in zahlreichen Mitgliedstaaten dazu, dass die öffentlichen Ausgaben reduziert werden. Diese Option birgt die Gefahr, dass die Mitgliedstaaten sich aus ihrem Engagement zurückziehen und der Umverteilungseffekt im Rahmen der Solidarsysteme, sei es in Form der Sozialschutzsysteme oder öffentlicher Dienstleistungen geringer ausfällt.

1.3   Diese Form der raschen Wiederherstellung eines ausgeglichenen Haushalts birgt - neben den beträchtlichen sozialen Kosten, die sie verursacht - die Gefahr, dass es auf lange Sicht nur ein schleppendes Wirtschaftswachstum geben wird. Die Gründe hierfür sind insbesondere in einer Dämpfung der Nachfrage zu sehen, die das Haushaltsdefizit wiederum weiter verschärft und einen erneuten Rückgang der Nachfrage nach sich zieht. Auf diese Weise wird im Schneeballsystem eine Abwärtsspirale erzeugt, die die europäische Wirtschaft in einen Teufelskreis führen kann.

1.3.1   Eine intelligente Haushaltspolitik muss diese Abwärtsspirale durchbrechen.

1.4   Das „Intelligente“ einer Haushaltssanierung zeigt sich in einem „intelligenten“ Gleichgewicht zwischen Ausgaben und Einnahmen sowie zwischen Angebot und Nachfrage. Nachhaltiges Wachstum muss das vorrangige Ziel der Wirtschaftspolitik sowie aller anderen Politikbereiche sein.

1.4.1   Nachhaltiges Wachstum muss eines der prioritären Ziele der EU sein.

1.5   Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es folgender Maßnahmen:

1.5.1

Eine anspruchsvollere und umfassende Regelung der Finanzmärkte muss eingeführt werden, um der Spekulation Einhalt zu gebieten. Ohne eine solche Regelung würden die Spekulationen fortdauern und alle Bemühungen um eine „intelligente Haushaltskonsolidierung“ zunichte gemacht.

1.5.2

Eine wachstumsfreundliche Haushaltspolitik:

Einführung einer europäischen Anleihe zur Finanzierung von Infrastrukturprojekten durch Mobilisierung von Sparguthaben;

Schaffung von Euro-Bonds insbesondere zur Reduzierung der Kosten für die Refinanzierung der in Schwierigkeiten geratenen Länder der Euro-Zone;

Möglichst flexible Gestaltung des Konsolidierungszeitraums, da durch einen „Urknall“ die Wachstumsaussichten aufs Spiel gesetzt würden.

1.5.3

Eine wachstumsfreundliche Steuerpolitik:

Anstreben einer stärkeren Koordinierung der Steuerpolitik der Mitgliedstaaten in Einklang mit den EU-Verträgen;

Verbesserung der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Steuerbetrug durch optimale Nutzung von Eurofisc;

Verlagerung der Steuerlast durch neue Einkommensquellen wie etwa Steuern auf Finanztransaktionen, Energiesteuer, Abgaben auf Finanzinstitute, auf CO2-Emissionen - denkbar ist eine Umorganisierung des Marktes für Emissionszertifikate.

1.5.4

Es sollten Steuern eingeführt werden, mit denen die durch das Verhalten des Finanzsektors erzeugten externen Kosten insofern internalisiert werden, als sie dazu beitragen, im Prozess der Entwicklung und Harmonisierung des europäischen Binnenmarktes gerechtere Bedingungen zu schaffen;

1.5.4.1

Die Europäische Kommission plant in Übereinstimmung mit dem Ausschuss zur Bestimmung der potenziellen Struktur und der Durchführungsmodalitäten für diese Besteuerung die Durchführung einer Folgenabschätzung. Entscheidungen über eine solche Besteuerung sollten auf jeden Fall nicht ohne Kenntnis der Ergebnisse dieser Studie getroffen werden.

1.5.5

Das Wachstum von morgen schaffen:

Umsetzung der 2020-Strategie, deren Ziel vor allem die Entwicklung eines nachhaltigen und integrativen Wachstums ist und durch die auf der Grundlage verstärkter Koordinierung der Wirtschaftspolitiken die maßgeblichen Wachstumshemmnisse angegangen werden - einschließlich der Probleme, die das Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtigen;

Festlegung und Umsetzung einer ehrgeizigen und wirksamen Industriepolitik, die in erster Linie auf Branchen mit hoher Wertschöpfung, Hochtechnologiebranchen und Branchen mit hohem Wachstumspotenzial sowohl im Bereich Industrie als auch im Bereich Dienstleistung abzielt;

Schaffung eines echten europäischen „Small Business Act“;

Zugrundelegung des „magischen Dreiecks“ aus Bildung, Forschung und Innovation als Basis für Wachstum. Hierzu sind folgende Maßnahmen notwendig:

die Investitionen in Bildung sowie Forschung und Entwicklung müssen ungeachtet der Haushaltszwänge fortgesetzt und intensiviert werden, da andernfalls ein Absinken des Wohlstands in der EU unausweichlich die Folge sein wird;

es muss darauf geachtet werden, dass Ausbildung und Qualifikationen und die entsprechende Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt miteinander in Einklang gebracht werden;

das Steuerrecht muss angepasst werden, um der Industrie Anreize zu mehr Investitionen in Forschung, Entwicklung und Innovation zu geben;

die Arbeit und Kooperation von Forschern und Innovatoren in der gesamten EU muss erleichtert und die erfolgreiche Schaffung eines „Europäischen Forschungsraumes“ sichergestellt werden;

zahlreiche Hindernisse wie beim Zugang zu Finanzmitteln für die KMU oder dem Erwerb von Rechten an geistigem Eigentum müssen gemindert oder gar ausgeräumt und über die Umsetzung des EU-Patents durch eine verstärkte Zusammenarbeit so schnell wie möglich eine Einigung erzielt werden;

die „Wettbewerbspole“ müssen weiter ausgebaut werden, sie sollten mehr Mittel und mehr Aufträge bekommen. Durch ein zu diesem Zweck eingerichtetes europäisches Netz kann das Verhältnis zwischen Forschung und Innovation verbessert werden.

1.6   Bei der praktischen Realisierung dieser Maßnahmen muss, sofern diese unter die alleinige Entscheidungsbefugnis der einzelnen Mitgliedstaaten fallen, den großen Unterschieden in der wirtschaftlichen Leistung zwischen den 27 Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden. Wachstumsraten des BIP, Arbeitslosenrate und Trends, Höhe des Haushaltsdefizits und Ausgaben für Forschung und Entwicklung variieren erheblich, wobei sich jedoch bestimmte Muster erkennen lassen.

2.   Einführung

2.1   Der ungarische Ratsvorsitz hat den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema ersucht: „Intelligente Strategien der haushaltspolitischen Konsolidierung - Wo sind die Wachstumsmotoren für Europa? Wie kann das Arbeitskräftepotenzial unserer Volkswirtschaften angesichts der unabdingbaren Haushaltskonsolidierung bestmöglich genutzt werden?“

2.2   Der Ausschuss ist erfreut über diese Befassung.

2.3   Das Thema, das dem EWSA zur Behandlung vorgeschlagen wurde, steht im Einklang mit den Anliegen des Ausschusses und den Arbeiten, die dieser seit Beginn der Finanzkrise bereits geleistet hat.

2.4   Anhand der vorliegenden Stellungnahme werden die bisherigen Überlegungen des Ausschusses auf den neuesten Stand gebracht. Diese dienen dem vorliegenden Beitrag als Grundlage und sollen entsprechend dem Thema der Befassung fortgesetzt werden (1).

2.5   Daher werden zunächst kurz die Ursachen der Krise untersucht und anschließend deren Auswirkungen sowie die wirtschaftlichen und sozialen Gefahren einer „nicht-intelligenten“ Konsolidierung erörtert. Schließlich werden Vorschläge unterbreitet, wie die Entwicklung eines nachhaltigen Wachstums gefördert werden kann, da nur ein solches Wachstum der europäischen Wirtschaft zum Wiederaufschwung verhelfen kann.

3.   Die Krise und ihre Folgen

3.1   Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2007 einsetzte und sich 2008 verschärfte, hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die Staatsfinanzen der europäischen Länder. Zum einen haben zahlreiche Regierungen Maßnahmen zur Rettung des Finanzsystems ergriffen. Zum anderen haben sie beträchtliche haushaltspolitische Maßnahmen ergriffen, um mithilfe ihrer Konjunkturprogramme den Konjunkturrückgang so weit wie möglich abzufedern. Diese Programme dienten neben dem Mechanismus der automatischen Stabilisatoren dazu, einen Zusammenbruch der wirtschaftlichen Aktivitäten zu verhindern, sie hatten in vielen Ländern aber auch negative Folgen für den Haushalt.

3.2   Durch die massiven öffentlichen Ausgaben während der Finanzkrise konnte zwar die Liquidität der Märkte aufrechterhalten werden. Nun aber führt die Notwendigkeit, die Haushalte von den Kosten zu entlasten, die durch Stützung der Banken - wie dies in einigen Mitgliedstaaten der Fall war - und Ermessensmaßnahmen entstanden sind, dazu, dass die steigende Arbeitslosigkeit und die in mehreren Ländern ergriffenen zusätzlichen Sparmaßnahmen insgesamt eine Gefahr für das Wirtschaftswachstum darstellen.

3.3   Vor diesem Hintergrund hat sich das Haushaltsdefizit in der Europäischen Union beträchtlich vergrößert und ist laut der Vorausschätzungen von Eurostat in der gesamten EU voraussichtlich von 2,3 % des BIP im Jahr 2008 auf 7,5 % im Jahr 2010 angestiegen; innerhalb der Eurozone von 2 % auf 6,3 %. Im gleichen Zeitraum soll die Schuldenquote innerhalb der Europäischen Union von 61,6 % des BIP im Jahr 2008 auf 80 % und in der Eurozone von 69,4 % auf 78,7 % angestiegen sein. Das Wirtschaftswachstum dürfte 2010 0,7 % betragen, die Arbeitslosigkeit wird voraussichtlich von EU-weit 7,1 % im Jahr 2007 auf 9,1 % im Jahr 2009 ansteigen und Ende 2010 die 10,3 %-Marke erreichen. Damit werden nahezu 25 Mio. Menschen arbeitslos sein, darunter etwa 8 Mio., die infolge der Krise ihren Arbeitsplatz verloren haben.

3.4   Die in einigen Mitgliedstaaten durchgeführten Maßnahmen, die im Wesentlichen der Reduzierung der öffentlichen Ausgaben dienen, um rasch wieder ein Haushaltsgleichgewicht und einen Schuldenabbau herbeizuführen, bergen zudem die Gefahr, dass sich die Mitgliedstaaten aus dem Umverteilungseffekt der Solidarsysteme ausklinken. Äußerst besorgniserregend ist daher der Abbau der Sozialschutzsysteme und der öffentlichen Dienstleistungen, deren Rolle als automatische Stabilisatoren und als wirksame Puffer in der Krise doch einhellig begrüßt wurde.

3.4.1   Nach Ansicht des Ausschusses muss das europäische Sozialkapital und das natürliche Kapital als unverzichtbare Faktoren für ein stärkeres Wachstum bewahrt werden.

3.4.2   Es wäre für die Glaubwürdigkeit der EU (und ihrer Mitgliedstaaten) verheerend, wenn sie ihren Bürgern ein Bild von Europa präsentieren würde, das mit Entschlossenheit umfangreiche Maßnahmen zugunsten des für die derzeitige Krise verantwortlichen Finanz- und Bankensektors ergreift (wie dies in einigen Mitgliedstaaten der Fall war), das aber dann, wenn es um die Bekämpfung des Konjunkturrückgangs, des starken Anstiegs der Arbeitslosigkeit und der zunehmenden Unsicherheit sowie um die Sicherstellung von Solidarität durch Sozialschutzsysteme und öffentliche Dienstleistungen geht, keine wirksamen Maßnahmen ergreifen und damit die Bürger bestrafen würde, die mit der „Erzeugung“ der Wirtschafts- und Finanzkrise absolut nichts zu tun haben. Die Distanz, die bereits zwischen den Bürgern und der EU besteht, würde hierdurch nur noch größer.

3.5   Diese Form der raschen Wiederherstellung eines ausgeglichenen Haushalts, die vor allem auf einer Reduzierung der öffentlichen Ausgaben beruht, droht - neben den entstehenden sozialen Kosten - zur Folge zu haben, dass es auf lange Sicht nur ein schleppendes Wirtschaftswachstum geben wird. Die Gründe hierfür sind insbesondere in einer Dämpfung der Nachfrage über einen längeren Zeitraum hinweg, einer andauernden bzw. ansteigenden Arbeitslosigkeit und damit einer Unterminierung der globalen Wettbewerbsfähigkeit Europas zu sehen.

3.5.1   Durch die angespannte Haushaltslage droht ein Rückgang der Nachfrage, der wiederum einen Konjunkturrückgang mit neuen Defiziten mit sich bringt und schließlich die europäische Wirtschaft in einen Teufelskreis führen kann.

3.5.2   Der Rückgang der Nachfrage wird umso stärker ausfallen, als sich auch das Wohlstandsgefälle verschärft (in Frankreich ist z.B. das durchschnittliche Arbeitseinkommen der 0,01 % bestverdienenden Personen zwischen 1998 und 2005 um 51 % gestiegen) und die Kaufkraft der Haushalte aufgrund der wirtschaftlichen Lage, aber auch aufgrund des deutlich gesunkenen Anteils der Löhne und Gehälter an der Verteilung des Mehrwerts, automatisch abnimmt. Nach Angaben des IWF aus dem Jahr 2007 ist der Anteil der Löhne und Gehälter am BIP in Europa von 73 % im Jahr 1980 auf 64 % im Jahr 2005 gesunken.

4.   Hin zu einer intelligenten Haushaltskonsolidierung

4.1   Es stellt sich weniger die Frage, ob das Haushaltsgleichgewicht wiederhergestellt werden muss, sondern vielmehr, was unternommen werden muss, damit das Wachstum wieder zunimmt, in welchem Tempo dies zu geschehen hat und „wer dafür zahlt“.

4.1.1   Das „Intelligente“ einer Haushaltssanierung zeigt sich in einem „intelligenten“ Gleichgewicht zwischen Ausgaben und Einnahmen sowie zwischen Angebot und Nachfrage. Im Hinblick auf dieses Ziel ist es zur Krisenbekämpfung unerlässlich, im Rahmen einer expansiven Politik einen konsum- und investitionsfreundlichen Kontext zu schaffen und so zu Wirtschaftswachstum zurückzufinden.

4.1.2   Die Haushaltssanierung ist zum Teil auch den Forderungen der Währungspolitik geschuldet, die so gestaltet sein muss, dass sie ihren eigenen Zielen - Preisstabilität und Vertrauen der Märkte - gerecht wird und zugleich weiterhin die Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum schafft.

4.2   Eine Haushaltspolitik im Dienste des Wachstums

4.2.1   Bereits deutlich vor der derzeitigen Krise war das Wirtschaftswachstum in Europa nicht ausreichend. Das anvisierte Wachstumsziel von jährlich 3 %, das im Kern die Grundlage der Lissabon-Strategie bildet, wurde nur zweimal erreicht. Dieser Wachstumsmangel wurde generell nicht in ausreichendem Maße durch die von den jeweiligen Regierungen festgelegte Wirtschafts- und Haushaltspolitik berücksichtigt und durch öffentliche und private Kredite ausgeglichen. Hier trägt das Finanzsystem z.B. in Zusammenhang mit Immobilienkrediten einen Großteil der Verantwortung. Nachhaltiges Wachstum muss daher das vorrangige Ziel der Wirtschaftspolitik sowie aller anderen Politikbereiche sein. Vor diesem Hintergrund können durch eine Haushaltssanierung, insbesondere durch eine wirksame Zuweisung der Finanzmittel die Mittel gefunden werden, um mittelfristig eine Wiederherstellung ausgeglichener öffentlicher Haushalte zu erzielen, ohne das Ziel eines hohen Wachstums zu beeinträchtigen.

4.2.2   Die Finanzkrise und die mangelhafte Schockresistenz der EU-Wirtschaft verdeutlichen die Notwendigkeit einer wirtschaftspolitischen Neuausrichtung. Ein ausgewogener makro-ökonomischer Mix, der angebotsorientierte mit nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik in einer ausgeglicheneren Art und Weise verknüpft, muss aus Sicht des EWSA zu einem integralen Bestandteil der europäischen Strategie werden. In einer finanzialisierten Welt, die auf kurzfristige Investitionen ausgerichtet und somit dem Risiko einer Verlangsamung des technischen Fortschritts ausgesetzt ist, gilt es, sich von einem Wachstum abzuwenden, das zu einem guten Teil auf „Spekulationsblasen“ beruht, und wieder an ein Wirtschaftswachstum anzuknüpfen, das auf Konsum und Investitionen, insbesondere in den innovativen Branchen der Realwirtschaft (2), beruht und kohlenstoffarme und rohstoffschonende Produktionsmethoden begünstigt.

4.2.3   Es könnte eine europäische Anleihe zur Finanzierung von europäischen Infrastrukturprojekten eingeführt werden. Eine solche Anleihe wäre ein wichtiges Mittel, um Sparguthaben anzuziehen, das derzeit verfügbar ist und nicht zur Unterstützung der europäischen Wirtschaft genutzt wird. Dies muss Hand in Hand gehen mit einem koordinierten wettbewerbsorientierten Ansatz der Industriepolitik (3) entsprechend den in der Europa-2020-Strategie festgelegten Leitlinien (4). Unter diesem Gesichtspunkt ist der Ausschuss erfreut über die Erklärung des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 14. Dezember 2010 im Europäischen Parlament, laut der dieser auf die Vorlage von Plänen zur Einführung von Anleihen „dringen“ will. Die Einführung von Anleihen kann jedoch keine Alternative oder ein Ersatz für die Schaffung von Euro-Bonds sein.

4.2.4   Der Ausschuss spricht sich für Euro-Bonds aus, da diese nicht nur - wie Anleihen - die Finanzierung großer Infrastrukturprojekte mit dem Ziel ermöglichen, Europa durch die Schaffung von Arbeitsplätzen und durch die Wiederbelebung der Konjunktur zu modernisieren, sondern auch die Kosten für die Refinanzierung der in Schwierigkeiten geratenen Euro-Länder verringern, indem sie dem Markt der Staatsanleihen eine europäische Dimension verleihen. Durch die Euro-Bonds würde wie bereits mit der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität die Solidarität im Inneren der Europäischen Union gegenüber dem Markt gestärkt und die EU könnte zugleich unter Beweis stellen, dass sie sich mit ihrer Politik für die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Unumkehrbarkeit des Euros einsetzt.

4.2.4.1   Durch diese Praktik, die das US-Finanzministerium anwendet und die 2009 von Europäischem Parlament und IWF befürwortet wurde, könnte den Ländern der Eurozone, die sich in Schwierigkeiten befinden, eine Erleichterung des Schuldendienstes und damit im Hinblick auf die Ankurbelung des Wachstums mehr Handlungsspielraum gewährt werden.

4.2.5   Die Mitgliedstaaten mit Leistungsbilanzüberschüssen und/oder niedrigen Staatsschulden sollten eine expansive Haushaltspolitik fahren, um Nachfrage zu stimulieren. Im Allgemeinen wird dies jedoch, vor allem aus Angst davor, von den Ratingagenturen „bestraft“ zu werden, nicht getan. „Diese Ratingagenturen spielen eine zentrale Rolle […] und dürfen deshalb nicht unbeaufsichtigt bleiben“ (5). „Unter diesem Gesichtspunkt ist der EWSA besorgt, dass die Einrichtung eines europäischen Gremiums zur Bewertung staatlicher Schuldtitel gescheitert ist“ (6).

4.3   Wachstum und Steuerwesen

4.3.1   Das Steuerwesen ist, sofern es zum Funktionieren des Binnenmarktes, zur Wettbewerbsfähigkeit und zur Erleichterung der öffentlichen Finanzlast beiträgt, ein wachstumsfördernder Faktor. Der Ausschuss bedauert, dass die Kommission bei der Haushaltssanierung fast ausschließlich an der Ausgabenseite ansetzt und die Einnahmenseite vernachlässigt. Ein solches Vorgehen führt zumeist zur Belastung sozial Schwächerer und wirkt durch zurückgehende Nachfrage wachstumsdämpfend.

4.3.2   „In Einklang mit den EU-Verträgen ist eine stärkere EU-weite Koordinierung der Steuerpolitik der Mitgliedstaaten anzustreben (u.a. harmonisierte Bemessungsgrundlagen sowie Mindestsätze) anzustreben, v.a. in jenen Bereichen, in denen die Steuerbasis international besonders mobil und das Risiko der Steuerflucht und des Steuerwettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten am größten ist.“ Das Ziel dieser europäischen Koordinierung muss insbesondere die Sicherung und Steigerung der Steuereinnahmen sein (7).

4.3.3   Auch eine bessere administrative Zusammenarbeit ist Grundlage für die wirksame Bekämpfung von Steuerbetrug. Die Einrichtung des dezentralen Netzwerks Eurofisc, das allen Mitgliedstaaten offensteht und das rasche und gezielte Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung im Bereich Mehrwertsteuer ermöglichen soll, ist ein erster Schritt in diese Richtung (8). In seiner einschlägigen Stellungnahme hat der EWSA hervorgehoben, dass mit den anderen Einrichtungen, die im Bereich Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Geldwäsche tätig sind, Kontakt hergestellt und eine Zusammenarbeit ins Leben gerufen werden sollte (9).

4.3.4   Um die Steuerlast zu tragen, müssen neue Einnahmequellen aufgetan werden; hierzu zählen etwa Steuern auf Finanztransaktionen, Energiesteuer, Abgaben auf Finanzinstitute, auf CO2-Emissionen (10) - denkbar ist eine Umorganisierung des Marktes für Emissionszertifikate. Diese Form von Steuer könnte eine „doppelte Dividende“ mit sich bringen: kurz- und mittelfristig würden die öffentlichen Haushalte entlastet, langfristig wäre dies ein Beitrag dazu, die Mittel auf nachhaltige Investitionen in die Realwirtschaft allgemein und speziell in umweltfreundliche Technologien und Branchen umzulenken (11). Diese Steuerform könnte auch von Nutzen sein, um den Haushalt der Europäischen Union mit Eigenmitteln auszustatten (12).

4.4   Besteuerung des Finanzsektors

4.4.1   Konkret kann durch eine Besteuerung des Finanzsektors eine größere Stabilität und Effizienz der Finanzmärkte erzielt werden, indem Schwankungen sowie die schädlichen Auswirkungen einer übermäßigen Risikofreudigkeit eingedämmt werden (13). Es kann daher als sinnvoll erachtet werden Steuern einzuführen, mit denen die durch das Verhalten dieses Sektors erzeugten externen Kosten insofern internalisiert werden, als sie dazu beitragen, im Prozess der Entwicklung und Harmonisierung des europäischen Binnenmarktes gerechtere Bedingungen zu schaffen.

4.4.2   Steuern auf Finanztransaktionen

4.4.2.1   Der EWSA hat in seiner Stellungnahme zum Larosière-Bericht (14) die Besteuerung von Finanztransaktionen grundsätzlich gutgeheißen: „Nach Auffassung des EWSA muss an die Stelle des kurzfristigen Denkens ein langfristiges treten, bei dem Boni nicht nach Spekulationsgeschäften berechnet werden. Daher unterstützt der EWSA den Gedanken einer Besteuerung der Finanztransaktionen“. „Eine solche Steuer verfolgt das Ziel, Mittel für die öffentlichen Kassen zu erschließen. Diese neue Einnahmequelle könnte zur allgemeinen Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung in den Entwicklungsländern, für die Finanzierung klimapolitischer Maßnahmen in den Entwicklungsländern oder zur Stützung der öffentlichen Haushalte eingesetzt werden. Letzteres bedeutet auch, dass die Finanzbranche die öffentlichen Finanzhilfen zurückerstattet. Langfristig sollte eine solche Steuer eine neue allgemeine Einnahmequelle für die öffentliche Hand sein“ (15). Darüber hinaus hat eine Finanztransaktionssteuer auch erwünschte Lenkungseffekte, indem Verhaltensänderungen der Marktteilnehmer bewirkt werden.

4.4.2.2   In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass der Präsident der Europäischen Kommission am 8. September 2010 in einer Erklärung für den Grundsatz der Besteuerung von Finanzaktivitäten eingetreten ist.

4.4.2.3   Der Ausschuss vertritt wie in seinen bisherigen Stellungnahmen die Auffassung, dass die EU und die Mitgliedstaaten eine Finanztransaktionsteuer brauchen, um die Mittel zur Reduzierung des Haushaltsungleichgewichts, zur Finanzierung der Maßnahmen für Konjunktur und Wachstum sowie zur Eindämmung rein spekulativer Geschäfte bereitzustellen.

4.4.3   Finanzaktivitätssteuer

4.4.3.1   Die Finanzaktivitätssteuer (16) in ihrer umfassendsten Form (Additionsmethode) ist so konzipiert, dass sie die gesamten Gewinne und Einkünfte aus der unternehmerischen Aktivität der Finanzinstitute belastet, unabhängig von den Produkten, die diese vermarkten.

4.4.3.2   Sie könnte als Besteuerung des von den Unternehmen des Finanzsektors geschaffenen Mehrwerts aufgefasst werden, mit der sich dem derzeit eher schwachen Steuerbeitrag dieses Sektors, der sich aus der Mehrwertsteuerbefreiung für zahlreiche ihrer Aktivitäten ergibt, begegnen ließe.

4.4.3.3   Die auf europäischer Ebene erzielten Einnahmen könnten für die Sanierung der Haushalte der Mitgliedstaaten eingesetzt werden.

4.4.4   Die Europäische Kommission plant in Übereinstimmung mit dem Ausschuss zur Bestimmung der potenziellen Struktur und der Durchführungsmodalitäten für diese Besteuerung die Durchführung einer Folgenabschätzung sowie eine Bewertung der neuen Reformen des Finanzsektors, die die Einlagensicherung, die neuen Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen usw. betreffen. Auf dieser Grundlage gilt es, das richtige Gleichgewicht zu finden zwischen einerseits der Bekämpfung der Haushaltsungleichgewichte und andererseits dem Ziel, dem Bankensektor die Möglichkeit der Kreditvergabe zu erhalten und einen Beitrag zu Wirtschaftswachstum und zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu leisten. Entscheidungen über eine solche Besteuerung sollten auf jeden Fall nicht ohne Kenntnis der Ergebnisse dieser Studie getroffen werden.

5.   Ideen für das Wachstum von morgen

5.1   In Europa zeichnen sich größere Bedrohungen ab:

etwa die einer finanzialisierten Welt, die sich der politischen Demokratie entzieht, teilweise von der Realwirtschaft abgekoppelt und auf kurzfristige Investitionen ausgerichtet ist, die ihrerseits den technischen Fortschritt gefährden können. Die Verlagerung von Real- zu Finanzinvestitionen wirkt auch dämpfend auf Beschäftigung, Einkommen, Nachfrage und öffentliche Haushalte;

der Zerfall der bestehenden Sozialsysteme in Kombination mit den Risiken einer Allianz zwischen den USA und den großen Schwellenländern, aus der Europa ausgeschlossen wäre und durch die der Arbeitsmarkt destabilisiert würde. Um den heutigen Herausforderungen zu begegnen, müssen die politischen Schwerpunkte für das Wachstum von morgen festgelegt werden.

5.2   Um wieder zu einem intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstum zurückzufinden, hat die EU die Europa-2020-Strategie angenommen. Auf der Grundlage verstärkter wirtschaftspolitischer Koordinierung sollen mit dieser neuen Strategie die maßgeblichen Wachstumshemmnisse auf Unionsebene - einschließlich der Probleme, die das Funktionieren des Binnenmarkts und der Infrastrukturen beeinträchtigen - sowie die Notwendigkeit einer gemeinsamen Energiepolitik und einer neuen ehrgeizigen Industriepolitik angegangen werden. Der Europäische Rat betonte, dass alle Politikbereiche der EU - einschließlich der Gemeinsamen Agrarpolitik und der Kohäsionspolitik - zu dieser Strategie beitragen müssen und dass diese eine starke außenpolitische Komponente enthalten soll (17).

5.3   Der EWSA hat einen Lenkungsausschuss eingerichtet, der sich in enger Zusammenarbeit mit den Fachgruppen, der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel, den nationalen Wirtschafts- und Sozialräten und den Beobachtungsstellen mit der Umsetzung der Strategie und speziell mit den sieben Leitinitiativen zur Ankurbelung von Wachstum und Beschäftigung befasst. In diesem Zusammenhang wird der Ausschuss Stellungnahmen zu den „Leitinitiativen“ abgeben, mit denen die „fünf Ziele“ dieser Strategie erreicht werden sollen. Um die Form der Umsetzung dieser neuen Strategie festzulegen, müssen eingehende Überlegungen zu den Wirtschaftszweigen, den Akteuren und den vorrangigen Maßnahmen angestellt werden.

5.4   Die vorrangigen Wirtschaftszweige. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige Wachstumsmotoren genannt, von denen manche schon existieren, die meisten jedoch erst im Entstehen begriffen sind, da sie Branchen mit hoher Wertschöpfung, Hochtechnologiebranchen und Branchen mit hohem Wachstumspotenzial sind. Die Aufzählung betrifft selbstverständlich sowohl Industrie- als auch Dienstleistungsbranchen:

Kohlenstoffarme Energie, umweltfreundlicher Verkehr und umweltfreundliche Gebäude, die die Schaffung „grüner Arbeitsplätze“ (18) mit sich bringen;

„Seniorenwirtschaft“: Bioengineering im Dienste der Gesundheit, Biowissenschaften (19);

Biotechnologie (20);

Digitale Gesellschaft, Nanotechnologien (21), Robotik;

Agrarwissenschaft und Hydraulik, um der beschränkten Menge an Agrarflächen zu begegnen, die Erzeugungsprozesse im Hinblick auf geringeren Rohstoffverbrauch und den Umgang mit Seltenerdmetallen zu überdenken;

Forschungen in allen Industriebranchen nach kohlenstoffärmeren Entwicklungsverfahren und -methoden für ein neues Konzept der Industriepolitik;

usw.

5.4.1   Auch die Bildung muss Vorrang genießen, um unterstützend für alle anderen Bereiche zu wirken. Die Bildung ist einer der für das Wachstum unerlässlichen Faktoren, denn sie unterstützt die Bildung von Humankapital, das für die Entwicklung unbedingt notwendig ist. Deshalb muss darauf geachtet werden, dass die Qualifikationen und die entsprechende Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt miteinander in Einklang gebracht werden.

5.5   Vorrangige Maßnahmen für mehr Wachstum

5.5.1   Der Ausbau des europäischen Binnenmarktes muss im Rahmen der Europa-2020-Strategie für die Europäische Union eine Priorität sein. Der EWSA ist der Ansicht, dass nur so im Hinblick auf ein starkes, anhaltendes Wirtschaftswachstum deutliche Fortschritte erzielt werden können und eine gerechtere Entwicklung der Mitgliedstaaten gewährleistet werden kann.

5.5.2   Für die Umsetzung einer effizienten Industriepolitik

5.5.2.1   Die Bedeutungen er des Begriffs „Industriepolitik“ haben sich im Laufe der Jahre stark gewandelt. Daher gilt es, die Prinzipien zu ermitteln, die eine eindeutige und zeitgemäße Definition des Begriffs ermöglichen.

Zunächst muss klargestellt werden, welchen Branchen Vorrang einzuräumen ist (22). Ferner müssen die Vorgehensweisen natürlich sehr diversifiziert sein. In einigen Fällen, wie zum Beispiel im Bereich Energie, handelt es sich um große europäische Projekte. In anderen Fällen um Kapitalfinanzierung. Oder, im Falle von Unternehmensneugründungen und Unternehmen in der Aufbauphase, um Unterstützung zur Entwicklung neuer Technologien. Auf jeden Fall sollte eine solche Industriepolitik so konzipiert sein, dass sie sowohl auf den Binnenmarkt als auch auf die Ausfuhren ausgerichtet ist.

Letztlich geht es darum, in einer Zeit der Haushaltskonsolidierung die Mittel zu finden, um diese Unternehmenspolitik und das Wachstum, das diese langfristig mit sich bringen kann, zu finanzieren. Ein möglicher Hebel wäre die massive Ausrichtung europäischer Sparguthaben auf langfristig produktive Investitionen (23), die wirtschaftlich und sozial rentabel sind, d.h. die Schaffung vieler Arbeitsplätze nach sich ziehen. Das Problem könnte in einer starken Risikoaversion liegen. Diese könnte dadurch überwunden werden, dass das Risiko auf öffentliche Hand und private Investoren verteilt wird, wobei die öffentliche Hand wie ein Rückversicherer das größere, langfristige Risiko trägt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, eine umfassende europäische Anleihe zu schaffen (24).

5.5.2.2   Zur Entwicklung eines ausgewogenen und soliden Produktionssystems jedoch müssen natürlich die beiden wichtigen Politikbereiche Steuerpolitik und Beschäftigungspolitik herangezogen werden. Auf die Steuerpolitik wird unter Ziffer 4.3.1 Bezug genommen. Bei der Beschäftigungspolitik besteht die Hauptaufgabe darin, das Erwerbspotenzial zu aktivieren, also auch in großem Umfang junge und ältere Menschen einzubeziehen. Zugleich muss auch ein breites Angebot an hochwertigen Kinderbetreuungsmöglichkeiten geschaffen werden, um Eltern in ihrer Berufstätigkeit zu unterstützen (25).

5.5.3   Für einen europäischen „Small Business Act“

5.5.3.1   Dieser bereits mehrfach vorgebrachte Vorschlag wurde nie vollständig umgesetzt, ist aber dennoch notwendig. Der amerikanische Small Business Act zum Beispiel funktioniert sehr effizient, da er die Finanzierung sowohl von Innovationen als auch von traditionellen Investitionen ermöglicht und den KMU einen Teil der öffentlichen Aufträge garantiert. Er deckt sowohl Unternehmensneugründungen als auch Unternehmen ab, die in schnellem Wachstum begriffen sind. Der europäische Small Business Act muss ebenso wie sein amerikanisches Pendant eine Palette von Instrumenten umfassen, die sowohl das öffentliche Auftragswesen als auch die Finanzierung betreffen. Der EWSA schlägt einen ehrgeizigen europäischen Small Business Act vor (26).

5.5.4   Für eine Politik der Berufsbildung, Forschung, Entwicklung und Innovation

5.5.4.1   Zu diesem Thema ließen sich mehrere Stellungnahmen des Ausschusses heranziehen (27), in denen dieser im Wesentlichen stets darauf hingewiesen hat, dass Forschung und Entwicklung (FuE) und Innovation die zentralen Bereiche sind, die - entsprechend der Bedeutung sowie der finanziellen Mitteln, die Europa ihnen gewährt - über die Stellung Europas in der Welt von morgen entscheiden werden.

5.5.4.2   Die EU und die Mitgliedstaaten müssen auch in dieser haushaltspolitisch schwierigen Zeit weiter in Bildung, Forschung, Entwicklung und Innovation investieren. Diese Investitionen sollten nicht nur von Einschnitten in den Haushalt ausgenommen, sondern noch weiter ausgebaut werden (28). Ohne diese Maßnahmen wäre ein Absinken des Wohlstands in der EU unausweichlich die Folge, was gleichbedeutend wäre mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und der Verschlechterung der Lebensqualität ihrer Bürger.

5.5.4.3   Seitens der Europäischen Union sollte darauf hingewirkt werden, dass das Steuerrecht besser auf das Ziel ausgerichtet wird, Anreize für stärkere Investitionen der Industrie in Forschung und Entwicklung zu schaffen (29). Eine solche Anpassung sollte insbesondere die Unterstützung für die Entwicklung von KMU mit FuE-Schwerpunkt in den ersten Jahren ihres Bestehens ermöglichen. Aufgrund der strategischen Rolle der KMU für die Wirtschaft der Europäischen Union empfiehlt der EWSA, dass jeder Mitgliedstaat eine optimale Vielfalt möglicher steuerlicher Anreize nutzt, durch die Fortbestand und Wachstum von KMU in der jeweiligen Volkswirtschaft erleichtert werden (30). Zugleich wäre es zweckmäßig, gemeinsame Vorhaben von Forschungseinrichtungen mit KMU zu fördern und auszubauen, etwa unter der Schirmherrschaft öffentlicher Forschungsagenturen (einzelstaatliche oder europäische Ebene), um die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Akteuren zu unterstützen.

5.5.4.4   Im Hinblick auf eine effiziente FuE muss für Forscher und Innovatoren die Arbeit und Kooperation in der gesamten EU ebenso leicht werden wie innerhalb eines Landes. Hierzu müssen im Rahmen des innerhalb von vier Jahren zu verwirklichenden „Europäischen Forschungsraums“ (31) die notwendigen Strukturen für einen wirklich freien Austausch von Wissen geschaffen werden, mit dem die EU zu einem echten Mehrwert für die nationalen Forschungsbereiche beiträgt.

5.5.4.5   Ferner müssen zahlreiche Hindernisse reduziert oder sogar beseitigt werden: der Zugang zur Finanzierung muss insbesondere für die KMU verbessert werden, der Erwerb von Rechten an geistigem Eigentum muss erschwinglich sein, die Ziele müssen ehrgeiziger und die beträchtlichen Mittel für öffentliche Aufträge strategisch genutzt werden. Die Frage, die zurzeit am allermeisten drängt, ist die einer Einigung über ein EU-Patent. Eine verstärkte Zusammenarbeit in dieser Frage könnte als Übergangslösung in Betracht gezogen werden.

5.5.4.6   Im Rahmen der Lissabon-Strategie war festgelegt worden, dass die EU für Forschung und Entwicklung 3 % ihres BIP aufwenden sollte, wovon zwei Drittel aus der Privatwirtschaft fließen sollten. Hiervon ist die EU weit entfernt. Die Verwirklichung dieses Ziels ist jedoch von entscheidender Bedeutung, da hierdurch bis 2020 3,7 Mio. Arbeitsplätze geschaffen werden könnten und das jährliche BIP bis 2027 um nahezu 800 Mrd. Euro gesteigert werden könnte (32). Die Verwirklichung dieses Ziels muss mehr denn je vorrangige Bedeutung für die EU haben.

5.5.4.7   Eine in mehreren europäischen Ländern sehr positive Initiative war schließlich die Schaffung von Wettbewerbspolen. Im Hinblick darauf, diese weiter auszubauen, ihnen mehr Mittel an die Hand zu geben und die Zahl der Aufträge zu steigern, ist die Einrichtung eines europäischen Netzwerkes wahrscheinlich die beste Lösung, um das Verhältnis zwischen Forschung und Innovation zu verbessern, da in die Verwaltung der Wettbewerbspole alle Akteure einbezogen sind.

6.   Die Zivilgesellschaft

6.1   Aufgrund der zahlreichen Folgen, die die Haushaltskonsolidierung und die Suche nach Wachstumsmöglichkeiten für den Alltag der Bürger nach sich ziehen, müssen der soziale Dialog und der Dialog mit der Zivilgesellschaft, sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten als auch auf der Ebene der Europäischen Union vorbildlich sein.

6.2   Die Zivilgesellschaft, insbesondere die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbaren Einrichtungen, muss konsultiert werden und sich im Vorfeld der Entscheidungen einschalten. Eine starke Sozialpartnerschaft ist notwendig, da bei einem so sensiblen Thema keine mittel- und langfristig tragfähigen und positiven Entscheidungen getroffen werden können, ohne dass die Bürger die entsprechenden Reformen mittragen.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe die Stellungnahmen des EWSA „Die Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Realwirtschaft“, ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 10 und „Neubelebung der Wirtschaft: aktueller Stand und konkrete Initiativen“, ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 57.

(2)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Die Lissabon-Strategie nach 2010“, ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 3.

(3)  Siehe Ziffer 5.5.1.

(4)  Siehe Schreiben des Präsidenten des EWSA an den Präsidenten der Europäischen Kommission vom 31.3.2010.

(5)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ratingagenturen“, ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 117, Absatz 1.1.

(6)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ratingagenturen“, ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 37, Ziffer 1.4.

(7)  Ebenda, Fußnote 2.

(8)  Verordnung 904/2010 des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (Neufassung), ABl. L 268 vom 12.10.2010, S. 1.

(9)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (Neufassung)“ABl. C 347 vom 18.12.2010, S. 74, Ziffer 1.10.

(10)  Ebenda, Fußnote 2.

(11)  Ebenda, Fußnote 4.

(12)  Mitteilung der Kommission „Überprüfung des EU-Haushalts“, KOM(2010) 700 endg. vom 19.10.2010.

(13)  Siehe KOM(2010) 549 endg.: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - „Besteuerung des Finanzsektors“.

(14)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum „Bericht der de-Larosière-Gruppe“, ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 57.

(15)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Steuer auf Finanztransaktionen“, ABl. C 44 vom 11.02.2011, S. 81, Zusammenfassung und Schlussfolgerungen, Ziffer 1.10.

(16)  Dieser Vorschlag geht auf den Internationalen Währungsfonds zurück.

(17)  Siehe die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25./26. März 2010 und vom 17. Juni 2010.

(18)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Förderung nachhaltiger grüner Arbeitsplätze für das Energie- und Klimapaket der EU“, ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 110.

(19)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Biowissenschaften und Biotechnologie: eine Strategie für Europa. Fortschrittsbericht und künftige Ausrichtung“, ABl. C 234 vom 30.9.2003, S. 13.

(20)  Siehe Stellungnahme des EWSA zu der „Mitteilung der Kommission: Eine strategische Vision für Biowissenschaften und Biotechnologie - Konsultationspapier“, ABl. C 94 vom 18.4.2002, S. 23.

(21)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Nanowissenschaften und Nanotechnologien: Ein Aktionsplan für Europa 2005-2009“, ABl. C 185 vom 8.8.2006, S. 1.

(22)  Siehe Ziffer 5.4.

(23)  Siehe Ziffer 4.2.3.

(24)  Ebenda Fußnote 19.

(25)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Jahreswachstumsbericht: Gesamtkonzept der EU zur Krisenbewältigung nimmt weiter Gestalt an“, ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 26, Ziffer 4.2.

(26)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Vorfahrt für KMU in Europa - Der ‚Small Business Act‘ für Europa“, ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 30.

(27)  Siehe dazu die Stellungnahmen zum 7. Forschungsrahmenprogramm und insbesondere die Stellungnahme „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Rahmenprogramms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (2007-2013)“, ABl. C 65 vom 17.3.2006, S. 22.

(28)  „Leitinitiative der Strategie Europa 2020 - Innovationsunion“, KOM(2010) 546 endg. vom 6.10.2010.

(29)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Wege zu einer wirksameren steuerlichen Förderung von FuE“, ABl. C 10 vom 15.1.2008, S. 83.

(30)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Das Potenzial Europas für Forschung, Entwicklung und Innovation freisetzen und stärken“, ABl. C 325 vom 30.12.2006, S. 16, Ziffer 3.5.

(31)  Siehe die Stellungnahmen des EWSA „Forscher im europäischen Forschungsraum: ein Beruf, vielfältige Karrieremöglichkeiten“, ABl. C 110 vom 30.4.2004, S. 3 und „Grünbuch - Der Europäische Forschungsraum: Neue Perspektiven“, ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 1.

(32)  Siehe P. Zagamé, The Cost of a non-innovative Europe (2010).


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/16


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung und Integration der Roma in Europa“ (Sondierungsstellungnahme)

2011/C 248/03

Berichterstatter: Ákos TOPOLÁNSZKY

Mit Schreiben vom 15. November 2010 ersuchte Botschafter Péter GYÖRKÖS den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss im Namen des ungarischen Ratsvorsitzes und gemäß Artikel 304 AEUV um eine Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema:

Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung und Integration der Roma in Europa

(Sondierungsstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 27. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 16. Juni) mit 138 gegen 3 Stimmen ohne Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

DER EUROPÄISCHE WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

1.1   begrüßt und anerkennt nachdrücklich alle Anstrengungen, die die Europäische Union bisher unternommen hat, um die Segregation der Roma (1) zu vermindern und ihre soziale Integration zu fördern, und zwar durch die von den EU-Institutionen erarbeiteten Entschließungen und Rechtsakte, die Schaffung von Kooperationsstrukturen und die Bereitstellung der Strukturfonds und anderer Finanzierungsinstrumente;

1.2   weist gleichzeitig darauf hin, dass mit all diesen Anstrengungen insgesamt weder die Diskriminierung, die viele Roma erleiden, entscheidend verringert noch ihre Lebensqualität und ihre Lebenschancen verbessert werden konnten und dass sich ihre Situation in mehrerer Hinsicht sogar weiter verschlechtert hat;

1.3   unterstreicht, dass diese problematische Situation nur durch eine integrierte, koordinierte und kohärente europaweite Strategie sowie ein entschlossenes, systematisches und alle Politikbereiche abdeckendes Aktionsprogramm auf nationaler Ebene verändert werden kann, sodass den betroffenen Personen und ihren Gemeinschaften die Befugnisse und die Entscheidungsgewalt verliehen werden, die sie benötigen, um ihr Schicksal selbst zu bestimmen (empowerment). Dieses Aktionsprogramm muss auf Ebene der lokalen Gebietskörperschaften in die Praxis umgesetzt werden können (Subsidiarität);

1.4   begrüßt daher die Vorschläge in der Mitteilung der Europäischen Kommission (2) zu einem EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 und legt großes Gewicht auf deren einheitliche Umsetzung auf nationaler und EU-Ebene. Der EWSA möchte sich als engagierter Partner in diesen Prozess einbringen;

1.5   ist dennoch der Auffassung, dass diese seit langem erwartete Strategie nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt: sie könnte ehrgeiziger, konkreter und besser strukturiert sein;

1.6   vertritt die Auffassung, dass den Mitgliedstaaten die folgenden drei - koordiniert umzusetzenden - Säulen einer realistischen und praktikablen Politik zur Eingliederung der Roma vorgeschlagen werden könnten, die die Natur der Probleme und die strategischen Schwerpunkte bei ihrer Lösung auf gezielte, aber nicht exklusive Weise widerspiegelt:

a)

eine in Bezug auf Rasse und Ethnie neutrale Integrationspolitik, die zur Beseitigung der Konzentration sozialer Probleme und zur Verringerung extremer Armut und Not beiträgt;

b)

eine Politik zur Stärkung der Handlungskompetenz derjenigen, die sich selbst als Mitglied einer Roma-Gemeinschaft betrachten, und zur Würdigung der sozialen Eingliederung, die sie erreicht haben;

c)

allgemeine Maßnahmen und Öffentlichkeitsarbeit zur Bekämpfung von Rassismus;

1.7   betont die Notwendigkeit der Mitwirkung von lokalen Vertretern der Zivilgesellschaft, wissenschaftlichen Fachleuten und der Sozialpartner an der Konsultation zur Integrationspolitik sowie an der Formulierung und Umsetzung dieser Politik, und hebt hervor, dass es unerlässlich ist, Vertreter und Mitglieder der Roma-Bevölkerung und der Roma-Gemeinschaften aktiv und auf allen Ebenen (EU, national, regional und lokal) in die Planung und Umsetzung einzubeziehen - ganz im Sinne der vorliegenden Kommissionsmitteilung;

1.8   unterstreicht die Notwendigkeit einer konsequenten Vertretung des öffentlichen Interesses und fordert daher eine systematische Planung und Umsetzung sowie eine politische Koordinierung. Der EWSA unterstreicht auch die Bedeutung einer lokalen Politikgestaltung und differenzierter, am wirklichen Bedarf orientierter Ansätze sowie einer Bestandsaufnahme der tatsächlichen Situation und einer konsequenten, permanenten und systematischen Evaluierung;

1.9   macht den Rat darauf aufmerksam, dass eine Lösung gefunden werden muss, um jenen Roma, die aus irgendeinem Grund keinen Nachweis ihrer Staatsangehörigkeit mehr besitzen, dieses Dokument zurückzugeben und ihnen damit einen diskriminierungsfreien Zugang zur Unionsbürgerschaft zu garantieren, und dass diese Ungerechtigkeit solange oben auf der Tagesordnung stehen muss, bis eine solche Lösung gefunden wurde.

2.   Einleitung

DER EUROPÄISCHE WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

2.1   stimmt der Lagebeurteilung im Bericht der Europäischen Kommission über „Roma in Europa“ (3) und den Vorschlägen in der Mitteilung über die „Soziale und wirtschaftliche Integration der Roma“ (4) zu;

2.2   unterstützt die Stellungnahme des Ausschusses der Regionen zum Thema „Die soziale und wirtschaftliche Integration der Roma in Europa“ (5), in der die Anerkennung und Förderung der strategischen Rolle lokaler Gebietskörperschaften und Gemeinschaften bei der Durchführung integrierter regionaler Maßnahmen gefordert wird;

2.3   wiederholt den Vorschlag aus seiner Sondierungsstellungnahme zum Thema „Integration von Minderheiten – Roma“ (6) und insbesondere den Vorschlag zur Erweiterung der Nutzung bereits bestehender Prozesse der offenen Methode der Koordinierung. Der EWSA bekräftigt ferner das in seiner Entschließung zum Thema „Die Lage der Roma in der Europäischen Union“ (7) geäußerte Engagement für den Schutz der Grundrechte aller Europäer und die Bekämpfung von Diskriminierung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in allen Ländern;

2.4   bekräftigt die in seiner Stellungnahme zum Thema „Integration und Sozialagenda“ aufgestellte Forderung, dass die Bekämpfung der Diskriminierung intensiviert werden muss, indem die bestehenden Rechtsinstrumente umgesetzt und öffentliche Maßnahmen und soziale Anstrengungen zur Integration gestärkt werden (8);

2.5   schließt sich voll und ganz der Lagebeurteilung und den Vorschlägen im Bericht des Europäischen Parlaments über eine „Strategie der EU zur Integration der Roma“ (9) an;

2.6   akzeptiert und teilt rückhaltlos die Wertprinzipien der Nichtdiskriminierung und der Eingliederung ausgegrenzter Personen, die in der Lissabon-Strategie und der EU-Charta der Grundrechte verankert sind;

2.7   unterstützt die zehn Gemeinsamen Grundprinzipien, die im Zuge der Zusammenarbeit in der „integrierten Europäischen Plattform für die Einbeziehung der Roma“ aufgestellt wurden und bereits breite Akzeptanz gefunden haben, und verweist auf die Notwendigkeit, diese Prinzipien nicht zuletzt auch auf nationaler Ebene anzuwenden (10);

2.8   begrüßt ausdrücklich, dass die Strukturfonds und andere nationale, regionale und lokale Finanzierungsinstrumente (11) für die Unterstützung von Maßnahmen zur Integration der Roma zur Verfügung gestellt werden, und empfiehlt, im Interesse einer besseren gesellschaftlichen Stellung der Roma die Finanzierung dieser Maßnahmen zu gewährleisten, und zwar im Rahmen angepasster Verfahren und einer angemessenen technischen Unterstützung unter Berücksichtigung der Komplexität dieses Phänomens, z.B. in Bezug auf den Zugang zu Gesundheitsversorgung, Berufsausbildung, Beschäftigung und Wohnraum;

2.9   begrüßt die Vorschläge, die die Europäische Kommission in der Mitteilung zu einem „EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020“ unterbreitet hat, und misst ihrer einheitlichen Umsetzung auf nationaler und EU-Ebene große Bedeutung bei. Der EWSA möchte sich als engagierter Partner in diesen Prozess einbringen;

2.10   ist dennoch der Ansicht, dass dieses schon seit langem erwartete Dokument die damit verbundenen Erwartungen nicht vollständig erfüllt hat. Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die verschiedenen Zielsetzungen klarer definiert und die anstehenden Aufgaben besser herausgestellt werden müssen, und verweist auf die Bedeutung einer offenen, europaweiten gesellschaftlichen Debatte zu dieser Frage. Der EWSA unterstreicht, dass Bewertungsmechanismen und Leistungsindikatoren eine unterlässliche Erfolgsvoraussetzung sind. Daher misst er den Schlussfolgerungen des Rates, die im Mai angenommen wurden und deren Billigung durch den Europäischen Rat im Juni erwartet wird, in sozialer wie auch in praktischer Hinsicht besondere Bedeutung bei;

2.11   weist darauf hin, dass die Ausgrenzung und Diskriminierung der Roma erhebliche soziale Kosten verursacht und staatliche Ausgaben erfordert, während die Integration eindeutig wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt (12);

2.12   unterstützt - auch durch eigene Mitarbeit - das EU-Roma-Netz, das Jahrzehnt der Roma-Integration, den Europäischen Gipfel zur Integration der Roma, den Gleichstellungsgipfel, die Integrierte Europäische Plattform für die Einbeziehung der Roma, die Europäische Plattform zur Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung und zahlreiche andere Kooperationsformen, wobei er die Werte der Zivilgesellschaft im weitesten Sinne vertritt;

2.13   betont, dass die Europäische Union und ihre Institutionen bereits erhebliche Bemühungen im Bereich der Regelung, Anleitung und Finanzierung unternommen haben, um die Konzipierung, Verabschiedung und Umsetzung von Eingliederungsmaßnahmen für die Roma zu fördern;

2.14   stellt zugleich mit Besorgnis fest, dass diese kombinierten Bemühungen nicht maßgeblich dazu beigetragen haben, die von vielen Roma erlittene Diskriminierung zu beseitigen oder ihre Lebensqualität bzw. ihre Chancen zu verbessern - in einigen Bereichen hat sich ihre Lage sogar noch verschlechtert. Obwohl die Roma zum überwiegenden Teil EU-Bürger sind und damit dieselben Rechte und Pflichten haben wie jeder andere Bürger eines Mitgliedstaats, muss eingeräumt werden, dass sie nach wie vor einer ständigen gravierenden Diskriminierung ausgesetzt sind, sei es auf dem Arbeitsmarkt, in den Bereichen Bildung, Wohnung und Gesundheit, beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen oder bei der Freizügigkeit;

2.15   ist sich der Tatsache bewusst, dass sich die Lebenssituationen der einzelnen Roma-Gruppen sehr stark unterscheiden: Während viele von ihnen in ihren Wohngemeinden - ob in der Stadt oder auf dem Lande - sehr gut integriert sind, leben andere in Armut und äußerster Not und sind Opfer einer permanenten Ausgrenzung. Ein kleiner Teil hat hingegen eine typische nomadische Lebensweise, die vom jeweiligen Umfeld nicht gutgeheißen wird;

2.16   vertritt die Auffassung, dass es auf die Stärkung der Handlungskompetenz der Menschen ankommt, die in Armut leben und Diskriminierung erfahren. Echte Selbstbestimmung setzt Wahlfreiheit voraus. Ein entscheidender Faktor bei der Umsetzung von Integrationsmaßnahmen besteht generell darin, dass die Betroffenen über die nötige Kraft und die nötigen Instrumente und Entscheidungskompetenzen verfügen, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Deshalb muss die gesamte Politik einschließlich der einzelnen Maßnahmebereiche darauf ausgerichtet sein, den Betroffenen bei der Entwicklung der Fähigkeit zu helfen, ihr Leben unter Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze eigenständig zu gestalten;

2.17   ist der festen Überzeugung, dass die Roma keine Sonderrechte erhalten sollten, jedoch ihre Unionsbürgerschaft uneingeschränkt geachtet werden muss und dass ihnen alle grundlegenden EU-Rechte sowie sämtliche Bürgerrechte gewährt werden müssen, wobei sicherzustellen ist, dass diese Rechte geachtet werden und jede Missachtung bestraft wird, vor allem wenn es sich um unfaire und diskriminierende Verhaltensweisen von Mitarbeitern der Strafverfolgungsbehörden handelt;

2.18   weist darauf hin, dass innerhalb der Gruppe der Roma Frauen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen besonders stark von Ausgrenzung betroffen sind und dass die soziale und wirtschaftliche Krise diese negativen Erscheinungen zwangsläufig verstärkt;

2.19   ist überzeugt, dass diese Probleme nur durch ein integriertes, abgestimmtes und in sich schlüssiges strategisches Programm und eine konsequente, systematische Herangehensweise in allen Politikbereichen gelöst werden können. Der EWSA ist darüber erfreut, dass die EU-Organe und -Einrichtungen (nicht zuletzt der EWSA) gemeinsam mit der ungarischen Regierung, die momentan den Ratsvorsitz innehat, an der Schaffung der Voraussetzungen für die Bewältigung dieser Problematik arbeiten, und empfiehlt, während der polnischen Ratspräsidentschaft eine Ministerkonferenz zur Erörterung der gesammelten Erfahrungen und erzielten Ergebnisse abzuhalten.

3.   Politische Empfehlungen  (13)

DER EUROPÄISCHE WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

3.1   stellt fest, dass der traditionelle Ansatz für die Definition der Zielgruppe der Roma darauf beruht, welche Vorstellungen die Bevölkerungsmehrheit von den Roma haben. Ein solcher Ansatz kann zwar beispielsweise aus Sicht der Forschung nützlich sein und eine effektive Beurteilung der Natur der sozialen Ausgrenzung ermöglichen, doch jede Methode, bei der die Roma anhand äußerer rassischer Merkmale identifiziert werden, ist nicht nur sinnlos und politisch untragbar, sondern verstößt auch gegen grundlegende Menschenrechte, insbesondere gegen das Recht auf Bestimmung der eigenen Identität;

3.2   empfiehlt, dass die Mitgliedstaaten entgegen dem traditionellen Ansatz die grundlegenden Wertprinzipien des angenommenen strategischen Rahmens achten und zugleich den „gezielten, aber nicht exklusiven“ Ansatz verfolgen, der zu den zehn Grundprinzipien der Plattform für die Einbeziehung der Roma zählt. Ausgehend von den vier Maßnahmebereichen, die in der Mitteilung der Kommission genannt werden (Bildung, Beschäftigung, Gesundheit, Wohnen), sollten sie drei strategische Aspekte berücksichtigen, die den Charakter der Probleme und die Handlungsoptionen verdeutlichen und zusammen die drei Säulen einer realistischen, praktikablen Politik zur Integration der Roma bilden:

a)

eine in Bezug auf Rasse und Ethnie neutrale Integrationspolitik, die zur Beseitigung der Konzentration sozialer Probleme und zur Verringerung extremer Armut und Not beiträgt;

b)

eine Politik zur Stärkung der Handlungskompetenz derjenigen, die sich selbst als Mitglied einer Roma-Gemeinschaft betrachten, und zur Würdigung der sozialen Eingliederung, die sie erreicht haben;

c)

allgemeine Maßnahmen und Öffentlichkeitsarbeit zur Bekämpfung von Rassismus.

3.3   Eine in Bezug auf Rasse und Ethnie neutrale Integrationspolitik - allgemeiner Zugang, Beseitigung der Konzentration sozialer Probleme und Verringerung extremer Armut und Not:

3.3.1

Eine diskriminierungsfreie Integrationspolitik darf sich nicht auf ethnische oder rassische Merkmale konzentrieren, sondern muss Probleme der sozialen Ausgrenzung ungeachtet rassischer Gesichtspunkte bekämpfen, so z.B. die Probleme in den Bereichen Bildung, Beschäftigung (einschließlich unterschiedlicher Arten von Beschäftigung wie Existenzgründung, selbstständige Erwerbstätigkeit usw.), Gesundheit und Wohnen, die in der Mitteilung der Kommission genannt werden. Sie muss die geografische Konzentration sozioökonomischer Nachteile unabhängig von der (ethnischen oder sonstigen) Zusammensetzung der ausgegrenzten Personengruppe berücksichtigen und im Sinne der Europa-2020-Strategie der Lösung zweier spezifischer Probleme Vorrang einräumen.

3.3.2

Der erste dieser Prioritäten ist die einheitliche Anwendung des Kriteriums „uneingeschränkter Zugang“. Darunter ist nicht nur die Beseitigung rechtlicher Diskriminierung zu verstehen, sondern „uneingeschränkter Zugang“ heißt auch: Schaffung der Voraussetzungen für physische Erreichbarkeit und Nutzbarkeit, Anpassung an bestehende Bedürfnisse, Erschwinglichkeit und eine den Standards entsprechende Qualität. Neben der Ausräumung rechtlicher Hindernisse geht es darum, öffentliche Dienstleistungen näher an Wohngebiete mit einer hohen Konzentration von Roma-Angehörigen zu bringen und die Verkehrsverbindungen zu den Institutionen und Dienstleistungseinrichtungen auszubauen, zu deren Inanspruchnahme sie aufgrund ihrer Lebensumstände berechtigt sind.

3.3.3

Eine Konzentration von Ausgrenzung kann vor allem in zweierlei Hinsicht auftreten: 1) in bestimmten geografischen Gebieten und Wohngebieten, und 2) bei bestimmten Einrichtungen, wenn es die betreffenden Dienstleistungsanbieter (darunter auch öffentliche Dienstleister) mit sozial ausgegrenzten Klienten zu tun haben (institutionelle Segregation).

3.3.4

Die Konzentration von Ausgrenzung kann verringert werden, indem erstens eine gezielte Verbesserung der Bedingungen in den jeweiligen Einrichtungen bzw. in den ärmsten und unzulänglichsten Wohngebieten erfolgt, und indem zweitens Reformen zur Förderung der institutionellen Integration und zur Förderung menschlicher Begegnungen und Interaktionen durchgeführt werden, um der Isolierung entgegenzuwirken.

3.3.5

Uneingeschränkter Zugang ist ein zentraler Aspekt der grundlegenden Zielsetzungen der Lissabon-Strategie; daher haben Maßnahmen, die den Arbeitsmarkt oder andere soziale Bereiche wie Mobilitätsförderung und Bildung betreffen, auch weiterhin Priorität. Die Strategiedokumente der letzten Jahre lassen eine erneute stärkere Hinwendung zur Gesundheitspolitik (insbesondere öffentliche Gesundheit) sowie zur Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik erkennen - mit einem Schwerpunkt auf der Abschaffung von isolierten Wohngebieten, Lagern und sonstigen segregationsfördernden Einrichtungen sowie auf der Entwicklung von lokalen Wirtschaftsinitiativen, gemeindenahen Initiativen, kleinste (selbstständige Erwerbstätigkeit), kleine und mittlere Unternehmen sowie öffentlich oder privat (d.h. von Nichtregierungsorganisationen) erbrachten kommunalen Dienstleistungen. Sehr wichtig ist auch die Abstimmung zwischen den Strategien zur Bekämpfung der Kinderarmut und denen zur Integration der Roma (Unterstützung von Müttern beim Zugang zur Beschäftigung durch Stärkung der kommunalen Verantwortung für die Kindererziehung; Gewährleistung eines umfassenderen Zugangs zu Vorschuleinrichtungen und Einrichtungen für frühkindliches Lernen, unter Berücksichtigung der erforderlichen Zuschüsse und Anreize für die Aus- und Weiterbildung von Kindern, deren Eltern in Armut leben).

3.4   Eine Politik zur Stärkung der Handlungskompetenz derjenigen, die sich selbst als Mitglied einer Roma-Gemeinschaft betrachten, und zur Würdigung der sozialen Eingliederung, die sie erreicht haben:

3.4.1

Es muss unbedingt sichergestellt werden, dass diejenigen, die sich durch ihre Identität miteinander verbunden sehen, auf eigene Initiative, gemeinsam mit Gleichgestellten und als Gemeinschaft ihren eigenen Weg wählen und die Sprache, die Kultur und das Brauchtum bewahren können, die die Grundlage ihrer Identität bilden. Daher muss die nationale Roma-Integrationsstrategie den Weg dafür ebnen, dass diejenigen, die für sich die Roma-Identität in Anspruch nehmen, ihre eigenen Gemeinschaften, öffentlichen Foren (Medien) und Organisationen gründen sowie deren Funktionieren gewährleisten können; dies gilt auch für jede andere Minderheit, die sozial ausgegrenzt wird. Ebenso wichtig ist, dass die staatlichen und nichtstaatlichen Roma-Organisationen dieselben Entfaltungsmöglichkeiten haben wie die Organisationen anderer ethnischer Minderheiten und dass sie gegebenenfalls (unter Berücksichtigung ihrer zahlenmäßigen Stärke) dieselbe Unterstützung wie andere ethnische Minderheiten erhalten.

3.4.2

Dies kann nur geschehen, wenn ein kulturelles Miteinander, eine lebendige wechselseitige Interaktion und Kommunikation und die Integration - in grundsätzlicher und theoretischer Hinsicht sowie im Hinblick auf eine gute gemeinschaftliche und institutionelle Praxis in Europa - reale Handlungsgrundlagen und Teil des täglichen Lebens werden.

3.4.3

Bei diesen Fördermaßnahmen geht es im Grunde darum, die Angehörigen einer Minderheit in die Lage zu versetzen, sich Gehör zu verschaffen und ihre Interessen zu vertreten. Wir müssen Instrumente und Konzepte fördern, die ihnen helfen, ihre sozialen Benachteiligungen klar herauszustellen und sie auf politischer Ebene zu bekämpfen.

3.4.4

Die Empowerment-Strategien sollten Maßnahmen zur Förderung der Arbeitsmarktintegration von Roma beinhalten; dazu gehört auch, dass hochrangige Positionen in der Wirtschaft, der öffentlichen Verwaltung, der Politik, den Medien, der Wissenschaft und der Kunstszene mit Roma besetzt werden und Roma Unterstützung bei der Gründung mittelständischer Unternehmen erhalten.

3.5   Antirassismuspolitik

3.5.1   Zielgruppe einer Antirassismus-Strategie ist stets die Gesellschaft insgesamt; die politische Dimension einer solchen Strategie ist geprägt von der Überzeugung, dass die gesellschaftliche Stellung eines Menschen in einer dynamischen, gerechten und humanen Welt von seinen Kompetenzen und Talenten abhängig sein sollte und nicht von durch die Geburt bestimmten Vor- oder Nachteilen, die über seine Lebenschancen entscheiden. Ein Mensch sollte auch nicht die negativen Konsequenzen der Ausgrenzung erleiden müssen. Vererbte, unabänderliche Merkmale wie Geschlecht, Herkunft und Religion dürfen keinen Anlass zu Diskriminierung geben. Die Antidiskriminierungsvorschriften bieten ein äußerst starkes Instrumentarium für die praktische Durchsetzung dieser Prinzipien. Daher wäre es der Sache äußerst dienlich, wenn diese EU-Vorschriften auf nationaler Ebene in den verschiedenen Maßnahmebereichen und Regulierungssystemen vollständig umgesetzt würden. Derartige Bestimmungen sind nicht nur wegen der in Aussicht gestellten Strafen und ihres abschreckenden Charakters wirksam, sondern auch deshalb, weil die gesetzestreuen Bürger, die in einer demokratischen Gesellschaft in der Mehrheit sind, sich an Buchstaben und Geist des Gesetzes halten.

3.5.2   Da es schwieriger ist, Menschen mit Vernunftsargumenten von ihren Vorurteilen und von rassistischen Überzeugungen abzubringen, zielen Maßnahmen zur Rassismusbekämpfung größtenteils auf die Förderung von Verhaltensmodellen und Kommunikationsmustern ab, die ein positives Bild von gewaltfreier Kommunikation, Zusammenarbeit und Problemlösung vermitteln; zugleich werden aggressive und rassistische Verhaltensweisen, die auf Vorurteilen und Hass beruhen, an den Pranger gestellt. In dieser Hinsicht tragen die Meinungsbildner und insbesondere die führenden Politiker und Medienvertreter besondere Verantwortung.

3.6   Stärkung des „evidenzbasierten“ Charakters der Strategie

3.6.1   Während der vergangenen zwei Jahre ist es der EU in verschiedenen Politikbereichen deutlich besser gelungen, eine objektive Bewertung der sozialen Ausgrenzung und deren Bekämpfung vorzunehmen und die Ergebnisse dieser Bewertung in die Sozialpolitik einfließen zu lassen. Die Verfügbarkeit von Daten ist eine wesentliche Voraussetzung für die Anwendung und Beurteilung geeigneter politischer Maßnahmen. Trotz aller bisherigen Bemühungen jedoch gibt es noch nicht viel Datenmaterial, sei es zur Gesamtbevölkerung oder zu den Zielgruppen. In Anbetracht der Ziele der Strategie sind Fortschritte in den folgenden Bereichen vonnöten:

3.6.2   „In Bezug auf Rasse und Ethnie neutrale Integrationspolitik“: Bei der weiteren Entwicklung von Methoden zur Bewertung verschiedener Formen von Armut und Not kommt es darauf an, das Ausmaß der Konzentration der Ausgrenzung genau zu erfassen und die Auswirkungen der auf der Grundlage der relevanten Politiken getroffenen Maßnahmen aufzuzeigen. Der EWSA empfiehlt, dass Eurostat und die Statistikbehörden der Mitgliedstaaten Indikatoren für extreme Armut und Ausgrenzung zu ihren Ausgrenzungsindikatoren hinzufügen und eine Methode zur statistischen Quantifizierung und Verarbeitung entwickeln, um extreme Armut und Not messen zu können.

3.6.3   Auf dieser Grundlage sollten die Mitgliedstaaten in ihren Strategien die Areale (Stadtbezirke, Elendsviertel, Innenstadtgebiete, Lager, isolierte Bezirke, ländliche Siedlungen usw.) bestimmen, die als bewohnte Gebiete eine besonders hohe Konzentration an Ausgrenzung und extremer Ausgrenzung aufweisen, unabhängig davon, ob es sich dabei nach Ansicht der Öffentlichkeit um von Roma bevölkerte Gebieten handelt. Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten die Entwicklung von Stadtplanungsstrategien, um diese Gebiete in ihrer jetzigen Form zu beseitigen bzw. bewohnbar zu machen, sowie die Einrichtung von evidenzbasierten Mechanismen zur Überwachung dieser Strategien.

3.6.4   „Stärkung der Handlungskompetenz der Roma“: Erschwernisse und Benachteiligungen können nur ermittelt werden, wenn diejenigen, die für sich eine ethnische Identität in Anspruch nehmen, darum ersuchen, als Angehörige der jeweiligen Minderheit in öffentliche Register aufgenommen zu werden. Wird jedoch kein solches Ersuchen gestellt, ist jeglicher Verweis auf die Rasse aufgrund von Rassenmerkmalen in den nationalen Registern kategorisch und rigoros zu verbieten. Da die Daten zu ethnischen Minderheiten besonders sensibel sind, ist für personenbezogene Daten unter Verwendung aller möglichen Mittel ein maximaler Schutz zu gewährleisten, während gleichzeitig aggregierte Daten über Minderheiten möglichst umfassend bekanntzumachen sind.

3.6.5   Neben der Verringerung der Ausgrenzung und der Armut und der Abschwächung ihrer extremsten Formen schlägt der EWSA vor, zur Entwicklung der Roma-Gemeinschaft Sprach-, Kultur-, Bildungs- und Gemeinschaftsprogramme zu unterstützen, die die Roma auch wirklich erreichen.

3.6.6   „Antirassismuspolitik“: Es sollte künftig möglich sein, ausgehend von Untersuchungen sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene zu beobachten, wie sich die den Roma entgegengebrachten Vorurteile, deren Vorkommen in verschiedenen sozialen Gruppen und die Auswirkungen politischer Maßnahmen auf die Entwicklung von ethnischen Vorurteilen und Rassismus verändern. Erforderlich sind Kampagnen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit, um die in der Bevölkerung anzutreffenden Ausgrenzungsbestrebungen und rassistischen Vorurteile zu bekämpfen. Dabei ist eine regelmäßige Überwachung sicherzustellen.

3.6.7   Der Ausschuss empfiehlt nachdrücklich, nicht nur die Tendenzen bei Vorurteilen und Rassismus zu verfolgen, sondern auch die positiven Auswirkungen und gesellschaftlichen Vorteile von öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Initiativen sowie bewährte Verfahren, deren Ziel es ist, die Vorurteile gegenüber den Roma und die Roma-Feindlichkeit abzubauen und die interkulturelle Teilhabe und Integration zu verbessern.

3.7   Aspekte von allgemeinem Interesse bei der Umsetzung auf einzelstaatlicher Ebene

3.7.1   Komplexität: Der EWSA weist darauf hin, dass in einer Vielzahl von Bereichen gezielt Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die positive Rolle der Roma in der Gesellschaft zu stärken, ihre Lebensbedingungen zu verbessern und ihre Integration zu fördern, und dass diese Maßnahmen zu einer systematischen Politik weiterentwickelt werden müssen. Zu diesem Zweck ist es notwendig, erstens Elemente verschiedener Politikbereiche miteinander zu verzahnen, zweitens sektorübergreifende und durch gute Verwaltung geprägte Beziehungen herzustellen und drittens eine systematische Umsetzung auf politischer Ebene einzuleiten. Das erfordert ein einheitliches, abgestimmtes Vorgehen aller Beteiligten;

3.7.2   Alle Teile des Programms müssen in sich schlüssig (Kohärenz) und integriert (inhaltliche Kontinuität) sein. Ein dritter wichtiger Aspekt der Umsetzung sind die Planung und die Festlegung von Prioritäten (sequenzielles Vorgehen), d.h. eine Realisierung der Ziele ist nur möglich, wenn in gut geplanten Etappen vorgegangen wird und ein Schritt auf dem anderen aufbaut. Das erfordert eine reibungslos funktionierende Koordinierungsbehörde, die mit den erforderlichen Kompetenzen ausgestattet ist.

3.7.3   Planung und Durchführung der Integrationspolitik sind auf die tatsächlichen Bedürfnisse auszurichten und erfordern ein differenziertes und flexibles Herangehen, sodass spezifische lokale (regionale) Merkmale bestmöglich berücksichtigt werden können. Integrationsstrategien sollten auf der Basis der Gegenseitigkeit konzipiert und umgesetzt werden, damit Bemühungen und Einflussnahme auf beiden Seiten spürbar werden und ein Nutzen für alle Beteiligten erreicht wird.

3.7.4   Im Falle von Aufforderungen zur Interessenbekundung und EU-Finanzmitteln ist es unerlässlich, die Bedingungen für Ausschreibungen und Berichterstattung zu vereinfachen. Bei einer sorgfältig geplanten Umsetzung sollte das Hauptaugenmerk auf den Kapazitätsaufbau, eine geeignete Koordinierung und die Unterstützung eines engagierten politischen Willens gerichtet werden. Ebenso wichtig ist die Einbeziehung von Vertretern der Interessengruppen in den Planungsprozess.

3.7.5   Evidenzbasierte Umsetzung - Indikatoren: Die Wirksamkeit der politischen Maßnahmen muss klar nachprüfbar sein, d.h. sie müssen effektiv zur Realisierung der ursprünglichen Ziele beitragen. Sie dürfen keine größeren Schäden und Risiken hervorbringen als die, vor denen sie uns eigentlich schützen sollen. Auch dürfen sie nicht unnötig teuer sein. Daher wurde bislang auf bedeutende, aber unzureichende Weise daran gearbeitet, diese Politik stärker evidenzbasiert zu machen. Bei den Anstrengungen zur Integration der Roma ist es für uns besonders wichtig, dass wir nicht nur die Programme, sondern die Politik insgesamt beurteilen können. Wir müssen daher sowohl auf einzelstaatlicher als auch auf EU-Ebene eine regelmäßige Bewertung, strengere Anforderungen, die einheitliche Festlegung von sozioökonomischen und sozialen statistischen Leistungsindikatoren - immer mit Blick auf die entsprechende Zielgruppe - und die Schaffung einer auf wissenschaftlicher Grundlage arbeitenden Bewertungseinrichtung fördern. Die Bereitstellung angemessener Finanzmittel für diese Zwecke ist sicherzustellen.

3.7.6   Der EWSA unterstützt die Umsetzung des EU-Rahmens für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 und der dazu konzipierten einzelstaatlichen Maßnahmen, möchte jedoch aufgrund des ihm von der Zivilgesellschaft übertragenen Mandats und seiner inhärenten Verbindungen mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen in den Mitgliedstaaten in die Bewertung dieser Politiken einbezogen werden. Er möchte zwischen den EU-Institutionen und der organisierten Zivilgesellschaft vermittelnd tätig sein und sich aktiv an der Europäischen Plattform für die Einbeziehung der Roma und anderen Formen des strukturierten Dialogs beteiligen.

3.7.7   Teilnahme und Vertretung: Keine Integrationspolitik ist sinnvoll - sei es in der Theorie oder in der Praxis -, wenn nicht die Betroffenen eng mit einbezogen werden. Paternalistische Vorgehensweisen, die zu einer Beschränkung der Rechte führen, müssen daher vermieden werden. Vielmehr ist es angeraten, Basisorganisationen der Roma, lokale Vertreter der Zivilgesellschaft, Fachwissenschaftler und Sozialpartner so eng und vielschichtig wie möglich in die Entscheidungsfindung, Umsetzung und Überwachung einzubeziehen, wie es in der Mitteilung der Kommission und anderen relevanten Dokumenten klar zum Ausdruck gebracht wird. In den Zielbereichen kommt es insbesondere darauf an, durch entsprechende Maßnahmen zu gewährleisten, dass besonders benachteiligte Gruppen (Frauen, alleinerziehende Mütter, Menschen mit fremder Muttersprache, Menschen mit Behinderungen usw.) am politischen Leben teilnehmen können.

3.7.8   Aussagekraft, Glaubwürdigkeit und Effektivität der Politik hängen im Wesentlichen davon ab, wie eng die Hauptnutznießer daran beteiligt sind und wie sehr sie sich mit ihr identifizieren. Und aus diesem Grunde müssen wir Vertreter der Roma auf europäischer, einzelstaatlicher und natürlich lokaler Ebene an der Ausarbeitung und Umsetzung von Maßnahmen zur Förderung ihrer Integration teilhaben lassen (Integration durch Partizipation).

3.7.9   Soziale Ausgrenzung und ihre extremen Formen sind - in den einzelnen Mitgliedstaaten auf unterschiedliche Art und Weise - oftmals eng mit Verhaltensweisen, Lebensstilen und Gewohnheiten verbunden, die sich von denen der Mehrheit der Bevölkerung unterscheiden (z.B. Nichtsesshaftigkeit, spezifische Tätigkeiten wie das Sammeln und Verkaufen von Secondhandwaren oder spezifisches Handwerk). Diesen Eigenheiten sollte bei der Erarbeitung der nationalen Strategien besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Gelegentlich jedoch werden der ethnischen Gruppe regelrecht deviante und kriminelle Einstellungen zugeschrieben. Die Sicherung eines friedlichen Miteinanders von gegensätzlichen kulturellen Normen bei gleichzeitig unablässigem Bemühen, die durch die unterschiedlichen Einstellungen und Verhaltensweisen verursachten Spannungen und Gegensätze in den Grenzen der Legalität zu halten, sind Zielstellungen, die den spezifischen integrativen Charakter der nationalen Strategien und zugleich die besondere Herausforderung definieren, die sie bewältigen müssen. Zu diesem Zweck ist es wichtig, Möglichkeiten für eine offene Kommunikation sowie Verfahren zu bieten, die auch für die Hauptbetroffenen zugänglich sind und in deren Rahmen Multikulturalismus-Experten - einschließlich Menschen mit Roma-Hintergrund oder -Identität - und Sozialarbeiter sowohl in den öffentlichen Diensten als auch in den Gemeinschaftsprogrammen eine entscheidende Rolle spielen müssen (Vermittlung, Prävention, Schlichtung usw.), wie aus der Mitteilung der Kommission hervorgeht.

3.8   Zukunftsaussichten

3.8.1   Nach Auffassung des EWSA ist die EU dank der gemeinsamen Anstrengungen von EU-Institutionen, Regierungen, Mitgliedstaaten sowie lokalen Behörden und Gemeinschaften wahrscheinlich an einem historischen Wendepunkt angelangt: Sie könnte endlich eine Politik zum Wohle der am stärksten ausgegrenzten und benachteiligten ethnischen Gruppe auf dem Weg bringen, die auf einem gemeinsamen Ansatz basiert, der nicht zu einem kostspieligen Scheitern, sondern zu intelligenten und menschenwürdigen Ergebnissen führen kann. Der EWSA möchte diesen Prozess und seine Umsetzung uneingeschränkt unterstützen.

Brüssel, den 16. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Dieses Dokument beruht auf der Definition in der Stellungnahme des AdR zum Thema „Soziale und wirtschaftliche Integration der Roma in Europa“ (ABl. C 42 vom 10. Februar 2011, S. 23), wonach „(…) die in dieser Stellungnahme verwendete Bezeichnung ‚Roma‘ andere Volksgruppen einschließt, die wie die Roma am Rande der Gesellschaft leben und in Europa unter sozialer Ausgrenzung leiden (Sinti, Zigeuner, fahrendes Volk, Kalè, Camminanti, Aschkali usw.)“.

(2)  KOM(2011) 173 endg.

(3)  SEK(2010) 400 endg.

(4)  KOM(2010) 133 endg.

(5)  Stellungnahme des Ausschusses der Regionen „Soziale und wirtschaftliche Integration der Roma in Europa“ (ABl. C 42 vom 10. Februar 2011, S. 23).

(6)  ABl. C 27 vom 3. Februar 2009, S. 88-94.

(7)  ABl. C 48 vom 15. Februar 2011, S. 1.

(8)  ABl. C 347 vom 18. Dezember 2010, S. 19-27.

(9)  Europäisches Parlament, INI/2010/2276, 24. November 2010.

(10)  Dies gilt insbesondere für die Prinzipien „gezielte Strategien ohne ausschließenden Charakter“, „interkultureller Ansatz“ und „gesellschaftliche Teilhabe“.

(11)  Europäischer Sozialfonds, Europäischer Fonds für regionale Entwicklung, Instrument für Heranführungshilfe, Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums / Weltbank, Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen.

(12)  „Der überwiegenden Mehrheit der Roma im erwerbsfähigen Alter fehlt es an ausreichender Bildung, um am Arbeitsmarkt erfolgreich teilzuhaben. (…) In der Folge verlieren europäische Länder jedes Jahr Hunderte Millionen Euro an Produktivität und staatlichen Steuereinnahmen. (…) Die jährlichen Steuergewinne aus der Überbrückung der Beschäftigungslücke sind viel höher als die Gesamtkosten der Investitionen in die öffentliche Bildung für alle Roma-Kinder (…). Der Anteil der Roma an der Erwerbsbevölkerung wird zunehmen, da die Mehrheitsbevölkerungen in Ost- und Mitteleuropa rasch altern. Die gleichberechtigte Teilnahme der Roma am Arbeitsmarkt ist wesentlich, um die auf nationaler Ebene steigenden Ausgaben für Renten, Gesundheitswesen und andere aus der Bevölkerungsalterung resultierende Kosten tragen zu können.“ (Originaltext nur auf Englisch, aus: „Economic costs of Roma exclusion“, Weltbank, 2010).

(13)  In diesem Abschnitt werden Empfehlungen zu allgemeinen politischen Maßnahmen bzw. zu deren Kontext gegeben, doch kann aus Platzgründen nicht im Detail auf die jeweiligen Fragen eingegangen werden.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/22


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Auswirkungen der EU-Politik auf Beschäftigungschancen, Ausbildungsbedarf und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Verkehrsgewerbe“ (Sondierungsstellungnahme)

2011/C 248/04

Berichterstatter: André MORDANT

Die Europäische Kommission beschloss am 17. November 2010 gemäß Artikel 304 AEUV, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

Die Auswirkungen der EU-Politik auf Beschäftigungschancen, Ausbildungsbedarf und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Verkehrsgewerbe

(Sondierungsstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 150 gegen 2 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

Die Verkehrswirtschaft steht in den kommenden Jahren vor einer Reihe von Herausforderungen. Zu diesen zählen knappe Ölvorräte und ein möglicher Anstieg der Ölpreise, unverzichtbare Fortschritte im Bereich der Energieeffizienz, ein notwendiger Beitrag zur Bewältigung des Klimawandels und zur Umstellung auf eine CO2-arme Wirtschaft sowie die Bevölkerungsalterung, die sich einerseits auf die Verfügbarkeit von Fachkräften auswirkt und die andererseits zu veränderten Mobilitätsbedürfnissen führt. All diese Entwicklungen werden in dieser Stellungnahme des EWSA berücksichtigt.

1.   Empfehlungen und Schlussfolgerungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss weist darauf hin, dass das Verkehrsgewerbe als wichtiger Beschäftigungszweig, in dem 4,4 % aller Arbeitnehmer der EU tätig sind, ein großes Beschäftigungspotenzial für die Zukunft birgt. Zudem ist es für die Wirtschaftsentwicklung der Europäischen Union, die Mobilität ihrer Bürger, die soziale Inklusion und den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt in Europa von entscheidender Bedeutung.

1.2   Der EWSA regt an, Frauen und junge Arbeitskräfte für Verkehrsberufe zu gewinnen, und zwar durch Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsplatzqualität, der Arbeitsbedingungen, der Aus- und Weiterbildung, der Investitionen in das lebenslange Lernen, Maßnahmen zur Verbesserung der Aufstiegschancen, des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit am Arbeitsplatz sowie zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei allen Verkehrsträgern.

1.3   Der EWSA empfiehlt, mit Unterstützung der Europäischen Kommission bei allen Verkehrsträgern eine Bestandsaufnahme der derzeitigen Bildungsmöglichkeiten durchzuführen sowie zu prüfen, wie groß der Bildungsbedarf auf nationaler, regionaler und Unternehmensebene in der Zukunft ist. Der Schwerpunkt sollte dabei unbedingt auf der Fortbildung (lebenslanges Lernen) liegen.

1.4   Nach Meinung des EWSA muss durch Bildungsträger und/oder intern die Verfügbarkeit genügend hochwertiger Bildungsangebote sichergestellt werden, und zu diesem Zweck müssen Sozialpartner, Regionen und Bildungseinrichtungen bei sämtlichen Verkehrsträgern zusammenarbeiten. Die europaweite Zusammenarbeit von Bildungszentren wird vom EWSA dringend empfohlen. Er ist der Ansicht, dass Auszubildende die Kosten ihrer Berufsausbildung nicht selbst zu tragen haben sollten. Dies ist für die Förderung der Verkehrsberufe von besonderer Bedeutung.

1.5   Der EWSA empfiehlt die Einführung von EU-Rechtsvorschriften zu Zertifikaten und Lizenzen für das Bordpersonal in Zügen und die Kabinenbesatzung in Flugzeugen als Mittel, gute Arbeitsplätze, Dienstleistungsqualität und Sicherheit zu gewährleisten und die Mobilität von Arbeitskräften in der EU zu erleichtern.

1.6   Der EWSA sieht die Richtlinie 2003/59/EG als positives Beispiel an und ersucht die Europäische Kommission, weitere Rechtsvorschriften zu obligatorischen Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen bei anderen Verkehrsträgern in Betracht zu ziehen.

1.7   Um für Verkehrsberufe zu werben, regt der EWSA aufeinander abgestimmte Maßnahmen auf staatlicher, regionaler und lokaler Ebene an, die die Rolle der Verkehrswirtschaft verdeutlichen und – etwa in Schulen – für die verschiedenen Verkehrsberufe werben.

1.8   Der EWSA betont, dass die erfolgreiche Anwerbung von Frauen für Berufe in der Verkehrswirtschaft in großem Maße von Anreizen abhängt, die durch die Anpassung der Branche an die spezifischen Bedürfnisse weiblicher Arbeitskräfte geboten werden. Er empfiehlt dem Verkehrsgewerbe und den verschiedenen in diesem Bereich tätigen Unternehmen die Erarbeitung von Strategien, um die Ergreifung eines Berufs in dieser Branche für Frauen attraktiv zu machen.

1.9   In Anbetracht des demographischen Wandels und der Alterung der Erwerbstätigen empfiehlt der EWSA der Branche und ihren Unternehmen eine Analyse der Altersstruktur ihres Personals und dessen zukünftiger Beschäftigungsbedürfnisse sowie den Ausbau der Aus- und Weiterbildung, die Weiterentwicklung der Arbeitsorganisation und an die Bedürfnisse der unterschiedlichen Altersgruppen angepasste Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz.

1.9.1   Überdies regt der EWSA an, stärkeres Gewicht auf die Aufstiegsmöglichkeiten in der Verkehrsbranche zu legen, um deren Attraktivität für Nachwuchskräfte zu steigern.

1.9.2   Der EWSA empfiehlt, in der Seeschifffahrt den Aufstieg von den unteren Rängen in den Offiziersrang zu fördern.

1.9.3   Der EWSA legt dem öffentlichen Personenverkehr nahe, Busfahrern mehr Aufstiegschancen zu bieten, wie etwa Positionen in der Gruppenleitung oder in der Verkehrsplanung.

1.10   Der EWSA betrachtet die Gewährleistung der persönlichen Sicherheit von Erwerbstätigen im Verkehrsgewerbe und Passagieren sowie den Schutz vor tätlichen Angriffen und körperlicher Gewalt als eine große Herausforderung und empfiehlt nachdrücklich, keinerlei Gewalt zu dulden.

1.10.1   Der EWSA empfiehlt Schutzmaßnahmen im Bereich der Infrastruktur, wie etwa in ausreichender Zahl vorhandene, erschwingliche und sichere Rastplätze im Straßengüterverkehr und hohen Ansprüchen genügende Bahnhöfe sowie U-Bahn-, Straßenbahn- und Bushaltestellen. Die EU sollte diese Infrastrukturmaßnahmen finanziell unterstützen.

1.10.2   Zum Schutz gegen Gewalt regt der EWSA zudem an, genügend angemessen qualifiziertes Personal an Haltestellen, auf Bahnhöfen und an Bord der einzelnen Verkehrsträger einzustellen.

1.10.3   Der EWSA empfiehlt die Schaffung einer Agentur für Straßenverkehrssicherheit.

1.11   Unter Berücksichtigung von Artikel 9 des Vertrags von Lissabon und der Charta der Grundrechte sollte die Europäische Kommission einer sozialen Verkehrspolitik Vorrang gewähren. Der EWSA ist der Ansicht, dass weitere Schritte in Richtung Liberalisierung – wenn überhaupt – erst dann getätigt werden sollten, wenn zuvor die sozialen Folgen vorangegangener Schritte in dieser Richtung sorgfältig geprüft sowie aussagekräftige soziale Folgenabschätzungen erarbeitet wurden und gewährleistet wird, dass der Wettbewerb nicht auf der Grundlage geringerer Lohnkosten, sondern auf der der Qualität der Dienstleistungen ausgetragen wird.

1.11.1   Bei Ausschreibungen, etwa für Flughafenbodenabfertigungsdienste oder sämtliche Dienste im öffentlichen Personenverkehr, empfiehlt der EWSA die Gewährleistung der Beschäftigungssicherheit, indem neue Anbieter dazu verpflichtet werden, Personal zu übernehmen und den Umfang bestehender Arbeits- und Lohnbedingungen beizubehalten, indem die am Leistungsort geltenden Tarifverträge (1) unverändert angewandt werden. Zu diesem Zweck empfiehlt der EWSA die Einführung einer Sozialklausel.

1.11.2   Der EWSA appelliert an die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Einführung eines einheitlichen europäischen Luftraums, der funktionale Luftraumblöcke und SESAR umfasst, ernst gemeinte Konsultationen mit den Sozialpartnern und allen anderen Interessengruppen aufzunehmen, damit ausgewogene Maßnahmen zum Erreichen der gesteckten Ziele ergriffen werden, ohne dass Arbeitsplätze verloren gehen.

1.12   Nach Ansicht des EWSA müssen die Sozialvorschriften im Verkehrsgewerbe wirksam überprüft und durchgesetzt werden, und etwaige Verstöße müssen mithilfe vereinheitlichter Vorschriften wirksam geahndet werden. Dabei sind die Kapazitäten der betreffenden Vollzugsbehörden auszubauen, überdies sind Verbesserungen bei der Abstimmung und der Zusammenarbeit erforderlich.

1.13   Der EWSA empfiehlt die Einführung EU-weiter Vorschriften zur regelmäßigen Überprüfung der Arbeits- und Ruhezeiten des im grenzüberschreitenden Zugverkehr eingesetzten Fahrpersonals. Er betont, dass die Entsenderichtlinie insbesondere auf im Kabotagedienst eingesetzte Erwerbstätige im Straßengüterverkehr wirksamer angewandt werden muss.

1.14   Der EWSA empfiehlt, besonderes Augenmerk auf diejenigen Faktoren zu legen, die dem Fahrpersonal eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Die Sozialvorschriften im Verkehrsgewerbe sollten hinsichtlich der Arbeitszeitregelungen verbessert werden.

1.14.1   Der EWSA regt ergänzende Legislativmaßnahmen zur Normung der Besatzungsbestimmungen auf See- und Binnenschiffen an, um die Dienstleistungsqualität und die Sicherheit zu gewährleisten.

1.14.2   Der EWSA empfiehlt eine bessere und strengere Anwendung der Leitlinien für staatliche Beihilfen in der Seeschifffahrt, damit die Gewährung von staatlichen Beihilfen oder Steuerbefreiungen eng an Beschäftigungsgarantien und Aus- und Weiterbildungsverpflichtungen geknüpft wird.

1.14.3   Nach Meinung des EWSA sollten die EU-Institutionen und die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) die Zusammenarbeit mit den Interessengruppen bei der Aufstellung sicherheitsorientierter und wissenschaftlich fundierter Bestimmungen über die zulässige Flugzeit für Flugzeugbesatzungen verstärken.

1.14.4   Der EWSA empfiehlt branchenspezifische Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften für die unterschiedlichen Verkehrsträger, da bei den allgemeinen EU-Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften häufig die besonderen Bedingungen der Verkehrswirtschaft nicht berücksichtigt werden.

1.14.5   Der EWSA ist der Ansicht, dass geeignete Rechtsvorschriften zur Vermeidung des „Umflaggens“ von Arbeitsverträgen nötig sind.

1.15   Dem EWSA ist ganz besonders an der Förderung des sozialen Dialogs gelegen. Auf EU-Ebene müssen die verschiedenen Ausschüsse für den sektoralen sozialen Dialog schon in früheren Phasen eine stärkere Rolle bei der Abschätzung der sozialen Folgen von Kommissionsvorschlägen spielen und eigene Anmerkungen sowie Vorschläge zu den unterschiedlichen Verkehrsträgern vorlegen.

1.15.1   Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission, über die GD Mobilität und Verkehr effektiver mit den Ausschüssen für den sektoralen sozialen Dialog zusammenzuarbeiten und von Anfang an auf das Fachwissen der Sozialpartner zurückzugreifen.

1.16   Nach Ansicht des EWSA reichen die Statistiken und vergleichenden Analysen zur Beschäftigungslage und zu den Arbeitsbedingungen bei den verschiedenen Verkehrsträgern, die den EU-Institutionen und den europäischen Sozialpartnern zur Verfügung stehen, nicht aus. Der EWSA unterstützt daher die Errichtung einer Beobachtungsstelle für Sozial-, Beschäftigungs- und Ausbildungsfragen im Verkehrsgewerbe. Diese soll stichhaltige Informationen liefern, durch die eine bessere Abschätzung und Ex-post-Bewertung der sozialen Folgen von Maßnahmen im Verkehrswesen ermöglicht und so die europäischen Sozialpartner im sektoralen sozialen Dialog der EU unterstützt werden sollen.

2.   Die Verkehrswirtschaft – ein wichtiger Arbeitgeber in der Europäischen Union

2.1   Zahlenmäßig betrachtet, arbeitet ein erheblicher Teil der europäischen Erwerbstätigen in der Verkehrswirtschaft: 2007 waren hier 9,2 Mio. Menschen bzw. 4,4 % aller Arbeitskräfte in der EU beschäftigt. In diesen Zahlen enthalten sind der Fernleitungsbereich, Reisebüros/Reiseveranstalter sowie Hilfs- und Nebenleistungen des Verkehrsgewerbes, wie etwa Güterumschlag und Lagerhaltung.

2.2   Die Beschäftigten verteilen sich wie folgt auf die einzelnen Verkehrsträger: Im Straßengüterverkehr sind etwa 2,9 Mio., im Personenverkehr 1,9 Mio., im Schienenverkehr 864 000, in der Binnenschifffahrt 43 400, in der Seeschifffahrt 184 000 und in der Luftfahrt 409 000 Menschen tätig. In den Hilfs- und Nebenbereichen arbeiten etwa 2,3 Mio. Beschäftigte (2).

2.3   Von 2004 bis 2007 nahm die Zahl der Beschäftigten im Verkehrsbereich stetig zu, und zwar von 8,6 auf 9,2 Mio. Arbeitnehmer in der EU-27. Der Anstieg fand hauptsächlich im Straßengüter- und Personenverkehr sowie in Hilfsbereichen statt. Im Schienenverkehr nahm die Beschäftigtenzahl stark um 117 000 Beschäftigte ab: von 981 848 im Jahr 2004 auf 864 000 im Jahr 2007 (3).

2.4   Die Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 wirkte sich insbesondere im Güterverkehr stark auf die Beschäftigtenzahlen im Verkehrsgewerbe aus.

2.5   Künftige Beschäftigungstrends im Verkehrssektor hängen von mehreren Faktoren ab: von der Entwicklung des Handels und der Wirtschaftstätigkeit, der Bevölkerungsalterung und den Mobilitätsmustern der Bevölkerung, der technischen Entwicklung, der Verfügbarkeit und dem Preis von Energie und von Maßnahmen zur Förderung eines nachhaltigen Verkehrs (Verkehrsverlagerung, etwa vom Individual- hin zum öffentlichen Verkehr, Verkehrsvermeidung) (4), alternative Fortbewegungsarten wie etwa Radfahren (5).

3.   Die geringe Attraktivität von Arbeitsplätzen im Verkehrsgewerbe als Problem für die Zukunft

3.1   Die Verkehrswirtschaft hat als Beschäftigungszweig keinen tadellosen Ruf, und ihre Arbeitsplätze gelten als wenig attraktiv. In den 2000 und 2005 von der Europäischen Stiftung für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen durchgeführten europaweiten Erhebungen über die Arbeitsbedingungen wurde in den branchenbezogenen Analysen bestätigt, dass das Verkehrswesen den Indikatoren für die Arbeitsbedingungen zufolge zu den ungünstigen Branchen zählt.

3.2   Folgende Indikatoren wurden in der dritten Erhebung im Jahr 2000 als eher ungünstig genannt: Umgebungsbedingungen, Ergonomie, atypische Arbeitszeiten, lange Arbeitszeiten, hohe Arbeitsanforderungen, keine Job-Kontrolle, unqualifizierte Arbeit, geringe Flexibilität, Diskriminierung.

3.3   Indikatoren in der vierten Erhebung 2005 (nur Landverkehr): Arbeitszeiten, atypische Arbeitszeiten, Ausgewogenheit zwischen Arbeitszeiten und Familien-/Sozialleben, Job-Kontrolle, qualifizierte Arbeit, Gewalt, Stress, Probleme mit dem Bewegungsapparat (6).

3.4   Der Großteil der Beschäftigten im Verkehrsgewerbe übt mobile Tätigkeiten (Fahrzeugführer, Piloten, Bordpersonal in den verschiedenen Bereichen) oder unmittelbar mit dem Verkehrsfluss verbundene Tätigkeiten, wie etwa die Verkehrsregelung, aus. „Fahrzeugführer und Bediener mobiler Anlagen machen den größten Teil der Beschäftigten in der EU aus (45 % im Jahr 2006)“ (7). Die regelmäßige und häufig sehr lange Abwesenheit vom Wohnort sowie regelmäßige Schichtdienste laufen den Wünschen der Beschäftigten zuwider, die in zunehmendem Maße Familie und Beruf miteinander vereinbaren möchten. Zudem werden in den meisten Berufen niedrige Löhne und Gehälter gezahlt.

3.4.1   Nach Ansicht des EWSA dürfen die ungünstigen Ruhezeiten nicht einfach hingenommen werden, es müssen vielmehr für alle Situationen zufriedenstellende Ruhezeiten für die Beschäftigten sämtlicher Verkehrsträger angestrebt werden.

3.5   In der Branche dominieren männliche Arbeitskräfte - sie gehört mit einem Frauenanteil von 21,1 % zu den Wirtschaftszweigen, in denen die Schere zwischen den Geschlechtern am weitesten auseinandergeht (im Landverkehr beträgt der Anteil der männlichen Beschäftigten 82,2 %). Es ist wissenschaftlich belegt, dass ein steigender Frauenanteil unter den Beschäftigten häufig zu verbesserten Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten beiderlei Geschlechts führt.

3.6   Arbeit im Verkehrswesen gilt nicht ohne Grund als gefährlich. Betriebssicherheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sind insbesondere für Fahrzeugführer eng miteinander verknüpft. Von Unfällen mit Todesfolge sind auch Wartungsarbeiter (z.B. bei der Wartung von Eisenbahngleisen) und im Rangierdienst Tätige betroffen, tödliche Unfälle kommen ebenfalls an Bord von Schiffen vor. Zudem gibt es Probleme mit Gewalt und Aggression (Diebstahl von Frachtgut im Straßengüterverkehr, aggressives Verhalten im öffentlichen Personenverkehr auf der Straße und der Schiene und sogar Piraterie in der Seeschifffahrt).

3.7   Die demografische Entwicklung im Verkehrsgewerbe ist besorgniserregend. Das Durchschnittsalter der Erwerbstätigen in der Branche ist hoch. Viele werden in den kommenden 10 bis 20 Jahren in Ruhestand gehen. Gerade einmal 17,5 % der Beschäftigten in der Verkehrswirtschaft gehören der Gruppe der 15- bis 29-Jährigen an, und 57,5 % sind zwischen 30 und 49 Jahren alt (2006) (8).

3.8   In vielen Teilbranchen wird heute bereits über einen ernsthaften Arbeitskräftemangel geklagt, vor allem bei mobilen Tätigkeiten. Dies wird den Verkehrssektor in Anbetracht der Alterung der Bevölkerung in Europa und des Bemühens von Branchen und Firmen um (junge) Arbeitskräfte vor große Probleme stellen. Seine Anziehungskraft muss durch attraktive Aus- und Weiterbildungsangebote, größere brancheninterne Aufstiegschancen und bessere Arbeitsbedingungen gesteigert werden. Der Verkehrssektor muss stärker auf die Bedürfnisse von jungen Arbeitskräften und Frauen eingehen, denen an einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelegen ist. Die Eingliederung von Frauen in Verkehrsberufe könnte durch positive Maßnahmen erleichtert werden, zu denen zumindest eine neue sanitäre Infrastruktur, neue Umkleideräume und Unterkünfte sowie eine angemessenere, nach einzelnen Verkehrsträgern aufgeschlüsselte Beurteilung von durchgehenden Arbeitszeiten, Stress und Ermüdung zählen.

4.   Anforderungen bei der Aus- und Weiterbildung – aber auch Aufstiegschancen

4.1   Die meisten Beschäftigten im Verkehrsgewerbe und der Logistik verfügen über mittlere Qualifikationen (58 % in der gesamten EU). Gering qualifiziert sind 28 % aller im Verkehrsgewerbe Beschäftigten in der EU. In den neuen Mitgliedstaaten ist das Niveau höher: hier haben 81 % der im Sektor Arbeitenden mittlere und nur 7 % geringe Qualifikationen. 14 % aller im Verkehrsgewerbe und in der Logistik in der EU Beschäftigten sind hoch qualifiziert (2006). „Bei der Betrachtung der Veränderungen im Zeitraum zwischen 2000 und 2006 lässt sich jedoch erkennen, dass die Bildungsanforderungen im gesamten Sektor steigen. Der Anteil der gering Qualifizierten ist in allen Berufsfeldern zurückgegangen“ (9).

4.2   Durch die technische Entwicklung und die verstärkte Nutzung von IKT in allen Bereichen des Verkehrswesens sind eine Ausbildung auf höherem Niveau und mehr Fortbildungsmaßnahmen notwendig geworden. Lebenslanges Lernen ist für die meisten im Verkehrsgewerbe Beschäftigten, die über mittlere oder geringe Qualifikationen verfügen, von nachrangiger Bedeutung. Für eine stärkere Kundenorientierung sind Kompetenzen erforderlich, die bislang im Rahmen der beruflichen Grundbildung in den eher technisch ausgerichteten Berufen der Verkehrswirtschaft nicht vermittelt wurden. Fortbildungen sind eine Voraussetzung für Betriebssicherheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie für eine umweltschonende Fahrweise.

4.3   Die demographische Entwicklung und die ungünstige Altersstruktur in der Verkehrwirtschaft machen - neben neuen Arbeitsorganisationskonzepten - stärkere Investitionen in Schulungen erforderlich, die sich speziell an ältere Arbeitnehmer richten. Vor allem Fahrzeugführer können ihren Beruf aufgrund arbeitsbedingter Gesundheitsprobleme oft nicht bis zum Erreichen der Altersgrenze ausüben.

4.4   Attraktive Weiterbildungsangebote und größere branchen- und/oder unternehmensinterne Aufstiegschancen sind wichtig, um junge Arbeitskräfte für die Verkehrswirtschaft zu gewinnen. Beispielsweise muss in der Seeschifffahrt der Aufstieg von den unteren Rängen in den Offiziersrang erleichtert werden. Im öffentlichen Personennahverkehr beschäftigte Busfahrer sollten mehr Möglichkeiten haben, in Positionen in der Verkehrsplanung oder in der Gruppenleitung zu wechseln. Weiterbildung muss als Zukunftsinvestition angesehen werden.

5.   Arbeitsbedingungen – Mobilität des Fahrpersonals

5.1   Eines der Hauptprobleme im Verkehrsgewerbe, das sich aus der Errichtung des Verkehrsbinnenmarkts und der Deregulierung der Verkehrssektoren ergeben hat, ist die per Definition hohe Mobilität des Fahrpersonals, durch die die Verlagerung von Arbeitsplätzen und das Sozialdumping im Verkehrsgewerbe im Vergleich zu anderen Branchen erheblich erleichtert wurde. Dabei wurden sozialrechtliche Vorschriften, flankierende Sozialmaßnahmen oder Schutzmaßnahmen gegen Sozialdumping nicht in ausreichendem Maße beachtet.

5.2   Niederlassungsfreiheit und offene Verkehrsmärkte werden z.B. in der Binnenschifffahrt, im Straßentransport oder in der Seeschifffahrt größtenteils dafür genutzt, Firmen in EU-Mitgliedstaaten mit niedrigeren Personalkosten, geringeren Sozialabgaben und/oder Steuervorteilen zu gründen, ohne jedoch Dienstleistungen in diesen Ländern anzubieten. Dabei werden soziale und Lohnunterschiede zwischen den Ländern als Wettbewerbsvorteile ausgenutzt. Die Folge sind Schwierigkeiten bei der Zurückverfolgung von Arbeitsverträgen, der Gewährleistung von Sozialleistungen und der Kontrolle und Durchsetzung von Gesundheitsschutz- und Sicherheitsvorschriften. Zur Vermeidung von Sozialdumping muss das Aufnahmelandprinzip gelten, das besagt, dass die Sozialvorschriften des Landes, in dem die Leistung erbracht wird, anzuwenden sind.

5.3   Durch die Diskussion über den nachhaltigen Verkehr und die Internalisierung externer (Umwelt-) Kosten stellt sich die Frage nach fairen Preisen für Verkehrsdienstleistungen. In einem fairen Preis für Verkehr sollte aber auch ein angemessener Preis für hochwertige Arbeitsplätze im Verkehrsgewerbe inbegriffen sein. Dies ist von wesentlicher Bedeutung für:

die Qualität der Dienstleistungen,

die Sicherheit,

die Attraktivität des Verkehrsgewerbes.

5.4   Solch ein sozial angemessener Preis für hochwertige Arbeitsplätze im Verkehrsgewerbe sollte durch Regulierungsmaßnahmen und sozialen Dialog gewährleistet werden.

5.5   Die Fahrgäste des öffentlichen und privaten Personenverkehrs fordern darüber hinaus hochwertige Dienstleistungen, sichere Beförderung und Schutz vor Aggression und Gewalt.

6.   Aktivitäten der Kommission in sozialen Fragen im Verkehrssektor

6.1   In der Mitteilung „Für ein mobiles Europa“ von 2006 formuliert die Kommission eines der Ziele der EU-Verkehrspolitik wie folgt: „Im sozialen Bereich unterstützt die EU mit ihrer Politik Verbesserungen bei der Beschäftigungsqualität und bessere Qualifikationen der Beschäftigten im europäischen Verkehrssektor“ (10).

6.2   In der Studie zur Bewertung der Leistung der Gemeinsamen Verkehrspolitik (11), insbesondere in Punkt 1.6 „Soziale Aspekte“, werden die Gesetzesinitiativen und Strategiepapiere der Kommission zu sozialen Fragen im Verkehrssektor aufgelistet. Ihre Grundlagen sind zum Teil Verhandlungen und Initiativen der europäischen Sozialpartner. In dem Bericht wird allerdings festgestellt, dass eine Bewertung aufgrund fehlender Daten oder infolge des Umstandes schwierig sei, dass die Maßnahmen erst kürzlich eingeleitet worden und daher noch nicht wirksam seien.

6.3   Folgende Schlüsse lassen sich daraus ziehen:

6.3.1

In den Folgenabschätzungen der Kommission genießt die Bewertung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten hohe Priorität, während die Abschätzung der sozialen Folgen von Gesetzesinitiativen der EU deutlich zu kurz kommt. Diese Situation umzukehren ist oft problematisch, wenn bereits Änderungen vorgenommen wurden.

6.3.2

Die Kommission muss die sozialen Folgen ihrer Vorschläge im Vorfeld sorgfältig abwägen und bei Vorschlägen zur weitergehenden Liberalisierung des Verkehrsmarktes auch flankierende Sozialmaßnahmen berücksichtigen.

6.3.3

Es gibt keine verlässlichen europaweiten Daten und Informationen zum Arbeitsmarkt im Verkehrsgewerbe und den tatsächlichen Arbeitsbedingungen in den einzelnen Verkehrssektoren; die NACE-Beschäftigungsstatistik ist für eine aussagekräftige Analyse der einzelnen Sektoren zu allgemein; die wenigen vergleichenden Studien zu bestimmten sektoralen Aspekten veralten schnell, nötig wäre eine Beobachtungsstelle für soziale Aspekte der Verkehrswirtschaft, die durchgehend Zugang zu den Datenbanken der Arbeitsaufsichtsbehörden in den Mitgliedstaaten haben sollte.

6.3.4

Weitere Gesetzesinitiativen sind nötig, um die bestehenden Probleme anzugehen. Eine enge Zusammenarbeit mit den verschiedenen Partnern der europäischen sektoralen sozialen Dialoge ist unverzichtbar. Die Kommission sollte unbedingt den im sozialen Dialog erworbenen Sachverstand würdigen und nutzen und die Sozialpartner bereits in einer frühen Phase einbeziehen.

7.   Beschäftigungschancen, Ausbildungsbedarf und Arbeitsbedingungen in den einzelnen Teilbranchen der Verkehrswirtschaft

7.1   Strassengüterverkehr

7.1.1   Für die Branche wird es immer schwieriger, Fahrer zu finden. Dies ist die größte Herausforderung, vor der der Straßengüterverkehr steht. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass dies das Ergebnis der Bedingungen ist, unter denen die Fahrer und die Speditionen arbeiten müssen. Aus der Sicht der Fahrer sorgen hoher Arbeitsdruck, ungünstige Arbeitszeiten und unterdurchschnittliches Arbeitsentgelt dafür, dass die Sozialbilanz des Straßengüterverkehrs schlecht ausfällt. Andererseits müssen insbesondere sich die kleinen und mittleren Unternehmen in einem Umfeld behaupten, in dem nicht nur ein heftiger brancheninterner Wettbewerb herrscht, sondern auch externe Faktoren wie die Wirtschaftskrise und hohe Kraftstoffpreisen Spuren hinterlassen.

7.1.2   Durch die Richtlinie 2003/59/EG werden berufliche Grundbildung und Fortbildung für Berufskraftfahrer verpflichtend. Diese Richtlinie trat im September 2009 für den Personen- und im September 2010 für den Güterverkehr in Kraft. Damit soll nicht nur die Straßenverkehrssicherheit, sondern auch die Qualität der Berufsausbildung verbessert werden. Dies ist ein gutes Beispiel für eine Regulierungsmaßnahme, die sich auch positiv auf den Status von Berufskraftfahrern auswirken und letztlich den Beruf attraktiver machen wird, und dies umso mehr, als der umfassende technische Fortschritt in diesem Wirtschaftszweig hoch qualifizierte Berufskraftfahrer nötig macht. Nun jedoch hängt alles davon ab, wie die Mitgliedstaaten die Richtlinie umsetzen. Die Herausforderung besteht darin, genügend hochwertige Aus- und Weiterbildungen und einen ebensolchen Ausbildungslehrplan anzubieten sowie Grundbildung und Fortbildung finanziell zu fördern. Mitunter müssen die Fahrer die Kosten für berufliche Grundbildung und/oder Fortbildung aus eigener Tasche zahlen, wodurch auf mittlere Sicht die Nachwuchsprobleme der Branche nur noch gravierender werden.

7.1.3   Für den Straßengüterverkehr gelten eigenen Sozialvorschriften. Das Hauptproblem dabei ist, dass die Arbeits-, Fahr- und Ruhezeitenregelungen nicht durchgesetzt werden, obwohl die diesbezüglichen Rechtsvorschriften verbessert und die Kontrollen verstärkt wurden. Das Gleiche gilt für die Anwendung der Entsenderichtlinie auf im Kabotagedienst eingesetzte Erwerbstätige im Straßengüterverkehr.

7.1.4   Die einschlägigen EU-Vorschriften sind im gesamten Straßengüterverkehr ausnahmslos anzuwenden, sodass beim Wettbewerb, der Straßenverkehrssicherheit sowie dem Gesundheitsschutz und der Sicherheit am Arbeitsplatz gleiche Bedingungen gewährleistet sind.

7.1.5   Die politischen Entscheidungsträger der EU müssen Maßnahmen ergreifen, die die Branche wirklich nachhaltig machen – Anreize für Spediteure, in neue Fahrzeugflotten und neue Technologie zu investieren; mehr Personal für die Durchsetzung von Vorschriften im Bereich des Straßengüterverkehrs in den Mitgliedstaaten; Maßnahmen, durch die der Kraftfahrerberuf zu einem hoch qualifizierten Beruf wird und sein Ansehen automatisch aufgewertet wird.

7.1.6   Notwendig ist die Verbesserung der Straßeninfrastruktur, vor allem durch die Bereitstellung sicherer und erschwinglicher Parkplätze und Rastanlagen; ein Teil der Gelder, die durch die „Eurovignette“ erwirtschaftet werden, könnte in die Verbesserung der Qualität von Parkplätzen und Rastanlagen fließen – hiervon würden sowohl die Unternehmen (in puncto Frachtsicherheit) als auch die Berufskraftfahrer profitieren.

7.1.7   Es wird die Gründung einer Europäischen Agentur für Straßenverkehrssicherheit empfohlen, deren Aufgabe die Sicherstellung der Erfüllung der obigen Forderungen ist (12).

7.2   Öffentlicher Innerstädtischer Personenverkehr

7.2.1   In der EU ist nach Angaben des Internationalen Verbands für öffentliches Verkehrswesen (UITP) zirka eine Mio. Menschen im öffentlichen innerstädtischen Personenverkehr beschäftigt. Werden Maßnahmen zur Förderung des öffentlichen Nahverkehrs in Ballungsgebieten, Städten und ländlichen Gebieten ergriffen, so besteht hier ein großes Beschäftigungspotenzial.

7.2.2   Der öffentliche Personennahverkehr hat jedoch auch Probleme bei der Besetzung von Stellen, zudem stellt sich hier das Problem des steigenden Durchschnittsalters der Beschäftigten. Die meisten Erwerbstätigen im öffentlichen Personennahverkehr sind Fahrzeugführer. Gute Arbeitsbedingungen, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und größere Aufstiegschancen werden die Branche für weibliche und junge Arbeitskräfte attraktiv machen.

7.2.3   Die Richtlinie zur Aus- und Weiterbildung von Fahrern (2003/59/EG) gilt für Busfahrer des öffentlichen Personenverkehrs.

7.2.4   Neben der Finanzierung ist die Erbringung hochwertiger Dienstleistungen eine der größten Herausforderungen für den öffentlichen Personenverkehr. Das Verhältnis von Arbeitsplatzqualität (guten Arbeitsbedingungen) und Dienstleistungsqualität wird im Rahmen des europäischen sozialen Dialogs auf sektoraler Ebene thematisiert.

7.2.5   Überdies sind Gewalt und Aggression ernste Probleme im öffentlichen Personenverkehr. Durch eine Politik der Nulltoleranz gegenüber Gewalt werden die Passagiere und das Personal geschützt und die Attraktivität des öffentlichen Personenverkehrs gesteigert.

7.3   Eisenbahnverkehr

7.3.1   Die Eisenbahnbranche wird mit Blick auf die Steigerung der Produktivität und den Abbau von Personal kontinuierlich umstrukturiert. Beispielsweise wird das Verkaufspersonal auf Bahnhöfen abgebaut, die Zahl der Zugbegleiter in Nahverkehrszügen wird reduziert, und im Güterverkehr geht der arbeitsintensive Einsatz einzelner Waggons zugunsten der weniger arbeitsintensiven Zusammenstellung kompletter Züge zurück. Neue Technologien wie das Europäische Eisenbahnverkehrsleitsystem (ERTMS) oder automatische Rangiersysteme dienen der Rationalisierung und betreffen hauptsächlich in der Verkehrssteuerung oder im Rangierdienst tätige Arbeitnehmer. Entgegen der vorherrschenden Tendenz ist der Einsatz einzelner Waggons eine glaubwürdige ökologische Alternative zum Straßengüterverkehr, durch die Arbeitsplätze geschaffen werden (13).

7.3.2   Neue Marktteilnehmer im Schienengüterverkehr konzentrieren sich auf den Ganzzugverkehr mit geringer Arbeitsintensität, während durch Investitionen in die Entwicklung einer neuen Infrastruktur und die Verbesserung bestehender Netze Arbeitsplätze im Bereich der Wartung und des Unterhalts dieser neuen Infrastruktur geschaffen werden.

7.3.3   In diesem Fall werden nicht nur Zugführer von den neuen Stellenangeboten aufgrund des zunehmenden Schienenverkehrsaufkommens bzw. der Verkehrsverlagerung profitieren. Jedoch hat die Eisenbahnbranche ebenfalls Schwierigkeiten, hoch qualifizierte Arbeitskräfte (Ingenieure) anzuwerben, und die Unternehmen müssen sich mit einer unvorteilhaften demografischen Struktur auseinandersetzen.

7.3.4   Aus- und Weiterbildungsbedarf:

Durch den zunehmenden grenzüberschreitenden Verkehr werden verstärkt Fortbildungen zu den nationalen Sicherheitsvorschriften und Fremdsprachenkurse sowohl für Zugführer als auch für das Zugbegleitpersonal erforderlich.

Ein hoher Sicherheitsstandard und eine hohe Dienstleistungsqualität müssen durch die Zertifizierung des Zugbegleitpersonals gewährleistet werden.

Die Einführung neuer Technologien wie ERTMS führt zu einer Veränderung des Berufsprofils von Zugführern und in der Verkehrssteuerung Tätigen und macht vermehrt IT-Fortbildungen notwendig.

Die Tendenz zur Vielseitigkeit im Schienengüterverkehr führt dazu, dass neue Berufsbilder und entsprechende Ausbildungen definiert werden müssen.

Aus der Umstrukturierung der Branche, an der eine Vielzahl von Akteuren beteiligt ist, ergeben sich viele neue Schnittstellen. Auf der Führungsebene der Verwaltung wird mehr Personal benötigt. Aufgrund des fortschreitenden Alterungsprozesses des derzeitigen Bahnpersonals und zunehmender Probleme bei der Besetzung von Stellen ist die Entwicklung angemessener Programme zur Weiterbildung und zum lebenslangen Lernen für Arbeitnehmer aus verschiedenen Altersgruppen erforderlich.

7.3.5   Arbeitsbedingungen:

Der stetige Produktivitäts- und Kostendruck in der Branche führt zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und einem zweiten Arbeitsmarkt. Aufgrund der Öffnung der Märkte und der Zunahme grenzüberschreitender Dienstleistungen ist die Überwachung und Durchsetzung von Arbeits-, Fahr- und Ruhezeiten ebenso erforderlich geworden wie die Überprüfung der Qualifikationen der Fahrer.

7.4   Binnenschifffahrt

7.4.1   Die Binnenschifffahrt gilt als umweltfreundliches Verkehrsmittel, dessen Potenzial bisher nicht ausgeschöpft worden ist. Jedoch sinkt derzeit der Wasserstand der großen Flüsse, was die Branche vor enorme Probleme stellt. Untersucht werden die Möglichkeiten neuer Schiffskonzepte sowie neuer Liefermethoden (schwimmende Vorräte).

7.4.2   In der Binnenschifffahrt (auf dem Rhein und auch auf der Donau) mangelt es ernstlich an Arbeitskräften, und zwar sowohl im Güter- als auch im Personenverkehr. Die jüngere Generation ist wegen der schlechten Vereinbarkeit von Familie und Beruf, langen Arbeitszeiten und unattraktiven Arbeitsbedingungen (insbesondere der langen Abwesenheit vom Wohnort) nicht daran interessiert, in der Branche zu arbeiten. Ein echter Gesetzes-/Regulierungsrahmen fehlt, weshalb Arbeitsplätze in Länder verlagert werden, die Wettbewerbsvorteile aus steuerlichen Unterschieden zwischen den Ländern und für die Arbeitnehmer ungünstigeren Sozial- und Lohnbedingungen ziehen, etwa innerhalb der EU nach Malta oder Zypern.

7.4.3   Die geschilderten Probleme sind bereits Gegenstand mehrerer Initiativen im Rahmen des sozialen Dialogs und auf EU-Ebene:

PLATINA = Aktionsplattform von NAIADES – mehrere Arbeitspakete sind Engpässen in der Industrie gewidmet

Beschäftigung und Qualifikation (Jobs and Skills) = EU-Arbeitspaket zur Förderung der Attraktivität der Branche

EDINNA (Bildungseinrichtungen in der Binnenschifffahrt) = EU-Plattform für alle Ausbildungszentren

Arbeiten an der EU-weiten Harmonisierung der Berufsprofile von Schiffsführern und Matrosen dauern an – dies wird die formale Grundlage für einheitliche Mindestanforderungen bei der Ausbildung in der EU-Binnenschifffahrt

Arbeiten an STCIN dauern an = EU-Normen für die Ausbildung und die Erteilung von Patenten in der Binnenschifffahrt.

7.4.4   Die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt (ZKR), die als Wissenszentrum für die Binnenschifffahrt in Europa fungiert, harmonisiert in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission die Schifferpatente über das System der gegenseitigen Anerkennung. Die ZKR wurde von der Kommission beauftragt, den Markt zu beobachten und halbjährlich Berichte mit Sozial- und Wirtschaftsdaten zu veröffentlichen, damit verlässliche Information zur Verfügung stehen. In Zusammenarbeit mit der ZKR entsteht derzeit ein einzigartiges Identifizierungssystem, das nicht nur Aufschluss über die Identität der Beschäftigten gibt, sondern auch zur Überwachung von Arbeits-, Ruhe- und Freizeit sowie von Ausbildung, Weiterbildung und Patenterteilung genutzt werden kann.

7.5   Luftverkehr

7.5.1   Der Luftverkehr ist für die Wirtschaft der EU von entscheidender Bedeutung, und sein Fortbestand ist grundlegend für die Förderung des sozialen Zusammenhalts und der regionalen Entwicklung. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Luftfahrtindustrie kann durch die Nutzung der Vorteile des europäischen Gesellschaftsmodells gestärkt werden. Die Unternehmen sind gefordert, eine ordnungsgemäße Anwendung der europäischen und nationalen Sozialvorschriften sowie der Tarifverträge zu gewährleisten, um die Beschäftigten zu schützen und Sozialdumping zu vermeiden. Besondere Anstrengungen, einen sozialen Dialog auf Unternehmens- und staatlicher Ebene zu führen, sind notwendig, um die Herausforderungen zu bewältigen, vor denen die zivile Luftfahrt derzeit steht.

7.5.2   Um für Sicherheit, Effizienz und die Qualität der Dienstleistungen im Geiste gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen zu sorgen, sind gegenseitiges Vertrauen, Verantwortungsgefühl und der Wille zur Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf den jeweiligen Ebenen nötig. Kernziel sollte die Schaffung einer sozial und ökologisch nachhaltigen zivilen Luftfahrtindustrie sein.

7.5.3   Der EWSA halt es für wünschenswert, die Umsetzung des einheitlichen europäischen Luftraums - darunter auch funktionale Luftraumblöcke und SESAR - in Betracht zu ziehen, in dem der menschliche Faktor und der soziale Dialog wesentlich zum Erfolg des Sektors beitragen. Die Mitgliedstaaten sollten ernst gemeinte Konsultationen mit den Sozialpartnern und allen anderen Akteuren aufnehmen, um ausgewogene Maßnahmen zum Erreichen dieser Ziele und zur Vermeidung von Arbeitsplatzverlusten zu ergreifen (14).

7.5.4   Alle in der zivilen Luftfahrt - und vor allem in der Bodenabfertigung - Beschäftigten müssen ebenso gut gestellt werden wie andere Erwerbstätige in der EU. Gegenwärtig ist dies nicht der Fall: zum Beispiel müssen überall dort, wo es Ausschreibungen gibt, die Beschäftigten vom Schutz der Übertragungsrechte profitieren.

7.5.5   Die EU muss Maßnahmen unterstützen, durch die Qualifikationen in der Luftfahrtbranche anerkannt werden. Alle Akteure sollten, u.a. in Form von Verhandlungen, gemeinsam agieren und in Berufsausbildungen und -qualifikationen investieren. Durch schrittweises Vorgehen und Verhandlungen lassen sich auf EU-Ebene die besten Aus- und Weiterbildungsnormen erzielen, wobei die Festlegung genauerer Regeln auf allen anderen Ebenen, weitere Arbeiten an der Anerkennung der Berufsausbildungen und die Einbeziehung anderer nahestehender Parteien (EU-Institutionen, staatliche Behörden usw.) ermöglicht werden.

7.5.6   Und schließlich ist es angesichts der obigen Ausführungen ebenfalls von entscheidender Bedeutung, dass die Sicherheit im Luftverkehr weiterhin oberste Priorität für die EU-Gesetzgebung hat. Bei der Gesetzgebung sollten die EU-Institutionen und die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) die Interessengruppen konsultieren, um sicherheitsorientierte und wissenschaftlich fundierte Regeln zur zulässigen Flug- und Ruhezeit für die Kabinenbesatzungen aufstellen zu können, durch die Ermüdungserscheinungen aufgrund langer Arbeitszeiten sowie die Auswirkungen von wechselnden Schichten und Übergängen zwischen einzelnen Zeitzonen abgemildert werden. Ermüdung, durch die die Aufmerksamkeit und die Leistungsfähigkeit beeinträchtigt werden, ist in der Tat eine Gefahr für die Flugsicherheit. Sie ist eine natürliche Reaktion auf Bedingungen, die im Flugdienst üblicherweise herrschen, wie etwa Schlafmangel, Schichtdienste und lange Dienstzeiten.

7.6   Seeschifffahrt

7.6.1   Die größte Herausforderung für die Seeschifffahrt ist die langfristige Abnahme der Beschäftigtenzahlen unter den europäischen Seeleuten, die mit einem Verlust an Know-how im Seefahrtsbereich einhergeht. Billigflaggen und Niedriglohnbesatzungen aus Entwicklungsländern sind weiterhin anzutreffen. Im internationalen Handel stammen auf Schiffen, die in europäischer Hand und unter europäischer Kontrolle sind, die Besatzungen – vor allem die einfachen Seeleute – fast ausschließlich aus Drittstaaten. Auf der EWSA-Konferenz zur Attraktivität der maritimen Berufe am 11. März 2010 wurden die Gründe für die Unattraktivität maritimer Berufe erörtert; zudem wurde betont, dass eine Aktualisierung der maritimen Ausbildung erforderlich sei, und es wurden einschlägige Maßnahmen der EU angeregt.

7.6.2   Auch in der Seeschifffahrt steigt das Durchschnittsalter der Beschäftigten. Der Umstand, dass Offiziere auch nach Erreichen des Ruhestandsalters weiterbeschäftigt bleiben, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es derzeit an Offizieren mangelt und die Unternehmen nicht bereit sind, einfache Seeleute in den Offiziersrang zu befördern.

7.6.3   Ein im Rahmen des europäischen sozialen Dialogs durchgeführtes Projekt belegte jedoch, dass nicht die mangelnde Bereitschaft junger europäischer Auszubildender, Karriere auf See zu machen, das Problem ist, sondern dass es an Stellenangeboten und Ausbildungsplätzen an Bord mangelt. Es muss ganz offensichtlich ein Klima geschaffen werden, das die Anwerbung und Ausbildung europäischer Seeleute und die Beförderung vom Matrosen zum Offizier erleichtert. Dies könnte durch eine bessere und strengere Anwendung der Leitlinien für staatliche Beihilfen gefördert werden, und zwar insbesondere dadurch, dass die Gewährung von öffentlichen Beihilfen oder Steuerbefreiungen eng an Beschäftigungsgarantien und Aus- und Weiterbildungsverpflichtungen geknüpft wird.

7.6.4   Die Reeder verlagern ihre Unternehmen immer stärker von Europa an andere Standorte und investieren immer mehr Geld in Ausbildungszentren und Seefahrtsschulen in Drittländern, vor allem im Fernen Osten. Die Entwicklung eines Netzes von Weiter- und Ausbildungsinstituten in Europa ist notwendig, um Seefahrtsausbildungsstätten zu schaffen, die dem neu entstehenden Qualifizierungsbedarf Rechnung tragen und sich ihm anpassen. Insbesondere in letzterer Hinsicht ist es erforderlich, sowohl im Bereich der Erstausbildung als auch mit Blick auf lebenslanges Lernen nach flexibleren und kombinierten Lehrmethoden zu suchen. Bildungssystem und Arbeitsmarkt sollten der Notwendigkeit gerecht werden, eine flexiblere Arbeitslaufbahn (Wechsel von See an Land und umgekehrt) zu ermöglichen, und zusätzlich zu branchenspezifischen Qualifikationen in Aus- und Weiterbildung auch Management-, Geschäfts- and Handelsmodule anbieten.

7.6.5   Bei den Arbeitsbedingungen ergeben sich Probleme aus der Auflösung der Normalarbeitsverhältnisse, der zunehmenden Nutzung von Besatzungsagenturen und dem Mangel an unmittelbar bei den Schifffahrtsunternehmen Beschäftigten bzw. der Vielzahl derjenigen, die nur in einem entfernten Beschäftigungsverhältnis stehen. Oft sind die Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord schlecht und die Unterbringung unangemessen, vor allem für Frauen und Kadetten, und es mangelt an Kommunikationsmitteln. Zudem führen unzureichende Besatzungsstärken zu Erschöpfung und gefährden die Betriebssicherheit von Schiffen. Piraterie und die Kriminalisierung von Seeleuten sind Probleme, die dem Ansehen der Seeschifffahrt geschadet und dazu geführt haben, dass weniger Bereitschaft besteht, eine Laufbahn auf See anzustreben.

7.6.6   Im Schiffsverkehr zwischen dem europäischen Kontinent und den Inseln sowie zwischen diesen plädiert der EWSA für strengere gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen, um den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt zu fördern, ohne dass die Regelung der staatlichen Beihilfen auf Kosten der Erbringung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse geht.

7.6.7   Dringlich und weiterhin ausstehend sind folgende Initiativen:

Bewertung der Realisierbarkeit einer neuen EU-Initiative zum Binnenmarkt, in Form eines nachgebesserten Gesetzesvorschlags zu den Bedingungen für Schiffsbesatzungen;

Bewertung der Realisierbarkeit der Überarbeitung der Leitlinien für staatliche Beihilfen, bei der Schlupflöcher geschlossen werden, um sicherzustellen, dass das Geld der EU-Steuerzahler in erster Linie für die Förderung der Beschäftigung von Seeleuten in der EU, ihrer Aus- und Weiterbildung sowie ihrer Einbeziehung in die bislang nicht für sie geltende Sozialgesetzgebung ausgegeben wird;

Ratifizierung des Internationalen Seearbeitsübereinkommens (MLC) der ILO von 2006 und Durchsetzung desselben mithilfe wirksamer Hafenstaatkontrolle;

ein einheitliches und konsistentes EU-Verfahren zur Erhebung von Daten über die Beschäftigungsverhältnisse von Seeleuten.

7.7   Hafendienste

7.7.1   Wie in anderen Bereichen des Verkehrsgewerbes, so mangelt es auch bei den Beschäftigungsanalysen in der Hafenindustrie an Statistiken und quantitativen Daten. Die GD Mobilität und Verkehr hat das Problem erkannt und kürzlich eine Studie zur Beschäftigungssituation in Häfen in Auftrag gegeben. Jedoch ist dies unter Umständen nicht ausreichend, um die Lücke auf systematische Weise zu schließen, und sowohl Eurostat als auch die Mitgliedstaaten sollten dazu bewogen werden, einen Beitrag zu leisten. Das Hauptproblem besteht darin, zu definieren, was ein Hafenarbeiter genau ist. Historisch betracht sind Hafenarbeiter Schauerleute oder Stauer, die unter Nutzung ihrer Körperkraft Stückgut verstauten oder löschten, doch führten die Umstellung auf den Containerbetrieb und technische Verbesserungen zu einer Diversifizierung der Hafenarbeit, die eine Definition erschwert. Zusätzliche Komplikationen ergeben sich daraus, dass mehr und mehr Logistiker in Häfen beschäftigt sind, die aber häufig unter äußerst unterschiedlichen Bedingungen arbeiten. Für den EWSA ist eine auferlegte Liberalisierung der Hafendienste nicht hinnehmbar.

7.7.2   Aus- und Weiterbildungsbedarf: Das Angebot für und die Anforderungen an Hafenarbeiter sind in der EU unterschiedlich. Einige Staaten haben umfangreiche Aus- und Weiterbildungssysteme entwickelt, in anderen ist das entsprechende Angebot dürftig. Die meisten großen Unternehmen haben eigene Ausbildungsgänge geschaffen, und die meisten großen Häfen verfügen über eigene Ausbildungszentren. In kleinen Unternehmen und Häfen mangelt es hingegen an angemessenen Ausbildungsmöglichkeiten, was sich negativ auf die Hafensicherheit auswirkt. Eine wesentliche Herausforderung bei der Ausbildung in Häfen ist die Notwendigkeit, die bestehenden Ausbildungsgänge an die raschen technischen Veränderungen anzupassen und diese gar vorwegzunehmen.

7.7.3   Es sollte die Schaffung eines gemeinsamen Rahmens für die Aus- und Weiterbildung in Betracht gezogen werden, bei dem Elemente und Module festgelegt werden, die in jeder Aus- und Weiterbildung zu berücksichtigen sind, und der Staaten mit weniger effektiven Ausbildungsgängen eine Verbesserung ihrer Programme ermöglicht. Im Allgemeinen ist ein breiteres Aus- und Weiterbildungsangebot notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit der Häfen in der EU zu steigern und sie zu sichereren Arbeitsstätten zu machen. Ein weiterer Faktor ist die Verknüpfung von Aus- und Weiterbildung und besseren Stellen: Hafenarbeiter sind Fachkräfte, und das Aus- und Weiterbildungsangebot sollte so gestaltet werden, dass ihnen eine Berufslaufbahn und der Erwerb verschiedenartiger Qualifikationen ermöglicht wird. Die Aus- und Weiterbildung in der Hafenindustrie sollte von Sozialpartnern und Behörden gemeinsam verwaltet werden, wie dies bereits in vielen Häfen geschieht.

7.7.4   Arbeitsbedingungen: Die Arbeitssicherheit in Häfen ist insbesondere mit Blick auf den Containerumschlag weiterhin ein dringliches Problem. Die Unfallberichte müssen verbessert werden und genauere Daten zu Unfallursache, Unfallort usw. enthalten. In der EU sollten Unfallberichte standardisiert werden (erforderlich ist u.a. eine Übereinkunft hinsichtlich der Definition eines Unfalls).

7.7.5   Die misslungene Durchsetzung von Vorschriften zum Gesundheitsschutz und zur Sicherheit am Arbeitsplatz ist ein weiteres Thema. Derzeit gibt es keine spezifische EU-Gesetzgebung zu Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz in Häfen, es gilt die allgemeine Rahmenrichtlinie. Es sollte sorgfältig geprüft werden, ob hier branchenspezifische Vorschriften vorgelegt werden müssen. Überdies müssen bessere Arbeitsbedingungen in Häfen über einen verbesserten sozialen Dialog auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene umgesetzt werden. Geht es ganz speziell um den industriellen Wandel (z.B. bei der Hafenprivatisierung), so sollte dieser Dialog zur Aushandlung von Lösungen führen, mit denen negative Folgen für die Arbeitsbedingungen vermieden werden können.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe auch Erwägungsgrund 17 in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 5 und 6 der Verordnung (EG) 1370/2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße.

(2)  Statistisches Handbuch der GD Mobilität und Verkehr 2010.

(3)  Statistische Handbücher der GD Energie und Verkehr 2006, 2007/2008, 2009, 2010.

(4)  In der von der GD Beschäftigung in Auftrag gegebenen Studie „Zukunftsinvestitionen in Beschäftigung und Qualifikation“ werden einige Szenarien durchgespielt.

(5)  Auf Szenarien gestützte TRANSVISION-Studie (Verkehrsentwicklungen bis 2050) ohne Schätzungen der Beschäftigungsentwicklung, http://ec.europa.eu/transport/strategies/studies/doc/future_of_transport/2009_02_transvisions_report.pdf.

(6)  Dritte und vierte europäische Erhebung über die Arbeitsbedingungen der Europäischen Stiftung für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen; Branchenanalysen 2002 und 2009; http://www.eurofound.europa.eu/surveys/index.htm.

(7)  Siehe Fußnote 2.

(8)  Von der GD Beschäftigung in Auftrag gegebene Studie „Zukunftsinvestitionen in Beschäftigung und Qualifikation - Szenarien, Folgen und Möglichkeiten“.

(9)  Siehe Fußnote 5.

(10)  Mitteilung der Kommission KOM(2006) 314 „Für ein mobiles Europa“, Seite 3.

(11)  Bewertung der Gemeinsamen Verkehrspolitik (GVP) von 2000 bis 2008, http://ec.europa.eu/transport/strategies/studies/strategies_en.htm.

(12)  ABl. C 132 vom 3. Mai 2011, S. 94.

(13)  ABl. C 255 vom 22. September 2010, S. 92.

(14)  ABl. C 182 vom 4. August 2009, S. 50.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/31


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Nachhaltige Entwicklung der EU-Verkehrspolitik und TEN-V-Planung“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des künftigen polnischen Ratsvorsitzes)

2011/C 248/05

Berichterstatter: Jacek KRAWCZYK

Der künftige polnische EU-Ratsvorsitz beschloss am 30. November 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

Nachhaltige Entwicklung der EU-Verkehrspolitik und TEN-V-Planung

(Sondierungsstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 154 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hat das TEN-V-Programm stets befürwortet und bekräftigt erneut seine Unterstützung dieses Programms. Er stellt allerdings fest, dass der Verkehrsinfrastrukturbedarf des erweiterten Europas größer geworden ist, weswegen Überlegungen darüber angestellt werden sollten, wie die derzeitige Politik und die zu ihrer Umsetzung vorhandenen Instrumente auf die sich abzeichnenden Herausforderungen abgestimmt werden können.

1.2

Nach Ansicht des EWSA geht es letztlich darum, eine Verkehrspolitik zu konzipieren, deren Umsetzung wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt dadurch bewirkt, dass das Streben nach Wirtschaftswachstum in Form eines größeren Verkehrsvolumens (die Kommission geht von einer 20 %-igen Zunahme des Verkehrsaufkommens im Zeitraum 2005 bis 2020 aus), Zusammenhalt, Schaffung von Arbeitsplätzen und nachhaltiger Entwicklung mit begrenzten Finanzmitteln in Einklang gebracht wird.

1.3

In der Praxis muss der EWSA jedoch feststellen, dass bedauerlicherweise von den 92 Vorhaben, die im Rahmen der Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen im Jahr 2007 im Kontext der Halbzeitüberprüfung des Mehrjahresarbeitsprogramms 2007-2013 ausgewählt wurden und für die ca. zwei Drittel (5,3 Mrd. EUR von insgesamt 8,0 Mrd. EUR) der gesamten TEN-V-Mittelausstattung aufgewandt wurden, nur einige wenige in den neuen Mitgliedstaaten angesiedelt sind.

1.4

Der EWSA möchte betonen, dass eine radikale Änderung bei der Auswahl der Netze erforderlich ist, wenn es der EU darum geht, einen echten integrierten Verkehrsbinnenmarkt in Europa zu schaffen und an der Kohäsionspolitik festzuhalten. Die Mitgliedstaaten sollten auf der Basis von seitens der Kommission festgelegten eindeutigen Kriterien Netze für TEN-V vorschlagen.

1.5

Aufgrund der derzeitigen Abhängigkeit des Verkehrssektors von fossilen Brennstoffen muss die EU nach Einschätzung des EWSA in ihrer künftigen Verkehrspolitik vor allem die folgenden vier Ziele verfolgen:

Förderung CO2-armer Verkehrsträger

Energieeffizienz

Versorgungssicherheit, -vielfalt und -unabhängigkeit

Eindämmung der Verkehrsüberlastung

1.6

In diesem Zusammenhang empfiehlt der EWSA die umweltfreundlichsten und am ehesten erneuerbaren Kraftstoffe einzusetzen, die den CO2-Ausstoß verringern, auf Ko-Modalität zu setzen, das Konzept der Internalisierung der externen Kosten auf sämtliche Verkehrsträger auszudehnen. Der EWSA äußert seine Besorgnis angesichts der finanziellen Beschränkungen für die TEN-V-Vorhaben auf europäischer Ebene, die möglicherweise dazu führen, dass nicht genügend Anreize für die Mitgliedstaaten geschaffen werden, sich auf solche Vorhaben einzulassen. Deswegen verweist der EWSA auf den in früheren Stellungnahmen vertretenen Standpunkt, dass neue Einnahmequellen für die öffentliche Hand erschlossen werden sollten (1).

1.7

Des Weiteren empfiehlt der EWSA, bei der Finanzierung des TEN-V umsichtig und selektiv auf öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) zurückzugreifen, die unterschiedlichen Erfahrungswerte der Mitgliedstaaten beim Einsatz öffentlich-privater Partnerschaften zu berücksichtigen und die Notwendigkeit der Mobilisierung von EU-Finanzinstrumenten (z.B. Struktur- und Kohäsionsfonds, TEN-Mittel, EIB) als Teil einer konsequenten Finanzierungsstrategie zu erkennen, die europäische, einzelstaatliche, öffentliche und private Finanzierung zusammenbringt. Was die freie Wahlmöglichkeit für die Behörden betrifft, ÖPP einzugehen, verweist der EWSA auf seinen in einer einschlägigen Stellungnahme vertretenen Standpunkt, dass die Definition von ÖPP in den Eurostat-Verfahren für öffentliche Verschuldung überarbeitet werden sollte (2).

1.8

Bei der Überarbeitung der TEN-V-Leitlinien sollte auch auf Engpässe und fehlende Verbindungen geachtet werden, um in sämtlichen und vor allem den östlichen Teilen der EU eine ausgewogene Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur zu begünstigen, damit der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt erreicht werden kann. Deswegen begrüßt der EWSA das Weißbuch „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“, in dem diesem speziellen Problem große Aufmerksamkeit geschenkt wird und Schlüsse in Bezug darauf gezogen werden, welche konkreten Maßnahmen in den nächsten Jahren ergriffen werden müssen.

1.9

Besonderes Augenmerk sollte der Nachbarschaftspolitik gewidmet werden, d.h. Verkehrsverbindungen in den Norden, Süden und Osten der EU, wobei der Schwerpunkt vor allem auf das Gesamtnetz und nicht auf einzelne Infrastrukturvorhaben gelegt werden sollte.

1.10

Der EWSA regt an, dass auf der Grundlage eines überarbeiteten TEN-V-Konzepts „Programmverträge“ zwischen der EU und jedem einzelnen Mitgliedstaat unterzeichnet werden sollten, in denen gegenseitige Verpflichtungen für die Finanzierung und Zeitpläne für die Fertigstellung von Vorhaben festgelegt werden. Nach Meinung des EWSA sollte im Interesse einer effizienteren weiteren Umsetzung der beschlossenen Vorhaben die Zivilgesellschaft in den Konzipierungsprozess solcher „Programmverträge“ eingebunden werden.

1.11

Der EWSA ist der Auffassung, dass die nachhaltige Entwicklung der EU-Verkehrspolitik durch aktiven sozialen Dialog bzw. Dialog zwischen Stakeholdern über bereits in Betrieb oder im Bau befindliche transeuropäische Verkehrskorridore maßgeblich unterstützt werden kann. Er fordert denn auch, diese Dialogstrukturen mit neuem Leben zu erfüllen.

1.12

Der EWSA empfiehlt klarzustellen, was unter Nachhaltigkeit zu verstehen ist. Nach Meinung des EWSA erstreckt sich dieser Begriff – abgesehen von seinem grundlegend wichtigen Beitrag zum Wirtschaftswachstum - nicht nur auf Umweltziele wie etwa Klimaschutz, Eindämmung der Lärmbelästigung und der Luftverschmutzung sowie Ressourcenschonung, sondern betrifft auch soziale Aspekte im Verkehrssektor, wie etwa Arbeitnehmerrechte, Arbeitsbedingungen, erschwinglicher Zugang zum öffentlichen Verkehr für alle, einschließlich älterer Menschen und Menschen mit Behinderungen, deren Recht auf Mobilität sowie auf gleichberechtigten Zugang zu physischen Einrichtungen und Informationen Rechnung zu tragen ist. Dieses Konzept sollte auch der Nachbarschaftspolitik bezüglich der Entwicklung von Verkehrsinfrastruktur Rechnung tragen.

1.13

Eine auf den Komponenten Innovation, Anreize und Infrastruktur basierende Strategie hält der EWSA für den kosteneffizientesten Weg zur Erreichung einer nachhaltigen Entwicklung.

1.14

Im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung der EU-Verkehrspolitik und TEN-V-Planung sollten die Möglichkeiten für die Beseitigung bestehender ungerechtfertigter Hindernisse für die Verkehrsträger untersucht werden, so dass die Kapazitäten voll genutzt werden können. Es sollte zu einer besseren Mobilitätsplanung angehalten werden, um Verhaltensweisen zu fördern, die mit einer nachhaltigen Entwicklung vereinbar sind. Die Herausforderung besteht darin, die Mobilität und die Verkehrintensität in unseren Volkswirtschaften zu beeinflussen.

1.15

Der EWSA unterstützt voll und ganz das im Weißbuch dargelegte Konzept der Kommission für eine stärkere Koordinierung auf europäischer Ebene. Um die ehrgeizigen Ziele bezüglich der TEN-V-Entwicklung erreichen zu können, wird angesichts der schwerwiegenden finanziellen Zwänge eine weitaus integrativere europäische Infrastrukturpolitik mit einer entsprechenden Koordinierung von der strategischen Planung bis zur letztlichen Ausführung der einzelnen Vorhaben erforderlich sein. Es ist jetzt an der Zeit, greifbare Ergebnisse zu verbuchen.

2.   Einleitung

2.1

Im Kontext des künftigen polnischen EU-Ratsvorsitzes während des zweiten Halbjahrs 2011 wurde der EWSA u.a. um Ausarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum Thema „Nachhaltige Entwicklung der EU-Verkehrspolitik und TEN-V-Planung“ ersucht.

2.2

Aufgrund der Bedeutung des Themas, der Notwendigkeit, dem Grundrecht auf Wahrnehmung der Mobilitätsmöglichkeiten Genüge zu tun und in Anbetracht der Tatsache, dass der Verkehrssektor für 10 % der EU-Wertschöpfung (sprich: des BIP) verantwortlich ist und mehr als 10 Mio. Menschen Arbeit gibt, während andererseits die Verkehrssysteme infolge der ständigen Mobilitätszunahme an ihre Grenzen stoßen und es zu Verkehrsverdichtungen, Verkehrsunfällen und Umweltverschmutzung kommt, ist der EWSA mit großem Verständnis auf dieses Ersuchen des künftigen polnischen Ratsvorsitzes eingegangen.

2.3

Die Europäische Kommission hat ein neues Verkehrsweißbuch ausgearbeitet, in dem die Pläne der Europäischen Kommission für die nächsten zehn Jahre festgelegt werden und die Verwirklichung eines anderen Verkehrssystems mit einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum, offenen Märkten, grünerer Infrastruktur und kohlenstoffarmen Technologien bis zum Jahre 2020 anvisiert wird.

2.4

Ein wichtiges Element dieses neuen Verkehrssystems ist das TEN-V-Netz. Deswegen sollte der Überarbeitung der EU-Leitlinien für das TEN-V-Netz so große Aufmerksamkeit gewidmet werden.

2.5

Im Rahmen der Überarbeitung der TEN-V-Leitlinien schlägt die Kommission die Schaffung eines sogenannten Kernnetzes vor, das grundlegende kohärente Gesamtnetzwerke überlagert und Knotenpunkte und strategische Verkehrsverbindungen enthält.

2.6

Die Kommission führt ins Feld, dass dieses Rückgrat eines integrierten europäischen Verkehrssystems für die Bewältigung beharrlicher Probleme bei der TEN-V-Planung hilfreich wäre. Wegen der Zunahme des Verkehrsaufkommens zwischen den Mitgliedstaaten, bei dem bis 2020 mit einer Verdoppelung gerechnet wird, müssen diese Probleme dringendst gelöst werden.

2.7

Die Herausforderung für die EU besteht darin, eine Politik zu konzipieren, bei deren Umsetzung es gelingt, die ehrgeizigen Zielsetzungen Wirtschaftswachstum in Form von zunehmendem Verkehrsvolumen, Zusammenhalt, Schaffung von Arbeitsplätzen und nachhaltiger Entwicklung unter einen Hut zu bringen.

2.8

Um dieser Herausforderung gewachsen zu sein, sollte vielleicht näher betrachtet werden, aus welchen Gründen in der Vergangenheit ausgewählte Vorhaben nicht den erhofften Erfolg brachten.

2.9

Angesichts der Schlüsselrolle des TEN-V bei der Schaffung einer effizienten Verkehrspolitik und eines kohärenten Infrastrukturnetzes in der Europäischen Union teilt der EWSA insgesamt die Sichtweise der Kommission, dass hierfür folgende Ursachen eine Rolle spielen:

Das derzeitige TEN-V-Netz besteht aus schlecht miteinander verbundenen einzelstaatlichen Abschnitten; die Infrastruktur ist durch vielfach fehlende grenzüberschreitende Abschnitte und schwerwiegende Engpässe gekennzeichnet.

der Mangel an interoperablen Netzen, vor allem im Eisenbahnsektor, sowie fehlende Anwendung intelligenter Verkehrssysteme für sämtliche Verkehrsträger;

die in den Mitgliedstaaten üblicherweise herangezogenen Betriebsvorschriften und -normen basieren auf langen Traditionen und Rechtsvorschriften, die die Effizienz von Großinvestitionen in Infrastruktur beeinträchtigen; der EWSA empfiehlt, diese Vorschriften und Normen auf einem hohen Sicherheits- und Qualitätsniveau festzulegen;

aufgrund mangelnder Integration zwischen Verkehrsträgern, wie etwa das Fehlen integrierter physischer Netze und gut funktionierender Umschlagplätze, gibt es nicht genügend Kapazitäten für die Organisation intermodaler Verkehre;

das nach wie vor bestehende Gefälle bei der Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur in den einzelnen Mitgliedstaaten;

die unzureichende verkehrsmäßige Versorgung einiger europäischer Regionen.

2.10

Im Lichte der Schwachstellen der Vergangenheit ist klar zu erkennen, welche Hauptprobleme angegangen werden müssen, damit sich die Nutzeffekte eines funktionellen, interoperablen und intermodalen TEN-V-Netzes einstellen können: Verwirklichung eines qualitativ hochstehenden Netzes in sämtlichen Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der grenzübergreifenden Streckenabschnitte, Engpässe und Knotenpunkte, Erleichterung ko-modaler Verkehre durch die Integration sämtlicher Verkehrsträger und ein reibungsloses Funktionieren durch die Harmonisierung der Betriebsvorschriften, die ein hohes Sicherheits- und Qualitätsniveau gewährleisten sollten.

2.11

Ein in diesem Sinne angelegtes Konzept würde auch allgemeinere verkehrspolitische Ziele angehen und den Herausforderungen Europas in Bezug auf einen effizienten Ressourceneinsatz und die Klimaproblematik zugutekommen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission an einer neuen Politik für das transeuropäische Verkehrsnetz arbeitet, die die Möglichkeit der Herbeiführung eines sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalts zwischen sämtlichen Regionen in der gesamten EU einschließlich der Regionen in Randlage vorsieht, was jedoch nur bei einer effizienten Verkehrsinfrastruktur gelingen kann, die die Regionen miteinander verbindet.

3.2

Vor diesem Hintergrund ist der EWSA überzeugt, dass die Entwicklung und schrittweise Vollendung des transeuropäischen Netzes als infrastrukturmäßige Grundlage für die Warenströme und die Freizügigkeit von Personen im Binnenmarkt ein maßgebliches politisches Ziel der EU bleibt, um den westlichen und den östlichen Teil der Europäischen Union zusammenzubringen und auf diese Weise den künftigen einheitlichen europäischen Verkehrsraum zu schaffen.

3.3

Das jüngste offizielle Dokument über die Durchführung des TEN-V-Programms ist die im Oktober 2010 vorgelegte Halbzeitbilanz der Projekte des TEN-V-Mehrjahresprogramms 2007-2013. Sie enthält eine Bewertung von 92 Vorhaben, auf die ungefähr zwei Drittel des TEN-V-Gesamthaushalts für diesen Zeitraum (5,3 Mrd. Euro von insgesamt 8,0 Mrd. Euro) entfallen. Bei der Betrachtung der geografischen Verteilung dieser Projekte fällt auf, dass bedauerlicherweise nur ein kleiner Teil dieser Vorhaben im östlichen Teil der EU angesiedelt ist.

3.4

Dies hat seine Ursache unter anderem in den unzureichenden Finanzressourcen in den neuen Mitgliedstaaten. Ein weiterer Grund liegt darin, dass für den Einsatz von Kohäsions- und Sozialfondsmitteln andere Bedingungen gelten als für die TEN-V-Finanzierung. Der EWSA empfiehlt die Vornahme einer Untersuchung über die Verzögerung beim Infrastrukturausbau in den neuen Mitgliedstaaten sowie über die geringe Inanspruchnahme und Durchführung von TEN-V-Finanzierung seitens der neuen Mitgliedstaaten.

3.5

Der EWSA betont, dass eine radikale Änderung bei der Finanzstruktur und der Auswahl der TEN-V-Vorhaben erforderlich ist, wenn es der EU darum geht, einen echten integrierten Verkehrsbinnenmarkt in Europa zu schaffen. Die Herausforderung besteht darin, die Mobilität und die Verkehrintensität in unseren Volkswirtschaften zu beeinflussen.

3.6

Dem EWSA ist bewusst, dass im Rahmen der Europa-2020-Strategie die Entwicklung des transeuropäischen Verkehrsnetzes auf die Herausbildung eines ressourceneffizienten Verkehrssystems ausgerichtet werden muss, das sich auf Innovation stützt und Herausforderungen in Bezug auf Klimawandel, soziale Nachhaltigkeit und Umwelt angeht.

3.7

In diesem Zusammenhang möchte der EWSA darauf hinweisen, dass er in den letzten Jahren zahlreiche Stellungnahmen zu diesem Fragenkomplex ausgearbeitet hat, wie etwa die Stellungnahmen zu den Themen „TEN-V: Überprüfung der Politik“ (3); „Eine nachhaltige Zukunft für den Verkehr/Europäische Verkehrspolitik nach 2010“ (4); „Eine umweltfreundliche See- und Binnenschifffahrt“ (5); „Straßenverkehr im Jahr 2020“ (6); „Aufbau eines vorrangig für den Güterverkehr bestimmten Schienennetzes“ (7); „Erleichterung der grenzübergreifenden Durchsetzung von Verkehrssicherheitsvorschriften“ (8); „Strategie zur Internalisierung externer Kosten“ (9); „Förderung der Binnenschifffahrt - NAIADES“ (10); „Europäische Verkehrspolitik/Lissabon-Strategie und Strategie für nachhaltige Entwicklung“ (11).

3.8

In seiner Stellungnahme zum Thema „TEN-V: Überprüfung der Politik“ trägt der EWSA folgende Schlussfolgerung vor: „Angesichts des steigenden CO2-Ausstoßes sowie der Infrastrukturlücken und organisatorischen Mängel im Güterverkehr teilt der Ausschuss den Standpunkt der Kommission, dass intermodale Lösungen für den Güterverkehr gefunden werden müssen, um Synergien für die Nutzer zu schaffen“.

3.9

In seiner Stellungnahme zum Thema „Europäische Verkehrspolitik/Lissabon-Strategie und Strategie für nachhaltige Entwicklung“ vertritt der EWSA den Standpunkt, dass angesichts der Abhängigkeit des Verkehrssektors von fossilen Kraftstoffen und eingedenk der Endlichkeit der Ressourcen die EU in ihrer künftigen Verkehrspolitik unter Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit des Sektors im Rahmen der Europa-2020-Strategie folgende vier Ziele verfolgen muss:

Förderung CO2-armer Verkehrsträger

Energieeffizienz

Versorgungssicherheit und –unabhängigkeit sowie

Eindämmung der Verkehrsüberlastung

3.10

Europa befindet sich hier eindeutig in einer Zwickmühle: Einerseits möchte es einen integrierten Verkehrsbinnenmarkt für alle 27 Mitgliedstaaten schaffen, was aber gewaltige Infrastrukturinvestitionen voraussetzt, weil Infrastruktur die Grundlage für Solidarität ist, andererseits gibt es Beschränkungen in Form von Haushaltsengpässen und Zielvorgaben für die Eindämmung der Emissionen an Treibhausgasen und anderen Schadstoffen.

3.11

Der EWSA hat in einigen der vorgenannten Stellungnahmen bereits Anregungen gegeben, wie dieses Dilemma überwunden werden kann: Auswahl der umweltfreundlichsten und am besten erneuerbaren Brennstoffe, bei denen der CO2-Ausstoß deutlich geringer ist, Ko-Modalität, Einführung des Konzepts der Internalisierung der externen Kosten bei sämtlichen Verkehrsträgern und schließlich auch Einführung weiterer Finanzinstrumente wie etwa der umsichtige und selektive Rückgriff auf öffentlich-private Partnerschaften zur Finanzierung von TEN-V-Vorhaben unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Erfahrungswerte der Mitgliedstaaten beim Einsatz öffentlich-privater Partnerschaften und Anerkennung der Notwendigkeit der Mobilisierung von EU-Finanzinstrumenten (z.B. Struktur- und Kohäsionsfonds, TEN-Mittel, EIB) als Teil einer konsequenten Finanzierungsstrategie, die europäische, einzelstaatliche, öffentliche und private Finanzierung zusammenbringt. Was die freie Wahlmöglichkeit für die Behörden betrifft, ÖPP einzugehen, verweist der EWSA auf seinen in einer einschlägigen Stellungnahme vertretenen Standpunkt, dass die Definition von ÖPP in den Eurostat-Verfahren für öffentliche Verschuldung überarbeitet werden sollte (12).

3.12

Der EWSA äußert seine Besorgnis angesichts der finanziellen Beschränkungen für die TEN-V-Vorhaben auf europäischer Ebene, die möglicherweise dazu führen, dass nicht genügend Anreize für die Mitgliedstaaten geschaffen werden, sich auf solche Vorhaben einzulassen. Deswegen verweist der EWSA auf seine Stellungnahmen, denen zufolge neue Einnahmequellen für die öffentliche Hand erkundet werden sollten (13).

3.13

Was die CO2-Emissionen angeht, zu denen der Verkehr in der EU mit 24 % einen beachtlichen Anteil beisteuert, möchte der EWSA betonen, dass der städtischen Dimension des Verkehrs besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Mehr als 70 % der Bevölkerung der EU lebt in Städten, von denen ein Viertel der gesamten verkehrsbedingten CO2-Emissionen ausgehen mit weiterhin steigender Tendenz. Um den Verkehr nachhaltiger zu gestalten, müssen die Städte mit Unterstützung auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene natürlich ihrer Verantwortung nachkommen. Andererseits erfolgt der Güterferntransport in der EU weitgehend entlang wichtiger ko-modaler Korridore. Deswegen muss vorrangig angestrebt werden, diese Verkehrskorridore effizienter und nachhaltiger zu gestalten. Es sollte zu einer besseren Mobilitätsgestaltung angehalten werden, um Verhaltensweisen zu fördern, die mit einer nachhaltigen Entwicklung vereinbar sind.

3.14

Trotz der Finanzierungsprobleme der EU, der häufig geringen lokalen Akzeptanz neuer Infrastruktur und der Umweltfolgen solcher Investitionen ist neue Infrastruktur erforderlich, um Lücken im bestehenden Netz zu schließen und Engpässe zu beseitigen. Vor allem in den neuen Mitgliedstaaten gibt es noch immer viele solcher Infrastrukturlücken und -engpässe.

3.15

Der EWSA ist der Überzeugung, dass abgesehen davon und im Interesse einer besseren Ko-Modalität die Anstrengungen und Geldmittel generell auf die Knotenpunkte des Verkehrssystems wie etwa Umschlagplätze konzentriert werden sollten, weil diese zunehmend zu Verkehrsengpässen werden und deshalb genau wie die Verbindungskorridore zwischen ihnen besondere Beachtung finden sollten. Technologie und intelligente Verkehrssysteme können hierbei sehr hilfreich sein, vor allem in den Städten. Eine der Herausforderungen besteht darin, sie entsprechend zum Einsatz zu bringen und verkehrsträgerübergreifend zu integrieren.

3.16

Bei der Überarbeitung der TEN-V-Leitlinien werden auch die Engpässe und fehlenden Verbindungen angegangen werden müssen, um eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur in allen und vor allem den östlichen Teilen der EU zu fördern, wo es an hochqualitativen Schienen- und Straßenverbindungen mangelt und ko-modale Lösungen für eine ganze Reihe gewaltiger Engpässe bei bestehenden Verkehrsverbindungen und –knotenpunkten noch immer ausstehen.

3.17

Der EWSA befürwortet zwar einerseits das von der Kommission ins Visier genommene Kernnetzkonzept für die wichtigsten grenzübergreifenden Korridore, andererseits sollten jedoch auch weiterhin EU-Mittel für die künftige Entwicklung des umfassenden Verkehrsnetzes bereitgestellt werden, vor allem für Mitgliedstaaten, die zu gleichen Bedingungen wie in der derzeitigen Finanziellen Vorausschau für eine Unterstützung mit Mitteln aus dem Kohäsionsfonds in Betracht kommen.

3.18

Dies liegt mit der Sichtweise auf einer Linie, dass der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt ohne den Bau aller fehlenden Teilstücke des gesamten TEN-V-Netzes und die Verbesserung der in einem schlechten Zustand befindlichen bestehenden und künftigen Netzkomponenten auf nachhaltige Weise nicht zu erreichen ist.

3.19

Was den Sicherheitsaspekt anbelangt, sollte nach Meinung des Ausschusses vor allem der Verbesserung der Bauweise von Infrastrukturelementen einschl. Tunneln besonderes Augenmerk gewidmet werden.

3.20

Der EWSA ist der Meinung, dass bei der Durchführung von TEN-T-Projekten mehr Wert auf Transparenz gelegt werden sollte, und zwar nicht nur während der Konsultationen oder der Auswahl, sondern auch in den Bauausführungsphasen. Obgleich er sich bewusst ist, dass die Hauptverantwortung hierfür bei den nationalen Regierungen liegt, legt der EWSA der Kommission nahe, beim Dialog mit nationalen Partnern freimütiger zu sein und strengere Vorschriften zur Transparenz bei der Projektdurchführung zu erlassen, sodass der Öffentlichkeit regelmäßig ausführlichere Informationen zum physischen und finanziellen Stand der einzelnen Projekte zur Verfügung stehen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der EWSA ist der Auffassung, dass die nachhaltige Entwicklung der EU-Verkehrspolitik durch aktiven sozialen Dialog bzw. Dialog zwischen Stakeholdern über bereits in Betrieb oder im Bau befindliche transeuropäische Verkehrskorridore maßgeblich unterstützt werden kann. Er fordert denn auch, diese Dialogstrukturen mit neuem Leben zu erfüllen.

4.2

Der EWSA empfiehlt „dass bei der Gestaltung eines neuen TEN-V-Konzepts die so genannte Nachbarschaftspolitik, d.h. Verbindungen in den Osten und Süden der EU, ausdrücklich berücksichtigt wird. Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten sich in erster Linie auf das Netz an sich und nicht auf die einzelnen Infrastrukturvorhaben konzentrieren. Dadurch wird auch die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten gefördert.“

4.3

Der EWSA stimmt in seiner Stellungnahme zum Thema „TEN-V: Überprüfung der Politik“ (14) dem Denkansatz der Kommission in ihrem Grünbuch in Bezug auf die künftige Planung des TEN-V-Netzes zu, dass jeder Verkehrsträger entsprechend seiner relativen Vorteile in der ko-modalen Verkehrskette eingesetzt werden muss und so eine wichtige Rolle dabei spielt, die Gemeinschaft beim Erreichen ihrer Klimaschutzziele zu unterstützen. Zielsetzung muss eine Verlagerung auf die umweltfreundlichsten Verkehrsträger bleiben.

4.4

In diesem Zusammenhang möchte der EWSA an das Konzept der „Grünen Korridore“ erinnern, das die Kommission in ihrem Aktionsplan Güterverkehrslogistik im Jahr 2007 lanciert hat. Dieses Konzept zielt ab auf die Entwicklung nachhaltiger ko-modaler Logistiklösungen mit nachweislich geringeren Umwelt- und Klimafolgen, anspruchsvollem Sicherheits- und Qualitätsniveau und hoher Effizienz im Wege von Demonstrationsplattformen entlang internationaler Korridore mit konzentrierten Güterverkehrsströmen. Der EWSA möchte dieses Konzept mit den qualitativ anspruchsvollen ko-modalen Kernnetzkorridoren des TEN-V-Netzes kombinieren, die sich durchaus für eine solche Entwicklung in Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Partnern eignen könnten.

4.5

Die Kommission hat festgestellt, dass das derzeitige System völlig umgestellt werden muss. Die neuen Mitgliedstaaten kommen weniger stark in den Genuss von EU-Finanzmitteln als die „alten“ Mitgliedstaaten. Um Bedingungsgleichheit zu schaffen, müssen neue Finanzierungsmöglichkeiten entwickelt werden.

4.6

Bezüglich der Gültigkeit der Argumente, die die Kommission zur Rechtfertigung der von ihr getroffenen Wahl der Vorhaben, für die EU-Mittel bereitgestellt werden, heranzieht, hegt der EWSA Bedenken. Die Kommission führt ins Feld, dass diese Vorhaben „uns bei der Vorbereitung auf künftige Verkehrsprioritäten unterstützen werden, insbesondere durch eine umweltfreundlichere Gestaltung des Verkehrs, die Schaffung besserer Verkehrsverbindungen zwischen Europas Osten und Westen sowie die Förderung öffentlich-privater Partnerschaften“. Zumindest die Verbesserung der Ost-West-Verbindungen kann in Frage gestellt werden; außerdem sollten nach Ansicht des EWSA auch andere Finanzierungsmöglichkeiten als ÖPP bedacht werden.

4.7

Das Konzept der Kommission, durch die Ernennung europäischer Koordinatoren die internationale Zusammenarbeit zu stärken, in Kombination mit der Schwerpunktsetzung auf die Langzeitunterstützung der kritischsten Infrastrukturvorhaben sowie die Einrichtung einer Exekutivagentur hätte eigentlich für mehr Transparenz sorgen und einen positiven Beitrag zur Entwicklung des TEN-V leisten müssen. Aber sowohl die Analyse der europäischen Koordinatoren als auch die Ergebnisse der Mehrjahresprogramm-Überprüfung („multi-annual portfolio review“) bestätigen, dass die bisherigen Fortschritte wegen mangelnder Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten sehr bruchstückhaft sind.

4.8

Der EWSA regt an, dass auf der Grundlage eines überarbeiteten TEN-V-Konzepts so genannte „Programmverträge“ zwischen der EU und jedem einzelnen Mitgliedstaat geschlossen werden sollten, in denen gegenseitige Verpflichtungen bezüglich der Finanzierung und Zeitpläne für die Fertigstellung von Vorhaben festgelegt werden. Diese Verträge sollten sich nicht nur auf die Infrastruktur erstrecken, die Teil des TEN-V-Netzes ist, sondern auch Sekundärinfrastruktur betreffen, zu deren Vollendung sich die Mitgliedstaaten verpflichten würden, um ein reibungsloses Funktionieren der Hauptnetze zu gewährleisten und der Bevölkerung so eine bessere Dienstleistung zu bieten. Nach Meinung des EWSA sollte im Interesse einer effizienteren weiteren Umsetzung der beschlossenen Vorhaben die Zivilgesellschaft in den Konzipierungsprozess solcher „Programmverträge“ eingebunden werden,

4.9

In ihrer Halbzeitbilanz der Projekte des TEN-V-Mehrjahresprogramms 2007-2013 stellt die Kommission fest, dass von den 92 Vorhaben, auf die sich dieses Programm erstreckt, 21 Projekte grenzüberschreitender Natur sind, wobei der am stärksten geförderte Verkehrsträger die Schiene ist, gefolgt von der Binnenschifffahrt; in ihrem Dokument „The New Trans-European Transport Network Policy“ kommt sie hingegen zu dem Ergebnis, dass die Vorhaben im Luft- und Straßenverkehrsbereich und in geringerem Maße auch die Seeverkehrsvorhaben im Vergleich zu den Schienenverkehrs- und Binnenschifffahrtsvorhaben insgesamt recht gut dastehen.

4.10

Der EWSA rät der Kommission klarzustellen, was unter dem Begriff Nachhaltigkeit zu verstehen ist. Um beurteilen zu können, ob ein vorgeschlagenes Vorhaben den Nachhaltigkeitsanforderungen genügt, muss eindeutig feststehen, was dieser Begriff - vorzugsweise quantitativ - beinhaltet.

4.11

In diesem Zusammenhang möchte der EWSA betonen, dass Nachhaltigkeit – abgesehen von ihrem grundlegend wichtigen Beitrag zum Wirtschaftswachstum - nicht nur Umweltziele einschließt wie etwa Klimaschutz, Eindämmung der Lärmbelästigung und der Luftverschmutzung sowie Ressourcenschonung, sondern auch soziale Aspekte im Verkehrssektor betrifft, wie etwa Arbeitnehmerrechte, Arbeitsbedingungen, erschwinglicher Zugang zum öffentlichen Verkehr im Allgemeinen, aber gerade auch für ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen, wobei darauf zu achten ist, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu physischen Einrichtungen und Informationen gewährt wird.

4.12

Der EWSA möchte darauf hinweisen, dass er eine Strategie befürwortet, die auf den Komponenten Innovation, Anreizen und Infrastruktur beruht, weil er sie als kosteneffizientesten Weg zur Erreichung einer nachhaltigen Entwicklung erachtet:

Innovation: Entwicklung und verstärkter Einsatz technischer Lösungen „an der Quelle“ sowie von geeigneten Betriebspraktiken zur Senkung der verkehrsbedingten Umweltfolgen.

Anreize: Bei sämtlichen Verkehrsträgern Ermutigung zu einer raschen Einführung von Technologie und Vorgehensweisen, die dem Stand der Technik entsprechen.

Infrastruktur: Gewährleistung eines sicheren und reibungslosen Verkehrsflusses unter Nutzung der bestehenden Infrastruktur in Kombination mit entsprechenden Investitionen in neue Infrastruktur zur Beseitigung von Engpässen und zur Schließung von Infrastrukturlücken.

4.13

Der EWSA stellt fest, dass ein integriertes Konzept für die transeuropäischen Netze (TEN) eines der Mittel und Wege zur Erreichung des Ziels einer nachhaltigen Entwicklung der Europäischen Union darstellt. Der EWSA ist der Überzeugung, dass ein integrierter Ansatz die Verwirklichung der geplanten transeuropäischen Netze beschleunigen und eine Senkung der damit verbundenen Kosten bewirken kann, im Unterschied zu einem Konzept, das die Wirkungen potenzieller Synergien zwischen verschiedenen Arten von Netzen unberücksichtigt lässt (15).

4.14

Der EWSA ist der Ansicht, dass aufgrund der Wirtschaftskrisen in Europa und der beschränkten Haushaltsmittel für das TEN-V eine Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den einzelnen Instrumenten für die TEN-V-Finanzierung sowie die Erschließung neuer Finanzquellen und Kreditmechanismen erforderlich sind.

4.15

Der EWSA unterstützt voll und ganz das im Weißbuch dargelegte Konzept der Kommission für eine stärkere Koordinierung auf europäischer Ebene. Um die ehrgeizigen Ziele bezüglich der TEN-V-Entwicklung erreichen zu können, wird angesichts der schwerwiegenden finanziellen Zwänge eine weitaus integrativere europäische Infrastrukturpolitik mit einer entsprechenden Koordinierung von der strategischen Planung bis zur letztlichen Ausführung der einzelnen Vorhaben erforderlich sein.

4.16

Nach Ansicht des EWSA erscheint das Weißbuch genau zum richtigen Zeitpunkt, da es die Formulierung einer starken politischen Botschaft im Kontext der anstehenden Überprüfung des EU-Haushalts ermöglichen dürfte. Die künftige Finanzierung des Ausbaus der EU-Verkehrsinfrastruktur muss auf realistische Bestrebungen zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Verkehrsraums innerhalb eines möglichst kurzen Zeithorizonts abheben.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 57-64 (Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Neubelebung der Wirtschaft: aktueller Stand und konkrete Initiativen“) und ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 99-107 (Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums“ und „Mitteilung der Kommission über die Entwicklung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums“).

(2)  ABl. C 51 vom 17.2.2011, S. 59-66 (Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Mobilisierung privater und öffentlicher Investitionen zur Förderung der Konjunktur und eines langfristigen Strukturwandels: Ausbau öffentlich-privater Partnerschaften“).

(3)  ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 101.

(4)  ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 110.

(5)  ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 20.

(6)  ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 25.

(7)  ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 41.

(8)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 70.

(9)  ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 80.

(10)  ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 218.

(11)  ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 23.

(12)  ABl. C 51 vom 17.2.2011, S. 59-66 (Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Mobilisierung privater und öffentlicher Investitionen zur Förderung der Konjunktur und eines langfristigen Strukturwandels: Ausbau öffentlich-privater Partnerschaften“).

(13)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 57-64 (Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Neubelebung der Wirtschaft: aktueller Stand und konkrete Initiativen“) und ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 99-107 (Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums“ und „Mitteilung der Kommission über die Entwicklung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums“).

(14)  ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 101.

(15)  ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 25 (Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission „Transeuropäische Netze: Entwicklung eines integrierten Konzepts“).


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/37


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Beitrag der Zivilgesellschaft zur Östlichen Partnerschaft“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des künftigen polnischen Ratsvorsitzes)

2011/C 248/06

Berichterstatter: Gintaras MORKIS

Mit Schreiben vom 15. November 2010 ersuchte der Rat den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema:

Der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Östlichen Partnerschaft

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 25. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 16. Juni) mit 133 gegen 1 Stimme bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) misst der Östlichen Partnerschaft (ÖstP) als strategischer Notwendigkeit und politischer Investition der EU, von der die Bürger der Europäischen Union und ihrer Partnerländer künftig profitieren werden, große Bedeutung bei. Die Ereignisse in der Mittelmeerregion haben gezeigt, dass der Zivilgesellschaft beim Übergang zu Demokratie, bei Verfassungsreformen und dem Institutionenaufbau weiterhin eine entscheidende Rolle zukommt. Deshalb sollte der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Östlichen Partnerschaft unterstützt und gebührend berücksichtigt werden, um den Erfolg dieser Initiative zu gewährleisten.

1.2   Der EWSA begrüßt die Fortschritte, die bei der Umsetzung der offiziell im Mai 2009 eingeleiteten Initiative der Östlichen Partnerschaft erzielt worden sind. Alle Länder der Östlichen Partnerschaft haben durch den Dialog über Assoziierungsabkommen, Freihandelszonen, die Lockerung der Visabestimmungen, die Zusammenarbeit im Bereich der Energieversorgungssicherheit und andere Fragen ihre Beziehungen zur EU verbessert und intensiviert. (Bedauerlicherweise hat Weißrussland infolge der Ereignisse nach den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 in seinen Beziehungen mit der EU einen großen Schritt zurück gemacht.)

1.3   Beitrag der Zivilgesellschaft zur multilateralen Ebene der Östlichen Partnerschaft

1.3.1   Beteiligung an den thematischen zwischenstaatlichen Plattformen der ÖstP

1.3.1.1   Der EWSA ist zur Mitarbeit in drei der vier thematischen zwischenstaatlichen Plattformen der ÖstP aufgefordert worden und hat somit die Gelegenheit, in diesen Plattformen die Standpunkte der Zivilgesellschaft zu vertreten. Der EWSA fordert die Kommission jedoch auf, ihn auch zu einer Beteiligung und Mitarbeit im Rahmen der thematischen Plattform 3 „Energieversorgungssicherheit“ einzuladen, da er auch in diesem Bereich über die entsprechende Sachkenntnis verfügt.

1.3.1.2   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass den Vertretern der entsprechenden Arbeitsgruppen des Forums der Zivilgesellschaft der Östlichen Partnerschaft (Forum der ÖstP) die Teilnahme an den Sitzungen der thematischen zwischenstaatlichen Plattformen ermöglicht werden sollte.

1.3.2   Das Forum der Zivilgesellschaft der Östlichen Partnerschaft

1.3.2.1   Der Ausschuss begrüßt außerdem die im November 2009 erfolgte Einrichtung des Forums der Zivilgesellschaft der Östlichen Partnerschaft. Er betrachtet die nationalen Plattformen des Forums der ÖstP als überaus geeignetes Instrument zur Umsetzung der Östlichen Partnerschaft in den Partnerländern unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft, bedauert jedoch, dass die Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und andere Verbände aus Wirtschaft und Gesellschaft (z.B. der Landwirte und Verbraucher) auf nationaler Ebene nicht oder nur geringfügig in die Tätigkeit der nationalen Plattformen einbezogen werden.

1.3.2.2   Da die Sozialpartner im Forum der ÖstP gegenwärtig nicht angemessen vertreten sind, empfiehlt der Ausschuss, die Geschäftsordnung des Forums insbesondere hinsichtlich der Auswahlverfahren für die Teilnahme zu überarbeiten, damit die Beteiligung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern sowie Vertretern anderer Interessengruppen sowohl seitens der EU als auch seitens der Partnerländer in dem Forum deutlich intensiver gestaltet werden kann.

1.3.2.3   Der Ausschuss fordert, die Konzeption des Forums mit Blick auf eine effizientere Gestaltung seiner Tätigkeit bei gleichzeitiger effektiver Nutzung der zur Verfügung stehenden Mittel zu überdenken. Der Schwerpunkt könnte auf ein kontinuierliches und projektorientiertes Handeln verlagert werden (im Rahmen der Arbeitsgruppen und nationalen Plattformen des Forums).

1.3.2.4   Der Ausschuss schlägt vor, die Zahl der Vertreter aus der EU in dem Forum zu erhöhen, um den Erfahrungsaustausch anzuregen und die Annäherung an europäische Werte zu fördern. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, der mit seinen 344 Mitgliedern die organisierte Zivilgesellschaft der EU vertritt, verfügt über ausgezeichnete Voraussetzungen, um innerhalb des Forums einen aktiven Beitrag zur Verwirklichung der Ziele der ÖstP zu leisten, sofern die Geschäftsordnung des Forums eine verstärkte und ständige Beteiligung des Ausschusses sowohl am zivilgesellschaftlichen Forum selbst als auch am Lenkungsausschuss zulässt.

1.3.2.5   Angesichts des wachsenden Wirkungskreises des zivilgesellschaftlichen Forums und insbesondere des Tätigkeitsbereichs der nationalen Plattformen ist der Ausschuss bereit, seinen Beitrag zu leisten, um die Arbeitsweise des Forums zu verbessern. Er vertritt außerdem die Auffassung, dass die Einrichtung eines Sekretariats notwendig geworden ist, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Arbeit des Lenkungsausschusses.

1.3.2.6   Sollte es dem Forum weiterhin nicht gelingen, die strukturellen Schwächen in seiner Arbeitsweise zu beseitigen, würde der Ausschuss andere Wege zur Mobilisierung der Akteure aus Wirtschaft und Gesellschaft in den östlichen Partnerländern erwägen, um die Ziele der ÖstP zu verwirklichen.

1.4   Konsolidierung der Zivilgesellschaft in den Partnerländern und Beitrag zur bilateralen Ebene der Östlichen Partnerschaft

1.4.1   Der Ausschuss verfolgt die Ereignisse im südlichen Mittelmeerraum mit großer Aufmerksamkeit. Er ist fest davon überzeugt, dass die EU den Demokratisierungs- und Stabilisierungsprozess in dieser Region unterstützen sollte. Gleichzeitig ruft der EWSA zu einem langfristig ausgewogenen Vorgehen gegenüber den südlichen und östlichen Nachbarn der EU auf, einschließlich in Bezug auf Finanzhilfen für politische und wirtschaftliche Reformen, die Anpassung an EU-Standards und die Stärkung der Zivilgesellschaft.

1.4.2   Nach Ansicht des Ausschusses kann eine unzureichende Finanzierung möglicherweise zur Enttäuschung der Erwartungen führen, die an die Östliche Partnerschaft als wichtiges Instrument zur Förderung der Annäherung an europäische Werte gestellt werden. Vor diesem Hintergrund begrüßt der Ausschuss generell den Vorschlag der Kommission zur Überprüfung der Europäischen Nachbarschaftspolitik, bedauert jedoch, dass in der Mitteilung „Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel“ nicht die Schaffung von Mechanismen zur Konsultation der Zivilgesellschaft in den Ländern der ENP gefordert wird und darüber hinaus kein einziger Hinweis auf die eigene zivilgesellschaftliche Institution der EU und die Rolle enthalten ist, die der EWSA in diesem Prozess spielen kann.

1.4.3   Der EWSA würde den Vorschlag, eine Europäische Stiftung für Demokratie und eine Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft einzurichten, begrüßen. Er fordert die Kommission jedoch auf, Lehren aus der Erfahrung mit der Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft des Westbalkans zu ziehen, um Fehler zu vermeiden.

1.4.4   Der Ausschuss hält die Zusammenarbeit mit unabhängigen Organisationen in den Partnerländern für äußerst wichtig. Es ist aber auch erforderlich, mit den bestehenden, von den Regierungen abhängigen Organisationen zusammenzuarbeiten und gleichzeitig die Einrichtung unabhängiger Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zu unterstützen, die in der Lage sind, an einem echten sozialen Dialog teilzunehmen, Vorstellungen von Demokratie, Menschen- und Arbeitnehmerrechten zu verbreiten und die übrigen Ziele der Initiative der Östlichen Partnerschaft zu verfolgen.

1.4.5   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Intensivierung des Dialogs zwischen den Regierungen und der Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene eine Voraussetzung für die Demokratisierung der Gesellschaft in den östlichen Partnerländern und deren Annäherung an europäische Werte ist. Es ist von besonderer Bedeutung, die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Konzipierung und Durchführung der ENP-Aktionspläne zu stärken.

1.4.6   Der Ausschuss fordert, in allen Ländern der Östlichen Partnerschaft Strukturen zur Konsultation der Zivilgesellschaft, beispielsweise Wirtschafts- und Sozialräte oder vergleichbare Einrichtungen, zu schaffen, wobei die spezifischen Besonderheiten eines jeden Landes zu berücksichtigen sind. Die in einigen Partnerländern bestehenden nationalen Plattformen des Forums der ÖstP könnten hierbei eine solide Ausgangsbasis bilden. Der EWSA ist bereit, seine Erfahrungen mit der Zivilgesellschaft in den östlichen Partnerstaaten zu teilen.

1.4.7   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass in die Assoziierungsabkommen, die zwischen der EU und den Partnerländern ausgehandelt werden, Bestimmungen über die Einrichtung gemeinsamer zivilgesellschaftlicher Gremien aufgenommen werden sollten, die für die Überwachung der Umsetzung dieser Abkommen zuständig sind.

1.4.8   Bezüglich der Verhandlungen zu dem weitreichenden und umfassenden Freihandelsabkommen (FHA) und der sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen ist der Ausschuss der Ansicht, dass die Zivilgesellschaft aus der EU und den Partnerländern in die Erarbeitung von Nachhaltigkeitsprüfungen vor der Aufnahme der Verhandlungen einbezogen werden sollten und in das künftige FHA Mechanismen der Zivilgesellschaft aufgenommen werden sollten, um die Umsetzung der auf nachhaltige Entwicklung gerichteten Bestimmungen zu überwachen.

1.5   Der Ausschuss hegt die Hoffnung, dass das Jahr 2011 für die Östliche Partnerschaft von entscheidender Bedeutung sein wird, da der ungarische und besonders der polnische Ratsvorsitz der Initiative neue Impulse verleihen dürften.

1.6   Der Ausschuss richtet diese Empfehlungen an die Staats- und Regierungschefs und erhofft sich von dem Gipfeltreffen zur Östlichen Partnerschaft in Polen im Herbst 2011 eine angemessene Würdigung des Beitrags der Zivilgesellschaft der letzten zwei Jahre sowie des erreichten Fortschritts, gleichzeitig aber auch eine kritische Bewertung der Unzulänglichkeiten im Hinblick auf die unzureichende Einbeziehung der Sozialpartner und die Schwächen des zivilgesellschaftlichen Forums.

2.   Beitrag der Zivilgesellschaft zur multilateralen Ebene der Östlichen Partnerschaft

2.1   Die Europäische Union hat ein lebhaftes Interesse daran, dass in den Nachbarländern an ihrer östlichen Grenze Stabilität herrscht, eine gute Regierungsführung und eine vorhersehbare Politik betrieben wird und dass sich die Wirtschaft positiv entwickelt. Auch die Länder in Osteuropa und im Südkaukasus bemühen sich ihrerseits um aktivere und engere Beziehungen zur EU. Der zentrale Faktor für die Fortschritte dieser Länder bei der Annäherung an die EU liegt in den Wertvorstellungen und in der Konvergenz der Rechtsetzung und Regulierung. Daher ist die östliche Nachbarschaft als politische Investition der EU zum künftigen Nutzen der Bürger der Europäischen Union und im Dienste des allgemeinen Fortschritts in den Partnerländern zu sehen.

2.2   Teilnahme an den thematischen zwischenstaatlichen Plattformen der ÖstP

2.2.1   In der Mitteilung der Europäischen Kommission zur Östlichen Partnerschaft wird darauf hingewiesen, dass der Beteiligung der Zivilgesellschaft eine besondere Rolle eingeräumt werden sollte. Der EWSA ist zur Mitarbeit in drei der vier thematischen zwischenstaatlichen Plattformen aufgefordert worden (Plattform 1 „Demokratie, verantwortungsvolle Regierungsführung und Stabilität“, Plattform 2 „Wirtschaftliche Integration und Konvergenz mit der EU-Politik“ sowie Plattform 4 „Direkte Kontakte zwischen den Menschen“), und er kann in diesen Plattformen die Standpunkte der Zivilgesellschaft vermitteln. Obgleich sich der Ausschuss eingehend mit Energiefragen befasst, hat er jedoch bislang keine Aufforderung zur Mitarbeit in der wichtigen thematischen Plattform „Energieversorgungssicherheit“ erhalten.

2.2.2   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Plattformen Fortschritte bei der Verwirklichung der Ziele der Östlichen Partnerschaft erreicht haben, bedauert jedoch die begrenzte Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass Vertretern der entsprechenden Arbeitsgruppen des Forums der ÖstP die Teilnahme an den Sitzungen der thematischen zwischenstaatlichen Plattformen ermöglicht werden sollte. Hierdurch kann sich die Zivilgesellschaft über die Tätigkeit der Plattformen informieren sowie praktikablere und konkretere Empfehlungen abgeben. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, Verhandlungen mit den Partnerländern zu führen, um Änderungen in der Geschäftsordnung der zwischenstaatlichen Plattformen vorzunehmen und für das Forum einen ständigen Teilnehmerstatus in den Plattformen zu erwirken.

2.2.3   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass sich die Plattformen auf Projekte beziehen könnten, die für die Zivilgesellschaft von Interesse sind. Als aussagekräftiges Beispiel für die Einbeziehung von Wirtschaftsverbänden in die Östliche Partnerschaft kann das von Eurochambres gemeinsam mit den Partnern aus den östlichen Partnerländern durchgeführte Programm EAST-INVEST angesehen werden. Dabei handelt es sich um ein neues, auf die Östliche Partnerschaft ausgerichtetes dreijähriges Projekt, das darauf abzielt, in der Region der östlichen Nachbarländer den Handel zu erleichtern und die wirtschaftliche Entwicklung und Investitionen voranzutreiben. An dem Projekt sind 21 Kammern aus EU-Ländern beteiligt, mit dem die Ziele der zwischenstaatlichen Plattform 2 „Wirtschaftliche Integration und Konvergenz mit der EU-Politik“ umgesetzt werden. Insgesamt stehen für das Projekt Mittel in Höhe von 8,75 Mio. EUR zur Verfügung, von denen die Europäische Kommission 7 Mio. bereitgestellt hat. Es bleibt zu hoffen, dass die mit diesem Projekt anvisierten Ziele erreicht werden und es wesentlich dazu beiträgt, die Ziele der Östlichen Partnerschaft zu verwirklichen. Dieses Beispiel könnte für konkrete Projekte zwischen Organisationen aus der EU und den Partnerländern genutzt werden, die wie Landwirtschafts-, Verbraucher-, Umweltschutzverbände u.a. in anderen Bereichen aktiv sind.

2.2.4   Der Ausschuss vertritt außerdem die Auffassung, dass es zu einer umfassenden Einbeziehung von Unternehmen in die Vorreiterinitiative zu den KMU im Rahmen der Plattform 2 kommen muss und dass organisierte Treffen zwischen Unternehmen zur Einrichtung eines Wirtschaftsforums der ÖstP führen können, das die Unterstützung seitens der Wirtschaftsorganisationen für die Verhandlungen über das weitreichende und umfassende FHA verstärken werden.

2.2.5   Der Ausschuss weist die Kommission darauf hin, dass in keine der Regierungsplattformen der soziale Dialog eingeschlossen ist, obwohl dieser zum gemeinschaftlichen Besitzstand gehört.

2.3   Forum der Zivilgesellschaft der ÖstP

2.3.1   Der Vorschlag der Kommission zur Gründung eines Forums der Zivilgesellschaft ist auf breite Zustimmung gestoßen.

2.3.2   Die meisten Mitglieder des Forums der ÖstP sind jedoch Strategiegruppen und Nichtregierungsorganisationen, die nicht die gesamte Vielfalt der Zivilgesellschaft widerspiegeln. Nur wenige der Organisationen aus den Partnerländern vertreten sowohl die Interessen der Unternehmer und Beschäftigten, als auch die der Sozialpartner, d.h. der Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften, oder andere wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen (z.B. der Landwirte und Verbraucher, der Wissenschaft und Forschung).

2.3.3   Unter den 17 Mitgliedern des Lenkungsausschusses ist kein einziger Sozialpartner aus den Partnerländern vertreten.

2.3.4   Im Verlauf der letzten anderthalb Jahre wurden in allen Partnerländern nationale Plattformen des Forums der ÖstP gegründet, in denen die zivilgesellschaftlichen Organisationen der jeweiligen Länder zur Umsetzung der Ziele der Östlichen Partnerschaft zusammenkommen können.

2.3.5   Der Ausschuss begrüßt ausdrücklich die Einrichtung nationaler Plattformen des Forums der ÖstP und den von ihnen geleisteten Beitrag zur Östlichen Partnerschaft. An dieser Stelle seien einige erwähnenswerte Beispiele genannt:

Die weißrussische Plattform stellte im Juli 2010 „Fahrpläne zur Östlichen Partnerschaft für Weißrussland“ auf.

Die aserbaidschanische Plattform führte zahlreiche Veranstaltungen zu aktuellen Themen für Staat und Zivilgesellschaft durch, z.B. zum Beitritt Aserbaidschans zur WTO, zu alternativen und erneuerbaren Energiequellen und Energieeffizienz sowie zur Lage kleiner und mittlerer Unternehmen.

Der Nationale Beteiligungsrat, der als nationale Plattform der Republik Moldau diente, bevor eine solche Plattform offiziell eingerichtet wurde, konnte an allen Sitzungen des Ministerkabinetts der Republik Moldau teilnehmen und seinen Standpunkt zu Regierungsentscheidungen und geplanten politischen Maßnahmen vorbringen.

Der Ausschuss bedauert jedoch, dass die Sozialpartner auf nationaler Ebene auch hier nicht oder nur geringfügig in die Tätigkeit der nationalen Plattformen einbezogen werden, die aus diesem Grund das Thema soziale Rechte nicht abdecken.

2.3.6   Der Ausschuss hat einige Unzulänglichkeiten in der Arbeitsweise des Forums der ÖstP festgestellt und ist zur Zusammenarbeit mit dem Lenkungsausschuss bereit, um die Arbeit des Forums zu verbessern.

2.3.7   Die derzeitige Zusammensetzung des Forums der ÖstP steht nicht im Einklang mit dem Grundsatzpapier der Kommission, in dem es heißt: „Die Mitgliedschaft in dem Zivilgesellschaftlichen Forum der Östlichen Partnerschaft muss für alle zivilgesellschaftlichen Organisationen offen sein, d.h. für Bürgerorganisationen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Berufsverbände, Nichtregierungsorganisationen, Strategiegruppen, gemeinnützige Stiftungen, nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen/Netze sowie für andere betroffene Akteure der Zivilgesellschaft aus den östlichen Partnerländern, aber auch aus den EU-Mitgliedstaaten und internationalen Organisationen/Netzen. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen aus Drittländern können hinzugezogen werden. Der EWSA und seine Partnereinrichtungen in den Partnerländern müssen eine wichtige Rolle spielen, insbesondere in Bezug auf Unternehmen, Beschäftigung, Arbeit und Sozialfragen.“ Die größten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen Europas haben am 19. Mai 2010 in einem Schreiben an die Mitglieder des Forums ihre Besorgnis über diesen Zustand zum Ausdruck gebracht. Hochrangige Vertreter des EWSA und der Europäischen Kommission haben Gespräche über die Zusammensetzung des Forums geführt und die Tatsache erörtert, dass einige Ziele der Östlichen Partnerschaft, insbesondere im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Integration, nur durch Einbindung aller relevanten Partner in die Arbeit des Forums erreicht werden können.

2.3.8   Der Ausschuss ist auch der Meinung, dass die Rolle der zivilgesellschaftlichen Organisationen der EU in dem Forum bedeutend ausgebaut werden muss. Sie sind bislang nicht nur deshalb unterrepräsentiert, weil die Zahl der Teilnehmer aus der EU verhältnismäßig gering ist, sowohl im Forum (von den 230 Organisationen, die zum zivilgesellschaftlichen Forum in Berlin eingeladen wurden, stammen nur 80 aus der EU), als auch im Lenkungsausschuss (7 Sitze von 17). Auch aus einem territorialen Blickwinkel heraus ist die Teilnahme der Zivilgesellschaft aus der EU eingeschränkt. Es überwiegen die Organisationen aus einigen Mitgliedstaaten an der östlichen EU-Außengrenze. Nur wenige zivilgesellschaftliche Organisationen der EU verfolgen eigene Projekte oder Programme für die östlichen Partnerländer.

2.3.9   Der EWSA ist bereit, seine Kapazitäten, Erfahrungen, sein Know-how und seine Kontakte dafür einzusetzen, die derzeitigen Ungleichgewichte im zivilgesellschaftlichen Forum zu korrigieren. Die 344 Mitglieder des Ausschusses bilden ein enormes Potenzial, um der ÖstP in den EU-Institutionen, allen Mitgliedstaaten und allen Bereichen der Zivilgesellschaft, insbesondere unter den Sozialpartnern, mehr Gewicht zu verleihen.

2.3.10   Zur Erfüllung seiner Aufgaben muss der Ausschuss in den Strukturen des zivilgesellschaftlichen Forums angemessen vertreten sein. Die geltenden Regelungen lassen eine ständige und effiziente Einbindung des EWSA in das Forum nicht zu und sollten daher entsprechend geändert werden.

2.3.10.1   Eine stärkere Teilnahme des EWSA und anderer Akteure aus Wirtschaft und Gesellschaft könnte auch zu einer ausgewogeneren Beteiligung in den Arbeitsgruppen des Forums führen. Derzeit sind die meisten Organisationen in die Arbeitsgruppen „Demokratie, verantwortungsvolle Regierungsführung und Stabilität“ sowie „Kontakte zwischen den Menschen“ eingebunden, während es für die Arbeitsgruppen „Wirtschaftliche Integration und Annäherung an die sektorspezifischen Politiken der EU“ sowie „Umwelt, Klimawandel und Energiesicherheit“ nicht genügend Teilnehmer gibt, was im Widerspruch zu der Bedeutung steht, die den von ihnen abgedeckten Themenbereiche für eine erfolgreiche Umsetzung der ÖstP zukommt. Auch hier könnte der Ausschuss seinen Beitrag leisten.

2.3.10.2   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Arbeit des Forums der ÖstP stärker projektbezogen sein muss. Einige Arbeitsgruppen, wie etwa die „Wirtschaftliche Integration und Annäherung an die sektorspezifischen Politiken der EU“, haben versucht, spezielle Projekte zu entwickeln, waren jedoch nicht erfolgreich, da zu wenig Finanzmittel und nicht genügend Partner zur Verfügung standen. Das Potenzial und die Verwaltungskapazitäten des EWSA könnten für die Entwicklung konkreter Projekte von Nutzen sein. Auch durch gemeinsam erarbeitete Studien und Projekte könnte der Beitrag der Zivilgesellschaft zur ÖstP verstärkt werden.

2.3.10.3   Der EWSA schlägt vor, den Lenkungsausschuss für einen Zeitraum von zwei Jahren zu wählen, um dessen Effizienz zu verbessern und ausreichend Zeit für die Umsetzung von Projekten und Ideen und geben. Zudem vertritt der Ausschuss die Ansicht, dass die Einrichtung eines Sekretariats für den Lenkungsausschuss erforderlich geworden ist.

2.3.11   Sollte die Arbeitsweise des Forums der ÖstP weiterhin unbefriedigend bleiben, würde der Ausschuss andere Wege zur Mobilisierung der Akteure aus Wirtschaft und Gesellschaft erwägen, um die Ziele der ÖstP zu verwirklichen.

3.   Konsolidierung der Zivilgesellschaft in den Partnerländern und Beitrag zur bilateralen Ebene der Östlichen Partnerschaft

3.1   Die jüngsten Ereignisse in Nordafrika und dem Nahen Osten haben deutlich gezeigt, dass Regime auch dann scheitern, wenn sie zwar eine wichtige Rolle für die Sicherheit und Stabilität in der Region spielen und finanziell von den westlichen Demokratien unterstützt werden, dabei jedoch die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung vernachlässigen und die Rechte und Freiheiten der Menschen missachten. Die Weltgemeinschaft kann nun nichts anderes tun, als mit Sorge die politische Entwicklung in der Region beobachten und Spekulationen darüber anstellen, wie die globalen Folgen aussehen könnten. Die jüngsten Ereignisse in dieser Region müssen genau analysiert, die daraus resultierenden Lehren bewertet und Schlussfolgerungen gezogen werden.

3.1.1   Die östlichen Partnerländer unterscheiden sich sehr deutlich in Bezug auf ihre politische Situation und die Lage der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die Länder haben einen unterschiedlichen Entwicklungsstand in Bezug auf Demokratie, Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten; ihr wirtschaftliches und soziales Niveau, selbst ihre geopolitische Orientierung ist uneinheitlich. Genauso unterschiedlich sind die Bemühungen dieser Länder im Hinblick auf die Annäherung an die EU und die Ziele, auf die sie ihre Beteiligung an der Östlichen Partnerschaft ausrichten. Auch stehen der Zivilgesellschaft in den einzelnen Partnerländern nicht die gleichen Möglichkeiten für eine Beteiligung an der Östlichen Partnerschaft offen. Daher müssen die betreffenden Partnerländer zunächst einzeln untersucht werden, bevor bewertet werden kann, welche Fortschritte sie erzielt haben und in welchem Maße die Zivilgesellschaft in diese Initiative eingebunden ist bzw. welche Möglichkeiten ihr dazu offenstehen.

3.2   Von den östlichen Partnerstaaten haben es vor allem die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien verstanden, das Potenzial der Östlichen Partnerschaft in bestimmten Bereichen zu nutzen. Sollte sich jedoch der Abstand dieser drei Länder zu den übrigen östlichen Partnerstaaten noch weiter vergrößern, kann die Zukunft der Östlichen Partnerschaft als regionales Projekt in Osteuropa auf lange Sicht in Frage gestellt werden. In diesem Zusammenhang haben die Europäische Kommission und die Zivilgesellschaft in den übrigen drei Ländern einen wichtigen Beitrag dazu zu leisten, dass sich die Kluft nicht noch weiter vergrößert. Die größten Probleme wirft freilich Weißrussland auf, doch sollte gerade mit Blick auf die besondere innenpolitische Lage dieses Landes seine Einbeziehung in die Östliche Partnerschaft nicht in Frage gestellt werden.

3.3   Der Ausschuss räumt ein, dass im Rahmen der Östlichen Partnerschaft die Durchführung der Aufgaben in den Bereichen regionale Sicherheit, Stabilität, wirtschaftliche Integration, Umweltschutz, Energieversorgungssicherheit, Kontakte zwischen den Menschen etc. nur dann denkbar ist, wenn in den Partnerländern die Menschenrechte geachtet und die Vereinigungsfreiheit respektiert werden und wenn ein echter sozialer und ziviler Dialog stattfindet. Daher sollte gerade im Falle Weißrusslands diesen Fragen größere Aufmerksamkeit geschenkt werden, obwohl insgesamt gesehen auch in anderen Partnerländern Probleme in diesem Bereich zu verzeichnen sind.

3.4   Es ist nicht zu leugnen, dass es in den östlichen Partnerstaaten an einem echten sozialen Dialog und Mechanismen zur Konsultation der Zivilgesellschaft fehlt. Häufig gelten ausschließlich die von den Regierungen eingesetzten und unterhaltenen Organisationen als Partner für den sozialen und zivilen Dialog. Der Ausschuss hält die Zusammenarbeit mit unabhängigen Organisationen in den Partnerländern für äußerst wichtig. Es ist aber auch erforderlich, mit den bestehenden, von den Regierungen anerkannten und mitunter von ihnen abhängigen Organisationen zusammenzuarbeiten und diese in ihrer Entwicklung zu unterstützen, gleichzeitig jedoch die Einrichtung unabhängiger Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zu fördern, wo diese bislang fehlen, und sie in die Lage zu versetzen, an einem echten sozialen Dialog teilzunehmen, Vorstellungen von Demokratie, Menschen- und Arbeitnehmerrechten zu verbreiten und die übrigen Ziele der Initiative der Östlichen Partnerschaft zu verfolgen.

3.5   Einerseits könnte eine stärkere Einbindung der Zivilgesellschaft die Umsetzung der Ziele der Östlichen Partnerschaft in den Partnerländern vorantreiben, andererseits könnten die Östliche Partnerschaft und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft zu deren Stärkung beitragen. Der staatliche Sektor sollte bei der Gestaltung von Programmen für den Ausbau der Verwaltungskapazität über die Bedeutung der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner aufgeklärt und mit den Erfahrungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu Möglichkeiten einer Einbindung der Zivilgesellschaft im Entscheidungsfindungsprozess bekannt gemacht werden. Die Erfahrungen der Organisationen in den mitteleuropäischen Ländern dürften sich für eine Stärkung der Kapazitäten von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen der Länder der Östlichen Partnerschaft als äußerst nützlich erweisen. Der EWSA ist auch bereit, den Regierungen der Östlichen Partnerschaft sein Know-how zur Verfügung zu stellen, um einen geeigneten Rechtsrahmen für den sozialen und zivilen Dialog zu schaffen.

3.6   Vor diesem Hintergrund begrüßt der Ausschuss generell den Vorschlag der Kommission zur Überprüfung der Europäischen Nachbarschaftspolitik, bedauert jedoch, dass in der Mitteilung „Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel“ nicht die Schaffung von Mechanismen zur Konsultation der Zivilgesellschaft in den Ländern der ENP gefordert wird und darüber hinaus kein einziger Hinweis auf die eigene zivilgesellschaftliche Institution der EU und die Rolle enthalten ist, die der EWSA in diesem Prozess spielen kann.

3.7   Der EWSA begrüßt darüber hinaus den Vorschlag, eine Europäische Stiftung für Demokratie und eine Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft einzurichten, da dies zweifellos eine stärkere Beteiligung der Zivilgesellschaft am politischen Leben zur Folge hätte. Er fordert die Kommission aber auch auf, Lehren aus der Erfahrung mit der Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft und mit anderen Formen der Unterstützung der Zivilgesellschaft im Rahmen der Heranführungshilfe zu ziehen. In dem Beitrag des EWSA zu der von der Kommission durchgeführten laufenden Überprüfung der Unterstützung der EU für die Zivilgesellschaft der Westbalkanländer und der Türkei betont der Ausschuss, dass den Sozialpartnern, insbesondere den Gewerkschaften, die in einigen Fällen praktisch völlig ignoriert werden, mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Konkret bedeutet dies, den Schwerpunkt nicht nur auf Projekte, sondern auch auf den Aufbau von Institutionen und die allgemeine Tragfähigkeit der Organisationen zu legen.

3.8   Um zu ermitteln, inwieweit Organisationen der Zivilgesellschaft in die Östliche Partnerschaft einbezogen werden und an den Dialogen mit den nationalen Regierungen beteiligt sind, hat der EWSA diese Organisationen darum gebeten, einen kurzen Fragebogen auszufüllen. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass es am Dialog zwischen den nationalen Regierungen und Organisationen der Zivilgesellschaft mangelt, nicht zuletzt auch in Bezug auf die Assoziierungsabkommen und die Umsetzung der ENP-Aktionspläne. Die Regierungen konsultieren die Organisationen zu wenig zu Fragen im Zusammenhang mit der Östlichen Partnerschaft. Die Hauptinformationsquellen sind in diesem Bereich die Delegationen der Europäischen Kommission in den jeweiligen Ländern und die Medien. Natürlich ist die Situation von Land zu Land verschieden. Am weitesten fortgeschritten ist der Dialog zwischen den Behörden und der Zivilgesellschaft in der Republik Moldau, und die in dieser Hinsicht komplizierteste Situation liegt in Weißrussland vor. Der Ausschuss fordert, in allen Ländern der Östlichen Partnerschaft Strukturen zur Konsultation der Zivilgesellschaft zu schaffen, beispielsweise Wirtschafts- und Sozialräte oder vergleichbare Einrichtungen. Die bestehenden nationalen Plattformen des Forums der ÖstP könnten in diesen Prozess einbezogen werden. Der EWSA ist bereit, die Zivilgesellschaft in den Partnerländern beim Aufbau von Institutionen für den zivilen Dialog zu unterstützen und dabei seine Erfahrungen aus den jüngsten Erweiterungen zu nutzen.

3.9   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass in die Assoziierungsabkommen, die zwischen der EU und den Partnerländern ausgehandelt werden (derzeit sind Verhandlungen mit allen Partnerländern im Gange, außer mit Weißrussland) institutionelle Bestimmungen über die Einrichtung gemeinsamer zivilgesellschaftlicher Gremien aufgenommen werden sollten, damit die Zivilgesellschaft die Möglichkeit erhält, die Umsetzung der Abkommen zu beobachten. Diese Gremien könnten von den durch die Assoziierungsabkommen geschaffenen Assoziationsräten beraten werden oder auf eigene Initiative Vorschläge unterbreiten. Im Idealfall würden sie als Beobachter an den Sitzungen der Assoziationssräte teilnehmen. Ihnen sollten Vertreter der Zivilgesellschaft, einschließlich der Wirtschafts- und Sozialpartner und Nichtregierungsorganisationen, angehören. Der EWSA sollte in angemessener Weise vertreten sein.

3.10   Die Europäische Kommission hat bereits Verhandlungen zu einem weitreichenden und umfassenden Freihandelsabkommen (FHA) mit der Ukraine aufgenommen und Verhandlungen mit Georgien, Armenien und der Republik Moldau vorgesehen, sobald die Bedingungen für solche Verhandlungen erfüllt sind. Die weitreichenden und umfassenden FHA könnten erhebliche Auswirkungen auf das Geschäftsklima und die sozialen Bedingungen in den Partnerländern haben. Daher ist der ständige Dialog mit der Zivilgesellschaft während des Verhandlungsprozesses von vorrangiger Bedeutung.

3.11   Bezüglich der Verhandlungen und des Abschlusses der weitreichenden und umfassenden FHA und der sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen ist der Ausschuss der Ansicht, dass die Zivilgesellschaft in die Erarbeitung von Nachhaltigkeitsprüfungen vor der Aufnahme der Verhandlungen einbezogen werden sollte. Diese Einbeziehung wird dazu beitragen, die Öffentlichkeit für die Vorteile des FHA zu sensibilisieren. In das künftige FHA sollten zudem Mechanismen der Zivilgesellschaft aufgenommen werden, um die Umsetzung der auf nachhaltige Entwicklung gerichteten Bestimmungen zu überwachen.

3.12   Fast zwei Jahre nach Einleitung der Östlichen Partnerschaft ist nach wie vor unklar, wie sie die regionale Initiative zur Schwarzmeersynergie (2007) ergänzen soll, denn an beiden Initiativen nehmen nahezu dieselben Partnerländer teil. Auf Ebene der Zivilgesellschaft könnte eine Zusammenarbeit zwischen dem Forum der ÖstP und dem NRO-Schwarzmeerforum (Black Sea NGO Forum) etabliert werden.

3.13   Der Beitrag des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Östlichen Partnerschaft

3.13.1   Der EWSA misst der Östlichen Partnerschaft große Bedeutung bei, denn sie ist eine strategische Notwendigkeit und eine politische Investition seitens der EU, von der die Bürger der Europäischen Union und ihrer Partnerländer künftig profitieren werden.

3.13.2   Bereits seit fünf Jahren befasst sich der EWSA mit der Lage der Zivilgesellschaft in allen Partnerländern, insbesondere im Hinblick auf die Vereinigungsfreiheit, die Meldebestimmungen, die Steuerregeln und -verfahren, die Meinungsfreiheit und die Funktionsweise der dreiseitigen Konsultationen. Zu folgenden Themen hat er einschlägige Stellungnahmen erarbeitet und eine Reihe von Empfehlungen abgegeben: „Größeres Europa – Nachbarschaft: Ein neuer Rahmen für die Beziehungen der EU zu ihren östlichen und südlichen Nachbarn“ (1); „Die Zivilgesellschaft in Weißrussland“ (2); „Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Republik Moldau: Welche Rolle kommt der organisierten Zivilgesellschaft zu?“ (3); „Beziehungen EU-Ukraine: eine neue dynamische Rolle für die Zivilgesellschaft“ (4); „Vernetzung der zivilgesellschaftlichen Organisationen im Schwarzmeerraum“ (5); „Zivilgesellschaftliche Beteiligung an der Umsetzung der ENP-Aktionspläne in den Ländern des Südkaukasus“ (6). Auf Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes hat der Ausschuss eine Sondierungsstellungnahme zum Thema „Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Östliche Partnerschaft“ erarbeitet.

3.13.3   Der EWSA hat Kontakte mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen in den östlichen Partnerländern aufgebaut und eine Reihe von Seminaren zur Bedeutung des sozialen Dialogs und der Konsultationen der Zivilgesellschaft organisiert. Auf diesen Veranstaltungen hat der EWSA wiederholt darauf hingewiesen, wie wichtig eine Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Umsetzung der ENP-Aktionspläne ist.

3.13.4   Gemeinsam mit dem ukrainischen Wirtschafts- und Sozialrat veranstaltet der EWSA jährliche Seminare in der Ukraine, um über Angelegenheiten von gemeinsamen Interesse zu beraten. Er hofft, dass derartige jährliche Veranstaltungen in den kommenden Jahren auch mit den anderen östlichen Partnerstaaten durchgeführt werden können. Der EWSA ist bereit, sich an der Organisation jährlicher thematischer Veranstaltungen der Zivilgesellschaft in allen östlichen Partnerstaaten zu beteiligen, um die Fortschritte bei der Umsetzung der ENP-Aktionspläne zu erörtern.

3.13.5   Der EWSA befürwortet, dass der derzeitige ungarische und künftige polnische Ratsvorsitz der östlichen Partnerschaft Priorität einräumen, und wird hierzu mit zwei weiteren Stellungnahmen einen Beitrag leisten, und zwar zu den Themen „Energieversorgung: Wie muss eine Nachbarschaftspolitik aussehen, die die Versorgungssicherheit der EU gewährleistet?“ sowie „Die Östliche Partnerschaft und die östliche Dimension der EU-Politik unter besonderer Berücksichtigung der EU-Agrarpolitik“. Der EWSA hofft, dass seine drei Stellungnahmen zur Östlichen Partnerschaft breite Zustimmung finden und zur Verwirklichung einiger der Ziele der ÖstP beitragen werden.

Brüssel, den 16. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 80 vom 30.3.2004, S. 148-155.

(2)  ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 123-127.

(3)  ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 89-95.

(4)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 157-163.

(5)  ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 144-151.

(6)  ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 37-41.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/43


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Integration der Wasserpolitik in andere relevante Politikfelder der EU“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des ungarischen Ratsvorsitzes)

2011/C 248/07

Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE

Der künftige ungarische Ratsvorsitz beschloss am 13. November 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um eine Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

Integration der Wasserpolitik in andere relevante Politikfelder der EU“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 20. Mai 2011 an. Berichterstatterin war An LE NOUAIL MARLIÈRE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 106 gegen 26 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1   Unter Verweis auf sein Sachwissen in den Bereichen Umwelt und Landwirtschaft sowie seine Kenntnis der Herausforderungen im Zusammenhang mit den Auswirkungen des Klimawandels in Europa (abwechselnde Perioden von Überschwemmungen und Dürre und in der Folge eine Verschlechterung der Wasser- und Bodenqualität, der Infrastruktur sowie der wirtschaftlichen und sozialen Tätigkeiten) empfiehlt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, die Problemstellungen unter ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten in einem konsolidierten und bereichsübergreifenden Konzept zu behandeln.

1.2   Nach Ansicht des Ausschusses ist es von grundlegender Bedeutung, dass die EU sich mit der Wasserrahmenrichtlinie eine europäische Wasserpolitik an die Hand gegeben hat. Er fordert die Mitgliedstaaten und EU-Institutionen auf, diese Politik in dem Bewusstsein zu konsolidieren, dass Wasser vor allem aufgrund seiner lebenswichtigen, aber auch seiner wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Funktion für die Bürger, die Industrie und die Landwirtschaft sowie die Gebietskörperschaften von wesentlichem Belang ist.

1.3   Daher fordert der Ausschuss, die Ressource Wasser in den Mittelpunkt jedweder EU-Politik zu stellen.

1.4   Im Hinblick auf die besonderen Anforderungen und Aufgaben des ländlichen Raums und des Landbaus im Zuge der Diskussionen über die Zukunft der GAP nach 2013 empfiehlt der Ausschuss, die Mittel aus der ersten Säule vermehrt für die Wasserpolitik auf der Grundlage der „Ökokonditionalität“ (1) bereitzustellen sowie die agroökologischen Maßnahmen der zweiten Säule und die Finanzhilfen für den Gewässerschutz so weit auszubauen, dass auch die Landwirte mitmachen.

1.5   Angesichts der Tatsache, dass viele obdachlose oder in desolaten Unterkünften lebenden Unionsbürger nach wie vor über keinen kostenlosen Zugang zu fließendem und/oder Trinkwasser verfügen, besteht ein Zusammenhang zwischen den Herausforderungen in Verbindung mit der Ressource Wasser und der Bekämpfung und Beseitigung der Armut.

1.6   Darüber hinaus möchte der Ausschuss auf die internationale und außereuropäische Dimension der europäischen Umweltpolitik eingehen, indem er die EU-Strategie, ihren handels-, umwelt- und entwicklungspolitischen Ansatz sowie ihr Zusammenspiel mit den weltweiten Umweltstrategien sowohl in der EU selbst (grenzüberschreitende Einzugsgebiete) als auch im Rahmen ihrer Außenpolitik erörtert (2).

1.7   Der Ausschuss fordert die Mitgliedstaaten und die EU auf, das Übereinkommen der Vereinten Nationen über das Recht der nichtschifffahrtlichen Nutzung internationaler Wasserläufe (3) aus dem Jahr 1997 zu ratifizieren.

1.8   In Bezug auf den Binnenmarkt ist eingehend zu untersuchen, wie sich eine Wasserpolitik, in der die soziale, ökologische und wirtschaftliche Dimension nicht berücksichtigt wird, auf Grundrechte, Integration und sozialen Zusammenhalt sowie Gesundheit allgemein und insbesondere finanziell auswirkt.

1.9   Im Zuge der Integration der Wasserpolitik müssen die Strategien miteinander in Einklang gebracht werden, die zwischen den verschiedenen territorialen Interessen in den Mitgliedstaaten und den in der Regel betroffenen Sektoren (Beschäftigung, Gesundheitswesen, Umweltschutz, intensive und biologische Landwirtschaft, Energie, Raumordnung, Finanzierung öffentlicher Maßnahmen usw.) und Akteuren (Privathaushalte, industrielle und landwirtschaftliche Nutzer und Verbraucher) zum Tragen kommen.

1.10   Bisher folgte die Wasserbewirtschaftung in Europa einem angebots- und nachfrageorientierten Ansatz. Nun aber muss die EU neue Mittel finden, um auf naturbedingte und menschengemachte Katastrophen vorbereitet zu sein, die die Wasservorräte kurzfristig bedrohen und beeinträchtigen.

1.11   Angesichts der grundlegenden Rolle der Böden und Pflanzen als „Puffer“, die Niederschläge zwischenspeichern, fordert der Ausschuss den Rat auf, die Annahme der Bodenschutz-Richtlinie erneut in Angriff zu nehmen, da diese für eine effiziente Wasserpolitik unabdingbar ist (4).

1.12   Gleichzeitig muss sie auch ein nachhaltiges Konzept für die Wasserbewirtschaftung aufstellen und ihre Bemühungen auf eine ressourcenschonendere Nachfrage ausrichten, um die Ressource Wasser durch eine effizientere Nutzung (Neuorganisierung der Wasserentnahmen und Einsatz neuer Technologien) zu schützen und zu erhalten.

1.13   Der Wasserkreislauf ist zwar großteils noch rein natürlicher Art, umfasst allerdings bereits auch künstliche Etappen, die durch neue Technologien ermöglicht wurden. Darüber darf jedoch nicht die Notwendigkeit aus den Augen verloren werden, Entscheidungen demokratisch zu treffen. Es gilt, einen ausgewogeneren Ansatz für Wasserentnahmen zu finden, der den Anforderungen und den konkurrierenden Verwendungszwecken zwischen verschiedenen Wirtschafts- und Energiesektoren wie auch der Notwendigkeit des Schutzes der Süßwasser-Ökosysteme und der Wahrung eines Grundrechts der Bürger Rechnung trägt.

1.14   Die integrierte Bewirtschaftung der Einzugsgebiete ist für den Schutz und die Bewirtschaftung der Ressource Wasser von grundlegender Bedeutung. Hier ist die Einbindung aller Interessenträger gefragt, um Maßnahmen zu ermitteln und durchzuführen, die den regionalen Herausforderungen auch wirklich gerecht werden. Oftmals wird dabei ein Kompromiss zwischen unterschiedlichen Interessen und Sektoren (Stadtplanung, Überschwemmungsgebiete, Bodennutzung, insbesondere zu landwirtschaftlichen Zwecken, Industrie, Energie) notwendig sein.

1.15   Der Ausschuss betont, dass ein Rahmen für EU-Finanzhilfen und staatliche Beihilfen abgesteckt und entsprechend ausgestattet und/oder aufgestockt werden könnte, um die Hilfen zum Schutz des kollektiven territorialen öffentlichen Interesses wie die Wiederherstellung von Feuchtgebieten oder die Erhaltung der biologischen Vielfalt zu erfassen, insbesondere im Zuge der Reform der EU-Beihilfevorschriften über Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (5).

1.16   Die Mitgliedstaaten und Gebietskörperschaften sollten das Grundrecht jedes Bürgers auf Zugang zur lebensnotwendigen Wasserversorgung gewährleisten sowie die rechtlichen und wirtschaftlichen Anforderungen in Bezug auf die Transparenz und Umkehrbarkeit der Übertragungen von öffentlichen Dienstleistungen oder Dienstleistungen von allgemeinem Interesse aufmerksam verfolgen und verbessern (öffentliches Eigentum, Verpachtung, Preisgestaltung, Rückinvestitionen, Wartung der Anlagen).

1.17   Der Ausschuss weist auf die Notwendigkeit hin, ein ebenso integriertes Management der Human- und Sozialressourcen sicherzustellen: Aus- und Weiterbildung, Zertifizierung und Anerkennung von Qualifikationen, vorausschauendes, umfassendes und integriertes Personalmanagement zur Förderung der beruflichen und geografischen Mobilität unter Berücksichtigung des Gender-Aspekts, Einrichtung einer Datenbank.

1.18   Der Ausschuss empfiehlt, den sozialen Dialog als Element zur Sicherstellung der Durchführung sämtlicher Aufgaben der Wasserversorgung und der Abwasseraufbereitung in all ihrer Vielfalt und auf allen Ebenen zu berücksichtigen, und zwar sowohl in Bezug auf ein Statut für die Beschäftigten als auch auf die Sicherheitsbelange des Personals und der Bürger.

1.19   In Bezug auf die Information und Konsultation der Nutzer sind die Wirtschafts- und Sozialräte aufgrund ihrer Repräsentativität und Unabhängigkeit, ihres Sachverstands und ihrer Möglichkeiten, öffentliche Anhörungen zu veranstalten, eine wichtige Ressource.

2.   Legislativinstrumente zur Wasserpolitik

2.1   Die Wasserpolitik umfasst mehrere Aspekte: Wasserbewirtschaftung, -schutz und –nutzung, Katastrophenmanagement, Umweltschutz und öffentliche Gesundheit.

2.2   Im Folgenden eine Zusammenstellung der wichtigsten EU-Rechtsvorschriften und politischen Entwicklungen im Bereich Wasserbewirtschaftung:

1970er Jahre: frühe Entwicklungen

1976: Badegewässerrichtlinie

1980: Trinkwasserrichtlinie

1990er Jahre: Behandlung der Verschmutzungsursachen direkt an der Quelle

1991: Richtlinie über die Behandlung von kommunalem Abwasser

1991: Richtlinie über Verunreinigung durch Nitrat aus der Landwirtschaft

1996: Richtlinie über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (IVU-Richtlinie)

seit 2000: Ausweitung, Kohärenz, Integration

2000: Wasserrahmenrichtlinie und Tochterrichtlinien – 2006 Richtlinie zum Schutz des Grundwassers; 2008 Richtlinie über Umweltqualitätsnormen in der Wasserpolitik (Prioritäre Stoffe)

2007: Hochwasserrichtlinie

2007: Mitteilung „Antworten auf die Herausforderung von Wasserknappheit und Dürre in der Europäischen Union“

2.2.1   In der Wasserrahmenrichtlinie 2000/60/EG ist die Bewirtschaftung der Einzugsgebiete zum kontinuierlichen Schutz der Ressource Wasser vorgeschrieben. Durch die Einführung des Begriffs „Einzugsgebiete“ wird auch eine integrierte Bewirtschaftung der Binnen- und Küstengewässer ermöglicht.

2.2.2   Durch die Maßnahmenprogramme für die Einzugsgebiete werden in dieser Richtlinie die Herstellung eines guten Zustands der Gewässer bis 2015 (vorbehaltlich der Möglichkeit gerechtfertigter Ausnahmebestimmungen) und die Verhinderung einer weiteren Gewässerverschlechterung vorgeschrieben:

Vermeidung und Reduzierung der Umweltverschmutzung;

Förderung einer nachhaltigen Wassernutzung, Umweltschutz;

Verbesserung des Zustands der aquatischen Ökosysteme;

Minderung der Auswirkungen von Überschwemmungen und Dürren.

2.2.3   Die Mitgliedstaaten haben die Aufgabe, die Einzugsgebiete in ihrem Hoheitsgebiet zu ermitteln, ein Verzeichnis dieser Einzugsgebiete zu erstellen, ihre Merkmale zu analysieren, gefährdete Einzugsgebiete aufzuzeigen und die Auswirkungen menschlicher Tätigkeiten auf die Einzugsgebiete zu untersuchen. Es werden Bewirtschaftungspläne für die Einzugsgebiete erstellt, um der Verschlechterung des Gewässerzustands und Verschmutzungen vorzubeugen sowie Maßnahmen für die Verbesserung und Sanierung dieser Einzugsgebiete einzuleiten, und zwar für Oberflächen- und Grundwasser sowie Schutzgebiete. Außerdem soll die Verschmutzung durch Einleitungen und Emissionen von gefährlichen Stoffen verringert werden. Diesbezüglich wird die Wasserrahmenrichtlinie durch die Richtlinie über Umweltqualitätsnormen in der Wasserpolitik (Prioritäre Stoffe) aus dem Jahr 2008 ergänzt.

2.2.4   Eine vorübergehende Verschlechterung des Zustands von Wasserkörpern ist Gegenstand zahlreicher Ausnahmebestimmungen. Sie verstößt nicht gegen die Anforderungen der Rahmenrichtlinie, wenn sie durch durch Unfälle entstandene, aus natürlichen Ursachen herrührende oder durch höhere Gewalt bedingte Umstände, die außergewöhnlich sind oder nicht vorhersehbar waren, bedingt sind. Die Mitgliedstaaten müssen derartige Ausnahmebestimmungen gegenüber der Europäischen Kommission begründen und rechtfertigen.

2.2.5   In dieser Rahmenrichtlinie werden die Mitgliedstaaten außerdem dazu verpflichtet, ab 2010 unter Stützung auf die anteilig orientierten Grundsätze des Wasserentnahmevolumens, des Verursacherprinzips und der Kostendeckung eine geeignete Wassergebührenpolitik für die verschiedenen Benutzer (Haushalte, Industrie, Landwirtschaft usw.) zu konzipieren.

2.2.6   Die Mitgliedstaaten müssen Sanktionen für Verstöße gegen diese Richtlinie festlegen, und die Europäische Kommission kann im Falle einer Nichteinhaltung Vertragsverletzungsverfahren in Verbindung mit Sanktionen einleiten. Allerdings ermöglichen die komplexen Verfahrensregelungen bei Verstößen keine strikte Anwendung der Sanktionen und das Sanktionssystem hat keine ausreichend abschreckende Wirkung. Bei wiederholtem Vergehen sollte sinnvollerweise eine zunehmend höhere Geldstrafe verhängt werden (die sich bei jedem neuen Vergehen verdoppelt).

2.2.7   Die im Rahmen von REACH (Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe) geleisteten Arbeit und die Liste der wichtigsten Schadstoffe werden dazu beitragen, die Verbreitung langlebiger Schadstoffe im Wasser zu verringern, die aquatischen Ökosysteme zu schützen und so die Gefahren für die öffentliche Gesundheit zu senken.

2.3   Die Europäische Kommission befasst sich mit der Wasser-Thematik im Rahmen des „Gesundheitschecks“ der Gemeinsamen Agrarpolitik.

2.3.1   Mit dem GAP-„Gesundheitscheck“ wurde die Verpflichtung eingeführt, so genannte Pufferstreifen entlang von Wasserläufen anzulegen, in denen Beschränkungen für die Anwendung von Pestiziden gelten, und einen Teil der aus der GAP bereitgestellten Mittel für die Bekämpfung von Wasserknappheit aufzuwenden. Die Anwendung dieser Maßnahmen muss unbedingt sichergestellt werden. Außerdem sollten Folgenabschätzungen in Bezug auf die Wassermenge, die für die Erzeugung von Biokraftstoffen und Biomasse benötigt wird, vorgenommen werden.

2.4   Mit der Hochwasserrisikomanagementrichtlinie soll die Ressource Wasser bei Naturkatastrophen erhalten werden (6).

2.4.1   In der Richtlinie 2007/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bewertung und das Management von Hochwasserrisiken werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, Hochwassergefahren- und -risikokarten sowie Hochwasserrisikomanagementpläne zu erstellen, um die Hochwasserrisiken zu vermindern. Außerdem sind für die Umsetzung der Richtlinie eine grenzübergreifende Zusammenarbeit und ein Informationsaustausch in den gemeinsamen grenzüberschreitenden Flussgebietseinheiten vorgesehen.

2.5   Die Opfer von Naturkatastrophen erhalten Entschädigungen aus dem Solidaritätsfonds der Europäischen Union (EUSF).

2.5.1   Der Ausschuss hat in seiner einschlägigen Stellungnahme (7) mögliche Verbesserungen bei der Funktionsweise dieses Fonds betont. Die in Artikel 4 festgelegten Kriterien für die Freigabe von Mitteln für förderfähige Maßnahmen sind effektiv zu eng gefasst und klammern bestimmte Arten von Schäden aus. In dieser Stellungnahme wird betont, dass auch Katastrophen als unterstützungsfähig einzustufen sind, die sich aus der Häufung oder der Fortdauer von seit längerem bestehenden Umständen ergeben. Diese Katastrophen wie Dürreperioden und Hitzewellen sind die Folge von Umweltentwicklungen, für die sämtliche Mitgliedstaaten mitverantwortlich sind. Nach Ansicht des Ausschusses muss die Unterstützung durch den EUSF auch bei Problemen im Zusammenhang mit der Wasserversorgung und dem Infrastrukturbetrieb greifen, auch wenn die Katastrophe nicht von einem plötzlichen Ereignis herrührt.

2.6   Die Richtlinie 2008/1/EG über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (IVU-Richtlinie) bildet einen Rahmen für die Einrichtung von Industrieanlagen und Anlagen zur Herstellung von Nahrungsmittelerzeugnissen (8).

2.6.1   Mit dieser Richtlinie werden Industrieanlagen theoretisch dazu verpflichtet, die besten verfügbaren Techniken einzusetzen. Sie ist zwar kein wichtiges Instrument der europäischen Wasserpolitik, doch haben das jüngste Auslaufen von Rotschlamm in Ungarn und die dadurch verursachte Verschmutzung der Böden und Gewässer in der Region um Ajka, die auch die Donau erreicht hat, verschiedene Umweltfragen, den Wasserschutz, die Behandlung und Entschädigung von Opfern derartiger Katastrophen und die Sorgfaltspflicht bei der Durchführung der Wasserpolitik in den Blickpunkt gerückt. Es gibt allerdings beispielsweise nach wie vor rund 150 mehr oder weniger veraltete Industrieanlagen entlang der 3 019 km der Donau (9). Nach Aussagen des WWF sind dies tickende Zeitbomben. So wurde im Falle der ungarischen Umweltkatastrophe der Rotschlamm, ein bei der Aluminiumherstellung entstehender Reststoff, nicht behandelt, obwohl die betreffende Technik nicht nur verfügbar ist, sondern bereits eingesetzt wird. Mit dieser Technik kann der in den Rotschlamm-Rückständen verbleibende Soda-Anteil (96 %) erheblich verringert werden. Viele Unternehmen lagern ihre Abfälle einfach in Rückhaltebecken, anstatt eine richtige Entschmutzung durchzuführen. Darüber hinaus sind diese Rückhaltebecken oftmals nicht für die Abfallproduktionsmengen ausgelegt (10). Diese neue Verpflichtung zur Abwasseraufbereitung mittels der besten verfügbaren Techniken sollte das Rückhalteverfahren effizient, sicher und angemessen ergänzen.

2.7   Die Richtlinien 90/531/EWG und 93/38/EWG für die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor bilden einen Rahmen für die Nutzung der Ressource Wasser durch öffentliche oder private Betreiber und regeln die Bedingungen für die Zuschlagserteilung.

2.7.1   Während der Beitrittsvorbereitungen wurden die Kandidatenländer aufgefordert, ihre Industrie den europäischen Normen anzupassen. Einige Länder hatten ihre Gesetzgebung geändert, dabei aber einige Grenzwerte herabgesetzt und so bestimmte Umweltprobleme verringert.

2.7.2   Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen nun verstärkt darauf hinwirken, dass ihre Rechtsvorschriften umgesetzt und eingehalten werden, um so die Information und die Sicherheit der Unionsbürger in Bezug auf den Zugang zu Wasser und die Abwasseraufbereitung besser zu gewährleisten.

2.8   Klimawandel und Hochwasser

2.8.1   Angesichts der jüngsten Überschwemmungen in ganz Europa wurden zahlreiche Fragen zur Hochwasserprävention aufgeworfen. Die Europäische Union verfügt zwar über einen Fonds zur Abfederung der Folgen von Naturkatastrophen, paradoxerweise jedoch nicht über Mittel zur frühzeitigen Erkennung und Vorbeugung von Naturkatastrophen, die die Folge von vorsätzlichen Handlungen oder Fahrlässigkeit sind. Um wirklich effizient zu sein, müssten die Hochwasserpräventionsmaßnahmen und die eher übergeordneten Maßnahmen für Raumordnung, Infrastruktur, Schutz der Ökosysteme und Klimaschutz besser ineinandergreifen (11).

2.9   Grenzübergreifende Zusammenarbeit: Das Beispiel der Hochwasserpartnerschaft „Untere Blies“ zwischen dem Saarland und Lothringen

2.9.1   Im Zuge einer interregionalen Zusammenarbeit von Interessenträgern wurde eine grenzübergreifende Hochwasserpartnerschaft im Rahmen des Vorhabens Interreg IV A „Hoch- und Niedrigwassermanagement im Mosel- und Saareinzugsgebiet (FLOW MS)“ gegründet. An dieser Partnerschaft beteiligen sich die Internationalen Kommissionen zum Schutze der Mosel und der Saar (IKSMS), das saarländische Ministerium für Umwelt, Energie und Verkehr, die Präfektur der Region Lothringen, die Unterpräfektur von Sarreguemines sowie vier deutsche und fünf französische Kommunen. Ziel ist die gemeinsame Hochwasserbewältigung dank einer gemeinsamen Vorsorge und eines regelmäßigen Erfahrungsaustausches. Alarm- und Einsatzpläne sollen besser abgestimmt und die Eigenvorsorgemaßnahmen der Kommunen gestärkt werden.

2.9.2   Im Rahmen dieser grenzübergreifenden Zusammenarbeit im Unterlauf der Blies sollen Karten der Überschwemmungsgebiete und der Hochwassergefahren erstellt, die Hochwasserrisiken bewertet und Empfehlungen ausgearbeitet werden, die konkret in Hochwasserrisikomanagementpläne umgesetzt werden.

2.9.3   Wasserläufe machen nicht an Grenzen Halt. Lokale Initiativen zur vorgelagerten Ressourcenbewirtschaftung sind von grundlegender Bedeutung, wie einige Beispiele zeigen. In zahlreichen Flusseinzugsgebieten wie von Rhein, Oder, Maas, Donau, Saar, Mosel und Elbe nimmt eine grenzübergreifende Zusammenarbeit immer mehr Form an: Die Anrainerstaaten richten Gremien ein, um ein koordiniertes Hochwasserrisikomanagement sicherzustellen und grenzübergreifende Schutzpläne aufzustellen.

2.9.4   Das Flusseinzugsgebiet der Semois, eines Zuflusses der Maas, im Grenzgebiet zwischen Belgien und Frankreich ist so ein Beispiel. Trotz unterschiedlicher Schutzmaßnahmen und Gesetzgebungen wurde 2002 ein gemeinsamer Aktionsplan zur Hochwasserbekämpfung im belgischen Oberlauf und im französischen Unterlauf der Semois aufgelegt. Im Rahmen des Finanzierungsprogramms Interreg III A „France-Wallonie-Vlaanderen“ (2002-2006) zur Unterstützung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit konnten die auf beiden Seiten der Grenze eingeleiteten Maßnahmen zum Hochwasserschutz in einem gemeinsamen Vorgehen mittels so genannter Flussverträge (einem partizipativen Wasserbewirtschaftungsinstrument) zusammengeführt werden.

2.9.5   Weitere Projekte wie EUROTAS oder grenzübergreifende Strategien wie für den Donauraum und die Ostsee dienen der Entwicklung gemeinsamer Methoden für mehrere Länder zum langfristigen Hochwasserrisikomanagement, zur Echtzeit-Hochwasservorhersage und zum Schutz der Süßwasservorräte.

2.9.6   Es scheint daher möglich, notwendig und sinnvoll, dass Partnerschaftsinitiativen auf Ebene der lokalen Gebietskörperschaften konzipiert werden und in der Folge politische und finanzielle Unterstützung seitens der EU erhalten.

3.   Bedeutung und Rolle der lokalen Gebietskörperschaften und der Zivilgesellschaft

Es gibt verschiedene Bereiche, in denen die Unionsbürger direkt von der Integration der europäischen Wasserpolitik betroffen sind.

3.1   Auswirkungen der Wasserbewirtschaftung und des Katastrophenmanagements auf die Bevölkerung

3.1.1   Wasserknappheit, abwechselnde lang anhaltende Dürre- und Hochwasserperioden sowie Wasserverschmutzung können erhebliche Folgen haben: wirtschaftliche und soziale Probleme, Aussterben ganzer Wirtschaftssektoren (z.B. Landwirtschaft), Beschäftigungsverlust und somit Landflucht und Schwächung der betroffenen Gebiete.

3.1.2   In erster Linie muss gegen die chemische Wasserverunreinigung angegangen werden, da sie die Gesundheit von Mensch, Flora und Fauna beeinträchtigt. Außerdem besteht die Gefahr einer Übertragung chemischer Bestandteile über die Nahrungskette. Die Liste der Schadstoffe, deren Einsatz verboten oder beschränkt ist, muss gemäß der Richtlinie über Umweltqualitätsnormen in der Wasserpolitik (Prioritäre Stoffe) regelmäßig aktualisiert werden. Die Handhabung neuer Erzeugnisse und die Festlegung der Schwellenwerte für deren Einsatz muss in Zusammenarbeit mit den Landwirten, Unternehmen und Umweltverbänden erfolgen, wie dies der Ausschuss in früheren Stellungnahmen betont hat (12).

3.2   Wassernutzungsarten

3.2.1   Die Wassernutzung sowie die Verunreinigung der Gewässer betreffen Industrie, Tourismus und Landwirtschaft. Die rasante Verstädterung von Flusseinzugs- und Küstengebieten übt ebenfalls Druck auf dieses schutzbedürftige Medium aus. In der EU entfallen 44 % der Gesamtwasserentnahme auf die Stromerzeugung, wobei dieses Wasser in erster Linie zur Kühlung verwendet wird. 24 % des entnommenen Wassers werden in der Landwirtschaft, 21 % für die Versorgung der Haushalte und 11 % von der Industrie verwendet. Diese Ziffern spiegeln jedoch nicht die unterschiedliche Wassernutzung in den einzelnen Regionen wider. So entfallen in Südeuropa mehr als 50 % der Wasserentnahme auf die Landwirtschaft (in manchen Regionen sogar bis zu 80 %), wohingegen in Westeuropa mehr als 50 % des entnommenen Wassers für Stromerzeugung und Kühlung genutzt werden (13).

3.2.2   Des Weiteren stellt sich die Frage der Abhängigkeit zwischen Wasserbewirtschaftung und Stromerzeugung. Diese Frage muss von der EU aufgegriffen werden. Das für die Stromerzeugung entnommene Wasser wird jedoch nur zum kleinsten Teil wirklich verbraucht, der Großteil wird letztlich deutlich erwärmt wieder eingeleitet. Im Fokus steht hier die Erhaltung der aquatischen Systeme. Es bestehen zwar Technologien zur Verringerung der für die Stromerzeugung erforderlichen Wassermenge bzw. zur wirksamen Wasserrückgewinnung, sie werden jedoch aufgrund ihrer Mehrkosten nicht unbedingt eingesetzt. Daher müssen Forschung und Entwicklung in diesem Bereich sowie die Nutzung dieser neuen Technologien nicht nur finanziell gefördert werden, sondern auch Überlegungen zu Investitionen und zur Nachhaltigkeit ihrer Umwegrentabilität in ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Sicht angestoßen werden.

3.2.3   Die landwirtschaftlichen Flächennutzungspraktiken und die Stadtplanung könnten maßgeblich für Wasserknappheit sein. Eine unkontrollierte Nutzung führt zu Überbeanspruchung von Grund- und Oberflächenwasser und kann unumkehrbare Schäden in den Gewässersystemen verursachen sowie einen nicht-nachhaltigen sozioökonomischen Entwicklungskreislauf anstoßen, der Ernährungssicherheit, Energieversorgungssicherheit und soziale Stabilität gefährden kann. So wurden einige wichtige Feuchtgebiete, Wälder und natürliche Überschwemmungsgebiete trockengelegt und eingedeicht, und es wurden Regulierungsvorrichtungen und Kanäle im Interesse von Verstädterung, Landwirtschaft, Energienachfrage und Überschwemmungsschutz angelegt (14). Die Zwänge in Verbindung mit der Ressource Wasser müssen in der künftigen Raumordnungspolitik berücksichtigt werden.

3.3   Nachfragesteuerung und Bereitstellung eines nachhaltigen und tragfähigen Angebots

3.3.1   Zahlreiche Faktoren wirken sich auf die Wassernachfrage in Privathaushalten aus, namentlich Bevölkerungsgröße, Größe der Haushalte, Verstädterung, Tourismus, Einkommen, Technologie und Verbraucherverhalten. Außerdem wirken sich Leckageverluste in den Vertriebs- und Versorgungsleitungsnetzen erheblich auf die Wassermenge aus, die beim Endverbraucher ankommt. Derartige Verluste müssen dort, wo dies erforderlich ist, verringert werden. In Wartung und Ausbau der Leitungsnetze, aber auch in die für die Abwasserbewirtschaftung erforderliche Infrastruktur muss investiert werden. Im Jahr 2006 verfügten 10 % der Bevölkerung in der EU-25 noch immer nicht über einen Anschluss an eine Kanalisation, wobei es große Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten gab (15).

3.3.2   Der Tourismus kann eine erhebliche Steigerung des Wasserverbrauchs verursachen, insbesondere in der Haupturlaubssaison in den Sommermonaten und vor allem in den südlichen Küstenregionen Europas, die bereits unter hohem Wasserstress leiden. Die Sensibilisierung der Verbraucher ist eine wesentliche Ergänzung zu den Maßnahmen zur Wasserschutz.

3.3.3   Normen und Unabhängigkeit: Die Wiederverwendung von Abwasser in der Landwirtschaft könnte ein wichtiger Faktor für die nachhaltige Wasserwirtschaft sein. So wie die sonstigen Wasserquellen sollte ihre Unbedenklichkeit für die öffentliche Gesundheit mittels der Festlegung und Kontrolle von Gesundheitsnormen sichergestellt werden, die vom Gesetzgeber auf transparente Weise ausgearbeitet werden und deren Einhaltung von unabhängigen zertifizierten oder öffentlichen Kontrollgremien überwacht wird.

3.4   Die Zivilgesellschaft in der europäischen Wasserpolitik

3.4.1   Noch vor der Entschließung der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 26. Juli 2010 (16) gab der Rat der Europäischen Union am 22. März 2010 bekannt, dass die 27 Mitgliedstaaten das Recht auf Wasser und auf Zugang zu sanitären Anlagen anerkennen. „Die Europäische Union (bekräftigt) die auf den Menschenrechten beruhende Verantwortung aller Staaten für den Zugang zu sauberem Trinkwasser (…). Die EU erkennt zudem an, dass die Menschenrechtsverpflichtungen hinsichtlich des Zugangs zu sauberem Trinkwasser und sanitären Anlagen eng mit den individuellen Menschenrechten wie dem Recht auf Wohnung, Nahrung und Gesundheit verbunden sind.

3.4.2   Das Recht der Zivilgesellschaft auf Information über Wasserdaten ist von grundlegender Bedeutung. So hat das Land Berlin 1999 seine Wasserbetriebe zugunsten des Umweltdienstleistungsbetriebs Veolia und des deutschen Energieversorgungskonzerns RWE privatisiert, was zu einer Preissteigerung für die Verbraucher geführt hat. Die Übertragungsverträge und die zwischen den Vertragspartnern vereinbarten Klauseln wurden nicht veröffentlicht. Ausgehend von einer von den Grünen angestoßenen Bürgerinitiative wurde der „Berliner Wassertisch“ gegründet, der ausreichend Unterschriften für die Zulassung eines Volksbegehrens sammeln konnte. In diesem Volksbegehren mit einer Beteilung von 27 % haben sich 98 % für eine Offenlegung sowie in der Folge eine Aufhebung der Geheimverträge ausgesprochen. Im Anschluss an diese Initiative haben veröffentlichte Auszüge aus den Verträgen gezeigt, dass die Gewinne der Aktionäre der beiden Unternehmen durch ein Entschädigungssystem garantiert waren. Das Land Berlin garantierte somit (mittels öffentlicher Gelder) die Gewinne der Unternehmen in den Jahren, in denen diese nicht die in geheimen Vertragsklauseln festgelegten Spanne erreichten. Es gab und gibt zahlreiche weitere ähnlich gelagerte Fälle; nun entschließen sich immer mehr Kommunen zu einer „Re-Kommunalisierung“ ihrer Wasserbetriebe. Dennoch sind einige Kommunen – und nicht die kleinsten – in Verträgen gefangen, die unter vergleichbaren rechtlich unausgewogenen Anfangsbedingungen geschlossen wurden, die sie dazu verpflichten, private Betreiber als Teilhaber zu behalten (17). Die Transparenz der Übertragung öffentlicher Dienstleistungen oder Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und ihre Umkehrbarkeit könnte insbesondere durch die Prüfung folgender Aspekte verbessert werden:

Wasserbewirtschaftung: Rückinvestierung der Gewinne in Netzwartung und –modernisierung;

Art und Umfang der Investitionen, die den Markteintritt sowohl für private als auch öffentliche Betreiber erschweren, dürfen nicht zu Monopolen und/oder Absprachen führen;

Die Finanzierung der größten privaten Wasserunternehmen erfolgt mehrheitlich aus öffentlichen Mitteln (18);

Arbeits-, Beschäftigungs- und Sicherheitsbedingungen für das Personal: Es bedarf und wird auch in Zukunft einer angemessenen Zahl an ausreichend qualifizierten Arbeitskräften bedürfen, die unter ein öffentliches Statut für Arbeitnehmer fallen, die in den Bereichen Wasserwirtschaft, Abwasseraufbereitung, Kontrolle, Sanktionen gegen Verstöße, Forschung usw. beschäftigt sind, um die gesamte Bandbreite der Aufgaben in all ihrer Vielfalt und auf allen Ebenen abzudecken;

Information und Konsultation der Nutzer: Aufgrund ihrer Repräsentativität, ihres Sachverstands und ihrer Fähigkeit, öffentliche Anhörungen zu veranstalten, sind die Wirtschafts- und Sozialräte eine wichtige Ressource.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Rückerstattung der Finanzhilfen bei Nichteinhaltung der europäischen (Wasserrahmenrichtlinie) und nationalen (Gesetze zur Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie) Rechtsvorschriften über Verschmutzung mit Nitraten, die Wasserqualität usw. auf der Grundlage des Verursacherprinzips.

(2)  Informationsbericht zum Thema „Menschenwürdige Arbeit und nachhaltige Entwicklung im Mittelmeerraum mit dem Schwerpunkt auf den Bereichen Süß- und Salzwasser sowie Abwasserentsorgung“.

(3)  Convention on the Law of the Non-navigational Uses of International Watercourses (http://untreaty.un.org/ilc/texts/instruments/english/conventions/8_3_1997.pdf).

(4)  KOM(2006) 232 endg. – 2006/0086 (COD); KOM(2009) 665 endg.

(5)  KOM(2011) 146 endg. – Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses „Reform der EU-Beihilfevorschriften über Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“, (Siehe Seite 149 dieses Amtsblatts).

(6)  ABl. C 195 vom 18. August 2006, S. 20.

(7)  ABl. C 28 vom 3. Februar 2006, S. 69.

(8)  ABl. C 182 vom 4. August 2009, S. 46; ABl. C 97 vom 28. April 2007, S. 12; ABl. C 80 vom 30. März 2004, S. 29.

(9)  WWF/Usine Nouvelle, 21. Oktober 2010.

(10)  So hat beispielsweise Sanofi Aventis in Ivry (Frankreich) jahrelang aufgrund unzureichend großer Rückhaltebecken Schadstoffe in das Kläranlagennetz des Abwasserzweckverbands SIAAP eingeleitet, darunter Benzol, einen höchst kanzerogenen Schadstoff.

(11)  ABl. C 195 vom 18. August 2006, S. 20.

(12)  ABl. C 97 vom 28.4.2007, S. 3.

(13)  Siehe Bericht der Europäischen Umweltagentur „Water resources across Europe – confronting water scarcity and drought“, ISSN 1725-9177, Februar 2009 (nur auf EN erhältlich).

(14)  Siehe SOER-Bericht 2010 der Europäischen Umweltagentur „Die Umwelt in Europa – Zustand und Ausblick“ (nur auf EN verfügbar).

(15)  Siehe SOER-Bericht (S. 103), Bericht der Europäischen Umweltagentur (S. 5) und Eurostat-Pressemitteilung 2006.

(16)  Resolution der Generalversammlung: „Das Menschenrecht auf Wasser und Sanitärversorgung“, 26/7/2010, A/RES/64/292 (http://www.un.org/Depts/german/gv-64/band3/ar64292.pdf).

(17)  

Sonderbericht Public Citizen’s Water for All program 2005: „Veolia Environnement: A Corporate Profile“ (http://documents.foodandwaterwatch.org/Vivendi05.pdf);

Veröffentlichung des geheimen Wasservertrags zur Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe in der Berliner Tageszeitung (TAZ) am 30. Oktober 2010 unter dem Titel „taz enthüllt Berlins Geheimverträge: Die räuberische Wasser-Privatisierung“ (http://www.taz.de/1/zukunft/wirtschaft/artikel/1/die-raeuberische-wasser-privatisierung/).

(18)  http://www.psiru.org/reports/2010-W-EWCS.doc.


25.8.2011   

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Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/49


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle der EU und ihre Beziehungen zu Zentralasien sowie der Beitrag der Zivilgesellschaft“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 248/08

Berichterstatter: Jonathan PEEL

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 15./16. September 2010 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Rolle der EU und ihre Beziehungen zu Zentralasien sowie der Beitrag der Zivilgesellschaft“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 25. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni (Sitzung vom 16. Juni) mit 112 gegen 5 Stimmen bei 12 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Anders als in Europa ist das regionale Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den fünf zentralasiatischen Staaten nicht sonderlich ausgeprägt. Der EWSA fordert die Kommission und die anderen EU-Institutionen auf, sich weiter für eine wesentlich stärkere regionale Identität und Integration einzusetzen und jeden der fünf Staaten zu einer engeren Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn anzuhalten, damit ethnische Probleme und Grenzstreitigkeiten zunehmend behoben werden und der Weg für eine umfassendere und nachhaltigere wirtschaftliche und soziale Entwicklung bereitet wird.

1.1.1   Der Ausschuss ist der festen Überzeugung, dass dringend eine umfassende, schlüssige und abgestimmte Strategie der EU für die Aufnahme und den Ausbau wirksamer Kontakte zwischen der Zivilgesellschaft in der EU und in Zentralasien erforderlich ist. Gegenwärtig bestehen kaum derartige Kontakte. Um dem abzuhelfen, ist es zunächst einmal wichtig, dass die EU in weitaus stärkerem Maße diplomatisch vertreten ist.

1.1.2   Das in den EU-Institutionen verfügbare Fachwissen muss optimal genutzt werden, auch im Sinne von Artikel 11 des Vertrags von Lissabon. Der Ausschuss fordert den EAD deshalb auf, den EWSA, der bereits in anderen Regionen (Balkan, Lateinamerika) Erfahrungen gewonnen hat, wo immer möglich einzubeziehen, insbesondere auch beim Aufbau von Kapazitäten.

1.1.3   Der Ausschuss empfiehlt deshalb, dass der EAD unter Einbeziehung des EWSA ein formales Verfahren schafft, mit dessen Hilfe erstens die wichtigsten Ansprechpartner der Zivilgesellschaft in jedem Staat eindeutiger bestimmt werden, darunter auch effiziente unabhängige Partner aus Unternehmen und Gewerkschaften, und zweitens neue, im Entstehen begriffene Organisationen der Zivilgesellschaft ermittelt werden und deren Entwicklung unterstützt wird. Dazu sollte eine kleine EWSA-Delegation eine Reise nach Zentralasien unternehmen.

1.1.4   Der Ausschuss unterstützt nachdrücklich den strukturierten Menschenrechtsdialog der EU als erstes positives Ergebnis der EU-Strategie für Zentralasien, bringt jedoch seine tiefe Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass er bislang nicht einbezogen worden ist. Hier besteht dringender Korrekturbedarf.

1.1.5   Derartige Anstrengungen, wesentlich engere persönliche Kontakte zu knüpfen, müssen auch tiefer gehende Beziehungen in den Bereichen Jugend und Bildung umfassen, da der Großteil der Bevölkerung nicht älter als 25 Jahre ist, sowie den schnelleren Ausbau der Inanspruchnahme des Programms Erasmus Mundus durch beide Seiten. Dazu sollten Visaerleichterungen für Reisen im Rahmen des Bildungsaustauschs, Gebührenfreiheit für die begabtesten zentralasiatischen Studenten, die Verbreitung von Englischlehrbüchern, Sommerkurse sowie Partnerschaften zwischen Universitäten und weiterführenden Schulen gehören.

1.2   Eng verbunden mit der Förderung einer stärkeren Einbeziehung der Zivilgesellschaft ist die generelle Frage der Menschenrechte. In diesem entscheidenden Punkt kann Europa den zentralasiatischen Ländern, die ihren unabhängigen Kurs fortsetzen, durchaus wirksame Unterstützung leisten und tut dies auch bereits. Welche Aspekte dabei im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sollte jedoch im Rahmen von Verhandlungen und jeweils mit Gespür für die kulturellen Empfindlichkeiten festgelegt werden. Trotz der anhaltenden Probleme haben alle fünf Staaten die acht grundlegenden ILO-Übereinkommen (mit zwei Ausnahmen, siehe Ziffer 5.4.1) ratifiziert. Indem festgestellt wird, wie und wo Europa Zentralasien helfen kann, diesen und anderen Verpflichtungen gerecht zu werden, bietet sich eine praktische Möglichkeit, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen.

1.2.1   Der Ausschuss unterstützt ferner nachdrücklich Schritte hin zu Abkommen über Handelsfragen mit jedem der fünf Staaten. Wie auch bei anderen kürzlich geschlossenen EU-Handelsabkommen fordert der Ausschuss in diesem Zusammenhang die Einführung eines Forums der Zivilgesellschaft in jedem einzelnen Fall, das auch Fragen der nachhaltigen Entwicklung behandelt, sodass der Ausschuss auch hier seine diesbezügliche Sachkenntnis einbringen kann.

1.3   Besonderes Gewicht kommt in dieser Beziehung den komplizierten Fragen der Ernährungssicherheit sowie der Sicherheit der Wasser- und Energieversorgung zu, die in engem Zusammenhang stehen. Der EWSA empfiehlt, dass die EU die fünf Staaten intensiver darin bestärkt, bei der Lösung dieser erheblichen Probleme umfassend zusammenzuarbeiten. Die Kommission muss deutlich machen, wie sehr diese Themen miteinander verknüpft sind. In Bezug auf die sichere Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln verfügt Europa bereits über positive Erfahrungen bei der Unterstützung anderer Länder, die umfassend genutzt werden sollten, um weiteres Vertrauen aufzubauen.

1.4   Der EWSA empfiehlt, dass die Kommission – wie bereits im Zusammenhang mit den Verhandlungen über neue Handelsabkommen gefordert (1) – die im Rahmen des geltenden allgemeinen Präferenzsystems „APS+“ genannten 27 Übereinkommen als Grundlage für die Entwicklung eines umfassenderen, über den Energiesektor hinausgehenden Handels mit Zentralasien sowie gegebenenfalls für handelsbezogene technische Unterstützung heranzieht.

1.5   Der EWSA empfiehlt, dass der Ausbau der Beziehungen der EU zu Zentralasien in enger Abstimmung mit dem Engagement der EU in Russland, China und der Türkei erfolgt. Iran sollte nicht einbezogen werden, solange Sanktionen gegen das Land in Kraft sind.

1.6   Die zentralasiatischen Länder verfügen über erhebliche potenzielle Energiereserven, die zusätzliche und ergänzende (nicht aber alternative) Energiequellen für Europa werden können, wobei diese Option durch Fragen des Transits und des Exports erschwert wird. Es ist wichtig, dass die Tragfähigkeit derartiger Beziehungen praktisch und wirtschaftlich abgesichert wird.

1.7   Zentralasien sollte nicht die Endstation für die europäischen Verkehrs- und Transitverbindungen sein, sondern eher als Zwischenstation auf dem Weg nach China und darüber hinaus betrachtet werden. Die Pläne Chinas und der EU für ihre Verkehrskorridore müssen aufeinander abstimmt werden. Die alte Seidenstraße sollte zu einer Handels- und Energieautobahn ausgebaut werden.

2.   Einleitung

2.1   Auch wenn Kasachstan das flächenmäßig neuntgrößte Land der Erde ist, so leben in den fünf zentralasiatischen Ländern (Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan) zusammen doch nur 61 Mio. Menschen – genauso viel wie im Vereinigten Königreich, in Frankreich oder in Italien für sich genommen.

2.2   Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass es sich hier im Grunde um junge Staaten handelt, deren Herausbildung noch nicht abgeschlossen ist. Die fünf Länder sind zwar unabhängig und uneingeschränkt anerkannt, entstanden jedoch erst im Ergebnis des Zerfalls der Sowjetunion. In keinem dieser Länder gab es eine nennenswerte „nationale Befreiungsbewegung“. In jedem der fünf Staaten übernahm die alte politische Elite aus Sowjetzeiten als neue unabhängige Elite die Macht. Diese gemeinsame Vorgeschichte kann sich allerdings positiv auf die Förderung des regionalen Zusammenhalts auswirken, der bislang wenig und bei weitem nicht so ausgeprägt ist wie in Europa. Die EU hat bereits damit begonnen, ein solches Konzept in Zentralasien zu fördern.

2.3   Die betreffenden Staaten existieren nicht innerhalb von Grenzen, die sie selbst bestimmt haben oder die den natürlichen Grenzen entsprechen. Sie umfassen vielmehr Gebiete, die von anderen festgelegt und zu den einzelnen Sowjetrepubliken zusammengefügt wurden, was, wie sich vor kurzem in Kirgisistan zeigte, wiederum zu ethnischen Spannungen geführt hat, die sich in diesem Fall gegen die usbekische Gemeinschaft richteten. Hier bietet sich eine gute Gelegenheit für die EU, ihre Erfahrungen bei der Beseitigung nationaler Spannungen einzubringen.

2.4   Ein weiteres Erbe, mit dem diese Staaten konfrontiert sind, ist die Planwirtschaft, an deren Beibehaltung den gegenwärtig an der Macht befindlichen Eliten gelegen ist. Zu diesen schwer zu beseitigenden Hinterlassenschaften kommt erschwerend hinzu, dass alte internationale strategische Feindschaften (nicht zuletzt auf Grund der Nähe zu Afghanistan und Iran) wiederaufleben, die infolge der Entdeckung noch nicht quantifizierter natürlicher Energiequellen, vor allem Erdöl und Erdgas, letzteres insbesondere in Turkmenistan, nunmehr auch entscheidend wirtschaftlich geprägt sind.

2.4.1   Es hat sich gezeigt, dass die Macht in dieser Region jetzt innerhalb einer Familie weitergegeben wird (siehe Kasachstan). Was früher die Verwaltungsinfrastruktur der alten sowjetischen Nomenklatur war, lässt sich heute recht passend als Clan- oder Familiennomenklatur beschreiben. Auch hier könnte die EU im Rahmen ihrer Programme in den Bereichen Zivilgesellschaft und Staatsführung Unterstützung leisten, um das Entstehen eines politisch neutral agierenden öffentlichen Dienstes zu fördern.

2.5   Bevor Zentralasien Ende des 19. Jahrhunderts unter russische Herrschaft geriet, umfasste es eine Reihe sehr auf ihre Unabhängigkeit bedachter moslemischer Khanate und Emirate mit exotischen Namen wie Buchara und Xiva, doch waren diese Gebiete auch abgelegen und auf Grund der sie umgebenden riesigen Wüstengebiete schwer zu erreichen. Timur errichtete ausgehend von Samarkand ein großes Reich, dessen Bevölkerung in Teilen auch von den Kriegern Dschingis Khans und der Goldenen Horde abstammte. Bemerkenswert ist auch die starke wissenschaftliche Tradition in dieser Region, vor allem auf dem Gebiet der Astronomie, die bis zur Gründung eines Observatoriums in den 20er Jahren des 15. Jahrhunderts durch Ulugh Beg, einen Enkel von Timur, zurückreicht. Kasachstan ist noch heute umfassend in das Raumfahrtprogramm eingebunden.

3.   Ein neuer Konflikt zwischen dem Westen und Russland um die Vorherrschaft in Zentralasien?

3.1   Trotz seiner unwirtlichen geografischen Lage hat Zentralasien, wie bereits festgestellt, eine enorme strategische Bedeutung erlangt. Ähnlich wie beim Kampf um die Vorherrschaft in Zentralasien im 19. Jahrhundert („Great Game“, als die Region Gegenstand des Konflikts zwischen Großbritannien und Russland wurde) ist es, abgesehen von Ostasien, wahrscheinlich wieder diese Region, in der die meisten großen Interessenskonflikte drohen.

3.2   Nachdem Zentralasien mehr als ein Jahrhundert lang unter russischer Herrschaft war, ist der russische Einfluss dort nach wie vor stark. Russisch ist gemeinsame Verkehrssprache, die wirtschaftlichen Bindungen sind immer noch eng, und Russland ist der Auffassung, dass diese Region zu seiner natürlichen Einflusssphäre gehört. Kasachstan trat 2010 einer Zollunion mit Russland (und Belarus) bei, und auch andere haben Interesse bekundet. Für Kirgisistan als einziges WTO-Mitglied wäre dies ein Problem. Usbekistan und Turkmenistan haben allerdings mehr Bedenken als die anderen Länder gegen eine erneute Stärkung der Bindungen zu Russland.

3.3   Auch China engagiert sich stark für die Entwicklung dieser Region, was in seiner Mitgliedschaft in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (der auch Russland und Iran angehören) zum Ausdruck kommt. China hat strategische Interessen im Energiebereich: 2010 errichtete es in Rekordzeit eine Gaspipeline, die ausgehend von Turkmenistan durch Usbekistan und Kasachstan führt und an das innerchinesische Energienetz angeschlossen werden soll. China ist auch sehr daran interessiert, strategische Verkehrskorridore (Eisenbahn und Straße) durch Zentralasien in den Westen zu errichten, doch sind diese bisher nicht abgestimmt auf die in den Osten führenden europäischen Verkehrskorridore. Hier besteht Korrekturbedarf. Auch könnte die alte Seidenstraße, die bereits Anziehungspunkt für Touristen ist, gewinnbringend zu einer Handels- und Energieautobahn ausgebaut werden.

3.4   Eine wichtige Rolle als enge Nachbarn spielen Iran und Afghanistan, in denen wie in Tadschikistan Farsi bzw. Varianten dieser Sprache gesprochen werden und die in jüngster Zeit Erfahrungen mit dem islamischen Fundamentalismus gemacht haben. Religiöse Eiferer werden bislang durch alle zentralasiatischen Staaten entschieden in ihre Schranken gewiesen, gewinnen aber zunehmend an Gewicht. Im Bürgerkrieg in Tadschikistan in den 90er Jahren, dessen Wiederaufflammen von vielen befürchtet wird, spielten islamistische Aufstände eine Rolle. Für Iran, gegen den Sanktionen wegen der Nuklearfrage in Kraft sind, sind die Verbindungen zu Turkmenistan besonders wichtig, auch mit Blick auf den Bau einer neuen strategischen Gasleitung. Der Handel mit Drogen aus Afghanistan nimmt an Bedeutung zu, doch stellt er eher ein Problem der Endkonsumenten im Westen dar: Die Eindämmung und Unterbindung des illegalen Markts in Europa (und in den USA) muss auch als Teil der Lösung begriffen werden – neben der nachdrücklichen Aufforderung an arme und käufliche Beamte in Zentralasien, härter gegen Drogenhandel vorzugehen.

3.5   Die Türkei hat ebenfalls erheblichen Einfluss in der Region, nicht zuletzt weil die zentralasiatischen Länder – mit Ausnahme Tadschikistans – von Turkvölkern besiedelt sind und ihre Sprachen miteinander verwandt sind. Die Türkei hat sich sofort nach dem Zerfall der Sowjetunion in der Region stark engagiert, und nach anfänglichen Rückschlägen nimmt ihr Einfluss derzeit wieder zu. Die Türkei wird auch eine wichtige Zwischenstation für Energieversorgungsleitungen in den Westen sein.

3.6   Auch die USA sind ein wichtiger Akteur in der Region, nicht zuletzt wegen des Kriegs in Afghanistan.

3.7   Aus all dem ergibt sich die Frage, wie stark sich die EU engagieren sollte, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass keiner der EU-Mitgliedstaaten in diesem Teil der Welt eine koloniale Vergangenheit hat. Die europäischen Interessen sollten langfristig betrachtet werden, und auch den darüber hinausgehenden Beziehungen der EU ist voll und ganz Rechnung zu tragen.

3.7.1   Die EU führt bereits umfassende Verhandlungen mit Russland wie auch mit China, mit denen sie strategische Partnerschaften geschlossen hat. Mit der Türkei werden Beitrittsverhandlungen geführt, die allerdings nur langsam vorankommen. Es bleibt jedoch der Eindruck, dass das Verhältnis der EU zu den zentralasiatischen Staaten vollkommen losgelöst von den Beziehungen zu den genannten anderen Ländern behandelt wird, was nicht sinnvoll ist. Der Ausbau der Beziehungen der EU zu Zentralasien muss in enger Abstimmung mit dem Engagement der EU in Russland, China und der Türkei erfolgen, und die Beziehungen der EU zu Zentralasien sind so auszubauen, dass das strategische Verhältnis zu diesen enorm wichtigen Partnern nicht gefährdet wird. Iran einzubeziehen wäre verfrüht, da gegen ihn noch Sanktionen in Kraft sind, doch ist für die Beziehungen zu Zentralasien auch dieses Land zu berücksichtigen.

4.   Engagement der EU in Zentralasien

4.1   Die EU hat auf Initiative des deutschen Ratsvorsitzes im Juli 2007 eine eigene Strategie für eine neue Partnerschaft mit Zentralasien angenommen. Diese Strategie klingt recht paternalistisch, und ein Aufschwung des bislang sehr schwach entwickelten Handelsaustauschs steht immer noch aus. Außer Kasachstan, aus dem 2009 (wie 2007) 0,9 % der Importe in die EU kamen und in das 0,5 % der Exporte der EU gingen, lag der Handel mit der EU bei keinem anderen Land bei mehr als 0,1 %. Trotz dieser Zahlen ist die EU nach wie vor ein wichtiger Handelspartner für jedes einzelne Land, vor allem für Kasachstan, bei dem die EU mit Blick auf das Handelsvolumen noch vor Russland und China liegt.

4.2   Es ist für die EU auf jeden Fall sinnvoll, Zentralasien großes Gewicht beizumessen, vor allem mit Blick auf das Programm für die Östliche Partnerschaft und die Schwarzmeerstrategie. Beide umfassen alle ehemaligen Sowjetrepubliken (und dazu die Türkei), jedoch nicht Russland, mit dem die EU über eine eigene neue strategische Beziehung verhandelt. Einige EU-Mitgliedstaaten, vor allem Litauen und zunehmend auch Deutschland, unterhalten bereits enge Beziehungen zu Zentralasien. Zudem wird Aserbaidschan, nicht zuletzt aus Gründen der Energieversorgung und der Religion, von vielen als enger mit Zentralasien verbunden wahrgenommen als mit dem Kaukasus.

4.2.1   Die Energiefrage hat wesentliche Bedeutung. Die zentralasiatischen Länder verfügen über erhebliche potenzielle Energiereserven, aus denen zusätzliche und ergänzende Energiequellen für Europa werden können, wobei diese Option durch Fragen des Transits und des Exports erschwert wird. Wichtig ist, dass die EU das Potenzial der Region für ihre Energieversorgung realistisch sieht und dass die Tragfähigkeit derartiger Beziehungen praktisch und wirtschaftlich abgesichert wird. Wichtig für die Abnehmerstaaten ist auch, dass die betreffenden natürlichen Energierohstoffe als Ergänzung zur gegenwärtigen Versorgung und als Möglichkeit zu deren betrachtet werden sollten, nicht jedoch als mögliche Alternative oder als Pfand, das eingesetzt wird, um das Verhältnis zu anderen Ländern in der Region zu beeinflussen.

4.3   Trotz des positiven Grundtons im Fortschrittsbericht vom Juni 2010 ist anzumerken, dass die Kontakte der EU zu den fünf zentralasiatischen Staaten außerordentlich schwach entwickelt sind. Nur in Kasachstan gibt es eine echte EU-Vertretung, in Kirgisistan und Tadschikistan wurden erst vor kurzem EU-Delegationen eingerichtet. In Usbekistan und Turkmenistan ist die EU nur durch Europa-Häuser vertreten, in denen vor allem Berater auf Vertragsbasis tätig sind. Dem CEPS (2) zufolge unterhalten 18 Mitgliedstaaten Botschaften in Kasachstan, 10 in Usbekistan und nur einige wenige in den anderen Ländern. Nur Deutschland und Frankreich unterhalten Botschaften in allen fünf Ländern, das Vereinigte Königreich in vier Ländern. Neun Mitgliedstaaten verfügen über gar keine Vertretung. Zur erfolgreichen Umsetzung der EU-Strategie für Zentralasien muss die EU in weitaus höherem Maße vor Ort präsent sein. Dies wird – trotz seiner erheblichen haushaltspolitischen Beschränkungen – zur ersten Bewährungsprobe für den neuen Europäischen Auswärtigen Dienst werden. Zu dieser Bewährungsprobe zählen auch gemeinsame Maßnahmen des EAD in wichtigen Fragen wie Visa (zumindest für die Schengen-Staaten).

4.4   Die EU hat Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit allen fünf Staaten ausgehandelt. Die Abkommen mit Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan sind 1999 in Kraft getreten, wobei das Abkommen mit Usbekistan nach dem Massaker in Andischan zwischen 2005 und 2008 teilweise ausgesetzt wurde. Das Abkommen mit Tadschikistan (das sich wegen des Bürgerkriegs verzögert hat) wurde erst 2009 ratifiziert. Das Abkommen mit Turkmenistan ist auf Grund von Problemen im Bereich der Menschenrechte noch gar nicht ratifiziert.

4.5   Kasachstan insbesondere wird zunehmend zu einem wichtigen Faktor in der Region, und die Beziehungen der EU zu diesem Land entwickeln sich langsam, ermutigt durch das zunehmende Interesse an Kontakten auf beiden Seiten. Kasachstan ist eindeutig das Land, zu dem die EU am leichtesten Zugang findet, und hat durch seine aktive und erfolgreiche Werbung für den OSZE-Vorsitz (3) ein eindeutiges Signal gegeben, dass es sich entscheidend einbringen will. Weitere Beweise für den Wunsch Kasachstans, sich international stärker zu engagieren, sind sein Beitritt zur Zollunion mit Russland und Belarus sowie sein offenkundiges Interesse, Mitglied der WTO zu werden, wahrscheinlich zusammen mit Russland. Ein weiteres Anzeichen dafür ist die Entwicklung einer starken Schicht junger Unternehmer, die bereit sind und ermutigt werden, zur Ausbildung ins Ausland zu gehen, sowie ein wachsendes zivilgesellschaftliches Ethos und Engagement.

4.6   Ein ähnlicher Wunsch, international stärker wahrgenommen zu werden, ist in Usbekistan noch nicht zu verzeichnen, das – wie auch Turkmenistan – auf seinem engen und autoritären Gesellschaftskonzept beharrt. Usbekistan schien zunächst das Land zu sein, zu dem Europa am besten ein engeres Verhältnis aufbauen könnte, doch erwies sich diese Hoffnung, vor allem nach den Ereignissen in Andischan, als trügerisch, während sich Kasachstan geöffnet hat.

4.7   In Kirgisistan, das nach den ethnischen Unruhen 2010 erheblichen Anlass zur Sorge bot, ist die Gesellschaft dennoch offener und es gibt mehr Engagement der Zivilgesellschaft. Dies gilt auch für Tadschikistan, zu dem die EU gegenwärtig besonders wenige Kontakte unterhält. Tadschikistan ist wesentlich anfälliger, das Land litt in den 90er Jahren unter einem schlimmen Bürgerkrieg, dessen Wiederaufflammen viele befürchten, und macht derzeit eine Ernährungskrise durch.

5.   Die Rolle der Zivilgesellschaft und die Menschenrechte

5.1   Die Zivilgesellschaft hat in den fünf Staaten ein höchst unterschiedliches, in keinem jedoch ein durchgehend großes Gewicht. In Kirgisistan ist sie am stärksten ausgeprägt, während sich in Kasachstan und Tadschikistan ein zivilgesellschaftliches Ethos entwickelt.

5.1.1   Die Zivilgesellschaft spielt allerdings eine klar definierte Rolle im strukturierten Menschenrechtsdialog der EU, der eines der ersten Ergebnisse der EU-Strategie für Zentralasien in diesen drei Ländern ist. In diesem Rahmen fanden zunehmend offizielle jährliche Treffen mit verschiedenen Seminaren zu zivilgesellschaftlichen Themen statt, bei denen Anwälte, die sich für die Menschenrechte einsetzen, und Vertreter lokaler regierungsunabhängiger Organisationen sowie EU-Vertreter zusammenkamen und die nach standardisierten Tagesordnungen durchgeführt wurden. Allerdings liegen noch keine aussagekräftigen Bewertungen vor, anhand deren sich die Ergebnisse messen ließen.

5.1.2   Der Ausschuss unterstützt diesen Prozess nachdrücklich, ist jedoch zutiefst enttäuscht, dass es der EAD noch nicht für angebracht gehalten hat, den EWSA einzubeziehen. Der Ausschuss fordert den EAD auf, dies möglichst bald nachzuholen, nicht zuletzt weil der EWSA ein bewährter Dialogpartner und Sprachrohr der Zivilgesellschaft im weiteren Sinne ist und über gründliches und praktisches Wissen sowie weithin anerkannten Sachverstand verfügt.

5.2   Ein derartiges Engagement der Zivilgesellschaft ist weder in Usbekistan (wo nichtstaatliche Organisationen von der Regierung gegründet wurden) noch in Turkmenistan zu verzeichnen, wo es im Grunde gar keine unabhängige Zivilgesellschaft gibt.

5.2.1   Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es vor der Unabhängigkeit keine Tradition und kein Verständnis der Zivilgesellschaft als eines Mittlers zwischen Staat und Bürgern gab, und auch regierungsunabhängige Organisationen waren kein Begriff. Gewerkschaften, Interessenverbände, Jugendorganisationen und Berufsverbände waren sämtlich Bestandteil der staatlichen Strukturen, und nach der Unabhängigkeit gab es nur wenige Einflüsse von außen, die die Herausbildung neuer Institutionen ermöglicht hätten. Allerdings haben seitdem viele von ihnen, zusammen mit privatisierten Staatsunternehmen, unabhängigen Gewerkschaften und Berufsverbänden, vor allem in Kasachstan und Kirgisistan und in geringerem Maße in Tadschikistan, eine gewisse Unabhängigkeit entwickelt.

5.2.2   In den 90er Jahren entstanden Initiativen lokaler Gemeinschaften im ländlichen Raum und Selbsthilfegruppen auf der Grundlage traditioneller lokaler Gemeinschaften sowie verwandtschaftlicher Bindungen (Hashar, Ashar), nicht zuletzt als Reaktion auf den Zusammenbruch der sowjetischen Sozialsysteme, doch unterscheiden sie sich erheblich von den international anerkannten regierungsunabhängigen Organisationen. Es kam auch zur Herausbildung regierungsunabhängiger Organisationen, jedoch vor allem in den wichtigsten Ballungsräumen, und oft waren sie in erheblichem Maße abhängig von finanzieller Unterstützung aus dem Ausland (einschließlich der USA). Jedes Land nahm eine andere Entwicklung und hatte unterschiedliche Probleme zu bewältigen, doch nach den „Farbrevolutionen“ in Georgien, der Ukraine und Kirgisistan wurden regierungsunabhängige Organisationen (die von vielen als etwas Fremdes angesehen wurden und die man angesichts der Verhältnisse vor Ort für überbezahlt hielt) in Usbekistan weitgehenden Beschränkungen unterworfen und verschwanden in Turkmenistan praktisch ganz. In jüngster Zeit sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land erheblich gewachsen, und auch der Einfluss des Islam und die Tätigkeit islamischer Organisationen haben beträchtlich zugenommen.

5.3   Zwischen den Zivilgesellschaften in der EU und in Zentralasien gibt es offenbar kaum offizielle Beziehungen oder tiefer gehende Kontakte, was angesichts der spärlichen Beziehungen zwischen den Menschen in Europa und Zentralasien kaum verwunderlich ist. Bevor die Zivilgesellschaft in Zentralasien unsere Werte teilen oder sich gar mit ihnen identifizieren kann, muss sie sie erst einmal kennenlernen und ihren Inhalt erfassen. Allerdings dürfen die Werte nicht aufoktroyiert werden. Kasachstan kann in dieser Beziehung eine Brückenfunktion erfüllen, nicht zuletzt weil eine engere Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Gewerkschaften existiert.

5.3.1   Der Ausschuss ist der Überzeugung, dass dringend eine umfassende, schlüssige und abgestimmte Strategie der EU für die Aufnahme von Kontakten zu Zentralasien erforderlich ist. Der EWSA ist ein geeignetes Forum, um derartige Themen voranzubringen, wobei die zentrale Frage ist, wie am besten dazu beigetragen werden kann, einen intensiveren Dialog und engere Kontakte zwischen den Menschen herzustellen, Themen, die für beide Seiten von Interesse sind, sowie im Entstehen begriffene Organisationen der Zivilgesellschaft zu ermitteln und bewährte Verfahren zu fördern, sodass ein formaleres Verfahren für die Pflege effizienter Kontakte zur Zivilgesellschaft geschaffen werden kann.

5.3.2   Die gegenwärtige Tätigkeit des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) in der Region ist zu begrüßen. Das in den EU-Institutionen verfügbare Fachwissen muss jedoch optimal genutzt werden, weshalb der Ausschuss den EAD auffordert, ihn wie im Falle des Menschenrechtsdialogs wo immer möglich einzubeziehen, insbesondere auch bei der Unterstützung des Aufbaus von Kapazitäten, da der Ausschuss bereits anderswo einschlägige Erfahrungen gewonnen hat.

5.3.3   Drei Wege bieten sich hierzu an. Zunächst einmal muss der EWSA selbst mit Unterstützung des EAD klar bestimmen, wer seine wichtigsten Ansprechpartner sind. Es müssen effiziente und unabhängige Partner aus Unternehmen und unabhängigen Gewerkschaften ermittelt und zusammen mit weiteren wichtigen zivilgesellschaftlichen Partnern umfassende Beziehungen zu allen fünf Staaten hergestellt werden. Der Internationale Arbeitgeberverband hat keine zentralasiatischen Mitglieder, unterhält jedoch Kontakte nach Kasachstan. Dazu wird empfohlen, dass eine kleine EWSA-Delegation eine Reise Zentralasien unternimmt (auch um diese Stellungnahme bekannt zu machen).

5.3.4   Darüber hinaus müssen andere im Entstehen begriffene Organisationen der Zivilgesellschaft ermittelt, in ihrer Arbeit bestärkt und vor Ort in ihrer Entwicklung unterstützt werden. Auch in diesem Punkt erwartet der EWSA, dass der EAD ihn einbezieht, wo und wann immer dies angebracht ist.

5.3.5   Der Ausschuss unterstützt ferner nachdrücklich Schritte hin zu Abkommen über Handelsfragen mit jedem der fünf Staaten. Wie auch bei anderen kürzlich geschlossenen EU-Handelsabkommen empfiehlt der Ausschuss in diesem Zusammenhang die Einführung eines Forums der Zivilgesellschaft mit jedem einzelnen Staat, das den Kontakten zur Zivilgesellschaft in der Region einen formaleren Rahmen verleiht und es dem Ausschuss ermöglicht, seine Sachkenntnis zu Themen der nachhaltigen Entwicklung an die einschlägigen Vertreter der jeweiligen Zivilgesellschaft weiterzugeben.

5.3.6   Drittens müssen die Kontakte zwischen Jugendlichen und der Jugendaustausch stärker unterstützt werden, und es sollte darauf hingewirkt werden, dass das Programm Erasmus Mundus stärker in Anspruch genommen wird, um die Beziehungen im Bildungsbereich und die Mobilität auf beiden Seiten zu fördern. Dazu sollten Visaerleichterungen für Reisen im Rahmen des Bildungsaustauschs, Gebührenfreiheit für die begabtesten zentralasiatischen Studenten, die Verbreitung von Englischlehrbüchern, Sommerkurse sowie Partnerschaften zwischen Universitäten und weiterführenden Schulen gehören. Der EWSA begrüßt die Verdoppelung der dafür bereitgestellten Mittel auf 10 Mio. EUR jährlich, allerdings ist die Mehrheit der Bevölkerung in Zentralasien, wie im Fortschrittsbericht festgestellt wird, jünger als 25 Jahre (und hat keine Erinnerung an Sowjetzeiten).

5.3.7   Die Zivilgesellschaft hat die wichtige Aufgabe, den regionalen Zusammenhalt und die Integration zu fördern, die wichtig sind, um die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen Märkte wirksam funktionieren können, die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze zu fördern, KMU zu unterstützen, die lokale Infrastruktur zu stärken und die Bekämpfung der Armut voranzubringen, wobei sie sich auf stabile Institutionen mit einem klaren Mandat stützen können muss. Unter anderem die Erfahrungen der Zivilgesellschaft in den baltischen Staaten können hier besonders hilfreich sein.

5.3.8   Dies wiederum muss getragen werden von politischem Engagement, Frieden und Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, mehr Demokratie, verantwortungsvollem Regierungshandeln und makroökonomischer Stabilität.

5.4   In engem Zusammenhang zur Förderung einer stärkeren Teilhabe der Zivilgesellschaft, vor allem in Usbekistan und Turkmenistan, ist die Frage der Menschenrechte zu sehen, in der nur äußerst langsam Fortschritte erzielt werden. Nach langer autokratischer Herrschaft und angesichts des Fehlens jeglicher Menschenrechtstradition können die EU und die Zivilgesellschaft der EU nur dann effiziente Arbeitsbeziehungen zu Zentralasien entwickeln, wenn die Menschenrechte zunehmend mehr Gewicht erhalten. Europa und seine Geschichte wurden mitgeprägt durch die Menschenrechte, und in diesem zentralen Punkt kann Europa durchaus Unterstützung leisten.

5.4.1   Welche Aspekte dabei im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sollte jedoch im Rahmen von Verhandlungen und jeweils mit Gespür für die kulturellen Empfindlichkeiten festgelegt werden. Jeder der Staaten hat aus freien Stücken durch seinen Beitritt zu den Vereinten Nationen und ihren Unterorganisationen (z.B. der ILO) bezeugt, dass er die allgemeinen Menschenrechte anerkennt. Im Gegensatz zu vielen anderen Handelspartnern der EU haben alle zentralasiatischen Staaten bereits die acht grundlegenden ILO-Übereinkommen ratifiziert. Lediglich das Übereinkommen über die Vereinigungsfreiheit (87) wurde nicht von Usbekistan und das Übereinkommen über das Mindestalter (138) wurde nicht von Turkmenistan ratifiziert. Turkmenistan hat das Übereinkommen über das Verbot der Kinderarbeit (182) erst im November 2010, Usbekistan das Übereinkommen über das Mindestalter erst 2009 unterzeichnet. Wie es mit der Umsetzung dieser Übereinkommen steht, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Der EWSA fordert die Kommission und die ILO deshalb nachdrücklich auf, mit mehr Nachdruck zu ermitteln, wie und an welcher Stelle Europa den zentralasiatischen Ländern am besten helfen kann, diesen Verpflichtungen gerecht zu werden.

5.4.2   Hier bietet sich eine praktische Möglichkeit, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Es lässt sich zwar die Auffassung vertreten, dass alle Menschenrechte genauso wichtig sind, doch bestehen konkrete Probleme im Hinblick auf bestimmte Grundfreiheiten, Rechtsstaatlichkeit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie Meinungsfreiheit. Die EU hat in diesem Bereich bereits einiges geleistet, indem sie beispielsweise erfolgreich Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen ergriffen hat.

5.4.3   Es gibt jedoch noch erhebliche Probleme und Bedenken, und die jüngsten Ereignisse in Nordafrika machen wieder einmal deutlich, wie wichtig die Entwicklung einer aktiven Teilhabe der Zivilgesellschaft ist und wie dringend die zugrunde liegenden Probleme konstruktiv angegangen werden müssen. Der EWSA möchte enge und wirksame Kontakte sowie gute Arbeitsbeziehungen zur Zivilgesellschaft in Zentralasien entwickeln. Boykotte oder die Festlegung strenger, an Fortschritte geknüpfter Bedingungen sind keine realistische Option. Die Situation in den zentralasiatischen Staaten wurde mit der Lage in Belarus verglichen, wo im Januar 2011 infolge der Unruhen nach den Präsidentschaftswahlen 158 Spitzenfunktionären die Einreise in die EU untersagt wurde und ihre Konten in der EU eingefroren wurden. Diesen Fall sollten sich alle fünf Staaten deutlich vor Augen halten.

5.4.4   In seiner Stellungnahme zum Thema „Das globale Europa“ (4) fordert der EWSA, dass die 27 Übereinkommen (einschließlich der acht grundlegenden ILO-Übereinkommen), die im Rahmen des Präferenzsystems „APS+“ bereits genannt werden, zur Grundlage für künftige EU-Handelsabkommen gemacht werden. Dieses Ziel wird hiermit bekräftigt, da es als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines umfassenderen, über den Energiesektor hinausgehenden Handels mit Zentralasien sowie gegebenenfalls für handelsbezogene technische Unterstützung dienen kann. Gleichzeitig sollte auf eine Mitgliedschaft in der WTO hingewirkt werden. Nur Kirgisistan ist WTO-Mitglied, doch wird sein Beitritt im Jahr 1998 jetzt von vielen als verfrüht angesehen.

5.5   Anhang A enthält eine kurze Zusammenfassung aktueller Menschenrechtsthemen in jedem der fünf Staaten.

6.   Umweltfragen

6.1   Das APS+-System umfasst grundlegende Umweltübereinkommen. Von besonderer Bedeutung für Zentralasien sind in dieser Beziehung Themen der Ernährungssicherheit sowie der Sicherheit der Wasser- und Energieversorgung, die in engem Zusammenhang stehen. Eine wichtige Aufgabe der EU wird es sein, die fünf Staaten darin zu bestärken, bei der Lösung dieser Probleme umfassend zusammenzuarbeiten. In der EU-Strategie wird nicht deutlich, wie eng der Zusammenhang zwischen diesen Fragen ist, da das Thema Wasser jeweils getrennt als Teil der Energieproblematik sowie unter der Überschrift ökologische Nachhaltigkeit behandelt wird, und die Ernährungssicherheit als erhebliches Problem an sich dargestellt wird.

6.2   Tadschikistan wurde 2008 als einziges asiatisches Land von der FAO auf die Liste der 17 Länder gesetzt, in denen eine Ernährungskrise herrscht. Auch die Sicherheit der Wasserversorgung ist von grundlegender Bedeutung für die Region als Ganzes, wie deutlich wird angesichts des beträchtlich sinkenden Wasserspiegels des Aralsees, der zunehmenden Probleme mit verschwindenden Flüssen und der Tatsache, dass Baumwolle eine besonders bewässerungsintensive Kultur ist. Die Erfahrungen der EU bei der Unterstützung anderer Länder in diesem Bereich sollten auch dazu beitragen, weiteres Vertrauen in Zentralasien aufzubauen.

6.2.1   Während Tadschikistan und Kirgisistan den größten Teil des Jahres über ausreichend Wasser verfügen (auch wenn schlechtes Management und defekte Verteilungssysteme zu besonders hohen Verlusten und daraus folgendem Mangel führen), leiden ihre Nachbarländer unter Wassermangel, vor allem Usbekistan (das wegen des bewässerungsintensiven Anbaus von Reis und Baumwolle sowie für Trinkwasser in hohem Maße auf Wassereinfuhren angewiesen ist). Die Hauptprobleme Tadschikistans wiederum sind die sehr begrenzten Ressourcen anderer Energieträger sowie vor allem die Ernährungsunsicherheit. Das Land ist in Bezug auf Energie und Nahrungsmittel weitgehend von seinen Nachbarn abhängig.

6.2.2   2008 litten zwei Millionen Menschen (mehr als ein Drittel der Bevölkerung) unter Ernährungsunsicherheit und 750 000 Menschen unter erheblicher Ernährungsunsicherheit. 64 % der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, und nur 7 % des Bodens sind für landwirtschaftliche Zwecke nutzbar.

6.2.3   Leider unterhalten Usbekistan und Tadschikistan keine gutnachbarlichen Beziehungen, was zu einem Teufelskreis aus wechselseitigen Ausfuhrverboten für Energie und Wasser geführt hat, die immer wieder ernste Engpässe auf beiden Seiten mit sich brachten. Tadschikistan ging es nicht zuletzt darum, die eigene Stromversorgung zu sichern, die in Duschanbe in einer Zeit bitterer Kälte nur zwei Stunden am Tag gesichert war.

6.3   Diese Krise zeigt, wie wichtig eine ganzheitliche Strategie ist, die eine ökologisch vertretbare Nutzung der natürlichen Ressourcen, die Bekämpfung der Armut und vor allem Ernährungssicherheit umfasst, um ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum in Zentralasien insgesamt zu fördern. Nichtsdestoweniger begrüßt der EWSA die Tatsache, dass die EU sich bereits stark für die Unterstützung Tadschikistans und seiner Nachbarn bei der Bewältigung solcher Krisen engagiert.

Brüssel, den 16. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 82.

(2)  Zentrum für Europäische Politische Studien.

(3)  Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, das einzige internationale politische Gremium, das Europa mit allen Ländern verknüpft, die aus der ehemaligen Sowjetunion hervorgegangen sind.

(4)  KOM(2006) 763 endg.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/55


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Auf dem Weg zu einem Assoziierungsabkommen EU-Mercosur: der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 248/09

Berichterstatter: José María ZUFIAUR

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16. September 2010 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Auf dem Weg zu einem Assoziierungsabkommen EU-Mercosur: der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 25. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 89 gegen 1 Stimme bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist der Auffassung, dass, falls die bestehenden Hürden in Bereichen wie Landwirtschaft, geistiges Eigentum und nachhaltige Entwicklung überwunden werden, der Abschluss eines Assoziierungsabkommens zwischen dem Mercosur und der EU für beide Seiten enorme Chancen und Vorteile jeglicher Art schaffen würde – und das in Zeiten tiefgreifender Veränderungen in der Führungsrolle der globalen Akteure und der weltweiten geostrategischen, ökologischen, sozialen, energie- und ordnungspolitischen Herausforderungen sowie angesichts der dringenden Notwendigkeit, das Entwicklungsmodell eingehend so zu überarbeiten, dass es zu einem Mittel wird, mit dem die schwerste Systemkrise seit den 1930-er Jahren überwunden werden kann.

1.2   Der EWSA hält ein Abkommen nur für möglich, wenn es ausgewogen und für beide Seiten vorteilhaft ist und nicht zulasten eines Sektors (z.B. Landwirtschaft oder Industrie), einer Region oder eines Lands geht. In keinem Falle darf sich das Assoziierungsabkommen auf ein schlechtes Abkommen stützen. In diesem Sinne fordert er die Verhandlungspartner auf, den politischen Willen zu zeigen, der notwendig ist, um das Assoziierungsabkommen zu ermöglichen, und alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Differenzen zu überwinden, die insbesondere den Grundpfeiler des Assoziierungsabkommens, die Handelsfragen, betreffen. Dazu sind alle Formeln und Mechanismen einzusetzen, die diesem Zweck dienen können: Anerkennung der Asymmetrien, flankierende und kompensierende Maßnahmen, Festlegung von Ausnahmen, Entwicklungspläne zur Unterstützung der am meisten betroffenen Sektoren, Investitionsförderung, Innovationspolitik, Ausgleichs-, Übergangs- und Evolutivklauseln. Darüber hinaus sollten sämtliche EU-Politikbereiche in die Begleitmaßnahmen einbezogen werden.

1.3   Der EWSA fordert die Verhandlungspartner und insbesondere die Europäische Union auf, die hohen politischen, wirtschaftlichen und Substitutionskosten abzuwägen, die entstünden, käme ein Abkommen nicht zustande.

1.4   Nach Auffassung des EWSA muss das Assoziierungsabkommen ehrgeizig sein und alle Aspekte der Beziehungen zwischen der EU und dem Mercosur abdecken. In diesem Sinne ist es wichtig, die realen Hürden, vor denen die Unternehmen stehen, durch die Harmonisierung der Vorschriften wie auch die Auswirkungen auf die nicht-handelsbezogenen Hemmnisse anzugehen. Insbesondere sollte das Assoziierungsabkommen eine sozial-, beschäftigungs- und umweltpolitische Dimension umfassen, die das gesamte Abkommen durchdringt. Diese Dimension sollte Wirtschaftsbeziehungen gewährleisten, die den vereinbarten sozialen und umweltpolitischen Zielen entsprechen, ohne die Normen und Garantien einer nachhaltigen Entwicklung auszuhöhlen. Gleichzeitig sollte im Assoziierungsabkommen die Verpflichtung der beiden Seiten zur Einhaltung grundlegender Sozial- und Arbeitsnormen festgeschrieben werden, einschließlich internationaler Erklärungen - z.B. der ILO -, denen zufolge aus der Verletzung der Prinzipien und Rechte bei der Arbeit kein legitimer Wettbewerbsvorteil im internationalen Handel resultieren darf.

1.5   Der EWSA fordert, sowohl das Beratende Wirtschafts- und Sozialforum des Mercosur (FCES) wie auch ihn selbst – als Vertretung der Zivilgesellschaft der beiden Weltregionen – in die Verhandlungen, die Folgenabschätzungen zum Assoziierungsabkommen und die sich daraus ableitenden Vorschläge (nach Ansicht des EWSA müssen nicht nur im Vorfeld die Auswirkungen eines etwaigen Assoziierungsabkommens analysiert, sondern auch Mechanismen geschaffen werden, um im Nachhinein die Einhaltung und Entwicklung der vereinbarten Punkte zu überprüfen) und in die Abfassung eines gesonderten Kapitels im Abkommen über die sozial-, beschäftigungs- und umweltpolitische Dimension einzubeziehen und durch die Einrichtung eines Gemischten Beratenden Ausschusses aus Mitgliedern beider Vertretungen der Zivilgesellschaft der Verhandlungspartner an der Umsetzung des Abkommens nach seiner Unterzeichnung zu beteiligen (1).

2.   Vorbemerkungen

2.1   Die Verhandlungen zwischen der EU und dem Mercosur über den Abschluss eines Assoziierungsabkommens kamen 2004 zu einem Stillstand aufgrund ihrer erheblichen Differenzen hinsichtlich des Zugangs zu den Märkten und ihrer Erwartungen an die Ergebnisse der Doha-Entwicklungsrunde. Im Rahmen informeller Kontakte, die 2009 aufgenommen wurden, zeichneten sich Positionsveränderungen ab, die die beiden Seiten zu dem Schluss veranlassten, dass es neue Chancen für das Abkommen gab, sodass auf dem Gipfel EU/Lateinamerika und Karibik im Mai 2010 beschlossen wurde, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Es sollte sich um ein ehrgeiziges Assoziierungsabkommen handeln, dessen Handelsdimension nicht nur den Warenhandel, sondern auch Dienstleistungen, Investitionen, öffentliche Ausschreibungen, geistiges Eigentum (einschließlich Ursprungsbezeichnungen), Handelserleichterungen, Gesundheits- und Pflanzenschutzmaßnahmen, Handel und nachhaltige Entwicklung, Wettbewerb oder Instrumente zum Schutz des Handels umfasst.

3.   Chancen und Vorteile eines Assoziierungsabkommens

3.1   Mit einer Gesamtbevölkerung von über 700 Mio. Menschen und einem jährlichen Handelsvolumen von über 84 Mrd. EUR wird der Abschluss eines Assoziierungsabkommens zwischen der EU und dem Mercosur die Schaffung eines großen Raums der wirtschaftlichen Integration ermöglichen, was Vorteile für beide Seiten und positive Ausstrahlungseffekte – insbesondere in den übrigen lateinamerikanischen Ländern – schaffen kann.

3.2   Die EU als Gesamtheit ist der wichtigste Wirtschaftsraum der Welt, während der Mercosur zu den sechs wichtigsten Wirtschaftsräumen der Welt zählt. Es handelt sich um eine sehr dynamische Region, die in den letzten Jahren hohe jährliche Wirtschaftswachstumraten aufzuweisen hatte (bis zu 7 % in Brasilien und 9 % in Argentinien, Uruguay und Paraguay). Darüber hinaus diversifiziert der Mercosur derzeit seine wirtschaftliche Basis (mit der Agrar- und Ernährungswirtschaft als einer tragenden Säule); er baut aber auch seine industrielle Basis aus, die sich durch erhebliche Energie- und Technologieressourcen auszeichnet.

3.3   Die EU ist der wichtigste Handelspartner des Mercosur – noch vor den USA. 2010 hatten die Importe der EU aus dem Mercosur 2010 einen Wert von ca. 44 Mrd. EUR und ihre Exporte von mehr als 40 Mrd. EUR. Es ist zu betonen, dass die EU bereits ebensoviel in den Mercosur wie nach Indien und mehr als nach Kanada oder Südkorea ausführt. Auch die Investitionen der EU im Mercosur sind größer als die ihre Investitionen in China, Indien und Russland zusammengenommen.

3.4   Die Volkswirtschaften der beiden Seiten sind weitgehend komplementär, was sich am Profil ihres Handelsaustauschs klar zeigt: Im Wesentlichen exportiert die EU Industrie- und Ausrüstungsgüter, Verkehrsmittel und Chemikalien, und sie importiert Lebensmittel und Energieerzeugnisse. Allerdings unterliegt der Austausch einem raschen Wandel auf beiden Seiten: Beispielsweise hat die EU ihren Export von verarbeiteten Agrarerzeugnissen merklich gesteigert; gleichzeitig haben brasilianische Unternehmen im Zeitraum 2007/2008 mehr in Europa investiert als europäische Unternehmen in Brasilien. Ein Assoziierungsabkommen hätte deshalb ein enormes Potenzial zur Schaffung von Wohlstand.

3.5   Durch ein Assoziierungsabkommen mit dem Mercosur könnte die EU ihre wirtschaftlichen und geopolitischen Beziehungen zu einem strategischen Partner intensivieren. Mit einem bilateralen Abkommen würde die EU anderen internationalen Konkurrenten wie den USA und China zuvorkommen. Darüber hinaus würde das Assoziierungsabkommen die (das Thema Handel ausklammernde) strategische Partnerschaft mit Brasilien stärken - einem Land mit besonderer Bedeutung im geopolitischen Kontext der internationalen Beziehungen, da es an den beiden Hauptschienen – BRIC und IBSA –, die die Interessen der Schwellenländer koordinieren, beteiligt ist (2). All dies würde zu einer stärkeren südamerikanischen und damit lateinamerikanischen Integration auf einem Kontinent führen, der wichtige Vorräte an Energieträgern, Agrargrundstoffen und Wasser hat – drei Ressourcen von vitaler Bedeutung im 21. Jahrhundert. Insgesamt könnte das Assoziierungsabkommen dazu beitragen, den wirtschaftlichen und geopolitischen Bedeutungsverlust des Atlantikraums gegenüber dem Pazifikraum abzuschwächen.

4.   Hemmnisse und Schwächen des Assoziierungsabkommens

4.1   Die unleugbaren Vorzüge eines Assoziierungsabkommens zwischen der EU und dem Mercosur überdecken jedoch nicht die Schwierigkeiten, die mit einem derartigen Abkommen einhergehen und sich wie folgt zusammenfassen lassen: 1) Komplexität der Verhandlungsagenda, d.h. der Handelsaspekte des Abkommens; 2) strukturelle Schwächen, die die Integration des Mercosur betreffen und den Freihandel prägen; 3) soziale und umweltpolitische Dimension des Abkommens; 4) Stärke des politischen Willens der beiden Seiten zum Abschluss des Abkommens und dementsprechend die Bereitschaft, über alle Möglichkeiten des Einsatzes von Ausgleichsmechanismen inner- und außerhalb des Abkommens zu diskutieren, um dieses zu erreichen. Die beiden letzten Aspekte werden in Ziffer 5 bzw. 7 dieser Stellungnahme ausgeführt.

4.1.1   Was die Handelsfragen betrifft, so sind die Schwierigkeiten wohlbekannt. Aus europäischer Sicht liegen sie vornehmlich im Agrar- und Nahrungsmittelsektor, wie die Kommission in ihren jüngsten Folgenabschätzungen feststellt (3). Insbesondere werden gravierende negative Folgen in Bereichen wie Zucker, Rind-, Hühner- und Schweinefleisch, Obst und Gemüse befürchtet. Ausgegangen wird auch von: der Existenz eines übermäßigen Protektionismus im Falle der Industriegüter (Kraftfahrzeuge, Chemikalien) und einiger verarbeiteter Agrarerzeugnisse (einschließlich Wein); der Gefahr der Nichteinhaltung von Bestimmungen zum Schutz von Ursprungsbezeichnungen; dem vergleichweise niedrigen Niveau der Durchsetzung von Vorschriften über Lebensmittelsicherheit und Umweltschutz; der mangelnden Transparenz öffentlicher Ausschreibungen. Nach den letzten Verhandlungsrunden nehmen die beiden Seiten eine positivere Haltung gegenüber dem Abkommen in Fragen wie Handel und nachhaltiger Entwicklung und Ursprungsregeln ein.

4.1.2   Aus der Sicht des Mercosur ist die Landwirtschaft der wichtigste Aspekt. 2004 bot Europa an, nach Ablauf der Übergangsfristen 86,25 % der Gesamteinfuhren von Agrargütern zu liberalisieren. Dieses Mal dürfte über einen höheren Prozentsatz verhandelt werden. Die Möglichkeit der Festlegung von Quoten erleichtert die Verhandlungen. Gleichzeitig könnten die von den europäischen Agrarsektoren aufgezeigten Risiken gemildert werden, wenn in das Assoziierungsabkommen die Forderung nach einer angemessenen Einhaltung identischer Standards – in den Bereichen Umweltschutz, Lebensmittelsicherheit, Tierschutz usw. – für europäische Produkte wie auch für Importe aus dem Mercosur aufgenommen wird. Andererseits darf das Assoziierungsabkommen die Abhängigkeit der EU im Nahrungsmittelbereich nicht vergrößern, sondern muss Instrumente umfassen, die notwendig sind, um das Modell einer wenig nachhaltigen Intensivlandwirtschaft zu vermeiden. Bei Industrieprodukten, bei denen die Hürden geringer sind, erscheint eine Einigung leichter möglich, wie es beim Abkommen der EU mit Südkorea über die Automobilindustrie der Fall war. Schließlich könnten andere Themen wie das geistige Eigentum, die für bestimmte Länder des Mercosur (z.B. Brasilien) besonders heikel sind, Gegenstand von Evolutiv- oder Übergangsklauseln entsprechend den WTO-Übereinkommen sein. Vor diesem Hintergrund ist der EWSA der Ansicht, dass neben anderen Initiativen ein Programm über industrielles Eigentum erarbeitet werden könnte, das den Technologietransfer anregen und dazu dienen soll, ein funktionsfähiges Patentsystem zwischen der EU und dem Mercosur einzuführen, welches später auf die gesamte lateinamerikanische Region ausgeweitet werden könnte.

4.1.3   Der EWSA ist der Auffassung, dass allen Schwierigkeiten zum Trotz die Bedingungen für die Erreichung eines insgesamt ausgewogenen Abkommens, das für beide Seiten von Vorteil ist und nicht zulasten eines Sektors, einer Region oder eines Lands geht, besser sind als bei früheren Gelegenheiten (4).

4.2   Die strukturellen Schwächen des Mercosur waren in der Vergangenheit ein erhebliches Hindernis auf dem Weg zu einem Assoziierungsabkommen. Zu nennen sind hier der Mangel an gemeinsamen Netzen und Strukturen in einem Gebiet, das drei Mal so groß wie die EU ist; der geringe Grad an intraregionalem Handel (15 % im Mercosur gegenüber 45 % in der Nordamerikanisches Freihandelszone NAFTA und 66 % in der EU) und das Übergewicht des extraregionalen Handels; eine unvollständige Zollunion; der begrenzte Umfang der gesamtwirtschaftlichen Koordinierung und die Schwäche der regionalen Institutionen.

4.2.1   In den letzten Jahren, vor allem seit 2003 – im Gefolge dessen, was als unmittelbar greifbare Möglichkeit des Abschlusses eines Abkommens zwischen der EU und dem Mercosur erachtet wurde –, erfuhr der regionale Integrationsprozess des Mercosur eine starke Wiederbelebung durch Initiativen wie die Aufnahme gemeinsamer Politikbereiche wie Energie, Nutzung der Gas- und Erdölvorkommen oder Schaffung von Kommunikationsinfrastrukturen, die Vereinbarung einer gemeinsamen Automobilpolitik zwischen Argentinien und Brasilien oder die Schaffung des Fonds für die strukturelle Konvergenz des Mercosur (FOCEM). Auch wurden ein Strategieplan zur Überwindung der Asymmetrien im Binnenmarkt gebilligt und Maßnahmen zur bevorzugten und differenzierten Behandlung zugunsten Paraguays und Uruguays festgelegt.

4.2.2   Zudem richteten die Regierungen des Mercosur im Jahr 2000 die Gruppe „Makroökonomisches Monitoring“ ein, die eine Reihe von Parametern der makroökonomischen Konvergenz verfolgen und gemeinsame Methoden für deren Verwendung erarbeiten sollte.

4.2.3   All dies hat zur Ausweitung des intraregionalen Handels, zur Verbesserung der Qualität in der Produktion und zur Anziehung neuer ausländischer Direktinvestitionen geführt.

4.2.4   In den letzten Jahren hat außerdem die politische Dimension des Mercosur an Bedeutung gewonnen: Der Mercosur hat Schieds- und Revisionsgerichte geschaffen, das Verwaltungs- zu einem Fachsekretariat umgestaltet, ein Menschenrechtsprotokoll unterzeichnet, ein Parlament (PARLASUR) eingerichtet und seinen ersten Hohen Generalvertreter ernannt. Gleichwohl ist der wirtschaftliche Integrationsprozess weiterhin schwach, es gibt zahlreiche Handelsstreitigkeiten und das Institutionengefüge nimmt nur allmählich Gestalt an.

4.2.5   Besonders erwähnenswert ist die Tatsache, dass der Mercosur im August 2010 schließlich einen neuen Gemeinsamen Zollkodex (mit knapp 200 Artikeln) angenommen hat, was die Aufhebung des doppelten gemeinsamen Außenzolls auf Produkte impliziert, die von einem Land ins andere in Verkehr gebracht werden. Dies macht die Festlegung einer gemeinsamen Handelspolitik und die Harmonisierung anderer Aspekte wie Einfuhrsonderregelungen und Handelsschutzinstrumente erforderlich. Es erfordert auch die Vernetzung der Computersysteme der Zollverwaltung und die Einrichtung eines Mechanismus zur Erhebung und Verteilung der Einnahmen aus dem gemeinsamen Außenzoll. Solche Fortschritte bei der Zollunion sind ein Faktor, der die Verhandlungen zwischen der EU und dem Mercosur ganz wesentlich erleichtern kann.

4.2.6   Der Abschluss eines Assoziierungsabkommens könnte den gesamten Prozess der wirtschaftlichen Integration des Mercosur, der Regulierung seines Binnenmarkts und der Stärkung seiner Institutionen beschleunigen.

5.   Auswirkungen des Assoziierungsabkommens und Ausgleichsmaßnahmen

5.1   Im Auftrag der Europäischen Kommission wurde eine Studie über die Auswirkungen der Liberalisierung des Handels zwischen der EU und dem Mercosur sowohl in Bezug auf das gesamte Assoziierungsabkommen als auch auf drei spezifische Sektoren: Landwirtschaft, Automobilbau und Forstwirtschaft durchgeführt. In dieser Studie werden die möglichen positiven und negativen Folgen des Assoziierungsabkommens untersucht sowie Maßnahmen vorgeschlagen und Empfehlungen ausgesprochen, um im allgemeinen Rahmen des Abkommens und der analysierten Sektoren die Vorteile zu verstärken und die Nachteile zu verhindern bzw. gering zu halten.

5.2   Der EWSA empfiehlt, dass alle Verhandlungspartner diesen Begleitmaßnahmen sowohl hinsichtlich der Handelsaspekte des Abkommens als auch mittels der Kooperationskomponente und der gemeinsamen Programme zwischen EU und Mercosur Rechnung tragen. Der Ausschuss ist auch der Auffassung, dass der FCES des Mercosur und der EWSA u.a. diese Maßnahmen in ihre Forderungen im Zuge der Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen aufnehmen könnten.

5.3   Der EWSA ist der Ansicht, dass das Assoziierungsabkommen, um leichter zu einem Abschluss zu gelangen, Evolutivklauseln umfassen könnte, die die Vertiefung und Erweiterung bestimmter Themen des biregionalen Abkommens in späteren Phasen ermöglichen würden.

5.4   Der EWSA ist der Auffassung, dass in den Folgenabschätzungen einerseits der Beteiligung von Fachleuten und Organisationen aus dem Partnerland des Abkommens und andererseits der Ermittlung sozialer und ökologischer Risiken, die derzeit nur als ergänzende Aspekte der wirtschaftlichen Evaluierung betrachtet werden, mehr Bedeutung beigemessen werden sollte (5), einschließlich der Frage der Konzentration des durch das Abkommen generierten Reichtums und dessen ungleicher Verteilung.

6.   Nachhaltige Entwicklung als Teilaspekt des Assoziierungsabkommens

6.1   Der EWSA ist der Auffassung, dass eine sozial-, beschäftigungs- und umweltpolitische Dimension als fester Bestandteil querschnittsmäßig im gesamten künftigen Assoziierungsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur verankert werden muss, um die nachhaltige Entwicklung beider Seiten zu fördern. Sie muss die wirtschafts- und handelspolitische Dimension des Assoziierungsabkommens ergänzen.

6.1.1   Dies entspricht den offiziellen Positionen der Leitungsinstanzen der EU und des Mercosur (6), die die Auffassung vertreten, dass die Liberalisierung des Handelsaustauschs mit sozialen und umweltpolitischen Verpflichtungen und Aktionen einhergehen sollte.

6.1.2   Dementsprechend sollten nach Auffassung des Ausschusses Sozial- und Umweltnormen in das Assoziierungsabkommen aufgenommen werden, die eingehalten werden müssen, um Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu erreichen, die den wirtschaftlichen sozialen Zusammenhalt begünstigen, im Einklang mit einer Strategie der nachhaltigen Entwicklung stehen und die Wettbewerbsfähigkeit der örtlichen Wirtschaft (KMU, Sozialwirtschaft, Kleinstunternehmer) unter Berücksichtigung ihrer Fähigkeit zur Arbeitsplatzschaffung stärken;

6.1.3   Der EWSA ist der Ansicht, dass sich die soziale und umweltpolitische Dimension durch das gesamte Assoziierungsabkommen ziehen muss. Andererseits sollten nach Auffassung des Ausschusses im Handelskapitel des Abkommens Aspekte im Zusammenhang mit dem Schutz der Menschen-, Arbeits-, Sozial- und Umweltrechte behandelt und ein gesonderter Abschnitt Fragen in Bezug auf „Handel und nachhaltige Entwicklung“ gewidmet werden, wie:

Ausschluss illegal gewonnener Erzeugnisse (Fisch, Holz) aus den Handelsströmen;

Aufnahme von Initiativen des fairen Handels und der sozialen Verantwortung der Unternehmen in Handels- und Investitionsprogramme;

Verpflichtung zur regelmäßigen Kontrolle der Folgen der Handelsbeziehungen in sozialer und ökologischer Hinsicht;

Nichtzulassung von Ausnahmen von Sozial- oder Umweltschutzgesetzen, um unangemessene Vorteile im internationalen Handel zu verhindern;

Verhinderung der Entwaldung.

7.   Strategische Aspekte des Assoziierungsabkommens EU-Mercosur

7.1   Ein entschlossener politischer Wille ist unabdingbar, erstens um ein Assoziierungsabkommen zu konzipieren und voranzubringen, das nicht nur ein Freihandelsabkommen, sondern auch ein umfassenderes Strategieabkommen ist und beiden Seiten langfristige Vorteile in den Bereichen Entwicklung, Sicherheit, Migration und Umweltschutz bringt, sowie zweitens um alle bestehenden Mechanismen zu nutzen, um den Disparitäten zwischen den beiden Regionen Rechnung zu tragen, die negativen Folgen der Liberalisierung für bestimmte Sektoren zu verringern, den Rückstand im Integrationsprozess des Mercosur aufzuholen und die soziale Teilhabe und Transparenz als Schlüsselfaktoren in den biregionalen Verhandlungen festzulegen.

7.2   Das Assoziierungsabkommen bietet eine große Chance, allgemeinen strategischen Zielen näherzukommen, die für beide Regionen von Interesse sind.

7.3   Erstes würde es einen Weg eröffnen, um eine internationale politische und wirtschaftliche Präsenz aufrechtzuerhalten in Zeiten, in denen sich die wirtschaftliche und politische Macht vom Atlantik zum Pazifik verlagert. Der Mercosur hat weder mit den USA noch mit den großen Ländern Asiens Abkommen geschlossen, hat allerdings Freihandelsabkommen mit Chile und Mitgliedern der Andengemeinschaft unterzeichnet. Darüber hinaus läuft derzeit die Aufnahme Venezuelas in den Mercosur. Außerhalb Südamerikas unterhält der Mercosur Abkommen (u.a. über den Freihandel) mit Südafrika, Indien, Pakistan, der Türkei, Ägypten, Marokko und Israel. Ihrerseits hat die EU bilaterale Abkommen mit Mexiko, Chile, Mittelamerika, Peru, Kolumbien, Südafrika, der Karibik und Südkorea geschlossen. Kurzum, ein Assoziierungsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur würde zur Schaffung eines biregionalen Blocks mit einer bedeutenden Rolle auf der neuen Weltbühne führen.

7.3.1   Ein Assoziierungsabkommen wäre auch sehr wichtig, um die Integration der gesamten lateinamerikanischen Region zu stärken. Das Abkommen wäre für andere lateinamerikanische und karibische subregionale Gruppierungen und auch für Länder wie Mexiko oder Chile sehr attraktiv. Eine „strategische Allianz“ zwischen den beiden Regionen – zwischen den 27 EU-Mitgliedstaaten und den 33 Ländern Lateinamerikas und der Karibik – hätte großes Gewicht in multilateralen Gremien. Ebenso würde es zu mehr Einflussmöglichkeiten in der G-20 führen, der drei lateinamerikanische Länder (Brasilien, Mexiko und Argentinien) und fünf europäische Länder (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien) angehören.

7.3.2   Schließlich könnte die EU im Hinblick auf ihr Ziel, den Umweltschutz weltweit zu fördern, mittels des Assoziierungsabkommens im Mercosur einen strategischen Verbündeten finden. Der Umweltschutz ist heute eines der Hauptanliegen der Staaten, der Bürger und multilateraler Einrichtungen. Die EU ist Spitzenreiter im Bereich der Umweltpolitik und Umwelttechnologien. Natürliche Ressourcen zählen zu den Hauptstärken Lateinamerikas und insbesondere des Mercosur; es handelt sich aber auch um eine der Regionen, die durch den Klimawandel – u.a. infolge bestimmter Methoden der Intensivlandwirtschaft – am stärksten bedroht sind.

7.3.3   Damit dieses Ziel eine ausreichende Unterstützung findet, wäre es erforderlich, die Themen „Energie, Umwelt, Wissenschaft und Technologie und Innovation“ gebührend zu berücksichtigen. Diese Themen sollten im Kapitel über Entwicklungszusammenarbeit Vorrang erhalten. Im Rahmen des sechsten EU-Rahmenprogramms für Forschung und technologische Entwicklung wurden bereits zahlreiche Projekte mit Mercosur-Ländern durchgeführt. Nun sollte diese Zusammenarbeit als fester Bestandteil im Assoziierungsabkommen verankert werden. Dazu könnten die umfangreichen Mittel aus dem siebten Rahmenprogramm (50 Mrd. EUR) einen beträchtlichen Beitrag leisten.

8.   Die Zivilgesellschaft und das Assoziierungsabkommen

8.1   Der EWSA ist der Auffassung, dass der interregionale Charakter der Verhandlungen und der Inhalt des Assoziierungsabkommens ein grundlegendes und kennzeichnendes Element dieser Verhandlungen und ein Referenzpunkt für die Wirtschaftsbeziehungen in einer Welt sind, die sich für den Handelaustausch zunehmend öffnet.

8.2   Der EWSA bekräftigt die Prinzipien der Transparenz und der Beteiligung sowohl im Verhandlungsprozess als auch bei der Entwicklung des Assoziierungsabkommens. Zu diesem Zweck ersucht er darum, während der Verhandlungen eingehend informiert zu werden und einen Zugang zu den Verhandlungsführern in Echtzeit zu haben, um diesen die Vorschläge des FCES und des EWSA unterbreiten zu können.

8.3   Darüber hinaus ersucht der EWSA darum, in die Erarbeitung von Folgenabschätzungen einbezogen zu werden, sodass er Maßnahmen zur Beseitigung oder Verringerung der negativen Folgen bestimmter Bereiche der Handelsliberalisierung empfehlen kann. Ferner fordert er dazu auf, im Anschluss an die Unterzeichnung des Abkommens eine fachbezogene Beobachtungsstelle zu schaffen, die die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen des Assoziierungsabkommens fortlaufend untersucht und konkrete Maßnahmen vorschlägt.

8.4   Im Einklang mit den gemeinsamen Positionen des EWSA und des FCES – und den in den Verhandlungen vor 2004 getroffenen Vorvereinbarungen – fordert der EWSA die Einrichtung eines Gemischten Beratenden Ausschusses der Zivilgesellschaft im Rahmen des Assoziierungsabkommens mit paritätischer Beteiligung des EWSA und des FCES und obligatorischen Beratungsaufgaben, die alle Themenbereiche des Abkommens abdecken, einschließlich des Handelskapitels und der Weiterverfolgung der Aspekte der nachhaltigen Entwicklung.

8.5   Der EWSA hält es für unabdingbar, eine soziale Dimension in das Assoziierungsabkommen aufzunehmen, da dieses über die eigentlichen Handelsaspekte hinausgehen und die Förderung des sozialen Zusammenhalts zum allgemeinen Ziel haben sollte. Dies gilt insbesondere für die Auswirkungen des Assoziierungsabkommens auf die Beschäftigung, den Schutz der Interessen der lokalen Bevölkerung und der Schwächsten der Gesellschaft, die Förderung und Achtung der Menschenrechte, den Umweltschutz sowie die Rechte von Einwanderern und Arbeitnehmern im Allgemeinen. In diesem Sinne sollte das Abkommen die internationalen Erklärungen einschließen – z.B. der ILO –, die vorsehen, dass der Verstoß gegen die Grundsätze und Grundrechte am Arbeitsplatz nicht als legitimer Wettbewerbsvorteil im internationalen Handel angeführt oder genutzt werden darf. Ziel ist es, dass das künftige Abkommen hochwertige Arbeitsplätze schafft, die sozialen Bedingungen für die Arbeitnehmer verbessert und maßgeblich zu einer besseren Verteilung des Reichtums beiträgt.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe dazu die vom FCES und dem EWSA am 22. März 2011 unterzeichnete Erklärung von Asunción betreffend die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen EU-Mercosur: http://www.eesc.europa.eu/resources/docs/2011_decl_de.pdf.

(2)  BRIC: Brasilien, Russland, Indien, China. IBSA: Indien, Brasilien, Südafrika.

(3)  Generaldirektion Landwirtschaft und Gemeinsames Forschungszentrum der Europäischen Kommission, April 2011.

(4)  Diese Ansicht wurde auch von den Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfel EU/Mercosur im Mai 2010 vertreten.

(5)  „Nachhaltigkeitsprüfungen und EU-Handelspolitik“, Berichterstatterin: Evelyne Pichenot (ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 14-18).

(6)  Erklärung der für soziale Entwicklung zuständigen Minister und Behörden des Mercosur, Juli 2006, Buenos Aires. Tagungen des Europäischen Rates vom Februar 2005 und 2006.


25.8.2011   

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C 248/60


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der interkulturelle Dialog und die Roma: die Schlüsselrolle der Frauen sowie von Erziehung und Bildung“ (Ergänzende Stellungnahme)

2011/C 248/10

Berichterstatterin: Anne-Marie SIGMUND

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 24. Februar 2009, gemäß Artikel 29 Buchstabe A der Durchführungsbestimmungen zur Geschäftsordnung eine ergänzende Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Der interkulturelle Dialog und die Roma: die Schlüsselrolle der Frauen sowie von Erziehung und Bildung“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 27. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 16. Juni 2011) mit 127 gegen 2 Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Ausschuss erhebt den Schlusssatz der Kommissionsmitteilung vom 5. April 2011 (1) zu seiner Handlungsmaxime im Rahmen der vorliegenden Vorschläge.

1.2

Er betont, dass ab nun keine Strategien mehr für die Roma und Analysen über die Roma erarbeitet werden sollten, sondern konkrete Umsetzungsschritte mit den Roma bzw. den sie vertretenden Organisationen gesetzt werden sollten.

1.3

Der Ausschuss ist bereit, sich im Rahmen seiner Kompetenzen an solchen Maßnahmen zu beteiligen bzw. von sich aus wie bisher Initiativen in enger Zusammenarbeit mit Roma-Organisationen zu ergreifen (z.B. Anhörungen, Seminare etc.).

1.4

Der Ausschuss wird seine Beziehungen zu in diesem Bereich tätigen Institutionen, Organisationen und Einrichtungen ausbauen und sich um gemeinsame weitere Schritte bemühen (2).

1.5

Der Ausschuss betrachtet den interkulturellen Dialog als ein geeignetes Instrument zur Integration bzw. Partizipation der Roma, sowohl was das Rollenverständnis der Roma-Frauen in diesem Prozess anlangt als auch im Bereich der Erziehung und Bildung.

1.6

Der Ausschuss wird nach Möglichkeiten - auch im Rahmen seiner bestehenden Netzwerke - suchen, sich an Initiativen vor Ort zu beteiligen oder solche selbst einzuleiten.

2.   Hintergrund und Ansatz

2.1

In seiner Sondierungsstellungnahme vom 9. Juli 2008 (3) sprach der EWSA eine Reihe von Empfehlungen für eine raschere Integration der Minderheit der Roma in Europa aus. Ein zweigleisiges - zwischen Unionsebene und Mitgliedstaaten abgestimmtes - Vorgehen im Zusammenhang mit der Erziehung und Bildung der Roma-Kinder wurde empfohlen und die Kommission aufgefordert, eine übergreifende Strategie umzusetzen und Sensibilisierungskampagnen zu finanzieren. Eine aktive Beteiligung von Roma-Vertretern an dem Prozess wurde als einzig gangbarer Weg herausgestellt.

2.2

Die Europäische Kommission (4) hatte diesen Ansatz aufgegriffen und darauf hingewiesen, dass der EWSA (5)die Einbeziehung von Roma-Belangen als Querschnittsaufgabe in alle relevanten europäischen und nationalen Politiken als erfolgversprechendsten Weg für die Integration“ bezeichnet hat.

2.3

Der vorliegenden ergänzenden Stellungnahme liegt das Prinzip des interkulturellen Dialogs zugrunde, der darauf aufbaut, dass beide Seiten - in diesem Falle die Roma-Minderheit in Europa und die europäische Nicht-Roma-Bevölkerung - freiwillig und vorurteilsfrei in einen Dialog eintreten. Dieser interkulturelle Dialog setzt voraus, sich sowohl mit den Gemeinsamkeiten als auch mit den Unterschieden in Tradition und Lebensweise auseinanderzusetzen, um zu einem besseren Verständnis der tatsächlichen Realität zu gelangen und machbare Lösungen zu entwerfen.

2.4

Inhaltlich stellt diese Stellungnahme auf den ersten und aus Sicht des EWSA vorrangigen Integrationspfeiler (6) Erziehung und Bildung ab und behandelt in diesem Kontext auch die besondere Rolle der Frauen für die Integration der Roma.

2.5

Der Ausschuss unterstützt die Strategie der „Europäischen Plattform für die Einbeziehung der Roma“, insbesondere die von der Plattform 2009 aufgestellten zehn gemeinsamen Grundprinzipien für die Einbeziehung der Roma (7).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Einer der gängigen „Slogans“ für die Beschreibung des europäischen Integrationsprojekts ist die „Einheit in der Vielfalt“. In diesem Zusammenhang sind die Roma ein eindrucksvolles Beispiel für die kulturelle Diversität Europas, wobei diese Facette noch zusätzlich durch den Umstand bereichert wird, dass die Roma (8) auch in sich verschiedene kulturelle Identitäten verkörpern (9).

3.2

Seit 1999 (10) bekennt sich der Ausschuss zu einem erweiterten Kulturbegriff, der neben Kunst, Tradition und Kulturerbe auch Erziehung, Bildung, Wissenschaft, Forschung u.a. umfasst. So bekommen Erziehung und Bildung auch einen besonderen Stellenwert für den interkulturellen Dialog insbesondere mit den Roma.

3.3

Einer Absage an den Multikulturalismus (11) hält der Ausschuss entgegen, dass die gemachten Aussagen in mancherlei Hinsicht zwar richtig, aber insofern missverständlich sind, als sie auf die Europäische Gemeinschaft nicht anwendbar sind, da diese durch eine gemeinsame „Leitkultur“ (12) verbunden ist.

3.4

Im Rahmen dieses Kulturverständnisses als gemeinsames Bekenntnis zu gemeinsamen Werten liegt der Schluss nahe, dass sich europäische Identität in erster Linie als kulturelle Identität darstellt, der in Art. 2 EUV, der sogenannten „Werteklausel“, seine Bestätigung findet. Der interkulturelle Dialog ist daher das geeignete Instrument, einen nachhaltigen Beitrag zur Integration im Allgemeinen und der Roma im Besonderen zu leisten. Besondere Beachtung verdient nach Ansicht des Ausschusses der Begriff der Toleranz.

3.5

Toleranz bedeutet das Recht der anderen auf „Anders-Sein“ und zwar sowohl was die Ausübung dieses Rechts als auch seine Duldung bedeutet. Dies ist gleich wichtig für Roma und Nicht-Roma. Im interkulturellen Dialog hat Toleranz aber noch eine zusätzliche grundlegende Bedeutung: Sie bezieht sich nicht nur auf die Lösung allenfalls bestehender Normenkonflikte, sondern verlangt auch die Sensibilität für das „Anders-Sein“ und schafft damit die notwendige Empathie für das Zusammenleben.

3.6

Die Initiativen der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments zur Verbesserung der Lage der Roma (13) sind hervorragende Instrumente, die gesetzlichen und politischen Aktionsgrundlagen und Programme zu schaffen; sie sind aber ihrer Natur nach per se„Top-down“-Maßnahmen, denen ohne die entsprechenden „Bottom-up“-Initiativen, die von der Zivilgesellschaft, allenfalls auch mit Unterstützung der nationalen, regionalen und lokalen öffentlichen Stellen, gesetzt werden müssen, der gewünschte Erfolg versagt bleiben wird.

3.7

Der Ausschuss begrüßt aus dieser Sicht die jüngste Mitteilung der Kommission, unterstützt insbesondere die dort gemachte Aussage, dass nunmehr Handeln gefordert sei, und betont, dass dieser Handlungsbedarf nicht nur die öffentlichen nationalen, regionalen und lokalen Stellen betrifft, sondern auch und insbesondere die zivilgesellschaftlichen Akteure auf beiden Seiten.

3.8

Bisher wurden bereits von gemeinschaftlicher und internationaler Seite beträchtliche Summen zur Integration der Roma ausgegeben und hinterher festgestellt, dass der Erfolg in keiner Relation zur Höhe der bereits eingesetzten Beträge steht. Nach Ansicht des Ausschusses hat das auch damit zu tun, dass es zwar auf Gemeinschaftsebene zahlreiche Initiativen, Konferenzen und Zusammenkünfte zum Thema gab und gibt, aber dass diese oft - auch mangels ausreichender Einbeziehung der betroffenen Roma und ihrer Organisationen vor Ort - zwar inhaltlich erfolgreich, aber in der Konkretisierung der empfohlenen Maßnahmen unbefriedigend blieben.

3.9

Der Ausschuss möchte im Rahmen seiner Kompetenzen dazu beitragen, dass dieses Missverhältnis zwischen guten strategischen Vorschlägen und nicht entsprechenden taktischen Umsetzungsmaßnahmen abgebaut wird. Er wird daher Bemühungen anstellen, seine Brückenfunktion zu den Bürgern zu nutzen und auch mit Hilfe seiner Netzwerke und der Organisationen seiner Mitglieder in Veranstaltungen vor Ort dazu beizutragen, dass auch die Bereitschaft, angebotene Dienste anzunehmen bzw. Pflichten einzuhalten, wächst.

4.   Die Rolle der Roma-Frauen

4.1

Aus verschiedenen Berichten ist ersichtlich, dass die Erziehung der Kinder im Vorschulalter im Allgemeinen in den Roma-Familien vorwiegend von den Müttern übernommen wird (14), während ab Schulantritt auch die Väter erzieherisch eingreifen. Die Erziehung der Mädchen bleibt meist auch nach Schuleintritt weiterhin Domäne der Mutter. Da jedoch die Prägephase der Kinder vorwiegend in das Vorschulalter fällt, ist es für alle Kinder wichtig, schon zu Hause auf die Schule vorbereitet zu werden. Deshalb sind Maßnahmen notwendig, die Mütter für die Bedeutung von Erziehung und Ausbildung der Kinder, insbesondere der Mädchen, zu interessieren und sie auch anzuleiten, ihre Kinder konkret auf die Schule vorzubereiten.

4.2

Diese Maßnahmen haben jedoch nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn Angebote (insbesondere auf lokaler Ebene) bestehen, die die unterschiedlichen Traditionen berücksichtigen. Dazu gehört die Pflicht der öffentlichen Stellen, geeignete Ausbildungsprogramme anzubieten und Segregation zu verhindern.

4.3

Zusätzlich wird es notwendig sein, Programme der Kompetenz- und Wissensvermittlung („capacity building“) einzusetzen, die die Roma-Frauen in die Lage versetzen, diese wichtige Rolle auch tatsächlich zu erfüllen.

4.4

In den traditionellen Roma-Familien leben mehrere Generationen unter einem Dach; hier haben auch die Großeltern Einfluss auf die Erziehung der Kinder und sind in vielen Fällen einflussreicher als die Eltern; deshalb erscheint es auch wichtig, die Großeltern einzubeziehen, die ja Vorbildfunktion für die Nachfolgegenerationen haben.

4.5

Wenn es gelingt, die gestaltende Kraft der Roma-Frauen für die Zukunft ihrer Kinder zu nutzen, wird damit auch ein Zusatzeffekt erreicht: solche konkreten Maßnahmen und Initiativen tragen dazu bei, die Stereotypien über Roma-Frauen abzubauen. Zu oft werden diese in eine Rolle als Objekte gedrängt, sei es als Opfer von Diskriminierung, häuslicher Gewalt oder sonstiger Misshandlung bzw. Missachtung. Selbstverständlich sind diese Hinweise wichtig und dürfen nicht überhört werden. Und ebenso selbstverständlich müssen geeignete Maßnahmen gegen solche Missstände getroffen werden. Darüber hinaus erscheint es dem Ausschuss aber auch wichtig, aufzuzeigen, welche aktive Rolle Roma-Frauen im Rahmen ihrer Gemeinschaft haben und welche Bedeutung sie als aktive Subjekte - als Beteiligte in diesem interkulturellen Dialog - über ihre Gemeinschaft hinaus haben können.

4.6

Der Ausschuss wird Initiativen unterstützen, die diesem Selbstverständnis der Roma-Frauen gerecht werden und im Rahmen seiner Möglichkeiten dazu beitragen, dass die Roma-Frauen Zugang zu Informationen bzw. Instrumentarien bekommen, die ihnen die Wahrnehmung ihrer Rolle für die Integration ihrer Familien erleichtern.

4.7

Der Ausschuss wird daher nach Möglichkeiten suchen, durch Beteiligung an Veranstaltungen vor Ort nicht nur für konkrete Informationen, sondern auch für die entsprechende Motivation zur Beteiligung zu werben.

5.   Erziehung und Bildung

5.1

Das Ziel besteht darin, die soziale Eingliederung benachteiligter Gruppen der Roma-Gemeinschaft zu sichern, ohne dass sie dadurch ihre kulturelle Roma-Identität verlieren. Eine gute Bildung ist aus zwei Gründen von ausschlaggebender Bedeutung: Erstens kann und sollte die Bildung den Bürgerinnen und Bürgern grundlegende gemeinsame Werte vermitteln, die unterschiedlichen ethnischen Gruppen ein erfolgreiches Zusammenleben ermöglicht. Ein solcher Wert ist auch die Offenheit gegenüber anderen Kulturen. Zweitens kann die Bildung als solche ein wichtiges Integrationsinstrument sein, da sie idealtypisch eine Interaktion zwischen verschiedenen Kulturen bedeutet. Zwar ist es nie zu spät, neue Kenntnisse und Fertigkeiten zu erlernen, doch ist es wichtig, dass eine gute Bildung möglichst früh im Leben beginnt. Ein starkes Selbstbild eines Kindes und Bewusstsein für seine Rolle in einer größeren Gruppe und letztlich in der Gesellschaft sind der Schlüssel zum Erfolg im späteren Leben.

5.2

Mit den Maßnahmen und Politiken sollte ein gleichberechtigter Zugang zu qualitativ hochstehender Bildung für die Roma und alle sonstigen Minderheitengruppen angestrebt und garantiert werden, da das Ziel letztlich darin besteht, sie mit den für den Arbeitsmarkt erforderlichen Kompetenzen auszustatten, was auch soziale Kompetenzen einschließt. Die Menschen müssen in die Lage versetzt werden, ihr Leben eigenständig zu gestalten und als verantwortungsvolle Bürgerinnen und Bürger zu agieren, die sich ihrer Rechte und Pflichten bewusst und in der Lage sind, diese auszuüben.

5.3

Die fehlende Teilnahme am Arbeitsmarkt stellt aber nicht nur ein soziales Problem dar, sondern hat auch beträchtliche finanzielle Auswirkungen. Dementsprechend sind Aufwendungen für Bildung und Erziehung zwar grundsätzlich ein Kostenfaktor, aber ihrem Wesen nach nicht nur reine Ausgaben, sondern in erster Linie - sinnvolle - Investitionen in die Zukunft.

5.4

Der Europarat betreibt im Rahmen seines Erziehungs- und Bildungsprogramms für Roma-Kinder auch ein Ausbildungsprogramm für Mediatoren und Schulassistenten, an dem sich auch die Kommission beteiligt. Der Ausschuss ist bereit, im Rahmen einer künftigen institutionellen Zusammenarbeit in diesem Bereich als Vermittler aufzutreten. So könnte er beispielsweise zur Verbreitung des Programms und seiner Ergebnisse im Rahmen seiner bestehenden Kommunikationskanäle beitragen oder best practice-Beispiele aus dem Programm in jenen Ländern vorstellen, die vom Projekt des Europarates derzeit nicht erfasst sind.

5.5

In diesem Zusammenhang ist bekannt, dass die Quote des vorzeitigen Schulabgangs bei Roma überproportional höher ist als bei Nicht-Roma-Schülern (15); es wird daher notwendig sein, gemeinsam mit den zuständigen Behörden über Maßnahmen nachzudenken, wie diese Situation verbessert werden kann.

6.   Bildung: Beispiele auf nationaler Ebene

6.1

Die meisten EU-Mitgliedstaaten haben strenge Anti-Diskriminierungs- und Gleichstellungsgesetze erlassen, um den europäischen Normen zu genügen. Leider wird trotzdem Diskriminierung auf der lokalen Ebene ausgeübt und erfahren, und den nationalen Rechtsvorschriften fehlen häufig Mechanismen für Beschwerdeverfahren und die Nichtigkeitserklärung diskriminierender Praktiken, wenn sich Betroffene einer Diskriminierung ausgesetzt fühlen. Auch sollte darauf hingewiesen werden, dass eine schwache Kontrolle bedeutet, dass ein Staat mit kosmetischen Änderungen durchkommen kann, die die Segregationsmuster noch verschlimmern.

6.2

Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich kein EU-Mitgliedstaat für eine bessere Verfügbarkeit gewisser Grundrechte, einschließlich des Rechts auf Bildung, für seine Roma-Bürgerinnen und -Bürger einsetzt, bzw. dass kein nationales Rechtssystem in der Lage ist, die Rechte der Roma zu wahren. Einige Amtsgerichte bzw. nationale Gerichte kamen zu dem Urteil, dass ausgrenzende Praktiken gegen Roma-Kinder gegen nationale Anti-Diskriminierungsgesetze verstoßen. Bereits 2004 – noch vor Bulgariens EU-Beitritt – urteilte das Bezirksgericht von Sofia gegen das bulgarische Bildungsministerium, gegen die Kommunalverwaltung und gegen Vertreter der Schulbehörde, dass Roma-Kinder ihres Rechts auf gleichberechtigte Bildung durch Segregation beraubt werden (16). Allerdings sind solche Urteile nur die Reaktion auf spezifische Vorfälle und zwingen lokale und regionale Gebietskörperschaften nicht unbedingt, diskriminierende Praktiken zu ändern, die in den Bildungssystemen in vielen europäischen Staaten vorherrschend zu sein scheinen.

6.3

Ungarn hat erhebliches politisches Engagement und Ressourcen zur Unterstützung von Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Umstände und der Beteiligung seiner Roma-Bürgerinnen und -Bürger mobilisiert, bei denen die Bildung im Mittelpunkt steht (17). Ungarns Integrationsinitiativen zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie im Rahmen der allgemeinen Bildungspolitik durchgesetzt wurden. In Ländern wie Rumänien und Bulgarien hingegen war der Integrationsansatz eher situationsbezogen und nicht umfassend (18). Der ungarische Ansatz hat jedoch auch Nachteile, da Konflikte innerhalb bildungspolitischer Maßnahmen und zwischen der Bildungspolitik und der Gesundheits-, Sozial- und Wohnungspolitik mit Auswirkungen auf die Bildung bestehen; dass ein solches Konfliktpotenzial vorhanden ist, sollte von allen Staaten zur Kenntnis genommen und berücksichtigt werden.

6.4

Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang das deutsche Modell der interkulturellen Erziehung und des interkulturellen Lernens (gemeinsames Lernen von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft (19).

7.   Zusammenfassung

7.1

Im Kontext mit den Bemühungen um bessere Integration der Roma ist es bedauerlich, dass der gemeinschaftliche Integrationsbegriff sich ausschließlich auf Drittstaatsangehörige bezieht und auf Roma, die ja im allgemeinen Unionsbürger sind, nicht anwendbar ist.

7.2

Umso wichtiger ist es, immer wieder darauf hinzuweisen, dass den Roma – theoretisch - alle mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte und Grundrechte zustehen. Es ist selbstverständlich, dass Roma ihre Pflichten als Unionsbürger einzuhalten haben und eine Verletzung dieser Pflichten Rechtsfolgen nach sich zieht, doch müsste andererseits auch dort der an sich vorgesehene Sanktionsmechanismus greifen, wo ihnen die oben zitierten Rechte verwehrt werden.

7.3

Der Ausschuss betont nochmals, wie wichtig es ihm erscheint, in einen interkulturellen Dialog mit den Roma zu treten. Seinem Wesen nach ist ein Dialog immer ein interaktiver Prozess, der auf Parität der Dialogpartner aufbaut und Teilhabe zulässt. Im Rahmen eines interkulturellen Dialogs können Vorurteile abgebaut und Vertrauen aufgebaut werden. Gerade der Abbau von Vorurteilen und Stereotypien auf beiden Seiten erscheint dem Ausschuss eine ganz wesentliche Voraussetzung für konkrete Schritte für ein besseres Zusammenleben und echte Chancengleichheit. Der Vertrag von Lissabon hat dem Ausschuss neue Möglichkeiten im Bereich der Schaffung von Strukturen für den zivilen Dialog eröffnet. In Wahrnehmung dieser Aufgaben wird sich der Ausschuss auch mit Nachdruck darum bemühen, den interkulturellen Dialog mit den Roma auf einen guten Weg zu bringen.

Brüssel, den 16. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  „Nun ist es an der Zeit, gute Absichten in konkretere Maßnahmen umzusetzen“ (Mitteilung der Kommission „EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020“, KOM(2011) 173 endg.).

(2)  Siehe Anhang: „Initiativen, Programme, Studien“ (http://www.eesc.europa.eu/resources/docs/SOC337_additional-info.pdf).

(3)  EWSA-Sondierungsstellungnahme „Integration von Minderheiten - Roma“, Ziffer 5.3 (ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 88).

(4)  Mitteilung „Soziale und wirtschaftliche Integration der Roma in Europa“, KOM(2010) 133 endg.

(5)  EWSA-Sondierungsstellungnahme „Integration von Minderheiten – Roma“, Ziffer 5.3 (ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 88).

(6)  Im Rahmen der von der Kommission formulierten vier vorrangigen Integrationsziele: Zugang zu Bildung, Recht auf Beschäftigung, Zugang zur Gesundsheitsfürsorge, Recht auf Unterkunft mit der damit verbundenen Grundversorgung für Wohnzwecke.

(7)  

1.

Konstruktive, pragmatische und nichtdiskriminierende Strategien

2.

Gezielte Strategien ohne ausschließlichen Charakter

3.

Interkultureller Ansatz

4.

Ausrichtung auf Mainstreaming

5.

Bewusstsein für die Gleichstellung der Geschlechter

6.

Übernahme bewährter Konzepte

7.

Nutzung von Gemeinschaftsinstrumenten

8.

Einbindung der regionalen und lokalen Behörden

9.

Einbindung der Zivilgesellschaft

10.

Aktive Beteiligung der Roma.

(8)  Im Sinne des allgemein üblichen Sammelbegriffs für Roma, Sinti, Fahrende, Kalé etc.

(9)  Siehe dazu auch die Stellungnahme des Ausschusses der Regionen CdR 178/2010 fin.

(10)  WSA-Stellungnahme „Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk“, ABl. C 329 vom 17.11.1999, Ziffer 5.2.1.

(11)  Das Modell einer „Multi-Kulti-Gesellschaft“ kennt keine allgemein verbindlichen Werte und stellt sich in erster Linie als Agglomeration nebeneinander lebender Gruppen dar.

(12)  Siehe „Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft.“, Goldmann Verlag, S. 181 von Bassam Tibi, Prof. emeritus, Göttingen

(13)  Siehe Anhang „Initiativen, Programme, Studien“ (http://www.eesc.europa.eu/resources/docs/SOC337_additional-info.pdf); Mitteilung der Kommission „EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020“ (KOM(2011) 173 endg.) und der Bericht von MdEP Lívia Járóka über die EU-Strategie zur Integration der Roma (2010/2276(INI)) (http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+REPORT+A7-2011-0043+0+DOC+XML+V0//DE&language=DE).

(14)  Konferenz „Ich bin eine europäische Roma-Frau“, 11./12. Januar 2010, Athen.

(15)  Roma Education Fund, Country asessments, http://www.romaeducationfund.hu/publications/country-assessments; Open Society Institute, No Data — No Progress, Country Findings, August 2010; http://www.romadecade.org/files/downloads/General%20Resources/No%20Data%20No%20Progress%20Country%20Findings.pdf.

(16)  Siehe: http://www.errc.org/cikk.php?cikk=2411&archiv=1.

(17)  Vgl. generell: KEZDI, G. & SURANYI, E., „A Successful School Integration Program“, Roma Education Fund Working Paper No. 2, 2009, abrufbar unter: http://www.romaeducationfund.hu/sites/default/files/publications/a_succesful_school_integration_kezdi_suranyi.pdf.

(18)  Vgl. generell: European Roma Rights Centre „The Impact of Legislation and Policies on School Segregation of Romani Children: A Study of Anti-Discrimination Law and Government Measures to Eliminate Segregation in Education in Bulgaria, Czech Republic, Hungary, Romania and Slovakia“, ERRC Report, Februar 2007, abrufbar unter: http://www.errc.org/en-research-and-advocacy-reports-intro-details.php?article_id=2743.

(19)  Siehe Hanna Kiper „Interkulturelle Pädagogik“ 1992, S. 161; Franz Hamburger „Die Vielfalt der Kulturen als Herausforderung für den Bildungsauftrag der Schule“, Frankfurt/Main 1989.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

472. Plenartagung am 15. und 16. Juni 2011

25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/64


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Besteuerung des Finanzsektors“

KOM(2010) 549 endg.

2011/C 248/11

Berichterstatter: Stasys KROPAS

Die Europäische Kommission beschloss am 7. Oktober 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 113 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Besteuerung des Finanzsektors

KOM(2010) 549 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 31. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 102 gegen 16 Stimmen bei 28 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die umfassenden Initiativen der Kommission zur Wiederherstellung des Wachstums, der Widerstandsfähigkeit und der finanziellen Stabilität. Sollen Stabilität und ein reibungsloses Funktionieren der Finanzbranche gewährleistet und damit eine unverhältnismäßig große Risikobereitschaft begrenzt sowie für die Finanzinstitute gebührende Anreize geschaffen werden, muss eine angemessene Regulierung und Überwachung gewährleistet sein. In diesem Zusammenhang hat sich der EWSA bereits kürzlich für die Entwicklung eines Systems mit einem Bankensanierungsfonds als Teil des Krisenmanagementrahmens ausgesprochen.

1.2   Nach der Krise mussten die Regierungen Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung unternehmen, um die Kosten der Krise ebenso wie die weiterreichenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen bewältigen zu können. Der EWSA ist der Ansicht, dass der Finanzsektor zu diesen Bemühungen einen angemessenen und substanziellen Beitrag leisten sollte.

1.3   Wie in der Mitteilung der Kommission hervorgehoben wird, haben mehr und mehr Mitgliedstaaten bereits einseitige Maßnahmen zur Besteuerung des Finanzsektors ergriffen. Verschiedene Besteuerungssysteme mit unterschiedlichen Bemessungsgrundlagen, effektiven Steuersätzen und Anwendungsbereichen wurden beschlossen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Bemessungsgrundlage für derartige steuerliche Mechanismen harmonisiert und Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung koordiniert werden sollten. Dies sollte bei der Annahme von Initiativen durch die Kommission ebenso berücksichtigt werden wie die unterschiedlichen möglichen Auswirkungen der Initiativen in den einzelnen Mitgliedstaaten, die Bedeutung und Robustheit der nationalen Finanzmärkte, die bestehenden nationalen steuerlichen Rahmenbedingungen sowie ggf. die Steuern im Finanzsektor, die der jeweilige Mitgliedstaat nach der Finanzkrise neu erhoben hat.

1.4   Die Folgen neuer Steuern, Anforderungen und Vorschriften für das Finanzsystem und die Gesamtwirtschaft könnten mannigfaltig sein. Dementsprechend sollten ihre Auswirkungen auf die Kapitalgrundlage und die Fähigkeit von Banken und Finanzinstituten, ihrer Rolle bei der Finanzierung der Wirtschaft und insbesondere von KMU sorgfältig erwogen werden. Der Gesamtanteil des Finanzsektors am Steueraufkommen der EU sollte mit dem anderer Branchen verglichen werden. Es sollte berücksichtigt werden, wie sich zusätzliche Steuern auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Finanzinstituten der EU auswirken.

1.5   Da Spannungen im Bereich der Liquidität und Solvenz ein zentrales Element im Vorfeld der Krise waren, empfiehlt der EWSA, jegliche neue Steuer für Finanzinstitute so zu gestalten, dass die Zahlungsfähigkeit der Finanzinstitute ebenso berücksichtigt wird wie ihre Fähigkeit, neue Eigenkapitalanforderungen zu erfüllen.

1.6   In ihrer Folgenabschätzung sollte die Kommission dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine besondere Aufmerksamkeit schenken. Das heißt, dass der den Marktteilnehmern und Finanzinstituten zur Einhaltung der Vorschriften auferlegte Verwaltungsaufwand in einem angemessenen Verhältnis zum Zweck der neuen Steuer stehen muss. Wenn die Kommission die Einführung einer neuen Steuer nach dem Modell der Finanztransaktionssteuer (FTS) erwägt, dann sollte sie sich um Konsistenz mit der in den letzten Jahren entwickelten Politik zur Vereinfachung der als Hürden für den Nachhandel erachteten Steuerverfahren bemühen. Falls die Einführung einer Finanzaktivitätssteuer (FAS) erwogen wird, dann sollte die Bemessungsgrundlage in einer Weise gestaltet werden, die mit den den Finanzinstituten bereits im Rahmen der gegenwärtigen Finanzberichterstattung leicht verfügbaren Angaben vereinbar ist.

1.7   Der EWSA bekräftigt noch einmal die Schlussfolgerungen und Empfehlungen seiner Stellungnahme vom 15. Juli 2010 zu Gunsten der Einführung einer Finanztransaktionssteuer (1), weist aber gleichzeitig darauf hin, dass angesichts der Gefahr, einer Verlagerung der Finanzaktivitäten in Finanzzentren außerhalb der EU Vorschub zu leisten, die globale Einführung einer derartigen Steuer einer EU-weiten Finanztransaktionssteuer vorgezogen werden sollte. Falls sich jedoch die Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf globaler Ebene als nicht machbar erweisen sollte, würde der EWSA unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Folgenabschätzung der Europäischen Kommission die Einführung einer EU-Finanztransaktionssteuer vorschlagen.

1.8   Eine Finanzaktivitätssteuer könnte mit ähnlichen Nachteilen wie die Finanztransaktionssteuer einschließlich des Effektes einer Verlagerung behaftet sein. Auf Fragen dieser Art sollte in einer ersten Folgenabschätzung der Kommission eingegangen werden.

1.9   Die Einführung einer neuen cashflow-basierten Steuer außerhalb des Mehrwertsteuersystems unter unveränderter Beibehaltung der unbefriedigenden MwSt-Ausnahmeregelungen würde ein sehr kompliziertes Steuersystem für Finanzinstitute schaffen. Daher ist der EWSA vorbehaltlich der Ergebnisse der Folgenabschätzung der Kommission der Auffassung, dass bei Erwägungen, den Cashflow oder ähnliche Faktoren als Grundlage für eine neue Steuer im Finanzsektor zu wählen, die Kommission prüfen sollte, welche Vorteile es böte, diese im Rahmen der Mehrwertsteuer anzusiedeln, um einen geringeren Verwaltungsaufwand für die Finanzbranche sicherzustellen und das Problem der nicht erstattungsfähigen Mehrwertsteuer zu mindern. Berücksichtigt werden müssen ebenfalls die unbeabsichtigten Konsequenzen, die die Einführung einer Steuer auf den Finanzsektor haben könnte, insbesondere die Entwicklung alternativer Systeme ohne Regulierung, Aufsicht oder Kontrolle, was wiederum große Probleme hervorrufen könnte.

1.10   Die Wettbewerbsfolgen dieser neuen Steuern für das Bankgewerbe dürfen sowohl mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit des Bankensektors gegenüber dem Nichtbankensektor als auch auf die Fähigkeit des Bankengewerbes zur Erfüllung des Finanzbedarfs der Realwirtschaft nicht außer Acht gelassen werden. Dies ist umso wichtiger, als sich die Wirtschaft müht, aus der Rezession herauszukommen.

2.   Hintergrund

2.1   Nach der Krise stehen die nationalen Regierungen weltweit vor einem schwierigen zweifachen Problem: Erstens muss das Finanz- und Bankensystem dringend reformiert werden. Zweitens müssen neue Einnahmequellen erschlossen werden.

2.2   Eine Besteuerung wird aus verschiedenen Gründen erwogen, unter anderem zur Eindämmung negativer externer Effekte, zur Konsolidierung der Staatshaushalte, als Beitrag des Finanzsektors zur Rückzahlung gewährter Mittel, zur Einhaltung der Verpflichtungen gegenüber Entwicklungsländern und zur Bekämpfung des Klimawandels sowie - unter der Annahme einer zu geringen Besteuerung des Finanzsektors - als angemessener und substanzieller Beitrag des Finanzsektors zu den Staatshaushalten. Bis jetzt sind die Ziele der Besteuerung des Finanzsektors recht weit gestreut, und die Art derartiger Steuern sowie die zugrunde zu legenden Mechanismen werden noch geprüft.

2.3   Am 7. Oktober 2010 veröffentlichte die Europäische Kommission ihre Mitteilung zur Besteuerung des Finanzsektors (2), die durch ein Arbeitspapier (3) ihrer Dienststellen ergänzt wurde und in der zwei Instrumente in Betracht gezogen werden:

Eine Finanzaktivitätssteuer sollte auf EU-Ebene eingeführt werden, um zusätzliche Einnahmen für die Haushalte der Mitgliedstaaten zu generieren und gleichzeitig eine größere Stabilität der Finanzmärkte sicherzustellen. Wenn eine derartige Finanzaktivitätssteuer sorgfältig konzipiert und umsichtig umgesetzt wird, dürfte sie nach Ansicht der Kommission die Wettbewerbsfähigkeit der EU nicht übermäßig gefährden.

Auf globaler Ebene befürwortet die Kommission die Idee einer Finanztransaktionssteuer, die ihrer Auffassung nach als zusätzliche Finanzierungsquelle für den Umgang mit internationalen Herausforderungen, z.B. in den Bereichen Entwicklung und Klimawandel, dienen könnte.

2.4   Außerdem vertritt die Kommission angesichts des globalen und systemischen Charakters der Finanzkrise die Auffassung, dass die Bankensteuer eine abschreckende Wirkung auf eine unverhältnismäßig hohe Risikobereitschaft entfalten könnte. Die Steuer wäre nach Ansicht der Kommission aufgrund einer Stärkung der Effizienz, Robustheit und Stabilität der Finanzmärkte sowie einer Verringerung ihrer Volatilität eine angemessene Ergänzung der Reformen des Regulierungs- und Aufsichtsrahmens.

2.5   Als Teil des Krisenmanagementrahmens hat die Kommission außerdem weitere Initiativen vorgeschlagen, darunter die Schaffung eines Bankensanierungsfonds (4), auf den der EWSA bereits in einer Stellungnahme (5) eingegangen ist.

3.   Angemessener und substanzieller Beitrag des Finanzsektors zu den Staatshaushalten

3.1   Aufgrund der Rolle der Finanzmarktakteure im Vorfeld der Krise, in deren Verlauf in Schieflage geratene Finanzinstitute finanzielle Unterstützung vom Staat erhielten, ist die Meinung weitverbreitet, dass die entsprechenden Kosten nicht von den Bürgern oder anderen Branchen getragen werden sollten. Diese Meinung findet ihren Niederschlag in dem Ziel, „dass der Finanzsektor einen angemessenen und substanziellen Beitrag zu den Staatshaushalten leistet“. In diesem Zusammenhang sieht die Kommission vor, in ihre wirtschaftliche Studie eine umfassende Folgenabschätzung aufzunehmen, in welcher unterschiedliche Besteuerungsoptionen analysiert werden, um zu einem ausgewogenen Vorschlag zu kommen.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, eine Untersuchung des Gesamtanteils des Finanzdienstleistungssektors am Steueraufkommen in der Europäischen Union mit all den unterschiedlichen Steuern durchzuführen, die Finanzdienstleistungsunternehmen bereits zahlen. Diese Studie könnte ein umfassendes Bild der entrichteten Körperschaftssteuern, der nicht erstattungsfähigen Mehrwertsteuer und der von den Banken als Arbeitgebern mitgetragenen beschäftigungsbezogenen Steuern vermitteln. Als Maß des weiterreichenden wirtschaftlichen Beitrags müssten die arbeitnehmerbezogenen Steuern gesondert berücksichtigt werden. Dann ließe sich überprüfen, ob die Besteuerung und der Mehrwert des Bankensektors in einem angemessenen Verhältnis stehen, und weiterhin, ob der Anteil des Bankensektors am Gesamtsteueraufkommen unter oder über dem Anteil anderer wichtiger Wirtschaftszweige liegt. Abschließend könnte die Gesamtbelastung aus neuer Bankensteuer und dem derzeitigen Gesamtsteueranteil abgeschätzt werden.

3.2   Falls eine neue Steuer im Finanzsektor eingeführt werden sollte, ist der EWSA der Überzeugung, dass sich eine derartige Studie als nützlich erweisen würde, um den Umfang einer solchen Steuer sowohl in Hinsicht auf ihren Anwendungsbereich als auch den effektiven Steuersatz abzustimmen. Dabei sollte die Fähigkeit der Banken zur Wiederherstellung und Stärkung ihrer Kapitalgrundlage ebenso wie ihre Fähigkeit zur Finanzierung von Privathaushalten und Unternehmen, insbesondere KMU, in der Europäischen Union sorgfältig geprüft werden.

3.3   Die Vorschläge zu einer möglichen Beteiligung des Finanzsektors an den Kosten möglicher zukünftiger Krisen können nach Auffassung des EWSA nicht getrennt von der Diskussion über weitergehende Änderungen am Regulierungssystem und dem umfangreichen Bündel von Maßnahmen zur Reduzierung sowohl der Wahrscheinlichkeit als auch der Folgen eines Finanzkollapses gesehen werden.

3.3.1   Die Besteuerung des Finanzsektors wäre dann optimal gestaltet, wenn sie einerseits das fiskalische Ziel der Generierung von Einnahmen und andererseits das Ziel der Beschränkung der Risikobereitschaft in einem ausgewogenen Verhältnis erfüllt.

4.   Finanztransaktionssteuer

4.1   Die Finanztransaktionssteuer könnte in mehrfacher Hinsicht nützlich sein: insbesondere zur Eindämmung unproduktiver Tätigkeit auf den Finanzmärkten durch die Verringerung von Spekulation und Volatilität und gleichzeitig zur Rückführung von Mitteln an den Staat.

4.2   Das Europäische Parlament hat im März 2010 eine Entschließung zu Steuern auf Finanzgeschäfte und einen Bericht über innovative Finanzierung auf globaler und europäischer Ebene verabschiedet (6).

4.3   Mit der Finanztransaktionssteuer wollen die Behörden die Zahl riskanter, spekulativer („gesellschaftlich sinnloser“) (7) Finanztransaktionen senken. Außerdem mögen sie in der Steuer ein Mittel sehen, ein Zu-groß-Werden von Banken zu verhindern oder zu vielen zu riskanten Transaktionen in Zukunft einen Riegel vorzuschieben.

4.4   Der EWSA hat seine Haltung zur Finanztransaktionssteuer in seiner Initiativstellungnahme zum Thema „Steuer auf Finanztransaktionen“ dargelegt und ist dabei zu folgenden Schlussfolgerungen und Empfehlungen gelangt:

Das vorrangige Ziel einer Finanztransaktionssteuer muss ein Verhaltenswandel im Finanzsektor sein, indem kurzfristige spekulative Finanztransaktionen eingeschränkt werden. Dadurch können die Tätigkeiten in der Finanzbranche nach dem Preismechanismus des Marktes ablaufen. Der gewünschte Effekt könnte erzielt werden, da die Finanztransaktionssteuer im Hochfrequenzhandel am stärksten greift.

Außerdem verfolgt eine Steuer auf Finanztransaktionen das Ziel, Mittel für die öffentlichen Kassen zu erschließen. Diese neue Einnahmequelle könnte zur Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung in Entwicklungsländern, für die Finanzierung klimapolitischer Maßnahmen in Entwicklungsländern oder zur Stützung öffentlicher Haushalte eingesetzt werden. Letzteres bedeutet auch, dass die Finanzbranche die öffentlichen Finanzhilfen zurückerstattet. Langfristig könnte eine solche Steuer eine neue allgemeine Einnahmequelle für die öffentliche Hand sein.

4.5   Da von manchen Seiten Bedenken wegen der Gefahr von Verlagerungseffekten bei einer örtlich begrenzten Einführung der Steuer geäußert werden, sollte eine Finanztransaktionssteuer, wie von der Kommission gefordert, zuerst global angestrebt werden. Falls sich jedoch die Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf globaler Ebene als nicht machbar erweist, befürwortet der EWSA die Einführung einer EU-Finanztransaktionssteuer unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Folgenabschätzung der Europäischen Kommission.

4.6   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Finanztransaktionssteuer so zu gestalten ist, dass sie über Wertpapiersammelbankensysteme einfach eingezogen werden kann. Berücksichtigt werden sollten dabei die mit der Beitreibung und Einhaltung einer breit angelegten Finanztransaktionssteuer verbundenen Probleme und Kosten ebenso wie die Rechtsunsicherheit für die Stellen, die im außerbörslichen Handel („over the counter“, OTC) mit nicht-börsengehandelten Wertpapieren und Derivaten für die Einziehung der Steuer verantwortlich sein sollen.

4.7   Schließlich weist der EWSA darauf hin, dass es weiterhin viele Hoheitsgebiete gibt, die Offshore-Finanzzentren bilden und sich durch eine Intransparenz auszeichnen, die mit dem Bankgeheimnis und niedrigen Steuersätzen oder gar einer gänzlich fehlenden Besteuerung einhergeht. Angesichts der Leichtigkeit, mit der dort Zweigniederlassungen gegründet und die Geschäfte über das Internet abgewickelt werden können, muss parallel zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer die Erhöhung der Transparenz sowie die wirksame Zusammenarbeit im Bereich der Rechtsprechung und des Steuerrechts verpflichtend werden.

5.   Finanzaktivitätssteuer

5.1   Der Hauptunterschied zwischen der Finanztransaktions- und der Finanzaktivitätssteuer ist, dass die Finanzaktivitätssteuer Körperschaften der Finanzbranche und die Finanztransaktionssteuer die Finanzmarktteilnehmer besteuert. Während durch erstere die Handelsaktivitäten besteuert werden, die sich auf wenige Finanzzentren konzentrieren, betrifft letztere die Gewinne und Entgelte des Finanzsektors, die gleichmäßiger verteilt sind.

5.2   Die Kommission geht aufgrund des Berichts des IWF davon aus, dass durch ein anderes Instrument, nämlich durch die Finanzaktivitätssteuer, die Besteuerung des Finanzsektors verbessert und die potenziell negative Wirkung auf die übrige Wirtschaft verringert werden kann.

5.3   Bei der Gestaltung einer Finanzaktivitätssteuer könnte die Kommission eine abschlussbezogene Steuergrundlage wählen.

5.4   Das gewählte Konzept sollte im Rahmen der gegenwärtigen Rechnungslegungspraktiken nachvollziehbar sein, ob dies nun die Internationalen Finanzberichterstattungsnormen (IFRS) sind oder, wenn diese von Finanzinstituten nicht angewandt werden, allgemein anerkannte Buchführungsgrundsätze (GAAP), die vor Ort gelten.

5.5   Sollte sie cashflow-basiert sein, könnte die Einführung einer Finanzaktivitätssteuer Auswirkung auf die Liquidität haben und die Liquiditätsflüsse verteuern. Dabei waren gerade Spannungen im Bereich der Liquidität ein zentrales Element im Vorfeld der Krise. Daher ist es ratsam, bei der Wahl der Grundlage für die Finanzaktivitätssteuer die Zahlungsfähigkeit der Institute und ihre Fähigkeit, neue Eigenkapitalanforderungen zu erfüllen, ebenso zu berücksichtigen wie die Wechselbeziehung zwischen Finanzaktivitäts- und Mehrwertsteuer.

6.   Mehrwertsteuer

6.1   Nach Auffassung der Kommission ist die Einführung einer neuen Steuer auch daher geboten, weil der Bereich der Finanzdienstleistungen nach Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem („Mehrwertsteuerrichtlinie“) von der Mehrwertsteuer befreit ist.

6.2   Der EWSA betont, dass der Hauptgrund für diese Befreiung in dem konzeptionellen und praktischen Problem der Ermittlung des Wertes der von den Banken erbrachten Finanzdienstleistungen liegt. Dies gilt insbesondere für die traditionellen Finanzmittlerdienstleistungen der Einlagen und Darlehen. Die diesbezügliche Überlegung gilt der Differenz zwischen den für Darlehen geforderten und den auf Einlagen gewährten Zinsen. Diese Spanne ist eine allgemeine zusammengesetzte Größe der von einer Bank erbrachten Vermittlungsdienstleistungen für Anleger und Kreditnehmer, die für einzelne Geschäftsvorgänge zwecks Anwendung einer Mehrwertsteuer oder einer anderen transaktionsabhängigen Verbrauchssteuer nicht einfach zu bemessen ist. Es hat sich als schwierig erwiesen, ein Verfahren zur Zuordnung dieser Spanne zu einzelnen Geschäftsvorgängen zu entwickeln, um eine rechnungsgestützte Mehrwertsteuer zu erheben. Auf ähnliche Probleme stößt man bei der Besteuerung von Versicherungen und anderen Finanzdienstleistungen, wie etwa dem Handel mit Devisen und Wertpapieren.

6.3   Die Mehrwertsteuerbefreiung von Finanzdienstleistungen ist im MwSt-Recht mit keinem - oder nur einem beschränkten - Recht auf Vorsteuerabzug verknüpft. Dies bedeutet, dass Finanzinstitute die Mehrwertsteuer auf eigene Ausgaben nicht vollständig in Abzug bringen können und diese somit als reine Kosten zu Buche schlagen. Die Höhe dieser „versteckten Mehrwertsteuerkosten“ kann erheblich sein, denn bei ausgelagerten Dienstleistungen und gruppeninternen Transaktionen kommt es zu einem Kaskadeneffekt der Steuer.

6.4   Die Kommission hat 2007 einen Richtlinienvorschlag zur Reform der Anwendung der Mehrwertsteuer auf Finanzdienstleistungen vorgelegt, der auf drei Säulen basierte, darunter der vorgeschlagenen Möglichkeit einer Besteuerung von Finanzdienstleistungen. Der EWSA ist der Überzeugung, dass die Debatte über eine Besteuerung des Finanzsektors nicht losgelöst von der vorgeschlagenen Mehrwertsteuerreform geführt werden darf (8).

6.5   Weiterhin hat der EWSA Bedenken hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Finanzaktivitätssteuer und der kumulativen Belastung, die sie gemeinsam mit den Beträgen der nicht erstattungsfähigen Mehrwertsteuer darstellt. Die Finanzaktivitätssteuer kann zwar so konzipiert werden, dass sie speziell auf ökonomische Renten und/oder Risiken abzielt, doch betrifft sie in ihrer umfassendsten Form (Additionsmethode) die gesamten Gewinne und Arbeitsentgelte. Der EWSA ist der Auffassung, dass wenn eine neue Steuer den Cashflow oder ähnliche Faktoren als Grundlage hätte, die Kommission prüfen sollte, welche Vorteile es böte, sie im Rahmen der Mehrwertsteuer zu gestalten, um die Auswirkungen der Nichterstattungsfähigkeit der Mehrwertsteuer zu mindern und somit eine Erhöhung der volkswirtschaftlichen Kosten für alle Wirtschaftsakteure in Europa abzuwenden.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA „Steuer auf Finanztransaktionen“, ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 81.

(2)  KOM(2010) 549/5.

(3)  SEK(2010) 1166/3.

(4)  KOM(2010) 254 endg.

(5)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Bankensanierungsfonds“, ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 16.

(6)  Entschließung des Europäischen Parlamentes vom 10. März 2010 zu dem Thema „Steuern auf Finanzgeschäfte - praktische Umsetzung“ und „Entwurf eines Berichts über innovative Finanzierung auf globaler und europäischer Ebene“ (2010/2105(INI)).

(7)  „Taxing the Speculators“ [Besteuerung der Spekulanten]: http://www.nytimes.com/2009/11/27/opinion/27krugman.html (auf Englisch).

(8)  KOM(2007) 746 und 747 endg.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/68


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Schlussfolgerungen aus dem Fünften Bericht über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt: Die Zukunft der Kohäsionspolitik“

KOM(2010) 642 endg.

2011/C 248/12

Berichterstatter: Carmelo CEDRONE

Die Europäische Kommission beschloss am 9. November 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Schlussfolgerungen aus dem Fünften Bericht über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt: Die Zukunft der Kohäsionspolitik

KOM(2010) 642 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 31. Mai 2011 an. Berichterstatter war Carmelo CEDRONE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 16. Juni) mit 133 gegen 7 Stimmen bei 14 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

1.   Schlussfolgerungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält die von der Europäischen Kommission ausgewählten wichtigsten Aspekte der Kohäsionspolitik alles in allem für sinnvoll, als da sind:

Steigerung des europäischen Mehrwerts;

Stärkung der Governance;

Straffung und Vereinfachung der kohäsionspolitischen Verfahren;

Verbesserung der Architektur.

1.2   Nach Ansicht des EWSA können diese Ziele verwirklicht werden, wenn gleichzeitig:

die strategische Programmplanung verbessert wird und die Mitgliedstaaten dabei unterstützt werden, die institutionellen Reformen zur Schaffung funktionsfähiger Verwaltungen zu vollenden;

die Ressourcen der EU auf einige wenige vorrangige Zielsetzungen konzentriert werden;

die Wirtschaft und die Gesellschaft umfassender mobilisiert und die Wirtschafts- und Sozialpartner stärker in die Durchführung der Kohäsionspolitik eingebunden werden;

Reformen in Bezug auf die Grundsätze der Zusätzlichkeit und der Kofinanzierung eingeleitet werden;

die Folgenabschätzung zwingend vorgeschrieben wird.

1.3   Es darf nämlich nicht außer Acht gelassen werden, dass die Kohäsionspolitik ebenso wie die Entwicklung und die Verringerung regionaler Unterschiede aktiv dazu beitragen muss, die sozialen Dienstleistungen und die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen für die Bürger zu verbessern.

1.4   Das wird begünstigt, wenn die Wirtschaftsstruktur und die Bedingungen für die Unternehmen – insbesondere kleine, mittlere und Kleinstunternehmen und Handwerksbetriebe – insgesamt verbessert und ihre Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit gesteigert werden. Aus diesem Grund müssen neben den Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft auch die Verbände, die Unternehmen mit gebietsspezifischem Bezug vertreten, insbesondere Unternehmen in von der EU als vorrangig eingestuften Wirtschaftsbereichen, unmittelbar einbezogen werden.

1.5   Ein interessanter Ansatz, der sich mit Blick auf den territorialen, intraterritorialen, intraregionalen sowie brancheninternen Zusammenhalt geradezu anböte, wäre die Entwicklung (im Rahmen von Ziel 3) der grenzübergreifenden, interregionalen Zusammenarbeit, indem der territoriale Zusammenhalt zwischen den Regionen und die makroregionale Strategie der Euroregionen (Ostseeraum, Mittelmeerraum, Adria, Alpen-Adria-Donau-Raum, Atlantischer Raum) finanziell stärker gefördert wird.

1.6   Nach Auffassung des EWSA müssen die Kommission und die Mitgliedstaaten alles daran setzen, den Informationsaustausch über bewährte Verfahren zu fördern und die örtlichen Behörden stärker beim Programmmanagement zu unterstützen, indem nicht nur Reformen der betroffenen Sektoren, sondern auch interne Reformen durchgeführt werden.

1.7   Denn nur durch eine Verbesserung des – bislang unzureichenden – Wissensstands über die Resultate der getätigten Investitionen und durch spezifische Folgenabschätzungen wird es möglich sein herauszufinden, welche Prioritäten im Sinne der Europa-2020-Strategie zu setzen sind, und die Verwirklichung des Ziels der thematischen Konzentration zu gewährleisten.

1.8   Der EWSA unterstützt auch die Option, wonach der Verteilung der wachstumsintensiven Wirtschaftssektoren in allen europäischen Regionen, untergliedert in Regionen, die im Rahmen des Ziels „Konvergenz“ förderfähig sind, Übergangsregionen und unter das Ziel „Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“ fallende Regionen, Rechnung getragen werden soll. Allerdings ist noch offen, wie die Fördermittel auf die ärmeren Regionen (80 % der Mittel) und die übrigen Regionen (die restlichen 20 %) aufgeteilt werden, wenngleich diese Option dazu beiträgt, das Problem der Kofinanzierung zu lösen.

1.9   Der EWSA hält es jedenfalls für grundlegend wichtig, dass die von der Kommission unterbreiteten Vorschläge und angegebenen Politikfelder, d.h. die Strategie 2020, die Kohäsionspolitik, die GAP, die Energie-, Verkehrs-, Umwelt- und Forschungspolitik usw., in ihrer Gesamtheit miteinander koordiniert werden. Eine Koordinierung muss insbesondere zwischen den über den ESF und den aus EFRE-Mitteln finanzierten Maßnahmen erfolgen, nicht zuletzt, weil mit dem ESF vorzugsweise die europäische Beschäftigungsstrategie, die Umsetzung der Sozialagenda, eine hochwertige Ausbildung, Maßnahmen zugunsten der Jugendlichen und europäische Schulungen für die Akteure der Kohäsionspolitik gefördert werden sollten.

2.   Vorschläge

2.1   Politische Vorschläge

2.1.1   Europa-2020-Strategie: Nach Ansicht des EWSA sollte die Kohäsionspolitik nicht ausschließlich in den Dienst der Europa-2020-Strategie gestellt werden; für diese müssten stattdessen im Interesse ihrer Glaubwürdigkeit Formen der autonomen Finanzierung gefunden werden.

2.1.2   Die Kohäsionspolitik muss ihre grundlegenden Ziele der Solidarität zwischen Völkern und Regionen und der Entwicklung beibehalten.

2.1.3   Europäischer Gipfel: Die Kohäsionspolitik und alle dafür eingesetzten Fonds und Mittel müssen alljährlich im Rahmen eines speziellen europäischen Gipfels erörtert und geprüft werden. Dies muss sowohl wegen der strategischen Bedeutung der Politik des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts als auch wegen ihrer Verknüpfungen mit der gesamtwirtschaftlichen Politik im Rahmen einer wirtschafts- und sozialpolitischen Steuerung in Europa geschehen.

2.1.4   Stabilitätspakt und Sanktionen: Nach Ansicht des EWSA muss mehr auf Anreize anstatt auf Sanktionen gesetzt werden, damit die höher verschuldeten und somit gefährdeteren Regionen nicht stärker benachteiligt werden. Vielmehr wäre es wünschenswert, dass die Investitionen in die Forschung und die allgemeine und berufliche Bildung, die nicht als laufende Ausgaben betrachtet werden dürfen, im Rahmen des gegenwärtigen Reformvorhabens des Stabilitäts- und Wachstumspakts aus dem Haushalt ausgeklammert werden, um nicht die ärmsten Regionen zu benachteiligen, die am stärksten auf die Hilfe der EU angewiesen sind.

2.1.5   Es sollte nur eine begrenzte Anzahl von Prioritäten festgelegt werden, wobei den Zielen der verschiedenen Fonds und der Europa-2020-Strategie Rechnung zu tragen ist. Insbesondere muss die Politik zur Vollendung des Binnenmarkts, zu der die Kohäsionspolitik beitragen soll, berücksichtigt werden. Nachdem zuvor auf allen Ebenen eine Konzertierung zwischen den öffentlichen Stellen und den Wirtschafts- und Sozialpartnern stattgefunden hat, sollte die Beschlussfassung über die Prioritätenfestsetzung auf einem europäischen Gipfel erfolgen.

2.1.6   Die Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft und die Verbreitung bewährter Verfahren parallel zu und/oder zusammen mit den Vereinbarungen zwischen den öffentlichen Stellen muss zu einer üblichen und obligatorischen Methode werden, die alle Verfahren der Kohäsionspolitik von der Festlegung über die Durchführung bis hin zur Bewertung begleitet. Als solche sollte sie unmittelbar an die Konditionalität gekoppelt werden. Der EWSA wünscht eine Ausweitung des Prinzips von Artikel 11 der allgemeinen Verordnung, worin die Regeln für die Partnerschaft festgelegt sind, auf alle Strukturfonds.

2.2   Technisch-operative Vorschläge

2.2.1   Die Vorschriften für die Kofinanzierung müssen entsprechend den Entwicklungsbedingungen und den finanziellen und sozialen Möglichkeiten der Regionen und Gebiete, für die die Kohäsionspolitik von Belang ist, differenziert werden, insbesondere anhand des Einkommens, dessen Berechnungsparameter überarbeitet werden sollten (1), sowie anhand des Haushalts der Regionen.

2.2.2   Die Ex-ante-Konditionalität muss darauf ausgerichtet sein, die Qualität der Ausgaben in Verbindung mit der Verwirklichung der Ziele zu verbessern, indem die Effizienz der betreffenden Verwaltungen gesteigert wird und die Fördermittel optimal eingesetzt werden, wobei z.B. die höher verschuldeten Regionen keineswegs schlechter gestellt werden dürfen.

2.2.2.1   Die Mitgliedstaaten sollten also die institutionellen Reformen fördern, die erforderlich sind, um eine strukturelle Anpassung, die Förderung der Innovation und die Schaffung von Arbeitsplätzen zur Reduzierung der sozialen Ausgrenzung zu gewährleisten. Darüber hinaus hält es der EWSA für unerlässlich, als Voraussetzung für die Mittelgewährung diese politischen Maßnahmen auf allen Ebenen in Abstimmung mit den Wirtschafts- und Sozialpartnern durchzuführen.

2.2.3   Die herkömmlichen Indikatoren, anhand deren die Interventionsbereiche ausgewählt werden, müssen durch andere Parameter wie z.B. Beschäftigungsquote, Armutsquote, Schulbesuchsquote, Bildungsstand, Berufsbildungsniveau, Dienstleistungsniveau und ökologische Nachhaltigkeit ergänzt werden.

2.2.4   Die Folgenabschätzung muss – nicht nur als vorgeschriebene Ex-ante-Bewertung – zu einem Kernelement der Kohäsionspolitik werden, damit überprüft werden kann, mit welcher Wirksamkeit und in welchem Umfang die Ziele erreicht wurden. Die Bewertung muss anhand gemeinsamer, auf EU-Ebene festgelegter und EU-weit verbindlicher Parameter durchgeführt werden.

2.2.4.1   Zwar ist die ergebnisgestützte Analyse von deutlich größerem Nutzen als die auf die Kontrolle der Finanzverwaltung gestützte Analyse, doch sind für ihre praktische Durchführung ein langer Vorlauf und die Festlegung genauer Kriterien nötig. Die Ergebnisse einer Maßnahme, insbesondere immaterieller Art wie im Bereich der Bildung, und die Investitionen in die Entwicklung lassen sich nur über einen längeren Zeitraum messen. Für eine Umstellung auf eine ergebnisgestützte Analyse wäre eine vorherige Ausbildung der Projektträger und der Verwaltungsbehörden erforderlich. Der EWSA schlägt vor, diese Methode im Programmplanungszeitraum 2011-2013 in einigen aufgrund der Qualität der dortigen partnerschaftlichen Governance ausgewählten Regionen auszuprobieren.

2.2.5   Die Vereinfachung muss künftig oberstes Ziel der Kohäsionspolitik sein. Sie kann angestrebt werden, indem die Verwaltungs- und Rechnungsführungsverfahren gestrafft, die Überwachungs- und Bewertungskriterien verbessert und gestärkt und die Verfahren im Zusammenhang mit dem Einreichen der Pläne und/oder Projekte verschlankt werden. Die Rechnungsführungsverfahren könnten von allen Beteiligten einvernehmlich und in Zusammenarbeit mit dem Rechnungshof überarbeitet werden.

2.2.5.1   Insbesondere gilt es, den Einmalgrundsatz (zentrale Anlaufstelle) anzuwenden, und zwar sowohl auf der Stufe der Projekteinreichung, indem einheitliche Formulare für die verschiedenen Fonds und für die Vorgänge zwischen den Fonds eingeführt werden, als auch auf der Stufe der Rechnungsprüfung, dergestalt dass die Finanzvorschriften und die Vorschriften der verschiedenen Programme vereinheitlicht werden und eine einzige, für alle beteiligten Behörden gültige Prüfung vorgenommen wird.

2.2.5.2   Hinsichtlich der Synergie zwischen den verschiedenen Programmen ist es aus Gründen der Klarheit, Einfachheit und Effizienz erforderlich, eine möglichst große Komplementarität zwischen allen Programmen anzustreben, die für dieselben Akteure innerhalb einer Region von Belang sind, sowohl zwischen den europäischen, nationalen und regionalen Programmen als auch zwischen den verschiedenen gemeinschaftlichen Finanzierungsmöglichkeiten. Mangelnde Synergie ist einer der Gründe für die unzureichende Ausschöpfung bzw. die geringe Wirkung der Strukturfonds und der EU-Programme insgesamt.

2.3   Ausbildung: Sie ist ein weiteres wichtige Instrument, das erforderlich ist, um die Kohäsionsziele, einschließlich der effizienteren Mittelverwendung, erreichen zu können.

3.   Einleitung

3.1   Die Grundsätze des Zusammenhalts und der Solidarität sind zwei Grundpfeiler des AEUV, in dessen Artikel 174 es heißt: „Die Union entwickelt und verfolgt weiterhin ihre Politik zur Stärkung ihres wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, um eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes zu fördern.“

3.2   Angesichts der letzten beiden Erweiterungen ist noch eine andere Textstelle des Vertrags besonders wichtig, die folgendermaßen lautet: „Die Union setzt sich insbesondere zum Ziel, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligen Gebiete zu verringern.“

3.3   Diese beiden Grundsätze, auf denen die Integration der Völker und Gebiete Europas beruht, dürfen nie aus den Augen verloren werden, am allerwenigsten von denjenigen, die im Namen und im Auftrag der EU handeln.

3.4   Die Europäische Kommission wird im kommenden Jahr einen Entwurf für den neuen EU-Haushalt nach 2013 vorlegen (am 19. Oktober 2010 wurde bereits eine entsprechende Mitteilung veröffentlicht), doch die Forderung einiger Regierungen an den Rat (Dezember 2010), den EU-Haushalt nicht aufzustocken, stimmt nicht gerade hoffnungsvoll, selbst wenn der Entwurf von einem Legislativvorschlag zu den Strukturfonds begleitet sein wird.

3.5   Der in einem neuen Stil verfasste Fünfte Kohäsionsbericht der Europäischen Kommission und seine Schlussfolgerungen sind in diesem Kontext zu sehen und stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Europa-2020-Strategie.

4.   Zusammenfassung der Mitteilung der Kommission

4.1   In den Schlussfolgerungen aus dem Fünften Bericht legt die Kommission einen anderen als den üblichen Ansatz zugrunde und setzt sich mit verschiedenen Themen auseinander, zu denen sie Antworten und für die sie Empfehlungen geben möchte, bis die von ihr eingeleitete, auf 13 Fragen zu dem Bericht gestützte öffentliche Konsultation abgeschlossen ist.

4.2   Die wichtigsten behandelten Themen:

4.2.1   Steigerung des europäischen Mehrwerts der Kohäsionspolitik

4.2.1.1   Nach Auffassung der Kommission kann dieses Ziel erreicht werden durch:

die Stärkung der strategischen Programmplanung;

eine stärker thematische Konzentration der Mittel;

die Stärkung der Leistungsfähigkeit durch Konditionalität und Anreize, einschließlich Kofinanzierung und Stabilitätspakt;

die Verbesserung von Bewertung, Leistungsfähigkeit und Ergebnissen;

die Nutzung neuer Finanzinstrumente.

(siehe die fünf ersten Fragen der Kommission)

4.2.2   Stärkung der Governance der Kohäsionspolitik

4.2.2.1   Dieses Ziel kann erreicht werden durch:

die Aufnahme einer dritten Dimension: territorialer Zusammenhalt;

die Stärkung der (öffentlich-privaten) Partnerschaft

(siehe Fragen 6 und 7).

4.2.3   Gestraffte und einfachere Verfahren

4.2.4   Dies ist machbar im Wege:

der finanziellen Abwicklung;

der Reduzierung des Verwaltungsaufwands;

der Haushaltsdisziplin;

der Finanzkontrolle

(siehe Fragen 8, 9, 10 und 11).

4.2.5   Die Architektur der Kohäsionspolitik

(siehe Fragen 12 und 13)

4.3   Nächste Schritte

4.3.1   Die Kommission behält sich vor, die im Fünften Kohäsionsbericht enthaltenen Vorschläge auf der Grundlage der Anmerkungen zu den aufgeworfenen Fragen weiter auszugestalten.

5.   Mitteilung der Europäischen Kommission: allgemeine Bemerkungen  (2)

5.1   Im Fünften Kohäsionsbericht der Kommission wird im Hinblick auf die Steigerung des Mehrwerts der Kohäsionspolitik vorgeschlagen, eine Reihe sehr ehrgeiziger Reformen durchzuführen, die darauf abzielen, die Mitgliedstaaten zu einem effizienteren Einsatz der Mittel zu befähigen und deren Verwaltung zu vereinfachen. Der EWSA befürwortet den allgemeinen Ansatz, den die Kommission bei ihren Reformvorschlägen zugrunde gelegt hat.

5.2   Diese Bemühungen müssen aufgegriffen und unterstützt werden, drohen jedoch im Sande zu verlaufen, wenn einige zaghaft vorgebrachte Vorschläge nicht in konkrete Beschlüsse und Maßnahmen umgemünzt werden, insbesondere in Bezug auf die enge und quasi einzigartige Verknüpfung der Strukturfonds mit der Europa-2020-Strategie.

5.3   Denn trotz aller Bemühungen wird die Lage in der Kommissionsmitteilung nicht realistisch eingeschätzt, selbst wenn die Analyse durch eine (ziemlich allgemein gehaltene) Konsultation abgesichert wird, bei der die Schlüsselfragen gleichwohl im Hintergrund bleiben.

5.4   Allein der Kohäsionspolitik beispielsweise die „Aufgabe“ des wichtigsten Wachstumsmotors zu übertragen, erscheint ein sehr ehrgeiziges und unterstützenswertes Unterfangen, sofern eine radikale Reform der Kohäsionspolitik stattfindet und dauerhafte flankierende Maßnahmen durchgeführt werden, um deren Umsetzung zu unterstützen. Abgesehen davon müsste die Union über eine gemeinsame Wirtschaftspolitik verfügen.

5.4.1   Andernfalls könnte sich der Vorschlag als illusorisch oder zumindest weniger wirkungsvoll herausstellen. Um dieses Ziel zu unterstützen, ohne den Grundsatz der Kohäsionspolitik aufzugeben, müsste die Strategie 2020 über eigene, auch über eine europäische Anleihe zu beschaffende Mittel verfügen und sich an eben diesem Grundsatz orientieren. Darüber hinaus müssten alle anderen Politikbereiche der EU, einschließlich der GAP, gleichermaßen einbezogen werden. Nur so werden die Strukturfonds ihre ursprüngliche „Bestimmung“ nicht verlieren und zu einem Instrument der territorialen Entwicklung werden. Der EWSA bedauert, dass im Fünften Kohäsionsbericht die Politik zur Förderung des ländlichen Raums ausgeklammert wird, ebenso wie bei der GAP keine Rede von der Kohäsionspolitik ist.

5.5   In ihrer Mitteilung stellt die Kommission zu Recht fest, dass der Mehrwert der Kohäsionspolitik mehrfach Gegenstand von Diskussionen unter Wissenschaftlern gewesen ist, deren empirische Analysen häufig ergeben, dass die Wirkung dieser Politik nur schwer messbar ist. Dies kann auf die nicht immer angemessene Auswahl der Indikatoren für den territorialen Zusammenhalt zurückzuführen sein. Der Ausschuss ist der Ansicht, dass diesen Fragen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss als dies bislang der Fall war.

6.   Besondere Bemerkungen (zu den vier von der Kommission festgelegten Zielen)

6.1   Bei dem Ziel Stärkung der strategischen Programmplanung, das in einem strategischen Rahmen verwirklicht werden soll, besteht die wesentliche Neuerung des Kommissionsvorschlags darin, dass eine Kohärenz und eine funktionsgerechtere Verbindung zwischen den Zielen der Europa-2020-Strategie und den auf nationaler Ebene in den operationellen Programmen festgelegten Maßnahmen hergestellt werden.

6.2   Der EWSA begrüßt diese Neuerung, hält jedoch die Verknüpfung der von den Mitgliedstaaten aufgestellten und mit der EU abgestimmten Jahrespläne zur Stabilisierung der öffentlichen Finanzen (nationale Reformpläne) mit der Kohäsionspolitik für das Hauptproblem, das es zu lösen gilt. Angesichts der Vielfalt der Verwaltungssysteme der EU-Mitgliedstaaten und ihrer unterschiedlich hohen Staatsverschuldung ist dieses Thema brandaktuell.

6.3   Ferner muss die Entscheidung getroffen werden, ob die Kohäsionspolitik im Wesentlichen ein hinsichtlich der Wahl der Prioritäten und durchzuführenden Maßnahmen unabhängiger Politikbereich bleiben soll, oder ob sie den wirtschaftspolitischen Entscheidungen, die auf einzelstaatlicher Ebene zur Eindämmung der Staatsverschuldung getroffen werden, in gewisser Weise unterzuordnen ist. Nach Ansicht des EWSA müssen die wichtigsten Organe der EU (Europäisches Parlament, Kommission und Rat) und die Institutionen der Mitgliedstaaten großes Augenmerk auf dieses Problem legen, damit Wege gefunden werden, die Kohärenz zwischen den Zielen der Strategie Europa 2020 und der neuen Governance der Kohäsionspolitik, die dieser Strategie nicht untergeordnet werden darf, zu wahren.

6.4   Ein zweiter wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der strategischen Programmplanung betrifft den Vorschlag der Kommission, ein neues System der Ex-ante-Konditionalität einzuführen, um die Prinzipien festzulegen, die die Mitgliedstaaten beachten und anwenden müssen, um die Wirksamkeit der Kohäsionspolitik zu verbessern. Die Kommission hat sich in Anbetracht der von vielen Mitgliedstaaten geäußerten Kritik offensichtlich bemüht, Bedingungen einzuführen, die eine größere Wirksamkeit der Investitionen gewährleisten können. Es gilt allerdings zu vermeiden, dass die Verfahren schwerfälliger werden und die Regionen für Fehler „bestraft“ werden, die sie nicht begangen haben (Haushaltsdefizit der Mitgliedstaaten).

6.5   Der EWSA begrüßt die Mindestanforderungen, die die Kommission für den Zugang zu Fördermitteln und für die Gewährleistung eines wirksamen Ressourcenmanagements stellt und mit Anreizen für die Mitgliedstaaten zur Durchführung der notwendigen Reformen verbindet. Der EWSA ist darüber hinaus der Auffassung, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten ihre Hauptanstrengungen vor allem auf die Einleitung interner Reformprozesse in jenen Institutionen und Bereichen richten müssen, die am stärksten von der Kohäsionspolitik betroffen sind (Umweltschutz, Arbeitsmarkt, allgemeine und berufliche Bildung, Innovation).

6.6   Nur bei schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten und/oder Verstößen gegen die kohäsionspolitischen Grundsätze und Verordnungen kann in Erwägung gezogen werden, dass die Kommission Sanktionen oder ähnliche Maßnahmen gegen einen Mitgliedstaat verhängt, die die Aussetzung/Rückforderung der EU-Mittel zur Folge haben.

6.7   Ebenfalls positiv zu werten ist der von der Kommission und den Mitgliedstaaten gemeinsam getragene Vorschlag, die Kohäsionsmittel auf eine begrenzte Anzahl von Prioritäten (siehe auch Stellungnahme ECO/230) zu konzentrieren, da diese Mittel nicht ausreichen, um den vielfältigen Bedarf der Regionen mit Entwicklungsrückstand zu befriedigen. Nach Ansicht des EWSA kann die Kohäsionspolitik wirksamer gestaltet werden, wenn sie darauf ausgerichtet wird, materielle und immaterielle Investitionsvorhaben mit großen wirtschaftlichen, sozialen und gebietsbezogenen Auswirkungen zu fördern.

6.8   Die Prioritätenfestsetzung und die Begrenzung der für eine Finanzierung infrage kommenden Maßnahmen sind allerdings eines der Probleme, deren Lösung angesichts der zahlreichen Forderungen der regionalen und nationalen Behörden, die genau in die entgegengesetzte Richtung gehen, am schwierigsten sein dürfte.

6.9   Wie der EWSA mehrfach erklärt hat (3), kann die Partnerschaft in dieser Richtung einen regelrechten Zugewinn bringen; deshalb begrüßt er die Empfehlung der Kommission, sofern es dabei nicht nur um die Partnerschaft im öffentlichen Bereich, sondern insbesondere um die Partnerschaft zwischen den Wirtschafts- und Sozialpartnern und den Partnern des zivilen Dialogs geht, wobei die Sozialpartner und die Vertreter der Zivilgesellschaft in allen Phasen und auf allen Ebenen konkret einbezogen werden und über ein Stimmrecht verfügen müssen. Ferner sollten den Beteiligten Mittel für die technische Unterstützung zur Verfügung gestellt werden.

6.10   Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Grundsätze der Zusätzlichkeit und der Kofinanzierung überarbeitet werden müssen; für diese Grundsätze sind Reformen vorgesehen, in deren Rahmen sie beide mit der notwendigen Einführung von differenzierten Kofinanzierungssätzen verknüpft werden sollen, „um den Entwicklungsstand, den EU-Mehrwert und die Arten von Maßnahmen und Begünstigten besser widerzuspiegeln“.

6.11   Begrüßenswert ist außerdem der Vorschlag, eine dritte Kategorie von Regionen einzuführen, nämlich solcher, deren Pro-Kopf-BIP derzeit mehr als 75 %, jedoch weniger als 100 % (90 %) des EU-Durchschnitts beträgt, was im Falle einer Ausweitung der Förderung, wenn auch mit geringeren Sätzen, auf alle Regionen die Überprüfung und Anwendung des Kofinanzierungsgrundsatzes erleichtern würde.

6.12   Bezüglich des Grundsatzes der Zusätzlichkeit müssen die Interventionsarten, bei denen das finanzielle Engagement der Mitgliedstaaten gefordert ist, genauer bestimmt werden, wobei zu spezifizieren ist, inwiefern sie zur Steigerung des Mehrwerts beitragen, Auswirkungen auf die Beschäftigung haben und das Wachstum ankurbeln. Aufgrund der Verringerung der Anzahl der Prioritäten und der in den Mitgliedstaaten zu finanzierenden Maßnahmen dürfte die Zusätzlichkeitsregel einfacher und zugleich flexibler zu handhaben sein.

6.13   Für den zweiten Grundsatz könnten unterschiedliche Kofinanzierungssätze vorgesehen werden: niedrigere Sätze für Regionen, die weiter vom EU-Durchschnitt entfernt sind, mit dem eindeutigen Ziel, die Finanzierung spezifischer Interventionen zur Förderung der lokalen Entwicklung zu erleichtern, und höhere Sätze für Regionen, die nicht so weit von diesem Durchschnitt entfernt sind.

6.14   Das dritte große Ziel betrifft die Vereinfachung der Verwaltungsverfahren für gemeinsame Programme, was bei allen Mitgliedstaaten auf einhellige Zustimmung stößt und stets vom EWSA in seinen Stellungnahmen gefordert wurde, um die Durchführung der kohäsionspolitischen Programme zu erleichtern. Bei diesem Ziel muss den unterschiedlichen Verwaltungs-, Rechnungsführungs- u. a. Vorschriften der Mitgliedstaaten und Regionen Rechnung getragen werden, wohl wissend, dass auch fortwährende, insbesondere sich überschneidende Veränderungen Hindernisse schaffen und Verzögerungen hervorrufen.

6.15   Den Vorschlag, von den für die Programmverwaltung zuständigen Behörden die Vorlage eines Jahresabschlusses über die von der EU kofinanzierten Ausgaben (mit Bestätigungsvermerk einer unabhängigen Prüfstelle) zu verlangen, hält der EWSA in Anbetracht der Modalitäten und Fristen, die heutzutage bei der Abwicklung der Vergabeverfahren für EU-weite Ausschreibungen einzuhalten sind, für völlig unangemessen und schwer umsetzbar.

6.16   Hingegen könnte im Hinblick auf die „Stärkung“ der Verantwortung der nationalen und regionalen Behörden, insbesondere jener, die sich in größeren Schwierigkeiten befinden und/oder mit der Umsetzung mehr im Rückstand liegen, mindestens zwei Jahre nach Beginn des Programmplanungszeitraums die Bewertung der Ergebnisse unabhängigen, auf europäischer Ebene akkreditierten Stellen übertragen werden. Wenn ein Verschulden der Verwaltungen vorliegt oder bei erheblichen Abweichungen von den erwarteten Ergebnissen könnte die Kommission je nach Schwere der festgestellten Unregelmäßigkeiten das Programm einstellen, die Zahlungen aussetzen oder die Rückzahlung der bereits ausgezahlten Mittel verlangen.

6.17   Die nationalen und regionalen Verwaltungen müssen ihre Fähigkeit zur effizienten Planung und Verwaltung der kofinanzierten Ausgaben nachweisen. Das ist nicht durch eine in kürzeren Abständen erfolgende Prüfung der Zeiträume, in denen die Ausgaben getätigt werden (Verlangen von Jahresabschlüssen), zu erreichen, sondern indem bewertet wird, ob die Qualität der geplanten oder durchgeführten Investitionen gewährleistet ist, ob die Zeitpläne für die Durchführung der Interventionen eingehalten werden und ob wirksame Bewertungs- und Kontrollverfahren angewendet wurden.

6.18   Es gibt noch weitere wesentliche Neuerungen, die der EWSA unterstützt, und zwar insbesondere:

die Entwicklung neuer Finanzierungsinstrumente, deren Umfang ausgeweitet und deren Reichweite auf Bereiche, die bisher nicht gefördert wurden (Stadtverkehr, Forschung und Entwicklung, Energie und Umwelt, Telekommunikation usw.), ausgedehnt werden muss;

die Einführung neuer Formen öffentlich-privater Partnerschaften;

die Überprüfung der Strategien für jeden einzelnen Strukturfonds, angefangen beim ESF und dem Beitrag, den er zur Durchführung der Beschäftigungsstrategie leisten könnte;

die stärkere Fokussierung auf die städtischen Gebiete;

die Schaffung von Anreizen für Reformen, die den Mitgliedstaaten und Regionen helfen, die EU-Fördermittel effizienter zu nutzen;

die Einführung einer Reserve in den Kohäsionshaushalt, die jenen Regionen zur Verfügung gestellt wird, die die besten Ergebnisse bei der Verwirklichung der Ziele von Europa 2020 erreichen.

6.18.1   Nach Ansicht des EWSA gilt es, für jede dieser Neuerungen die Ziele sorgfältig festzulegen, die verfügbaren Ressourcen einzuschätzen und die Durchführungsmodalitäten und –zeiträume genau zu beschreiben.

6.18.2   Die Kohärenz und die Nachhaltigkeit dieser Vorschläge sind im Lichte der vier Hauptziele der Reform der Kohäsionspolitik und ihrer effektiven Anwendbarkeit in jenen Regionen und Gebieten zu prüfen, die in puncto wirtschaftliche Entwicklung, Leistungsfähigkeit der Produktion, soziale Integration und Lebensqualität noch sehr weit von den EU-Durchschnittswerten entfernt sind.

6.19   Für die neue Finanzielle Vorausschau schlägt die Kommission vor, erneut das Kriterium von 75 % des durchschnittlichen BIP pro Kopf in Kaufkraftparitäten (KKP) anzuwenden, um anhand des Konvergenzkriteriums die Förderfähigkeit dieser Regionen zu bestimmen. Der EWSA empfiehlt hingegen, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, andere Parameter einzuführen, die die objektiven Bedingungen der einzelnen Regionen und der Gebiete der EU besser widerspiegeln.

7.   EU-Haushalt, Kohäsionspolitik und die Strategie Europa 2020

7.1   Die Aussichten für den EU-Haushalt nach 2013 sind nicht gerade ermutigend – daran lässt der Gipfel von Ende 2010 keinen Zweifel. Einige (nur einige?) Mitgliedstaaten führen den der Krise geschuldeten Sparkurs als Begründung an, den Haushalt, wenn überhaupt, nur symbolisch aufzustocken, wobei sie außer Acht lassen, dass die Kohäsionspolitik weniger als 1 % des BIP in Anspruch nimmt, während einige Mitgliedstaaten zirka 24 % des BIP für die Rettung der Banken ausgegeben haben!

7.2   Der EWSA hält die Europa-2020-Strategie, an der die Union offenbar all ihre Bemühungen auszurichten gedenkt, für wichtig. Es besteht jedoch die Gefahr, dass sie ohne eine angemessene Direktfinanzierung zum Scheitern verurteilt sein könnte. Es wäre diesbezüglich am zweckmäßigsten, auf Eurobonds zurückzugreifen. Darüber hinaus sollte den schwächsten Kohäsionsregionen in Abhängigkeit von ihren Besonderheiten ein gewisser Handlungsspielraum eingeräumt werden, um die Integration zwischen beiden Politikbereichen zu fördern.

7.3   Diese Integration kann durch eine Vertiefung der Kenntnisse über die gebietsspezifischen Erfordernisse und Prioritäten, die unter Berücksichtigung der Europa-2020-Strategie zur Sicherstellung des Ziels der thematischen Konzentration aufgenommen werden können, erleichtert werden.

8.   Die Zukunft der Kohäsionspolitik nach 2013: strategische Aspekte

8.1   Die Vorschläge zur Zukunft der Kohäsionspolitik, die die Kommission für den nächsten Programmplanungszeitraum vorgelegt hat, zeigen in Verbindung mit den Zielen der Strategie 2020 einen Erfolg versprechenden Weg auf, den der EWSA, wie bereits erwähnt, größtenteils unterstützt, weil er darauf ausgerichtet ist, die Wirksamkeit einer der wichtigsten wirtschaftlichen Umverteilungspolitiken der EU zu verbessern. Die Verwirklichung dieser Ziele bedingt jedoch, dass zusätzlich zu den bereits genannten noch einige weitere strategische Grundvoraussetzungen geschaffen werden.

8.2   Erstens ist der EWSA der Auffassung, dass die der Kommission und den Mitgliedstaaten abverlangten Bemühungen zu konkreten Ergebnissen führen können, wenn dieses Vorhaben in eine allgemeinere Überprüfung der Architektur der wirtschaftspolitischen Steuerung in Europa sowie der von der EU sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene angestrebten Ziele eingebunden wird. Eine solche Überprüfung ist vor dem Hintergrund der Krise und der spekulativen Attacken auf die Staatsverschuldung immer dringender erforderlich, wobei die EU auch ihre bisher auf die reicheren Gebiete der EU (Stabilität) ausgerichtete, den weniger entwickelten und somit wachstumsbedürftigen Gebieten (Wachstum) zum Nachteil gereichende Währungspolitik aktualisieren muss.

8.3   Die zweite Voraussetzung betrifft einen der Kernpunkte der geplanten Reform der Kohäsionspolitik, nämlich die Notwendigkeit, eine funktionsgerechte und strategische Koordinierung zwischen den einzelnen Strukturfonds aufzubauen, die gegenwärtig praktisch nicht stattfindet. Auswahl und Finanzierung der Maßnahmen auf regionaler Ebene müssen daher im Rahmen eines Dialogs und einer Vorgehensweise erfolgen, die nicht nur mit den Mitgliedstaaten (Partnerschaftsvereinbarungen) und den Wirtschafts- und Sozialpartnern, sondern auch mit der technischen Unterstützung und den Mitteln der fünf Strukturfonds entwickelt werden, bis schließlich eine einzige Behörde für die Koordinierung und Verwaltung der verschiedenen Fonds errichtet wird.

8.4   Drittens müssen die Kohäsionsmaßnahmen und die mit der Kohäsionspolitik verknüpften anderen Politikbereiche (Politikfelder wie Umwelt- und Energiepolitik, Forschungs- und Innovationspolitik, Beschäftigungspolitik usw.), die folglich von anderen EU-Finanzierungsinstrumenten (EIB, Fördertöpfe für Innovation, Infrastrukturnetze, Entwicklung der Telekommunikation usw.) abhängen, miteinander koordiniert und Synergien zwischen ihnen geschaffen werden. Die Kohäsionspolitik muss zum Instrument eines umfassenderen Konzepts werden, mit dessen Hilfe die Entwicklung der Regionen und Gebiete insgesamt gefördert wird und sektorbezogene, auf die unterschiedlichen Erfordernisse der Gebiete zugeschnittene Förder- und Finanzierungsmaßnahmen, auch aus privater Hand, in Gang gesetzt werden.

8.5   Viertens muss die Möglichkeit geschaffen werden, im Rahmen dieses neuen Ansatzes für die europaweite wirtschaftspolitische Steuerung Formen einer verstärkten Zusammenarbeit für gemeinsame Ziele zu entwickeln, die einen bestimmten Bereich, eine Makroregion oder die Entwicklung von Tätigkeiten betreffen, denen die Mitgliedstaaten strategische Bedeutung beimessen. Dieses Instrument, das trotz seiner Verankerung im Vertrag bisher kaum angewandt und genutzt wird, würde den Beschlussfassungsprozess erleichtern und aufgrund der Synergie- und der Skaleneffekte, die zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten erzielt würden, deutlich schneller zu besseren Ergebnissen führen.

8.6   Fünftens muss, ebenfalls im Zusammenhang mit der Koordinierung, umgehend, und zwar noch vor Beginn des neuen Programmplanungszyklus der Kohäsionspolitik, eine Koordinierung zwischen den Institutionen (Kommission, Europäisches Parlament, Rat und Beratungsorgane, EWSA und AdR und Wirtschafts- und Sozialpartner) auf den Weg gebracht werden. Ziel muss es sein, die Debatte und den Meinungsaustausch der EU-Institutionen über die Zukunft der Kohäsionspolitik zu erleichtern, bevor die endgültige Fassung der Vorschläge erstellt und den zuständigen Organen zur Annahme vorgelegt wird. Diese Koordinierung muss fortgeführt werden und die Programmdurchführung und die Ergebnisbewertung begleiten.

8.7   Der EWSA spricht sich dafür aus, bereits im Rahmen der Halbzeitüberprüfung der Strukturpolitik (wieder) gemeinschaftliche Initiativprogramme zu starten. Für die thematische territoriale Zusammenarbeit ebenso wie für die soziale Innovation bedeutete die Streichung bewährter Programme wie URBAN, EQUAL, Interprise u.a. einen Verlust, da deren Rolle weder im „Mainstreaming“ der Fonds noch an anderer Stelle übernommen wurde.

8.8   Der EWSA hofft jedenfalls, dass die Kommission, ausgehend von den Maßnahmen, die bereits mit den Schlussfolgerungen aus dem Fünften Kohäsionsbericht angestoßen wurden, noch mutigere Vorschläge für die bevorstehende Reform vorlegen wird, die einen grundlegenden Wandel gegenüber der Vergangenheit bedeuten.

Brüssel, den 16. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung einheitlicher Regeln für die Bereitstellung der Basisinformationen für Kaufkraftparitäten sowie für deren Berechnung und Verbreitung“, ABl. C 318/08 vom 23.12.2006, S. 45.

(2)  KOM(2010) 642 endg.

(3)  Siehe die folgenden Stellungnahmen des EWSA: Zu den Ergebnissen der Verhandlungen über kohäsionspolitische Strategien und Programme im Programmplanungszeitraum 2007-2013, ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 141, Förderung einer effizienten Partnerschaft bei der Verwaltung des neuen Programmplanungszeitraums in der Kohäsionspolitik 2007-2013 unter Rückgriff auf bewährte Verfahrensweisen, ABl. C 44/01 vom 11.2.2011, S. 1 und Regionalpolitik als Beitrag zum intelligenten Wachstum im Rahmen der Strategie Europa 2020.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/75


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die nationalen Parlamente: Überprüfung des EU-Haushalts“

KOM(2010) 700 endg.

2011/C 248/13

Berichterstatter: Henri MALOSSE

Mitberichterstatter: Gérard DANTIN

Die Europäische Kommission beschloss am 19. Oktober 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die nationalen Parlamente: Überprüfung des EU-Haushalts

KOM(2010) 700 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 31. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 16. Juni) mit 175 gegen 2 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Bei der Überprüfung des EU-Haushalts geht es nicht in erster Linie um Zahlen, sondern sie ist ein Instrument zur Umsetzung eines politischen Projekts. Die Europäische Union verfügt derzeit weder über die Haushaltsmittel zur Umsetzung ihrer politischen Strategie noch über die Mittel zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen, die ihr aus dem Vertrag von Lissabon erwachsen.

1.2   Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die ihren Ausgang in den USA nahm, hat Europa schwer getroffen und in den meisten Mitgliedstaaten in einer Art Dominoeffekt wachsende Haushaltsdefizite verursacht. Diese Situation wirkt sich zwangsläufig auf die Vorbereitung der Finanziellen Vorausschau 2014-2020 aus, doch darf die Europäische Union nicht ihr Opfer werden.

1.3   Deshalb muss mit Phantasie ein „intelligenter EU-Haushalt“ aufgestellt werden, mit dessen Hilfe die EU ihre Ziele verwirklichen kann, ohne die steuerliche Gesamtbelastung der Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen zu erhöhen.

1.4   Der Begriff der „angemessenen Gegenleistung“ muss aufgegeben werden, weil er im Widerspruch zu den Werten der Solidarität und des gegenseitigen Nutzens der europäischen Integration steht. Vielmehr muss der Grundsatz der Subsidiarität Anwendung finden, indem jene Verfahren auf die europäische Ebene übertragen werden, die ihren Inhalt und ihre Wirksamkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten verloren haben. Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission, zum Prinzip der Eigenmittel zurückzukehren, die völlig neu festgelegt werden oder an die Stelle nationaler Steuern treten können.

1.5   Der EU-Haushalt muss gestärkt werden und eine Hebelwirkung entfalten. Der EWSA empfiehlt, dass sich die nationalen Haushalte und der europäische Haushalt ergänzen, was größenbedingte Einsparungen zur Verwirklichung der großen politischen Ziele der EU ermöglicht. Verstärkt wird die Wirksamkeit der EU-Maßnahmen auch durch die systematischere Inanspruchnahme von Darlehen der EIB und die Nutzung öffentlich-privater Partnerschaften sowie die Schaffung eines Instruments von Euro-Anleihen für Investitionen.

1.6   Um nachzuweisen, dass ein Euro auf europäischer Ebene sinnvoller eingesetzt werden kann, muss die EU andererseits ihre derzeit viel zu schwerfälligen Verfahren grundlegend reformieren und sich darauf konzentrieren, bei für die Bürger sichtbaren Projekten tätig zu werden.

1.7   Zur erfolgreichen Umsetzung eines ehrgeizigen Haushalts ist es unumgänglich, den Kampf um die öffentliche Meinung zu gewinnen. Deshalb spricht sich der EWSA dafür aus, dass Untersuchungen über die Kosten eines Europas ohne EU durchgeführt und veröffentlicht werden, in denen deutlich gemacht wird, an welcher Stelle ein unnötiger paralleler Ressourceneinsatz in den nationalen Haushalten erfolgt. Der EWSA schließt sich damit der Initiative des Europäischen Parlaments an und wird einen eigenen Beitrag dazu leisten.

1.8   Der Haushalt der EU ist in den Augen der Unionsbürger nur dann glaubwürdig, wenn er in Sachen verantwortungsvolles Regierungshandeln, Effizienz, Transparenz und Kontrolle der Verwaltungsausgaben vorbildlich ist.

2.   Ein neues Ziel

2.1   Die Kommission manifestiert in ihrer Mitteilung deutlich ihren Willen, für die Finanzielle Vorausschau der EU nach 2013 ein ehrgeiziges Konzept festzulegen. Der EWSA begrüßt das, denn der Vertrag von Lissabon hat den Weg für eine Europäische Union bereitet, die künftig über eine starke politische Identität verfügt.

2.2   Der EWSA ist gemeinsam mit der Kommission der Auffassung, dass der Begriff „angemessene Gegenleistung“ heute noch weniger angezeigt ist als zu Beginn des europäischen Aufbauwerks. Dieses Konzept, das das europäische Aufbauwerk schon viel zu oft verzerrt und die europäischen Debatten vergiftet hat, ist zum großen Teil Ursache der aufgetretenen Unzulänglichkeiten, Verzögerungen und Misserfolge. Es steht im Widerspruch zum Gedanken einer Union der Staaten und Völker und zu jeder rationalen wirtschaftlichen Argumentation. Die Vorteile und der Mehrwert einer Wirtschafts- und Währungsunion und einer politischen Union müssen naturgemäß allen zugute kommen. Die Fortschritte der Europäischen Union beruhen alle auf dem Multiplikatoreffekt des Zusammenlegens von Ressourcen, das dem Begriff der „angemessenen Gegenleistung“ diametral entgegensteht.

2.3   Auf der Grundlage dieser Überlegungen hat der Ausschuss bereits 2008 Folgendes festgestellt: „Für die Gestaltung der Haushaltspolitik kommt man nicht umhin, die grundlegende Entscheidung zwischen Föderalismus oder Regierungszusammenarbeit zu treffen. Der Fortschritt bei der europäischen Integration wird natürlich auch daran gemessen, wie der EU-Haushalt finanziert wird“ (1).

2.4   Dabei wünscht der Ausschuss auch, dass aus einer objektiven Analyse der derzeitigen Funktionsweise des Haushaltsverfahrens alle entsprechenden Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Kommission prangert zu Recht die Verzögerungen beim Start der Programme, systemimmanente Komplikationen sowie die dezentrale Umsetzung an, die sich nicht positiv ausgewirkt hat. Diese Mängel müssen unter Einbeziehung aller Beteiligten gründlich analysiert werden, um die zu ihrer Behebung notwendigen Lehren zu ziehen.

2.5   Der EWSA unterstützt die vier von der Kommission angeführten Hauptprioritäten: Umsetzung der grundlegenden Handlungsprioritäten, Steigerung des Mehrwerts, Ergebnisorientierung und Optimierung des gegenseitigen Nutzens durch Solidarität. Zudem möchte der EWSA ein weiteres Erfordernis hinzufügen, nämlich die Öffentlichkeitswirksamkeit.

2.5.1   Die derzeitige Bilanz der Bereitstellung von Mitteln durch die EU ist in diesem Punkt nicht zufriedenstellend. Dieser Mangel behindert die europäische Integration, da dadurch eine tatsächliche Unterstützung der Bürger erschwert wird und den Mitgliedstaaten Argumente gegeben werden, um die Aufstockung des EU-Haushalts zu bremsen. Hier müsste sowohl beim für die Bürger sehr undurchsichtigen Haushaltsverfahren als auch bei den operativen Maßnahmen Abhilfe geschaffen werden, da diese zu häufig vertraulich, auf Miniprojekte verteilt oder im Rahmen komplexer Kofinanzierungsmaßnahmen versteckt sind.

2.6   Nach Auffassung des EWSA muss eine solche Neuausrichtung der Haushaltspolitik der EU direkt zum Ziel der Erneuerung der Gemeinschaftsmethode beitragen, die er in seiner im Oktober 2010 mit überwältigender Mehrheit verabschiedeten Stellungnahme (2) ausdrücklich gefordert hat.

3.   Mehr Komplementarität zwischen nationaler und europäischer Ebene

3.1   Es ist für den EWSA inakzeptabel, dass der europäische Integrationsprozess, der von den dafür bereitgestellten Finanzmitteln abhängt, durch die Frage des Abbaus der öffentlichen Defizite gelähmt wird. Ein solches Konzept würde die sich aus dem Vertrag von Lissabon ergebenden politischen Ziele der Europäischen Union und der Europa-2020-Strategie unmittelbar in Frage stellen.

3.2   Der EWSA schlägt vor, dafür zu sorgen, dass sich nationale Haushalte und EU-Haushalt mit Blick auf gemeinsame Ziele ergänzen, insbesondere mittels Entwicklungs- und Investitionspartnerschaften im Zusammenhang mit der Europa-2020-Strategie. Damit ließe sich eine „intelligente“ Aggregation nationaler und europäischer Mittel zur Realisierung größenbedingter Einsparungen, zur Erzielung einer Hebelwirkung und zur Reduzierung der nationalen Haushaltsdefizite dank der positiven Effekte einer gemeinsamen Nutzung der Mittel erreichen.

3.3   Zu diesem Zweck ersucht der Ausschuss die Kommission, die erforderlichen Mittel bereitzustellen, um unverzüglich die Evaluierung der Kosten eines Verzichts auf Europa zu aktualisieren, die seit dem vor 23 Jahren vorgelegten Cecchini-Bericht (3) nicht mehr berechnet wurden. Der Ausschuss begrüßt, dass das Europäische Parlament seine Bereitschaft erklärt hat, selbst eine diesbezügliche Initiative zu ergreifen. Der Ausschuss seinerseits hat die Absicht, sich in die Arbeit zu diesem Thema umfassend einzubringen und einen aktiven Beitrag zur Aktualisierung zu leisten.

3.3.1   Die Bürgerinnen und Bürger und Steuerzahler der EU müssen wissen, wie hoch die Rechnung ist, die sie aufgrund des überflüssigen doppelten Kostenaufwands zu begleichen haben, der durch die in Verwaltung und Wirtschaft immer noch unzureichende Integration entsteht. Sie sollten über die größenbedingten Einsparungen informiert werden, von denen die europäische Politik durch eine stärkere europäische Integration profitieren könnte. So bezahlen die Bürger z.B. das Fehlen einer gemeinsamen europäischen Verkehrspolitik, die doch in den Römischen Verträgen festgeschrieben ist, tagtäglich mit Verspätungen und Störungen und die Unternehmen mit einem gewissen Produktivitätsverlust. Dasselbe gilt für die unzureichende Öffnung der Märkte für öffentliche Aufträge, deren europaweite Öffnung Schätzungen des Cecchini-Berichts zufolge etwa 2 Mio. neue Arbeitsplätze bringen würde.

3.4   Der EWSA unterstreicht ganz besonders den wirtschaftlichen Ankurbelungseffekt, der von einer besseren Nutzung des EU-Haushalts auf der Grundlage solcher größenbedingten Einsparungen zu erwarten wäre. Die Abschwungseffekte, die aufgrund der drastischen Einschnitte bei den Staatshaushalten entstehen, könnten mit Hilfe dieser Produktivitätsgewinne aufgefangen werden. Dadurch ließen sich die angesichts der Defizite gebotene Haushaltsdisziplin und die wirtschaftlichen und sozialen Impulse miteinander in Einklang bringen, die für die Überwindung der Krise und der Wachstumsschwäche in Europa notwendig sind.

3.5   Die so erzielte Stützung der Wirtschaft würde sich ihrerseits positiv auf die Steuereinnahmen und damit auf die Sanierung der öffentlichen Finanzen auswirken. Eine sinnvolle Verwendung des EU-Haushalts dürfte die Einleitung und Konsolidierung einer Wirtschafts- und Haushaltsentwicklung mit positiven Rückkopplungen ermöglichen, wenn gemeinsam das Potenzial für gegenseitige Ergänzung erschlossen wird. Die Nutzung der Chancen, die die gegenseitige Ergänzung von nationaler und europäischer Ebene bietet, ist deshalb die Voraussetzung für die nachhaltige Konsolidierung von Wachstum und Beschäftigung in Europa.

4.   Rückkehr zu mehr Haushaltsautonomie

4.1   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Aufstockung des EU-Haushalts nicht nur an sich wünschenswert, sondern angesichts der neuen Herausforderungen, auf die gemeinsam reagiert werden muss, auch erforderlich ist.

4.2   Deshalb unterstützt er den Vorschlag der Europäischen Kommission, einem System Vorrang einzuräumen, das auf Eigenmitteln beruht, die direkt in den Haushalt der Europäischen Union fließen, ohne über die nationale Ebene zu laufen. Nach Auffassung des EWSA wird eine wirksame Reform des EU-Haushalts nur dann möglich sein, wenn wieder eigenständige, gezielte und nachhaltige Eigenmittel erhoben werden, die an die Stelle der Beiträge der Mitgliedstaaten treten, die 1980 mit dem Sonderkorrekturkoeffizienten zugunsten des Vereinigten Königreichs eingeführt und dann durch die Vereinbarung von Fontainebleau 1984 dauerhaft festgelegt wurden und die dem falschen Konzept der „angemessenen Gegenleistung“ Vorschub leisten.

4.3   Der EWSA begrüßt die Vielfalt der Vorschläge zu den neuen Einnahmen, die die Kommission in ihrer Mitteilung unterbreitet, insbesondere die Vorschläge zu den Finanztransaktionen und zu CO2. Der EWSA möchte zu diesem Zeitpunkt noch nicht Stellung zur Art der neuen Eigenmittel beziehen, betont jedoch, dass eine Folgenabschätzung zu allen diesbezüglichen Vorschlägen vorzulegen ist, damit diese besser bewertet werden können. Der Ausschuss wünscht, dass auch die Möglichkeit geprüft wird, ob nach dem Beispiel der Mehrwertsteuerregelung bestimmte nationale Steuern oder Teile davon auf die europäische Ebene übertragen werden könnten, beispielsweise ein Teil der Körperschaftssteuer, sobald es, wie von der Europäischen Kommission vorgeschlagen, eine gemeinsame Bemessungsgrundlage gibt.

4.4   Der EWSA erwartet von einer solchen Reform die mögliche Abschaffung der nationalen Korrekturkoeffizienten in absehbarer Zeit, da sie in einem reformierten EU-Haushalt, der allen Mitgliedstaaten einen erhöhten Mehrwert bietet, keine Daseinsberechtigung mehr haben.

4.5   Ferner dringt der EWSA auf drei Grundsätze, die ihm für eine erfolgreiche Reform der Einnahmen des EU-Haushalts unabdingbar erscheinen:

4.5.1

Die Steuerbelastung in Europa darf sich infolge der Reform der Eigenmittel nicht erhöhen.

4.5.2

Die eventuellen neuen europäischen Abgaben dürfen weder eine übermäßige Diskriminierung bestimmter Mitgliedstaaten auf Grund ihrer nationalen Besonderheiten mit sich bringen, noch dürfen sie die Tätigkeit der in der Europäischen Union ansässigen Unternehmen beeinträchtigen. Sie dürfen zudem keine übermäßige Belastung der Bürgerinnen und Bürger bewirken, insbesondere der am meisten benachteiligten, wie es bei der Mehrwertsteuer der Fall ist.

4.5.3

Die Umstrukturierung muss zur Rationalisierung und einer ausgewogeneren Gesamtsteuerbelastung führen und den Zielen der Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung der Union entsprechen. Zudem müssen die Ausgaben der EU verstärkt auf die Prioritäten der EU und die Bereiche ausgerichtet werden, in denen sich größenbedingte Einsparungen erzielen lassen. Der EWSA betrachtet dies als notwendige Voraussetzung für eine erhebliche Aufstockung des EU-Haushalts.

4.6   Bis die EU ein höheres Maß an Integration erreicht hat, könnten nach Meinung des EWSA innovative Lösungen umgesetzt werden, bei denen die nationalen Haushalte und der EU-Haushalt in Bereichen wie Forschung und Entwicklung, Innovation, Entwicklungshilfe oder Finanzierung der Großinfrastruktur über Sondereinrichtungen oder in anderer Form aggregiert werden. Mit solchen Lösungen ließen sich Prioritäten und Mittel wirklich integrieren, wobei auf allen politischen Kompetenzebenen, den nationalen wie der europäischen, die jeweilige Kontrollbefugnis gewahrt würde.

5.   Gezielter auf den europäischen Mehrwert ausgerichtete Maßnahmen

5.1   Der EWSA unterstreicht, dass der EU-Haushalt in Einklang mit den Zielen und Verpflichtungen der Europa-2020-Strategie gebracht werden muss. Dies umfasst außer den entsprechenden Finanzmitteln auch eine sichtbare Verknüpfung zwischen den im Rahmen dieses Haushalts geplanten Maßnahmen und den verschiedenen Säulen der Europa-2020-Strategie.

5.2   Der EWSA betont insbesondere die Notwendigkeit einer effizienten Finanzierung in den Bereichen, für die die Europäische Union zuständig ist: in erster Linie die Konsolidierung der Wirtschafts- und Währungsunion, die Stärkung der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der EU sowie die Umsetzung neuer, sich aus dem Vertrag von Lissabon ergebender politischer Maßnahmen in den Bereichen Energie und Klima, Recht und Inneres sowie Außenpolitik.

5.3   Durch die jüngsten Krisen im Euroraum wurde deutlich, dass insbesondere die Solidarität im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion gestärkt werden muss. Die im EU-Haushalt verfügbaren Mittel wurden in dringenden Fällen nutzbringend eingesetzt, bevor später die Stabilisierungsfonds eingerichtet wurden. Die Entscheidung, diesen Stabilisierungsmechanismus in den Vertrag aufzunehmen, markiert eine neue Etappe der Solidarität innerhalb der EU, aber auch ihres Ziels der politischen und wirtschaftlichen Integration, um die Wirtschafts- und Währungsunion nachhaltig zu konsolidieren. Denn diese stellt einen entscheidenden Fortschritt für das europäische Aufbauwerk sowie den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt des Binnenmarkts dar. Insbesondere ist es dringend erforderlich, die Wirtschaftsunion wieder in Schwung zu bringen, die hinter der Währungsunion zurückgeblieben ist und diese damit schwächt. Die Europa-2020-Strategie wird kaum erfolgreich sein, wenn dieser Rückstand nicht aufgeholt wird. Dieser Gesichtspunkt hätte im Kommissionsdokument eingehender erörtert werden sollen.

5.4   Die andere wichtige Priorität für den EU-Haushalt ist, wie von der Kommission ganz zu Recht hervorgehoben, die Stärkung der politischen Maßnahmen des magischen Dreiecks „Forschung, Innovation und Bildung“, das im Zentrum der aus der Globalisierung erwachsenden Herausforderungen steht.

5.4.1   Angesichts der internationalen Herausforderungen wird es allerdings mit Finanzmitteln in Höhe von nur 4 % des Budgets der öffentlichen Forschung in Europa nicht möglich sein, grundlegende Veränderungen herbeizuführen. Es müssen insbesondere die finanziellen Mittel bereitgestellt werden, um aus den europäischen Programmen wirksame Instrumente zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu machen.

5.4.2   Die Einbindung der nationalen Programme in das europäische Forschungsrahmenprogramm ist unabdingbar, um größenbedingte Einsparungen und einen Mengeneffekt zu erzielen. Zudem ist dafür zu sorgen, dass das Forschungsrahmenprogramm unter Berücksichtigung der jeweiligen Ausgangspositionen in den Mitgliedstaaten auf Schlüsselbranchen konzentriert wird und dass bestehende Mängel, z.B. umständliche und langwierige Verwaltungsverfahren, behoben werden.

5.4.3   Die europäische Innovationspolitik muss das Fundament der Forschung in Europa bilden, wurde jedoch von der Kommission bisher lediglich als Nebenprodukt der Forschungstätigkeit behandelt. Es war an der Zeit, dass die Kommission einen Kurswechsel vornimmt: Diesen schlägt sie in ihrer jüngsten Mitteilung „Leitinitiative der Strategie Europa 2020 – Innovationsunion“ (KOM(2010) 546 endg.) vor.

5.4.4   Der EWSA bekräftigt insbesondere seine Forderungen nach einer wesentlich ehrgeizigeren Politik, die die Unterstützung von Unternehmergeist, die Öffnung der nationalen Netze zur Unterstützung und Verbreitung von Innovation und die europäische Cluster-Politik miteinander verknüpft, damit anstelle „nationaler Marktführer“„europäische Marktführer“ entstehen. Der EWSA begrüßt den Beschluss, zur Schaffung eines Gemeinschaftspatents für eine verstärkte Koordinierung zu sorgen. Das Gemeinschaftspatent sollte so bald wie möglich eingeführt werden, um einen Zustand zu beenden, der die Wettbewerbsfähigkeit der EU seit mehreren Jahrzehnten erheblich behindert.

5.4.5   Im Bereich Bildung plädiert der EWSA für ehrgeizigere Initiativen und insbesondere die Einrichtung neuer, allen offenstehender „Europaschulen“ als Zeichen einer stärkeren europäischen Identität, die Einrichtung echter europäischer Hochschulen (4) sowie eine europäische Politik im Bereich der neuen Kompetenzen für neue Beschäftigungen (5).

5.4.6   Die Europäische Kommission sollte ihre Aufmerksamkeit stärker darauf lenken, die Auswirkungen der europäischen Politik objektiv zu analysieren und die Daten der technischen Anhänge eng mit dem Hauptdokument zu verknüpfen.

5.5   Auch die Politik des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts ist unmittelbarer Ausdruck europäischer Solidarität. Der EWSA wird jeder Demontage dieser Politik, die das Symbol der „Union der Völker“ ist, entschlossen entgegentreten. Der EWSA fordert jedoch eine Reform dieser Politik, um sie wirksamer zu gestalten, insbesondere durch die Vereinfachung der Verwaltungsverfahren, die stärkere Fokussierung auf Vorzeigeprojekte in Verbindung mit europäischen Prioritäten sowie eine intensivere Einbeziehung der wirtschaftlichen und sozialen Akteure. Deshalb muss die EU aktiv gegen die Ausgrenzung der am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen eintreten und jene Länder und Regionen unterstützen, die sich in extremer Randlage befinden und auf Grund ihrer Besonderheiten am meisten benachteiligt sind, damit diese am wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt voll und ganz teilhaben können. Im Bereich der Beschäftigung ist der Europäische Sozialfonds daher das - vor allem bei der Finanzierung – zu bevorzugende Instrument zur Umsetzung der Europäischen Beschäftigungsstrategie, die im Mittelpunkt der Strategie für integratives Wachstum im Rahmen der Europa-2020-Strategie stehen muss.

5.6   Eine wichtige Priorität des Gemeinschaftshaushalts, die direkt mit dem Ziel einer effizienteren, solidarischeren und gleichzeitig bürgernäheren Union verbunden ist, sollten größere Investitionen in europäische Kollektivgüter sein. Die Kommission weist zu Recht auf diese Priorität hin, die jedoch präzisiert und konkretisiert werden müsste. Der EWSA beabsichtigt seinerseits, gemeinsam mit den wirtschaftlichen und sozialen Akteuren weitergehende Überlegungen anzustellen, um hier den Bedarf und die Ziele zu klären. Der EWSA hat verschiedene Erfordernisse in diesem Bereich bereits in den Mittelpunkt gerückt.

5.6.1   In erster Linie unterstreicht der EWSA, dass zur Ergänzung der nationalen Verwaltungen und gemeinsam mit den europäischen Nutzern auf europäischer Ebene echte Dienstleistungen von allgemeinem Interesse entwickelt werden müssen, um die ordnungsgemäße Verwaltung und die Sicherheit der Union in den Bereichen sicherzustellen, die in ihre kollektive Verantwortung fallen.

5.6.1.1   Dies betrifft insbesondere die Organisation des Binnenmarkts und des Zolls, aber auch die neuen Bereiche, in denen die Mitgliedstaaten der EU Kompetenzen übertragen haben: Einwanderungs- und Asylpolitik, Justiz und Inneres, Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Diensts und Maßnahmen im Außenbereich sowie die Überwachung der Außengrenzen.

5.6.2   Außerdem hebt der EWSA hervor, dass die Investitionen in die transeuropäische Infrastruktur ausgeweitet werden müssen, auch um die europäischen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu unterstützen und ihre korrekte Erbringung zu ermöglichen. Seit dem durch Jacques Delors 1993 vorgelegten Weißbuch der Kommission, dessen Vorschläge und Methodik kaum Wirkung zeitigten, haben sich zu viele Verzögerungen angehäuft. Ein großer Teil des EU-Gebiets, vor allem in den kürzlich beigetretenen Ländern, ist wegen dieser Probleme nach wie vor von den großen Handelsströmen ausgeschlossen. Unter den umzusetzenden Infrastrukturprioritäten betont der EWSA insbesondere Strukturvorhaben wie die Umsetzung der Spezifikationen für den einheitlichen europäischen Luftraum (6), für die Hochgeschwindigkeitszüge sowie für das Netz schiffbarer Kanäle. Umfassende europäische Investitionen sind auch in der Energiepolitik erforderlich, um eine größere Unabhängigkeit bei der Versorgung zu gewährleisten und in Sicherheit, Effizienz und erneuerbare Energien zu investieren.

5.6.3   Erforderlich sind ferner gemeinsame innovative Investitionen, um den neuen Herausforderungen in den Bereichen Wettbewerbsfähigkeit bzw. Sicherheit bei Telekommunikation, Umwelt und Zivilschutz zu begegnen.

5.7   Der EWSA bekräftigt seinen Standpunkt (7), dass die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) reformiert werden muss, um sie den neuen Gegebenheiten anzupassen, ohne sie zu renationalisieren oder die Grundsätze aufzugeben, auf denen ihr Erfolg beruht: Solidarität nach innen und außen, Qualität der Nahrungsmittelproduktion, Gemeinschaftspräferenz, territorialer Zusammenhalt zugunsten des ländlichen Raums, insbesondere von Berg- und Inselregionen. Eine der wichtigsten Aufgaben der GAP besteht insbesondere darin, die Stellung der Landwirte aufzuwerten. Darüber hinaus muss sie zur nachhaltigen Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen beitragen, indem sie es ermöglicht, die großen Aufgaben, Eindämmung des Klimawandels sowie Schutz der Umwelt und der Artenvielfalt (8), konkret in Angriff zu nehmen.

5.8   In den Bereichen Außenpolitik und Entwicklungshilfe für Drittstaaten erinnert der EWSA daran, dass er sich für eine Rationalisierung der Vertretungen der EU und der Mitgliedstaaten sowie eine größere Effizienz der europäischen Unterstützung in Ergänzung zu den nationalen Hilfen in engerer Zusammenarbeit mit den direkt betroffenen wirtschaftlichen und sozialen Akteuren ausgesprochen hat.

5.9   Zum Thema Entwicklungshilfe, deren Rückverfolgbarkeit gewährleistet sein muss, ist der EWSA der Auffassung, dass die nationalen und die europäischen Programme künftig zusammengefasst werden sollten, sowohl um Effizienz und Kohärenz zu steigern als auch um der europäischen Hilfe mehr Öffentlichkeitswirksamkeit zu verschaffen. Dabei weist der EWSA darauf hin, dass die Klausel in den Abkommen von Cotonou, nach der 15 % der Entwicklungshilfe des EEF für Maßnahmen nichtstaatlicher Akteure vorzusehen sind, auf ihn zurückgeht. Er schlägt vor, diesen Grundsatz auf alle Entwicklungshilfeprogramme auszudehnen.

6.   Mehr Effizienz

6.1   Angesichts der Schwierigkeiten bei den öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten ist es erforderlich, durch eine verantwortungsvolle Verwaltung des EU-Haushalts mit gutem Beispiel voranzugehen. Ohne in billige Demagogie über die Verwaltungskosten der europäischen Institutionen zu verfallen, die relativ gesehen wesentlich weniger kosten als die nationalen Verwaltungen (so hat die Kommission z.B. nicht mehr Bedienstete als die Stadt Paris!), empfiehlt der EWSA, Maßnahmen zu ergreifen, um die Beteiligung der europäischen Institutionen an den Einsparungen der Mitgliedstaaten im Verwaltungsbereich deutlich zu machen. Gleichzeitig müssen die Institutionen, einschließlich des EWSA, bei den Einstellungs- und Beförderungsverfahren für die Wahrung der im Vertrag verankerten Grundsätze der Chancengleichheit und des Diskriminierungsverbots sorgen. Der EWSA betont jedoch, dass eine verantwortungsvolle Verwaltung auch bedeutet, der europäischen Zivilgesellschaft die erforderlichen Mittel an die Hand zu geben, damit sie sich uneingeschränkt an der europäischen Debatte beteiligen kann.

6.2   Die den Mitgliedstaaten über den EU-Haushalt gewährten Beihilfen sollten strengeren Bedingungen unterliegen, insbesondere bezüglich der Einhaltung der Gemeinschaftsvorschriften und der Achtung der Entscheidungen des EuGH durch die Begünstigten. Außerdem sollte überprüft werden, ob die Gemeinschaftsbeihilfen mit den Wettbewerbsregeln vereinbar sind.

6.3   Angesichts der Notwendigkeit einer engeren Abstimmung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen im Rahmen der WWU kommt es auch darauf an, dass die Bedingungen und Regeln des Euro-Plus-Pakts bei den Beihilfen konsequenter eingehalten werden.

6.4   Die Unterstützung für Drittstaaten sollte von folgenden Kriterien abhängig gemacht werden: Nachvollziehbarkeit der Verwendung der Finanzmittel, Einhaltung ihrer Verpflichtungen, insbesondere bezüglich der Wirtschafts- und Sozialreformen zur Anpassung im Hinblick auf eine Öffnung, Partnerschaften sowie Einbindung der wirtschaftlichen und sozialen Akteure der Zivilgesellschaft.

6.5   Auch die Entwicklung des Euro und die Notwendigkeit, den Zusammenhalt des Euroraums gegenüber den Märkten zu stärken, bieten Chancen für eine innovative Darlehens- und Kreditpolitik auf europäischer Ebene, die die Wirkung der Beihilfen im Rahmen des EU-Haushalts verstärken würde, bisher aber zu wenig genutzt wurden. Der EWSA empfiehlt zunächst eine engere Koordinierung zwischen EZB, Eurogruppe und EIB. Er begrüßt die ermutigenden Ergebnisse, die bei den ersten Euro-Anleihen zu verzeichnen waren, und wünscht die Ausweitung auf die Bereiche Bildung, Forschung, Industrie und europäische Infrastruktur. Gleichzeitig könnte die Schaffung des „europäischen Schatzamts“ vorbehaltlich strenger Bedingungen und strikter Regeln genutzt werden, um einen erheblichen Teil der Schulden der Mitgliedstaaten gemeinsam zu schultern. Mit diesen Instrumenten soll die Solidarität innerhalb der Europäischen Union bekräftigt und gleichzeitig bewiesen werden, dass sich die EU politisch für die Unumkehrbarkeit des Euro einsetzt.

6.6   Der EWSA spricht sich insofern für eine bessere Auswahl der Projekte aus, die von der Europäischen Union unterstützt werden, als sich die EU auf jene Projekte konzentrieren sollte, die den größten Mehrwert für die EU bringen. Der EWSA fordert deshalb eine Lockerung des Grundsatzes der „Zusätzlichkeit“, die nicht länger für jedes einzelne Projekt, sondern im Rahmen der strategischen Partnerschaften mit den Mitgliedstaaten insgesamt bewertet werden sollte.

6.7   Auch mit beschleunigten Verfahren zur Festlegung der Prioritäten und zur Aufteilung von Mitteln kann auf bestimmte Notwendigkeiten reagiert werden. Der EWSA hat bereits empfohlen, den vermehrten Rückgriff auf Sonderorganisationen oder auf „Globalzuschüsse“ zu prüfen, die basisnahen Körperschaften wie den Regionen oder Organisationen der Zivilgesellschaft zur Verfügung gestellt werden. Letzteres, vom EWSA bevorzugtes Vorgehen hat sich bei der Regionalpolitik bewährt und könnte auf alle Finanzmaßnahmen der EU ausgedehnt werden.

6.8   Bei großen Investitionsprojekten sollte ebenfalls die Inanspruchnahme von Darlehen der EIB sowie von privaten Finanzierungsmöglichkeiten gefördert werden, und zwar innerhalb eines Rechtsrahmens, wie ihn der EWSA in einer Stellungnahme (9) kürzlich dargelegt hat. In einem neuen Maßstab entwickelt, könnten mit ihrer Hilfe der europäische Rückstand bei der Infrastrukturentwicklung aufgeholt und die technischen Großprojekte finanziert werden, von denen unsere Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Welt abhängt.

6.8.1   Darüber hinaus ist der EWSA der Auffassung, dass Notlagen eine größere Flexibilität und besser angepasste Mechanismen nach dem Vorbild des Fonds zur Anpassung an die Globalisierung erfordern (10).

Brüssel, den 16. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA „Der EU-Haushalt und seine künftige Finanzierung“, ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 113.

(2)  Stellungnahme des EWSA „Die Erneuerung der Gemeinschaftsmethode (Leitlinien)“, ABl. C 51 vom 17.2.2011, S. 29.

(3)  Cecchini-Bericht „Kosten der Nichtverwirklichung Europas“, Paolo CECCHINI, 1988.

(4)  Stellungnahme des EWSA „Universitäten für Europa“; ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 48.

(5)  Stellungnahme des EWSA „Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen“; ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 74.

(6)  Stellungnahme des EWSA „Europäisches Luftverkehrssystem“; ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 50.

(7)  Stellungnahme des EWSA „Stärkung des europäischen Modells der Nahrungsmittelerzeugung“; ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 1.

(8)  Stellungnahme des EWSA „Die GAP bis 2020“, ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 63.

(9)  Stellungnahme des EWSA „Private und öffentliche Investitionen“, ABl. C 52 vom 17.2.2011, S. 59.

(10)  Stellungnahme des EWSA „Der EU-Haushalt und seine künftige Finanzierung“, ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 113.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/81


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Strategie der Europäischen Union für den Donauraum“

KOM(2010) 715 endg.

2011/C 248/14

Mitberichterstatter: Etele BARÁTH

Mitberichterstatter: Mihai MANOLIU

Die Europäische Kommission beschloss am 8. Dezember 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Strategie der Europäischen Union für den Donauraum

KOM(2010) 715 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 31. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 16. Juni) mit 150 gegen 3 Stimmen bei 20 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss befürwortet klar und entschieden die neue Vision der Europäischen Union im Bereich der makroregionalen Politik und in diesem Rahmen die Schaffung der europäischen Strategie für den Donauraum. Der EWSA wünscht als institutioneller Vertreter der europäischen organisierten Zivilgesellschaft ausdrücklich, bei der Ausarbeitung und Durchführung dieser Strategie eine entscheidende Rolle zu spielen, insbesondere über das im Aktionsplan dieser Strategie vorgesehene Forum für die Zivilgesellschaft.

1.2

Das Interesse des EWSA an den Donauraum betreffenden Fragen und sein diesbezügliches Engagement sind nicht neueren Datums. Im Laufe der vergangenen Jahre hat er zahlreiche Dokumente verabschiedet, in denen u.a. die Bereiche Verkehr und Umweltschutz untersucht werden, darunter die Stellungnahme ECO/277, in der eindeutig die Gründe aufgezeigt werden, aus denen der EWSA die Festlegung einer Strategie für den Donauraum als wichtig erachtet.

1.3

Der EWSA ist der Ansicht, dass im Rahmen der Ausarbeitung einer Donaustrategie die Rolle dieses Flusses bei der Herausbildung eines gemeinsamen Bewusstseins und einer gemeinsamen Identität im Donauraum berücksichtigt werden muss, für die der interkulturelle Dialog und die Solidarität eine zentrale Rolle spielen. Hierbei handelt es sich um einen regionalen Beitrag zur Herausbildung eines gemeinsamen europäischen Bewusstseins.

1.4

Der EWSA hofft, dass seine Empfehlungen angemessen das Engagement des Ausschusses und der organisierten Zivilgesellschaft für die Strategie sowie deren nachdrückliche Unterstützung widerspiegeln. Der EWSA rechnet damit, dass diese Strategie dank ihrer Umsetzung und der Umsetzung des Aktionsplans mit Hilfe des eingerichteten Governance-Systems einen wirklichen Beitrag zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen aller im Donauraum lebenden Bürger - den er als Spiegel Europas betrachtet - und zur Überbrückung der Kluft zwischen dieser Region und den am weitesten entwickelten Regionen der Union leisten wird. Der Ausschuss erwartet ferner, dass bei der Umsetzung der Strategie Umweltschutzanforderungen berücksichtigt, die Erhaltung der Wasservorkommen gewährleistet und die Wahrung der kulturellen Werte der Region gestärkt werden.

1.5

Im Zuge der letzten Erweiterungen hat sich der geographische Mittelpunkt der Europäischen Union deutlich nach Ostern verschoben, während ihr wirtschaftlicher Schwerpunkt in Westeuropa verblieben ist. Der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt, ein entscheidendes Element der Donaustrategie und des Aktionsplans, sowie die deren praktischer Umsetzung zugrundeliegenden Ideen stellen einen angemessenen Beitrag zur Beseitigung dieses Ungleichgewichts dar. Nach Ansicht des EWSA kann der neue makroregionale Ansatz als Vorbild für mehrere andere Regionen der EU dienen.

1.6

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Strategie und der Aktionsplan offen, integrativ und für gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Aspekte empfänglich sind und die Empfehlungen der Organisationen der Zivilgesellschaft gut widerspiegeln. Die Strategie wird dann erfolgreich sein, wenn ein integrierter und nachhaltiger Ansatz systematisch einem branchenspezifischen Ansatz vorgezogen wird. Der EWSA empfiehlt, mit Hilfe der Strategie zu einer Vorzugsbehandlung der am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen beizutragen, und die Instrumente zur Armutsbekämpfung einzuschließen.

1.7

Nach Meinung des EWSA spiegelt die Strategie die derzeit auf makroregionaler Ebene entwickelte neue Politik der EU wider und trägt somit zur Harmonisierung der in der Region bereits auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Bereichen vorhandenen Systeme für die Zusammenarbeit sowie zur Verbesserung ihrer Wirksamkeit und zur Beseitigung von Überschneidungen bei. Es gilt jedoch, für eine stärkere Kohärenz mit den neuen Leitlinien für die Kohäsionspolitik zu sorgen.

1.8

Nach Ansicht des EWSA muss die zur Umsetzung der Strategie dienende Governance-Struktur klar, einfach und transparent sein und es ermöglichen, erfolgreich auf die Ziele hinzuarbeiten. Der EWSA will die vom Lissabon-Vertrag gebotenen Möglichkeiten in vollem Umfang ausschöpfen, indem er systematisch das Prinzip der partizipativen Demokratie anwendet und wirksam an der Umsetzung des Aktionsplans mitwirkt. Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg sind die aktive Einbeziehung und Beteiligung sämtlicher Akteure, indem das Prinzip der Partnerschaft angewandt, für Flexibilität gesorgt und eine regelmäßige Überprüfung vorgenommen wird. In diesem Zusammenhang zeigt sich der EWSA erfreut über die Einrichtung eines Forums der Zivilgesellschaft für den Donauraum, bei dem der Aktionsplan eine Schlüsselrolle für den Ausschuss und der ihm entsprechenden nationalen Einrichtungen vorsieht.

1.9

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Strategie als Politik für die makroregionale Entwicklung einen reellen Beitrag dazu leisten wird, den europäischen Integrationsprozess - insbesondere im Rahmen der Europa-2020-Strategie (für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum) - zu vertiefen und für eine Annäherung der sechs Drittstaaten der Region an die Europäische Union zu sorgen, indem diese bei ihren Integrationsbestrebungen unterstützt werden.

1.10

Die Strategie wird von der Kommission ausgearbeitet, wobei dies keinerlei Sonderbehandlung des Donauraums bedeutet, auch wenn sich dadurch Fortschritte bei der makroregionalen Politik der EU erzielen lassen. Folglich darf die Strategie keine Strategie der „drei Nein“ sein, und zwar ungeachtet des Folgenden:

1)

in der Strategie ist keine neue europäische Förderung vorgesehen. Die Region könnte sich auf internationaler, nationaler oder regionaler Ebene oder über die Privatwirtschaft zusätzliche Mittel verschaffen, doch sollte mehr Gewicht auf eine bessere Nutzung der vorhandenen Mittel gelegt werden;

2)

nach Ansicht des EWSA stellt die Koordinierung der finanziellen Mittel mit Blick auf die festgelegten Ziele eine Verbesserung dar, dank derer sich mit Hilfe einer ständigen Überprüfung neue Finanzierungsmöglichkeiten erschließen lassen werden. Er empfiehlt die Einrichtung eines Sonderfonds;

3)

die Strategie erfordert keine Änderungen an den Rechtsvorschriften der Union, da die Union diese für die 27 Mitgliedstaaten und nicht nur für eine Makroregion erlässt; der EWSA empfiehlt jedoch, wie er bereits in seiner Stellungnahme zur Strategie für den Ostseeraum betont hat (1), die Ressourcen der Dienststellen der Kommission aufzustocken, um für eine angemessene Begleitung der Strategie zu sorgen;

4)

der EWSA ist der Auffassung, dass ggf. von den an der verstärkten territorialen Zusammenarbeit beteiligten Akteuren auf regionaler, nationaler oder anderer Ebene Änderungen vorgenommen werden könnten, um bestimmten spezifischen Zielen Rechnung zu tragen;

5)

mit der Strategie werden keine zusätzlichen Strukturen geschaffen, die sich grundlegend von den aus der aktuellen Praxis der EU bekannten unterscheiden. Die Strategie wird mit Hilfe von für die Region neuen Koordinierungsstrukturen und von vorhandenen Organismen umgesetzt, deren Komplementarität optimiert werden sollte;

6)

nach Ansicht des EWSA sollten die bürokratischen Auflagen auf ein Mindestmaß reduziert werden; es sollte eine Forschergruppe eingesetzt werden, um die Fragen im Zusammenhang mit der Donaustrategie wissenschaftlich zu analysieren und zu untersuchen. Es sollte ein Stipendiensystem geschaffen werden, um die Arbeiten dieser Gruppe zu unterstützen.

2.   Strategie der Europäischen Union für den Donauraum: allgemeine Bemerkungen

2.1

Der EWSA stellt fest, dass sich der Donauraum grundlegend verändert hat, da dessen Flusseinzugsgebiet nun weitgehend zur Europäischen Union gehört. Es bieten sich neue Möglichkeiten, die Herausforderungen der Region in Angriff zu nehmen und ihr Potenzial zu nutzen. Verbesserungen sind möglich bei der sozioökonomischen Entwicklung, der Wettbewerbsfähigkeit, dem Umweltmanagement und dem energieeffizienten Wachstum; Sicherheitsmaßnahmen und Verkehrskorridore können modernisiert werden.

2.2

Mit der Strategie (2) wird mittels Schaffung eines langfristigen Kooperationsrahmens für eine große Bandbreite von Aspekten darauf abgezielt, die soziale Kultur und das enorme wirtschaftliche Potenzial der Region zu entwickeln und deren ökologische Bedingungen zu verbessern.

2.3

Nach Ansicht des EWSA wird die Strategie der Europäischen Union für den Donauraum eine bedeutende Rolle bei der Verbesserung des nachhaltigen Verkehrs, bei der Vernetzung der Energiesysteme, beim Umweltschutz, beim Erhalt der Wasserressourcen und bei der Verbesserung des Geschäftsklimas spielen. Darüber hinaus schließt sich der EWSA der Auffassung an, dass diese Strategie einen neuen Mehrwert erbringen wird, indem mit ihr die Kohärenz verschiedener politischer Bereiche und eine verstärkte Koordination zwischen den teilnehmenden Staaten sichergestellt sowie ein integriertes Konzept für die nachhaltige Entwicklung definiert wird.

2.4

Der Donauraum ist ein historischer, sozialer, wirtschaftlicher und funktioneller Raum, der durch sein Flusseinzugsgebiet definiert wird. Durch die Strategie wird dieser Ansatz erweitert, sodass die Prioritäten auf integrierte Weise geprüft werden. In diesem Zusammenhang muss eine Verbindung zwischen den in der Region lebenden Menschen und ihren Meinungen und Bedürfnissen hergestellt werden. Bis zum Jahr 2020 sollten alle Bürgerinnen und Bürger des Donauraums in ihrer eigenen Heimatregion über bessere Aussichten auf höhere Bildung, Beschäftigung und Wohlstand verfügen. Dank der Tatsache, dass das nachhaltige Wachstum im Mittelpunkt steht, kann die Strategie für den Donauraum in großem Maße zur Verwirklichung der Ziele der Europa-2020-Strategie beitragen.

2.5

Der EWSA hofft angesichts fehlender neuer finanzieller Mittel für die Umsetzung der Strategie, dass im Laufe des gegenwärtigen Planungszeitraums die Wirkung der der Region zur Verfügung gestellten 100 Mrd. Euro durch eine größere Harmonisierung der von den Staaten des Donauraums verabschiedeten Programme erhöht werden kann. Zu diesem Zweck ist es wichtig, Synergien und Kompromisse zu ermitteln, z. B. die Entwicklung von hochmodernen Umwelttechnologien, die Zusammenarbeit mit Blick auf eine bessere Abstimmung der politischen Maßnahmen und ihrer Finanzierung, um die Wirkung vor Ort zu verbessern, sowie die Überwindung der Fragmentierung.

2.6

Der EWSA macht auf die Notwendigkeit aufmerksam, in Anbetracht der aktuellen wirtschaftlichen Möglichkeiten im Sinne einer Rationalisierung eine begrenzte Zahl von Projekten auszuwählen und eine Kosten-Nutzen-Analyse vorzunehmen. Es sind konkrete Maßnahmen und die Gewährung angemessener Garantien unter den Akteuren erforderlich, um die wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit zu stärken.

2.7

Der EWSA schließt die Möglichkeit nicht aus, dass die vorgesehene Donaustrategie auf politischer Ebene in Form eines Prozesses umgesetzt werden muss, der im Verlauf der Anwendung Flexibilität und eine regelmäßige Überprüfung und ggf. die Zuweisung zusätzlicher finanzieller und weiterer Ressourcen voraussetzt.

2.8

Nach dem Dafürhalten des EWSA steht die Übereinstimmung mit den Rechtsvorschriften und der Politik der Union im Mittelpunkt der Strategie. Es gilt, sich ständig darum zu bemühen, Umsetzungslücken zu schließen und praktische oder organisatorische Schwierigkeiten zu beseitigen, die dazu führen, dass zu wenige Ergebnisse erzielt werden. Eine „Stärkung der territorialen Dimension“ wird zu einer koordinierten Zusammenarbeit, zur Herausbildung von Organisationsgrundsätzen für die Koordinierung der Rechtsvorschriften der Union sowie der Umsetzung der rechtlichen Verpflichtungen der EU beitragen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Binnenmarkt und der Umwelt. Sie könnte der Vorläufer zur Herausbildung einer „verstärkten Zusammenarbeit“ sein.

2.9

Der EWSA plädiert dafür, die Strategie der Europäischen Union für den Donauraum zu einem Teil der Europa-2020-Strategie zu machen, die das wichtigste Engagement der Union für ein innovatives, nachhaltiges und integratives Wachstum darstellt. Dies könnte als Präzedenzfall für andere regionale Strategien dienen.

2.10

Der EWSA pflichtet der Kommission bei, dass die regionale Zusammenarbeit im Donauraum zur Verwirklichung der fünf Hauptziele der Europa-2020-Strategie beiträgt, nämlich: Förderung der Beschäftigung, Verbesserung der Bedingungen für Innovation, Forschung und Entwicklung, insbesondere derjenigen für die Verbreitung neuer Technologien, Verwirklichung der Klima- und Energieziele, Verbesserung des Bildungsniveaus und Förderung der sozialen Eingliederung, insbesondere durch die Verringerung der Armut und die Bewältigung der Herausforderung der Überalterung der Bevölkerung.

3.   Strategie der Europäischen Union für den Donauraum: Botschaften, Herausforderungen und Probleme

3.1

Die in Mitteleuropa 1989 eingetretenen dramatischen Veränderungen haben zu einem grundlegenden Wandel der Gesellschaft geführt. Besondere Aufmerksamkeit ist erforderlich, da der Donauraum neben Mitgliedstaaten, die der EU zu unterschiedlichen Zeitpunkten beigetreten sind, auch Länder umfasst, die die EU-Mitgliedschaft beantragt haben, sowie andere Drittländer. Der EWSA stellt fest, dass die meisten Länder vor ähnlichen Problemen stehen, aber über unterschiedliche Ressourcen verfügen. Der Erfahrungsaustausch über gute Verwaltungspraxis ist wichtig, damit die Region sicherer und stärker in die EU integriert wird.

3.2

Der EWSA schenkt dem den Donauraum prägenden extremen wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Gefälle große Aufmerksamkeit. Die Unterschiede zwischen den wettbewerbsfähigsten und den ärmsten Gebieten, den Gebieten mit den am besten ausgebildeten Arbeitskräften und den Gebieten mit den am wenigsten gebildeten Bevölkerungsgruppen sowie dem höchsten und dem niedrigsten Lebensstandard sind frappierend.

3.3

Die durch die Europa-2020-Strategie eröffneten Möglichkeiten sollten in besonderem Maße den Randgruppen (insbesondere den Roma, deren Mehrheit in der Region lebt) zugute kommen. Unterschiede in Bildung und Beschäftigung können überwunden werden. Der Donauraum kann zu einem sicheren Gebiet werden, in dem angemessen mit Konflikten, Ausgrenzung und Kriminalität umgegangen wird. In der Region muss eine Verbindung zwischen den Menschen und ihren Ideen und Bedürfnissen hergestellt werden. In seiner Stellungnahme zum Thema „Strategie der Europäischen Union für den Donauraum“ (3) hat der EWSA bereits die Einrichtung eines „Donaugeschäftsforums (Danube Business Forum)“ empfohlen, dem die sozialen und wirtschaftlichen Akteure angehören würden und das ein wichtiges Instrument für die Zusammenarbeit und den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt des Donauraums werden könnte.

3.4

Der Vorschlag für eine Strategie der Europäischen Union für den Donauraum enthält folgende Hauptbotschaften:

1)

die Strategie ist eine positive Initiative mit dem Ziel, die Region stärker in die EU zu integrieren;

2)

die Mitgliedstaaten und die Drittstaaten (einschließlich der (potenziellen) Kandidatenländer) engagieren sich auf höchster politischer Ebene;

3)

der Kommission kommt bei der Vereinfachung dieses Prozesses eine Schlüsselrolle zu;

4)

die vorhandenen finanziellen Mittel für die Verwirklichung der Ziele der Strategie lassen sich wesentlich besser einsetzen;

5)

die Strategie muss zu sichtbaren und konkreten Verbesserungen für die Region und ihre Einwohner führen.

3.5

Der EWSA ist damit einverstanden, dass mit der Strategie für den Donauraum prioritär die größten Herausforderungen angegangen werden müssen:

—   Mobilität: Die Donau selbst ist ein wichtiger TEN-V-Korridor, dessen Kapazität jedoch bei weitem nicht ausgeschöpft wird. Insofern muss weiter überprüft werden, wie die bekannten physischen und organisatorischen (Belgrader Konvention) Engpässe auf der Donau überwunden werden können, wobei nationale Beschlüsse und die die Notwendigkeiten des Umwelt- und Naturschutzes Berücksichtigung finden müssen. Außerdem besteht Bedarf an größerer Intermodalität und einer Modernisierung und Erweiterung der Infrastruktur von Transportknotenpunkten wie etwa Binnenhäfen. Nach Ansicht des EWSA ist es äußerst wichtig, die Mobilitätsbedingungen der Arbeitnehmer zu verbessern und den freien Dienstleistungsverkehr zu garantieren.

—   Energie: Die Preise in dieser Region sind relativ hoch. Zersplitterte Märkte führen zu höheren Kosten und einem eingeschränkten Wettbewerb. Die Energieversorgungssicherheit in der Region ist niedrig. Eine größere Effizienz ist wesentlich, insbesondere durch Energieeinsparungen und mehr erneuerbare Energiequellen. Die Staaten, die an der Umsetzung der Strategie beteiligt sind, müssen bei der Konzipierung der europäischen Nachbarschaftspolitik für die/zur Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit als Motor fungieren.

—   Umwelt: Der Donauraum ist ein wichtiges internationales Flusseinzugsgebiet und ein wichtiger Umweltkorridor. Daher ist ein regionales und internationales Konzept für die Bereiche Naturschutz, Raumplanung und Wasserwirtschaft erforderlich. Es gilt, die sozialen Erfordernisse zu beachten und auch die Auswirkungen von Verkehrsverbindungen, touristischen Bauprojekten oder neuen Energieerzeugungsanlagen auf die Umwelt zu prüfen. Das Programm Natura 2000 sollte berücksichtigt werden. Nachhaltiger Wassersport und Wassertourismus sowie die Sensibilisierung für Wasser- und Naturschutz sind wichtige Elemente bei der Planung grüner Korridore. Die Risiken sind groß: Wo Überschwemmungen, Dürren und Umweltverschmutzung kleinen und großen Ausmaßes durch Industrieanlagen an der Tagesordnung sind, erfordern Katastrophenvorbeugung und Katastrophenschutz sowie eine wirksame Reaktion eine enge Zusammenarbeit und intensiven Informationsaustausch.

—   Sozioökonomische Faktoren: Der Donauraum zeichnet sich durch eine große kulturelle und sprachliche Vielfalt aus, aber auch durch sehr große sozioökonomische Unterschiede. Ihm gehören sowohl einige der leistungsfähigsten, als auch der ärmsten Regionen der Union an. Häufig mangelt es an Beziehungen und einer effizienten Zusammenarbeit finanzieller wie institutioneller Art. Der Anteil hochqualifizierter Personen liegt unter dem Durchschnitt der EU-27. Die Mobilität ist hoch und die am besten qualifizierten Personen ziehen auf der Suche nach besseren sozioökonomischen Bedingungen oft aus der Region weg.

—   Sicherheit, schwere und organisierte Kriminalität: Es gibt nach wie vor erhebliche Probleme. Menschenhandel und Warenschmuggel sind in einigen Ländern besonders problematisch. Korruption unterminiert das Vertrauen der Öffentlichkeit und behindert die wirtschaftliche und soziale Entwicklung.

3.6

Auch der EWSA ist der Auffassung, dass sich dem Donauraum außergewöhnliche Perspektiven bieten, in punkto Handelsbeziehungen, Entwicklungskapazitäten des Bildungssystems, das sich auf solide kommunale Strukturen stützt und den künftigen Erfordernissen des Arbeitsmarkts entsprechen wird, oder auch Nutzung des enormen Potenzials der Region an kulturellen, ethnischen und sozialen Reichtümern. An den Ufern keines anderen Flusses liegen so viele herrliche Hauptstädte. Die Region verfügt über ein außerordentliches Potenzial im Bereich Tourismus, was auch für die Nutzung erneuerbarer Energieträger gilt. Aufgrund der großen Naturschätze des Donauraums kommt dem Kriterium der Nachhaltigkeit bei allen Entwicklungsprojekten Priorität zu.

3.7

Maßnahmen in den Bereichen Innovation, Tourismus, Informationsgesellschaft, institutionelle Kapazitäten und Randgruppen sind gemeinsam durchzuführen, um positive Ergebnisse zu zeitigen. Der EWSA ist überzeugt, dass für eine wirksame Verbesserung Kommunikation und Transparenz sowie eine koordinierte Planung, Finanzierung und Umsetzung erforderlich sind.

3.8

Das extern bedingte Marktversagen ist frappierend und schlägt sich in fehlenden grenzübergreifenden Investitionen nieder. Es sollten Großprojekte konzipiert und nachhaltig und effizient umgesetzt sowie Kosten und Gewinne geteilt werden.

3.9

Geeignete, interne bzw. mit anderen Regionen Europas oder der Welt verknüpfte Netze sind für den Donauraum von grundlegender Bedeutung, wobei kein Gebiet ausgegrenzt werden darf. Durch den Ausbau der Nord-Süd-Achsen der EU und den Zugang von Binnenstaaten zum Mittelmeerraum wird die Zusammenarbeit zwischen EU- und Drittstaaten vertieft werden. Der EWSA bekräftigt frühere Aufforderungen in diesem Sinne seitens der gemeinsamen beratenden Ausschüsse mit Rumänien (2002, 2005) und der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien (2010). Energie- und Verkehrsinfrastruktur weisen aufgrund unzureichender Kapazität und Qualität bzw. unzulänglicher Instandhaltung noch zahlreiche Lücken und Mängel auf. Der EWSA bittet die Kommission und die nationalen Stellen, unter Hinzuziehung der Zivilgesellschaft Vorschläge zu erarbeiten, wie diese Mängel und Lücken aufgelöst bzw. geschlossen werden können. Auch die Verbindungen zwischen den Menschen müssen enger gestaltet werden, z.B. dank Kultur und Tourismus.

3.10

Umweltressourcen werden grenzüberschreitend genutzt und gehen über die nationalen Interessen der Länder der Region hinaus. Durch die Tätigkeit des Menschen geraten diese Ressourcen immer mehr unter Druck. Zusammenarbeit ist hier von grundlegender Bedeutung, sonst werden die von den einen erzielten positiven Ergebnisse schnell durch die Nachlässigkeit der anderen zunichte gemacht. Deshalb sollten die bestehenden Zusammenarbeitsstrukturen ausgebaut werden.

3.11

In der Strategie (4) wird ein Aktionsplan  (5) vorgeschlagen, für den ein starkes Engagement der Länder und der interessierten Kreise erforderlich ist. Der Schwerpunkt liegt auf einem integrierten, lokal ausgerichteten Konzept, das sich auf gute Verbindungen zwischen städtischen und ländlichen Gebieten stützt. Ein gleichberechtigter Zugang zu Infrastrukturen und Diensten sowie vergleichbare Lebensbedingungen werden den territorialen Zusammenhalt fördern, der ein ausdrückliches Ziel der EU ist.

3.12

Im Rahmen des Aktionsplans hat die Kommission gemeinsam mit den Mitgliedstaaten, Regionen und anderen interessierten Kreisen Projekte (6) festgelegt, die unmittelbare und sichtbare Vorteile für die Menschen in der Region aufweisen und Auswirkungen auf die Makro-Region (oder einen großen Teil davon) haben.

3.13

Nach Meinung des EWSA sollten die Projekte folglich die nachhaltige Entwicklung fördern und mehrere Regionen bzw. Länder abdecken; sie sollten Kohärenz und Synergien vereinen, um für alle Seiten vorteilhafte Lösungen zu schaffen, und realistisch sein (technisch machbar und mit glaubwürdiger Finanzierung).

3.14

Der EWSA stimmt der Aufteilung der wichtigsten Themenbereiche auf vier Säulen nach Schwerpunktbereichen und verschiedenen Aktionsbereichen zu:

1)

Anbindung des Donauraums durch die Verbesserung der Mobilität und der Multimodalität, der Binnenwasserstraßen sowie der Straßen-, Schienen- und Luftverbindungen, um die Nutzung nachhaltiger Energien, Kultur und Tourismus sowie die zwischenmenschlichen Kontakte zu fördern;

2)

Umweltschutz im Donauraum durch Wiederherstellung und Sicherstellung der Qualität der Gewässer, Management von Umweltrisiken und Erhaltung der biologischen Vielfalt, der Landschaften sowie der Qualität von Luft und Boden;

3)

Aufbau von Wohlstand im Donauraum durch die Entwicklung der Wissensgesellschaft mit Hilfe von Forschung, Bildung und Informationstechnologien durch die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, einschließlich Clusterbildung, sowie durch Investitionen in Menschen und Qualifikationen;

4)

Stärkung des Donauraums durch die Verbesserung der institutionellen Kapazität und Zusammenarbeit mit Hilfe koordinierter Aktionen zur Förderung der Sicherheit und zur Bekämpfung der schweren und organisierten Kriminalität.

3.15

Nach Auffassung des EWSA muss der sich weiter entwickelnde und prosperierende Donauraum unter Anführung makroregionaler Interessen vor allem einen koordinierten Ausbau der Verkehrsachsen Nord-Süd und der mangelhaften Energieversorgungsinfrastruktur sowie Verbundnetze anstreben. Der EWSA plädiert im Falle eines Ausbaus des Flusses selbst als Verkehrsachse für die Einführung eines Sanierungsplans des Einzugsgebiets und der Zuflüsse der Donau. In der Strategie ist zudem vorgesehen, die KMU der Länder des Donauraums zu vernetzen und mit Hilfe einer ökologischen Wirtschaft, Forschernetzwerken und des Bildungswesens, einschließlich der beruflichen Bildung, die Hindernisse für die Zusammenarbeit abzubauen.

4.   Fragen im Zusammenhang mit Finanzierung, EU-Rechtsvorschriften und institutionellen Strukturen der EU

4.1

Mit der Strategie wird versucht, die vorhandenen Möglichkeiten bestmöglich zu nutzen, indem die unternommenen Anstrengungen, insbesondere politische Maßnahmen und Finanzmittel, miteinander in Einklang gebracht werden. Die Maßnahmen ergänzen sich. Alle interessierten Kreise müssen Verantwortung übernehmen. Eine Stärkung der territorialen Dimension wird zu einem integrierten Konzept führen, eine bessere Koordinierung sektorbezogener politischer Maßnahmen fördern und zur Einrichtung und Entwicklung europäischer Verbünde für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) auf makroregionaler Ebene beitragen.

4.2

Nach Meinung des EWSA kann die hochrangige Arbeitsgruppe, die zur Definition der Vorschriften und zur Bestimmung der wichtigsten Fragen eingesetzt werden wird, zusammen mit den für die verschiedenen Themen Verantwortlichen diese neue Form der institutionalisierten Zusammenarbeit auf makroregionaler Ebene verkörpern, die sich u.U. auch durch seitens der Region vorgenommene rechtliche Änderungen unterstützen lässt.

4.3

Die Strategie wird durch die Mobilisierung und gegebenenfalls Anpassung vorhandener Finanzmittel an ihre Ziele und im Einklang mit Gesamtkonzeptionen umgesetzt. Tatsächlich stehen über zahlreiche EU-Programme bereits große Summen zur Verfügung (z.B. 100 Mrd. EUR aus den Strukturfonds 2007-2013 sowie beträchtliche Mittel im Rahmen des Instruments für Heranführungshilfe (IPA) und des Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments (ENPI)).

4.4

Der EWSA weist darauf hin, dass die Mittel nur auf der Grundlage einer Kosten-Nutzen-Analyse neu zugeteilt werden sollten, die nachweist, dass die aus anderen Bereichen abgezogenen Mittel der ganzen Gesellschaft zugute kommen.

4.5

Es sollte darauf geachtet werden, Zuschüsse und Darlehen zu kombinieren. Auch nationale, regionale und lokale Ressourcen stehen zur Verfügung. In der Tat sind der Zugang zu und die Kombination von Finanzierungsmöglichkeiten, insbesondere aus öffentlichen und privaten Quellen unterhalb der EU-Ebene, wesentlich. Neben der Gewährleistung einer effizienteren Nutzung der Ressourcen sollte bei der Finanzierung auch auf Risikostreuung geachtet werden.

4.6

Nach Ansicht des EWSA ist es Aufgabe der Kommission, die Aktionsbereiche zu koordinieren. Die Mitgliedstaaten sollten dann nach Konsultation der Kommission sowie der einschlägigen regionalen Agenturen und Einrichtungen beauftragt werden, die jeweiligen prioritären Bereiche zu koordinieren.

4.7

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass die Umsetzung der Maßnahmen allen obliegt (der nationalen, regionalen, kommunalen und lokalen Ebene). Die Maßnahmen (mit deren Hilfe die zu erreichenden Ziele festgelegt werden) müssen die Form konkreter (detaillierter, von einem Projektleiter gemanagter, einem Zeitplan unterliegender und mit einer Finanzierung ausgestatteter) Projekte annehmen.

4.8

Der EWSA hofft, dass die Strategie einen nachhaltigen Rahmen für eine strategische Integration und eine kohärente Entwicklung des Donauraums bieten wird, indem prioritäre Aktionen festgelegt werden, die darauf abzielen, den Donauraum zu einer Region der EU zu machen, die auf das 21. Jahrhundert ausgerichtet ist. Dazu sind erhebliche Anstrengungen erforderlich sowie ausreichende Informations- und Werbemaßnahmen, damit die Ziele der Strategie der breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht und in die Praxis umgesetzt werden.

Brüssel, den 16. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 339/07 vom 14.12.2010, S. 29.

(2)  „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Strategie der Europäischen Union für den Donauraum“ (SEK(2010) 1489 endg., SEK(2010) 1490 endg., SEK(2010) 1491 endg.).

(3)  ABl. C 48/02 vom 15.2.2011, S. 2.

(4)  Die Strategie der Europäischen Union für den Donauraum wird in zwei Dokumenten dargelegt: (1) einer Mitteilung der Europäischen Kommission an die anderen europäischen Institutionen und (2) dem Aktionsplan, der dieser Mitteilung beigefügt ist und sie ergänzt.

(5)  „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Strategie der Europäischen Union für den Donauraum“ (KOM(2010) 715 endg., SEK(2010) 1489 endg., SEK(2010) 1490 endg., SEK(2010) 1491 endg.).

(6)  Propagierung der Idee eines zivilgesellschaftlichen Forums des Donauraums, das einen Grundpfeiler der Mitwirkung der Zivilgesellschaft an der Strategie darstellen würde.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Der folgende abgelehnte Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 3.8 —   Änderungsantrag 4 von Lutz RIBBE

Ziffer 3.8 wird wie folgt geändert

Das extern bedingte Marktversagen ist frappierend und schlägt sich in fehlenden grenzübergreifenden Investitionen nieder.

Begründung

1.)

Im Donauraum sind sicher zwingend auch „Großprojekte“ notwendig, wobei unklar bleibt, was unter Großprojekten verstanden wird. Da in Ziffer 3.9 ein solches Groß-, besser Mammutprojekt aber konkret erwähnt wird, sollte der EWSA vorsichtig sein und nicht den Eindruck erwecken, dass er der Meinung ist, dass gerade Großprojekte, wie in 3.9. beschrieben, die Entwicklung voran treiben

Vielmehr sind auch und gerade kleine und mittlere Projekte geeignet, neue Arbeitsplätze zu schaffen, bei gleichzeitiger Einhaltung von Nachhaltigkeits- und Umweltzielen. So sind in Bulgarien momentan Begrenzungen beim Ausbau regenerativer Energien eingeführt worden, weil die Energienetze nicht ausreichen. Investitionen zur Umsetzung neuer Energiekonzepte können hilfreich sein, sind hier aber vermutlich nicht gemeint

2.)

Es ist unklar, was die Mitberichterstatter sagen wollen, wenn sie schreiben, dass „Kosten und Gewinne“ geteilt werden sollen. Wer soll die Kosten der Großprojekte tragen, wer will wie die Gewinne teilen?

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

68

Nein-Stimmen

:

71

Stimmenthaltungen

:

26


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/87


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Intelligente Regulierung in der Europäischen Union“

KOM(2010) 543 endg.

2011/C 248/15

Berichterstatter: Jorge PEGADO LIZ

Die Europäische Kommission beschloss am 8. Oktober 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Intelligente Regulierung in der Europäischen Union

KOM(2010) 543 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 26. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 128 gegen 1 Stimme bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt das nicht nur in dieser Mitteilung, sondern auch in den Dokumenten zur Europa-2020-Strategie und zur Binnenmarktakte zum Ausdruck kommende Interesse der Kommission, die politischen, legislativen und administrativen Verfahren für eine rationellere und angemessenere Erarbeitung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu vertiefen. Dieser Prozess soll sich über den gesamten Rechtsetzungsprozess erstrecken, vom Entwurf bis zur Anwendung durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten und zur abschließenden Bewertung der tatsächlichen Einhaltung durch diejenigen, für die die Rechtsvorschriften letztlich bestimmt sind.

1.2

Der Ausschuss kann jedoch nicht nachvollziehen, warum der etablierte Begriff „bessere Rechtsetzung“ durch eine neue Bezeichnung ersetzt werden musste – außer wenn es sich bei der Mitteilung um ein rein politisches Dokument handeln sollte.

1.3

Der Ausschuss stellt mit Befriedigung fest, dass auf diesem Gebiet mehrere seiner Vorschläge aus früheren Stellungnahmen aufgegriffen wurden. Er befürwortet daher die bekundete Absicht, die Kontrolle von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zu stärken, strengere Folgenabschätzungen durchzuführen, die Ex-post-Bewertung stärker strategisch auszurichten und zu integrieren, für eine aktivere Einbindung der Mitgliedstaaten und der nationalen Parlamente mit mehr Verantwortung zu sorgen und die Staaten und Parlamente bei ihrer eigenen Tätigkeit im Rechtsetzungsprozess zu unterstützen. Besonders zu begrüßen ist der Vorschlag für eine stärkere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und anderer Akteure an der Ausarbeitung, Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts, was sich konkret in längeren Fristen für öffentliche Konsultationen und in der Vereinfachung und wirksameren Gestaltung der Vertragsverletzungsverfahren niederschlägt.

1.4

Nach Ansicht des Ausschusses bleibt die Mitteilung jedoch hinter den Erwartungen zurück und trägt somit nicht ausreichend zur Konkretisierung der Rechtsetzungsaspekte für die Umsetzung der Europa-2020-Strategie oder zur Anwendung der vorrangigen Maßnahmen der Binnenmarktakte bei.

1.5

Der EWSA hält es für unverzichtbar, dass sich an die Mitteilung ein Aktionsprogramm anschließt, in dem Ziele festgelegt, Maßnahmen konkretisiert, Instrumente genannt, Folgen abgeschätzt, Optionen definiert und Kosten-Nutzen-Analysen aufgestellt werden. Dies sollte im Vorfeld ausführlich mit der Zivilgesellschaft auf europäischer, einzelstaatlicher, regionaler und lokaler Ebene diskutiert werden.

1.6

Der Ausschuss ruft die Kommission daher auf, in den Folgemaßnahmen zu dieser Mitteilung den in dieser Stellungnahme genannten allgemeinen Ausrichtungen und Standpunkten, die der Ausschuss bereits seit Jahren vertritt, besonders Rechnung zu tragen.

1.7

Nach Auffassung des EWSA sollten insbesondere solche Aspekte besser definiert werden wie die Art und Weise der Durchführung von Ex-ante-Folgenabschätzungen durch alle für die Umsetzung zuständigen EU-Institutionen, die Art und Zusammensetzung des für die Kontrolle der Folgenabschätzungen zuständigen Gremiums, die dabei verwendeten Parameter, insbesondere wenn es um Auswirkungen auf die Grundrechte geht, und die Frage, wie und mit welchen neuen Mitteln für mehr Transparenz gesorgt werden soll. Des Weiteren sollten der Finanzsektor und die Bereiche Gesundheit und soziale Sicherheit im Rahmen einer eingehenderen sektorspezifischen Prüfung genauer untersucht werden, und die Prioritätskriterien, Mechanismen zur Bewertung und Prüfung von Beschwerden, spezielle Instrumente zur amtlichen Aufdeckung von Verstößen, Maßnahmen zur Verbesserung der Funktionsweise der nationalen Gerichte sowie weitere Instrumente besser dargelegt werden.

1.8

Der Ausschuss vertritt abschließend die Ansicht, dass die Kommission mehrere wichtige Aspekte außer Acht gelassen hat, und fordert sie auf, diese angemessen zu erwägen und ausdrücklich zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere für die Kriterien und Parameter zur Bewertung der Qualität der Rechtsvorschriften, konkrete Maßnahmen zur Rechtsvereinfachung, das unerklärliche Fehlen einer klaren Entscheidung für das Instrument „Verordnung“, insbesondere zur Herbeiführung einer vollständigen Harmonisierung in Bereichen, die die Vollendung des Binnenmarktes betreffen, das unverzeihliche Fehlen eines Verweises auf optionale Regelungen und auf die Rolle der Selbst- und Koregulierung, und die überraschende Tatsache, dass auch keinerlei Verbindung zu den sehr wichtigen Arbeiten im Zusammenhang mit dem „gemeinsamen Referenzrahmen“ und den jüngsten Vorschlägen zur stärkeren Harmonisierung des europäischen Vertragsrechts hergestellt wird.

1.9

Besondere Schwachpunkte der Mitteilung sind nach Ansicht des EWSA die Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung des EU-Rechts. Der Ausschuss ersucht daher die Kommission, stärker auf die Ursprünge und Hauptgründe für die allgemein unzulängliche Durchführung des EU-Besitzstands einzugehen, die Jahr um Jahr in den Berichten über die Anwendung des Gemeinschaftsrechts festgestellt wird, und die zahlreichen Beiträge und Empfehlungen angemessen zu berücksichtigen, die der EWSA in mehreren einschlägigen Stellungnahmen beigesteuert hat. Die Kommission sollte zudem systematisch prüfen, welche Maßnahmen für eine grundlegende Änderung der derzeitigen Situation unverzichtbar sind.

2.   Einleitung: Begriff und Hintergrund

2.1

Gemäß der hier geprüften Mitteilung ist unter „intelligenter Regulierung“ eine Regulierung zu verstehen:

die den gesamten politischen Entscheidungsprozess vom Entwurf eines Rechtsakts bis zur Umsetzung, Durchsetzung, Bewertung und Überarbeitung betrifft;

die nach wie vor eine gemeinsame Aufgabe der Mitgliedstaaten und der europäischen Organe ist;

bei der die Ansichten der von der Regulierung am stärksten Betroffenen entscheidend sind, weshalb Bürger und Interessengruppen verstärkt einbezogen werden müssen.

2.2

Wie der Vertreter der Kommission in den Vorbereitungssitzungen für diese EWSA-Stellungnahme wiederholt und nachdrücklich betont hat, handelt es sich nach Ansicht der Kommission um ein rein politisches Dokument und nicht um ein technisches. Deshalb wird man darin auch vergeblich nach einer echten Begriffsbestimmung für „intelligente Regulierung“ suchen.

2.3

Die jetzige Initiative für „intelligente Regulierung“ ist jedoch die Nachfolgerin der Strategie für „bessere Rechtsetzung“, auf die die Institutionen der EU im Allgemeinen und die Kommission im Besonderen in den letzten zehn Jahren viel Mühe verwandt haben, und zwar mit großem Erfolg, wie der EWSA, der diese Bemühungen stets unterstützt und angeregt hat, in mehreren Stellungnahmen klar aufgezeigt hat (1).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Angesichts der derzeitigen Situation des EU-Rechts sind eingehende Überlegungen über dessen Konzipierung, Ausarbeitung, Umsetzung und Anwendung notwendig. Solche Überlegungen sollten auch bezüglich der Überprüfung und Vereinfachung der Rechtsvorschriften angestellt werden.

3.2

Nach Auffassung des EWSA sollte dieses Thema unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft eingehend diskutiert werden, nicht nur weil sich die EU-Rechtsvorschriften auf die Zivilgesellschaft auswirken, sondern auch weil ihre Mitwirkung entscheidend zur angestrebten Verbesserung des geltenden Rechtsrahmens beitragen kann.

3.3

Vor diesem Hintergrund wird die Mitteilung, die ja lediglich ein rein politisches Dokument ist, nicht den Erfordernissen gerecht. Das heißt, sie beinhaltet zu viele gute Vorsätze und Absichten und zu wenige konkrete Maßnahmen und wirksame Instrumente.

3.4

Generell muss der Vorschlag aufgrund seiner rein politischen Natur durch ein konkretes Programm vervollständigt werden, in dem Ziele festgelegt, Maßnahmen konkretisiert, Instrumente genannt und Folgen abgeschätzt werden. Darin sollten auch Optionen definiert werden und ein Kosten-Nutzen-Verhältnis aufgestellt werden.

3.5

Der Ausschuss begrüßt die in der Mitteilung vorgenommene Analyse und vorgeschlagenen Ziele nachdrücklich. Er kann nicht nachvollziehen, warum die „bessere Rechtsetzung“ nun in „intelligente Regulierung“ umbenannt wird - außer wenn es sich dabei um ein rein politisches Instrument handeln sollte.

3.6

In diesem Zusammenhang hält es der Ausschuss für zweckmäßig, seine Standpunkte auf diesem Gebiet zu bekräftigen:

a)

striktere Anwendung der Grundsätze der besseren Rechtsetzung;

b)

Transparenz in allen Phasen der Gestaltung und Erarbeitung der Rechtsvorschriften;

c)

bessere Auswahl der Rechtsinstrumente, einschließlich Selbstregulierungs- und Koregulierungsmechanismen;

d)

Entwicklung eines Systems der planmäßigeren Begleitung der Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht;

e)

dabei dürfen die neue Rolle und die größeren Befugnisse nicht vergessen werden, die der Vertrag von Lissabon den nationalen Parlamenten zuweist;

f)

wichtig ist auch, dass die Kommission häufiger auf Mitteilungen zur Auslegung der Rechtsvorschriften zurückgreift;

g)

notwendig sind außerdem größere Anstrengungen zur Vereinfachung und Kodifizierung der Rechtsvorschriften.

4.   Besondere Bemerkungen

A.   Begrüßenswerte Aspekte

4.1

Bei der Einzelbetrachtung sind mehrere in der Mitteilung enthaltene positive Aspekte zu nennen, die der Ausschuss begrüßt und unterstützt.

4.2

Dazu gehören sicherlich die Vorschläge, die Einhaltung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit genauer zu prüfen, die Qualität der Rechtstexte zu verbessern und strengere Folgenabschätzungen vorzunehmen.

4.3

Zu begrüßen ist auch, dass die Programme zur Vereinfachung der Rechtsvorschriften und zur Verringerung der unnötigen Verwaltungslasten um mindestens 25 % fortgeführt werden sollen.

4.4

Befürwortet wird auch die Idee einer stärker strategisch ausgerichteten und integrierten Ex-post-Evaluierung, bei der nicht nur die bestehenden Rechtsvorschriften, sondern auch alle relevanten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen berücksichtigt werden und die nicht nur fallweise und vereinzelt für die jeweilige Rechtsvorschrift erfolgen soll.

4.5

Besonders zu begrüßen sind alle Initiativen, mit denen die Mitgliedstaaten zur Übernahme von Eigenverantwortung im Rechtsetzungsprozess angeregt werden, z.B. indem die nationalen Parlamente im Rahmen der ihnen durch den AEUV (insbesondere durch die Artikel 8 bis 13) übertragenen neuen Zuständigkeiten in die Ausarbeitung der Rechtstexte einbezogen werden.

4.6

Der Ausschuss begrüßt deshalb, dass sich die Kommission nicht nur bereit erklärt, die verschiedenen Organe und Institutionen der Mitgliedstaaten, die an der Umsetzung und Anwendung des EU-Rechts beteiligt sind, zu unterstützen, sondern auch die Beteiligung der Bürger und anderer Interessengruppen an den Diskussionen sicherzustellen, die während der Ausarbeitung, Anwendung und Umsetzung von EU-Rechtstexten in einzelstaatliches Recht in den einzelnen Mitgliedstaaten geführt werden müssen.

4.7

Der Ausschuss begrüßt insbesondere die Entschlossenheit der Kommission, die Vertragsverletzungsverfahren schneller zu bearbeiten und dabei Prioritäten festzulegen, ohne die Rolle von SOLVIT zu schmälern, angesichts der Notwendigkeit eines neuen Impulses und einer größeren Verbreitung und Glaubwürdigkeit bei den betroffenen Interessengruppen.

4.8

Die Verlängerung der Dauer öffentlicher Konsultationen von acht auf zwölf Wochen findet den besonderen Zuspruch des Ausschusses. Dadurch soll „den Bürgern und Interessengruppen ein stärkeres Gewicht zukommen“, was nach Auffassung des EWSA in unmittelbarem Zusammenhang mit Artikel 11 des Vertrags von Lissabon steht, da dies ein Beitrag zur partizipativen Demokratie in der EU ist.

B.   Verbesserungswürdige Aspekte

4.9

Der Ausschuss versteht die Gründe, die die Kommission zur Auffassung bewogen haben, dass der zuständige interne Ausschuss weiterhin die Kontrolle über die Folgenabschätzungen ausüben sollte. Dabei dürfen aber auch nicht die in der öffentlichen Anhörung vorgebrachten Argumente übersehen werden, wonach diese Kontrolle durch ein unabhängiges externes Gremium erfolgen sollte. Eine Alternative wäre die Einrichtung eines internen Gremiums mit Vertretern aller Mitgliedstaaten. Auf jeden Fall muss das Mandat des Ausschusses für Folgenabschätzung (Impact Assessment Board – IAB) durch einen Mechanismus gestärkt werden, der die verpflichtende Durchführung von Folgenabschätzungen vorsieht. Zudem hat der IAB nicht die Befugnis, den Bericht über die Folgenabschätzung und de facto die betroffene Rechtsvorschrift zurückzustellen, wenn sich aus der Prüfung des Berichts größere Defizite bei der durchgeführten Untersuchung ergeben. Diese Fragen sollten eingehender erörtert werden, da es sich dabei laut Kommission um „ein entscheidendes Element dieses Systems“ handelt.

4.10

Überdies gelangte der Europäische Rechnungshof in einem unlängst erstellten Bericht zu dem Schluss, dass die Europäische Kommission es nicht für notwendig hält, wie von Interessengruppen immer wieder verlangt, Anhörungen zu Entwürfen von Folgenabschätzungen durchzuführen. Solche Konsultationen würden aus der Sicht der Interessengruppen zur Verbesserung des Verfahrens beitragen und sicherstellen, dass das bestmögliche Produkt in das Mitgesetzgebungsverfahren zwischen Rat und Parlament einfließt.

4.11

Als besonderen Schwachpunkt des EU-Systems der Folgenabschätzungen stellt der Rechnungshof in diesem Bericht heraus, dass weder das Europäische Parlament noch der Rat systematisch Folgenabschätzungen für die von ihnen vorgenommenen Änderungen erstellen. Der EWSA ersucht den Rat und das Europäische Parlament, benutzerfreundliche Zusammenfassungen ihrer eigenen Folgenabschätzungen zu erstellen und zu veröffentlichen sowie die Interinstitutionelle Vereinbarung (2) einzuhalten.

4.12

Aus der Mitteilung wird nicht deutlich, welche Parameter in den von ihr angestrebten Folgenabschätzungen verwendet werden sollen (3).

4.13

Im Hinblick auf die größere Transparenz des Systems sollte die Kommission ausführen, wie und mit welchen neuen Mitteln sie für mehr Transparenz sorgen will.

4.14

Im Hinblick auf die Abschätzung der Folgen für die Grundrechte sollte die Kommission ebenfalls die Art und Weise und die Mittel dieser Bewertung konkretisieren.

4.15

Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Notwendigkeit deutlich gemacht, die Rolle der Regulierung und Reglementierung der Marktteilnehmer zu überdenken. Die neue Strategie für eine intelligente Regulierung sollte deshalb sektoriell und sektorübergreifend angegangen werden, wobei die Kommission in ihrer Mitteilung u.a. dem Finanzsektor sowie den Bereichen Gesundheit und soziale Sicherheit besondere Aufmerksamkeit hätte widmen sollen.

4.16

Im Hinblick auf die Ausübung ihrer Befugnisse bei Vertragsverletzungen sollte die Kommission insbesondere „die zur vertragsgetreuen, wirksamen und unparteiischen Erfüllung dieser Aufgabe notwendigen intern-organisatorischen Maßnahmen“ (4) näher ausführen, wie z.B. Prioritätskriterien, Mechanismen zur Bewertung und Prüfung von Beschwerden, spezielle Instrumente zur offiziellen Ermittlung von Verstößen, Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit der nationalen Gerichte sowie weitere Instrumente (SOLVIT, FIN-NET, ECC-NET sowie alternative und außergerichtliche Mittel).

C.   Fehlende Aspekte

4.17

Im Hinblick auf die Verbesserung der Qualität der Gesetzestexte fehlen konkrete Angaben zu Kriterien und Parametern, die diesbezüglich angelegt werden könnten.

4.18

Bezüglich der Vereinfachung der Rechtsvorschriften fehlen Hinweise auf konkrete Maßnahmen, die offensichtlich erscheinen, wie zum Beispiel:

Bemühungen um eine wirkliche und gründliche Kodifizierung, nicht nur eine bloße Kompilation von Rechtstexten;

überprüfte und geänderte Rechtstexte sollten vollständig veröffentlicht werden und nicht nur als bloße „Kollage“ mit Verweisen auf die Artikel verschiedener Rechtstexte.

4.19

Es fehlt eine klare Entscheidung für das Instrument „Verordnung“ anstatt des Einsatzes von Richtlinien, obgleich dies in der Europa-2020-Strategie propagiert wird.

4.20

Zudem wird keinerlei Verbindung hergestellt zu den sehr wichtigen Arbeiten im Zusammenhang mit dem „gemeinsamen Referenzrahmen“ und den jüngsten Vorschlägen der Kommission zur stärkeren Harmonisierung des europäischen Vertragsrechts, über die derzeit diskutiert wird (5).

4.21

In der Mitteilung wird nicht auf die Notwendigkeit hingewiesen, ein optionales „28. Regime“ im Rahmen der Initiativen zur besseren Rechtsetzung systematisch in Erwägung zu ziehen (6).

4.22

Ebenso verwundert es, dass die Mitteilung kein Wort zur Rolle der Selbst- und Koregulierung enthält und auch keines zur notwendigen vorherigen Erwägung bezüglich dessen, was sinnvollerweise durch nichtzwingendes Recht („soft law“) statt durch Regulierung gelöst werden könnte.

4.23

Besondere Schwachpunkte der Mitteilung sind die Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung des EU-Rechts. Hier möchte der EWSA auf seine einschlägigen Stellungnahmen (7) sowie auf die Schlussfolgerungen der Konferenz hinweisen, die unlängst vom belgischen Ratsvorsitz zu diesem Thema veranstaltet wurde (8).

4.24

In diesem Zusammenhang besonders relevant ist der Bericht der Kommission vom 1. Oktober 2010 über die Anwendung des Gemeinschaftsrechts (9). Darin wird zwar eine begrenzte Verbesserung gegenüber dem Vorjahr festgestellt, aber auch ein durchschnittlicher Anteil der Verspätungen bei der Umsetzung von 51 % und eine durchschnittliche Bearbeitungsdauer der Vertragsverletzungsverfahren von 24 Monaten.

4.25

In diesem Zusammenhang geht die Kommission nicht auf die Hauptgründe für die allgemein unzulängliche Durchführung des EU-Besitzstands in den Mitgliedstaaten ein, zu denen sich der EWSA vielfach geäußert hat, was sich nur durch die Tatsache erklären lässt, dass es sich um ein rein politisches Dokument handelt. Aufgrund ihrer Bedeutung im Zusammenhang mit der intelligenten Regulierung sollen jedoch folgende Aspekte genannt werden:

a)

die falsche oder unvollständige Aufnahme der EU-Rechtsvorschriften in das nationale Recht, wo sie oftmals als unerwünscht und als unvereinbar mit den nationalen Sitten, Gebräuchen und Interessen betrachtet werden;

b)

der Mangel an politischem Willen der nationalen Behörden, Vorschriften einzuhalten oder durchzusetzen, die als „Fremdkörper“ in ihrem Regelwerk und ihrer nationalen Tradition betrachtet werden;

c)

die anhaltende Tendenz, die Vorschriften der Gemeinschaft durch neue, unnötige Rechtsmechanismen zu ergänzen und nur gewisse Teile der EU-Rechtsvorschriften auszuwählen („gold-plating“ und „cherry-picking“), weshalb es empfehlenswert erscheint, die Mitgliedstaaten - über die von diesen vorzulegenden „Übereinstimmungstabellen“ hinaus, auf die die Interinstitutionelle Vereinbarung (10) und die Rahmenvereinbarung zwischen der Kommission und dem Europäischen Parlament Bezug nehmen – darum zu ersuchen anzugeben, welche Bestimmungen ihrer nationalen Umsetzungsgesetze eine Überregulierung darstellen;

d)

eine gewisse mangelnde fachliche Vorbereitung der nationalen Behörden, hinsichtlich des Verständnisses und der Durchsetzung des EU-Rechts;

e)

die mitunter unzulängliche fachliche Ausbildung einiger Richter und anderer Akteure des Justizwesens (Rechtsanwälte, Justizbeamte usw.) in Fragen des EU-Rechts, was in einigen Fällen zu einer falschen Anwendung oder Nichtanwendung der in das nationale Recht umgesetzten Vorschriften oder zur Anwendung „paralleler“ nationaler Rechtsvorschriften führt;

f)

die Notwendigkeit, die Maßnahmen der Verwaltungszusammenarbeit auszuweiten, um die Organisationen der Zivilgesellschaft, insbesondere die Verbraucherschutzverbände, einzubeziehen;

g)

die mangelnde Voraussicht und unzureichende Harmonisierung des Sanktionsrechts, das den Mitgliedstaaten überlassen wird.

4.26

Die Kommission müsste auch im Hinblick auf die Information und Schulung der nationalen Behörden, insbesondere derer mit unmittelbaren Zuständigkeiten im Bereich der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten, vorrangig Maßnahmen ergreifen. In diesem Bereich muss die Information und Schulung der Richter auf den verschiedenen Ebenen, die letztlich für die Auslegung und Anwendung des Rechts in konkreten Streitfällen zuständig sind, verstärkt werden.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe insbesondere ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 107 und ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 26.

(2)  ABl. C 321 vom 31.12.2003, S. 1.

(3)  ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 23.

(4)  KOM(2002) 725 endg.

(5)  Grünbuch der Kommission - Optionen für die Einführung eines Europäischen Vertragsrechts für Verbraucher und Unternehmen (KOM(2010) 348 endg.).

(6)  Siehe die Initiativstellungnahme des EWSA zum „28. Regime“ (ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 26) sowie die in wichtigen Berichten jüngster Zeit enthaltenen Verweise auf dieses Verfahren, so im Monti-Bericht „Eine neue Strategie für den Binnenmarkt“ vom 9.5.2010, im Bericht von Felipe González „Projekt Europa 2030“ vom 8.5.2010 oder im Lamassoure-Bericht „Der Bürger und die Anwendung des Gemeinschaftsrechts“ vom 8.6.2008.

(7)  ABl. C 24 vom 31.1.2006, S. 52 und ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 100.

(8)  Hochrangige Konferenz „Tag der Durchsetzung des Europäischen Verbraucherschutzrechts“ (European consumer protection enforcement day) (Brüssel, 22.9.2010).

(9)  KOM(2010) 538 endg., „27. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts (2009)“.

(10)  ABl. C 321 vom 31.12.2003, S. 1.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/92


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Grünbuch — Weiteres Vorgehen im Bereich der Abschlussprüfung: Lehren aus der Krise“

KOM(2010) 561 endg.

2011/C 248/16

Berichterstatter: Peter MORGAN

Die Europäische Kommission beschloss am 13. Oktober 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Grünbuch — Weiteres Vorgehen im Bereich der Abschlussprüfung: Lehren aus der Krise

KOM(2010) 561 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 26. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 16. Juni) mit 153 Stimmen gegen 1 Stimme bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Überblick

1.1.1   Das Grünbuch trägt den Titel „Weiteres Vorgehen im Bereich der Abschlussprüfung: Lehren aus der Krise“. Nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) ist das Ausmaß der Krise darauf zurückzuführen, dass sich keiner der Beteiligten korrekt verhalten hat, was am meisten auf die Verwaltungsräte vieler Banken zutrifft. Angesichts ihres Versagens hätten Regulierungsbehörden, Aufsichtsbehörden und gesetzliche Abschlussprüfer die Probleme erkennen müssen, die in die Krise geführt haben, was ihnen jedoch nicht gelungen ist. Die EU hat sich bereits mit der Frage der Regulierung und Überwachung befasst. Die Rolle der gesetzlichen Abschlussprüfer (im Folgenden: Abschlussprüfer) muss unbedingt überprüft werden, wie dies der EWSA auch in seiner Stellungnahme von 2009 zum de-Larosière-Bericht (1) gefordert hat. Das Grünbuch geht über die Rolle der Abschlussprüfung hinaus und befasst sich mit Bereichen wie Governance, Beaufsichtigung und Konzentration. Der EWSA stimmt zu, dass diese Fragen für die Leistung der Abschlussprüfer während der Krise von Belang sind.

1.1.2   Im Grünbuch werden 38 Fragen formuliert. Drei Fragen betreffen sehr strittige Themen: Frage 18 (obligatorische Ausschreibung), Frage 28 (gemeinsame Prüfung) und Frage 32 (Rückgängigmachung der Konsolidierung auf die „Big Four“). Nach Auffassung des EWSA sollte jedoch unabhängig von der Politik, die die Kommission jeweils zu verfolgen gedenkt, eine gründliche Folgenabschätzung durchgeführt werden, bevor eine Entscheidung getroffen wird.

1.2   Rolle des Abschlussprüfers

1.2.1   Die Rolle des Abschlussprüfers ist in der derzeitigen Form und Praxis nicht zweckmäßig. Der Prüfungs- oder Aufsichtsausschuss ist der wesentliche Gegenspieler des Abschlussprüfers. Die Stärkung der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers und die Reform des Prüfungsausschusses sind die zentralen Vorschläge dieser Stellungnahme.

1.2.2   Der EWSA schlägt vor, die EU-Richtlinie zur Abschlussprüfung von 2006 zu ändern und die Rolle des Prüfungs- oder Aufsichtsausschusses folgendermaßen aufzuwerten:

die Mehrheit der Mitglieder dieses Ausschusses und der Vorsitzende müssen unabhängig sein;

die Kompetenz einiger Mitglieder des Ausschusses muss den branchenspezifischen Eigenschaften des jeweiligen Unternehmens entsprechen, insbesondere im Bankenwesen;

der Prüfungs- oder Aufsichtsausschuss sollte nicht nur überwachen, sondern auch tatsächlich für die Integrität des Auditverfahrens Verantwortung übernehmen.

1.2.3   Der EWSA spricht sich bei Aufsichtssystemen im Rahmen des dualen Systems (Vorstand und Aufsichtsrat) für eine Stärkung der Beziehung zwischen Abschlussprüfer und Aufsichtsrat aus.

1.2.4   Generell sieht der EWSA folgende Verbesserungsbedarfe:

Schärfung des Aufgabenprofils und der damit verbundenen Verantwortlichkeit des Abschlussprüfers;

Verbesserung der Klarheit und Verständlichkeit der Berichterstattung des Abschlussprüfers insbesondere hinsichtlich bestehender Risiken;

Weiterentwicklung der Abschlussprüfung in Richtung einer Unternehmensprüfung mittels eines durch das Verwaltungs- oder Aufsichtsorgan vorbereiteten Kommentars der Untersuchung der Tragfähigkeit des Geschäftsmodells, der finanziellen Solidität, der Erkennbarkeit und des Umgangs mit Unternehmensrisiken;

Stärkung der unterjährigen Kommunikation zwischen dem Abschlussprüfer und den Kontrollgremien des Unternehmens schon im Verlauf der Prüfung.

1.3   Governance und Unabhängigkeit

Der EWSA spricht sich nicht für den obligatorischen Prüferwechsel aus, ist aber der Auffassung, dass die dauerhafte Bestellung von Abschlussprüfern begrenzt werden sollte durch eine obligatorische Neuausschreibung des Prüfungsauftrags alle sechs bis acht Jahre. Die Erbringung von Nichtprüfungsleistungen durch Abschlussprüfer sollte mit ausdrücklicher Genehmigung des Prüfungs- oder Aufsichtsausschusses streng überwacht und risikospezifische Beratungs- und betriebsinterne Prüfungsleistungen sollten bei größeren Unternehmen aufgrund des damit verbundenen Interessenkonflikts untersagt werden. Die Erbringung von Steuerberatungsleistungen sollte beschränkt werden, wenn ein wesentlicher Interessenkonflikt entstehen könnte.

1.4   Beaufsichtigung

Regelmäßige Sitzungen von Abschlussprüfern und Aufsichtsbehörden sollten gesetzlich vorgeschrieben werden. Dies ist bei Banken von systemischer Bedeutung besonders wichtig.

1.5   Konzentration

Die Konzentration des Marktes für Prüfungen von Großunternehmen auf die „Big-Four“-Prüfungsgesellschaften stellt ein Oligopol dar. Bis zur Auflösung von Arthur Anderson waren es fünf, ein weiterer Konkurs hätte unvorstellbare Auswirkungen. Der EWSA empfiehlt kurzfristige Maßnahmen im Zuge von „Auslaufplänen“ (living wills), um die Auswirkungen eines möglichen Konkurses eines dieser Unternehmen abzufedern. Mit Blick auf langfristigere Maßnahmen ist der Ausschuss der Auffassung, dass eine Neuordnung des Marktes notwendig ist. Er empfiehlt diesbezüglich, dass sich die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten – angefangen bei Deutschland, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich – mit dem Oligopol befassen, und dass die Europäische Kommission eine umfassende Untersuchung über die Einführung eines Systems obligatorischer gemeinsamer Prüfungen veranlasst.

1.6   Europäischer Markt

Die Schaffung eines europäischen Markts für gesetzliche Abschlussprüfungen ist ein wünschenswertes Ziel, aber steuerliche, rechtliche und sprachliche Unterschiede stellen nach wie vor erhebliche Hindernisse dar. Rationalisierungen sind in gewissem Maße möglich.

1.7   Vereinfachung für KMU

KMU kommen in allen Formen und Größen vor. Bei Auslandsinvestitionen und/oder wichtigen Bankgeschäften und/oder Bedenken wichtiger Kunden und Zulieferer in Bezug auf die Integrität ihrer Wertschöpfungskette sind allzu große Vereinfachungen nur schwer vorstellbar.

1.8   Internationale Zusammenarbeit

Nach Auffassung des EWSA muss diese verpflichtend sein. Diesbezüglich sind Initiativen im Zusammenhang mit dem Rat für Finanzstabilität und den G-20 erforderlich. Unmittelbare Maßnahmen sollten indes zusammen mit den USA und den G-8 ergriffen werden.

1.9   Corporate Governance

Der EWSA bedauert, dass das Grünbuch zum weiteren Vorgehen im Bereich der Abschlussprüfung kein Kapitel über die Corporate Governance enthält. Soeben wurde ein neues Grünbuch zur Corporate Governance (KOM(2011) 164 endg.) veröffentlicht. Die Europäische Kommission muss unbedingt ihre Vorschläge zur Corporate Governance mit ihren Vorschlägen zur Abschlussprüfung abstimmen. Diese Themen sind in Bezug auf die Richtigkeit der Rechnungslegung der Unternehmen unauflösbar miteinander verbunden.

2.   Einleitung

2.1   Nach den geltenden Rechtsvorschriften ist der Vorstand verantwortlich für die Buchführung des Unternehmens und die Vermittlung eines der tatsächlichen Geschäftslage entsprechenden Bildes. Großunternehmen müssen die internationalen Rechnungslegungsvorschriften (International Financial Reporting Standards - IFRS) einhalten. Den Abschlussprüfern obliegt es, ein Urteil darüber abzugeben, ob vom Vorstand ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild vermittelt wurde und ob die IFRS beachtet wurden. Der Bericht des Vorstands und das Prüfungsurteil werden im Geschäftsbericht und im Jahresabschluss der Unternehmen veröffentlicht. Insbesondere die vor der Krise von Bankvorständen erstellten Geschäftsberichte enthielten keine Warnungen vor der bevorstehenden Krise, während die Abschlussprüfer diesen Berichten weiterhin ein einwandfreies Prüfungsurteil ausstellten. Die wichtigste Lehre aus der Krise lautet, dass sich dieser Zustand ändern muss. Nach Ansicht des EWSA muss bei dieser Änderung der Prüfungs- oder Aufsichtsausschuss sowie die Wahrung der Unabhängigkeit der Abschlussprüfer im Mittelpunkt stehen.

2.2   Der aktuelle Stand kommt in den Erklärungen der Vorstände und Abschlussprüfer zum Ausdruck, die in Geschäftsberichten veröffentlicht werden. Der Ausschuss hat auch in Frankreich, Deutschland, Spanien und dem Vereinigten Königreich erstellte Abschlussberichte untersucht. In allen Mitgliedstaaten liegt das Hauptaugenmerk der Abschlussprüfer, die überall in der EU auf die Übereinstimmung mit den IFRS verweisen, auf Verfahrensfragen. Es wird nun befürchtet, dass mit dem pauschalen Hinweis auf die Übereinstimmung mit den IFRS einige Aspekte der Rechnungslegung und Prüfung unter den Tisch fallen.

2.3   Betrachtet man die Testate einer der „Big-Four“-Gesellschaften in Deutschland zu den Jahresabschlüssen 2009 der Deutschen Bank, der Munich Re und von BMW, weisen sie - in der englischen Übersetzung - einen nahezu identischen Wortlaut auf, obwohl die drei Unternehmen sehr unterschiedlich sind. Durch diese Tendenz zur Verwendung eines Standardtextes bleibt der eigentliche Inhalt der Prüfung verborgen. Die Abschlussprüfer bestätigen, dass geeignete Verfahren eingehalten wurden, doch gibt es keine Hinweise zu der konkreten Prüfung. Nach Auffassung des EWSA sind Änderungen erforderlich, um sicherzustellen, dass in den Prüfungsvermerken dem Inhalt ein größerer Stellenwert als der Form eingeräumt wird.

2.4   Externe Rechnungsprüfer stützen sich großteils auf die internen Kontrollsysteme ihrer Kunden, und ein Großteil der Prüfung konzentriert sich auf die Integrität dieser Systeme. Größere Unternehmen verfügen über eine von der Buchhaltung unabhängige Innenrevision mit unmittelbarer Verantwortung gegenüber dem Prüfungsausschuss. Der Innenrevision obliegt die Überprüfung der Integrität interner Kontrollsysteme. Einige Unternehmen beauftragen Dritte mit der Innenrevision. Dabei sollten diese Fremdleistungen nie von den bestellten externen Abschlussprüfungsgesellschaften erbracht werden. Aufgabe des Prüfungs- bzw. Aufsichtsausschusses ist es, die Unabhängigkeit der Innenrevision und somit die Integrität des Systems interner Kontrollen sicherzustellen.

2.5   Die Abschlussprüfung testiert zwar die im Jahresabschluss enthaltenen Finanzinformationen, doch erfolgt derzeit keine spezifische Beurteilung der vom Unternehmen getroffenen Geschäftsentscheidungen. Eine der Lehren aus dieser Krise besteht darin, dass die Vorstände in ihren Berichten die zugrunde liegenden Verhältnisse darlegen sollten, einschließlich einer Risikobewertung, und dass die Abschlussprüfer diese Aussagen im gewissen Maße bestätigen sollten. Aus diesen Gründen sollten Abschlussprüfer ihre Kunden nicht bezüglich Risikobewertung und Risikomanagement beraten (2).

2.6   Nach der Prüfung der Defizite und Mängel des derzeitigen Systems der Berichterstattung für Anteilseigner und Beteiligte und vor allem in Anbetracht des Schicksals einiger Banken während der Krise gibt es breite Unterstützung für einen Ausbau der Rolle des Prüfungs- bzw. Aufsichtsausschusses. Der britische Financial Reporting Council schlug beispielsweise folgende Grundsätze als Basis für eine Reform des Berichtswesens vor:

Berichte mit höherer Qualität und größerem Aussagewert, besonders zur Geschäftsstrategie und zum Risikomanagement;

breitere Anerkennung der Bedeutung von Prüfungsausschüssen und daher stärkere Betonung ihres Beitrags zur Integrität der Rechnungslegung;

größere Transparenz bei der Art und Weise, wie Prüfungsausschüsse ihren Verpflichtungen in Bezug auf die Integrität des Geschäftsberichts nachkommen, einschließlich Beaufsichtigung der externen Abschlussprüfer;

mehr Informationen über das Prüfungsverfahren sowohl für Prüfungsausschüsse als auch für Anleger sowie eine Erweiterung des Aufgabenbereichs der Prüfer und

besserer Zugriff auf Geschäftsberichte durch Nutzung entsprechender Technologien.

2.7   Der EWSA befürwortet diese Grundsätze, die sich wie folgt auswirken werden:

1.

Vorstände werden eingehender darzulegen haben, was sie unternehmen, um die Zuverlässigkeit der Informationen sicherzustellen, auf denen die Führung eines Unternehmens und die Leitung durch den Vorstand basieren, und dafür zu sorgen, dass sich die Unternehmenstätigkeiten und etwaige damit verbundene Risiken transparenter nachvollziehen lassen.

2.

Gesetzliche Abschlussprüfer werden einen Bericht erstellen müssen, der einen Abschnitt über die Vollständigkeit und Plausibilität des Berichts des Prüfungsausschusses enthält und auf Punkte im Geschäftsbericht hinweist, die nach Auffassung der Prüfer unrichtig oder unvereinbar mit den im Abschluss enthaltenen bzw. im Verlauf der Prüfung gewonnenen Informationen sind.

3.

Die zunehmenden Möglichkeiten von Prüfungs- oder Aufsichtsausschüssen, die Unternehmensleitung und die Abschlussprüfer zur Rechenschaft zu ziehen, sollte durch größere Transparenz in Form ausführlicherer Berichte dieser Ausschüsse gestärkt werden, in denen insbesondere erläutert wird, wie sie ihrer Verantwortlichkeit für die Integrität des Geschäftsberichts und ihren sonstigen Aufgaben, wie z.B. der Beaufsichtigung der externen Abschlussprüfung und der Bestellung der Abschlussprüfer, gerecht geworden sind.

2.8   Die EU-Richtlinie von 2006 über Abschlussprüfungen enthält die folgenden Bestimmungen zu Prüfungsausschüssen:

Jedes Unternehmen von öffentlichem Interesse hat einen Prüfungsausschuss. Der Mitgliedstaat legt fest, ob Prüfungsausschüsse sich aus nicht an der Geschäftsführung beteiligten unabhängigen Mitgliedern des Verwaltungsorgans und/oder des Aufsichtsorgans des geprüften Unternehmens und/oder Mitgliedern zusammensetzen sollen, die durch Mehrheitsentscheidung von der Gesellschafterversammlung des geprüften Unternehmens bestellt werden. Mindestens ein Mitglied des Prüfungsausschusses muss unabhängig sein und über Sachverstand in Rechnungslegung und/oder Abschlussprüfung verfügen.

Unabhängig von der Verantwortung der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans des geprüften Unternehmens oder anderer Mitglieder, die durch Mehrheitsentscheidung von der Gesellschafterversammlung oder Aktionärshauptversammlung des geprüften Unternehmens bestellt werden, besteht die Aufgabe des Prüfungsausschusses unter anderem darin,

1.

den Rechnungslegungsprozess zu überwachen;

2.

die Wirksamkeit des internen Kontrollsystems, gegebenenfalls des internen Revisionssystems, und des Risikomanagementsystems des Unternehmens zu überwachen;

3.

die Abschlussprüfung des Geschäftsberichts und des konsolidierten Abschlusses zu überwachen.

2.8.1   Um den in den Ziffern 2.8 und 2.9 dargelegten Grundsätzen und Vorgaben Wirkung zu verleihen, muss diese Bestimmung bei Beibehaltung der bestehenden Mitbestimmungsregelungen nach Auffassung des EWSA abgeändert werden und die Anforderung enthalten, dass die Mehrheit der Ausschussmitglieder und der Ausschussvorsitzende unabhängig sein sollten.

2.8.2   Die einfache Anforderung „Sachverstand in Rechnungslegung und/oder Abschlussprüfung“ reicht nicht aus. Die Sachkenntnis einiger Mitglieder des Ausschusses muss den branchenspezifischen Merkmalen des betreffenden Unternehmens entsprechen, insbesondere im Bankensektor.

2.8.3   Nach Auffassung des EWSA sollte der Prüfungs- oder Aufsichtsausschuss die Integrität dieser Prozesse nicht nur überwachen, sondern im Einklang mit den in den Ziffern 2.6 und 2.7 dargelegten Grundsätzen und Vorgaben tatsächlich auch die Verantwortung dafür übernehmen.

2.9   Wenn davon auszugehen ist, dass der Vorstand für die Abschlüsse verantwortlich ist, sollte seiner Rolle und Verantwortlichkeit hinsichtlich der Richtigkeit der Abschlüsse Beachtung geschenkt werden. Beispielsweise bescheinigt der Vorstand, dass er alle notwendigen Erkundigungen eingeholt hat, um den Abschluss mit gutem Gewissen vertreten zu können. Kann davon ausgegangen werden, dass Bankvorstände in der Zeit vor der Krise die notwendigen Erkundigungen eingeholt haben? Hatten sie begriffen, welchen Liquiditätsrisiken sie ausgesetzt waren, wie schlecht es um die Qualität ihrer hypothekarisch besicherten Aktiva bestellt war und welche Risiken ihre Darlehen bargen? In der Zukunft werden Banken und andere Unternehmen sicherstellen müssen, dass die für den Vorstand bestellten unabhängigen Mitglieder die geeigneten Qualifikationen und ein besseres Verständnis ihrer Aufgaben und Verantwortlichkeiten haben.

2.10   Die oben in Ziffer 2.6 dargelegten Grundsätze erfordern eine allgemeinere Überprüfung der Corporate Governance, wenn sie erfolgreich umgesetzt werden sollen. Die Schlussfolgerungen aus dem Grünbuch zur Corporate Governance und aus dem Grünbuch zur Abschlussprüfung müssen unbedingt aufeinander abgestimmt werden, um Unstimmigkeiten zwischen ihnen zu vermeiden.

2.11   Kurzum, während der Vorstand dafür verantwortlich ist, dass ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild vermittelt wird, müssen die Abschlussprüfer sicher sein, dass ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild vorgelegt wurde. Haftungsbeschränkung ist ein besonderes Vorrecht von Aktiengesellschaften. Die Abschlussprüfung soll sicherstellen, dass dieses Vorrecht nicht missbraucht wird. Aktionäre, Schuldverschreibungsinhaber, Bankiers und andere Gläubiger tragen ein unmittelbares finanzielles Risiko, und sie sind direkt auf die Richtigkeit des Abschlusses angewiesen. Das Auskommen weiterer Beteiligter - Arbeitnehmer, Kunden oder Lieferanten - hängt davon ab, dass die Unternehmenstätigkeit fortgeführt wird. In der Bankenkrise versagten die Abschlussprüfer ebenso wie andere Verantwortliche. Die Abschlussprüfung kann von der Reform des Finanzsystems und der anderweitig eingeführten Aufsicht nicht gänzlich unberührt bleiben. Das Beibehalten des Status quo ist kein gangbarer Weg.

3.   Fragen

3.1   Einleitung

1)

Möchten Sie allgemein zur Herangehensweise und zu den Zwecken dieses Grünbuchs Stellung nehmen?

Siehe Abschnitt 1 dieser Stellungnahme.

2)

Glauben Sie, dass die gesellschaftliche Funktion der Abschlussprüfung in Bezug auf die Richtigkeit von Abschlüssen genauer definiert werden muss?

Die Richtigkeit der Abschlussprüfung ist die unabdingbare Voraussetzung für eine Gesellschaft, die maßgeblich abhängig ist von der Leistungsfähigkeit von Aktiengesellschaften in einer Marktwirtschaft. Das Überleben und Gedeihen der Unternehmen liegt im öffentlichen Interesse. Es besteht eine komplexe Vielzahl abhängiger Interessen - Aktionäre, Schuldverschreibungsinhaber, Banken und andere Gläubiger, dieauf die Abschlussprüfungen angewiesen sind, um die Sicherheit ihrer Investitionen und Darlehen beurteilen zu können; Arbeitnehmer, die auf die Abschlussprüfungen angewiesen sind, um die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze und Löhne beurteilen zu können; andere Interessenvertreter brauchen die Abschlüsse, um die Solidität des Unternehmens als Arbeitgeber, Lieferant oder Kunde beurteilen zu können; Gebietskörperschaften und nationale Regierungen benötigen die Abschlussprüfungen für die Bemessung des gesellschaftlichen Beitrags und der Steuerkraft eines Unternehmens.

Davon abgesehen sind Banken und andere Kreditinstitute von grundlegender Bedeutung für eine funktionierende Marktwirtschaft. Während der Finanzkrise konnten die Banken ihrer Aufgabe, den Wirtschaftskreislauf mit Geld zu versorgen, nicht nachkommen. Folglich wurde die Richtigkeit ihrer Abschlüsse in der Vorkrisenzeit zu Recht angezweifelt. Den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Abschlüsse sind das Fundament der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Organisation der EU. Unternehmen, die Abschlussprüfungen vorlegen, sind dafür verantwortlich, dass das öffentliche Interesse geschützt wird.

3)

Glauben Sie, dass das allgemeine Niveau der Prüfungsqualität weiter angehoben werden kann?

Ja, Prüfvermerke sind nicht aussagekräftig. Sie spiegeln nicht die Arbeit der Abschlussprüfer wider. Mit zunehmender Verbreitung der IFRS können geprüfte Abschlüsse ebenfalls an Aussagekraft verlieren, insbesondere in Bezug auf Banken.

3.2   Rolle des Abschlussprüfers

4)

Sind Sie der Auffassung, dass Abschlussprüfungen Gewissheit über die finanzielle Solidität von Unternehmen verschaffen sollten? Können Abschlussprüfungen einen solchen Zweck erfüllen?

In ihrer derzeitigen Form können Abschlussprüfungen diesen Zweck nicht erfüllen. Die kontinuierliche finanzielle Solidität eines Unternehmens hängt von der Belastbarkeit seines Geschäftsmodells ab. Das Modell zu prüfen, ist in erster Linie Aufgabe von Instituten und Analysten, nicht die der Abschlussprüfer. Trotzdem sind Änderungen erforderlich. Die Vorstände müssen den tatsächlichen Zustand des Unternehmens transparenter darstellen. Eine externe Bestätigung dieser Darstellung zu geben sollte eine Aufgabe der Abschlussprüfer sein. Dafür benötigen die Prüfer eine branchenspezifische Kenntnis der zugrundeliegenden Risiken, die anscheinend mit zunehmender Komplexität der Aktiva der Banken immer weiter abnahm. In diesem Zusammenhang sollte auch die Bestätigung der Fortführung der Unternehmenstätigkeit erläutert werden.

5)

Sollte die verwendete Prüfungsmethode den Nutzern besser erklärt werden, um Erwartungsinkongruenzen vorzubeugen und die Funktion von Abschlussprüfungen zu präzisieren?

Ja. Abschlussprüfer geben in den Vermerken und Abschlüssen kurze Erklärungen, die sich aber auf das Verfahren beziehen und nichts über ihre Ergebnisse, Bedenken oder Bewertungen aussagen. Das ist nicht nur eine Frage der Erklärungsmethode. Die Vorstandsmitglieder müssen ihre Bewertungen und Entscheidungen erläutern und dann sollte der Abschlussprüfer das Verfahren erläutern, mit dem er zur Auffassung gelangt ist, dass der Abschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild vermittelt. Dabei muss sichergestellt werden, dass Abschlussprüfer nicht wieder zu Sprachschablonen greifen.

6)

Sollte die „berufsübliche Sorgfalt“ verstärkt werden? Wie könnte dies erreicht werden?

Die berufsübliche Sorgfalt lässt sich durch Schulung, Erfahrungen außerhalb der Abschlussprüfung, ein Peer-Review der Prüfungsergebnisse sowie durch Führung der Prüfungspartner verstärken. Darüber hinaus werden die Abschlussprüfer im Rahmen der in den Vorschlägen in Abschnitt 2 geforderten größeren Transparenz gehalten sein, die berufsübliche Sorgfalt strenger als bisher walten zu lassen. Die Einrichtung eines berufsständischen Disziplinarorgans in jedem Mitgliedstaat würde die berufsübliche Sorgfalt erhöhen.

Wahrscheinlich würde die berufsübliche Sorgfalt durch wirtschaftliche Unabhängigkeit weiter verstärkt werden. Das Ausmaß der für Prüfungskunden erbrachten Nichtprüfungsleistungen sollte überprüft und vom Prüfungs- oder Aufsichtsausschuss kritisch bewertet werden, um jeden Interessenkonflikt zwischen der Ausübung berufsüblicher Sorgfalt und der Beibehaltung der Einnahmen durch wichtige Kunden zu beschränken. Ebenso ist es möglich, dass die Sorgfalt verstärkt wird, wenn durch obligatorische Ausschreibungen (Frage 18) die Möglichkeit einer längeren Auftragsvergabe an das jeweilige Prüfungsunternehmen verringert wird.

7)

Sollte die negative Wahrnehmung eingeschränkter Prüfungsvermerke überdacht werden? Wenn ja, wie?

Nein. Anteilseigner und Interessengruppen sollten besorgt sein, wenn der Bericht des Vorstands mit einem eingeschränkten Prüfvermerk versehen werden muss. Größere Transparenz der Berichte des Vorstands und/oder des Prüfungs- bzw. Aufsichtsausschusses können indes den Anteilseignern mehr Klarheit darüber verschaffen, warum ein Abschlussprüfer einen eingeschränkten Prüfvermerk erteilt hat.

Bei Banken kann ein eingeschränkter Prüfungsvermerk zu einer Vertrauenskrise mit möglicherweise systemischen Auswirkungen führen. Deshalb sollten sämtliche Bedenken von Abschlussprüfern so bald wie möglich den Regulierungs- und Aufsichtsbehörden mitgeteilt werden, damit eventuelle Probleme so rasch wie möglich angegangen werden.

8)

Welche zusätzlichen Informationen sollten externe Interessengruppen erhalten und wie?

Abschlussprüfer tragen eine Verantwortung gegenüber den Anteilseignern und in der Folge auch gegenüber den Beschäftigten und anderen Stakeholdern. Sie sind nicht gesondert gegenüber Interessengruppen berichtspflichtig. Das Unternehmen ist für die Informationen verantwortlich, die Interessengruppen erhalten. Wie in Abschnitt 2 erwähnt, sollten die Kontrollgremien des Unternehmens, Anteilseigner, Beschäftigte und andere Stakeholder mehr und transparentere Angaben sowohl vom Vorstand als auch von den Prüfern erhalten.

Der EWSA legt darüber hinaus nahe, dass der Abschlussprüfer in Prüfungsberichten für den Vorstand und Aufsichtsrat zu den festgestellten Risiken klarere Aussagen trifft. Durch den Abschlussprüfer sollten Informationen gegeben werden, mit denen wesentliche, bestandsgefährdende Risiken sichtbarer werden. Die Informationen sollten Bemerkungen zu möglichen Risikoszenarien, möglicher Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeiten enthalten. Die Auswirkungen der Bilanzierungs- und Bewertungsmethoden auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens sollten transparenter dargestellt werden.

9)

Besteht ein angemessener regelmäßiger Dialog zwischen den externen Abschlussprüfern, den internen Prüfern und dem Prüfungsausschuss? Wenn nicht, wie lässt sich die Kommunikation verbessern?

Die Bankenkrise lässt vermuten, dass ein regelmäßiger und angemessener Dialog nicht immer stattgefunden hat, in vielen Fällen war allerdings doch der Fall. Eine stärkere Rolle des Prüfungsausschusses würde zu verbesserter Kommunikation führen.

10)

Sollten Abschlussprüfer Ihrer Auffassung nach Aufgaben im Hinblick darauf übernehmen, die Verlässlichkeit der von den Unternehmen im Bereich CSR ausgewiesenen Informationen zu gewährleisten?

Eventuell, aber nur wenn in der EU eine Übereinkunft über mögliche Rechnungslegungsstandards erzielt worden ist.

11)

Sollte der Abschlussprüfer den Interessengruppen regelmäßiger Informationen zur Verfügung stellen? Sollte darüber hinaus die zeitliche Lücke zwischen dem Jahresende und dem Zeitpunkt des Prüfungsurteils verkleinert werden?

Interessengruppen werden in der Frage 8 erfasst. Die Zeitfrage stellt kein Problem dar.

12)

Welche anderen Maßnahmen könnten in Betracht gezogen werden, um den Wert von Abschlussprüfungen zu erhöhen?

Die Kommission sollte die Auswirkungen, die die Einführung der IFRS - insbesondere in Bezug auf Banken - mit sich bringen, überprüfen. Es besteht die Sorge, dass entscheidende Konzepte wie Vorsicht und konservative Rechnungslegung bei den IFRS durch Verfahren und Übereinstimmung mit den Vorschriften ersetzt wurden. Es gibt Anzeichen dafür, dass IFRS weniger Sicherheit bieten, weil die Möglichkeiten für Abschlussprüfer, vorsichtige Bewertungen auszusprechen, begrenzt sind. IFRS weisen auch spezifische Mängel auf, z.B. kann erwarteten Verlusten nicht Rechnung getragen werden.

Mündliche Aussagen im Rahmen der Untersuchung des House of Lords des britischen Parlaments der Konzentration auf dem Audit-Markt haben ergeben, dass die Schwächen von IFRS in Bezug auf die Prüfung von Banken besonders gravierend sind (3).

International Standards on Auditing (ISA)

13)

Wie stehen Sie zur Einführung der ISA in der EU?

Wird befürwortet. Dabei ist jedoch auf strikte Neutralität gegenüber den einzelstaatlichen Rechtssystemen zu achten.

14)

Sollten die ISA EU-weit verbindlich vorgeschrieben werden? Wenn ja, sollte für die Übernahme das gleiche Verfahren gewählt werden, wie es derzeit bei den International Financial Reporting Standards (IFRS) angewandt wird? Oder sollte angesichts der weitverbreiteten Nutzung der ISA in der EU alternativ dazu ihre Nutzung weiter durch nicht zwingende Rechtsinstrumente (Empfehlung, Verhaltenskodex) gefördert werden?

Ja, möglicherweise durch Rechtsvorschriften.

15)

Sollten die ISA weiter an die Bedürfnisse von KMU und KMP angepasst werden?

Ist nicht notwendig.

3.3   Governance und Unabhängigkeit von Prüfungsgesellschaften

16)

Ist die Tatsache, dass der Prüfer vom geprüften Unternehmen bestellt und vergütet wird, problematisch? Welche alternativen Vereinbarungen würden Sie in diesem Zusammenhang empfehlen?

Es besteht ein potenzieller Konflikt, der aber beherrschbar ist. In Bezug auf die Bestellung und Wiederbestellung von Abschlussprüfern ist größere Transparenz erforderlich, wie in Abschnitt 2 vorgeschlagen wird. Bei einer Bestellung durch das Unternehmen (Prüfungs- oder Aufsichtsausschuss und Anteilseigner) lässt sich ein externer Abschlussprüfer benennen, der die besonderen Anforderungen dieses Unternehmens am besten erfüllen kann, z.B. Kenntnis des Geschäftsbereichs und erforderlicher internationaler Wirkungsbereich.

17)

Wäre die Bestellung durch einen Dritten in bestimmten Fällen gerechtfertigt?

Nicht unter normalen Umständen. Die Frage mag sich indes im Zusammenhang mit systemrelevanten Einrichtungen wie Großbanken stellen. Wenn die Aufsichtsbehörden regelmäßigen Kontakt zu den Abschlussprüfern solcher systemrelevanter Einrichtungen haben und mit deren Leistungen bzw. Unabhängigkeit nicht zufrieden sind, sollten die Aufsichtsbehörden diese Einrichtung zu Änderungen veranlassen können. Dies braucht nur eine letztendliche Entscheidungsbefugnis sein, da ein Unternehmen bei Bedenken der Aufsichtsbehörde die Änderung wahrscheinlich selbst vornehmen dürfte.

18)

Sollten „Daueraufträge“ für Prüfungsgesellschaften zeitlich begrenzt werden? Wenn ja, wie sollte die Höchstdauer eines Prüfungsauftrags aussehen?

Der EWSA möchte zuallererst einen Vorbehalt äußern: jede vorgeschlagene Änderung des gegenwärtigen Zustands sollte Gegenstand einer gründlichen Folgenabschätzung sein.

Die Rotation von Prüfungsteams und leitenden Prüfern und der normale Wechsel von Geschäftsführern, Vorstandsvorsitzenden und Finanzvorständen haben zur Folge, dass es auf der individuellen Ebene einen mehr als ausreichenden Wechsel in den persönlichen Beziehungen gibt. Das Problem betrifft die Beziehungen zwischen Unternehmen: das Bedürfnis der Abschlussprüfungsgesellschaft, ihre Kunden zu halten, trifft auf die Bereitschaft des Kunden, einen Abschlussprüfer zu halten, mit dem er gut zusammenarbeitet. Diese langfristigen Beziehungen können die Unabhängigkeit und die berufsübliche Sorgfalt beeinträchtigen.

Der EWSA spricht sich nicht für die Begrenzung der Vergabe von Prüfungsaufträgen mittels obligatorischem Prüferwechsel aus, aber er empfiehlt für Großunternehmen obligatorische Ausschreibungen der Aufträge für Abschlussprüfungen im Abstand von sechs bis acht Jahren. Die Aufforderung zur Angebotsabgabe sollte zumindest auch einem Unternehmen zugehen, das nicht zu den vier Branchenführern gehört. Dies wird nicht zwingend zum Wechsel der Prüfungsgesellschaft führen, weshalb das Verfahren transparent sein muss. Der Prüfungsausschuss sollte die Grundlagen seiner Ausschreibung und seiner Entscheidung erläutern. Er sollte hierzu auch eine Sitzung mit den wichtigsten Anteilseignern durchführen.

19)

Sollte die Erbringung von Nichtprüfungsleistungen durch Prüfungsgesellschaften verboten werden? Sollte ein solches Verbot für alle Prüfungsgesellschaften und ihre Kunden gelten oder nur für bestimmte Typen von Instituten, wie z.B. systemrelevante Finanzinstitute?

Die Erbringung von Nichtprüfungsleistungen durch Prüfungsgesellschaften für andere Unternehmen als ihre Audit-Kunden sollte nicht beschränkt werden. Erfolgt die Erbringung dieser Leistungen jedoch für Audit-Kunden, so sollte dies nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Prüfungs- oder Aufsichtsausschusses erfolgen. Um die Unabhängigkeit der Abschlussprüfung von Großunternehmen zu fördern, sollten die Abschlussprüfer keine risikospezifische Beratung für den Kunden erbringen, noch sollten dies die internen Prüfer tun. Die Erbringung von Steuerberatungsleistungen sollte beschränkt werden, wenn ein wesentlicher Interessenkonflikt entstehen könnte. Im Allgemeinen betreffen Nichtprüfungsleistungen entweder Beratungsdienste oder Rechnungslegung. Interessenkonflikte in Bezug auf die gesetzliche Abschlussprüfung sind bei der Beratung weniger wahrscheinlich als bei der Rechnungslegung. Die Prüfungsausschüsse sollten für die Genehmigung aller von den Abschlussprüfern erbrachten Nichtprüfungsleistungen zuständig sein und Interessenkonflikte vermeiden. Die Ausschüsse sollten auch den Gesamtwert dieser Nichtprüfungsleistungen überwachen, und diese Zahlen sollten im Geschäftsbericht veröffentlicht werden.

Für KMU, die es in vielen Formen und Größen gibt, könnte ein weniger striktes System angestrebt werden. In vielen Fällen wäre es sinnvoll, wenn die Beratung in Steuer- und Risikofragen durch die Abschlussprüfungsgesellschaft erfolgt.

20)

Sollte die Höchstvergütung, die eine Prüfungsgesellschaft von einem einzigen Kunden erhalten darf, reguliert werden?

Diese Frage kann nur im Zusammenhang mit den Gesamteinnahmen einer jeden Prüfungsgesellschaft auf nationaler Ebene beantwortet werden. Der derzeitige Schwellenwert von 15 % der nationalen Vergütungseinnahmen einer Firma von einem einzigen Kunden, wie er im Ethik-Kodex des IESBA enthalten ist, scheint davon auszugehen, dass die Vergütung für die Prüfung von der Größe und der Komplexität des geprüften Unternehmens abhängig ist. Kunden versuchen mit allen Mitteln, diese Vergütung nach unten zu drücken. An die Prüfungsgesellschaft gezahlte Vergütungen für Nichtprüfungsleistungen sollten gesondert ausgewiesen werden.

21)

Sollten für die Transparenz der Abschlüsse von Prüfungsgesellschaften neue Regeln eingeführt werden?

Ja, dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die „Big Four“-Netzwerke getrennte nationale Firmen umfassen und es sich bei nicht um ein einziges Unternehmen handelt. Prüfungsgesellschaften sollten ihren Jahresabschluss veröffentlichen, genauso wie die von ihnen geprüften Unternehmen.

22)

Welche weiteren Maßnahmen könnten bei der Governance von Prüfungsgesellschaften ins Auge gefasst werden, um die Unabhängigkeit der Prüfer zu erhöhen?

In einigen Ländern geben Abschlussprüfer eine jährliche formale Bestätigung ihrer Unabhängigkeit ab; in einem Mitgliedstaat sind sie an einen Governance-Kodex für Prüfungsgesellschaften gebunden. Entsteht ein Interessenkonflikt, müssen sie sich aus dem einen oder anderen Auftrag zurückziehen. Darüber hinaus sollten Prüfungsgesellschaften unabhängige Vorstandsmitglieder und Berater einstellen.

23)

Sollten alternative Strukturen untersucht werden, um den Prüfungsgesellschaften die Kapitalaufnahme aus externen Quellen zu gestatten?

Die „Limited Liability Partnership“ stellt eine attraktive Rechtsform für Prüfungsgesellschaften dar. Im Vergleich dazu hatte die Struktur einer Aktiengesellschaft von Ratingagenturen zweifellos einen Einfluss auf die katastrophalen Ratingentscheidungen, die zur Finanzkrise führten. Wenn es nicht vor den Gerichten der Mitgliedstaaten mit unbeschränkter Haftung bedroht ist, dürfte sich das Partnerschaftsmodell als hinreichend robust erweisen. Allerdings sollten auch andere Gesellschaftsformen, wenn sie zur Erweiterung des Marktes beitragen, unterstützt werden. Die Haftungsbegrenzung von Prüfungsgesellschaften hätte den doppelten Vorteil, den Zufluss von neuem Kapital zu fördern und mittelgroße Prüfungsgesellschaften dazu bewegen, aggressiver für Aufträge von Großunternehmen zu bieten.

24)

Befürworten Sie die Vorschläge hinsichtlich der Gruppenprüfer? Haben Sie diesbezüglich weitere Anregungen vorzubringen?

Gruppenprüfer sollten selbstverständlich über die Befugnis und den Zugang verfügen, die notwendig sind, damit sie ihren Aufgaben gegenüber den Anteilseignern der Gruppe uneingeschränkt gerecht werden können.

3.4   Beaufsichtigung

25)

Welche Maßnahmen sollten ins Auge gefasst werden, um die Integration und die Zusammenarbeit bei der Beaufsichtigung von Prüfungsgesellschaften weiter zu verbessern?

Fragen wie Standards, Pässe und internationale Netzwerke von Prüfungsgesellschaften haben eine internationale Dimension. Gleichwohl operieren Prüfungsgesellschaften über nationale Einheiten unter der Aufsicht der Mitgliedstaaten. Der EWSA würde ein mit dem neuen EU-Rahmen für Finanzaufsicht verbundenes Kollegium der nationalen Aufsichtsbehörden befürworten.

26)

Wie könnte man eine bessere Konsultation und Kommunikation zwischen dem Prüfer großer börsennotierter Gesellschaften und der jeweils zuständigen Regulierungsbehörde erreichen?

Es gibt bereits bestimmte gesetzliche Anforderungen, auch wenn offensichtlich der Dialog zwischen Abschlussprüfern und Aufsichtsbehörden in den Jahren vor der Krise in einigen Mitgliedstaaten zum Erliegen kam. Der EWSA empfiehlt, dass die neue Europäische Bankaufsichtsbehörde bankenspezifische Anforderungen festlegt. Außerdem sollten die Regulierungsbehörden den Vorstand und dessen Vorsitzenden für die Kommunikation mit ihnen verantwortlich machen, mit Sanktionen für den Fall, dass es Unternehmen versäumen, wichtige Aspekte mitzuteilen.

3.5   Konzentration und Marktstruktur

27)

Könnte von der derzeitigen Konfiguration des Audit-Marktes ein systemrelevantes Risiko ausgehen?

Nach unserer Auffassung besteht die reale Gefahr einer Marktstörung. Der EWSA ist nicht der Auffassung, dass vom Konkurs einer Prüfungsgesellschaft ein unmittelbares systemisches Risiko für den Markt ausgeht. Gleichwohl wäre unter den Aspekten der Unabhängigkeit und des Marktes eine Beherrschung durch lediglich drei Gesellschaften ganz und gar unannehmbar. Die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass das Risikomanagement jede Eventualität berücksichtigen sollte.

28)

Könnte Ihrer Meinung nach die Schaffung obligatorischer Audit-Konsortien unter Einbeziehung mindestens einer kleineren, systemunrelevanten Prüfungsgesellschaft als Katalysator für die Dynamik des Audit-Markts wirken und kleineren sowie mittleren Prüfungsgesellschaften eine umfassendere Teilnahme im Segment größerer Audits gestatten?

In Frankreich gibt es die gesetzliche Anforderung, dass Unternehmen von einem aus mindestens zwei Gesellschaften bestehenden Konsortium geprüft werden müssen. Ähnliche Vorschriften gab es auch in Dänemark, wurden aber als nicht mehr erforderlich betrachtet. In Frankreich gilt diese Vorschrift seit 1966 für börsennotierte Unternehmen. Seit 1984, als britisch-amerikanische Prüfungsgesellschaften ihren Marktanteil rapide ausweiteten, gilt sie auch für Unternehmen, die einen konsolidierten Geschäftsbericht vorlegen müssen. Diese Politik war in einem gewissen Maße erfolgreich. Laut einer Untersuchung (4) aus dem Jahr 2006 auf der Grundlage von Daten aus 2003 wurden von 468 französischen Unternehmen 54 von zwei der „Big Four“-Prüfungsgesellschaften geprüft, 241 (51,5 %) durch eine der „Big Four“-Gesellschaften und eine französische Gesellschaft, die Prüfung der restlichen 173 Unternehmen wurden von unterschiedlichen Kombinationen großer und kleiner französischer Gesellschaften durchgeführt.

Die Ausprägung des Audit-Marktes in Frankreich hängt nicht nur von den Eingriffen des Gesetzgebers ab. Unternehmenseigentum ist in Frankreich in viel stärkerem Maße konzentriert als in angelsächsischen Ländern, was sich auf die Audit-Anforderungen auswirkt. Die gleiche Untersuchung ergab, dass bei 73 % der französischen Unternehmen der größte einzelne Anleger 25 % oder mehr Anteile besaß. Die größten Eigentümergruppen sind andere Gesellschaften (34 %), Familienbesitz (25 %) und die breite Öffentlichkeit, internationale Investoren halten dagegen nur 8,5 %.

In der Untersuchung wurde festgestellt, dass insbesondere bei einer geringeren Konzentration der Eigentümerstruktur in der Hand eines einzigen Aktionärs und der Präsenz internationaler und öffentlicher Investoren verstärkt auf die „Big Four“-Prüfungsgesellschaften zurückgegriffen wird. Auf die Big Four wird bei einem großen Anteil von Familieneigentum in geringerem Maße zurückgegriffen. Außerdem nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Prüfung durch eine „Big Four“-Gesellschaft mit dem Eigentumsanteil institutioneller Eigentümer (Banken und Pensionsfonds) zu. Zudem gibt es Anzeichen dafür, dass einige dieser Charakteristika der Eigentümerstruktur auch mit der Beautragung von zwei statt nur einer Prüfungsgesellschaft aus dem Kreis der Big Four verbunden sind.

Angesichts dieser Korrelation zwischen Eigentumsstruktur und Prüfung legen diese Ergebnisse nahe, dass die Schlussfolgerung, der französische Rechtsrahmen allein sei für die Gestalt des Audit-Markts in Frankreich ausschlaggebend, nicht fundiert ist. Diesbezüglich ist indes festzustellen, dass das französische Recht im Rahmen der gemeinsamen Prüfung - anders als von der Kommission vorgeschlagen - nicht vorschreibt, dass kleinere Prüfungsgesellschaften mit größeren verbunden sein müssen. Wie die Kommission einräumt, fielen die Antworten im Zuge der Anhörung zu dem Grünbuch unterschiedlich aus, insbesondere zu der Frage, ob gemeinsame Prüfungen auch zu besseren Abschlüssen führen oder aber zusätzlichen Verwaltungsaufwand und Mehrkosten verursachen würden.

Um die Frage zu beantworten: Gemeinsame Prüfungen würden die Teilnahme kleinerer Gesellschaften auf dem Markt der Prüfung von Großunternehmen erhöhen. Bezüglich der Frage, ob und in welchem Zeitraum sich dadurch tatsächlich die Konzentration verringern lässt, fordert der EWSA die Kommission auf, vor einer Entscheidung eine sorgfältige Folgenabschätzung durchzuführen. Er ist der Auffassung, dass das Wettbewerbsrecht ein zusätzliches Mittel zur Bekämpfung des Oligopols ist.

29)

Halten Sie im Hinblick auf die Verstärkung der Struktur der Audit-Märkte einen obligatorischen Prüferwechsel und eine Ausschreibung nach einem bestimmten Zeitraum für angebracht? Wie lang sollte dieser Zeitraum sein?

Der EWSA spricht sich nicht für einen obligatorischen Prüferwechsel aus. In Bezug auf die obligatorische Ausschreibung siehe Antwort auf Frage 18.

30)

Wie sollte die Marktverzerrung durch die „Big Four“ gehandhabt werden?

Der EWSA befürwortet die Beseitigung jeder künstlichen Verzerrung zugunsten der „Big Four“, wie z.B. durch Zusicherungen gegenüber Banken (Covenants). Die obligatorische Zuweisung von Aufgaben ausschließlich an die „Big Four“ sollte verboten werden. Die Kommission kann die Einführung eines Systems zur Zertifizierung der Fähigkeit zur Durchführung von Audits großer Unternehmen für die danach rangierenden Prüfungsgesellschaften in Erwägung ziehen.

31)

Stimmen Sie zu, dass Notfallpläne, einschließlich der „Auslaufpläne“ („living wills“), eine Schlüsselrolle bei der Beseitigung systemrelevanter Risiken und Ausfallrisiken einer Prüfungsgesellschaft spielen könnten?

Es sollte Notfallpläne sowohl für Prüfungsgesellschaften als auch für nationale Regulierungsbehörden geben. Bei Prüfungsgesellschaften handelt es sich um internationale Netzwerke. Die beste Strategie bestünde darin, sich auf die Eindämmung eines Ausfalls auf Mitgliedstaatsebene zu konzentrieren und dabei die Integrität des übrigen Netzwerks aufrechtzuerhalten. Auslaufpläne wären das zentrale Element jedweder Eindämmungsstrategie. Frühe Hinweise auf potenzielle Probleme würden die Umsetzung von Notfallplänen erleichtern.

32)

Sind die weitergehenden Grundüberlegungen in Bezug auf die Konsolidierung großer Prüfungsgesellschaften in den letzten zwei Jahrzehnten (d. h. globales Angebot, Synergien) nach wie vor gültig? Unter welchen Umständen sollte die Konsolidierung wieder rückgängig gemacht werden?

Wie bereits in der Antwort auf Frage 18 zum Ausdruck gebracht, fordert der EWSA mit Nachdruck, dass jede in diesem Bereich erwogene Maßnahme Gegenstand einer sorgfältigen Folgenabschätzung sein muss. Da die künftigen asiatischen Supermächte weltweit expandieren, ist davon auszugehen, dass ihre Prüfungsgesellschaften ihren Kunden folgen werden. Alle staatlichen Maßnahmen, die Veränderungen auf dem Audit-Markt herbeiführen möchten, müssen in einem zwanzigjährigen Zeitrahmen gesehen werden. Zudem sollten mögliche Auswirkungen des Gesetzes und unbeabsichtigte Folgen gründlich bedacht werden.

Eine Rückgängigmachung ist schwer vorstellbar; worauf es ankommt, ist jedoch die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts im Audit-Markt. Der EWSA würde eine Verweisung an die die Wettbewerbsbehörden - angefangen bei Deutschland, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich - begrüßen.

3.6   Schaffung eines europäischen Marktes

33)

Wie kann die grenzübergreifende Mobilität der Angehörigen der Prüferbranche am besten angekurbelt werden?

Die Harmonisierung der Vorschriften und geltenden Gesetze wäre ein erster Schritt. Hilfreich wäre auch die Einführung von ISA. Die Vielfalt in puncto Steuern, Gesetze und Sprachen in den 27 Mitgliedstaaten ist sicherlich ein Hemmschuh für umfassende grenzüberschreitende Mobilität.

34)

Stimmen Sie einer „maximalen“ Harmonisierung in Verbindung mit einem „Europäischen Pass für Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften“ zu? Sollten sie Ihrer Meinung nach auch für kleinere Prüfungsgesellschaften gelten?

Ja, doch dürfen die Schwierigkeiten dabei nicht unterschätzt werden. Denkbar wäre ein Europäischer Pass für Abschlussprüfer im Bereich der gesetzlich vorgeschriebenen IFRS-Finanzberichte. Die Entscheidung darüber, welcher Prüfer oder welche Prüfungsgesellschaft einen solchen Pass erhält, muss deshalb darauf beruhen, ob die Prüfungspraxis die Rechnungslegung nach IFRS umfasst oder umfassen kann.

3.7   Vereinfachung: Kleine und mittlere Prüfungsgesellschaften (KMP)

35)

Würden Sie anstelle der gesetzlichen Abschlussprüfung ein niedrigeres Dienstleistungsniveau bevorzugen, wie z.B. die „Begrenzte Prüfung“ oder „Gesetzliche Prüfung“ der KMU-Abschlüsse? Sollte eine solche Dienstleistung davon abhängig gemacht werden, dass ein (interner oder externer) Buchhalter den Abschluss erstellt hat?

KMU gibt es in vielen Formen und Größen. Wenn externe Investoren und/oder wichtige Kreditfazilitäten beteiligt sind und/oder wichtige Kunden und Lieferanten Bedenken hinsichtlich der Integrität ihrer Wertschöpfungsketten Sorgen haben, sind allzu große Vereinfachungen nur schwer vorstellbar. Die Arbeit eines Bilanzbuchhalters könnte für ein eigenfinanziertes Kleinstunternehmen ausreichen.

36)

Sollte es eine Schutzzone geben, wenn es um ein mögliches Verbot der Erbringung von Nichtprüfungsleistungen für KMU-Kunden in der Zukunft geht?

Ja, aber ein Verbot wurde nicht ausreichend begründet.

37)

Sollte eine „Begrenzte Prüfung“ oder „Gesetzliche Prüfung“ an weniger schwerfällige interne Qualitätskontrollregeln und Aufsichtsvorschriften seitens der Aufsichtsbehörden geknüpft werden? Könnten Sie Beispiele nennen, wie diesbezüglich in der Praxis vorgegangen werden sollte?

Siehe Frage 35. Bei Kleinunternehmen kommen ohnehin kleine, einfache Prüfungen zur Anwendung.

3.8   Internationale Zusammenarbeit

38)

Welche Maßnahmen könnten Ihrer Auffassung nach die Qualität der Kontrolle globaler Audit-Marktteilnehmer durch die internationale Zusammenarbeit steigern?

Engagement im Rahmen der G-20 und des Rates für Finanzstabilität. Die wichtigste Maßnahme wäre jedoch zunächst einmal die Zusammenarbeit auf G-8-Ebene, vor allem enge Beziehungen zu den Regulierungsbehörden in den USA.

Brüssel, den 16. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 318, 23.12.2009, S. 57.

(2)  Risikomanagement umfasst die Erfassung, Bewertung und Priorisierung von Risiken (in ISO 31000 definiert als die positiven oder negativen Auswirkungen von Unsicherheit in Bezug auf die Ziele), gefolgt von einem koordinierten und wirtschaftlichen Einsatz der Ressourcen zur Minimierung, Überwachung und Kontrolle der Wahrscheinlichkeit und/oder der Auswirkungen negativer Vorkommnisse. Risikosteuerungsstrategien umfassen Risikoüberwälzung, Risikovermeidung, Risikobegrenzung und Akzeptanz einer oder aller Folgen eines bestimmten Risikos. Quelle: Wikipedia.org (engl. Fassung des Artikels „Risikomanagement“).

(3)  House of Lords, Bericht vom 15. März 2011„Auditors: Market concentration and their role“, Vol. 1, S. 32. http://www.parliament.uk/hleconomicaffairs.

(4)  Assessing France’s Joint Audit Requirement: Are Two Heads Better than One? Von Jere R. Francis (Universität von Missouri/Columbia), Chrystelle Richard (Universität Paris Dauphine) und Ann Vanstraelen (Universität Antwerpen und Universität Maastricht).


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/101


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Zentralbank — Ein EU-Rahmen für Krisenmanagement im Finanzsektor“

KOM(2010) 579 endg.

2011/C 248/17

Berichterstatterin: Lena ROUSSENOVA

Die Europäische Kommission beschloss am 20. Oktober 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Zentralbank — Ein EU-Rahmen für Krisenmanagement im Finanzsektor

KOM(2010) 579 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 26. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 16. Juni) mit 132 gegen 13 Stimmen bei 20 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss teilt die Bedenken der Kommission, dass die Unterstützung insolventer Finanzinstitute auf Kosten der öffentlichen Haushalte und gleicher Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt in Zukunft nicht mehr länger vertretbar sein wird, und unterstützt grundsätzlich den vorgeschlagenen umfassenden EU-Rahmen. Neben einer Reform der einzelstaatlichen Rechtsrahmen und Regelungen erfordert seine Umsetzung den Einsatz zusätzlicher Gelder, beruflicher Fähigkeiten und Humanressourcen sowohl auf Seiten der nationalen Behörden als auch der Banken. Der EWSA hofft, dass die Kommission unter Berücksichtigung der Ergebnisse der öffentlichen Konsultation eine gründliche Folgenabschätzung hinsichtlich der erforderlichen Kosten, Humanressourcen und Gesetzesreformen durchführen wird. Zu einem realistischen Vorschlag sollte ein Zeitplan für die Einstellung von Personal gehören, wobei zu berücksichtigen ist, dass geeignete Fachkräfte möglicherweise nicht unmittelbar auf dem Markt verfügbar sind.

1.2   Der Ausschuss empfiehlt einen ganzheitlichen Ansatz und ruft die Kommission auf, zu prüfen, inwieweit der Krisenmanagementrahmen und die Gesamtheit der neuen Rechtsvorschriften sowie der neuen Steuern und Bankenabgaben im Finanzsektor sich kumulativ auf die Fähigkeit der Banken zur Bereitstellung von Krediten für Privathaushalte und Unternehmen zu angemessenen Zinssätzen auswirken, ohne das wirtschaftliche Wachstum und die Entstehung von Arbeitsplätzen zu gefährden (1).

1.3   Der EWSA empfiehlt der Kommission, vor einer Bankensanierung angemessene Maßnahmen zur Abstimmung zwischen der ausgewählten Abwicklungsbehörde, der Zentralbank und dem Finanzministerium vorzusehen (sofern keine der beiden letztgenannten Einrichtungen die in dem betreffenden Mitgliedstaat ausgewählte Abwicklungsbehörde ist). Eine derartige Abstimmung wäre im Falle einer Abwicklung großer und systemrelevanter Finanzinstitute wie auch im Falle einer gleichzeitigen Abwicklung mehrerer Finanzinstitute von entscheidender Bedeutung, um den Sektor vor Ansteckungsgefahren und Vertrauenskrisen zu schützen.

1.4   Zusätzlich zu dem vorgeschlagenen Stresstest, der von Aufsichtsbehörden im Rahmen präparativer und präventiver Maßnahmen durchgeführt werden soll, empfiehlt der EWSA der Kommission in Übereinstimmung mit dem Vorschlag in dem Bericht der de-Larosière-Gruppe (2), die Bewertungsprogramme des IWF und der Weltbank für den Finanzsektor (Financial Sector Assessment Programmes - FSAP) für alle Mitgliedstaaten verbindlich zu machen. Bei den im Rahmen der FSAP durchgeführten Analysen und Stresstests werden makroökonomische Entwicklungen und Ungleichgewichte in den Mitgliedstaaten in Verbindung mit ihrer makrofinanziellen Stabilität und ihren Risiken auf Mikroebene betrachtet, was sie zu nützlichen und sehr zweckmäßigen Analyseinstrumenten für die Aufsichtsbehörden macht.

1.5   Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, die Übertragbarkeit von Aktiva als Präventivmaßnahme einzusetzen, warnt aber davor, die Bereitstellung finanzieller Unterstützung für andere Unternehmen einer Gruppe von einer Aufsichtsbehörde beschließen zu lassen. Dies sollte weiterhin freiwillig sein. Die Gleichbehandlung im Herkunfts- und Aufnahmemitgliedstaat ist von entscheidender Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Finanzstabilität. Die finanzielle Unterstützung einer Gruppe sollte nur im Rahmen einer entsprechenden Vereinbarung erfolgen, und auch nur dann, wenn eine Reihe von Bedingungen erfüllt sind:

Grundbedingung sollte sein, dass finanzielle Unterstützung nur dann gewährt werden darf, wenn das transferierende Unternehmen jederzeit und unter allen Umständen die aufsichtsrechtlichen Anforderungen der Richtlinie 2006/48/EG oder einer strengeren nationalen Eigenkapitalbestimmung desjenigen Landes erfüllt, in dem es seinen Sitz hat. Der EWSA empfiehlt, dass diese Bedingung von sämtlichen Aufsichtsbehörden und Vermittlungsinstanzen einzuhalten ist. Dies gilt auch für die EBA, wenn die Mitglieder des Kollegiums uneins sind.

Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass als Schutzvorkehrung für die makrofinanzielle Stabilität des betreffenden Landes die für das transferierende Unternehmen zuständige Aufsichtsbehörde die Befugnis haben sollte, einen Transfer von Vermögenswerten im Rahmen einer entsprechenden Unterstützungsvereinbarung innerhalb der Gruppe zu verbieten oder zu beschränken, wenn dadurch die Liquidität, Solvenz und finanzielle Stabilität des transferierenden Unternehmens oder des Finanzsektors des entsprechenden Landes gefährdet würde.

1.6   Die Einsetzung eines Sonderverwalters ist ein Zeichen dafür, dass die betreffende Bank in Schwierigkeiten ist, was das Vertrauen der Einleger untergraben und einen Ansturm auf die Bank auslösen kann. Die Ernennung von Sonderverwaltern für mehrere Finanzinstitute innerhalb desselben Zeitraums kann tiefgreifende Störungen nach sich ziehen. In einem derartigen Fall sollten zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, um die betreffenden Banken und den Sektor insgesamt vor Ansteckung und dem Entstehen einer Vertrauenskrise zu schützen.

1.7   Der EWSA empfiehlt der Kommission, die Auswirkungen von „Bail-in“-Instrumenten auf den Bankensektor und die Finanzmärkte zu prüfen und eine Machbarkeits- und Kosten-Nutzen-Analyse verschiedener „Bail-in“-Instrumente mit Blick auf ihre grenzüberschreitenden Konsequenzen, Marktfähigkeit und Transparenz durchzuführen.

1.8   Als Reaktion auf die erhöhten rechtlichen Anforderungen und die Einführung zusätzlicher Krisenmanagementmaßnahmen und -instrumente könnte sich das Schattenbanksystem erheblich ausweiten. Die Kommission sollte sicherstellen, dass Regulierungsorgane und Aufsichtsbehörden in der Lage sind, die Gefahr einer Ansteckung auf Banken außerhalb des Bankensektors zu begrenzen. Für Unternehmen des Schattenbankensystems sollten striktere Regulierungsstandards gelten, und ihnen sollte ermöglicht werden, Verluste auszuweisen.

2.   Einleitung

2.1   Während der Finanzkrise haben die Regierungen erkannt, dass man Banken und andere systemrelevante Finanzinstitute nicht einfach in die Insolvenz entlassen konnte. Zahlreiche Maßnahmen wurden ergriffen: Teils brauchten die Banken Kapitalspritzen, die für die öffentlichen Haushalte mit hohen Ausgaben verbunden waren (die hoffentlich irgendwann zurückgezahlt werden), teils brauchten sie Liquiditätshilfen und/oder Bürgschaften für ihre Verbindlichkeiten. Diese Maßnahmen führten ausnahmslos zur Belastung der Finanzmärkte und zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen, sowohl im Binnenmarkt als auch weltweit.

2.2   Da bereits Einigkeit darüber besteht, dass so etwas nie wieder geschehen darf, hat die Kommission mehrere Mitteilungen zum Themenkreis Krisenmanagement und Bankenrettung vorgelegt. In der ersten Mitteilung vom Oktober 2009 (3) wurden Überlegungen darüber angestellt, welche Änderungen erforderlich sind, um ein wirksames Krisenmanagement und die Abwicklung oder geordnete Liquidation einer insolventen grenzübergreifend tätigen Bank zu ermöglichen. In der zweiten Mitteilung (4), die im Mai 2010 vorgelegt wurde, ging es um die Frage, wie eine Abwicklung so finanziert werden kann, dass das Moral-Hazard-Risiko gering gehalten wird und öffentliche Mittel geschont werden (5). In der Mitteilung KOM(2010) 579 endg. wird ein umfassender EU-Rahmen für angeschlagene und insolvente Banken abgesteckt und in Grundzügen umrissen, wie die Kommission künftig verfahren will. Zu den technischen Einzelheiten des geplanten Legislativrahmens wurde im Dezember 2010 eine öffentliche Konsultation eingeleitet.

2.3   Die Kommission will schrittweise zu einer Krisenmanagementordnung der EU gelangen. Als ersten Schritt beabsichtigt sie, vor dem Sommer 2011 einen Legislativvorschlag für eine harmonisierte EU-Regelung für die Krisenprävention sowie die Sanierung und Abwicklung von Banken vorzulegen, in der eine Reihe gemeinsamer Abwicklungsinstrumente sowie eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden bei grenzübergreifenden Bankeninsolvenzen vorgesehen werden sollen. Als zweiten Schritt wird die Kommission prüfen, ob eine weitere Harmonisierung der Bankeninsolvenzordnungen erforderlich ist. Und schließlich soll bis 2014 im dritten Schritt u.a. eine integrierte Abwicklungsregelung geschaffen werden, möglicherweise mit einer allein zuständigen europäischen Abwicklungsbehörde als Kernstück.

3.   Bemerkungen

3.1   Geltungsbereich und Ziele

3.1.1   Der in der Kommissionsmitteilung vorgeschlagene Krisenmanagementrahmen soll „für alle Kreditinstitute und bestimmte Wertpapierfirmen gelten, unabhängig davon, ob sie grenzübergreifend oder auf nationaler Ebene tätig sind“, und zwar „gleich welcher Art und Größe, insbesondere solche mit Systemrelevanz“. Wie in einer Fußnote erläutert wird, will die Kommission „all die Wertpapierfirmen erfassen, deren Insolvenz das gesamte System destabilisieren könnte, und denkt derzeit darüber nach, wie diese Kategorie definiert werden könnte“. Viele Teile der Mitteilung beziehen sich tatsächlich nicht nur auf Kreditinstitute, sondern auch auf Wertpapierfirmen, jedoch ohne diese Kategorie klar zu definieren. Der EWSA erwartet von der Kommission, dass sie die Kategorien der Wertpapierfirmen und Investmentfonds mit potenzieller Systemrelevanz unter Berücksichtigung der Ergebnisse der im Dezember 2010 eingeleiteten öffentlichen Konsultation definiert. Er ersucht die Kommission, ebenfalls zu prüfen, ob die in der Mitteilung KOM(2010) 579 endg. vorgeschlagenen Abwicklungsinstrumente und –befugnisse ausreichend wären, um alle spezifischen Probleme im Zusammenhang mit der Insolvenz einer Wertpapierfirma und eines Investmentfonds angemessen zu bewältigen.

3.1.2   Der Rahmen für Prävention, Krisenmanagement und Abwicklung, dem sieben Grundsätze und Ziele zugrundeliegen, soll gewährleisten, dass Banken, die sich in Schwierigkeiten befinden, den Markt verlassen können, ohne die Finanzstabilität zu gefährden. Der EWSA unterstützt die meisten dieser Ziele, wenn auch das vierte und das letzte einiger Bemerkungen und Erläuterungen bedürfen:

Der Auffassung der Kommission, dass das Moral-Hazard-Risiko verringert werden muss, indem gewährleistet wird, dass bei einer Bankabwicklung Verluste gerecht und angemessen auf Anteilseigner und Gläubiger aufgeteilt werden, kann sich der EWSA nur dann anschließen, wenn jene so behandelt werden, wie dies der normalen Rangfolge entspricht und sie ähnlich gestellt sind wie im Falle einer Liquidation. Dabei werden Gläubiger in der Regel anders behandelt als Anteilseigner. Der Vorschlag, Verluste auf Anteilseigner und Gläubiger aufzuteilen, könnte möglicherweise rechtliche Bedenken wecken und muss hinsichtlich der proportionalen Aufteilung der Verluste sowie der Kriterien für die Heranziehung von Gläubigern – wann und in welchem Umfang – näher ausgeführt werden. Die Aufteilung von Verlusten auf die Anteileigner ist als Grundsatz sicherlich richtig, aber es wird problematisch, wenn die Gläubiger an den Verlusten beteiligt werden sollen, ohne dass dieses Konzept näher erläutert wird. Wann und in welchem Umfang soll ein bestimmter Gläubiger aufgefordert werden, Verluste mitzutragen? Sollte eine Unterscheidung zwischen „schuldigen“ bzw. „unvorsichtigen“ und anderen Gläubigern in Erwägung gezogen werden? Darüber hinaus stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage und unter welchen Umständen Verluste vom Bankensektor insgesamt getragen werden sollen.

Zum letzten Aufzählungspunkt: Der EWSA teilt die Ansicht, dass schlimmeres Unheil vermieden werden muss, aber die Aussage, eines der Ziele des vorgeschlagenen Rahmens bestünde in der „Beschränkung von Wettbewerbsverzerrungen“, ist nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Allein die Tatsache, dass ein angeschlagenes oder – schlimmer noch – fast insolventes Finanzinstitut Hilfe benötigt und dadurch Kosten für Dritte entstehen, ist per se eine Wettbewerbsverzerrung.

3.1.3   Als Reaktion auf die erhöhten rechtlichen Anforderungen und die Einführung zusätzlicher Krisenmanagementmaßnahmen und -instrumente könnte sich das Schattenbanksystem ausweiten. Der EWSA empfiehlt, dass Regulierungsorgane und Aufsichtsbehörden sich darum bemühen, das Ansteckungsrisiko auf Banken außerhalb des Bankensektors zu beschränken, und Unternehmen des Schattenbanksystems die Ausweisung von Verlusten zu ermöglichen und sie angemessenen Regulierungsstandards zu unterwerfen.

3.2   Hauptelemente des Rahmens

3.2.1   Der von der Kommission entwickelte Rahmen ist vom Konzept her korrekt, und der EWSA ist mit den drei Maßnahmenkategorien einverstanden:

i.

präparative und präventive Maßnahmen,

ii.

frühzeitiges Eingreifen der Aufsichtsbehörden und

iii.

Abwicklung.

Die Umsetzung dieses Rahmens wird keinesfalls einfach sein, und der EWSA begrüßt die Absicht, einen schrittweisen und reibungslosen Übergang zwischen den derzeitigen nationalen Regelungen und dem vorgeschlagenen Rahmen sicherzustellen. Der zügige Übergang zu dem umrissenen Rahmen wird durch die zahlreichen Initiativen, die von einigen nationalen Behörden vorgeschlagen werden, ebenso wie durch die unterschiedlichen nationalen Vorschriften über Eigentumsrechte, Insolvenz, administrative und strafrechtliche Zuständigkeiten auf Verwaltungsseite erheblich erschwert. Der EWSA hofft, dass das „breite Handlungsspektrum“ in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Notfällen nicht missbraucht, sondern genutzt wird, um Flexibilität bei der Anpassung der nationalen Vorschriften an das EU-Recht zu gewährleisten und eine wirksame Koordinierung und Zusammenarbeit beim grenzüberschreitenden Krisenmanagement und bei der grenzüberschreitenden Abwicklung aller Arten von Kreditinstituten unabhängig von deren Größe und gegenseitigen Verbindungen zu fördern.

3.2.2   Für das Krisenmanagement zuständige Behörden

In der Kommissionsmitteilung wird ausdrücklich ausgesagt, dass die Befugnis zum frühzeitigen Eingreifen auch weiterhin bei den Finanzaufsichtsbehörden liegen und unter der Eigenkapitalrichtlinie (Capital Requirements Directive, CRD) erfolgen sollte, während bezüglich der Abwicklungsbefugnisse jeder Mitgliedstaat festlegen muss, welche Behörde dafür zuständig sein soll. Der EWSA ist mit der Empfehlung der Kommission, dass eher Verwaltungs- als Justizbehörden diese Befugnis erhalten sollten, einverstanden, ist sich jedoch dessen bewusst, dass die Umsetzung dieser Empfehlung mit Hindernissen und Schwierigkeiten verbunden sein wird. Der EWSA geht auch davon aus, dass die in den Mitteilungen KOM(2010) 254 endg. und KOM(2010) 579 endg. vorgeschlagenen nationalen Ex-ante-Bankensanierungsfonds (BSF) einen Teil der Abwicklungsbefugnisse wahrnehmen werden, wenn sie gemäß den Empfehlungen der genannten Kommissionsmitteilungen errichtet werden. Auch wenn die Wahl der für die Abwicklung zuständigen Behörden im Ermessen der Mitgliedstaaten liegt, müssten diese entsprechend gemeinsamer, in einem EU-Rahmen festgelegter Regeln und Grundsätze tätig werden.

3.2.2.1   Der EWSA vertritt außerdem den Standpunkt, dass die erfolgreiche Durchführung einer Abwicklung eine gute Koordinierung zwischen der ausgewählten Abwicklungsbehörde, der Zentralbank und dem Finanzministerium erfordert, sofern keine der beiden letztgenannten Einrichtungen die in dem betreffenden Mitgliedstaat ausgewählte Abwicklungsbehörde ist. Im Falle einer Abwicklung großer und systemrelevanter Finanzinstitute wie auch im Falle einer gleichzeitigen Abwicklung mehrerer Finanzinstitute ist dies von entscheidender Bedeutung.

3.2.3   Präparativ- und Präventivmaßnahmen

Alle in diesem Abschnitt vorgeschlagenen Maßnahmen und Initiativen sind vom Konzept her richtig und zweifelsohne notwendig, um eine wirksame Umsetzung des von der Kommission vorgeschlagenen Rahmens sicherzustellen. Dabei verlangen jedoch ein paar Fragen nach Antwort:

Welche Kosten würden diese Maßnahmen erfordern, und wer würde die Kosten letztendlich tragen?

Wäre es den Behörden und Finanzinstituten möglich, die für die vorgeschlagenen Maßnahmen notwendigen Fachkräfte zu finden?

Wie lange wird es dauern, bis ein europäisches System voll funktionsfähig ist?

3.2.3.1   Im Einzelnen sollen Aufsichtsbehörden eine verstärkte Aufsicht ausüben, die Sanierungs- und Abwicklungsplanung bewerten und überwachen, Präventivmaßnahmen ergreifen (Abschnitt 3.2, KOM(2010) 579 endg.), bei der Abwicklung eines Unternehmens in Zusammenarbeit mit den Abwicklungsbehörden aktiv werden usw. Die Aufsichtsbehörden stehen damit praktisch wie ein Supermanager über den Finanzinstituten.

Zusätzlich zur normalen Berichterstattung sind die Finanzinstitute verpflichtet, regelmäßig zu aktualisierende Sanierungs- und Abwicklungspläne zu erstellen und den zuständigen Behörden vorzulegen. Außerdem müssen die Mitgliedstaaten Abwicklungsbehörden einrichten oder die Aufgaben bestehender Behörden auf die Abwicklung von Finanzinstituten ausweiten.

3.2.3.1.1   All diese Maßnahmen sind zweifelsohne notwendig, um solide und sichere Finanzmärkte zu schaffen; das Problem besteht jedoch darin, die dadurch entstehenden Kosten  (6) zu ermitteln und sicherzustellen, dass sowohl die zuständigen Behörden als auch die Finanzinstitute genügend hochqualifizierte Fachkräfte finden, die bereit sind, die neuen Aufgaben zu übernehmen können. Die Wichtigkeit des Endziels mag vielleicht die hohen Kosten des Vorhabens rechtfertigen, aber der Fachkräftemangel könnte ein enormes Hindernis darstellen. Die Kommission ist sich dessen bewusst und hat in ihrem Konsultationspapier die Mitgliedstaaten um eine Schätzung der Kosten (auch für Humanressourcen) ersucht, die bei der Durchführung der vorgeschlagenen Maßnahmen im Zusammenhang mit der verschärften Aufsicht und der Sanierungs- und Abwicklungsplanung voraussichtlich entstehen werden. Einem realistischen Vorschlag der Kommission sollte eine Folgenabschätzung hinsichtlich der Kosten sowie ein Zeitplan für die Einstellung von Personal beigefügt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass geeignete Fachleute möglicherweise nicht unmittelbar auf dem Markt verfügbar sind.

3.2.3.2   Zusätzlich zu dem vorgeschlagenen Stresstest, der von Aufsichtsbehörden durchgeführt werden soll, empfiehlt der EWSA der Kommission in Übereinstimmung mit dem Vorschlag aus dem Bericht der de-Larosière-Gruppe (7), die Bewertungsprogramme des IWF und der Weltbank für den Finanzsektor (Financial Sector Assessment Programmes - FSAP) (8) für alle Mitgliedstaaten verbindlich zu machen. Derzeit sind die FSAP für 25 IWF-Mitgliedstaaten, darunter nur 11 EU-Mitgliedstaaten, verbindlich. Bei den im Rahmen der FSAP durchgeführten Analysen und Stresstests werden makroökonomischen Entwicklungen und Ungleichgewichte in den Mitgliedstaaten in Verbindung mit ihrer makrofinanziellen Stabilität und ihren Risiken auf Mikroebene betrachtet, was sie zu nützlichen und sehr zweckmäßigen Analyseinstrumenten für die Aufsichtsbehörden macht.

3.2.3.3   Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, die Übertragbarkeit von Aktiva als Präventivmaßnahme einzusetzen, wenn einzelne Unternehmen einer Gruppe mit Liquiditätsschwierigkeiten zu kämpfen haben. Der Ausschuss ist überzeugt, dass zur Erhaltung des Unternehmensmodells des Konzerns die Bereitstellung finanzieller Unterstützung für andere Unternehmen einer Gruppe freiwillig erfolgen muss und nicht von einer Aufsichtsbehörde beschlossen werden darf. Um eine Ausbreitung von Liquiditätsschwierigkeiten zu verhindern, empfiehlt der Ausschuss, dass die Kommission sorgfältig festlegt, unter welchen Umständen und Bedingungen Aktiva transferiert werden können, und er unterstreicht, dass die Gleichbehandlung in allen Mitgliedstaaten - Herkunfts- und Aufnahmemitgliedstaat – von entscheidender Bedeutung ist, um die Ansteckungsgefahr zu verringern und die Finanzstabilität aufrechtzuerhalten.

3.2.3.3.1   Die finanzielle Unterstützung innerhalb einer Gruppe sollte nur im Rahmen einer entsprechenden Vereinbarung erfolgen, und auch nur dann, wenn eine Reihe von Kapital- und Liquiditätsbedingungen erfüllt sind. Grundbedingung sollte sein, dass finanzielle Unterstützung nur dann gewährt werden darf, wenn das transferierende Unternehmen jederzeit und unter allen Umständen die aufsichtsrechtlichen Anforderungen der Richtlinie 2006/48/EG oder einer strengeren Eigenkapitalbestimmung desjenigen Landes erfüllt, in dem es seinen Sitz hat. Der EWSA empfiehlt, dass diese Bedingung von sämtlichen Aufsichtsbehörden und Vermittlungsinstanzen einzuhalten ist. Dies gilt auch für die EBA, wenn die Mitglieder des Kollegiums uneins sind oder keine Einigung erzielt werden kann. Der EWSA ist außerdem der Meinung, dass die finanzielle Unterstützung innerhalb einer Gruppe der Genehmigung durch die Aufsichtsbehörden bedürfen muss, die nur nach einer Risikobewertung und einem Stresstest zu erteilen ist, und dass der Markt über die Gewährung einer Unterstützung innerhalb einer Gruppe informiert werden muss.

3.2.3.3.2   Als Schutzvorkehrung für die makrofinanzielle Stabilität des betreffenden Landes sollte die für das transferierende Unternehmen zuständige Aufsichtsbehörde die Befugnis haben, einen Transfer von Vermögenswerten im Rahmen einer entsprechenden Unterstützungsvereinbarung zu verbieten oder zu beschränken, wenn dadurch die Liquidität, Solvenz und finanzielle Stabilität des transferierenden Unternehmens und seines Landes gefährdet würde.

3.2.4   Auslöser für ein frühzeitiges Eingreifen und eine Abwicklung

3.2.4.1   Dieses Kapitel erscheint in seiner Gesamtheit zutreffend und generell akzeptabel. Den Aufsichtsbehörden wird die schwierige und heikle Aufgabe übertragen, nicht nur zu ermitteln, unter welchen Umständen die Anforderungen der Eigenkapitalrichtlinie (CRD) nicht erfüllt sind, sondern auch die Anzeichen einer möglichen Nichterfüllung zu erkennen. Dies erfordert hochentwickelte Instrumente und herausragende Fachkenntnisse sowie eine verstärkte Beobachtung des Marktes.

3.2.4.2   Die Aufgaben betreffend die Entscheidung zum Eingreifen wie auch die in Abschnitt 3.4 beschriebenen Maßnahmen erfordern ein hohes Maß an subjektiver Einschätzung, die – auch wenn sie noch so wohlbegründet und fachlich gerechtfertigt sein mag – vor Gericht oder in anderer Weise durch Dritte oder das Finanzinstitut selbst angefochten werden könnte. Die Aufsichtsbehörden müssen darauf eingestellt sein, die daraus erwachsende Verantwortung und/oder Haftung zu übernehmen. Möglicherweise könnten einige genau definierte quantitative Auslöser den Aufsichtsbehörden bei der Entscheidung für ein frühzeitiges Eingreifen helfen, sodass sie sich weniger auf eine subjektive Einschätzung verlassen und der Gefahr einer Rechtsunsicherheit aussetzen müssten. Bezüglich der Auslöser für eine Abwicklung begrüßt der EWSA die Vorschläge der Kommission und stimmt zu, dass quantitative und qualitative Auslöser miteinander kombiniert und angemessen abgewogen werden müssen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss der Kommission, eine besondere Aufmerksamkeit denjenigen Auslösern für eine Abwicklung zu widmen, die den richtigen Moment für den Einsatz von „Bail-in“-Instrumenten signalisieren können.

3.2.5   Frühzeitiges Eingreifen

Die von der Kommission vorgesehenen Maßnahmen erscheinen richtig und akzeptabel, die Einsetzung eines Sonderverwalters jedoch bedarf einiger Aufmerksamkeit. Juristische Studien haben ergeben, dass das Konzept des „frühzeitigen Eingreifens“ in den verschiedenen Mitgliedstaaten eine unterschiedliche Bedeutung hat und dass auch die Befugnisse der Aufsichtsbehörden zur Einsetzung eines Sonderverwalters unterschiedlich sein können. In einigen Mitgliedstaaten lässt das nationale Recht möglicherweise die Einsetzung von Sonderverwaltern zu und bedarf nur geringfügiger Änderungen. Im Falle einer Nichterfüllung der Eigenkapitalanforderungen einer Bank existiert in mehreren Mitgliedstaaten aufgrund entsprechender Bestimmungen über die Auslösung von Maßnahmen für ein frühzeitiges Eingreifen eine rechtliche Grundlage für die Einsetzung von Sonderverwaltern. In anderen Mitgliedstaaten dagegen kann die Einsetzung eines Sonderverwalters nach dem nationalen Gesellschaftsrecht möglicherweise ausschließlich durch den Verwaltungsrat oder die Hauptversammlung eines Unternehmens erfolgen, und nur ein neues Gesetz könnte das geltende Recht ändern.

3.2.5.1   Zum Thema Haftung führt die Kommission aus, dass die Einsetzung eines Sonderverwalters nicht mit einer staatlichen Garantie einhergehen und keine Haftbarkeit der Aufsichtsbehörde begründen sollte. Dies ist unter rein rechtlichem Gesichtspunkt kaum vertretbar: Generell gilt der Grundsatz, dass derjenige, der eine Entscheidung trifft oder eine Maßnahme ergreift, auch die Verantwortung für deren Folgen trägt. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz würde ohne entsprechende rechtliche Grundlage wahrscheinlich gerichtlich angefochten werden.

3.2.5.2   Der EWSA empfiehlt, dass die Einsetzung eines Sonderverwalters auf der Grundlage eines klar definierten Auslösers möglich sein sollte, wenn die Aufsichtsbehörde unter Wahrnehmung ihrer Befugnisse gemäß Artikel 136 der Eigenkapitalrichtlinie zu der Überzeugung gelangt, dass die Geschäftsleitung des Kreditinstituts nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen,. Nach Ansicht des Ausschusses muss der Beschluss zur Einsetzung eines Sonderverwalters im Falle einer Behandlung als Gruppe von der konsolidierenden Aufsichtsbehörde in Rücksprache und enger Abstimmung mit den Aufsichtsbehörden der Aufnahmemitgliedstaaten getroffen werden, wenn er rechtsverbindlich sein soll.

3.2.5.3   Die Einsetzung eines Sonderverwalters ist ein Zeichen dafür, dass die betreffende Bank in Schwierigkeiten ist, was das Vertrauen der Einleger untergraben und einen Ansturm auf die Bank auslösen kann. Der EWSA hat Bedenken, dass die Einsetzung von Sonderverwaltern für mehrere Finanzinstitute innerhalb desselben Zeitraums zu ernsthaften Störungen führen kann, und ist der Meinung, dass zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden sollten, um die betreffenden Banken und den Sektor insgesamt vor Ansteckung und dem Entstehen einer Vertrauenskrise zu schützen.

3.2.6   Abwicklung

3.2.6.1   Die in diesem Abschnitt vorgesehenen Maßnahmen sind allesamt gut konzipiert, aber die Kommission räumt selbst ein, dass möglicherweise eine Reform des Bankeninsolvenzrechts erforderlich ist und eine entsprechende Prüfung erwogen wird (S. 10 der Mitteilung). Als Ganzes betrachtet können die vorgeschlagenen Maßnahmen eigentlich als ein Beinahe-Insolvenz-Verfahren betrachtet werden, das separat neben den normalen Verfahren besteht. Statt einer Reform wären in den meisten Mitgliedstaaten vermutlich neue Gesetze erforderlich.

3.2.6.2   Der Hauptunterschied zwischen einer Abwicklung und einer Insolvenz besteht darin, dass ein Finanzinstitut oder ein Teil davon nach einer Abwicklung bestehen bleibt, was die leitende Funktion und Mitwirkung der Aufsichts- und Abwicklungsbehörden im gesamten Verfahren rechtfertigt. Diese Behörden verfügen jedoch über keine judiziellen Befugnisse, was die Zuweisung von Befugnissen und Zuständigkeiten - ganz zu schweigen von der Haftung – kompliziert macht. Die Kommission scheint sich des Problems sehr wohl bewusst zu sein: Im Zusammenhang mit Schutzmaßnahmen für Gegenparteien und Marktvereinbarungen wird auch eine gerichtliche Überprüfung erwähnt, „um zu gewährleisten, dass betroffene Parteien über angemessene Rechte zur Anfechtung der behördlichen Maßnahmen und zur Beantragung von Schadenersatz verfügen“.

3.2.6.3   Hier könnten die Behörden in eine heikle und riskante Situation geraten: Eine „betroffene“ Partei, die eine Entscheidung der Behörden anfechten möchte, könnte Rechtsmittel einlegen, und das Gericht könnte beschließen, das gesamte Verfahren zu blockieren. Diese Gefahr besteht nach geltendem Recht, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass ein solcher Fall auch eintreten wird. Es sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um zu verhindern, dass Abwicklungsverfahren verzögert oder blockiert werden. Derartige Verfahren müssen zeitnah und zügig durchgeführt werden; jede Verzögerung oder Behinderung könnte die Initiativen der Behörden zunichte machen und negative Marktreaktionen hervorrufen. Zweifellos ist in den meisten Mitgliedstaaten eine Änderung der Rechtsvorschriften und gerichtlichen Verfahren erforderlich, aber angesichts der teilweise sehr unterschiedlichen Insolvenzrahmen und gerichtlichen Verfahren werden erhebliche Änderungen notwendig sein.

3.2.7   Abschreibung von Schulden

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Kommission, die Schwierigkeiten bei der Abwicklung großer, komplexer Finanzinstitute (large, complex financial institutions, LCFI) und die spezifischen Probleme im Zusammenhang mit dem Instrument zur Abschreibung von Schulden zu analysieren. Der EWSA regt an, dass die Kommission einen Rahmen schafft, innerhalb dessen dieses Instrument wirkungsvoll zur Abwicklung sämtlicher unter die Regelung fallender Institute, und zwar auch der LCFI, eingesetzt werden könnte, und unterstreicht, dass ein gemeinsamer internationaler Rahmen vonnöten ist. Er hofft, dass die Kommission daher die Empfehlung des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht aufgreift, nach der systemrelevante Finanzinstitute eine über die Mindeststandards hinausgehende Verlustausgleichskapazität haben sollten. Der EWSA betont, dass „Bail-in“-Instrumente als Mittel zur Steigerung der Verlustausgleichskapazität von Finanzinstituten, einschließlich systemrelevanter Institute, gesehen werden könnten, und begrüßt ihren Einsatz als Alternative zum finanziellen Beistand mit Steuergeldern. Der EWSA hegt jedoch eine Reihe von Bedenken hinsichtlich der Gestaltung und Anwendung der „Bail-in“-Instrumente und ruft die Kommission zu besonderer Sorgfalt bei ihrer Untersuchung und Behandlung auf.

3.2.7.1   Der EWSA ist der Überzeugung, dass bei der Gestaltung und Ausübung der Schuldenabschreibungsbefugnis der im Insolvenzrecht üblichen Rangfolge der Forderungen so weit wie möglich gefolgt werden sollte. Jegliche durch besondere Umstände begründete Abweichung von dieser Rangfolge sollte im Vorfeld festgelegt und bekannt gegeben werden.

3.2.7.2   Die Kommission sollte sicherstellen, dass die Regelung glaubwürdig ist und Dominoeffekte vermieden werden, wenn die Hauptinvestoren eines „Bail-in“-Instruments für eine Bank andere, geschäftlich miteinander verbundene Banken sind. Die Effektivität von „Bail-in“-Instrumenten während einer Systemkrise sollte ebenso wie die Folgen ihrer gleichzeitigen Nutzung durch viele Finanzinstitute sorgfältig erwogen werden, und es sollten zusätzliche Maßnahmen vorgeschlagen werden, um mögliche tiefgreifende Probleme zu verhindern.

3.2.7.3   Die Kommission sollte das potenzielle prozyklische Verhalten und die Volatilität von „Bail-in“-Instrumenten in Krisenzeiten sorgfältig prüfen und erwägen, wann und in welchem Umfang ihre Verlässlichkeit unter derartigen Umständen gewährleistet ist.

3.2.7.4   Der EWSA erwartet, dass die Kommission mit Blick auf die Widerstandsfähigkeit des Bankensektors und der Finanzmärkte insgesamt eine Folgenabschätzung der verschiedenen als „Bail-in“-Instrumente einsetzbaren Instrumente durchführt.

3.3   Grenzübergreifende Koordinierung des Krisenmanagements

3.3.1   Koordinierte Abwicklung von EU-Bankengruppen

3.3.1.1   Der EWSA begrüßt das Anliegen der Kommission, eine angemessene grenzüberschreitende Koordinierung beim Krisenmanagement zu erreichen, und betont, dass die Vereinbarungen die Gleichbehandlung von Gläubigern und Anteilseignern in den Herkunfts- und Aufnahmemitgliedstaaten sicherstellen, die Ansteckungsgefahr in Krisenzeiten verringern und die Finanzstabilität in allen Mitgliedstaaten aufrechterhalten müssen.

3.3.1.2   Die Kommission führt in Abschnitt 4 ganz richtig aus, dass im Falle einer Insolvenz ein koordiniertes Vorgehen erforderlich ist und die „in Abschnitt 2 skizzierten Maßnahmen […] dafür sorgen [werden], dass die Abwicklungsbehörden über dieselben Instrumente und Befugnisse verfügen“. Eine solche Aussage scheint jedoch in Widerspruch zu einer anderen Aussage am Anfang von Abschnitt 3 zu stehen: „es sollte nicht im Einzelnen vorgeschrieben werden, welche Maßnahmen […] in einem bestimmten Fall zu treffen sind“.

3.3.1.3   Ein koordiniertes Vorgehen erfordert somit, dass eine gemeinsame Bereitschaft zum Ergreifen derselben Maßnahmen vorliegt, was angesichts früherer Erfahrungen höchst unwahrscheinlich ist. Die Kommission hat sich bei der Abfassung von Abschnitt 3 wahrscheinlich nur auf nationale Fälle bezogen, wohingegen sich Abschnitt 4 auf grenzüberschreitende Krisen bezieht, bei denen die Zuständigkeit einer europäischen Aufsichtsbehörde übertragen wird. Dazu muss jedoch angemerkt werden, dass das von einer europäischen Aufsichtsbehörde festgelegte Vorgehen von den nationalen Vorgehensweisen abweichen oder zu diesen in Widerspruch stehen kann, wenn jede nationale Behörde frei über ihr Vorgehen entscheiden kann. In einem solchen Fall könnten die Verfahrensweisen gegenüber den Gläubigern einer inländischen Niederlassung einer ausländischen Bank anders sein als bei den Gläubigern einer inländischen Bank. Dies könnte Anlass zu Bedenken hinsichtlich der rechtlichen Gleichstellung der Gläubiger und möglicher Fälle von Normenkollision im Binnenmarkt geben. Einige dieser Probleme werden im Konsultationspapier eingehend behandelt, und die meisten von ihnen können hoffentlich im Zuge der Konsultation gelöst werden.

3.3.1.4   Der Ausschuss ist sich sehr wohl dessen bewusst, dass sich die Mitgliedstaaten gegen einen normativen Ansatz sperren würden und es unrealistisch wäre, vom Gegenteil auszugehen; trifft eine internationale Krise aber eine Finanzgruppe, würde es zu Problemen führen, wenn die nationalen Behörden zu viel Entscheidungsfreiheit hätten. Vor dem Erlassen nationaler Vorschriften wäre es vermutlich notwendig, einige Hauptaspekte der Verfahrensweisen (langfristig unter dem Dach einer europäischen Aufsichtsbehörde) zu koordinieren.

3.3.1.5   Hinsichtlich des Koordinierungsrahmens erwägt die Kommission zwei Reformen: eine auf der Grundlage von Abwicklungskollegien, die andere auf der Grundlage von Gruppenabwicklungsbehörden. Die zweite erscheint sinnvoller, flexibler und wirksamer, da die Abwicklungsbehörden die leitende Rolle wahrnehmen würden und die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) als Beobachter beteiligt wäre. Der erste Vorschlag, der eine Vergrößerung der bestehenden Aufsichtskollegien unter Hinzuziehung der Abwicklungsbehörden vorsieht, könnte eine schnelle Entscheidungsfindung aufgrund von Bedenken hinsichtlich der Aufsicht und Abwicklung problematisch machen.

3.3.1.6   Ein großes Problem: ein Gruppenabwicklungskonzept wäre nicht verbindlich . Nationale Behörden, die mit dem Konzept nicht einverstanden wären, hätten die Möglichkeit, „davon unabhängig Maßnahmen zu ergreifen“, „jedoch müssten sie“ dabei berücksichtigen, wie sich diese Entscheidung auf die anderen Mitgliedstaaten auswirkt, „ihre Entscheidung gegenüber dem Abwicklungskollegium begründen“ und „die Gründe mit den anderen Mitgliedern des Kollegiums erörtern“. Auch hier geben frühere Erfahrungen Anlass zu einer negativen Einschätzung: Wenn nationale Interessen auf dem Spiel stehen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass jede nationale Behörde dem Schutz dieser Interessen Vorrang vor allen anderen Belangen einräumt., Das vorgeschlagene Verfahren ist zu schwerfällig, zeitraubend und nicht praktikabel in Fällen, in denen ein sofortiges Handeln der nationalen Behörden gefragt ist. Von einem Abwarten der nationalen Behörden und ihrem Verzicht auf nationale Maßnahmen auszugehen, bis die Abwicklungsbehörden auf Gruppenebene eine Entscheidung getroffen haben, ist insbesondere dann unrealistisch, wenn die Tochterinstitute zu groß für den lokalen Markt sind.

3.3.1.7   Der EWSA empfiehlt der Kommission eine Vereinfachung des Verfahrens, nach dem die Mitgliedstaaten, die mit dem vorgeschlagenen Plan nicht einverstanden sind, ihren Standpunkt zum Ausdruck bringen können.

3.4   Abwicklungsfinanzierung

Der Ausschuss hat sich zu diesem Thema bereits in seiner Stellungnahme zum Thema „Bankensanierungsfonds“ geäußert (9). Er möchte nochmals betonen, dass ein etwaiger Entwurf eines Rechtsaktes in diesem Bereich mit einer eingehenden Analyse und Folgenabschätzung einhergehen müsste, bei der die in einigen Mitgliedstaaten von den Banken erhobenen Abgaben und Steuern voll berücksichtigt werden müssten.

3.4.1   Abwicklungsfonds und Einlagensicherungssysteme

Der EWSA hat seinen Standpunkt zu Bankensanierungsfonds und Einlagensicherungssystemen bereits in einer kürzlich verabschiedeten Stellungnahme dargelegt (10).

3.4.2   Gestaltung der Abwicklungsfonds

3.4.2.1   Bedenken weckt ein scheinbar harmloser Schlusssatz: „… über die Kapazität des Fonds hinausreichende Kosten würden anschließend vom Bankensektor zurückgeholt.“ Einen gesamten Berufsstand in die Pflicht zu nehmen, um die durch eines seiner Mitglieder verschuldeten Verluste zu decken, ist kein unübliches Vorgehen, aber die Bedingungen für ein derartiges Vorgehen sollten auf Grundlage einer eingehenden Untersuchung der Folgen genau festgelegt werden. Eine angemessene Rechtsgrundlage ist erforderlich. Durch eine Verordnung Beiträge zu einem Fonds festzulegen, ist ein gängiges Verfahren, aber es ist ein Gesetz erforderlich, um Dritten Verluste unmittelbar aufzuerlegen.

3.4.2.2   Was die Bemessungsgrundlage für die Beiträge angeht, kämen als akzeptabler harmonisierter Ansatz der Gesamtbetrag der Verbindlichkeiten nach deren qualitativer Bewertung bzw. die Verbindlichkeiten ohne garantierte Einlagen in Frage. Aber auch hier stellt sich wieder das vertrackte Problem der Wahlmöglichkeit: Jeder Mitgliedstaat könnte, „sofern der Binnenmarkt dadurch nicht verzerrt wird“, eine andere Beitragsbemessungsgrundlage festlegen. Unterschiedliche Kriterien führen zu unterschiedlichen Beitragssystemen und zu unterschiedlich hohen Kosten für diesen Sektor in den einzelnen Mitgliedstaaten: Eine Verzerrung ist die unausweichliche Folge der eingeräumten Flexibilität.

3.4.2.3   Zahlreiche Mitgliedstaaten haben bereits Steuern und Abgaben mit sehr unterschiedlichen Parametern (Bemessungsgrundlage, Erhebungssatz und Geltungsbereich) eingeführt. Hinsichtlich dieser Unterschiede betont der Ausschuss, dass mithilfe praktischer Lösungen – ggf. auch bilateralen Vereinbarungen - kurzfristig für eine angemessene Koordinierung gesorgt werden muss. Außerdem soll nochmals hervorgehoben werden, wie wichtig es ist, auf kurze Sicht ausreichend Flexibilität in die nationalen Abgabensysteme einzubauen, sodass den laufenden Änderungen im Regelungsbereich und den Entwicklungen hin zu einer geeigneten EU-weiten Lösung auf mittlere Sicht entsprochen werden kann.

3.4.3   Größe der Fonds

Der EWSA hat sich hierzu bereits in einer unlängst verabschiedeten Stellungnahme geäußert (11). Auch hier ist wiederum eine quantitative Abschätzung der Folgen sowie eine Bewertung der Auswirkungen eines weiteren Abflusses von Mitteln aus den für Kredite zur Verfügung stehenden Ressourcen des Finanzsektors in Verbindung mit den Auswirkungen der Eigenkapitalrichtlinie notwendig.

3.5   Weitere Schritte und künftige Arbeiten

3.5.1   Weitere Schritte: Koordinierungsrahmen

Das Insolvenzrecht der Mitgliedstaaten wird zweifelsohne an die neuen Abwicklungsvorschriften angepasst werden müssen, aber über Form und Dauer darf spekuliert werden. Gesetzesänderungen erfordern die Beteiligung von Regierungen und Parlamenten - in der Regel ein langwieriges Verfahren, zumal bei heiklen Themen. Bevor die Kommission eine neue Verordnung erlässt, sollte sie sich bemühen, Kollisionen mit den fest verankerten Grundsätzen einiger Mitgliedstaaten zu vermeiden.

3.5.2   Insolvenzrahmen (mittelfristig)

Die Durchführung einer Liquidation in der Form eines Verwaltungsverfahrens ist nicht neu, aber in den meisten Mitgliedstaaten wird eine Liquidation gewöhnlich von einem Insolvenzverwalter durchgeführt, der von einem Gericht bestellt wird und unter dessen Aufsicht handelt. Würde die Liquidation von Banken durch Verwaltungsbehörden bzw. unter deren Aufsicht stattfinden, so würde dies eine Übertragung von Befugnissen von gerichtlichen auf administrative Stellen bedeuten, was im Widerspruch zum nationalen Recht oder sogar zur Verfassung der Mitgliedstaaten stehen könnte.

3.5.3   Der von der Kommission vorgeschlagene EU-Rahmen für Krisenmanagement im Finanzsektor weicht von dem Krisenmanagementansatz ab, der jüngst in einigen Mitgliedstaaten im Rahmen der von der EU und vom IWF unterstützten Programme angewandt wurde (12). Diese sehen eine Rekapitalisierung der Banken mit öffentlichen Mitteln einschließlich der EU/IWF-Finanzierung vor, die sich über die kommenden Jahren erstrecken kann, und das genau zu einem Zeitpunkt, zu dem in den restlichen EU-Ländern der neue EU-Rahmen für Krisenmanagement und der Bankensanierungsfonds umgesetzt werden sollen. Der EWSA erwartet von der Kommission, dass sie innerhalb eines realistischen Zeitrahmens geeignete Maßnahmen vorschlägt, die es den betreffenden Mitgliedstaaten ermöglichen, eine rasche, reibungslose und vollständige Umstellung auf den vorgeschlagenen EU-Rahmen für Krisenmanagement und den Bankensanierungsfonds zu bewerkstelligen, ohne dabei ihren Bankensektor zu schwächen.

Brüssel, den 16. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe auch ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 16, wo der EWSA im Einzelnen auf die Kosten des Krisenmanagementrahmens und insbesondere des Bankensanierungsfonds ebenso eingeht wie auf die Folgen für den Finanzsektor und die Gesamtwirtschaft.

(2)  Bericht der von Jacques de Larosière geleiteten hochrangigen Gruppe zu Fragen der EU-Finanzaufsicht vom 25. Februar 2009, Brüssel, Ziffer 245.

(3)  KOM(2009) 561 endg.

(4)  KOM(2010) 254 endg.

(5)  Siehe http://ec.europa.eu/internal_market/bank/crisis_management/index_de.htm.

(6)  Zur Finanzierung der Kosten siehe Abschnitt 3.4 von KOM(2010) 579 endg. sowie die Stellungnahme (ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 16).

(7)  Bericht der von Jacques de Larosière geleiteten hochrangigen Gruppe zu Fragen der EU-Finanzaufsicht vom 25.2.2009, Brüssel, Ziffer 245.

(8)  Siehe IWF, Financial Sector Assessment Program, 2011, www.imf.org.

(9)  ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 16.

(10)  Siehe Fußnote 9.

(11)  Siehe Fußnote 9.

(12)  Siehe die IWF-Länderberichte für Griechenland (Nr. 1168) und Irland (Nr. 10366 und Nr. 1147).


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/108


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der Sanktionsregelungen im Finanzdienstleistungssektor“

KOM(2010) 716 endg.

2011/C 248/18

Berichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Die Kommission beschloss am 8. Dezember 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der Sanktionsregelungen im Finanzdienstleistungssektor

KOM(2010) 716 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 26. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 16. Juni) mit 105 gegen 2 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Ausschuss begrüßt nachdrücklich die Festlegung eines supranationalen Rahmens für wirksame, abschreckende und verhältnismäßige Sanktionen und befürwortet den von der Kommission in ihrer Mitteilung gewählten Ansatz, gemeinsame Mindeststandards festzulegen, die die Mitgliedstaaten bei der Festsetzung von Verwaltungssanktionen für Verstöße gegen die Finanzdienstleistungsvorschriften einhalten sollten.

1.2   Der zu schaffende Rechtsrahmen soll die Einführung von Rechtsgrundsätzen ermöglichen, die von der EU bereits erfolgreich angewendet werden, wie das „Verursacherprinzip“, das in diesem Fall der Festlegung einer im Verhältnis zum verursachten Schaden stehenden Sanktion dient und exemplarisch bei Finanzverstößen Anwendung findet, oder die „Kronzeugenregelung“ im Zusammenhang mit Verfahren zur Untersuchung und Ahndung von wettbewerbswidrigen Praktiken. Diese Grundsätze sind aufgrund der zentralen Rolle, die die Beschäftigten der Finanzinstitute bei der Meldung von Verstößen spielen, von besonderer Bedeutung.

1.3   Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass der Begriff „Sanktionen“ weit gefasst werden muss und sowohl belastende Verwaltungsmaßnahmen als auch Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtmäßigkeit, Einziehung, Abberufung des Leitungsorgans, Sanktionen mit aufhebender Wirkung (beispielsweise Entzug der Zulassung) und Geldstrafen, Zwangsgelder und andere vergleichbare Formen beinhalten sollte.

1.4   Der EWSA fordert die Kommission auf, Wege und Mittel zu ergründen, um finanziellen Betrügereien mit Ausgangs- oder Endpunkt in Finanz- und Steueroasen, die mit die Funktionsweise des Binnenmarktes beeinträchtigenden Kapitalbewegungen einhergehen, Einhalt zu gebieten.

1.5   Ergänzend zu den verhängten Sanktionen sollten die Einziehung der unrechtmäßig erzielten Gewinne und ein Schadenersatz mit Strafwirkung in Erwägung gezogen werden. Die entsprechenden Beträge sollten - wie der EWSA bereits betont hat (1) - einem „Hilfsfonds zur Förderung von Sammelklagen“ zugeführt werden, der die Erhebung dieser Art kollektiver Schadenersatzklagen durch Verbraucherverbände erleichtern würde. In diesem Zusammenhang erinnert der EWSA die Kommission daran, dass er wiederholt auf die Notwendigkeit einer supranationalen Regelung zur Harmonisierung von Kollektivklagen hingewiesen hat (2).

1.6   Nach Ansicht des EWSA sollte die Europäische Kommission berücksichtigen, dass die EU internationale Abkommen mit Drittstaaten abschließen muss, um die extraterritoriale Wirkung des geltenden Rechts hinsichtlich finanzieller Sanktionen zu verstärken und so dessen Effektivität und abschreckende Wirkung im Falle von Verstößen gegen Finanzdienstleistungsvorschriften zu gewährleisten.

2.   Einleitung

2.1   Die Finanzkrise hat Zweifel daran aufkommen lassen, ob die Finanzmarktvorschriften stets eingehalten und EU-weit ordnungsgemäß angewandt werden. Mangelnde Durchsetzung von EU-Vorschriften in einem Mitgliedstaat kann sich zudem erheblich auf die Stabilität und Funktionsweise des Finanzsystems in einem anderen Mitgliedstaat auswirken.

2.2   Der ECOFIN-Rat forderte die Kommission und die drei Ausschüsse der Aufsichtsbehörden (Ausschuss der Europäischen Bankaufsichtsbehörden - CEBS, Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung - CEIOPS und Ausschuss der Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörden - CESR) auf, eine sektorübergreifende Bestandsaufnahme der Sanktionsbefugnisse in den Mitgliedstaaten mit Blick auf deren Kohärenz, Gleichwertigkeit und tatsächliche Nutzung durchzuführen.

2.3   Auch auf internationaler Ebene steht die Stärkung der Sanktionsregelungen auf dem Finanzmarktreformprogramm, wie die Staats- und Regierungschefs auf dem G20-Gipfel in Washington am 15. November 2008 bekräftigten. Zum anderen stellen die „Dodd-Frank Wall Street Reform“ und der „Consumer Protection Act“ (Juli 2010) eine umfassende Reform des amerikanischen Finanzsystems dar.

3.   Die Mitteilung

3.1   Ausgehend von den oben genannten Studien und den Diskussionen mit den Mitgliedstaaten veröffentlichte die Kommission die zu bewertende Mitteilung, in der sie Bereiche mit festgestellten Verbesserungsmöglichkeiten vorstellt und EU-Maßnahmen vorschlägt, mit denen die Sanktionsregelungen konvergenter und wirkungsvoller gestaltet werden könnten. Im Finanzsektor sind wirksame Sanktionsregelungen wesentlicher Bestandteil von Aufsichtsregelungen, die solide und stabile Finanzmärkte und den Schutz von Verbrauchern und Anlegern sicherstellen sollen.

3.2   Um die uneingeschränkte Einhaltung des EU-Rechts zu gewährleisten, müssen Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Sanktionen können als wirksam betrachtet werden, wenn sie die Einhaltung des EU-Rechts sicherstellen können, als verhältnismäßig, wenn sie der Schwere des Verstoßes angemessen sind und nicht über das zur Erreichung der verfolgten Ziele notwendige Maß hinausgehen, und als abschreckend, wenn sie schwer genug sind, um einen Urheber von einem weiteren Verstoß und andere potenzielle Rechtsbrecher von einem erstmaligen Verstoß abhalten.

3.3   Der bestehende Rechtsrahmen lässt den Mitgliedstaaten bei der Wahl und Verhängung ihrer nationalen Sanktionen erheblichen Spielraum. Dieser Spielraum sollte jedoch gegen die Notwendigkeit einer wirksamen und kohärenten Anwendung des europäischen Rechts abgewogen werden.

3.4   Derzeit sehen die geltenden EU-Richtlinien und -Verordnungen im Finanzsektor zum Thema Sanktionen im Wesentlichen vier Gruppen von Bestimmungen vor:

Koordinierung der Befugnis zur Verhängung von Sanktionen zwischen mehreren Mitgliedstaaten;

Verpflichtung der Mitgliedstaaten, angemessene Verwaltungsmaßnahmen und –sanktionen vorzusehen und zu gewährleisten, dass diese wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind; dabei wird gewöhnlich nicht zwischen Untersuchungs-, Präventiv- und Strafmaßnahmen unterschieden;

eine weitere Gruppe betrifft Sanktionen bei bestimmten Verstößen;

eine vierte Gruppe sieht vor, dass die Behörden die Maßnahmen und Sanktionen unter bestimmten Umständen öffentlich bekanntmachen müssen.

3.5   Die Bestandsaufnahme der Sanktionsregelungen hat Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten ergeben, die durch zahlreiche Faktoren bedingt sein können, wie Unterschiede zwischen den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten, verfassungsrechtliche Anforderungen, Funktionsweise der nationalen Verwaltungen oder Zuständigkeiten der Gerichte (Verwaltungs- oder Strafgerichte).

3.6   Zu den von der Kommission ermittelten Unterschieden und Schwächen der nationalen Sanktionsregelungen gehören folgende:

Einige zuständige Behörden können bei bestimmten Verstößen nicht auf wichtige Sanktionsbefugnisse zurückgreifen.

Die Höhe der von den Verwaltungen verhängten Geldstrafen ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat sehr unterschiedlich und in einigen Mitgliedstaaten unzureichend.

Es bestehen unterschiedlich geartete (d.h. verwaltungs- oder strafrechtliche) Sanktionen in den einzelnen Mitgliedstaaten.

Es besteht ein unterschiedliches Niveau der Anwendung von Sanktionen in den Mitgliedstaaten.

3.7   Nach Auffassung der Kommission können die Unterschiede in wesentlichen Aspekten der Sanktionsregelungen zur Nichteinhaltung von EU-Finanzdienstleistungsvorschriften führen, den Verbraucherschutz und die Marktintegrität erheblich gefährden, Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt bewirken, sich nachteilig auf die Finanzaufsicht auswirken und letztendlich das Vertrauen in den Finanzsektor untergraben.

3.8   Die Kommission ist der Auffassung, dass konvergentere und strengere Sanktionsregelungen erforderlich sind, um der Gefahr unzureichend funktionierender Finanzmärkte vorzubeugen. In diesem Zusammenhang schlägt sie die Festlegung des gemeinsamen Mindeststandards für eine Mindestangleichung der nationalen Sanktionsregelungen vor, die folgende Aspekte beinhalten sollten:

angemessene Verwaltungssanktionen bei Verstößen gegen zentrale Bestimmungen;

öffentliche Bekanntmachung der Sanktionen;

ausreichend hohe Bußgelder;

Sanktionen sowohl für natürliche Personen als auch für Finanzinstitute;

Zugrundelegung angemessener Kriterien bei der Anwendung von Sanktionen;

mögliche Einführung strafrechtlicher Sanktionen für die schwersten Verstöße;

angemessene Mechanismen zur Unterstützung einer wirksamen Sanktionierung.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Bewertung durch den EWSA

4.1.1   Der Ausschuss begrüßt nachdrücklich die Mitteilung, in der sich die Kommission für die Erarbeitung eines effizienteren supranationalen Rechtsrahmens zur Verfolgung von Verstößen der Unternehmen und Akteure des Finanzsektors in einem Kontext der Neufestlegung der internationalen Vorschriften über den Kapitalmarkt ausspricht.

4.1.2   In der Tat entspricht die Mitteilung dem Geist der in der G-20 (insbesondere) auf den Gipfeltreffen in Washington (2008), London (2009) und Seoul (2010) erzielten gemeinsamen politischen Standpunkte sowie der auf höchster institutioneller Ebene erzielten gemeinsamen Standpunkte der EU (z.B. Schaffung von Finanzaufsichtsbehörden, Reform der MiFID-Richtlinie, Vereinbarung über „Hedge-Fonds“ usw.)

4.2   Subsidiaritätsprinzip

4.2.1   In der Mitteilung, die eindeutig dem Subsidiaritätsprinzip entspricht, wird hervorgehoben, dass es in allererster Linie den nationalen Behörden obliegt, ihre Maßnahmen zu koordinieren und aufeinander abzustimmen, um für eine kohärente Anwendung des geltenden Rechtsrahmens und des zukünftigen Rahmens für Sanktionen bei Verstößen im Finanzdienstleistungssektor (allerdings nur für die in den Zuständigkeitsbereich der besagten Behörden fallenden Sanktionen) zu sorgen.

4.2.2   Gleichwohl kann es „innereuropäische Verstöße“ geben, bei denen die Urheber in mehreren EU-Staaten handeln und die sich auf den gesamten Binnenmarkt auswirken. In diesem Fall müssen

die Befugnisse zur Einleitung von Sanktionsverfahren klar festgelegt sein, um die Möglichkeit von „Forum shopping“, d.h. die Auswahl der nationalen Behörden, die bei der Anwendung der Sanktionsvorschriften am nachsichtigsten sind, auszuschließen;

Aufgaben und Pflichten unter bestimmten Voraussetzungen auch an andere zuständige Behörden delegiert werden;

in gelegentlichen Ausnahmefällen die Zuständigkeiten für den jeweiligen Fall entsprechend des Sachgebiets an die europäischen Aufsichtsbehörden übertragen werden.

4.2.3   Ein supranationales Vorgehen ist begründet, wenn es um die notwendige Konvergenz der nationalen Sanktionsrahmen in Verwaltungs- oder Strafsachen geht, die zurzeit große Unterschiede beziehungsweise Schwächen aufweisen, die ihre Angleichung unmöglich machen, oder die mit völlig unterschiedlichen Kriterien angewandt werden. Jeder Mitgliedstaat entscheidet darüber, ob straf- oder verwaltungsrechtlich vorzugehen ist, muss dabei jedoch den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität im Sinne der Rechtsprechung des EuGH folgen.

4.2.4   Zur Wahrung der Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Verwaltungs- und Justizbehörden soll der zu prüfende Rechtsrahmen die Einführung von Rechtsgrundsätzen ermöglichen, die von der EU bereits erfolgreich angewendet werden, wie das „Verursacherprinzip“, das in diesem Fall der Festlegung einer im Verhältnis zum verursachten Schaden stehenden Sanktion dient und exemplarisch bei Finanzverstößen Anwendung findet, oder die „Kronzeugenregelung“ im Zusammenhang mit Verfahren zur Untersuchung und Ahndung von wettbewerbswidrigen Praktiken, die aufgrund der zentralen Rolle, die die Beschäftigten der Finanzinstitute bei der Meldung von Verstößen spielen, von besonderer Bedeutung sind.

4.2.5   Die Schwere der bei Verstößen verhängten Sanktionen und Strafen, die auf jeden Fall abschreckend sein müssen, um die Begehung von in einer Demokratie nicht tolerierbaren Straftaten zu verhindern, muss natürlich mit der Vorzugsbehandlung, erheblichen Strafmilderung oder dem völligen Straferlass für jene vereinbar sein, die zur Aufdeckung oder Feststellung von Straftaten beitragen.

4.2.6   Nach Auffassung des EWSA kann die Meldung oder Anzeige im Sinne des US-amerikanischen Dodd-Frank Act eine gute Maßnahme zur Sanierung des Binnenmarktes für Finanzdienstleistungen sein. Dabei wird dessen Funktionsweise durch die Festlegung eines Systems finanzieller Anreize mit Anreizprogrammen für diejenigen, die den Finanzaufsichtsbehörden Verstöße gegen die diese Finanzdienstleistungen regulierenden Rechtsvorschriften melden, verbessert.

4.2.7   Dazu müssen bestimmte, in einigen Mitgliedstaaten noch bestehende rechtliche Hindernisse abgebaut werden, die aufgrund der Wahrung vermeintlicher Geschäftsgeheimnisse ein solches Vorgehen verhindern. Dies gilt auch für andere durch die Vertraulichkeit bedingte Hindernisse, welche den Urhebern solcher Anzeigen Nachteile bringen können, weshalb in jedem Fall der Schutz der Arbeitnehmer durch entsprechende Programme für den Schutz der jeweiligen Interessen gewährleistet sein muss.

4.2.8   Im Hinblick auf diesen Aspekt sieht die geltende Geldwäscherichtlinie bereits eine Vorzugsbehandlung für Mitarbeiter von Finanzinstituten, die verdächtige Transaktionen melden, sowie den Schutz vor etwaigen arbeitsrechtlichen oder sonstigen Repressalien vor.

4.3   In der Mitteilung nicht berücksichtigte Aspekte

4.3.1   Bei der Prüfung der Mitteilung kann jedoch festgestellt werden, dass die von der Kommission behandelten Verstöße im Allgemeinen Handlungen einzelner natürlicher oder juristischer Personen betreffen, die in einem Verwaltungs- oder Strafverfahren verfolgbar sind. In diesem Sinne bleiben das vorsätzliche oder unterlassene Handeln staatlicher Stellen - insbesondere derjenigen, die für die Regulierung und Aufsicht der Finanzmärkte zuständig sind -, deren unzureichende Arbeitsweise dem Binnenmarkt und den Interessen der Verbraucher ernsthaft Schaden zufügen kann, unberücksichtigt.

4.3.2   Dies ist beispielsweise der Fall in Bezug auf die notwendige Beseitigung sogenannter „unsichtbarer Hindernisse“, die sich als unüberwindbare Hürden für die Wahrnehmung der grundlegenden wirtschaftlichen Freiheiten erwiesen haben und noch immer erweisen (z.B. der missbräuchliche Einsatz von Ermessensspielräumen bei der Feststellung der Befähigung des Führungspersonals eines Kredit- oder Versicherungsinstitutes (3) oder beim Entscheid über die Erfüllung der Kriterien für eine qualifizierte Beteiligung an einem Finanzinstitut (4) usw.).

4.3.3   In ähnlicher Weise müssten in den Mitgliedstaaten bislang fehlende innerstaatliche Regelungen festgelegt werden, um die Haftung der Vorstände von Finanzinstituten, die aufgrund ihrer Systemrelevanz der Stabilität der Finanzmärkte und den Verbrauchern durch unvernünftiges oder arglistiges Handeln unkalkulierbare Schäden zufügen können, zu stärken.

4.3.4   Es ist insbesondere nicht zu rechtfertigen, dass zurzeit gegen Beschäftigte von Finanzinstituten, die aufgrund ihrer Größe für den Markt völlig unbedeutend sind, wegen Korruptions-, Betrugs- oder Geldwäschedelikten empfindliche Strafen verhängt werden können, während sich in einigen Mitgliedstaaten Manager der besagten Finanzinstitute, die für aus Verstößen im Finanzbereich resultierende Schäden verantwortlich sind, den straf- oder verwaltungsrechtlichen Sanktionen entziehen können. Die Schlussfolgerung lautet, dass die Corporate Governance nicht richtig funktioniert hat.

4.4   Gegenseitigkeit

4.4.1   In diesem Sinne folgt die Mitteilung einem übertrieben „eurozentrischen“ Blickwinkel, da in ihr schwerpunktmäßig „innereuropäische“ Tatbestände behandelt werden und Handlungen, die von Finanzinstituten aus Drittstaaten begangen werden, unberücksichtigt bleiben. Aufgrund der Öffnung der Kapitalmärkte bzw. der relativen Leichtigkeit, mit der diese Finanzinstitute im Rahmen der Niederlassungsfreiheit durch tolerierte Methoden wie „Joint Ventures“ oder „Leap-frogging“ tätig sind, können diese aber auch die Funktionsweise des Binnenmarktes beinträchtigen.

4.4.2   Angesichts einer fehlenden gemeinsamen Regelung, die eine Politik der „Gegenseitigkeit“ mit Drittstaaten im Bereich der Finanzdienstleistungen ermöglichen würde, sollten die nationalen Behörden zur Schaffung von Überwachungs- und Sanktionsmechanismen aufgefordert werden, die gegenüber Finanzinstituten aus Drittstaaten ebenso effektiv und durchschlagend sind wie gegenüber den eigenen.

4.4.3   Der EWSA fordert die Kommission auf, Wege und Mittel zu ergründen, um finanziellen Betrügereien mit Ausgangs- oder Endpunkt in Finanz- und Steueroasen, die mit die Funktionsweise des Binnenmarktes beeinträchtigenden Kapitalbewegungen einhergehen, Einhalt zu gebieten.

4.4.4   In dieser Hinsicht ist der EWSA besorgt darüber, dass sich die Kommission nicht ausreichend auf die Verfolgung von Verstößen gegen das Finanzrecht konzentriert, die in Drittstaaten stattfinden oder für die in Drittstaaten ansässige physische oder juristische Personen direkt oder indirekt verantwortlich sind.

4.5   Mit Blick auf bestimmte Aspekte technischer Art wird Folgendes festgestellt:

4.5.1

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass der Begriff „Sanktionen“ weit gefasst werden muss und sowohl belastende Verwaltungsmaßnahmen als auch Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtmäßigkeit, Einziehung, Abberufung des Leitungsorgans, Sanktionen mit aufhebender Wirkung (beispielsweise Entzug der Zulassung) und Geldstrafen, Zwangsgelder und andere vergleichbare Formen beinhalten sollte.

4.5.2

Sämtliche Sanktionsverfahren müssen zumindest auf folgenden Grundsätzen basieren: Rechtmäßigkeit, Tatbestandsmäßigkeit, Schuldhaftigkeit, Rückwirkungsverbot, „Reformatio in peius“, Unschuldsvermutung, Verhältnismäßigkeit, Anwendung des Grundsatzes „non bis in idem“, Verjährung, Einstellung des Verfahrens, Aussetzung der Vollziehbarkeit und die Möglichkeit des Rechtsbehelfs, um wirksamen Rechtsschutz zu erlangen.

4.5.3

Darüber hinaus wäre es empfehlenswert, auf eine größere Wirkung der öffentlichen Bekanntmachung und Verbreitung der gegen die Urheber verhängten Sanktionen hinzuwirken, indem sie nicht nur in den einzelstaatlichen Amtsblättern, sondern je nach Schwere der Sanktionen auch im Amtsblatt der EU beziehungsweise in der Presse und anderen Medien, z.B. Internetportalen, veröffentlicht werden, wobei die jeweiligen Kosten zu Lasten des Urhebers des Verstoßes gehen sollten.

4.6   Bestandteile des Instruments

4.6.1   Der EWSA ist der Auffassung, dass eine Klarstellung bezüglich des Rechtsinstruments, das die Kommission zum gegebenen Zeitpunkt zu beschließen gedenkt, dem Ziel, eine auf den Grundsätzen der Wirksamkeit, Verhältnismäßigkeit und abschreckenden Wirkung gründende Sanktionsregelung zu schaffen, förderlich sein kann.

4.6.2   Die Ideallösung wäre zwar der Erlass einer Verordnung, die keinerlei Ermessensspielraum in Bezug auf ihre Umsetzung bietet, allerdings ist eine Verordnung zum jetzigen Zeitpunkt der Entwicklung des Unionsrechts möglicherweise nicht das geeignete Instrument.

4.6.3   Der EWSA ist der Auffassung, dass es angemessener wäre, sich für eine Rahmenrichtlinie zu entscheiden, auch wenn nach Ansicht der Kommission eine Mindestharmonisierung notwendig wäre. In diesem Fall müssten die Bestimmungen hinreichend klar sein mit genauen und unbedingten Mandaten, damit sie unmittelbar und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs wirken können. Die Richtlinie müsste sehr detaillierte Bestimmungen enthalten, um sicherzustellen, dass die angestrebten im allgemeinen Interesse liegenden Ziele erreicht werden.

4.6.4   Wenn finanzielle Sanktionen verhängt werden, müsste auf jeden Fall stets der Grundsatz beachtet werden, dass der Urheber keinerlei Gewinn aus dem Verstoß erzielen darf, und es müssten gemeinsame Methoden zur Berechnung der Höhe der Rückzahlung des erzielten unrechtmäßigen Gewinns als zusätzliche Maßnahme zu der zu verhängenden Geldstrafe festgelegt werden.

4.6.5   Ergänzend zu den verhängten Sanktionen sollten die Einziehung der unrechtmäßig erzielten Gewinne und ein Schadenersatz mit Strafwirkung in Erwägung gezogen werden. Die entsprechenden Beträge müssen - wie der EWSA bereits betont hat (5) - je nach Prioritäten der einzelnen Mitgliedstaaten einem „Hilfsfonds zur Förderung von Sammelklagen“ zugeführt werden, der die Erhebung dieser Art kollektiver Schadenersatzklagen durch Verbraucherverbände und andere Organisationen, die ein berechtigtes Interesse haben, erleichtern würde. In diesem Zusammenhang erinnert der EWSA die Kommission daran, dass er wiederholt auf die Notwendigkeit einer supranationalen Regelung zur Harmonisierung von Kollektivklagen hingewiesen hat (6), um ein hohes Maß an Schutz der wirtschaftlichen Interessen dieser Gruppen zu erreichen.

4.6.6   Weitere Aspekte, die es bei der Verhängung von Sanktionen zu beachten gilt, müssten die persönlichen Umstände der Urheber, die Schwere des Verstoßes, die finanzielle Solidität des Urhebers des Verstoßes, seine Kooperationsbereitschaft, die Dauer des Verstoßes, die Auswirkungen des Verstoßes auf die Rechte und berechtigten Interessen der Verbraucher und Nutzer bzw. auf andere Wirtschaftsakteure sein.

4.7   Vertrag von Lissabon und Verbraucherschutz

4.7.1   Obwohl in der Mitteilung die Position der Nutzer von Finanzdienstleistungen umfassend berücksichtigt ist und unter anderem auf die Einreichung von Sammelklagen auf Schadenersatz vor den einzelnen nationalen Gerichten hingewiesen wird, wozu sich der EWSA bereits in zahlreichen Stellungnahmen zustimmend geäußert hat, bleibt dies auf einen passiven, auf dem Schutz vor missbräuchlichen oder kriminellen Praktiken und der Ahndung dieser Praktiken basierenden Ansatz beschränkt.

4.7.2   Im Zuge der Umsetzung des Vertrags von Lissabon, in dem der Grundsatz der partizipativen Demokratie als ein Kernbereich des demokratischen Lebens der Union verankert ist, sollten die Verbraucher durch eine Beteiligung ihrer repräsentativsten Verbände einbezogen werden.

4.7.3   In der zur Annahme erwogenen zukünftigen Sanktionsregelung werden Bestimmungen festgelegt, die die Stärkung der Verbraucherorganisationen in diesem Bereich sicherstellen. Unter anderem sollten die Schaffung ständiger Kommunikationskanäle zwischen dem Europäischen Parlament, der Kommission, dem EWSA und den besagten Organisationen vorgesehen und ihre Finanzierung durch die öffentliche Hand sichergestellt werden, um „ex ante“ eine wirksamere Arbeitsweise zu erreichen, durch die rechtzeitig auf mögliche Gefahrensituationen für die Stabilität der Finanzmärkte aufmerksam gemacht und die Erarbeitung von Vorschriften erleichtert werden, die mit der raschen Entwicklung von Marktprodukten und –praktiken Schritt halten. Zu berücksichtigen ist auch, welche Auswirkungen die Verhängung der Sanktionen gegen Finanzinstitute auf deren Kunden hat.

4.7.4   So könnte zusammen mit dem Ansatz des Schutzes vor Schäden durch Verstöße gegen die Rechtsvorschriften im Finanzsektor und der Ahndung solcher Verstöße ein präventiver Ansatz erreicht werden, der möglicherweise sehr viel wirksamer ist.

4.7.5   Der EWSA hält die Einrichtung einer europäischen Agentur für den Schutz der Verbraucher von Finanzdienstleistungen für wichtig und bekräftigt (7) seinen Standpunkt, dass die Einführung in die europäische Rechtsordnung einer ähnlichen Behörde wie das in den USA durch den Dodd-Frank Act geschaffene Bureau of Consumer Financial Protection erwogen werden sollte.

4.7.6   Der EWSA schlägt der Kommission deshalb vor, den Zeitraum zur Vorbereitung des künftigen Vorschlags dazu zu nutzen, Studien zu in der EU bewährten Methoden des Verbraucherschutzes im Finanzdienstleistungssektor zu erstellen bzw. zu überarbeiten, auf deren Grundlage Rechtsinstrumente geschaffen werden können, die ein hohes Schutzniveau für sämtliche Nutzer von Finanzdienstleistungen gewährleisten. Dieses hohe Schutzniveau für Nutzer von Finanzdienstleistungen ist Gegenstand eines in der Charta der Grundrechte vorgesehenen Auftrags, der sich an alle EU-Institutionen richtet.

Brüssel, den 16. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 1-19 und ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 20-25.

(2)  ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 1.

(3)  Artikel 11 der Richtlinie 2006/48/EG des EP und des Rates vom 14.6.2006, ABl. L 177 vom 30.6.2006, S. 1.

(4)  Artikel 12 der Richtlinie 2007/44/EG des EP und des Rates vom 5.9.2007, ABl. L 247 vom 21.9.2007, S. 1.

(5)  Siehe Fußnote 1.

(6)  Siehe Fußnote 2.

(7)  ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 21.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/113


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Grünbuch — Weniger Verwaltungsaufwand für EU-Bürger: Den freien Verkehr öffentlicher Urkunden und die Anerkennung der Rechtswirkungen von Personenstandsurkunden erleichtern“

KOM(2010) 747 endg.

2011/C 248/19

Berichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Die Kommission beschloss am 14. Dezember 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Grünbuch — Weniger Verwaltungsaufwand für EU-Bürger: Den freien Verkehr öffentlicher Urkunden und die Anerkennung der Rechtswirkungen von Personenstandsurkunden erleichtern

KOM(2010) 747 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 26. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 127 gegen 2 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der EWSA begrüßt die Vorlage des Grünbuchs der Kommission und erkennt die Notwendigkeit an, den Verkehr öffentlicher Urkunden in der gesamten Europäischen Union zu erleichtern und die dafür bestehenden Hindernisse zu beseitigen, weil dies den europäischen Bürgern das Leben erleichtert und ihnen hilft, ihre Rechte wirksamer wahrzunehmen.

1.2   Der EWSA unterstützt die Initiativen der Kommission zur Förderung des freien Verkehrs öffentlicher Urkunden, weil dadurch die Unionsbürgerschaft vollendet wird und die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Bürger gestärkt werden.

1.3   Nach Meinung des EWSA sollte die Kommission hinsichtlich der Personenstandsurkunden:

eine optionale supranationale Regelung für eine europäische Personenstandsurkunde schaffen,

die erforderliche Ausarbeitung harmonisierter Kollisionsnormen in Angriff nehmen und,

während die vorgenannten Voraussetzungen geschaffen werden, die gegenseitige Anerkennung durch die Bestimmung der Mindestanforderungen festlegen, die die Personenstandsurkunden erfüllen müssen, und den Konsens über ihre allgemeine Gültigkeitsvermutung innerhalb der EU herstellen, wenn die Rechtmäßigkeit ihrer Ausstellung durch die jeweils zuständige Behörde festgestellt worden ist.

1.4   Der EWSA fordert in diesem Zusammenhang die anderen zuständigen Einrichtungen und Organe der EU auf, die Vorschläge der Kommission in diesem Bereich zügig voranzubringen, damit möglichst noch in der laufenden Legislaturperiode supranationale Rechtsvorschriften erlassen werden können.

1.5   Der Ausschuss spricht sich aus nachvollziehbaren Gründen für die allgemeine Einführung von Urkunden der Verwaltungsbehörden mit mehrsprachigen Standardformularen aus, die sich an die von der Internationalen Kommission für das Zivilstandswesen (CIEC) verwendeten Vorlagen anlehnen, was unter anderem den Vorteil hätte, dass die Übersetzung der Urkunde im Bestimmungsstaat entfallen würde.

2.   Einleitung

2.1   Die Verwaltungsformalitäten, die erforderlich sind, um öffentliche Urkunden außerhalb des Mitgliedstaates, in dem sie ausgestellt wurden, verwenden zu können, sind für den Betreffenden unter Umständen mit einem hohen Zeitaufwand und erheblichen Kosten für den Echtheitsnachweis und die Vorlage einer beglaubigten Übersetzung dieser Schriftstücke verbunden.

2.1.1   Eines der Hindernisse liegt darin begründet, dass ein bestehender Rechtsanspruch oder eine bestehende Rechtspflicht in einem anderen Mitgliedstaat mit öffentlichen Urkunden nachgewiesen werden muss. Diese Urkunden können recht unterschiedlicher Natur sein. Es kann sich um Urkunden der Verwaltungsbehörden handeln, um notarielle Urkunden, um Personenstandsurkunden, um Verträge oder Gerichtsentscheidungen.

2.1.2   Hierbei ist das herkömmliche Verfahren, mit dem die Echtheit einer öffentlichen Urkunde im Ausland bestätigt wird, die „Legalisation“; die Urkunde muss nach dem ordentlichen Legalisationsverfahren zunächst von den Behörden des Staates, in dem die Urkunde ausgestellt wird, und anschließend von der Botschaft oder dem Konsulat des Staates, in dem die Urkunde verwendet werden soll, beglaubigt werden. Die vereinfachte Form dieses Verfahrens ist die „Apostille“, bei dem der Staat, aus dem die Urkunde stammt, sie mit einem Echtheitsvermerk versieht.

2.1.3   Im Rahmen des Stockholmer Programms (1) fordert der Europäische Rat die Kommission auf, die Arbeit zur Gewährleistung des uneingeschränkten Rechts auf Freizügigkeit fortzusetzen. Zur Erreichung dieses Ziels sieht der Aktionsplan des Stockholmer Programms zwei Legislativvorschläge zu folgenden Punkten vor:

den freien Verkehr von Urkunden durch Aufhebung der Legalisation im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und

die Anerkennung der Rechtswirkungen bestimmter Personenstandsurkunden, damit ein in einem Mitgliedstaat erteilter Rechtsstatus in einem anderen Mitgliedstaat mit denselben Rechtsfolgen anerkannt werden kann.

3.   Das Grünbuch der Kommission

3.1   Die Kommission leitet eine Konsultation zu Fragen im Zusammenhang mit dem freien Verkehr öffentlicher Urkunden und der Anerkennung der Rechtswirkung von Personenstandsurkunden ein.

3.2   Öffentliche Urkunden

3.2.1   Die Kommission möchte eine Konsultation über alle öffentlichen Urkunden einleiten, bei denen Verwaltungsformalitäten zu erfüllen sind, bevor sie außerhalb des Staates, in dem sie ausgestellt worden sind, verwendet werden können. Diese Formalitäten erstrecken sich auf den Echtheitsnachweis und die Vorlage einer beglaubigten Übersetzung. Allen diesen Urkunden ist gemeinsam, dass sie den von einem Amtsträger aufgenommenen Sachverhalt beglaubigen.

3.2.2   Verwaltungsformalitäten wie die Legalisation und die Apostille bei öffentlichen Urkunden in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union stützen sich auf unterschiedliche Rechtsquellen:

nationales Recht, das in den einzelnen Ländern stark voneinander abweichen kann;

zahlreiche internationale Abkommen oder Übereinkommen, die jeweils von einer begrenzten Zahl unterschiedlicher Staaten ratifiziert worden sind und keine Lösungen bieten können, die den EU-Bürgern die Freizügigkeit in der Union erleichtern;

ein unvollständiges Unionsrecht, das nur wenige Aspekte dieser Problematik regelt.

3.3   Optionen zur Erleichterung des freien Verkehrs öffentlicher Urkunden zwischen den Mitgliedstaaten:

3.3.1

Verzicht auf die Verwaltungsförmlichkeiten:

Vorgeschlagen wird die Befreiung sämtlicher öffentlichen Urkunden von der Legalisation und der Apostille zur Gewährleistung ihres freien Verkehrs.

3.3.2

Zusammenarbeit zwischen den zuständigen einzelstaatlichen Behörden:

3.3.2.1

Bestehen begründete Zweifel an der Echtheit einer Urkunde oder gibt es eine bestimmte Urkunde in einem Mitgliedstaat nicht, können die zuständigen nationalen Behörden die notwendigen Informationen austauschen und sich auf eine geeignete Lösung verständigen.

3.3.2.2

Über das e-Justizportal könnten sich die Unionsbürger über Personenstandsurkunden und ihre Rechtswirkungen informieren. Zu erwägen wäre auch die Möglichkeit für EU-Bürger, eine Personenstandsurkunde online über ein gesichertes System zu beantragen und abzurufen.

3.3.3

Lockerung des Übersetzungserfordernisses bei öffentlichen Urkunden:

Um dem Übersetzungserfordernis zu entsprechen und gleichzeitig die Übersetzungskosten zu minimieren, könnte in vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung zumindest für die gängigsten öffentlichen Urkunden unverbindlich ein Vordruck zur Verfügung gestellt werden.

3.3.4

Die europäische Personenstandsurkunde:

Diese europäische Urkunde würde zusätzlich zu den nationalen Personenstandsurkunden der Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen, da sie nicht verbindlich wäre, aber als Option in Frage käme. Mit einem Einheitsformular in Gestalt der europäischen Urkunde wären Format und Urkundsvermerke vereinheitlicht.

3.4   Gegenseitige Anerkennung der Rechtswirkungen von Personenstandsurkunden:

3.4.1

Personenstandsurkunden sind von einer Behörde ausgestellte Urkunden, die Ereignisse im Leben eines jeden Bürgers dokumentieren, wie Geburt oder Abstammung.

3.4.2

Jeder europäische Bürger sollte darauf vertrauen können, dass sein Personenstand gewahrt bleibt, wenn er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, und dass die durch eine Personenstandsurkunde verbriefte Rechtsstellung die damit verbundenen zivilrechtlichen Wirkungen erzeugen kann.

3.4.3

Hier stellt sich die Frage, ob die EU nicht tätig werden muss, um den Unionsbürgern in Personenstandsangelegenheiten größere Rechtssicherheit zu bieten und die Hindernisse auszuräumen, vor denen sie stehen, wenn sie in einem Mitgliedstaat die Anerkennung einer in einem anderen Mitgliedstaat geschaffenen Rechtslage beantragen.

3.4.4

Die im abgeleiteten Recht erlassenen EU-Rechtsvorschriften (2) beschränken sich allerdings auf wenige präzise Sachverhalte. Bislang gibt es keine allgemeinen Vorschriften für die Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat eingetretenen Ereignisses, das sich auf den Personenstand auswirkt. Zudem fällt das materielle Familienrecht der Mitgliedstaaten nicht in die Zuständigkeit der Union, da der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union hierfür keine Rechtsgrundlage bietet.

3.4.5

Zur Lösung dieser Probleme schlägt die Kommission drei Handlungsmöglichkeiten vor:

3.4.5.1

Unterstützung der nationalen Behörden bei der Lösungsfindung:

Danach bestünde die Hauptaufgabe der Europäischen Union in diesem Bereich darin, für eine effizientere Zusammenarbeit der nationalen Behörden zu sorgen.

3.4.5.2

Anerkennung von Rechts wegen:

In diesem Fall blieben die bestehenden Regelungen und die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unangetastet, was impliziert, dass jeder Mitgliedstaat auf der Basis gegenseitigen Vertrauens die Wirkungen einer in einem anderen Mitgliedstaat begründeten Rechtsstellung akzeptiert und anerkennt.

3.4.5.3

Anerkennung im Wege harmonisierter Kollisionsnormen:

Dazu wäre eine einheitliche EU-Regelung mit dem Ziel zu schaffen, ein auf zivilrechtlich relevante Vorgänge mit Auslandsberührung anzuwendendes Recht vorzusehen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Das Grünbuch der Europäischen Kommission ist aus legislativer Sicht durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die Funktionsfähigkeit des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu optimieren und zu verbessern und diesen Raum fester mit der Wahrnehmung der den Personen im Rahmen der Unionsbürgerschaft und der wirtschaftlichen Grundfreiheiten eingeräumten Rechte zu verknüpfen.

4.2   In diesem Zusammenhang begrüßt der Ausschuss diese Initiative der Kommission, die in Übereinstimmung mit den Verfassungsprinzipien und -werten und mit den Zielen der Europäischen Union, wie sie im EUV und im AEUV nach dem Vertrag von Lissabon festgeschrieben sind, der rechtlichen Sicht, die die Rolle der Menschen im europäischen Integrationsprozess stärkt, den Vorrang geben.

4.3   Daher obliegt es den Institutionen und Organen der Union, den Bürgern ihrer Mitgliedstaaten und allgemein allen Personen die Wahrnehmung der Rechte und Freiheiten zu ermöglichen, deren Nutznießer sie im Rahmen der Verträge und des geltenden Rechtsrahmens sind.

4.3.1   Das führt zu einer stärkeren Gleichbehandlung gemäß dem in Artikel 9 EUV verankerten Grundsatz und trägt dazu bei, die Hindernisse bei der Wahrnehmung dieser Rechte und Freiheiten aus dem Weg zu räumen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung nicht gerechtfertigt sind und die häufig nur Interessen bestimmter Gruppen schützen (d.h. das Eingreifen von Bürokraten, Notaren, Registerbeamten usw. ermöglichen) oder hinter denen sich unsinnige Vorbehalte im Zusammenhang mit der Souveränität der EU-Mitgliedstaaten verbergen.

4.4   Doch künftige Maßnahmen zur Beseitigung von Hindernissen aufgrund administrativer oder sprachlicher Formalitäten erfordern eine sorgfältige Erwägung ihres materiellen Geltungsbereichs, da sie neben dem gewünschten Nutzen für die Personen durch die Ausräumung von Schwierigkeiten und Verwaltungshürden sowie von finanziellen Kosten und durch die geringeren Wartezeiten für die Verwendung öffentlicher Urkunden durch Personen außerhalb des Staates, in dem sie ausgestellt wurden, größere Rechtskonflikte in Bezug auf ihre Wirkungen in sehr sensiblen Bereichen wie dem Personenstand hervorrufen können.

4.5   In Anbetracht dieser Einschätzung ist es zweckmäßig, die Realisierbarkeit dieser Maßnahmen gesondert zu analysieren und dabei einerseits die reinen Verfahrens- und sprachlichen Fragen und andererseits die substanzielleren Themen in Verbindung mit der Rechtslage von Personen zu prüfen.

4.6   Die volle Implementierung des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts sowie der Niederlassungsfreiheit, des freien Dienstleistungsverkehrs und der Freizügigkeit von Arbeitnehmern usw. machen supranationale Mechanismen und Rechtsetzungsakte erforderlich, die Verwaltungsformalitäten für die Beglaubigung der öffentlichen Urkunden abschaffen oder auf ganz spezifische Sachverhalte beschränken.

4.6.1   Hinter dem Eingreifen der Behörden eines Mitgliedstaates, der nicht der Ausstellungsstaat ist, verbergen sich oft mit dem EU-Recht unvereinbare Interessen, und solche Eingriffe sind häufig mit Diskriminierungen und ungerechtfertigten Belastungen für die Betroffenen verbunden.

4.6.2   Es liegt auf der Hand, dass die öffentliche Ordnung und die Wahrung der finanziellen Interessen der Mitgliedstaaten auf für die Einzelperson weniger belastenden Wegen sichergestellt werden können, die keineswegs ihre von der EU-Rechtsordnung gewährten Rechte verletzen. Sollten begründete Zweifel an der Echtheit einer Urkunde bestehen oder sollte eine Urkunde in einem anderen Mitgliedstaat nicht vorhanden sein, können die zuständigen nationalen Behörden Informationen austauschen und eine Lösung suchen.

4.6.2.1   In diesem Zusammenhang betont der Ausschuss jedoch, dass er es als Pflicht der öffentlichen Verwaltungen betrachtet, den Bürgern mit allen möglichen Mitteln die grenzüberschreitende Anerkennung aller öffentlichen Urkunden zur Erklärung des Status oder von Sachverhalten zu ermöglichen, die Voraussetzung oder Bedingung für die Wahrnehmung der von der EU eingeräumten Freiheiten sind.

4.6.3   Das beweisen verschiedene Erfahrungen im Rahmen der EU wie:

die administrative Zusammenarbeit zwischen den Standesämtern der elf Mitgliedstaaten, die am Übereinkommen Nr. 3 der CIEC (3) teilnehmen und deren zufriedenstellende Ergebnisse ein gutes Argument für den Ausschuss bilden, alle EU-Mitgliedstaaten zur Unterzeichnung dieses Übereinkommens aufzufordern (als Vorstadium bis zum absehbaren Erlass supranationaler Regelungen in diesem Bereich);

der Informationsaustausch über Berufsabschlüsse durch das elektronische Binnenmarktinformationssystem (IMI);

die stufenweise Automatisierung und Abschaffung des „Exequaturverfahrens“ als Teil der umfassenden Anwendung elektronischer Verfahren, e-Justiz, usw.

4.6.3.1   Angesichts dieser Erfahrungen scheint es folgerichtig zu sein, dass die Europäische Kommission den Legislativvorschlag ihres Grünbuchs über den freien Verkehr öffentlicher Urkunden mit anderen Initiativen wie „Europa Digital“ und „e-2020“ verknüpft. Nach Auffassung des EWSA wäre dies eine gute Gelegenheit, um die Errichtung eines Netzes von Standesämtern voranzubringen, das die Anwendung des Prinzips der einmaligen Vorlage von Urkunden und die Vereinfachung des gesamten Verwaltungsaufwands gestatten würde.

4.6.3.2   Nach Ansicht des Ausschusses könnte auch die baldige Schaffung einer Datenbank mit Mustern der von den Mitgliedstaaten am häufigsten ausgestellten öffentlichen Urkunden und entsprechenden Fassungen in den einzelnen Amtssprachen ins Auge gefasst werden. Diese Datenbank könnte von der Europäischen Kommission verwaltet werden und würde die gegenseitige Anerkennung und EU-weite Gültigkeitserklärung der Urkunden erleichtern.

4.6.4   Ähnlich gelagerte Erfahrungen in anderen Bereichen der EU-Politik machen deutlich, dass es möglich ist, Urkunden mit identischen oder ähnlichen Formularen, Techniken und Materialien zu verwenden, wie dies der Fall ist beim Europäischen Pass (4) und den Dokumenten zur Hilfeleistung nach Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe c) AEUV, dem Format des Führerscheins für Pkw und Motorräder in seinen verschiedenen Kategorien usw.

4.6.5   Der Ausschuss spricht sich aus nachvollziehbaren Gründen für die allgemeine Einführung von Urkunden der Verwaltungsbehörden mit mehrsprachigen Standardformularen aus, die sich an die von der CIEC verwendeten Vorlagen anlehnen, was unter anderem den Vorteil hätte, dass die Übersetzung der Urkunde im Bestimmungsstaat entfallen würde.

4.7   Natürlich sind eine engere Zusammenarbeit der Verwaltungen und die Ausstellung von in allen EU-Staaten gültigen Urkunden in einer Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens, um nicht zu sagen, der gegenseitigen Anerkennung erreichbare Ziele, und sie sind zweifellos erstrebenswert, um die Wahrnehmung der genannten Bürgerrechte und der wirtschaftlichen Grundrechte der EU zu ermöglichen. Der Erlass von europäischen Rechtsvorschriften, die in allen Mitgliedstaaten in vollem Maße angewandt werden können, stellt eine institutionelle Aufgabe dar, die unter die Zuständigkeiten der EU fällt und die für die Vertiefung des Integrationsprozesses notwendig ist.

4.8   Allerdings weist die Frage des urkundlichen Nachweises des Personenstands einige komplexere Aspekte auf, die es erforderlich machen, die verschiedenen politischen Alternativen im Legislativbereich auszuloten.

4.8.1   Es geht darum, eine gemeinsame Lösung, vielleicht durch eine europäische Personenstandsurkunde, für den problematischen Fakt zu finden, dass die derzeit von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten ausgestellten Personenstandsurkunden die persönlichen Situationen nicht in gleicher Weise angeben und ihre Wirkungen in den Ländern auch nicht voll anerkannt werden und geltend gemacht werden können.

4.8.2   Die unterschiedlichen juristischen, kulturellen und religiösen Traditionen der Mitgliedstaaten führen zu Ungleichheiten im Rechtsstatus der Person. Dies führt zu Widersprüchen, die von Ehefähigkeitsnachweisen, die in einigen Staaten als Voraussetzung für die Eheschließung gefordert werden, bis zur Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, zur Festlegung der Reihenfolge der Familiennamen oder der Bestimmung des Geschlechts nach einer Geschlechtsumwandlung reichen.

4.9   Da die Zuständigkeiten auf diesem Gebiet zurzeit bei den Mitgliedstaaten liegen und der Vertrag von Lissabon keine konkreten Grundlagen für supranationale Maßnahmen zur legislativen Angleichung in dieser Frage bietet und, im Gegensatz zu Artikel 77 Absatz 3 AEUV in Bezug auf Visa und andere kurzfristige Aufenthaltstitel, ebenso wenig eine Klausel über unvorhergesehene Übertragung von Zuständigkeiten vorsieht, ist eine strikte Beachtung des Subsidiaritätsprinzips vonnöten.

4.10   Folglich sollte die hypothetische Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Wege einer supranationalen Rechtsvorschrift auf der Grundlage der allgemeinen Bestimmungen von Artikel 81 Absatz 1 AEUV unter Beachtung des besonderen legislativen Verfahrens nach Artikel 81 Absatz 3 AEUV mit der erforderlichen Beteiligung der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten erwogen werden.

4.10.1   Von einer detaillierten Prüfung sowie einer wertenden Abwägung der einzelnen der Union zur Verfügung stehenden rechtlichen Optionen in Abhängigkeit von der Art des Personenstands, die anerkannt werden soll, ist daher abzuraten, da eine Anerkennung bei der Abstammung, Adoption oder Reihenfolge der Familiennamen einer Person wahrscheinlich eher machbar wäre als die Anerkennung einer Ehe.

4.10.2   Kurz gesagt, unabhängig von der durch die Europäische Union favorisierten legislativen Option und der für ihre Annahme erforderlichen Zeit sollte die Lösung so schnell wie möglich einen Nutzen für die Personen bringen, die die Anerkennung eines Rechtsstatus oder die Wirkung einer Personenstandsurkunde beantragen, indem verbindliche europäische Regelungen oder Leitlinien erarbeitet werden, die den zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten helfen, kohärente und flexible Lösungen ohne Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit zu finden.

4.11   Angesichts der dringenden Notwendigkeit, den Verkehr öffentlicher Urkunden zu erleichtern, sollten die Mitgliedstaaten und die Institutionen der EU die Initiativen der Kommission zur Förderung des freien Verkehrs öffentlicher Urkunden und zur Schaffung einer optionalen supranationalen Regelung für die europäische Personenstandsurkunde unterstützen. Gleichzeitig sind die erforderlichen Arbeiten zur Harmonisierung der Kollisionsnormen aufzunehmen und in der Zwischenzeit die gegenseitige Anerkennung durch die Festlegung der Mindestanforderungen an die Personenstandsurkunden und den Konsens über ihre allgemeine Gültigkeitsvermutung in der EU herzustellen, wenn die Rechtmäßigkeit ihrer Ausstellung durch die jeweilige zuständige Behörde festgestellt wurde.

4.12   Um die größtmögliche Wirksamkeit der potenziellen Maßnahmen zu gewährleisten, die von der EU für den freien Verkehr von öffentlichen Urkunden beschlossen werden, fordert der Ausschuss die Kommission auf, die Möglichkeit zu prüfen, in ihre künftigen Rechtsetzungsvorschläge die Erweiterung ihres Anwendungsbereichs auf die Bürger des Europäischen Wirtschaftsraums und der Drittstaaten, mit denen die EU gültige Assoziierungsabkommen (auf der Grundlage der Gegenseitigkeit mit den Bürgern der Mitgliedstaaten) abgeschlossen hat, und auf die langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen mit legaler Niederlassung oder legalem Wohnsitz in einem EU-Staat aufzunehmen.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  KOM(2004) 401 endg.

(2)  Verordnung (EG) Nr. 2201/2003, Art. 21, Abs. 2.

(3)  Beurkundet ein Standesbeamter eine Eheschließung, so teilt er dies nach diesem Übereinkommen dem Standesamt am Geburtsort jedes Ehegatten auf einem Vordruck mit.

(4)  ABl. C 241 vom 19.9.1981 und ABl. C 179 vom 26.7.1982.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/118


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 89/666/EWG, 2005/56/EG und 2009/101/EG in Bezug auf die Verknüpfung von Zentral-, Handels- und Gesellschaftsregistern“

KOM(2011) 79 endg. — 2011/0038 COD

2011/C 248/20

Berichterstatter: Miklós PÁSZTOR

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 8. bzw. 16. März 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 50 Absatz 2 Buchstabe g) AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 89/666/EWG, 2005/56/EG und 2009/101/EG in Bezug auf die Verknüpfung von Zentral-, Handels- und Gesellschaftsregistern

KOM(2011) 79 endg. – 2011/0038 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 26. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 144 gegen 2 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Veröffentlichung der Richtlinie, die seiner Ansicht nach einen wichtigen Fortschritt für die Entwicklung des Binnenmarktes darstellt. Sie ermöglicht nämlich die Verwirklichung umfassenderer Ziele von Handelsunternehmen, Arbeitnehmern, Verbrauchern und europäischen Bürgern, die in der Europa-2020-Strategie und in der europäischen Initiative für kleine und mittlere Unternehmen („Small Business Act“) formuliert wird. In der gegenwärtigen Form entspricht der Vorschlag, in dem die Vereinheitlichung der wichtigsten Angaben und Urkunden und die Ersetzung der freiwilligen Zusammenarbeit durch die gesetzliche Verpflichtung auf dem gesamten EU-Gebiet vorgesehen ist, jedoch nur einigen grundlegenden Forderungen.

1.2   Zugleich enthält der Vorschlag etliche Ungewissheiten hinsichtlich der Umsetzung. Darin wird es der Kommission überlassen, zahlreiche Fragen im Rahmen einer künftigen Regelung zu beantworten. Der EWSA hofft, auch in die künftigen Legislativetappen einbezogen zu werden und bei der Erarbeitung dieser künftigen Regelung weiterhin mit der Kommission partnerschaftlich zusammenzuarbeiten.

1.3   Der EWSA hätte es vorgezogen, wenn in dem Vorschlag die drei geänderten Richtlinien konsolidiert und die einschlägigen Forderungen der EU wirklich eigenständig formuliert worden wären (1). Mit der Änderung und den zu einem späteren Zeitpunkt verabschiedeten delegierten Rechtsakten wird die Umsetzung weniger klar sein. Daher bekräftigt der EWSA in dieser Frage seine in Bezug auf das Grünbuch vertretenen Standpunkte und würde sich wünschen, dass sie in künftige Rechtsvorschriften Eingang finden.

1.4   Der Ausschuss hält es für ein großes Versäumnis, dass in der Regelung nicht die Frage der Sitzverlagerung behandelt wird, die - wie es in dem Grünbuch heißt – in einem zunehmend einheitlichen Markt immer entscheidender wird. Der EWSA hält es für eine verpasste Gelegenheit, dass der Gesetzgeber nicht bestrebt war, das im Übrigen erwähnte Prinzip der Wertpapiertransparenz als Modell zu verwenden.

1.5   Der EWSA unterstützt die Änderungen in dem Vorschlag hinsichtlich der Richtlinien 89/666/EWG und 2005/56/EG.

1.6   Hinsichtlich der Änderung der Richtlinie 2009/101/EG hält der Ausschuss folgende Aspekte für wichtig:

Die Daten werden innerhalb der kürzestmöglichen Frist - d.h. der kürzesten Frist unter Berücksichtigung technischer und rechtlicher Zwänge – veröffentlicht;

wie vom EWSA bereits zu einem früheren Zeitpunkt empfohlen, muss der Antrag auf Basisinformationen im Rahmen des vereinheitlichten europäischen Systems kostenfrei sein;

die Frage der Kosten für Aufbau und Nutzung des Systems muss geklärt werden, was momentan nicht der Fall ist. Der Ausschuss vermisst in dem Vorschlag entsprechende Folgenabschätzungen; er hält es jedoch für unabdingbar, dass die EU Mittel zur Kostendeckung vorsieht;

die Nutzung des Systems ermöglicht es, so unmittelbar wie möglich Zugang zu den Informationen zu haben und die Offenlegung von Informationen in Papierfassung auf ein Minimum zu beschränken.

1.7   Der EWSA akzeptiert den 1. Januar 2014 als letzte Frist für die Umsetzung der notwendigen Rechtsakte durch die EU und die Mitgliedstaaten. Er hält es jedoch für unterlässlich, dass die EU eine „interne“ Frist für die in den delegierten Rechtsakten festgelegten Maßnahmen setzt.

2.   Inhalt des Richtlinienvorschlags

2.1   Die Richtlinie zielt darauf ab, die rechtlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen, die die Möglichkeiten des Binnenmarktes immer besser nutzen, transparenter zu gestalten und so das Vertrauen in den Binnenmarkt zu stärken, um die Nutzung der Wettbewerbsvorteile, die sich aus den Beziehungen zwischen Handelspartnern ergeben, zu begünstigen.

2.2   Auf der Grundlage der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen ergreifen, damit Gesellschafter und Dritte auf dem gesamten EU-Gebiet leichten Zugang zu den Urkunden und Angaben über Gesellschaften und ihre gegenseitigen Beziehungen bekommen. Bislang gab es nämlich keinerlei entsprechende wirksame Verpflichtung oder Möglichkeit. Die Transparenzfrage ist besonders akut und dringlich im Falle von Fusionen und Spaltungen von beidseitig einer Grenze angesiedelten Unternehmen oder im Falle örtlicher Zweigniederlassungen einer dem Recht eines anderen Mitgliedstaates unterworfenen Gesellschaft.

2.3   Als Lösung schlägt die Kommission die Änderung früherer Richtlinien vor:

Richtlinie 89/666/EWG über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem anderen Mitgliedstaat errichtet wurden (elfte Richtlinie);

Richtlinie 2005/56/EG über Verschmelzungen von Gesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten;

Richtlinie 2009/101/EG über mögliche Schutzbestimmungen für Gesellschafter und Dritte (neue Richtlinie über die Offenlegung von Geschäften, ersetzt die erste Richtlinie).

Diese Richtlinien befriedigen den wachsenden Informationsbedarf nur zum Teil.

2.4   Durch die mit der neuen Richtlinie eingeführten Änderungen werden die bestehenden Anforderungen und Verfahren erweitert, präzisiert und weiterentwickelt, und die Kommission wird zu weiteren Präzisierungen und Erweiterungen bei der Umsetzung der Richtlinie ermächtigt. Diese Maßnahme zielt im Wesentlichen darauf ab, dass sämtliche Gesellschaften, Zweigniederlassungen und Zusammenschlüsse von Wirtschaftsakteuren eindeutig und so schnell wie möglich identifiziert werden können und dass jede Änderung unverzüglich registriert und zugänglich wird. Als bestes Instrument erweist sich hierfür die elektronische Speicherung und Offenlegung der Urkunden und Angaben, und die Mitgliedstaaten müssen die Digitalisierung und Zugänglichkeit der Daten über die geplante einzige europäische Plattform gewährleisten.

2.5   Die meisten Änderungsvorschläge der Europäischen Kommission beziehen sich auf Richtlinie 2009/101/EG:

Die Frist für die Offenlegung der Daten wird auf maximal 15 Kalendertage festgelegt;

für jede Gesellschaft muss es eine einzige Kennung geben, die ihre zweifelsfreie Identifizierung im Europäischen Wirtschaftsraum ermöglicht;

die von den Mitgliedstaaten vorgeschriebenen Formalitäten müssen mit der Zugänglichkeit über eine einzige europäische Elektronikplattform vereinbar sein;

die Mitgliedstaaten müssen die Verlässlichkeit der Urkunden und Angaben gewährleisten;

die für die Offenlegung erhobenen Entgelte dürfen nicht über die notwendigen Verwaltungskosten hinausgehen;

zwecks Durchführung dieser Bestimmungen kann die Europäische Kommission auf der Grundlage übertragener Befugnisse technische Modalitäten für die Verwaltung, Sicherheit, Art der Bildung der einzigen Kennung, Sprachenverwendung, Methoden und technischen Normen für die Offenlegung sowie Sanktionsmöglichkeiten im Falle der Nichteinhaltung der Bestimmungen festlegen.

2.6   Was die Richtlinien von 1989 und 2005 angeht, bezieht sich die Änderung auf die eindeutige Kennung derjenigen Zweigniederlassungen oder Kapitalgesellschaften, die Gegenstand einer grenzübergreifenden Fusion waren, und auf die Forderung nach einer elektronischen Kompatibilität der übrigen Registriertätigkeiten.

2.7   In der Richtlinie, die sich an die Mitgliedstaaten richtet, wird des Weiteren der 1. Januar 2014 als letzte Frist für die Umsetzung durch die Mitgliedstaaten genannt; die Richtlinie selbst tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung in Kraft.

3.   Rechtlicher Hintergrund der Stellungnahme

3.1   Transparente Handelsregister sind nicht nur ein wichtiges Ziel an sich, sondern zugleich auch eine Voraussetzung für die Förderung der Harmonisierung des Gesellschaftsrechts. Die Interoperabilität der nationalen Register ist im Wesentlichen eine informationstechnische und wirtschaftliche Frage, aber der Vorschlag muss in einer rechtlichen Form veröffentlicht werden, weshalb die rechtlichen Erfordernisse daher nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Neben der Notwendigkeit, die richtige rechtliche Form zu finden, muss auch der rechtliche Hintergrund der Harmionisierung eingehend untersucht werden.

3.1.1   In diesem Zusammenhang stellt sich zuallererst die Frage, wie die Interessen der typischen kapitalexportierenden Länder und diejenigen der typischen kapitalimportierenden Länder miteinander in Einklang gebracht werden können. In der nachstehenden Tabelle werden ihre wesentlichen Standpunkte skizziert. Auf der Grundlage dieser Standpunkte schmälert die Berücksichtigung der zugrunde liegenden Interessen längerfristig erheblich den Erfolg einer inhaltlichen Harmonisierung, auch wenn im Rahmen der Debatten diese Frage angesichts einer technischen Frage wie der Interoperabilität der Handelsregister nicht wichtig erscheint.

 

Kapitalexportierender Mitgliedstaat

Kapitalimportierender Mitgliedstaat

1.

Legitimation der Unternehmen (Rechtsperson)

Fiktionsprinzip (Universalismus)

Realitätsprinzip (Partikularismus)

2.

Identifizierbarkeit der Rechtsperson

Registrierort

Tatsächlicher Verwaltungssitz

3.

Rechtsprechung

Individualitätsprinzip

Territorialitätsprinzip

4.

Grundsatz des Wirtschaftsrechts

Rechtssicherheit

Prävention von Rechtsmissbrauch

5.

Grundsatz des EU-Rechts (Binnenmarktpolitik)

Verbot der Beschränkung der Grundfreiheiten

Verbot diskriminierender Behandlung

3.2   Die Hemmnisse für die nationale Registrierung von Unternehmen sind in einigen – das Fiktionsprinzip anwendenden – Ländern (wo die Unternehmen auf nationaler Ebene im Prinzip automatisch anerkannt werden, wenn sie bestimmte formale Voraussetzungen erfüllen) weitaus geringer als in anderen Ländern (wo der Schutz der im Wirkungskreis der Unternehmen tätigen lokalen Gemeinschaften ebenfalls wichtig ist), da die Unternehmen, die eine Registrierung beantragen, eine größere Verantwortung als der Staat tragen. Anders gesagt: Hinsichtlich der Unternehmensregistrierung sind privatrechtliche Regelungen wichtiger als Bestimmungen des öffentlichen Rechts.

3.3   In einigen Ländern ist eine Änderung des Unternehmensstatuts überhaupt nicht möglich, während in anderen Ländern im Falle einer Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes die Identität, die vom Gesellschaftsrecht anerkannt werden kann, geändert und folglich auch eine Änderung im Register vorgenommen werden muss. Dies zog etliche Probleme im Binnenmarkt nach sich (siehe etwa den Fall Überseering), die weder eine doppelte Identität noch das Albtraumszenario einer doppelten Nichtidentität ausschließen (zum Beispiel im Falle einer irisch-deutschen Kombination).

3.4   Einige Länder sehen die Welt als einheitliches Ganzes und Unternehmenstätigkeiten als Gesamtheit, unabhängig davon, ob diese auf ihrem Gebiet oder im Ausland ausgeübt werden (Individualitätsprinzip). In anderen Ländern wird die Rechtsprechung auf der Grundlage des Territoriums bestimmt, oder zumindest wird auch hierauf Gewicht gelegt, und es besteht folglich ein gravierender Unterschied zwischen nationalem Territorium und Ausland. Die Harmonisierung ist somit von großer Bedeutung. Im ersten Fall (Individualitätsprinzip) fällt die Interoperabilität der Handelsregister im Wesentlichen unter das Privatrecht, und das Gesellschaftsrecht bezieht sich auf die Eigeninteressen der Unternehmen. Im zweiten Fall sind öffentliche Maßnahmen notwendig. Im ersten Fall ist es denkbar, dass für die kapitalexportierenden Länder beispielsweise das Projekt BRITE eine bessere Lösung als die positive Harmonisierung zu sein scheint.

3.5   Kennzeichnend für kapitalexportierende Länder ist, dass sie bei der Registrierung die gemäß dem Gesellschaftsrecht erhaltene Kennung nur ungern ändern, denn ihrer Ansicht nach hat die Rechtssicherheit Vorrang vor jedem anderen Aspekt. Demgegenüber sind andere Länder der Auffassung, dass der Schutz der im Wirkungskreis der Unternehmen tätigen lokalen Gemeinschaften am allerwichtigsten ist, und zögern gegebenenfalls nicht, den Rechtsstatus eines Unternehmens in Frage zu stellen. Aus diesem Grunde kann Artikel 11 der ersten Richtlinie (Artikel 12 in der neuen Richtlinie), in dem die Gründe für eine Unternehmensauflösung genau dargelegt werden, in den einzelnen Ländern ganz unterschiedlich angewandt werden – je nach ihrer Vorstellung von einer Unternehmensgründung (siehe beispielsweise die Fälle Ubbink und Marleasing).

3.6   Länder, die im Prinzip nicht zwischen in- und ausländischen Tätigkeiten unterscheiden, nutzen in der Regel besser die Möglichkeiten des Binnenmarktes, und die dort registrierten Unternehmen können daher leicht der Ansicht sein, dass ihnen die Maßnahmen des Aufnahmestaates schaden, da sie die Freiheiten der EU beschneiden. Demgegenüber kann in der Praxis der Länder, die das Realitäts-, d.h. das Territorialitätsprinzip anerkennen, der Akzent stärker auf dem Problem der diskriminierenden Behandlung ausländischer Unternehmen liegen. Offensichtlich liegt eine Vereinheitlichung der Handelsregister vor allem im Interesse der kapitalexportierenden Länder, da die entsprechenden Rechtsvorschriften eine größere Herausforderung für die kapitalimportierenden Länder bedeuten.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Der EWSA begrüßt die Veröffentlichung der Richtlinie, die einen bedeutenden Fortschritt für die Entwicklung des Binnenmarktes darstellt. Sie ermöglicht nämlich die Verwirklichung umfassenderer Ziele von Handelsunternehmen, Arbeitnehmern, Verbrauchern und europäischen Bürgern, wie der Ausschuss bereits zu einem früheren Zeitpunkt in Bezug auf das Grünbuch betont hat: „Die Verknüpfung von Unternehmensregistern soll die Ziele zweier strategischer Dokumente widerspiegeln, nämlich der EU-2020-Strategie und des ‚Small Business Act‘ (SBA). Durch eine Verknüpfung von Unternehmensregistern sollen die Transparenz erhöht und die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen erleichtert, Hindernisse für eine grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit verringert und der Verwaltungsaufwand, insbesondere für KMU, reduziert werden. All dies ist für die Konsolidierung des Binnenmarktes und die Förderung eines ausgewogenen und dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts wichtig, wie die Kommission in ihrer Mitteilung ‚Vorfahrt für KMU in Europa: Der ‚Small Business Act‘ für Europa‘ (KOM(2008) 394 endg.) hervorgehoben hat“ (2).

4.2   Der EWSA stellt unter anderem fest, dass mit dem Vorschlag in seiner aktuellen Form nur einigen grundlegenden Forderungen entsprochen wird, indem darin vorgesehen wird, die wichtigsten Angaben und Urkunden zu vereinheitlichen und die freiwillige Zusammenarbeit durch die gesetzliche Verpflichtung auf dem gesamten EU-Gebiet zu ersetzen. Desgleichen hält er die Ausrichtung der Regelung hinsichtlich der Verwaltungskosten und des Datenschutzes zwar für akzeptabel, ist jedoch der Ansicht, dass etliche Punkte noch genauer formuliert werden müssen.

4.3   Es ist jedoch festzustellen, dass der Vorschlag immer noch zahlreiche Ungewissheiten hinsichtlich der Umsetzung enthält. Insgesamt wird es darin einer künftigen Regelung überlassen, die entsprechenden Modalitäten festzulegen, obwohl es angebracht gewesen wäre, bereits zum heutigen Zeitpunkt davon Kenntnis zu haben. So hätte der vorliegende Vorschlag beispielsweise mehr Informationen über bestimmte Normen und Inhalte umfassen können, da diese teilweise in dem Grünbuch genannt wurden und darin eine Antwort gefordert wurde. Es hätte daher möglich sein sollen, sich zu ihren praktischen Aspekten zu äußern. Daher bekräftigt der EWSA seine in Bezug auf das Grünbuch vertretenen Standpunkte und würde sich wünschen, dass sie in künftige Rechtsvorschriften Eingang finden.

4.4   Der EWSA hat den Eindruck, dass die Europäische Union folglich eine Gelegenheit für einen größeren Schritt hin zu einer stärkeren Harmonisierung des Gesellschaftsrechts - wie in Ziffer 3 beschrieben - verpasst hat. Dem Ausschuss ist bewusst, dass erhebliche rechtliche und institutionelle Unterschiede Fortschritte in dieser umfassenderen Problematik erschweren und dass die Harmonisierung des Gesellschaftsrechts eine ein ganzes Jahrzehnt in Anspruch nehmende Aufgabe ist. Die Registrierung ist jedoch ein Teil dieses Prozesses; indem eine ausführliche Behandlung dieser Frage unterlassen wurde, haben wir eine Gelegenheit verpasst, gemeinsame Formulierungen zu suchen und eine Debatte zu eröffnen. Im Übrigen verdeutlicht das Programm BRITE anschaulich, dass die betroffenen Akteure mit einer Selbstregulierung etliche Detailfragen zur allgemeinen Zufriedenheit lösen können.

4.5   Der Ausschuss hält es für ein großes Versäumnis, dass in der Regelung nicht die Frage der Sitzverlagerung behandelt wird, die - wie es in dem Grünbuch heißt – in einem zunehmend einheitlichen Markt immer entscheidender wird. Der EWSA hält es für eine verpasste Gelegenheit, dass der Gesetzgeber nicht bestrebt war, das im Übrigen erwähnte Prinzip der Wertpapiertransparenz als Modell zu verwenden.

4.6   Im Rahmen dieses Prozesses wäre es eventuell wichtig gewesen, wenn in dem Vorschlag die drei geänderten Richtlinien konsolidiert und die einschlägigen Forderungen der EU wirklich eigenständig formuliert worden wären (3). Mit der Änderung und den zu einem späteren Zeitpunkt verabschiedeten delegierten Rechtsakten wird die Umsetzung weniger klar sein, zumal in dem vorliegenden Vorschlag die Herausforderungen der Registrierung hinsichtlich Verwaltung und Zusammenarbeit zwischen den Handelsregistern der Mitgliedstaaten nicht näher bestimmt werden.

4.7   Nach Ansicht des Ausschusses werden bei der Umsetzung der gesteckten Ziele neue Probleme auftreten, da gemäß dem Wortlaut des Vorschlags – und hoffentlich nicht gemäß dem ursprünglich angestrebten Ziel – die bislang auf europäischer Ebene tätigen Stellen, die im Bereich der Registrierung miteinander kooperieren, – seien sie offiziell, freiwillig oder vom Markt eingerichtet – im Rahmen der neuen Zusammenarbeit keinen Platz haben. Der EWSA teilt die Auffassung, dass das einheitliche Rechtsportal der Europäischen Union – das europäische Portal e-Justice – die zentrale Stelle für den Zugang zu Rechtsauskünften sein muss, hält es jedoch für wichtig, genügend Raum für Initiativen mit unterschiedlichen und eventuell umfassenderen Zielen zu lassen. Der Ausschuss unterstreicht ferner, dass „einer diesbezüglichen Zusammenarbeit zwischen den nationalen und europäischen Institutionen sowie den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft … besondere Bedeutung zu[kommt]“ (4). Der EWSA hofft, auch in die künftigen Legislativetappen einbezogen zu werden und bei der Erarbeitung dieser künftigen Regelung weiterhin mit der Kommission partnerschaftlich zusammenzuarbeiten.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1   Der EWSA unterstützt die Änderungen in dem Vorschlag hinsichtlich der Richtlinien 89/666/EWG und 2005/56/EG.

5.2   Hinsichtlich der Änderung der Richtlinie 2009/101/EG hält der EWSA es für wichtig, dass die Daten innerhalb der kürzestmöglichen Frist – d.h. die kürzeste Frist unter Berücksichtigung technischer und rechtlicher Zwänge – veröffentlicht werden. Seiner Ansicht nach ist es möglich, die vorgeschlagene Frist kurzfristig radikal zu kürzen. Er weist jedoch darauf hin, dass selbst diese Frist sich in bestimmten Fällen als zu lang erweisen kann und Änderungen folglich eventuell weitaus schneller mitgeteilt werden müssen, d.h. über die einzige europäische Plattform mittels einer unmittelbar nach einer lokalen Anmeldung erfolgenden „Offenlegung“ (5), die zu einem späteren Zeitpunkt zertifiziert werden könnte. Dies wird von den derzeitigen IT-Systemen ermöglicht.

5.3   Hinsichtlich der mit diesem Informationsdienst verbundenen Kosten muss deutlich festgelegt werden, ob sämtliche Kosten durch den von der anmeldenden Partei gezahlten Betrag gedeckt werden müssen oder ob die Informationen von der anfordernden Partei ebenfalls zu zahlen sind. Die in den Mitgliedstaaten existierenden Systeme divergieren in dieser Frage. Nach gängiger Praxis ist der Dienst nur dann kostenpflichtig, wenn die erbetenen Informationen aus einem ausländischen Unternehmensregister stammen. Der Ausschuss bekräftigt die weiter oben bereits geäußerte Hoffnung, dass der Antrag auf Basisinformationen im Rahmen des vereinheitlichten europäischen Systems kostenfrei ist (6).

5.3.1   Nach Ansicht des Ausschusses sollten insbesondere als Basisauskünfte für Handelsgesellschaften von Geschäftspartnern, Gesellschafter, Gläubiger und Arbeitnehmer Informationen über den Ort der Niederlassung, die Eigentümer und wichtigsten Führungskräfte des Unternehmens, die wirtschaftliche und rechtliche Situation der Gesellschaft und über ihre Belastbarkeit sowie exakte Buchhaltungs- und Bilanzdaten gelten.

5.3.2   In diesem Zusammenhang unterstreicht der Ausschuss, dass die Frage der Kosten für Aufbau und Nutzung des Systems nicht geklärt wurde. Er vermisst in dem Vorschlag entsprechende Folgenabschätzungen, hält es jedoch für unabdingbar, dass die EU Mittel zur Kostendeckung vorsieht.

5.4   Der EWSA begrüßt, dass die Daten elektronisch zugänglich sein werden. Er hofft allerdings, dass die Nutzung des Systems einen möglichst direkten Zugang zu den Daten ermöglichen wird. Der Ausschuss räumt jedoch ein, dass hier ein Gleichgewicht zwischen der notwendigen Offenlegung sowie einer schnellen und sicheren Funktionsweise gefunden werden muss. Er ist überzeugt, dass ein zufriedenstellender Kompromiss möglich ist und letztendlich die Offenlegung stärken wird. Eine andere grundlegende Erwartung des Ausschusses gegenüber dem vereinheitlichten System lautet, dass es die Offenlegung von Informationen in Papierform und somit die Offenlegungskosten auf ein Minimum reduziert.

5.4.1   Der EWSA weist darauf hin, dass Widersprüche zwischen europäischen Mitteilungsauflagen einerseits und in der nationalen Zuständigkeit verbleibenden Rechtsnormen (etwa die Frage der Urkundenauthentizität) andererseits entstehen können. Diese Situation darf nicht langfristig andauern.

5.5   Der EWSA ist der Auffassung, dass auch für sprachliche Probleme einfache technische Lösungen existieren, vorausgesetzt, es wurden erhebliche Vorarbeiten durchgeführt. Die derzeitigen Übersetzungsprogramme ermöglichen es, Standardtexte problemlos in jeder beliebigen Sprache zu veröffentlichen, vorausgesetzt, diese Texte sind verfügbar und wurden nach entsprechenden Beratungen genehmigt. Diese Form der Standardisierung ist vor allem für Basisinformationen und Buchhaltungsdokumente denkbar.

5.6   Hinsichtlich des Datenschutzes hält der EWSA es für sinnvoll, die Bestimmungen der Richtlinie 95/46/EG über den Schutz personenbezogener Daten auf das Unternehmensregister anzuwenden.

5.7   Der EWSA akzeptiert den 1. Januar 2014 als letzte Frist für die Umsetzung der notwendigen Rechtsakte durch die Mitgliedstaaten. Er hält es jedoch für unverzichtbar, dass die EU eine „interne“ Frist für die Anwendung der in den delegierten Rechtsakten festgelegten Maßnahmen setzen. So wird die Funktionsfähigkeit der Struktur gewährleistet sein, die einen schnellen und einheitlichen Zugang zu Unternehmensangaben auf dem gesamten EU-Gebiet ermöglicht.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Die erste und die elfte Richtlinie lassen sich aufgrund ihrer ähnlichen Thematik (Offenlegung der Gesellschaften) tatsächlich leicht miteinander kombinieren, während dies bei der Richtlinie über grenzübergreifende Verschmelzungen auf einen bestimmten Aspekt – die Klarheit der Handelsregister im Falle grenzübergreifender Aktivitäten - beschränkt ist.

(2)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 120, Ziffer 1.2.

(3)  Die erste und die elfte Richtlinie können aufgrund ihrer identischen Thematik (Offenlegung der Gesellschaften) tatsächlich leicht miteinander kombiniert werden, während dies bei der Richtlinie über grenzübergreifende Verschmelzungen auf einen bestimmten Aspekt – die Deutlichkeit der Handelsregister im Falle grenzübergreifender Aktivitäten - beschränkt ist.

(4)  Siehe ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 120, Ziffer 6.7.

(5)  Im europäischen elektronischen Netz offengelegte und für interessierte Kreise unmittelbar zugängliche Nachrichten oder Informationen.

(6)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 120, Ziffer 1.5.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/123


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Gesamtkonzept für den Datenschutz in der Europäischen Union“

KOM(2010) 609 endg.

2011/C 248/21

Berichterstatter: Peter MORGAN

Die Europäische Kommission beschloss am 4. November 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Gesamtkonzept für den Datenschutz in der Europäischen Union

KOM(2010) 609 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 27. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 16. Juni) mit 155 gegen 9 Stimmen bei 12 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Datenschutz in der EU ist Gegenstand der Richtlinie 95/46 EG, mit der zwei Ziele verfolgt wurden, namentlich:

(1)

Die Mitgliedstaaten gewährleisten den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere den Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten.

(2)

Die Mitgliedstaaten beschränken oder untersagen nicht den freien Verkehr personenbezogener Daten zwischen Mitgliedstaaten aus Gründen des gemäß Absatz 1 gewährleisteten Schutzes.

Es gilt, ein Gleichgewicht zwischen diesen Zielen zu finden, damit sie nicht miteinander im Widerspruch stehen. Hauptziel neuer Rechtsvorschriften muss die Schaffung eines neuen Rechtsrahmens sein, der zur Verwirklichung dieser beiden Ziele beiträgt.

1.2   Der Ausschuss begrüßt diese Mitteilung, in der die Europäische Kommission ihr Konzept für die Überarbeitung der Datenschutzrichtlinie aus dem Jahr 1995 darlegt. Aufgrund der rasanten Entwicklung neuer Technologien nimmt der Umfang der Online-Datenverarbeitung immer schneller zu. Daher muss im gleichen Maße auch der Schutz der personenbezogenen Daten verbessert werden, um erhebliche Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger zu verhindern. Die Erhebung, der Abgleich und die Verwaltung von Daten aus verschiedenen Quellen muss sorgfältig eingeschränkt werden. Im öffentlichen Sektor sind viele unterschiedliche Daten über die Beziehungen zwischen Bürger und Staat gespeichert. Es sollten immer nur so viele Daten wie für den jeweiligen Zweck erforderlich erhoben werden. Der Datenabgleich in einer einzigen Datenbank à la „Big Brother“ muss verboten werden

1.3   Gleichzeitig mahnt der Ausschuss zur Vorsicht. Der Rechtsrahmen für Geschäftstätigkeiten muss stabil und vorhersehbar bleiben. Der Ausschuss unterstützt daher eine angemessene Überarbeitung der Datenschutzrichtlinie.

1.4   In der Kommissionsmitteilung wird eingeräumt, dass ein Aspekt, der vielen Befragten, besonders multinationalen Unternehmen, die meisten Probleme bereitet, die trotz der gemeinsamen EU-Regelung unzureichende Harmonisierung der verschiedenen Datenschutzvorschriften der Mitgliedstaaten ist. Der Ausschuss schlägt vor, dass in der neuen Rechtsvorschrift ein kohärenterer Schutz der personenbezogenen Daten von Arbeitnehmern in der gesamten EU einschl. eines EU-Rahmens zur Stärkung von Rechtsklarheit und -sicherheit gewährleistet wird. Diesbezüglich begrüßt der Ausschuss insbesondere die Absicht der Europäischen Kommission, die Benennung eines unabhängigen Datenschutzbeauftragten verpflichtend zu machen und die Bestimmungen über dessen Aufgaben und Zuständigkeiten zu harmonisieren.

1.5   Angesichts des möglichen Konflikts zwischen dem Schutz der Privatsphäre des Einzelnen und der kommerziellen Nutzung von Daten über diesen Einzelnen sowie der Tragweite des Problems müssen die Bürger immer stärker für die Zwecke der Datenermittlung und ihre Rechte zur Kontrolle der Verwertung der ermittelten Daten sensibilisiert werden. Daher sind nach Auffassung des Ausschusses die wirksame Durchsetzung der Rechtsvorschriften und Sanktionen Grundvoraussetzungen, wenn am Ende ein echtes „Gesamtkonzept“ stehen soll. Darüber hinaus muss auch die grenzübergreifende Dimension abgedeckt werden.

1.6   In Bezug auf Unionsbürger sollte innerhalb der Europäischen Union das Recht des Landes des für die Verarbeitung Verantwortlichen gelten, in dem die Daten gespeichert sind. Für schutzwürdige Personen, insbesondere für Arbeitnehmer und Konsumenten, soll das Datenschutzrecht ihres gewöhnlichen Aufenthalts gelten.

1.7   Der Verweis auf Kinder ist zu flüchtig. Der Frage des Datenschutzes in Bezug auf Kinder muss besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Über ein Recht auf Vergessen („right to be forgotten“) könnten zwar in kindlicher Unbedarftheit und jugendlichem Leichtsinn online gestellte Daten gelöscht werden, doch könnte dieses Recht in der Praxis nicht verwirklichbar sein.

1.8   Die Definition für „sensible Daten“ muss klargestellt werden, da immer neue Kategorien an personenbezogenen Daten in elektronischer Form angelegt werden. Der weitverbreitete und wahllose Einsatz von Überwachungskameras ist dem Ausschuss ein Dorn im Auge. Die Rechtsvorschriften zur Einschränkung der missbräuchlichen Nutzung dieses Bildmaterials müssen unbedingt durchgesetzt werden. GPRS-Daten über den Aufenthalt von Personen sind ein weiterer potenziell strittiger Punkt. Außerdem werden zunehmend biometrische Daten erfasst. Die Definition sollte derartigen neuen Technologien und Methoden sowie künftigen technologischen Entwicklungen Rechnung tragen. Es könnte erforderlich sein, Grundsätze kontextabhängig festzulegen. Der Ausschuss befürwortet den korrekten Einsatz dieser neuen Technologien.

1.9   Der Ausschuss ist sich darüber im Klaren, dass die grenzübergreifende polizeiliche Zusammenarbeit sensibel ist, doch muss seiner Meinung nach den Grundrechten einschl. des Schutzes personenbezogener Daten zu jeder Zeit höchste Aufmerksamkeit gewidmet werden.

1.10   Der Ausschuss unterstützt die allgemeine Ausrichtung der Kommissionsvorschläge, um eine kohärente Anwendung der EU-Datenschutzregelung in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen. Er ist jedoch besorgt, dass die Richtlinie 95/46/EG möglicherweise noch nicht in allen 12 neuen Mitgliedstaaten wirksam und umfassend umgesetzt wurde.

1.11   Nach Ansicht des Ausschusses sind die nationalen Datenschutzbehörden ganz allgemein machtlos und überlastet. Ihre Unabhängigkeit muss gestärkt werden. Jedwede neue Richtlinie sollte die Bestimmung enthalten, dass die nationalen Behörden über den Status, die Befugnisse und die Ressourcen verfügen müssen, die zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlich sind.

1.12   Aufgrund ihres bisherigen Beitrags zum Schutz der Bürger in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten vertritt der Ausschuss die Auffassung, dass der Artikel-29-Datenschutzgruppe auch in Zukunft eine wertvolle Rolle zukommen muss.

1.13   Im Rahmen der Digitalen Agenda fordert der Ausschuss die Europäische Kommission auf, die Einrichtung einer EU-Behörde in Erwägung zu ziehen, die sich mit den weitreichenderen gesellschaftlichen Auswirkungen des Internet in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren beschäftigt. Die geltenden Rechtsvorschriften für den Schutz personenbezogener Daten und die allgemeine Sicherheit im Internet sind zunehmend überholt. Die Gesellschaft läuft der Entwicklung hinterher. In Bezug auf den Datenschutz empfiehlt der Ausschuss die Ernennung eines EU-weiten Datenschutzbeauftragten. Der aktuelle europäische Datenschutzbeauftragte ist nur für die EU-Institutionen zuständig, es ist jedoch ein Beauftragter notwendig, der die Koordinierung der Mitgliedstaaten und die Betriebsnormen überwacht. Mit einer derartigen Ernennung würde allerdings nur ein Teil der Zuständigkeiten der übergeordneten Behörde abgedeckt, die der Ausschuss im Sinn hat.

2.   Einleitung

2.1   Der Ausschuss unterstützt nach wie vor die Grundsätze der Richtlinie aus dem Jahr 1995. In der Folge werden einige vereinfachte Auszüge aus dieser Richtlinie wertfrei angeführt, in denen diese Grundsätze klar darlegt sind:

Artikel 6

Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass personenbezogene Daten

(a)

nach Treu und Glauben und auf rechtmäßige Weise verarbeitet werden,

(b)

für festgelegte, eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben werden;

(c)

den Zwecken entsprechen, für die sie erhoben und/oder weiterverarbeitet werden, dafür erheblich sind und nicht darüber hinausgehen;

(d)

sachlich richtig und, wenn nötig, auf den neuesten Stand gebracht sind;

(e)

nicht länger, als es für die Realisierung der Zwecke, für die sie erhoben oder weiterverarbeitet werden, erforderlich ist, in einer Form aufbewahrt werden, die die Identifizierung der betroffenen Personen ermöglicht.

Artikel 7

Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten lediglich erfolgen darf, wenn eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist:

(a)

die betroffene Person hat ohne jeden Zweifel ihre Einwilligung gegeben;

(b)

die Verarbeitung ist erforderlich für die Erfüllung eines Vertrags, dessen Vertragspartei die betroffene Person ist;

(c)

die Verarbeitung ist für die Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich, der der für die Verarbeitung Verantwortliche unterliegt;

(d)

die Verarbeitung ist erforderlich für die Wahrung lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person;

(e)

die Verarbeitung ist erforderlich für die Wahrnehmung einer Aufgabe, die im öffentlichen Interesse liegt;

(f)

die Verarbeitung ist erforderlich zur Verwirklichung des berechtigten Interesses, das von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen wahrgenommen wird.

Artikel 8

Die Mitgliedstaaten untersagen die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie von Daten über Gesundheit oder Sexualleben.

2.2   In den letzten zehn Jahren haben sich die Gegebenheiten aufgrund der neuen Bestimmungen von Artikel 16 AEUV und Artikel 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union grundlegend geändert.

2.3   In ihrer Mitteilung legt die Europäische Kommission ihr Konzept für eine Reform der EU-Vorschriften für den Schutz personenbezogener Daten in sämtlichen Tätigkeitsbereichen der EU unter besonderer Berücksichtigung der Herausforderungen der Globalisierung und der neuen Technologien dar, damit auch weiterhin ein hohes Schutzniveau für den Einzelnen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten in sämtlichen Tätigkeitsbereichen der EU gewährleistet ist.

2.4   Der weltweite Informationsaustausch läuft heute immer einfacher und schneller ab. Die personenbezogenen Daten eines Bürgers (E-Mail-Adresse, Fotos und elektronische Kalender) können im Vereinigten Königreich mittels einer in Deutschland gehosteten Software angelegt, in Indien verarbeitet, in Polen gespeichert und in Spanien von einem italienischen Bürger abgerufen werden. Diese rasche Zunahme der globalen Informationsflüsse ist eine große Herausforderung für die Rechte des Einzelnen auf den Schutz personenbezogener Daten. Der Datenschutz einschl. seiner grenzübergreifenden Dimension betrifft den Alltag der Bürger, und zwar am Arbeitsplatz, in der Kommunikation mit Behörden, beim Kauf von Waren oder Dienstleistungen, beim Reisen oder beim Surfen im Internet.

2.5   Die Europäische Kommission wird 2011 Rechtsvorschriften vorschlagen, um die Datenschutzbestimmungen im Sinne des Anliegens der EU zu ändern, dass der Schutz personenbezogener Daten in allen Politikbereichen, auch bei der Strafverfolgung und der Kriminalitätsprävention, deren Besonderheiten zu berücksichtigen sind, gewährleistet wird. Beispielsweise soll die Selbstregulierung gefördert und die mögliche Einführung von EU-Datenschutzsiegeln geprüft werden.

2.6   Die Europäische Kommission wird zudem weiterhin für die zuverlässige Überwachung der Umsetzung des Unionsrechts in diesem Bereich sorgen und ihr Vertragsverletzungsinstrumentarium einsetzen, wenn die EU-Datenschutzbestimmungen nicht ordnungsgemäß umgesetzt und angewandt werden.

2.7   Das Gesamtkonzept für den Datenschutz umfasst fünf Hauptziele:

Stärkung der Rechte des Einzelnen;

Stärkung der Binnenmarktdimension;

Änderung der Datenschutzvorschriften in den Bereichen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen;

Die globale Dimension des Datenschutzes;

Verstärkter institutioneller Rahmen für eine bessere Durchsetzung der Datenschutzvorschriften.

In den Abschnitten 3 bis 7 werden diese Ziele zusammengefasst und die Standpunkte des Ausschusses zu den Kommissionsvorschlägen dargelegt. Die fett gekennzeichneten Überschriften folgen der Gliederung der Kommissionsmitteilung. Der kursiv geschriebene Text ist jeweils eine inhaltliche Zusammenfassung.

3.   Stärkung der Rechte des Einzelnen

3.1   Angemessener Schutz des Einzelnen in allen Situationen

Die EU-Charta der Grundrechte beinhaltet das Grundrecht auf den Schutz personenbezogener Daten. Der Begriff „personenbezogene Daten“ soll sämtliche Informationen im Zusammenhang mit einer identifizierten oder identifizierbaren Person erfassen. Folgender Aspekt wird geprüft: Sicherstellung einer kohärenten Anwendung der Datenschutzvorschriften unter Berücksichtigung der Auswirkungen neuer Technologien auf die Rechte und Freiheiten von Personen mit dem Ziel, den freien Verkehr personenbezogener Daten im Binnenmarkt zu gewährleisten.

3.1.1   Der freie Verkehr personenbezogener Daten im Binnenmarkt ist für das reibungslose Funktionieren des Marktes notwendig, stellt auch jedoch eine potenzielle Bedrohung für den Schutz der Daten von Arbeitnehmern dar, die in den Unternehmen verwaltet werden. Hierfür sind besondere Sicherheitsvorkehrungen wie die Rechenschaftspflicht der der für die Verarbeitung Verantwortlichen im multinationalen Datenaustausch und die Verschlüsselung sensiblerer Daten erforderlich.

3.1.2   Der Ausschuss betont, dass der Beschäftigungssektor nicht nur in dieser Kommissionsmitteilung, sondern auch in der gesamten Datenschutzdebatte in Europa mehr oder weniger übergangen wird. Die auf europäischer Ebene bereits durchgeführten Arbeiten, insbesondere die Vorschläge der Artikel-29-Datenschutzgruppe sollten als Ausgangspunkt herangezogen werden.

3.2   Mehr Transparenz für die von der Verarbeitung Betroffenen

Transparenz ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass der Einzelne die Kontrolle über seine personenbezogenen Daten hat und ein wirksamer Datenschutz gewährleistet werden kann. Folgende Aspekte werden geprüft: ein allgemeiner Transparenzgrundsatz für die Datenverarbeitung, besondere Pflichten für die Verantwortlichen für die Datenerarbeitung, insbesondere in Bezug auf Kinder, Standardmuster für Datenschutzhinweise und eine Anzeigepflicht für Datenschutzverstöße.

3.2.1   Standardisierte Datenschutzhinweise haben den Vorteil, dass sie Interessenkonflikten vorbeugen. Ihre Anwendung sollte auf Freiwilligkeit beruhen.

3.2.2   „Transparenz“ betrifft nicht unbedingt auch die Frage einseitiger Vertragsbestimmungen. Es müssen strengere Vorschriften entwickelt werden, um einen besseren Schutz gegen unlautere Vertragsbestimmungen sicherzustellen.

3.2.3   Der Verweis auf Kinder ist zu flüchtig. Der Frage des Datenschutzes in Bezug auf Kinder muss besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Über ein Recht auf Vergessen („right to be forgotten“) könnten zwar in kindlicher Unbedarftheit und jugendlichem Leichtsinn online gestellte Daten gelöscht werden, doch könnte dieses Recht in der Praxis nicht verwirklichbar sein (siehe auch Ziffer 3.3.2).

3.2.4   In den neuen Rechtsvorschriften müssen die Rollen des für die Datenverarbeitung Verantwortlichen und des Dateiverantwortlichen klargestellt werden, um jedwede Unklarheit über ihre Identität, ihre Verpflichtungen und ihre Rechte auszuräumen.

3.2.5   Der Ausschuss befürwortet den Vorschlag für die Einführung einer Anzeigepflicht für Datenschutzverstöße, ist jedoch der Meinung, dass dies nicht für alle Vorkommnisse in allen Bereichen und unter allen Umständen Anwendung finden kann.

3.3   Bessere Kontrolle des Betroffenen über seine Daten

Wichtige Voraussetzungen sind, dass die Datenverarbeitung nur zu ganz bestimmten Zwecken erfolgen darf (Prinzip der Datensparsamkeit) und der von der Verarbeitung Betroffene weiterhin die Kontrolle über seine eigenen Daten hat. Folgende Aspekte werden geprüft: Stärkung des Prinzips der Datensparsamkeit, Verbesserung der Modalitäten für die Wahrnehmung der Rechte auf Zugang zu Daten, auf deren Berichtigung, Löschung oder Sperrung, Präzisierung des sogenannten Rechts auf Vergessen („right to be forgotten“) und Sicherstellung der „Datenübertragbarkeit“.

3.3.1   Ganz allgemein begrüßt der Ausschuss jedwede Maßnahme zur Verbesserung des Schutzes der Privatsphäre. Einzelpersonen sollten das Recht auf freien Zugang zu sämtlichen Daten haben, die bezüglich ihrer Person erhoben wurden. Freier Zugang zu Daten für die Bestimmung der Kreditwürdigkeit wäre ein typisches Beispiel. Die Möglichkeit, eine gegebene Einwilligung ohne Begründung zurückzuziehen, und ein effektives Recht auf Vergessen sind zwar von grundlegender Bedeutung, doch könnte der Schutz der Privatsphäre noch weiter gestärkt werden, wenn von vornherein weniger Daten gesammelt werden. Daher fordert der Ausschuss die Europäische Kommission dringend auf, den Vorschlag der Datensparsamkeit auch wirklich in die Praxis umzusetzen.

3.3.2   Das Recht auf Vergessen („right to be forgotten“) ist zwar ein vielversprechendes Konzept, doch ist es aufgrund der „viralen“ Verbreitung von Daten im Internet und der Technologien, die diese Daten zwar löschen, aber eben nicht vergessen, kaum praktikabel.

3.4   Bewusstsein fördern

Die Aufklärung sollte gefördert werden, einschl. der Bereitstellung von Informationen auf Websites, aus denen die Rechte der von der Verarbeitung Betroffenen und die Pflichten der für die Verarbeitung Verantwortlichen klar ersichtlich sind. Die Bewusstseinsdefizite junger Menschen sind hier ein besonderes Anliegen.

3.4.1   Der erforderliche Wandel der Verhaltensmuster wird nur schwer zu bewerkstelligen sein, vor allem weil die rasante Entwicklung von sozialen Netzwerken nicht Hand in Hand mit einem gesteigerten Bewusstsein der Nutzer für die Folgen der Bereitstellung dieser Menge an persönlichen Daten gegangen ist. Im Grunde wäre es gut, verpflichtende Aufklärungshinweise für jeden Internetdienst zu haben, doch könnte dies für die Unternehmen problematisch sein. Es sollten Aufklärungsmerkblätter nach Kategorie der Dienstleistung, d.h. elektronischer Geschäftsverkehr, Internetdiensteanbieter (ISP), Suchmaschinen, soziale Netzwerke usw., in Betracht gezogen werden.

3.4.2   Der Ausschuss befürwortet die Absicht der Europäischen Kommission, EU-Mittel für Aufklärungskampagnen bereitzustellen. Seiner Meinung nach sollte diese Initiative auf die finanzielle Unterstützung von Aufklärungskampagnen ausgeweitet werden, die von Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Organisationen auf europäischer und nationaler Ebene durchgeführt werden.

3.5   Gewährleistung der Einwilligung ohne Zwang und in Kenntnis der Sachlage

Die Europäische Kommission wird prüfen, wie die Bestimmungen über die Einwilligung präzisiert und gestärkt werden können.

3.5.1   Die erforderliche Einwilligung sollte auch weiterhin an die Art der zu verarbeitenden Daten und nicht der dazu verwendeten Technologien gebunden sein. Der Ausschuss ist jedoch besorgt, dass bei Einwilligungen im Online-Bereich die Anwendungen zumeist weder eine Bestätigungsnachricht noch wirksame Mechanismen bieten, um den Widerruf dieser Einwilligung aufzuzeichnen. Außerdem erfolgt die Einverständniserklärung womöglich, indem über das Klicken einer Schaltfläche zahllosen Geschäftsbedingungen zugestimmt und dabei die Einwilligung zur Datenverarbeitung nur unter anderem gegeben wird. Diese Einwilligung sollte sinnvollerweise in einem getrennten und einfachen Dokument enthalten sein, damit sie aussagekräftig, in Kenntnis der Sachlage und fallspezifisch erfolgen kann.

3.5.2   Für im Internet tätige Organisationen und Unternehmen ist die Verarbeitung personenbezogener Daten von grundlegendem Belang. Die Standardeinstellungen begünstigen eindeutig die Betreiber und können bei entsprechend unlauterer Anordnung die Nutzer benachteiligen. Ihre Verwendung sollte so definiert werden, dass die Betreiber als Standardeinstellung ihren Kunden den Schutz der Privatsphäre anbieten müssen.

3.5.3   Eine freiwillige Einwilligung setzt faire Vertragsbedingungen voraus. Es müssen Grundsätze festgelegt werden, um missbräuchlichen Geschäftspraktiken vorzubeugen.

3.6   Schutz sensibler Daten

Folgende Aspekte werden geprüft: Ausweitung der Definition für „sensible Daten“ und die mögliche Einstufung von Gendaten als solche und stärkere Harmonisierung der Voraussetzungen für die Zulassung der Verarbeitung sensibler Daten.

3.6.1   Die Definition für „sensible Daten“ muss klargestellt werden, da immer neue Kategorien an personenbezogenen Daten in elektronischer Form angelegt werden. Der weitverbreitete und wahllose Einsatz von Überwachungskameras ist dem Ausschuss ein Dorn im Auge. Die Rechtsvorschriften zur Einschränkung der missbräuchlichen Nutzung dieses Bildmaterials müssen unbedingt durchgesetzt werden. GPRS-Daten über den Aufenthalt von Personen sind ein weiterer strittiger Punkt. Außerdem werden zunehmend biometrische Daten erfasst. Die Definition sollte derartigen neuen Technologien und Methoden sowie künftigen technologischen Entwicklungen Rechnung tragen. Es könnte erforderlich sein, Grundsätze kontextabhängig festzulegen. Der Ausschuss befürwortet den korrekten Einsatz dieser neuen Technologien.

3.6.2   Außerdem sollten sensible Daten stärker geschützt und bestimmte sensible Daten verpflichtend verschlüsselt werden. Die besten verfügbaren Techniken sollten zur Anwendung kommen. Die für die Daten Verantwortlichen sollten für Sicherheitsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden.

3.7   Wirksamere Rechtsbehelfe und Sanktionen

Folgende Aspekte werden geprüft: Ausdehnung der Befugnis zur Klage bei nationalen Gerichten und Aufnahme strafrechtlicher Sanktionen bei ernsten Datenschutzverletzungen in die bestehenden Sanktionsregelungen.

3.7.1   Angesichts des möglichen Konflikts zwischen dem Schutz der Privatsphäre des Einzelnen und der kommerziellen Nutzung von Daten über diesen Einzelnen sowie der Tragweite des Problems müssen die Bürger immer stärker für die Zwecke der Datenermittlung und ihre Rechte zur Kontrolle der Verwertung der ermittelten Daten sensibilisiert werden. Daher sind nach Auffassung des Ausschusses die wirksame Durchsetzung der Rechtsvorschriften und Sanktionen Grundvoraussetzungen, wenn am Ende ein echtes „Gesamtkonzept“ stehen soll. Darüber hinaus muss auch die grenzübergreifende Dimension berücksichtigt werden.

3.7.2   Kollektive Rechtsschutzverfahren sollten als Mittel gegen extreme Schutzausfälle in Betracht gezogen werden. Die Möglichkeit für Unternehmen, Berufsorganisationen und Gewerkschaften, Einzelpersonen zu vertreten und Klage vor Gericht zu erheben, sollte ebenfalls untersucht werden.

4.   Stärkung der Binnenmarktdimension

4.1   Mehr Rechtssicherheit und gleiche Bedingungen für die Verantwortlichen für die Datenverarbeitung

Der Datenschutz in der EU hat eine ausgeprägte Binnenmarktdimension. Es werden Ansätze für eine weitere Harmonisierung der Datenschutzbestimmungen auf EU-Ebene geprüft.

4.1.1   Der Ausschuss befürchtet, dass der Umfang der den Mitgliedstaaten gemäß Richtlinie 95/46/EG eingeräumten Entscheidungsfreiheit zu Umsetzungsproblemen geführt hat. Eine Verordnung hätte hier mehr Sicherheit geboten. Die Harmonisierung sollte bei Standards ansetzen, die für die Einhaltung der Richtlinienbestimmungen ausreichen.

4.1.2   Die Mitteilung enthält keinen einzigen Verweis auf die Arbeitnehmer und den Zugang zu ihren personenbezogenen Daten, die von den Arbeitgebern verwaltet werden. Da Daten in multinationalen Unternehmen in oder auch außerhalb der EU zentral zusammengetragen werden können, müssen klar definierte Zugangsrechte im Sinne der Arbeitnehmer in die neue Regelung aufgenommen werden.

4.2   Verringerung des Verwaltungsaufwands der für die Verarbeitung Verantwortlichen

Es werden verschiedene Möglichkeiten für eine Vereinfachung und Harmonisierung der derzeitigen Melderegelung geprüft, darunter die Einführung eines EU-weit einheitlichen Registrierungsformulars. Meldeformalitäten könnten im Internet abgewickelt werden.

4.2.1   Der Ausschuss würde diese Initiativen nachdrücklich unterstützen.

4.3   Klärung der Bestimmungen über das anwendbare Recht und der Verantwortung der Mitgliedstaaten

Wenn mehrere Mitgliedstaaten betroffen sind, ist es den für die Verarbeitung Verantwortlichen und den Datenschutzbehörden nicht immer klar, welcher Mitgliedstaat verantwortlich und welches Recht anwendbar ist. Die Globalisierung und die technologische Entwicklung verstärken dieses Problem noch zusätzlich. Es wird geprüft, wie die geltenden Vorschriften über das anwendbare Recht geändert und präzisiert werden können, um für mehr Rechtssicherheit zu sorgen und die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zu klären.

4.3.1   In Bezug auf Unionsbürger sollte innerhalb der Europäischen Union das Recht des Landes des für die Verarbeitung Verantwortlichen gelten, in dem die Daten gespeichert sind. Für schutzwürdige Teilnehmer im Datenverkehr, so insbesondere für Arbeitnehmer und Konsumenten in der EU, soll das Datenschutzrecht nach Inhalt und Verfahren des gewöhnlichen Aufenthalts des Arbeitnehmers bzw. Konsumenten gelten.

4.4   Mehr Verantwortung der für die Verarbeitung Verantwortlichen

Die Europäische Kommission wird Möglichkeiten ausloten, wie sichergestellt werden kann, dass die für die Verarbeitung Verantwortlichen wirksame Maßnahmen und Verfahren einführen, mit denen die Einhaltung der Datenschutzvorschriften gewährleistet werden kann. Folgende Aspekte werden geprüft: verpflichtende Benennung eines unabhängigen Datenschutzbeauftragten und Harmonisierung der Bestimmungen über dessen Aufgaben sowie Zuständigkeiten und Einführung der Pflicht zur Durchführung einer Datenschutzfolgenabschätzung. Außerdem wird die Europäische Kommission die Technologien zum Schutz der Privatsphäre (Privacy Enhancing Technologies - PET) und die Anwendung des Konzepts „Privacy by Design“ („mit eingebautem Datenschutz“) weiter fördern.

4.4.1   Mit Technologien zum Schutz der Privatsphäre und dem Konzept „Privacy by Design“ könnte den für die Verarbeitung Verantwortlichen die Ermessensentscheidung abgenommen werden, die aufgrund der kommerziellen Prioritäten ihrer Unternehmen andernfalls vor einem Interessenkonflikt stehen könnten. Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission auf, diese Instrumente weiter zu untersuchen und ihre Entwicklung zu fördern, da sie das Potenzial bieten, den Datenschutz unter Ausschaltung von Interessenkonflikten zu stärken. Die Nutzung dieser Instrumente sollte im Idealfall verpflichtend vorgeschrieben werden.

4.4.2   Um jedweden Zweifel auszuschließen, sollten die für die Verarbeitung Verantwortlichen für alle Aspekte der Verarbeitung der Daten, für die sie zuständig sind, rechenschaftspflichtig sein. Dementsprechend sollten die Verpflichtungen zur Einhaltung des Schutzes der Privatsphäre in den Verträgen in aller Deutlichkeit aufgelistet werden, wenn Unterauftragnehmer und/oder Geschäftstätigkeiten in Drittstaaten betroffen sind.

4.4.3   Nach Meinung des Ausschusses sollte jeder Mitgliedstaat eine offizielle Stelle für Qualifikationen und Zertifizierung der Datenschutzbeauftragten einrichten.

4.4.4   Die Umsetzung der Bestimmungen in diesem Bereich sollte mit dem in Ziffer 4.2 erörterten Ziel der Verringerung des Verwaltungsaufwands der für die Verarbeitung Verantwortlichen im Einklang stehen.

4.5   Förderung von Initiativen zur Selbstregulierung und Möglichkeit der Zertifizierung durch die EU

Die Europäische Kommission wird Möglichkeiten zur verstärkten Förderung von Initiativen zur Selbstregulierung prüfen, darunter die aktive Förderung von Verhaltenskodizes, und die Möglichkeit der Einführung von EU-Zertifizierungsregelungen sondieren.

4.5.1   Siehe Ziffer 3.7.1: Die wirksame Durchsetzung der Rechtsvorschriften und Sanktionen sind wesentliche Anliegen des Ausschusses. Diese Vorschläge sind interessant, da sie dazu beitragen könnten, den enormen Regulierungsaufwand für Unternehmen zu verringern. Die Mitgliedstaaten sollten eine Zusammenfassung oder einen Leitfaden bewährter Verfahren erstellen.

5.   Änderung der Datenschutzvorschriften in den Bereichen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen

Im Unionsrecht ist der Schutz personenbezogener Daten im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen im Rahmenbeschluss 2008/977/JI geregelt. Dieser weist zahlreiche Mängel auf, die sich direkt auf die Möglichkeiten auswirken könnten, die Einzelpersonen zur Wahrnehmung ihrer Datenschutzrechte in Bereichen haben, wie das Recht zu wissen, dass ihre Daten verarbeitet oder weitergegeben werden, wer dies tut und zu welchem Zweck, und wie sie ihre Rechte, beispielsweise ihr Recht auf Zugriff auf ihre Daten, durchsetzen können.

Folgende Aspekte werden geprüft: die Einbeziehung der Bereiche der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in den Anwendungsbereich der allgemeinen Datenschutzbestimmungen, Einführung neuer Vorschriften z.B. für die Verarbeitung von Gendaten, Durchführung einer Konsultation zur Änderung des Kontrollsystems in diesem Bereich und Prüfung, ob die verschiedenen sektorspezifischen Vorschriften langfristig an die neue allgemeine Datenschutzregelung angepasst werden sollten.

5.1   Der Ausschuss ist sich darüber im Klaren, dass die grenzübergreifende polizeiliche Zusammenarbeit sensibel ist, doch muss seiner Meinung nach den Grundrechten einschl. des Schutzes personenbezogener Daten zu jeder Zeit höchste Aufmerksamkeit gewidmet werden. Der Ausschuss ist besorgt, dass Sicherheitsbedenken, seien sie auch noch so zwingend, oftmals zu einer Verletzung der Grundrechte führen. Einzelpersonen müssen besser über die Gründe für die Verarbeitung personenbezogener Daten aus Telefonrechnungen, Konten, Sicherheitskontrollen auf Flughäfen usw. seitens der Behörden und die dabei angewendeten Methoden informiert werden.

6.   Die globale Dimension des Datenschutzes

6.1   Klärung und Vereinfachung der Bestimmungen über internationale Datentransfers

Die Europäische Kommission wird prüfen, wie

die bestehenden Verfahren für den internationalen Datentransfer verbessert und koordiniert werden können, um ein einheitlicheres und kohärenteres Vorgehen der EU gegenüber Drittländern und internationalen Organisationen sicherzustellen;

die Kriterien und Anforderungen für die Bewertung des Datenschutzniveaus in einem Drittland oder in einer internationalen Organisation besser festgelegt werden können;

wie die zentralen Elemente des EU-Datenschutzes zu definieren sind, die für internationale Übereinkommen verwendet werden können.

6.1.1   Der Ausschuss befürwortet diese sinnvollen Initiativen und hofft, dass die Europäische Kommission ein breit angelegtes internationales Übereinkommen durchsetzen kann, ohne das diese Vorschläge wirkungslos blieben.

6.2   Förderung universeller Grundsätze

Die Europäische Union muss weiterhin treibende Kraft bei der Entwicklung und Förderung internationaler rechtlicher und technischer Normen im Bereich des Schutzes personenbezogener Daten sein. Die Europäische Kommission wird sich daher für internationale Datenschutzstandards sowie die Zusammenarbeit mit Drittländern und internationalen Organisationen wie der OECD einsetzen.

6.2.1   Der Ausschuss unterstützt auch diese Vorschläge. Angesichts der globalen Natur des Internet müssen die Vorschriften und Leitlinien auf den einzelnen Kontinenten miteinander vereinbar sein. Grenzüberschreitender Schutz der personenbezogenen Daten ist erforderlich. In diesem Bereich gibt es bereits Leitlinien der OECD und das Übereinkommen 108 des Europarates. Dieses Übereinkommen wird derzeit überarbeitet. Die Europäische Kommission sollte die Kohärenz zwischen dem Übereinkommen und der neuen Richtlinie sicherstellen.

7.   Verstärkter institutioneller Rahmen für eine bessere Durchsetzung der Datenschutzvorschriften

Die Europäische Kommission wird prüfen,

wie die Rechtsstellung und die Befugnisse der nationalen Datenschutzbehörden gestärkt, präzisiert und harmonisiert werden können;

wie die Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen den Datenschutzbehörden verbessert werden kann;

wie eine kohärentere Anwendung der Datenschutzvorschriften der EU im gesamten Binnenmarkt sichergestellt werden kann. Folgende Maßnahmen kommen in Frage:

Stärkung der Rolle der nationalen Datenschutzbeauftragten;

bessere Koordinierung ihrer Tätigkeiten über die Datenschutzgruppe;

Einführung eines Verfahrens zur Sicherstellung einer einheitlichen Praxis unter der Zuständigkeit der Europäischen Kommission.

7.1   Angesichts des Gewichts, das der Ausschuss der wirksamen Durchsetzung der Rechtsvorschriften und Sanktionen beimisst, sind diese Vorschläge seiner Meinung nach von grundlegender Bedeutung. Er unterstützt die Ideen zur Stärkung, Präzisierung und Harmonisierung sowie zur Zusammenarbeit und Abstimmung sowie die allgemeine Ausrichtung der Kommissionsvorschläge, um eine kohärente Anwendung der EU-Datenschutzregelung in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen. Er ist jedoch besorgt, dass die Richtlinie 95/46/EG möglicherweise noch nicht in allen 12 neuen Mitgliedstaaten wirksam und umfassend umgesetzt wurde.

7.2   Nach Ansicht des Ausschusses sind die nationalen Datenschutzbehörden ganz allgemein machtlos und überlastet. Ihre Unabhängigkeit muss gestärkt werden. Jedwede neue Richtlinie sollte die Bestimmung enthalten, dass die nationalen Behörden über den Status, die Befugnisse und die Ressourcen verfügen müssen, die zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlich sind. Ihre Aufgaben und Ressourcen sollten auf gesamteuropäischer Ebene festgelegt werden. Außerdem sollte die Ernennung eines einschlägigen EU-weiten Datenschutzbeauftragten in Betracht gezogen werden.

7.3   Aufgrund ihres bisherigen Beitrags zum Schutz der Bürger in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten vertritt der Ausschuss die Auffassung, dass der Artikel-29-Datenschutzgruppe auch in Zukunft eine wertvolle Rolle zukommen muss.

Brüssel, den 16. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Die folgenden Textstellen der Fachgruppenstellungnahme wurden zugunsten von im Plenum angenommenen Änderungsanträgen abgelehnt, hatten jedoch mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen erhalten:

Ziffer 1.6

In Bezug auf Unionsbürger und Arbeitnehmer in der EU sollte innerhalb der Europäischen Union das Recht des Landes des für die Verarbeitung Verantwortlichen gelten, in dem die Daten gespeichert sind.

Ziffer 4.3.1

In Bezug auf Unionsbürger und Arbeitnehmer in der EU sollte innerhalb der Europäischen Union das Recht des Landes des für die Verarbeitung Verantwortlichen gelten, in dem die Daten gespeichert sind.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen für die Änderung dieser Textstellen

:

86

Nein-Stimmen

:

72

Stimmenthaltungen

:

19


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/130


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Europäische Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung: Ein europäischer Rahmen für den sozialen und territorialen Zusammenhalt“

KOM(2010) 758 endg.

2011/C 248/22

Berichterstatterin: Maureen O'NEILL

Die Europäische Kommission beschloss am 16. Dezember 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Europäische Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung: Ein europäischer Rahmen für den sozialen und territorialen Zusammenhalt

KOM(2010) 758 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 27. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 147 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

Die EWSA-Stellungnahme zur „Europäischen Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ steht im Einklang mit der Europa-2020-Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum. In der Stellungnahme wird der neue ganzheitliche Ansatz betont, durch den die Plattform eng mit den anderen Leitinitiativen und den fünf Kernzielen der EU verknüpft wird. Betont wird darin auch der Bedarf an Kohärenz zwischen der EU-Ebene und den nationalen Politiken sowie die Einbeziehung und die Schlüsselrolle der regierungsunabhängigen Akteure (1).

1.   Empfehlungen

Der EWSA spricht folgende Empfehlungen aus:

Da Armut eine Verletzung der Menschenrechte darstellt, sollten Regierungen, Sozialpartner und Zivilgesellschaft gemeinsam für ihre Beseitigung sorgen;

Es sollte politische Kohärenz zwischen den wirtschaftlichen, finanziellen, beschäftigungspolitischen und sozialen Maßnahmen in der 2020-Strategie gewahrt werden, die alle zum sozialen Zusammenhalt beitragen sollten;

Sparmaßnahmen sollten nicht das Armutsrisiko erhöhen und eine wirksame soziale Folgenabschätzung muss durchgeführt und diskutiert werden;

Die Strategie zur aktiven Eingliederung sollte als ein ganzheitlicher Ansatz umgesetzt werden, um eine angemessene Einkommensunterstützung, einen inklusiven Arbeitsmarkt und Zugang zu qualitativ hochwertiger Arbeit und Dienstleistungen zu gewährleisten;

Ein stärkerer Akzent muss auf den Abbau von Ungleichheiten und die Stärkung grundlegender Menschenrechte, auch durch fairere Einkommensverteilung und Umsetzung der horizontalen Sozialklauseln, gelegt werden, wie es im Vertrag von Lissabon vorgesehen ist;

Stärker betont werden sollten auch die Investitionen in Humankapital durch lebenslanges Lernen in Bildung und Ausbildung und verbessertes Kompetenztraining, das auf die Bedürfnisse inner- und außerhalb des Arbeitsmarktes zugeschnitten ist;

Die Mitwirkung der zivilgesellschaftlichen Interessenträger an der Plattform, also auch von Menschen in Armut, NRO und Sozialpartnern, sollte durch einen strukturierten Dialog auf EU- und nationaler Ebene ausgebaut und durch angemessene EU-Mittel finanziell unterstützt werden. Der EWSA sollte in diesem Dialog und im jährlichen Konvent eine aktive Kooperationsfunktion wahrnehmen;

EU-Mittel, insbesondere aus den Strukturfonds, zur Reduzierung der Armut müssen aufgestockt und einfachere Verfahren, mehr Transparenz und die Überwachung der effektiven Umsetzung nachdrücklich angestrebt werden;

Die Methode der offenen Koordinierung im sozialen Bereich (MOK) sollte auch hinsichtlich der Entwicklung nationaler Strategien für Sozialschutz und soziale Eingliederung und von Aktionsplänen auf nationaler und lokaler Ebene verstärkt werden. Ihr Bezug zur Armut-Leitinitiative muss klarer herausgestellt werden.

2.   Vorgeschichte

„Von Armut spricht man, wenn Personen über ein so geringes Einkommen und so geringe Mittel verfügen, dass ihnen ein Lebensstandard verwehrt wird, der in der Gesellschaft, in der sie leben, als annehmbar gilt. Ihrer Armut wegen können sie zahlreichen Benachteiligungen ausgesetzt sein - Arbeitslosigkeit, Niedrigeinkommen, schlechten Wohnverhältnissen, unzureichender gesundheitlicher Betreuung und Hindernissen im Aus- und Weiterbildungs-, Kultur-, Sport- und Freizeitbereich. Sie sehen sich häufig an den Rand gedrängt und von der Teilnahme an Aktivitäten (wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art) ausgeschlossen, die für andere Menschen die Norm sind. Auch kann ihr Zugang zu Grundrechten eingeschränkt sein (2).

2.1   Mehr als 80 Mio. Menschen in der Europäischen Union leben unter der Armutsgrenze (3), davon sind mehr als 50 % Frauen und 20 Mio. Kinder. Statistische Daten über die materielle Armut sind selbstverständlich wichtig, doch gilt es auch, die immaterielle Armut, wie z.B. Analphabetismus, anzuerkennen. Die aktuelle Wirtschaftskrise hat die schwächsten und am stärksten benachteiligten Mitglieder unserer Gesellschaft am härtesten getroffen.

2.2   Die EU-Kommission hat die Reduzierung der Armut ins Zentrum ihrer Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialagenda gerückt – der Strategie „Europa 2020“ (4). Die Staats- und Regierungschefs erzielten eine politische Einigung mit dem gemeinsamen Ziel, in den nächsten zehn Jahren mindestens 20 Mio. Menschen einen Weg aus der Armut und der sozialen Ausgrenzung zu eröffnen. Die Leitinitative der Plattform gegen Armut ist fester Bestandteil der Strategie - gemeinsam mit Leitlinie 10, die den Beitrag der Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in den nationalen Reformprogrammen unterstützt.

2.3   Das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung veranschaulichte die Komplexität und die vieldimensionalen Aspekte der Armutsbekämpfung sowie den dringenden Handlungsbedarf zur Eindämmung der Armut vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und den Sparmaßnahmen.

2.4   Junge Menschen, Migranten und Geringqualifizierte haben mit zunehmender Arbeitslosigkeit zu kämpfen: Die sogenannten erwerbstätigen Armen, deren Einkommen nicht zur Deckung des täglichen Lebensbedarfs reicht, sowie ältere Menschen und Familien mit eingeschränkten Einkommen sind zunehmend materieller Deprivation ausgesetzt, die 8 % aller Unionsbürger und in einigen Mitgliedstaaten bis zu 30 % der Bevölkerung betrifft (5).

2.5   Der Europäische Rat hat sich darauf geeinigt, das prioritäre Ziel für die Reduktion von Armut im Rahmen der 2020-Strategie auf der Basis von drei Indikatoren festzulegen: Armutsgefährdungsrate, gravierende materielle Deprivation und Prozentsatz von Menschen, die in einem Haushalt ohne Erwerbseinkommen leben. Die Ziele der Armutsreduzierung sollten an lokale und regionale Prioritäten geknüpft werden.

3.   Europäische Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung

3.1   Die vorgeschlagene Plattform ist eine der sieben Leitinitiativen im Rahmen der Europa-2020-Strategie, deren drei prioritäre Ziele auf ein hohes Beschäftigungs- und Produktivitätsniveau und auf sozialen Zusammenhalt abzielen:

Intelligentes Wachstum,

Nachhaltiges Wachstum,

Integratives Wachstum.

3.2   Die Plattform soll die Mitgliedsstaaten, die EU-Institutionen und die wichtigsten Akteure verpflichten, gemeinsam Armut und soziale Ausgrenzung zu bekämpfen, indem sie einen „dynamischen Aktionsrahmen“ für den sozialen und territorialen Zusammenhalt schafft, damit Wachstum, Beschäftigung und soziale Inklusion allen in der EU zugute kommen.

3.3   Zu diesem Zweck hat die Kommission Handlungsbedarf in folgenden Bereichen festgestellt:

Maßnahmen in allen Politikbereichen;

stärkerer und wirksamerer Einsatz der EU-Mittel zur Unterstützung der sozialen Eingliederung;

Förderung evidenzbasierter sozialer Innovation;

partnerschaftliches Arbeiten und Bündelung des Potenzials der Sozialwirtschaft;

bessere politische Koordinierung zwischen den Mitgliedsstaaten.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Armut ist für Europa im 21. Jahrhundert untragbar und stellt eine Verletzung der Menschenrechte dar. Der EWSA begrüßt die Verpflichtung zur Armutsreduktion und die Zielvorgabe, mindestens 20 Mio. Menschen aus der Armut zu holen (6), ebenso wie die Errichtung der Plattform und die Maßnahmen zur Armutsreduzierung, von denen viele sich mit Vorschlägen aus früheren EWSA-Stellungnahmen decken; gleichwohl fordert er mehr konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung der Ursachen und der Folgen von Armut und zur Durchsetzung der Menschenrechte.

4.2   Es besteht ein Mangel an Kohärenz zwischen den Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitiken auf EU-Ebene und den realen Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten. Der EWSA betont, wie wichtig ein kohärenter und integrierter Ansatz ist und dass die EU-Politiken mit ihren Schwerpunkten Wirtschaftsregierung, Wachstum und Beschäftigung im Rahmen der Krise das Armutsrisiko nicht weiter steigern dürfen. Der EWSA fordert eine wirksame soziale Folgenabschätzung für diese Maßnahmen, über die eingehend diskutiert werden muss.

4.3   Bei der Ausarbeitung der Stellungnahme hat der EWSA auch die sonstigen Auswirkungen von Armut berücksichtigt: Armut vergrößert die wirtschaftliche und soziale Migration und behindert auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten die Amortisierung der Investitionen in die Humanressourcen. Die Lage von Armen, die kaum imstande sind, ihre Interessen zu verteidigen, könnte sich noch verschlechtern, wenn ihr Schutz bei der Konzeption der Wirtschafts-, Steuer-, Sozial-, Gesundheits- und Bildungsreformen zur Reduzierung der Staatsausgaben unberücksichtigt bleibt. Da immer mehr Menschen unter die Armutsgrenze rutschen, dürfte die Umverteilung staatlicher Gelder noch dringlicher werden."

5.   Besondere Bemerkungen

5.1   Sozialer Schutz

5.1.1   Der EWSA begrüßt die Tragweite der Maßnahmen zur Förderung von Beschäftigung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen, betont aber gleichzeitig, wie wesentlich es ist, den sozialen Schutz zu stärken und weder die Sozialfürsorge abzubauen noch die Löhne weiter nach unten zu drücken, was die Ärmsten unverhältnismäßig stark trifft.

5.1.2   Sozialschutzsysteme reduzieren das Armutsrisiko um ein Drittel (7) und sind ein unverzichtbarer Garant der Menschenrechte. Sie fungieren als automatisch greifende Wirtschaftsstabilisatoren, welche die Armut lindern und den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt fördern; und sie sind ferner unverzichtbar, um die Unterstützung der Öffentlichkeit für das Projekt Europa sicherzustellen (8).

5.1.3   Der EWSA unterstützt die Kommission in ihrem Anliegen, die Nachhaltigkeit der nationalen Sozialschutz-, Pensions- und Rentensysteme zu sichern, um in den verschiedenen Lebensphasen und im hohen Alter ein angemessenes Einkommen zu gewährleisten (9).

5.2   Aktive Eingliederungsstrategien

5.2.1   Die aktive Eingliederungsstrategie, welche die drei Pfeiler integrative Arbeitsmärkte, Zugang zu hochwertigen Dienstleistungen und angemessene Einkommensunterstützung  (10) in sich vereint, muss kontinuierlich verfolgt und koordiniert werden, damit die Hindernisse für die in Armut lebenden Menschen angegangen werden können.

5.2.2   Der EWSA begrüßt, dass bei der Bekämpfung von Armut sowohl die Verhütung als auch die Beseitigung von Armut durch nachhaltiges Wachstum im Mittelpunkt steht. Qualitativ hochwertige Beschäftigung und moderne effiziente Sozialschutzsysteme in Verbindung mit der Beseitigung der Ungleichheiten in den Bereichen Einkommen, Gesundheit und Zugang zu Dienstleistungen sind unverzichtbar. In ihrem Jahresfortschrittsbericht 2011 betonte die Kommission die Tatsache, dass „nachhaltiges Wachstum nur möglich (ist), wenn seine Vorteile allen Teilen der Gesellschaft zugute kommen“ und dass „Wachstum und soziale Kohäsion miteinander einhergehen“ müssen (11).

5.2.3   Während es auf der einen Seite unabdingbar ist, politische Maßnahmen auf EU-Ebene festzulegen, muss auf der anderen Seite die Rolle der Mitgliedstaaten und insbesondere der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften ausgebaut werden, damit der Wandel auch wirklich herbeigeführt wird. Der EWSA möchte hierzu gerne gemeinsam mit dem Ausschuss der Regionen beitragen.

5.2.4   Der EWSA betont, dass sowohl die Sozialpartner als auch die Verbände der Sozialwirtschaft, Genossenschaften inbegriffen, bei der Entwicklung integrativer Arbeitsmärkte und der Förderung einer faireren Einkommensverteilung eine maßgebliche Rolle als zentrale Beiträge zur Umsetzung der 2020-Strategie spielen sollten.

5.2.5   Der EWSA fordert, der Schaffung von qualitativ hochwertigen und nachhaltigen Arbeitsplätzen und Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut trotz Erwerbstätigkeit mehr Bedeutung beizumessen, indem für existenzsichernde Löhne, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und die Minimierung der Armutsfallen beim Übergang von der Sozialfürsorge in den Arbeitsmarkt gesorgt wird.

5.2.6   Es müssen besondere Maßnahmen ergriffen werden (12), um integrative Arbeitsmärkte zu schaffen und die Zugangsbarrieren für spezifische Gruppen, wie u.a. junge und ältere Menschen, ethnische Minderheiten (u.a. Roma), Migranten, Frauen, Alleinerziehende und Menschen mit Behinderungen (13) als Teil der EU-Strategie zur aktiven Eingliederung zu beseitigen.

5.2.7   Der EWSA betont die Bedeutung legaler Arbeit für alle und ist besorgt über die Auswirkungen von Schwarzarbeit, Steuerflucht und Steuerhinterziehung auf die nachhaltige Finanzierung der Sozialschutzsysteme und auf die Beschäftigung und sozialen Rechte. Integrierte Maßnahmen auf EU-Ebene sind ebenso notwendig wie ein Mix von Sanktionen und effektiven Kontrollen sowie einem Angebot von Anreizen für legale Arbeit.

5.2.8   Der EWSA fordert einen detaillierten Fahrplan für die Umsetzung der aktiven Eingliederungsstrategien auf lokaler Ebene. Er schließt sich dem Aufruf des Europäischen Parlaments an die Kommission an, die Auswirkungen einer Gesetzesvorlage zur Einführung eines angemessenen Mindestlohns von mindestens 60 % des Durchschnittseinkommens in jedem Mitgliedstaat zu untersuchen.

5.2.9   Der EWSA drängt darauf, vergleichbare Daten und verbesserte Indikatoren zusammenzutragen, um den sozialen und wirtschaftlichen Nutzen der Armutsbeseitigung sowie die Kosten der Untätigkeit zu ermitteln.

5.3   Einbeziehung der Betroffenen

5.3.1   Der EWSA erachtet die Einbeziehung der wichtigsten Akteure in einen regelmäßigen strukturierten Dialog auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten als unverzichtbar bei der Suche nach effektiven Lösungen und bei der Überwachung der Umsetzung des Programms der Plattform.

5.3.2   Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, mit den EU-Institutionen, in Armut lebenden Menschen, NRO, Sozialverbänden, den Sozialpartnern und weiteren Akteuren der Zivilgesellschaft in einem jährlichen Konvent zusammenzuarbeiten, um Bilanz über die erzielten Fortschritte als Teil des oben erwähnten strukturierten Dialogs auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten zu ziehen. Hierzu muss auch eine Bilanz der sozialen Auswirkungen des Jahreswachstumsberichts und der erzielten Fortschritte gehören.

5.3.3   Der EWSA würde eine stärkere Rolle des EU-Parlaments bei der Sicherstellung der Umsetzung des Programms der Plattform in den Mitgliedstaaten begrüßen. Dies steht im Einklang mit den Vorschlägen der Bürger-Agora des Europäischen Parlaments.

5.3.4   Der EWSA unterstützt nachdrücklich, dass in der Plattform-Leitiniative freiwillige Leitlinien für die Einbeziehung der Akteure auf EU-Ebene und in den nationalen Reformprogrammen vorgeschlagen werden.

5.3.5   Der EWSA sollte ein aktiver Partner beim Erreichen der mit der Plattform angestrebten Ziele sein und eine zentrale Rolle beim Zusammenführen der Interessen der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft spielen. Hierzu könnten zählen:

Veranstaltung einer jährlichen Anhörung, um über die Fortschritte auf dem Weg zur Armutszielmarke zu diskutieren;

Beitrag zu der für 2014 geplanten Halbzeitbilanz im Rahmen von Europa 2020;

Beitrag zum jährlichen Konvent;

Teilnahme an einem regelmäßigen Dialog mit anderen Akteuren, wie z.B. Ausschuss der Regionen und nationale WSR, und Erarbeitung von Stellungnahmen zu zentralen Prioritäten.

5.4   Bewältigung von Ungleichheiten

5.4.1   Der EWSA begrüßt, dass im Rahmen der Plattform ein Schwerpunkt der Arbeit auf Diskriminierungsfreiheit, Gleichberechtigung und Integration gelegt wird, um die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen oder psychischen Gesundheitsproblemen, jungen und älteren Menschen, jenen mit Migrationshintergrund und aus ethnischen Minderheiten, einschließlich Roma, und den Ausbau der Gleichstellung zu gewährleisten (14). Der EWSA betont die Notwendigkeit, einen Querverweis zu den Menschenrechten und konkrete Vorschläge zur Umsetzung der horizontalen Sozialklauseln in Artikel 5, 8, 9 und 10 AEUV aufzunehmen.

5.4.2   Der EWSA unterstützt, dass der Bekämpfung der Ausgrenzung vom Wohnungsmarkt und der Obdachlosigkeit ebenso wie der Energiearmut und finanzieller Armut Vorrang eingeräumt werden. Er betont, wie wichtig es ist, den erschwinglichen Zugang zu hochwertigen Dienstleistungen und somit auch den IT-Zugang zu fördern. Diese Aspekte müssen im Rahmen nationaler Strategien für Sozialschutz und soziale Eingliederung als Teil der verstärkten MOK im sozialen Bereich weiterentwickelt werden.

5.4.3   Der Ausschuss betont die Notwendigkeit von Investitionen in Humankapital und von Bildung und Ausbildung für beschäftigungswirksame Qualifikationen, persönliche Entwicklung und soziale Eingliederung. Dies sollte die frühkindliche Bildung, Schul- und Hochschulbildung, berufliche Aus- und Weiterbildung als Teil der Verpflichtung für lebenslanges Lernen für alle umfassen.

5.4.4   In den Berichten der OECD und der Kommission wird auf wachsende Ungleichheiten bei der Einkommensverteilung und im Bereich der Gesundheit ebenso wie auf ungleichen Zugang zu Dienstleistungen, auch im medizinischen Bereich, innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten hingewiesen. Darüber hinaus ist Armut einer der entscheidenden gesellschaftlichen Faktoren für einen schlechten Gesundheitszustand; die EU sollte mit ihrer Politik eine moralische Verpflichtung zur Rettung von Leben zum Ausdruck bringen. Es gibt überwältigende Belege dafür, dass eine Gesellschaft, in der mehr Gleichheit herrscht, fast immer bessere Ergebnisse erzielt. Die Plattform muss sich vorrangig mit der Entwicklung integrierter Strategien und konkreter Maßnahmen zur Schließung der Lücke hin zu einer faireren Gesellschaft befassen (15).

5.4.5   Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, eine umfassende Empfehlung zum Thema Kinderarmut auszuarbeiten, um „Armut in der Kindheit dadurch zu bekämpfen und zu verhindern“, dass ein angemessenes Familieneinkommen gewährleistet und in Betreuung und Erziehung investiert wird, insbesondere in der frühen Kindheit, und dass Kinder im Einklang mit den Grundrechten und der UN-Kinderrechtskonvention einen höheren Stellenwert bekommen. Dies muss flankiert werden durch ein kohärentes familienpolitisches Konzept. Kontinuierliche Beobachtung, Erfahrungsaustausch, Forschung und vergleichende Berichte müssen gewährleistet werden, um zum Erreichen des EU-2020-Ziels der Armutsbekämpfung beizutragen (16).

5.5   EU-Mittel im Dienst der Ziele zur Förderung von sozialer Eingliederung und Zusammenhalt

5.5.1   Der EWSA begrüßt nachdrücklich die Vorschläge, Mittel aus den Strukturfonds effizienter für die Reduzierung der Armut und die Förderung des sozialen Zusammenhalts zu nutzen, weist aber auf die notwendige Aufstockung der verfügbaren Mittel insbesondere für benachteiligte Gruppen hin. Von entscheidender Bedeutung sind Investitionen in die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze und in wirksame Konzepte, um Randgruppen den Zugang zu erleichtern, nicht zuletzt dank der Sozialwirtschaft. Die Mittel sollten ebenfalls den Zugang zu hochwertigen Dienstleistungen, und somit auch zu Wohnraum, verbessern.

5.5.2   Der EWSA begrüßt die Vorschläge für einen leichteren Zugang zu den Strukturfonds für lokale Organisationen, insbesondere durch Globalzuschüsse, technische Unterstützung und Kapazitätenaufbau, weist aber auf die Notwendigkeit hin:

den Verwaltungsaufwand durch flexiblere Verfahren des Zugangs zu Finanzmitteln abzubauen;

europäische Mindeststandards zur Verbesserung der Transparenz und Effizienz der Verfahren, einschließlich vereinfachter Information zu setzen (17).

Die Kommission sollte hier Leitlinien vorgeben, gegenseitiges Lernen fördern und die Umsetzung überwachen und insbesondere aus den Erfahrungen mit der Nutzung der Strukturfonds während der Krise lernen.

5.5.3   Der EWSA schlägt vor, dass EU-Programme wie PROGRESS dazu genutzt werden sollten, um nationale Plattformen zu entwickeln, mit denen das effektive Engagement der Akteure in der Europäischen Plattform ermöglicht und die Umsetzung ihrer Prioritäten gefördert werden kann.

5.6   Soziale Innovation und Reformen

5.6.1   Der EWSA begrüßt, dass die Rolle der Sozialwirtschaft und der NRO bei der Umsetzung der Strategien zur Bewältigung der Armut, zur Förderung der Arbeitsplatzschaffung und zur Entwicklung von Dienstleistungen, die den Bedürfnissen der Menschen vor Ort kreativ gerecht werden, anerkannt wird. Er betont außerdem die gemeinsame Verantwortung aller Akteure, einschließlich KMU und Unternehmer, zur Zusammenarbeit bei der Entwicklung wirksamer Lösungskonzepte.

5.6.2   Die Freiwilligentätigkeit spielt eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Gemeinschaften vor Ort, dem Kompetenzerwerb, dem Angebot von informeller und nicht-formaler Bildung und der Befähigung Einzelner. Der EWSA ist bereit, den Nutzen der Freiwilligentätigkeit zu fördern, sofern dies nicht die bezahlte Beschäftigung oder öffentliche Dienstleistungen untergräbt.

5.6.3   Der EWSA begrüßt die wachsende Unterstützung für evidenzbasierte soziale Innovation, betont aber gleichzeitig, wie wichtig es ist, bestehende nachahmenswerte Verfahren zu erhalten und auf ihnen aufzubauen, und plädiert für die Fortsetzung der Finanzierung.

5.7   Stärkere politische Koordinierung

5.7.1   Die Nationalen Reformprogramme und die Bestimmung nationaler Zielvorgaben sind ein Schlüsselelement bei der Verfolgung der Europa-2020-Strategie und der Umsetzung politischer Maßnahmen zur Reduzierung der Armut. Gleichwohl muss dieser Prozess mit einer verstärkten Methode der offenen Koordinierung im sozialen Bereich auf der Grundlage integrierter nationaler Strategien untermauert werden, um eine solidere Grundlage für das Erreichen der geforderten Sozialziele zu schaffen und den Bezug zur Europäischen Plattform gegen Armut klarzustellen.

5.7.2   In seiner Stellungnahme zur MOK und zur Sozialklausel begrüßte der EWSA die horizontale Sozialklausel, die soziale Folgenabschätzung und eine Stärkung der sozialen MOK als Instrumente zur Gewährleistung eines integrierten Ansatzes und der Berücksichtigung sozialer Ziele. Der EWSA ruft dazu auf, diesen Prozess durch Einbeziehung der wichtigsten EU-Institutionen und Akteure sichtbarer und transparenter zu machen, und betont, wie wichtig es ist, Strategien für den Sozialschutz und die soziale Eingliederung auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene zu entwickeln.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Die Hinzufügung dieses Satzes wurde vom EWSA-Lenkungsausschuss Europa-2020-Strategie empfohlen.

(2)  (Gemeinsamer Bericht der Europäischen Kommission und des Europäischen Rats über soziale Eingliederung, März 2004).

(3)  Die Armutsgefährdungsschwelle wurde mit 60 % des nationalen verfügbaren medianen Äquivalenzeinkommens nach den jeweiligen Sozialtransferleistungen des Mitgliedstaates festgelegt.

(4)  Aktualisierung (2010) der gemeinsamen Bewertung der sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der ergriffenen politischen Maßnahmen durch den Ausschuss für Sozialschutz und die Europäische Kommission (November 2010). KOM(2010) 2020 endg. - „Europa 2020: Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“.

(5)  Von materieller Deprivation spricht man, wenn der Betroffene mindestens 4 der 9 Deprivationen ausgesetzt ist. Die Betroffenen können ihre Miete oder Wasser-, Gas- und Stromrechnungen nicht bezahlen, ihre Wohnung nicht angemessen warm halten, keine unerwarteten Ausgaben tätigen, nicht jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder ein Proteinäquivalent essen, nicht einmal im Jahr für eine Woche Urlaub verreisen, sich kein Auto, keine Waschmaschine, keinen Farbfernseher oder kein Telefon leisten.

(6)  Siehe EWSA-Erklärung für den Europäischen Rat vom 17. Juni 2010.

(7)  SPC-Bericht über die soziale Bewertung von Europa 2020 (Februar 2011).

(8)  ABl. C 132/26 vom 03.05.2011.

(9)  ABl. C 84/38 vom 17.03.2011.

(10)  Empfehlung der Kommission zur aktiven Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen (2008/867/EG).

(11)  Siehe „Fortschrittsbericht zu Europa 2020“ (Anhang 1 des „Jahreswachstumsberichts“, KOM (2011) 11, Ziffer 2.5).

(12)  ETUC/Business Europe et al: Rahmenvereinbarung über integrative Arbeitsmärkte (März 2010).

(13)  ABl. C 21/66 vom 21.01.2011.

(14)  Vgl. EWSA-Botschaft an den Europäischen Rat vom Juni 2010, in der betont wird, wie wichtig die Bekämpfung von ungleicher Behandlung und Diskriminierung ist.

(15)  OECD (2008): Mehr Ungleichheit trotz Wachstum? Einkommensverteilung und Armut in OECD-Ländern. EU-Kommission GD Forschung 2010: Warum sozioökonomische Ungleichheiten zunehmen: Fakten und Strategiepapiere in Europa EUR 24 471.

(16)  ABl. C 44/34 vom 11.02.2011.

(17)  ABl. C 132/8 vom 03.05.2011.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/135


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Mitteilung zur Migration“

KOM(2011) 248 endg.

2011/C 248/23

Hauptberichterstatter: Luis Miguel PARIZA CASTAÑOS

Die Europäische Kommission beschloss am 4. Mai 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Mitteilung zur Migration

KOM(2011) 248 endg.

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte am 14. Juni 2011 die Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) Luis Miguel Pariza Castaños zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 109 gegen 2 Stimmen bei 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1   Der Europäische Rat will auf seiner Junitagung mehrere Aspekte der gemeinsamen Einwanderungspolitik erörtern. Präsident Van Rompuy hat dafür folgende Schwerpunkte vorgeschlagen:

Freizügigkeit innerhalb der EU

Asylbestimmungen

Entwicklung einer Partnerschaft mit den südlichen Mittelmeerländern und Kontrolle der Außengrenzen.

1.2   Als Beitrag zu dieser Ratstagung hat die Europäische Kommission am 4. Mai 2011 eine Mitteilung zur Migration (1) vorgelegt.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1   Der EWSA hat durch mehrere Stellungnahmen (siehe Anhang) mit den anderen Institutionen auf eine gemeinsame EU-Politik und -Rechtsetzung im Bereich Asyl und Einwanderung hingewirkt. Ungeachtet der erreichten Fortschritte ist die Situation nicht zufriedenstellend. Die Annahme der gemeinsamen Rechtsvorschriften über die Zulassung von Einwanderern und die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz benötigen, im Rat und im Europäischen Parlament verläuft mit großen Schwierigkeiten.

2.2   Die gemeinsame Einwanderungspolitik muss einem Gesamtkonzept folgen, in dem verschiedene Aspekte Berücksichtigung finden: demografische Situation und Lage auf den Arbeitsmärkten, Achtung der Menschenrechte, Gleichbehandlung und Diskriminierungsverbot, Rechtsvorschriften über die Zulassung neuer Einwanderer, Aufnahme und Schutz von Asylbewerbern, Bekämpfung krimineller Menschenhändlernetze, Zusammenarbeit mit Drittstaaten, europäische Solidarität, Sozialpolitik und Integration.

2.3   In den letzten Monaten gab es eine Reihe von Ereignissen, Erklärungen und politischen Entscheidungen, die der Ausschuss mit großer Sorge beobachtet. Unter den EU-Bürgern breitet sich nämlich ein altbekanntes Übel aus: Fremdenfeindlichkeit und ausgrenzender Nationalismus. Minderheiten und Einwanderer werden zum Ziel von Beschimpfungen, Beleidigungen, aggressiven und diskriminierenden Maßnahmen.

2.4   Fremdenfeindlichkeit und Populismus werden seit Jahren von radikalen politischen Kreisen geschürt, die jedoch bisher in der Minderheit waren. Heute aber ist diese gegen Migranten und Minderheiten gerichtete Politik Teil der Strategien und Programme verschiedener europäischer Regierungen und wird von diesen als Wahlkampfinstrument eingesetzt. Der EWSA gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass der Europäische Rat auf seiner Junitagung verhindert, dass Fremdenfeindlichkeit und Populismus Eingang in die europäische Agenda finden.

2.5   In den letzten Wochen gab es eine Reihe nicht hinnehmbarer Situationen. Ein moderater Anstieg der Zahl der über das Mittelmeer einwandernden Migranten hat eine schwere politische Krise in Europa ausgelöst. In der Vergangenheit hat Europa weitaus größere Menschenströme auf der Flucht vor Krieg und Not solidarisch bewältigt, dabei den Schutz der Menschenrechte garantiert und so die Werte der europäischen Integration gestärkt.

2.6   Die Einrichtung des Schengen-Raums ist für den Ausschuss und für die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer eine der wichtigsten Errungenschaften des europäischen Einigungswerks. Einige Mitgliedstaaten führen jedoch derzeit wieder innereuropäische Grenzkontrollen ein, was dem Vertrag zuwiderläuft.

2.7   Den EWSA beunruhigt die Tatsache, dass eine kleine, durch die Migration schutzbedürftiger Menschen ausgelöste Krise Zweifel hinsichtlich der Wertebeständigkeit bestimmter Regierungen und der EU selbst hervorruft.

2.8   Der Ausschuss ruft daher dazu auf, die politische Rhetorik zu mäßigen und zur Ausgewogenheit und Achtung der Grundsätze der Demokratie und freier und offener Gesellschaften zurückzukehren. Die europäischen Regierungen sollten sich vergegenwärtigen, dass die Integration ein gegenseitiger Prozess ist, der auch mit Pflichten für die Gesellschaft in den europäischen Aufnahmeländern verbunden ist, wozu eine positive Einstellung zur Integration gehört. Eine Gesellschaft, die es hinnimmt, dass ihre Politiker im Wahlkampf und in ihren politischen Entscheidungen Populismus und Fremdenfeindlichkeit gegen Einwanderer und Minderheiten ins Feld führen, ist jedoch keine integrative Gesellschaft.

2.9   Europa braucht eine mittel- bis langfristige Vision. Der belgische EU-Ratsvorsitz hatte den EWSA um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme (2) zur Rolle der Einwanderung vor dem Hintergrund der demografischen Situation in Europa ersucht. Die Schlussfolgerungen dieser Stellungnahme sind eindeutig: in den nächsten Jahren müssen sowohl die Mobilität der Arbeitnehmer innerhalb der EU als auch die Zuwanderung von Arbeitnehmern und Familien aus Drittländern zunehmen. Dieses Szenario kündigt neue Herausforderungen hinsichtlich der Bewältigung einer größeren Diversität in den Unternehmen und in den Städten an. Der Ausschuss ermuntert die Kommission, möglichst bald eine neue europäische Integrationsagenda vorzulegen und die Arbeiten des europäischen Integrationsforums darin einfließen zu lassen.

2.10   Die jüngsten Ereignisse im südlichen Mittelmeerraum und die Diskussionen und Konflikte innerhalb der Union bieten Gelegenheit, die Werte und Grundsätze der EU zu bekräftigen, die bestehenden gemeinsamen Vorschriften zu stärken und in der EU-Politik in den Bereichen Grenzkontrolle, Freizügigkeit, Asyl und Einwanderung für „mehr Europa“ zu sorgen.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1   Freizügigkeit – Binnengrenzen

3.1.1   Nach Ansicht des EWSA ist die Freizügigkeit ein grundlegendes Prinzip und Recht im Prozess der europäischen Integration und einer der tragenden Pfeiler des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass eine klarere und solidere Regelung für die Verwaltung des Schengen-Raums durch Einführung eines Mechanismus zur unabhängigen und objektiven Evaluierung der Anwendung des Grenzkodex durch die Mitgliedstaaten geschaffen werden muss. Dieser Mechanismus sollte unter Federführung der Kommission stehen und von dieser unter Beteiligung externer Fachleute koordiniert werden.

3.1.2   Die Mitgliedstaaten müssen bei der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen, wenn im Ausnahmefall aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ein sofortiges Handeln erforderlich ist, ihren im Grenzkodex vorgesehenen Verpflichtungen nachkommen, insbesondere den im Kodex vorgesehenen Pflichten zur vorherigen Information der Kommission und zur Einhaltung der Verfahrensgarantien (Begründung der Maßnahmen), und sie müssen dabei den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, Solidarität und des gegenseitigen Vertrauens gerecht werden.

3.1.3   Der Ausschuss akzeptiert die europaweite Einführung eines Verfahrens zur abgestimmten Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen in wirklich kritischen Situationen oder an den Außengrenzen, wenn diese unerwartet unter großen Migrationsdruck geraten. Die Aushandlung dieses Verfahrens im Rat sollte den Regierungen jedoch nicht die Möglichkeit bieten, erneut über die im Schengen-Kodex vorgesehenen allgemeinen Verfahrensgarantien zu verhandeln und/oder diese nach unten zu korrigieren.

3.1.4   Der EWSA unterstützt den Vorschlag des Europäischen Parlaments an die Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Mechanismus für Vertragsverletzungen (Verfahren zur Ermittlung möglicher Verletzungen der Grundrechte und Grundfreiheiten in der EU), das im Wesentlichen dazu dienen soll, von den Mitgliedstaaten im Rahmen des Gemeinschaftsrechts erlassene Maßnahmen, die Grundrechte und Grundfreiheiten des Einzelnen verletzen, solange auszusetzen, bis ihre Rechtmäßigkeit durch ein Schnellverfahren vor dem Gerichtshof in Luxemburg festgestellt wurde (3).

3.2   Außengrenzen

3.2.1   Die Europäische Union braucht eine glaubhafte, wirksame, rechtmäßige und einer starken demokratischen Kontrolle und unabhängigen Bewertung unterworfene Politik im Bereich ihrer Außengrenzen. Der Ausschuss fordert den Rat und das Europäische Parlament auf, bezüglich des Vorschlags der Kommission vom Februar 2010 zur Stärkung der Frontex-Verordnung zu einer Einigung zu gelangen.

3.2.2   Nach Ansicht des EWSA sollten die Mitgliedstaaten der Frontex-Agentur für ihre Tätigkeit und Mittel (technische Ausrüstung) mehr operationelle Befugnisse und Autonomie einräumen. Die Durchführung der von der Agentur koordinierten gemeinsamen Maßnahmen (und deren Auswirkungen auf die Grundrechte und die im Grenzkodex vorgesehenen Verwaltungsgarantien) müssen jedoch einer demokratischen Kontrolle durch das Parlament und die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte unterliegen. Damit einhergehen sollte auch eine fortlaufende Evaluierung, vor allem in Bezug auf die Tätigkeiten und Vereinbarungen der Frontex-Agentur mit Drittstaaten, die Wirksamkeit gemeinsamer Einsätze und die Qualität der entsprechenden Risikoanalysen.

3.2.3   Für den EWSA ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die Frontex-Agentur ihren Verpflichtungen hinsichtlich des Zugangs zu internationalem Schutz nachkommt, zum Beispiel hinsichtlich des Grundsatzes des Zurückweisungsverbots, einer unabhängigen Kontrolle der Achtung der Grundrechte und der Ausarbeitung eines Verhaltenskodex für Zwangsrückführungen.

3.2.4   Der Ausschuss befürwortet ebenfalls die künftige Schaffung eines europäischen Grenzschutzdienstes, der sich aus einem europäischen Kontingent von Grenzschutzbeamten zusammensetzen und in der Zukunft eine zentrale EU-Einrichtung sein soll. Hauptaufgabe dieses Dienstes wäre die Umsetzung der im Kodex vorgesehenen gemeinsamen Bestimmungen.

3.3   Arbeitsmigration

3.3.1   Die EU muss einen politischen Impuls für eine gemeinsame Politik zur legalen Einwanderung und zur Förderung der Mobilität und gerechten Behandlung von Drittstaatsangehörigen setzen, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit nach Europa eingewandert sind. In mehreren Mitgliedstaaten und insbesondere in bestimmten Branchen und Berufen benötigen die Unternehmen neu zugewanderte Arbeitnehmer mit entsprechenden Talenten und Qualifikationen. Die Union sollte einen kohärenten und umfassenden gemeinsamen EU-Rechtsrahmen mit Querschnittscharakter für die Arbeitsmigration beschließen und sich dabei an der Achtung der Arbeitnehmerrechte, der Gleichbehandlung und den Erfordernissen der Unternehmen ausrichten.

3.3.2   Der Ausschuss hat bereits Stellungnahmen zu den Richtlinien über Saisonarbeiter, entsandte Arbeitnehmer, hochqualifizierte Arbeitnehmer und Forschungskräfte verabschiedet. Die EU muss neue talentierte Arbeitskräfte aufnehmen, die für eine dynamische, innovative und wettbewerbsfähige Wirtschaft notwendig sind, und dabei mit den Herkunftsländern zusammenarbeiten, um einen Braindrain zu verhindern.

3.3.3   Der EWSA hält es für dringend erforderlich, dass Rat und Parlament zu einer Einigung über die Rahmenrichtlinie über gemeinsame Rechte und einen einheitlichen Aufenthalts- und Arbeitstitel (4) gelangen. Die Unterschiede zwischen den Rechten für die einzelnen Kategorien von Arbeitnehmern aus Drittstaaten in der EU müssen beseitigt werden. Die derzeitigen gemeinsamen Rechtsvorschriften sind sektorspezifisch angelegt und leisten deshalb der Ungleichbehandlung und Diskriminierung zwischen den verschiedenen Kategorien von Arbeitsmigranten in Bezug auf die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt sowie ihre Rechte Vorschub.

3.3.4   Der EWSA begrüßt den Plan der Europäischen Kommission zur Vorlage eines gemeinsamen Einwanderungskodex im Jahr 2013. Dieser Kodex sollte die geltenden Rechtsvorschriften in Form eines einheitlichen und transparenten Rahmens von Rechten, Garantien und Pflichten der Einwanderer konsolidieren. Dieser Kodex sollte auf den Grundsätzen der gleichen und fairen Behandlung beruhen. Die EU muss sich aktiver dafür einsetzen, dass die Mitgliedstaaten die im Rahmen von Organisationen wie UNO, Europarat oder ILO unterzeichneten internationalen und europäischen Übereinkommen und Abkommen in nationales Recht umsetzen.

3.4   Dialog und Mobilitätspartnerschaften mit Drittstaaten

3.4.1   Der EWSA unterstützt die Grundzüge der Kommissionsmitteilung „Ein Dialog mit den Ländern des südlichen Mittelmeerraums über Migration, Mobilität und Sicherheit“ (5). Die EU sollte weiter auf ein Gesamtkonzept für die Migration hinarbeiten und dabei den legalen Kanälen für die Einwanderung und Mobilität Priorität einräumen.

3.4.2   Der EWSA begrüßt die Initiative der EU für Mobilitätspartnerschaften mit Tunesien, Ägypten und Libyen. Es wäre jedoch erforderlich, die derzeit geltenden Mobilitätspartnerschaften im Rahmen einer unabhängigen Analyse auf ihre Wirksamkeit und Auswirkungen hin zu untersuchen. Der EWSA unterstützt die Initiative der Kommission für ein wirksames Verfahren für die Evaluierung der Mobilitätspartnerschaften. Darüber hinaus sollten die Mobilitätspartnerschaften, die ja rechtlich unverbindliche gemeinsame politische Erklärungen sind, in internationale Abkommen überführt werden.

4.   Internationaler Schutz

4.1   Der EWSA gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass der Rat und das Parlament die zur Schaffung eines gemeinsamen Asylsystems fehlenden gemeinsamen Rechtsvorschriften 2012 erlassen werden.

4.2   Der Ausschuss hält es zudem eine Verbesserung der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Aufnahme von Personen, die nach Europa kommen und internationalen Schutz brauchen, für erforderlich. Er schlägt überdies vor, dass die EU - wie von der Kommission vorgeschlagen - Neuansiedlungsprogramme anbieten kann.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  KOM(2011) 248 endg.

(2)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 6/13.

(3)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Dezember 2010 zu der Lage der Grundrechte in der Europäischen Union (2009) - wirksame Umsetzung nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (2009/2161(INI)) - P7_TA(2010)0483, Ziffer 39.

(4)  KOM(2007) 638 endg.

(5)  KOM(2011) 292 endg.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/138


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen“

KOM(2010) 781 endg. — 2010/0377 COD

2011/C 248/24

Berichterstatter: David SEARS

Der Rat beschloss am 24. Januar 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen

KOM(2010) 781 endg. — 2010/0377 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 20. Mai 2011 an. Berichterstatter war David SEARS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15. und 16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 146 Stimmen bei 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA hat die Kommissionsvorschläge für Vorschriften zur Reduzierung der Häufigkeit und der möglichen Auswirkungen schwerer Unfälle durchgängig begrüßt. Da der Anwendungsbereich dieser Richtlinien entscheidend von anderen europäischen Rechtsvorschriften insbesondere in Bezug auf die Einstufung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe abhängt, schließt sich der EWSA der Auffassung an, dass nach den Veränderungen auf Grund der vor Kurzem erfolgten Annahme des „Global Harmonisierten Systems“ (GHS) zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien, das von der UNO entwickelt und vorgeschlagen worden war, nunmehr eine neue Richtlinie erforderlich ist. Dass dies Probleme aufwirft, dabei aber – abgesehen von Erleichterungen für den Welthandel – voraussichtlich nur wenige Vorteile bringen wird, ist allseits anerkannt und wurde in einer früheren Stellungnahme (1) eingehend erörtert.

1.2

Der EWSA stimmt ferner voll und ganz der Auffassung der Kommission sowie der Mehrheit der Interessenträger zu, dass keine weiteren wesentlichen Veränderungen nötig sind bzw. dass möglichst wenige Veränderungen vorgenommen werden sollten, damit die wichtigsten Ziele dieser bereits seit langem geltenden, wirksamen und von breiter Unterstützung getragenen Rechtsvorschrift nicht aus dem Blickfeld geraten.

1.3

Der EWSA ist daher der Auffassung, dass sämtliche denkbaren Anstrengungen unternommen werden sollten, um – gegebenenfalls für jedes einzelne Erzeugnis – kritisch zu prüfen, ob die Veränderungen der Einstufung für die Wahrscheinlichkeit eines schweren Unfalls relevant sind. Ist dies nicht der Fall und/oder würde sich dadurch die Zahl der betroffenen kleineren Betriebe der unteren Gefahrenklasse und KMU erheblich erhöhen, sollte darauf geachtet werden, dass die Wirkung des Vorschlags nicht vermindert wird. Dies gilt insbesondere für Detergenzien, wo die neuen Einstufungen nur wenig mit den tatsächlichen Erfahrungen mit Haushaltsprodukten des täglichen Gebrauchs zu tun haben. In diesen Fällen sollten auch die Mengenschwellen sorgfältig geprüft werden, insbesondere wenn eine Entzündung oder Explosion wenig wahrscheinlich ist oder wenn die Güter für den Einzelhandelsverkauf in kleineren Mengen abgepackt wurden.

1.4

Wenn für Rohstoffe, Zwischenprodukte und Endprodukte mehrere Rechtsvorschriften gelten, die nach unterschiedlichen Zeitplänen überarbeitet werden, muss bei sich überschneidenden Übergangszeiträumen sehr sorgsam darauf geachtet werden, dass die Gesamtkosten für die Betreiber und die Mitgliedstaaten möglichst niedrig gehalten werden und eventuelle Unklarheiten bei allen Beteiligten auf ein Mindestmaß reduziert werden.

1.5

Da die zuständigen Behörden offenbar generell die Auffassung vertreten, dass die wichtigsten Betriebe bereits von der Rechtsvorschrift erfasst sind, sollten alle denkbaren Anstrengungen unternommen werden, um die Effizienz und Wirksamkeit der Kontrollen und der anschließenden Berichterstattung für diese und gegebenenfalls angrenzende Standorte zu verbessern. Dies sollte nach Möglichkeit nicht nur durch vermehrte Auflagen für Informationen erreicht werden, die von den Mitgliedstaaten erfasst und an die Kommission weitergeleitet werden sollen. Der EWSA stellt fest, dass das System in seiner derzeitigen Struktur für den vorgesehenen Zweck kaum geeignet ist, und begrüßt die Bemühungen der Kommission, entsprechende Veränderungen mit den Mitgliedstaaten zu vereinbaren, auf deren ehrliche und zeitgerechte Angaben sie angewiesen ist. Die vorgeschlagenen Änderungen der Liste der erfassten Produkte und Betriebe sollten vor ihrer Annahme auch künftig den anderen Organen und beratenden Einrichtungen der EU zur Prüfung vorgelegt werden.

1.6

Der EWSA spricht sich nachdrücklich für die zügige Bereitstellung relevanter und verständlicher Informationen für die Öffentlichkeit aus. Auch wenn elektronische Medien, u.a. auch soziale Netzwerke, vor allem auf lokaler Ebene zunehmend genutzt werden, so sind doch nach wie vor Informationen in gedruckter Form erforderlich. Alle Organisationen, die die Zivilgesellschaft in der Nähe eines Seveso-Betriebs (oder einer sonstigen Produktions- und Lagerstätte) vertreten, müssen sowohl bei der Prävention von Unfällen aller Art, einschließlich schwerer Unfälle gemäß der Definition der Seveso-Richtlinie, als auch bei der Eindämmung ihrer Folgen einbezogen werden.

1.7

Neue Vorschläge zum Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten sind nur dann relevant, wenn der fehlende Zugang zu den Gerichten bei schweren Unfällen nachgewiesen werden kann. Angesichts der geringen Häufigkeit der im Rahmen dieser Richtlinie gemeldeten Unfälle – insbesondere für Betriebe der unteren Klasse – ist es schwer vorstellbar, dass dies der Fall sein könnte. Bereitgestellte Informationen sollten allen Bereichen der organisierten Zivilgesellschaft zugänglich gemacht werden. Der EWSA ist daher der Auffassung, dass diese Auflage durch einen moderneren, auf breitere Akzeptanz stoßenden Ansatz für das Sicherheitsinformationsmanagement mit entsprechenden Nachweisen und den notwendigen Folgenabschätzungen ersetzt werden sollte.

1.8

Der EWSA stellt fest, dass die EU bei der Anerkennung und Belohnung vorbildlicher Verfahren – insbesondere Bezug auf Verfahrenssicherheit und persönliche Sicherheit – hinter den Vereinigten Staaten zurückliegt, und ist der Auffassung, dass durch geeignete Maßnahmen in diesem Bereich bessere Ergebnisse erzielen werden könnten als mit einigen der vorgeschlagenen Maßnahmen.

1.9

Der EWSA unterstützt deshalb diesen Vorschlag, schlägt jedoch vor, dass einige Aspekte überprüft werden, damit sichergestellt ist, dass die festumrissenen langfristigen Ziele dieser Rechtsvorschrift hinsichtlich der Verringerung der Häufigkeit und der Auswirkungen von schweren Unfällen uneingeschränkt verwirklicht werden.

2.   Einleitung

2.1

Bereits vor über 40 Jahren wurde in der Richtlinie über gefährliche Stoffe 67/548/EWG eingeräumt, dass „Stoffe“ – zumindest ursprünglich eine endliche Liste von Elementen und deren Verbindungen –, die nach verschiedenen Skalen im Hinblick auf die menschliche Gesundheit, die Sicherheit und die Umwelt als „gefährlich“ („dangerous“ oder „hazardous“) definiert wurden, eingestuft, verpackt und gekennzeichnet (CLP) werden müssen. Fast genau 20 Jahre später wurde dies mit der Richtlinie über gefährliche Zubereitungen 88/379/EWG auf „Zubereitungen“ ausgedehnt – eine umfassendere und potenziell unendliche Liste von bewusst hergestellten Gemischen aus zwei oder mehr Stoffen in veränderlichen, aber festgelegten Gewichtsanteilen.

2.2

Diese beiden Richtlinien und ihre zahlreichen Änderungen und Anpassungen an den technischen Fortschritt bilden die Grundlage für ein harmonisiertes System des Schutzes von Arbeitnehmern, Verbrauchern, Herstellern, Lieferanten, Händlern und der Umwelt. Sie gewährleisten außerdem einen EU-weiten Binnenmarkt für die betreffenden Produkte, einschließlich der Rohstoffe, Zwischenprodukte und Abfallströme sowie der Endprodukte, die auf den Markt gebracht werden sollen. Die Richtlinien stehen zudem mit nahezu allen anderen EU-Rechtsvorschriften zum Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutz im Zusammenhang und beeinflussen diese. Sämtliche Änderungen des zugrunde liegenden Systems werden deshalb wahrscheinlich komplex und teuer für alle Betroffenen sein.

2.3

In den vergangenen Jahren wurde zwei Änderungen vorgenommen. 2006 nahm der Rat die Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH) an sowie die dazugehörende Richtlinie 2006/121/EG zur Änderung der Richtlinie 67/548/EWG und zur Angleichung dieser beiden wichtigen Rechtsvorschriften. 2008 nahmen Rat und Europäisches Parlament die Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 zur Umsetzung eines neuen Global Harmonisierten Systems (GHS) für die Einstufung und Kennzeichnung von chemischen Stoffen und Gemischen an, das in jahrelanger Arbeit von den Vereinten Nationen entwickelt worden war. Dieses System würde in vielen Fällen zu Änderungen bei den Bezeichnungen, Piktogrammen und Standardaufschriften führen, die verschiedenen Gefahren sowie eingestuften Stoffen und Gemischen zugeordnet werden. Die tatsächlichen Gefahren eines bestimmten Produkts oder Verfahrens für Arbeitnehmer, Händler, Verbraucher und generell die Öffentlichkeit würden natürlich dieselben bleiben.

2.4

Damals wurde eingeräumt, dass es wahrscheinlich nur geringfügige Vorteile bringen würde, ein etabliertes, gut funktionierendes und effizientes System durch ein anderes zu ersetzen, wobei im internationalen Handel wegfallende Kosten durch steigende Kosten für Regulierung und Einhaltung der Vorschriften innerhalb der EU möglicherweise mehr als aufgewogen würden. Aufgrund der Einführung neuer Einstufungen und Endpunkte gäbe es beträchtliche technische Probleme, die zu erhöhten Kosten für die Neuformulierung oder Veränderungen bei der den Verbrauchern zur Verfügung stehenden Produktpalette führen würden, was wiederum während und nach der Übergangsperiode für jede der betroffenen Rechtsvorschriften für erhebliche Verwirrung sorgen könnte.

2.5

Diese Probleme werden nun in dem Vorschlag der Kommission KOM(2010) 781 endg. für eine Richtlinie – sog. Seveso-III-Richtlinie – zur Ersetzung der geltenden Rechtsvorschrift über die Beherrschung der Gefahren bei „schweren Unfällen“ speziell mit „gefährlichen Stoffen“ gemäß den Definitionen dieser Rechtsvorschrift offen angesprochen und bis zu einem gewissen Grad in Angriff genommen.

2.6

Ursprung dieser Rechtsvorschrift ist die Richtlinie 82/501/EWG, die nach dem schweren Unfall in Seveso 1976 (großflächige Dioxin-Verseuchung) erlassen worden war. Nach den Unfällen in Bhopal (Austritt von großen Mengen Methylisozyanat) und Basel (mehrere Brände und Freisetzung von Giftstoffen) wurde die Rechtsvorschrift geändert und 1996 durch die Richtlinie des Rates 96/82/EG ersetzt. Diese wiederum wurde 2003 nach schweren Unfällen in Toulouse (Ammoniumnitrat), Baia Mare (Austritt von Zyanid) und Enschede (Explosion in einer Feuerwerksfabrik) durch die Richtlinie 2003/105/EG geändert, in der eine Reihe klar definierter Verfahrens- und Berichtspflichten für Hersteller und Mitgliedstaaten festgelegt wurden.

2.7

Nach allgemeiner Auffassung hatten diese Rechtsvorschriften weitreichende positive Auswirkungen auf die Sicherheit und Kontrolle von Produktionsanlagen, in denen gefährliche Stoffe verwendet, hergestellt oder gelagert werden. Den Vorschriften unterliegen derzeit etwa 10 000 Produktionsbetriebe, von denen ca. 4 500 der „oberen Klasse“ zugerechnet werden, für die strengere Berichts- und Kontrollpflichten gelten als für die 5 500 Betriebe der „unteren Klasse“. Regelmäßig werden Inspektionen durchgeführt, und es existieren nationale und EU-weite Meldesysteme. Das System wird von allen Betroffenen unterstützt und geschätzt. Es kommt zwar nach wie vor zu Unfällen, doch steht zu hoffen, dass ihre Zahl abnimmt und sie weniger Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt haben, als es früher der Fall gewesen wäre.

2.8

Nach den Online-Statistiken der Kommission wurden während der 30-jährigen Geltungsdauer der Richtlinie 745 einschlägige Unfälle gemeldet. Weitere 42 Unfälle wurden gemeldet, aber noch nicht in die öffentlich zugängliche Datenbank eMARS (2) aufgenommen. Obgleich diese Statistiken weder vollständig noch leicht zugänglich sind, wird davon ausgegangen, dass 80 % der Unfälle sogenannte Betriebe der oberen Klasse und die restlichen Unfälle Betriebe der unteren Klasse betrafen. 35 Unfälle wurden von nicht der EU angehörenden OECD-Ländern freiwillig gemeldet. Die Zahl der jährlich gemeldeten Unfälle lag im Zeitraum 1996-2003 am höchsten und ist seither drastisch zurückgegangen. Es ist unklar, ob dies auf eine echte Verbesserung der Anlagensicherheit zurückzuführen ist oder nur auf die relativ langen Verzögerungen bei der Untersuchung und Meldung dieser Unfälle durch die Mitgliedstaaten sowie auf Grund der anschließend erforderlichen Übersetzung.

2.9

Von den Kontrollen ausgeschlossen sind militärische Einrichtungen, durch ionisierende Strahlung entstehende Gefahren, die Offshore-Gewinnung von Mineralien, einschließlich Kohlenwasserstoffen, Abfalltransport und Abfalldeponien sowie in Anhang I Teil 3 genannte Stoffe.

2.10

Leider ist diese Rechtsvorschrift bezüglich ihres Anwendungsbereichs im Hinblick auf sämtliche gefährlichen Stoffe entscheidend von den oben angeführten CLP-Vorschriften abhängig. Ob ein bestimmter Standort den Seveso-Kontrollen unterliegt und wenn ja in welchem Ausmaß, hängt von den Einstufungen und Mengen der Stoffe ab, die dort verwendet, hergestellt oder gelagert werden. Ziel der Kontrollen ist es lediglich, „schwere Unfälle“ zu verhüten oder ihre Auswirkungen zu begrenzen, auf die eine oder mehrere der folgenden Voraussetzungen zutreffen: mindestens ein Todesfall; mindestens sechs Verletzungsfälle mit Krankenhausaufenthalt; Schädigungen an Sachwerten innerhalb oder außerhalb der Anlage; Evakuierung von Personal oder Anwohnern in erheblichem Umfang; langfristige Umweltschäden. Bei den in Ziffer 2.6 aufgeführten wirklich „schweren Unfällen“, die zu Änderungen der Rechtsvorschriften führten, handelte es sich natürlich um Unfälle größeren Maßstabs; für die im Allgemeinen gemeldeten Unfälle sind sie daher nicht typisch.

2.11

Die Einführung der GHS-Vorschriften erfordert nun gewisse Änderungen, vor allem an den Anhängen der Richtlinie, in denen konkrete Gefahrenklassen und eingestufte „Stoffe“ und „Stoffgemische“ genannt werden, die auf Grund ihrer geänderten Gefahreneinstufung einbezogen oder ausgeklammert werden.

2.12

Da dies lediglich Änderungen der Definitionen sind, die tatsächlichen Risiken aber die gleichen bleiben und die Kommission nicht beabsichtigt, den Anwendungsbereich der geltenden Rechtsvorschrift entscheidend zu ändern oder zu erweitern, werden die tatsächlichen Vorteile für die Sicherheit der Verfahren, der Arbeitnehmer und Verbraucher oder der Umwelt voraussichtlich minimal sein. Es liegt deshalb auf der Hand, dass die Kosten und andere Auswirkungen für die Betreiber und die Mitgliedstaaten begrenzt werden müssen und dass von der aktuellen Konzentration auf Gefahren bei schweren Unfällen nicht abgerückt werden darf.

3.   Zusammenfassung des Kommissionsvorschlags

3.1

Der Vorschlag der Kommission wurde auf der Grundlage von Artikel 191 AEUV unterbreitet. Die Richtlinie richtet sich an die Mitgliedstaaten und wird 20 Tage nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft treten. Die Richtlinie 96/82/EG wird mit Wirkung vom 1. Juni 2015 aufgehoben. Die interessierten Kreise wurden konsultiert. Es herrschte allgemeine Übereinstimmung, dass außer der Angleichung des Anhangs I an die Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 keine größeren Änderungen erforderlich sind.

3.2

Die Kommission will jedoch einige Verfahren und Definitionen klarer fassen und aktualisieren und neue Maßnahmen einführen, vor allem im Hinblick auf die Häufigkeit der Inspektionen, den Inhalt des Konzepts des Betreibers zur Verhütung schwerer Unfälle, die Anforderungen für ein Sicherheitsmanagementsystem, die Information der Öffentlichkeit, den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, die Vorlage von Berichten der Mitgliedstaaten an die Kommission und das Verfahren für die Änderung der Anhänge mittels delegierter Rechtsakte.

3.3

Die Kommission räumt ein, dass die größten Schwierigkeiten in der Anpassung der bestehenden Gefahrenkategorien „sehr giftig“ und „giftig“ an die neuen Kategorien „akut toxisch, Gefahrenkategorie 1, 2 und 3“ liegen, die nun getrennt nach Expositionswegen (oral, dermal und inhalativ) eingeteilt wurden. Es gibt künftig weitere neue Kategorien anstelle der Gefahrenkategorien „oxidierend“, „explosionsgefährlich“ und „entzündlich“, einschließlich der neuen Kategorie für entzündbare Aerosole. Eine Reihe anderer Produkte, einschließlich Ammoniumnitrat und Schweröl, die allgemein verwendet werden, obwohl sie mitunter als Ausgangsstoffe für Explosivstoffe dienen, werden gesondert erwähnt.

3.4

Zu dem Vorschlag gehören ein Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen und eine Folgenabschätzung, zwei von COWI A/S (einem internationalen Consultingunternehmen aus Dänemark) angefertigte externe Folgenabschätzungen möglicher Optionen für den Gesamtvorschlag und die Anpassung des Anhangs I sowie ein Bericht einer technischen Arbeitsgruppe der GFS zu den Einstufungskriterien für die Bestimmung von Seveso-Anlagen. Auf Anforderung wurden zusätzliche Informationen zu den Vorschlägen für die Reform der Datenbank eMARS vorgelegt.

3.5

Trotz einer gewissen Anhäufung von Befugnissen und Zuständigkeiten bei der Kommission sollen keine Folgen für den EU-Haushalt entstehen. In der Folgenabschätzung werden die Kosten und Vorteile für die Mitgliedstaaten oder die Betreiber nicht vollständig in Zahlen angegeben, sondern es wird lediglich ausgeführt, dass beide erheblich geringer ausfallen dürften als zum Zeitpunkt der ersten Einführung der Rechtsvorschrift. Ferner wird festgestellt, dass generell geringere Kosten entstehen als im Falle eines Unfalls. Als Beispiel wird auf den Brand im Tanklager Buncefield im Vereinigten Königreich 2005 verwiesen. Einige neue Vorschläge für die Unterrichtung der Öffentlichkeit bzw. die Meldung von Daten an die Kommission wurden nicht auf ihre Kosten oder tatsächliche Wirksamkeit hin bewertet. Die Anwendung und die voraussichtlichen Ergebnisse der aktuellen Rechtsvorschrift wurden in den zugehörigen Dokumenten untersucht, die jedoch nicht in die Folgenabschätzung aufgenommen wurden.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA hat zu sämtlichen bereits genannten Richtlinien positiv Stellung genommen und die Vorschläge zur Reduzierung der Häufigkeit und zur Eindämmung der Auswirkungen schwerer Unfälle, die unter der Bezeichnung Seveso-I-, Seveso-II- und nun Seveso-III-Richtlinie bekannt geworden sind, nachdrücklich unterstützt. Er befürwortet deshalb den neuen Vorschlag, dessen Rechtsgrundlage und das gewählte Instrument. Es gibt jedoch Bedenken im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit und die voraussichtliche Wirkung des Vorschlags, da einige Bestimmungen eindeutig über das hinausgehen, was zur Erreichung der festgelegten Ziele unbedingt erforderlich ist.

4.2

Der EWSA hat das Ziel des von den Vereinten Nationen entwickelten „Global Harmonisierten Systems“ (GHS) für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung von chemischen Stoffen und Gemischen nachdrücklich unterstützt, das dazu beitragen soll, den Welthandel zu fördern und den weniger entwickelten Volkswirtschaften bei ihren Anstrengungen zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit von Arbeitnehmern und Verbrauchern zu helfen.

4.3

Der EWSA hat jedoch in der im Amtsblatt C 204 vom 9. August 2008, S. 47, veröffentlichten Stellungnahme eine Reihe von Vorbehalten geäußert. Viele dieser Vorbehalte würden auf jedes Verfahren einer transnationalen oder, wie in diesem Fall, weltweiten Harmonisierung zutreffen, wie gut diese auch immer gemeint sein mag, wenn ein gut funktionierendes System im Namen eines übergeordneten Wohls – d.h. der Erleichterung des Welthandels – durch ein anderes ersetzt wird. Es besteht die Gefahr, dass Verwaltungsaufwand und Kosten überhand nehmen und dass seit langem bewährte Verfahren und Definitionen aufgeweicht werden. Wichtige Ziele können ausgehöhlt werden. Herstellungs- und Vermarktungsverfahren müssen eventuell geändert werden, was mit erheblichen Kosten verbunden ist und keinerlei Vorteile für Arbeitnehmer und Verbraucher bringt. Sowohl während als auch nach der unvermeidlichen Übergangsperiode für jede der betroffenen Rechtsvorschriften kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verwirrung. Die Vorteile, soweit sie sich beziffern lassen, sind wohl eher gering bzw. nicht vorhanden, und zusätzliche Kosten sind schwerlich zu rechtfertigen.

4.4

Viele der genannten Punkte wurden bei der Vorbereitung dieses Vorschlags eingeräumt, insbesondere mit der fast einmütig vertretenen Auffassung, dass keine größeren Änderungen am Ziel, dem Anwendungsbereich und der allgemeinen Umsetzung der geltenden Rechtsvorschrift nötig seien. Erforderlich sei lediglich die Anpassung von Anhang I an die neuen Definitionen für die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung „gefährlicher Stoffe“, auf denen die Rechtsvorschrift beruht.

4.5

Leider bestehen nach wie vor Probleme, von denen einige während der Konsultationen angesprochen, in dem vorliegenden Text jedoch nicht behoben wurden. Auf andere, allgemeine Bedenken wurden gar nicht eingegangen.

4.6

Der EWSA bedauert besonders, dass die Annahme eines weltweit ausgehandelten und im wesentlichen in nur einer einzigen Sprache vorliegenden GHS zum Bedeutungsverlust seit langem etablierter Schlüsselbegriffe wie „Stoff“, der nun sowohl „Zubereitungen“ als auch „Gemische“ umfasst, geführt hat, dass die letztgenannten Begriffe nun als Synonyme aufgefasst werden, was in der Richtlinie über Zubereitungen nicht der Fall war, und dass noch immer nichts getan wurde, um zu bestätigen, dass die drei Ausdrücke auf Englisch und in einigen anderen Amtssprachen „Chemikalie“, „chemischer Stoff“ und „Stoff“ in den EU-Rechtsvorschriften dasselbe bedeuten, auch wenn sie unterschiedlich verwendet werden und ihnen unterschiedliche Bedeutungen zugeordnet werden. Einigen muss man wohl erklären, dass es keine „nichtchemischen Stoffe“ gibt. Verweise auf M-Faktoren oder „R- und S-Sätze“ ergeben nur in einer Sprache einen Sinn und können bei der Übersetzung in andere Sprachen zu Problemen führen.

4.7

Hier wurde also die Gelegenheit versäumt, wie bereits vorgeschlagen ein Glossar der wichtigsten Fachausdrücke in allen EU-Amtssprachen zu erstellen, das von grundlegender Bedeutung ist, wenn Rechtsvorschriften auf neue Bereiche ausgedehnt werden, aber dieselbe Gruppe von Produkten betreffen – beispielsweise die Einschränkung ihrer Verfügbarkeit für Terroristen als Ausgangsstoffe für Explosivstoffe –, oder wenn es um sich überschneidende und interagierende horizontale und vertikale Rechtsvorschriften geht wie REACH oder Vorschriften zu Industrieemissionen, Wasserqualität, Elektro- und Elektronik-Altgeräten mit produktspezifischen Vorschriften zu Lösungsmitteln, Detergenzien, Kosmetika, Aerosolen, Düngemitteln und Pestiziden.

4.8

Das gilt auch für das vorgeschlagene Verfahren zur Änderung der Anhänge, die vor allem der Erhöhung oder Senkung der Zahl der Produkte und damit der Standorte dient, die der Rechtsvorschrift unterliegen, durch die Kommission, die lediglich mittels „delegierter Rechtsakte“ tätig werden kann. Dies erfordert eindeutig abgefasste Leitlinien, die für alle Betroffenen akzeptabel sind. Solche Leitlinien müssen jedoch noch erstellt werden. Die wissenschaftlichen Grundlagen für diese Entscheidungen müssen in umfassenden und vorher vereinbarten, streng überwachten Verfahren gelegt werden. Im Fall einer Anfechtung durch das Europäische Parlament oder den Rat sollte eine umfassende Überprüfung durch die anderen Organe und beratenden Einrichtungen der EU verpflichtend sein. Es sollte auch gewährleistet werden, dass einzelne Mitgliedstaaten oder andere Betroffene Einwände geltend machen können.

4.9

Dies ist auch für den Anwendungsbereich des Vorschlags von Bedeutung. Die Seveso-II-Richtlinie betrifft ca. 10 000 konkrete Betriebe in der gesamten EU. Rund die Hälfte fällt auch unter die kürzlich erlassene Richtlinie über Industrieemissionen, die die IPPC-Richtlinie ersetzt und durch die insgesamt mehr als 50 000 Standorte erfasst sein werden. Zu den sogenannten Seveso-Betrieben gehören Chemiefabriken, Erdölraffinerien, Anlagen für die Fertigung von Konsumgütern und weitere nachgeschaltete Verarbeitungsbetriebe sowie einige Abfallverarbeitungsanlagen. Die zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten sind sich offenbar einig, dass die Standorte, an denen ein schwerer Unfall überhaupt eintreten kann, mit den geltenden Definitionen relativ gut erfasst werden. Es werden zweifellos alle wichtigen Standorte aufgeführt. Mit jeder Höherstufung von Produkten, die dazu dient, die Vorgaben des GHS zu erfüllen, ohne dass sich die tatsächlichen damit zusammenhängenden Gefahren ändern, kommen lediglich kleinere Standorte mit abnehmenden tatsächlichen Risiken hinzu bzw. wird die Zahl der als mit höheren Risiken behaftet eingestuften Standorte erhöht, obwohl es hierfür kaum Grund gibt. Besondere Bedenken gibt es im Fall von Ausgangsstoffen für Detergenzien, wo aufgrund geänderter Definitionen eine erhebliche Zahl von Standorten der unteren Klasse hinzukommen könnte. Da sich laut den Statistiken der Kommission nur 5-10 der gemeldeten Unfälle pro Jahr in den vorgenannten 5 500 Betrieben der unteren Klasse ereignen, dürfte dies kein vorrangiger Bereich für eine weiterreichende Regulierung sein. Ein meldepflichtiger Unfall alle 500-1 000 Jahre für einen Seveso-Betrieb der unteren Klasse (bzw. selbst bei einem Seveso-Betrieb der oberen Klasse ein Unfall alle 100-200 Jahre) legt den Schluss nahe, dass die persönlichen Risiken zu Hause oder auf dem Weg zur Arbeit größer sind – wenngleich diese nur selten wesentliche Folgen für andere haben oder vom Gesetzgeber und der Allgemeinheit als so schwerwiegend behandelt werden. Wenn dafür gesorgt wird, dass die Zuständigen in den KMU die Vorschriften kennen und einhalten und dass die Standorte regelmäßig von den zuständigen Behörden kontrolliert werden, wird es rasch dazu kommen, dass diese Maßnahmen immer weniger bringen. In Zeiten knapper Haushalte und personeller Beschränkungen könnte deshalb die Wahrscheinlichkeit schwerer Unfälle anderswo steigen.

4.10

Der EWSA fordert deshalb nachdrücklich, dass der ursprüngliche Schwerpunkt der Richtlinie, nämlich laut Definition die Eindämmung der Gefahren und der Auswirkungen schwerer Unfälle, beibehalten wird. Jegliche Entscheidung, die allein durch die Einführung des neuen GHS für die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung oder durch Änderungen der örtlichen oder EU-weiten Meldesysteme auf eine Aushöhlung dieses Ziels hinausläuft, sollte mit aller Entschiedenheit abgelehnt werden. Die erfordert eine sorgfältige Abwägung sowohl der Grenzwerte für die Einstufung als auch der Mengenschwellen für gelagerte Produkte. Sofern dies Produkte betrifft, die bereits für den Einzelhandelsverkauf in kleineren Mengen abgepackt sind und bei denen eine Entzündung oder Explosion wenig wahrscheinlich ist, verringert sich die Gefahr eines schweren Unfalls erheblich.

4.11

Der EWSA weist außerdem darauf hin, dass in diesem Vorschlag ausdrücklich und zu Recht Unfälle ausgeklammert werden wie etwa die jüngste Explosion auf einer Bohrinsel im Golf von Mexiko, für die möglicherweise neue Rechtsvorschriften erforderlich sind, sowie – um ein Beispiel aus der EU anzuführen – das Austreten von Rotschlamm in Ungarn, das zumindest theoretisch unter die Bergbauabfallrichtlinie von 2006 fällt. Die ordnungsgemäße Durchführung und Inspektion auf nationaler Ebene ist natürlich von entscheidender Bedeutung, unabhängig von den auf EU-Ebene bestehenden Rechtsvorschriften.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Der EWSA stellt fest, dass den Herstellern und den Mitgliedstaaten in vielen der genannten Richtlinien Berichtspflichten mit unterschiedlichen Zeitvorgaben auferlegt werden. Zusätzliche Auflagen bezüglich Häufigkeit und Gründlichkeit der Berichte ohne eindeutigen Nachweis, dass dies positive Auswirkungen hat, bringt jedoch zusätzliche Belastungen für die Betroffenen mit sich. Wenn die Daten sämtlich zentral in Brüssel oder anderswo gespeichert werden, ergeben sich zusätzliche Probleme im Hinblick auf die Erhaltung der Qualität der Daten und ggf. die Gewährleistung der Vertraulichkeit.

5.2

Das gilt auch für eine neue Anforderung für „Betriebe“, die Informationen über „benachbarte Betriebe“ vorlegen müssen, um „Domino-Effekte“ an nahegelegenen Standorten zu vermeiden, die dieser Rechtsvorschrift unterliegen können. Unklar ist, wie dies im Einklang mit dem EU-Wettbewerbsrecht gehandhabt werden kann. Allerdings ist dies sicherlich wichtig für die Erstellung von lokalen Notfallplänen und hat deshalb die volle Unterstützung des EWSA.

5.3

Die Vorgabe, dass Betreiber Berichte erstellen müssen, in denen auch nachzuweisen ist, dass eine „Sicherheitskultur“ vorhanden ist, geht auf Unfälle in den USA wie den Absturz des Space Shuttle und kürzliche schwere Havarien in Texas und im Golf von Mexiko zurück, da in Berichten über die Unfälle festgestellt wurde, dass eine solche Sicherheitskultur fehlte. Dabei handelt es sich allerdings um subjektive Bemerkungen, deren Richtigkeit schwer zu bewerten und einzuschätzen ist. Die regelmäßige Vorlage aussagekräftiger Vorabbewertungen würde angesichts der derzeitigen Personalausstattung in den meisten Mitgliedstaaten zu Problemen für die zuständigen Stellen führen. Dieser Vorschlag wurde daher auf einem Treffen von Sicherheitsexperten 2010 in Ispra abgelehnt, und es ist nicht klar, warum er wieder in den aktuellen Vorschlag aufgenommen wurde.

5.4

Überhaupt spricht sich der EWSA dafür aus, die Berichtspflichten in allen Mitgliedstaaten auf einem realistischen, aussagekräftigen, vergleichbaren und durchsetzbaren Niveau zu halten und alle denkbaren Anstrengungen zu unternehmen, um zwischen den Mitgliedstaaten bewährte Verfahren auszutauschen. Der EWSA bedauert insbesondere, dass der „Lessons Learned“-Abschnitt bei den 745 derzeit online abrufbaren Berichten in der Datenbank eMARS in der Regel nicht ausgefüllt wurde und die restlichen anzukreuzenden Kästchen nur wenig nützliche Informationen liefern, obwohl sie sowohl der Öffentlichkeit als auch Sicherheitsexperten als maßgebliche Quelle für relevante Daten angeboten wird. Einige Daten wie z.B. zur Verteilung der Unfälle auf Betriebe der unteren und der oberen Klasse wurden anscheinend nicht systematisch erfasst, wodurch es schwierig wird, die Wirksamkeit der verschiedenen Komponenten der Rechtsvorschriften und der auf nationaler Ebene zu ergreifenden Maßnahmen zu bewerten. Der EWSA begrüßt daher entsprechende Schritte seitens der Kommission, mit den Mitgliedstaaten neue Meldestandards zu vereinbaren, und hofft, dass ausreichende Mittel zugewiesen werden, damit das System auch weiterhin seinen ursprünglichen Zweck erfüllen kann.

5.5

Der EWSA stellt außerdem die Frage, warum für die beiden Klassen von Betreibern, die in Abhängigkeit von den Mengen und den Gefahreneinstufungen der in dem Betrieb hergestellten, verwendeten oder gelagerten Stoffe festgelegt sind, mit Blick auf die Notwendigkeit eines Konzepts zur Verhütung schwerer Unfälle und des damit zusammenhängenden Sicherheitsmanagementsystems sowie des Sicherheitsberichts unterschiedliche Berichtspflichten festgelegt sind. Diese Anforderung sollte nach Auffassung des EWSA in gleicher Weise für alle der Richtlinie unterliegenden Betriebe gelten, da ein Konzept zur Verhütung schwerer Unfälle ohne das Sicherheitsmanagementsystem wenig sinnvoll ist. Die spezifischen Anforderungen für Betriebe der unteren Klasse sollten viel stärker an die sehr viel geringere Gefahr eines schweren Unfalls angepasst werden.

5.6

Der EWSA stellt fest, dass die Vorschläge über die Unterrichtung der Öffentlichkeit erheblich ausgeweitet wurden, ohne dass der Grund dafür klar wäre. In einem Absatz werden konkret „Schulen und Krankenhäuser“ genannt, doch ist unklar, ob es um Schulungszwecke geht oder ob diese Einrichtungen erwähnt werden, weil in ihnen eine große Zahl von Menschen beschäftigt ist oder sich aufhält und deshalb spezielle Evakuierungspläne oder Schulungen notwendig sind oder weil sie in Notfällen wichtige Standorte darstellen. Dies sollte klargestellt werden, damit die Betroffenen entsprechende Maßnahmen ergreifen können.

5.7

In all diesen Fällen sollte verlangt werden, dass – bezogen auf den jeweiligen Fall – rechtzeitig sachdienliche und verständliche Informationen vorgelegt werden. In einigen Bereichen der Gesellschaft ist es sicher sinnvoll, die Informationen in elektronischer Form zur Verfügung zu stellen, in anderen eher nicht. Noch viele Jahre lang wird es erforderlich sein, Informationen in Papierform bereitzustellen. Neue Formen der Kommunikation wie gezielt versendete E-Mails, soziale Netzwerke und sogar Twitter® könnten im Rahmen von Plänen für spezielle Notfälle auf lokaler Ebene getestet werden.

5.8

Schließlich fügt die Kommission einen neuen Artikel ein, um den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten zu gewährleisten. Dieses Konzept entstand in den 80er in den Vereinigten Staaten auf der Grundlage der 20 Jahre zurückliegenden Bürgerrechtsbewegung, wo die Hautfarbe, Armut und fehlende Bürgerrechte und somit natürlich auch fehlender Zugang zum Recht in engem Zusammenhang standen. Dieser Grundsatz wurde auch in das Übereinkommen von Aarhus von 1998 aufgenommen. 2006 wurde eine Verordnung über die Verpflichtungen der EU-Institutionen angenommen. In seiner im Amtsblatt C 117 vom 30. April 2004, S. 52, veröffentlichten Stellungnahme dazu unterstützt der EWSA den Vorschlag, zeigt sich jedoch besorgt über die enge Definition der „Organisationen, die zugunsten des Umweltschutzes arbeiten“, da „auch andere gemeinnützige Organisationen wie Gewerkschaften, sozialwirtschaftliche Verbände, Verbrauchervereine usw. wichtige Umweltarbeit auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene“ leisten. Dieser Einwand ist nach wie vor aktuell, da sämtliche Bereiche der organisierten Zivilgesellschaft gebührend zu beteiligen sind, wenn es darum geht, sachgerechte Beurteilungen von Fragen abzugeben, die für diese Rechtsvorschrift relevant sind, und zu gewährleisten, dass die Gesundheit und die Sicherheit der Arbeitnehmer und der sich in der Nähe aufhaltenden Öffentlichkeit im Fall eines schweren Unfalls ordnungsgemäß schützt werden. Gemäß den Online-Berichten der Kommission über die Durchführung der Verordnung von 2006 betrafen die wenigen eingegangenen Ersuchen um Informationen eher die Unterstützung laufender europaweiter Kampagnen als Fragen zu einzelnen Standorten. Es ist daher unklar, warum diese besondere Anforderung hier aufgenommen wurde, statt dass Vorschläge bezüglich Austausch, Anerkennung und Belohnung vorbildlicher Verfahren gemacht werden. In diesem Bereich, in dem die EU weit hinter den Vereinigten Staaten zurückliegt, könnten echte Verbesserungen in Bezug auf die Verfahrenssicherheit und die persönliche Sicherheit gemäß den erklärten Zielen dieses Vorschlags erreicht werden.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 204 vom 9.8.2008.

(2)  http://emars.jrc.ec.europa.eu/.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/144


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung für das europäische Kino“

KOM(2010) 487 endg.

2011/C 248/25

Berichterstatter: Eugen Mircea BURADA

Die Europäische Kommission beschloss am 24. September 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung für das europäische Kino

KOM(2010) 487 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 142 gegen 1 Stimme bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

Motto

Europa muss die Welt aktiv mitgestalten und darf unter keinen Umständen nur eine Nebenrolle in der Globalisierung spielen. (1)

PRÄAMBEL

Das europäische Kino hat eine wichtige Funktion bei der Ausformung europäischer Identitäten, die das Kernstück der europäischen Kulturagenda sind. “ Mit diesem Satz ist der Mitteilung der Kommission eine ausgezeichnete Absichtserklärung vorangestellt, in der gleich zu Beginn die tatsächliche Dimension dieses Themas betont und darauf hingewiesen wird, wie enorm wichtig es für die Verwirklichung des eigentlichen Anliegens jener EU ist, die ihre Gründungsväter erdacht und geschaffen haben. Kultur in all ihren Facetten, in diesem Fall insbesondere das Kino, ist das wichtigste Instrument der Kommunikation, der Solidarität, der Demokratie und vor allem auch des europäischen Zusammenhalts. Das Kino, das man geradezu als „Holy Grail“ des Lebens bezeichnen kann, muss geschützt und mit großem politischem und strategischem Engagement bedacht werden. Das digitale Kino bietet die unwiederbringliche Chance, das europäische Kino zum wesentlichen transzendenten Vermittler von Ideen zu machen, sowie die einmalige Gelegenheit für die Europäische Union – die diese nicht verstreichen lassen darf –, die erforderlichen Instrumente zu entwickeln, um durch die Ausformung europäischer Identitäten den Zusammenhalt in der EU zu gewährleisten. Dies kann nur mit Hilfe der Kunst im Allgemeinen und der Filmkunst im Besonderen gelingen. Wirtschaftlich gesehen bedeutet dies, dass eine solche Initiative einen HAUSHALT, das heißt beträchtliche finanzielle Mittel, benötigt, ohne die die Zukunft der EU, dieses Turms von Babel mit seinen 27 Völkern, durch die Sensibilitäten, die den unterschiedlichen Mitgliedstaaten eigen sind, in Gefahr gerät.

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der in dieser Stellungnahme zur Debatte stehende Gegenstand ist komplex, sensibel und wichtig, vor allem aber auch politischer Natur:

KOMPLEX auf Grund der kulturellen Vielfalt der europäischen Identitäten;

SENSIBEL, da jeder Mitgliedstaat, stolz auf den Reichtum und die Vielfalt seines nationalen filmkünstlerischen Erbes, diese neue Etappe mit besonderem Bedacht, um nicht zu sagen skeptisch, prüfen wird;

WICHTIG, weil es keine echte europäische Strategie und keine Zielvorgaben gibt, was die Bemühungen um die Stärkung der EU durch Ausformung und Harmonisierung der europäischen Identitäten auf lange Sicht gefährden könnte;

POLITISCH, denn obwohl das Kino als kulturelles Ereignis schlechthin zunächst nur der Zerstreuung diente, so übernahm es mit der Zeit doch auch wichtige und vielfältige andere Funktionen als Mittel der moralischen Unterstützung, Kommunikationsinstrument, Zeitzeugnis, Ausdrucksform des Unbewussten, Propagandawerkzeug usw.

1.2   Der Ausschuss empfiehlt allen Entscheidungsträgern, die künftig mit diesem weltweit einmaligen Projekt zu tun haben, mit Bedacht vorzugehen und nicht in die Falle von Kulturpessimismus geprägter Vergleiche zu tappen, wie „das amerikanische Kino ist überlegen“, „die Zuschauer wollen nur amerikanische Produktionen sehen“ usw. Konkurrenz muss wie ein Adrenalinstoß für das europäische digitale Kino sein. Die Zuschauer wollen, dass man mit ihnen kommuniziert, dass man sie bezaubert und überzeugt, dass man ihnen ein Schauspiel bietet, sie einlädt, mit ihren eigenen Ideen in den Kinosaal zu kommen und ihn mit den Ideen zu verlassen, die ihnen durch den Film vermittelt wurden. Dies ist der Schlüssel zum Erfolg. Wir empfehlen deshalb, alle erforderlichen Anstrengungen zu unternehmen (mit Selbstvertrauen, Entschlossenheit, europäischem Ehrgeiz), um die nötigen Mittel, auch finanzieller Art, aufzubringen, damit dieses politische und kulturelle Instrument, das zweifellos ein entscheidendes Element für den Erfolg der europäischen Integration ist, ein Erfolg wird.

1.3   Durch die mit ihr einhergehenden Veränderungen der Programme, der Normen und der Regelungen wird diese digitale Revolution des europäischen Kinos insbesondere das Stillleben zahlreicher Marktteilnehmer beenden, indem sie ihnen neue Rahmenbedingungen, einen neuen Lebensrhythmus und vor allem einen höheren Haushalt aufzwingt. Sie bringt neue Herausforderungen mit sich, birgt allerdings auch die Gefahr, dass zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen verschwinden, wie in der Mitteilung der Kommission sehr zutreffend beschrieben wird. Der Ausschuss fordert und unterstützt sämtliche sachdienlichen Maßnahmen der Europäischen Union und ist der Auffassung, dass zweifellos Anstrengungen unternommen werden müssen, um kleine Kinos und solche in ländlichen Gebieten und auch in Großstädten, die für den sozialen Zusammenhalt enorm wichtig sind, sowie Programmkinos, die eine Marktnische besetzen, zu erhalten.

1.4   Gewaltiger Innovationssprung, Grundvoraussetzung für die Zukunft der Union, wesentlicher Bestandteil der europäischen Kultur, feste Brücke zwischen den Völkern und Kulturen der Union, die Möglichkeiten der Begegnung, des besseren Kennenlernens und der gegenseitigen Entdeckung bietet und vielleicht sogar die Erkenntnis bringt, dass die Völker und Kulturen einvernehmlich zusammenleben können, in gegenseitigem Respekt und vielleicht sogar Bewunderung – das digitale Kino lässt einen Silberstreifen am Horizont erkennen, der ein harmonischeres, wettbewerbsfähigeres und weniger verschwenderisches Leben verheißt.

1.5   Der Ausschuss unterstützt die Schaffung eines eindeutigen und stabilen europäischen Rechtsrahmens für diesen Bereich. Die Mitgliedstaaten müssen konkrete Anstrengungen unternehmen, um Millionen von Zuschauern, die nicht mehr ins Kino gehen, wieder vor die Leinwände zu bringen. Einen wesentlichen Aspekt gilt es, sich bewusst zu machen: Ins Kino zu gehen und sich einen Film anzusehen, stellt heutzutage einen Luxus dar, während es eine Alltäglichkeit ist, sich zu Hause eine DVD auf einer Heimkinoanlage anzusehen (wobei ein Plasmabildschirm unabdingbar ist).

1.6   Im Zusammenhang mit diesem Thema muss man bedenken, dass die IKT (die neuen Technologien, Informationen in Echtzeit und die direkte Kommunikation ohne sprachliche Grenzen) außerordentlich viele Vorteile bieten, wenn es darum geht, die vielfältigen kulturellen und kreativen Werte Europas ungehindert und zu immer geringeren Kosten zu verbreiten. Gleichzeitig sind sie für Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen in hervorragender Weise zugänglich.

1.7   Allerdings werden sich dauerhafte und nachhaltige Erfolge nur dann einstellen, wenn die Europäische Union die erforderlichen Finanzmittel für die Umsetzung und Förderung dieses weltweit einmaligen multikulturellen Projekts bereitstellt. Allein die schlechte Verwaltung dieses Programms wird zweifellos Kosten mit sich bringen, die die kleinen Kinos, bestimmte Kategorien von Fachkräften sowie vor allem die Zuschauer, die die wesentliche Zielgruppe darstellen, nur schwer aufbringen können. Da im Bereich der staatlichen Beihilfen kein einheitlicher Ansatz existiert, der für jedes europäische Mitgliedsland und für jede Region geeignet ist, unterstreicht der EWSA, dass die Digitalisierung kleiner Kinos, vor allem im ländlichen Raum und großen Städten, ausreichend finanziert werden muss. Es ist wichtig, die Strukturfonds zu nutzen, eine angemessene nationale Kofinanzierung sicherzustellen und vor allem den MEDIA-Produktions-Garantiefonds besser für die Vorführunternehmen zugänglich zu machen. Allerdings darf es in Bezug auf die staatlichen Beihilfen kein Konzept geben, das unterschiedslos für alle Länder und Regionen Europas gilt, und jedem Land und jeder Region muss es freigestellt werden, eine Regelung anzuwenden, die ihrem jeweiligen Markt am besten gerecht wird.

1.8   Es empfiehlt sich, den Übergang zur Digitaltechnik, der in den kommenden Jahren mit Sicherheit stattfinden wird, zu nutzen, um Filmarchive – Dokumentarfilme, Archivaufnahmen oder Filmklassiker – zu digitalisieren, damit kommende Generationen nicht des Schatzes beraubt werden, den das europäische Kino darstellt, und damit die Produktionen leicht zugänglich sind.

1.9   Die Mitteilung konzentriert sich inhaltlich stark auf die Digitalisierung der Kinos statt auf das europäische Kino und die Politik im audiovisuellen Bereich in einer digitalen Welt. Die Digitalisierung ist ein komplexer Vorgang, der weit mehr bedeutet, als nur die vorhandene Technik zu ersetzen. Damit das europäische Kino ein wichtiges strategisches Element in der Digitalen Agenda für Europa wird, ist ein umfassenderes Konzept erforderlich, bei den nicht nur technische und unternehmerische Aspekte berücksichtigt werden, sondern auch kulturelle Anliegen und Ziele, kurz: Kreativität. Der Zugang zum digitalen Kino, sei es zur Freizeitgestaltung oder zu Informationszwecken, muss Bestandteil der Digitalen Agenda für Europa werden.

2.   Einleitung

2.1   Digitales Kino bedeutet, dass der Verleih und die Vorführung von Filmen in Filmtheatern mit Hilfe digitaler Technik erfolgen. Dies umfasst digitale Aufnahmen, digitale Postproduktion, die Herstellung des digitalen Masters (Digital Cinema Distribution Master, DCDM) sowie die Vorführung von Filmen im Digitalformat (DCI-Norm), die in zwei Auflösungen, 2K und 4K, möglich ist. Digitales Kino soll eine bestmögliche Qualität von Bild und Ton gewährleisten.

2.2   Der Verleih digitaler Filme ermöglicht den Verleihern beträchtliche Einsparungen. Der Verleih von 80 Minuten Film in Form einer klassischen Filmrolle kostet zwischen 1 500 und 2 500 Dollar. Multipliziert man diesen Betrag mit der Zahl der Kopien, die in die Millionen geht, so ergibt sich eine gewaltige Summe. In digitaler Form und einer maximalen Übertragungsgeschwindigkeit von 250 MB pro Sekunde kann ein durchschnittlicher Film auf einer Diskette von nur 300 GB zu sehr geringen Kosten gelagert werden. Zudem sind digitale Datenträger physisch leicht zu handhaben, zu lagern und zu transportieren, und vor allem sind sie wiederverwendbar (Quelle: Wikipedia).

2.3   Voraussetzung der Verbreitung im digitalen Format (digitales Kino) ist jedoch die Filmproduktion, die, was die Anpassung der Aufnahmegeräte an die Digitaltechnik angeht, im Verzug ist. Hier sind besondere finanzielle Anstrengungen erforderlich, um die entstandenen Rückstand aufzuholen und gegenüber der Konkurrenz rasch Fortschritte zu erzielen.

Wir befinden uns derzeit in einer recht paradoxen Situation: Wir bemühen uns, ein Netz digitaler Kinos zu schaffen, während Filme noch immer auf Zelluloid gedreht werden und in den Verleih gelangen.

Dies gilt auch für 3D-Filme, bei denen die Verleiher und Vorführer den europäischen Zuschauern zumeist für einen Aufschlag von einigen Euro pro Eintrittskarte eine Art Ersatzprodukt verkaufen, das nicht den digitalen Normen entspricht. Bei einem digitalen Master eines Films, der nicht digital hergestellt wurde, kann es auch keine wirklich digitale Vorführung geben. Der Film „Avatar“ wurde beispielsweise in 3D gedreht, was unter anderem die Begeisterung von Millionen Zuschauern erklärt.

3.   Voraussetzungen

3.1   In der Mitteilung werden mehrere Schlüsselkonzepte berücksichtigt, mit denen ein gemeinsamer europäischer Kulturraum gefördert werden soll, wobei von dem Grundsatz ausgegangen wird, dass die Digitalisierung in der beschriebenen Form und mit der erforderlichen finanziellen Unterstützung stattfindet.

3.1.1   DIE EUROPÄISCHE KULTURAGENDA hat das wesentliche Ziel, das europäische Kino als Instrument für die Ausformung der europäischen Identitäten und die Annäherung zwischen den Kulturen der Union zu fördern.

3.1.2   DIE DIGITALE AGENDA FÜR EUROPA ist eine der sieben Leitinitiativen der Europa-2020-Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum auf einem digitalen Binnenmarkt.

3.1.3   Der Binnenmarkt ist eine Drehscheibe, die allen Schwierigkeiten zum Trotz die Freizügigkeit kultureller Inhalte, sozialer Beziehungen und gewerblicher Dienstleistungen über die Binnengrenzen der Union hinweg gewährleistet und es den Unionsbürgern ermöglicht, die Vorteile des digitalen Zeitalters dank der Schaffung eines digitalen Binnenmarkts umfassend zu nutzen.

3.1.4   Das 2006 ratifizierte UNESCO-Übereinkommen dient dem Schutz und der Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen und ist ausgesprochen nützlich, um zu ermitteln, welcher Handlungsbedarf auf EU-Ebene bei der Digitalisierung von Kinos besteht.

3.1.5   Grünbuch „Erschließung des Potenzials der Kultur- und Kreativindustrien“. Über ihren direkten Beitrag zum BIP hinaus ist die Kultur- und Kreativwirtschaft auch in vielen anderen Branchen ein wichtiger Motor für wirtschaftliche und soziale Innovation.

3.1.6   Das Programm MEDIA 2007 ist ein umfassendes Programm, das auch Schulungsmaßnahmen für Fachkräfte der europäischen audiovisuellen Industrie vorsieht. Die in diesem Bereich Tätigen sollen dadurch unterstützt werden, der europäischen und internationalen Dimension des audiovisuellen Marktes gerecht zu werden, indem ständige Weiterbildungsmaßnahmen sowie der Einsatz neuer Technologien gefördert werden.

3.1.7   Es fehlt an finanziellen Mitteln zur Digitalisierung kleiner Kinos, vor allem im ländlichen Raum. Dies muss über die Strukturfonds sowie eine angemessene nationale Kofinanzierung erfolgen. Zudem muss der MEDIA-Produktions-Garantiefonds besser für die Vorführunternehmen zugänglich gemacht werden.

4.   Analyse der Lage

4.1   Die digitale Revolution wirft auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene eine Reihe von Fragen politischer Relevanz auf, vor allem im Hinblick auf

die Wettbewerbsfähigkeit und die Verbreitung europäischer Werke und

den Pluralismus sowie die sprachliche und kulturelle Vielfalt.

Diese Probleme müssen zweifellos in einheitlicher und ausgewogener Weise von allen Beteiligten in der EU gemeinsam analysiert und gelöst werden.

4.2   Bislang war die seitens der Behörden der Mitgliedstaaten gewährte finanzielle Unterstützung von Filmproduktionen allein für die Phasen Kreation und Produktion bestimmt, was nach Ansicht des EWSA sehr lobenswert und zur Förderung der Filmkultur in den einzelnen Mitgliedstaaten in jeglicher Hinsicht unabdingbar ist, sofern dabei der Übergang zur digitalen Produktion mitvollzogen wird.

4.3   Im Übrigen wird in der Mitteilung darauf verwiesen, dass zusätzliche finanzielle Mittel bereitgestellt werden müssen, um digitale Master herzustellen und digitale Leinwände zu installieren, damit diese Filme auch gezeigt werden und ein möglichst großes Publikum erreichen können. Voraussetzung ist allerdings, dass auch die Umschulung der durch die Einführung der neuen Technologie arbeitslos gewordenen Menschen finanziert wird.

4.4   Der Text wirft die Frage auf, wie die Verleih- und Vorführunternehmen umfassend einbezogen werden können. Ihre Beteiligung ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass europäische Werke Verbreitung finden und die Vielfalt des europäischen Kinos bewahrt bleibt. Die Tatsache, dass ein Filmverleiher gleichzeitig auch der Produzent des Films ist, sollte keine Probleme aufwerfen, solange der Preis für einen Kinobesuch erschwinglich bleibt. Sein Interesse am Geschäft sollte dergestalt genutzt werden, dass es den nationalen oder europäischen digitalen Kinos zugute kommt.

4.5   Die Europäische Kommission hat gemeinsam mit den Mitgliedstaaten schon im Frühjahr 2008 durch die Einrichtung einer Expertengruppe zum digitalen Kino eine dauerhafte Initiative ins Leben gerufen. Die Diskussionen haben die Notwendigkeit einer Alternative zum bestehenden VPF-Modell (Virtual Print Fee) aufgezeigt. Um die Digitalisierung voranzutreiben, sind allerdings nationale Förderungen und finanzielle Beihilfen seitens der Europäischen Union erforderlich.

4.6   Mit Hilfe „zwischengeschalteter Stellen“, der sog. Integratoren, wird im Vorfeld die gesamte Ausstattung der Kinosäle mit digitaler Technik finanziert. Diese Gelder muss die Verleihfirma von der ersten Vorführung an durch die sog. VPF-Gebühr zurückzahlen, wodurch sie die digitale Ausstattung schließlich erwirbt.

4.7   In der Mitteilung werden zwar einige Beispiele für die Bereitstellung von Finanzmitteln gegeben, die den Gedanken nahelegen, der digitale Zug habe Fahrt aufgenommen, doch haben wir noch kein konkretes Bild davon, wie schnell und effizient er wirklich ist, wie zuverlässig die Technik ist und vor allem wie umfassend das föderative Netz der digitalen Kinos ist, das eine der Säulen für die Verwirklichung des Binnenmarkts mit dem Ziel der Gewährleistung eines intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums darstellt.

4.8   Auf die von der Europäischen Kommission am 16. Oktober 2009 gestartete öffentliche Konsultation zu den Chancen und Herausforderungen für das europäische Kino im Digitalzeitalter gingen mehr als 300 Antworten von Personen aus den Bereichen Vorführung, Verleih, Produktion, Verkauf und anderen Interessenträgern wie Filmagenturen, Fachagenturen und digitalen Dienstleistungsunternehmen ein.

4.9   Nach Auffassung des Ausschusses sollte eine solche Überwachung langfristig angelegt und an die große Vielfalt der kulturellen Inhalte in Europa angepasst werden, damit das Projekt Erfolg hat.

4.10   Das Kino hat über die Jahrzehnte hinweg zahlreiche Stadien der technischen Entwicklung durchlaufen: Stummfilm, Technicolor, Dolby Sound usw. Die große Herausforderung der Gegenwart besteht in der digitalen Revolution.

4.11   Der Ausschuss betont, dass die Digitalisierung auch ernst zu nehmende technische und finanzielle Probleme im Bereich der Lagerung, der langfristigen Konservierung und des Zugangs aufwirft, auf die in der Mitteilung nicht eingegangen wird. Es gibt weder einen langfristigen Plan für die digitale Lagerung noch ein nachgewiesenermaßen wirksames Verfahren für die langfristigen Lagerung digitaler Inhalte mit Blick auf eine spätere Extraktion. Ein digitales Speichermedium hat eine geringere Lebensdauer als ein Film, die entstehenden Kosten sind weitaus höher und digitale Inhalte nehmen geometrisch zu. Gleichzeitig stellen sich Fragen des Zugangs, der Echtheit und der Authentizität.

4.12   Der Ausschuss empfiehlt, sich diesen Herausforderungen zu stellen, indem eine Zusammenarbeit in dem Sektor gefördert wird, in die alle Beteiligten eingebunden werden und die darauf abzielt, angemessene Lagerungs- und Archivierungssysteme zu schaffen, gemeinsame Normen festzulegen und eine stabile und verlässliche Finanzierung zu beschließen. Bei den Empfehlungen im Hinblick auf kohärente Rahmenvorgaben für die Lagerung und Archivierung digitaler Inhalte geht es insbesondere um einen garantierten Zugang für einen Zeitraum von 100 Jahren, Maßnahmen zur Vermeidung längerer Phasen der Vernachlässigung oder finanzieller Schwierigkeiten, Kapazitäten zur Herstellung von Kopien, damit der künftige Bedarf des Verleihs gedeckt werden kann, eine Qualität von Bild und Ton, die der des Originals entspricht oder sie sogar übertrifft, sowie den Schutz vor Abhängigkeit von technisch instabilen Plattformen.

4.13   In der Mitteilung wird eine Chance betont, die der digitale Verleih bietet: Das Überleben der Filmarchive wird gesichert, und Filmklassiker, die dem Vergessen anheimzufallen drohen, weil die entsprechende Technik veraltet ist, können dem Publikum in großem Maßstab zur Verfügung gestellt werden.

4.14   Die Digitaltechnik gestattet es im Übrigen, die Kosten in den Phasen der Produktion und Postproduktion erheblich zu reduzieren. Ein digitaler Master (DSM, Digital Source Master) kann in verschiedenen Bereichen verwertet werden: im Kino, als Video-on-Demand (VOD) oder DVD sowie im digitalen Fernsehen.

4.15   Der digitale Vertrieb bietet zudem eine andere höchst wichtige Chance: Er erleichtert das Überschreiten physischer, kultureller, vor allem aber sprachlicher Grenzen, indem der Originalfilm in den Sprachen des jeweils anderen Landes vorgeführt wird. Auch immer mehr DVDs umfassen Untertitel in mehreren Sprachen.

4.16   Die Digitalisierung ermöglicht es dem Regisseur eines Films auch, die Qualität des digitalen Masters (Bild, Spezialeffekte, Licht, Musik, Ton usw.) bis zum letzten Moment zu kontrollieren.

4.17   Der Ausschuss begrüßt die Bemühungen der Europäischen Kommission, die Mitgliedstaaten, die ihre jeweilige Filmproduktion fördern, darin zu bestärken, die Möglichkeiten des digitalen Vertriebs zu nutzen und durch ihre beständige Teilnahme an der digitalen Revolution dem digitalen Kino, das die multikulturelle Vielfalt für die Unionsbürger zugänglich macht, eine sichere Zukunft zu gewährleisten.

4.18   Der EWSA weist nachdrücklich auf das Beschäftigungspotenzial des Sektors und die Besonderheiten der dort bestehenden Arbeitsplätze hin. Wichtig ist, heute in die Humanressourcen zu investieren, um eine erfolgreiche Ausbreitung des digitalen Kinos in Europa zu gewährleisten, die dafür sorgt, dass die Qualität und die Besonderheit der europäischen Filmindustrie auch in Zukunft gewahrt werden. Außerdem müssen die sozialen Kosten im Zusammenhang mit der Digitalisierung, beispielsweise der Abbau von Arbeitsplätzen von Vorführern und/oder Labortechnikern so weit möglich reduziert werden (zum Beispiel durch geeignete Umschulungs- oder Ausgleichsmaßnahmen).

4.19   In diesem Kontext sieht Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c des Beschlusses MEDIA 2007 Schulungsmaßnahmen vor, und zwar durch die Einbeziehung digitaler Technologien bei der Vorproduktionsphase, Postproduktion, dem Vertrieb, der Verwertung und der Archivierung europäischer audiovisueller Programme. Das Programm MEDIA 2007 sollte überprüft und so ausgeweitet werden, dass neuen Anforderungen, die über die bereits ermittelten hinausgehen, Priorität verliehen und Rechnung getragen wird.

4.20   Durch MEDIA 2007 wird auch der andere Aspekt des digitalen Kinos unterstützt, nämlich Vertrieb und Verbreitung (Artikel 5).

4.21   Staatliche Beihilfen, die gemäß Artikel 107 Absatz 3 Buchstabe d AEUV gewährt werden, stellen eine weitere Finanzierungsquelle dar. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele, wie aus dem Kontext hervorgeht.

4.22   Normung: 2002 haben sechs große amerikanische Filmstudios (majors) eine Reihe von technischen Spezifikationen für den digitalen Filmverleih festgelegt, die sogenannte Digital Cinema Initiative (DCI).

4.23   Diese Spezifikationen wurden 2005 von der Society of Motion Picture and Television Engineers (SMPTE) veröffentlicht und dann von der Internationalen Normenorganisation (ISO) in Standards für das digitale Kino umgewandelt und als internationale Normen angenommen. Die Kommission hat in Aussicht gestellt, 2011 eine Empfehlung zur Förderung von Normen zur Digitalisierung europäischer Kinos zu verabschieden, die mit großem Interesse erwartet wird.

4.24   In Europa ist die Zahl der Filme, die digital gedreht oder nachbereitet wurden, im Vergleich zu den Vereinigten Staaten besorgniserregend gering. Hier befinden wir uns unserem großen Konkurrenten gegenüber im Rückstand. Ein vielsagendes Beispiel sei hier genannt: Unter den in Frankreich gezeigten digitalen Filmen insgesamt (30 im Jahr 2007, 50 im Jahr 2008) waren 35 nordamerikanische, 10 europäische und 5 unabhängige Produktionen.

4.25   Die Anstrengungen, die wir zum Ausbau digitaler Kinos unternehmen, ohne im selben Maße die Produktion digitaler Filme in Europa zu fördern, wirken sich vernichtend auf das europäische Filmschaffen aus und stellen eine Kapitulation gegenüber ausländischen digitalen Produktionen dar.

4.26   Sollte dieses umfassende europäische Programm scheitern, würde das digitale Kino den Tod der Idee des europäischen Zusammenhalts auf der Grundlage der Gestaltung eines multikulturellen europäischen Inhalts bedeuten.

4.27   Schlussfolgerung: Das Europa des digitalen Kinos muss einen erheblichen Rückstand aufholen.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Treffen zwischen Präsident Staffan NILSSON und Kommissionsmitglied Michel BARNIER vom 6. Januar 2011.


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/149


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zur Reform der EU-Beihilfevorschriften über Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“

KOM(2011) 146 endg.

2011/C 248/26

Hauptberichterstatter: Raymond HENCKS

Die Europäische Kommission beschloss am 23. März 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zur Reform der EU-Beihilfevorschriften über Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse

KOM(2011) 146 endg.

Das Präsidium beauftragte die Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft am 3. Mai 2011 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten (Artikel 59 der Geschäftsordnung) bestellte der Ausschuss auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) Raymond HENCKS zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 136 gegen 6 Stimmen bei 16 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission im Dialog mit den Betroffenen Überlegungen zu einer Überprüfung und Klärung der Vorschriften über die Finanzierung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse angestellt hat.

1.2

Der EWSA begrüßt uneingeschränkt einen stärker diversifizierten und verhältnismäßigeren Ansatz bezüglich der verschiedenen Arten von öffentlichen Dienstleistungen und befürwortet eine Befreiung von der Anmeldepflicht für öffentliche Dienstleistungen geringen Umfangs und für bestimmte soziale Dienste.

1.3

In diesem Zusammenhang ersucht der EWSA die Kommission, für jede einzelne der Modalitäten für die Finanzierung von Ausgleichzahlungen für die Erfüllung von gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen zu klären, ob sie den Altmark-Kriterien genügen und somit nicht als „staatliche Beihilfen“ einzustufen sind.

1.4

Um nicht mehr auf den fallspezifischen legislativen oder rechtswegorientierten Ansatz angewiesen zu sein, ist nur zu begrüßen, dass die Kommission die Unterscheidung zwischen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) und nichtwirtschaftlichen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (NDAI) klären möchte. Gleichwohl ist der Ausschuss weiterhin der Überzeugung, dass angesichts der Schwierigkeiten, den Begriff DAWI/NDAI zu definieren, das Augenmerk nicht auf die Unterscheidung zwischen wirtschaftlich oder nichtwirtschaftlich, sondern auf die besonderen Aufgaben der betreffenden Dienste und die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen gerichtet sein sollte.

1.5

Der EWSA ist deshalb der Auffassung, dass in diesem Zusammenhang die Bestimmungen für die Umsetzung der Ausgleichszahlungen für die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen im Kontext staatlicher Beihilfen für zehntausende von Behörden - die sie umsetzen müssen - demokratischer sein können, sofern sie im Anwendungsbereich des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens nach Maßgabe von Artikel 14 AEUV liegen und vorbehaltlich der Übereinstimmung mit dem Vertrag.

1.6

Es ist zwar lobenswert, die Mitgliedstaaten dazu anzuhalten, Wirksamkeitserwägungen mehr Gewicht beizumessen. Dabei darf das Augenmerk aber nicht allein auf die wirtschaftlichen Kriterien gerichtet werden, sondern es müssen auch die sozialen, territorialen und umweltbezogenen Aspekte und Kriterien wie Qualität, Ergebnisse und Nachhaltigkeit berücksichtigt werden.

1.7

Der EWSA befürchtet indes, dass mit der Einführung eines Wirksamkeitsbegriffs die Bewertungskriterien der Entscheidung und des Gemeinschaftsrahmens wieder auf das 4. Kriterium des Altmark-Urteils ausgerichtet werden. Außerdem würde dies möglicherweise für alle Vergütungen gelten, einschließlich Vergütungen von öffentlichen Dienstleistungen, die von der Meldepflicht befreit sind.

1.8

Was die Absicht der Kommission angeht, die für die Mitgliedstaaten geltenden Grenzen für die Einstufung einer Tätigkeit als DAWI zu klären, erinnert der EWSA daran, dass er seit Jahren eine Klarstellung der Bedingung für die Durchführung von Artikel 106 Absatz 2 fordert, der widersprüchlich ausgelegt wird.

2.   Einleitung

2.1

In den einzelnen Mitgliedstaaten gibt es zahlreiche öffentliche Beihilfen unterschiedlicher Art, die von Beihilfen für Beschäftigung, Ausbildung, Investitionen, Forschung, Umweltschutz, kleine und mittlere Unternehmen, Rettung und Umstrukturierung von notleidenden Unternehmen, Familien, in Schwierigkeiten geratene Personen usw. bis zu Beihilfen für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (DAI) reichen.

2.2

Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union werden Beihilfen im Rahmen der Vorschriften für Wettbewerb und den Binnenmarkt als Vorteile jedweder Art angesehen, die von nationalen Behörden selektiv einem oder mehreren Unternehmen gewährt werden.

2.3

So gilt eine staatlich Beihilfe nur als solche, wenn sie sämtliche nachstehenden Kriterien erfüllt:

sie bewirkt einen Transfer öffentlicher Mittel durch nationale, regionale oder lokale Behörden direkt oder über eine öffentliche oder private Körperschaft in beliebiger Form (als Subventionen, Zuschüsse, Bürgschaften, Kapitaleinlagen, Rückstellungen usw.);

sie fällt nicht in den Rahmen allgemeiner Maßnahmen, sondern ist ausschließlich selektiv und diskriminierend gegenüber anderen Unternehmen oder Organisationen;

sie bewirkt für den Begünstigten (privates oder öffentliches Unternehmen mit oder ohne Gewinnerzielungsabsicht) einen wirtschaftlichen Vorteil, den dieser im Rahmen seiner normalen wirtschaftlichen Tätigkeit nicht erreicht hätte;

sie hat potenziell Auswirkungen auf den Wettbewerb und den Handel zwischen den Mitgliedstaaten.

2.4

Staatliche Beihilfen der vorstehend beschriebenen Art sind gemäß dem Vertrag grundsätzlich verboten (Artikel 107 und 108 AEUV); sie sind jedoch zulässig, wenn sie Zielen gemeinsamen Interesses dienen (Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, sozialer und regionaler Zusammenhalt, Beschäftigung, Forschung und Entwicklung, nachhaltige Entwicklung, Förderung der kulturellen Vielfalt usw.) oder Marktversagen abhelfen sollen, sofern sie den Wettbewerb nicht in einem Maß verzerren, das dem Interesse der EU zuwiderläuft.

2.5

Die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Beihilfen zu gewähren, wurde durch zahlreiche Gesetze und durch eine umfangreiche und sich festigende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs mit Einführung zwingender Vorschriften für die Mitgliedstaaten, die solche Maßnahmen erwägen, eingegrenzt.

2.6

So müssen die Mitgliedstaaten außer in Sonderfällen (De-Minimis-Beihilfen, Beihilfen unterhalb einer bestimmten Grenze oder für bestimmte Marktsektoren), grundsätzlich ein Verfahren zur Anmeldung der Beihilfen, die sie gewähren wollen, bei der Kommission einhalten. Beihilfen dürfen erst nach Zustimmung der Kommission gewährt werden.

2.7

Die Kommission, die als einzige befugt ist, die Vereinbarkeit von staatlichen Beihilfen mit dem Vertrag zu beurteilen (mit Möglichkeit der Klage vor dem Europäischen Gerichtshof), besitzt in diesem Bereich erhebliche einschlägige Untersuchungs-, Entscheidungs- und Sanktionsbefugnisse.

2.8

NDAI werden von der Gesetzgebung über staatliche Beihilfen nicht berührt.

2.9

Bezüglich DAWI stellt sich für die Behörden damit die Frage, ob ein Ausgleich für die Erfüllung einer gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung im Rahmen der Vorschriften für den Wettbewerb und den Binnenmarkt mit dem Vertrag vereinbar ist.

2.10

Gemäß dem Urteil des Gerichtshofs (Rechtssache Altmark Trans GmbH C-280/00) gilt eine DAWI nicht als staatliche Beihilfe, wenn folgenden Bedingungen erfüllt sind:

1.

die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen sind klar definiert;

2.

die Parameter, anhand derer der Ausgleich berechnet wird, wurden zuvor festgelegt;

3.

der Ausgleich für die öffentliche Dienstleistung deckt lediglich die Kosten und einen angemessenen Gewinn;

4.

das Unternehmen wird im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung ausgewählt, mit der sich derjenige Bewerber ermitteln lässt, der diese Dienste zu den geringsten Kosten für die Allgemeinheit erbringen kann, oder die Höhe des erforderlichen Ausgleichs wird auf der Grundlage einer Analyse der Kosten bestimmt, die ein durchschnittliches, gut geführtes und angemessen ausgestattetes Unternehmen in dem betreffenden Wirtschaftszweig zu tragen hat.

2.11

Aufgrund dieses Urteils, des so genannten Altmark-Urteils, hat die Kommission dem Sachverhalt Rechnung getragen, dass nur wenige Ausgleichsleistungen diesen vier Bedingungen genügten und deshalb alle anderen Ausgleichszahlungen als „Beihilfen“ anzusehen sind; sie hat deshalb das Paket „Monti-Kroes“ angenommen, in dem:

1.

durch eine Entscheidung präzisiert wird, was als Beihilfe anzusehen, trotzdem aber nicht anzumelden ist (Entscheidung 2005/842/EG der Kommission über die Anwendung von Artikel 86 Absatz 2 EG-Vertrag/Artikel 106 Absatz 2 AEUV auf staatliche Beihilfen, die bestimmten, mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmen als Ausgleich gewährt werden);

2.

durch einen Gemeinschaftsrahmen die Modalitäten der Bewertung angemeldeter Fälle (Rahmenbestimmung 2005/C297/04 über staatliche Beihilfen in Form eines Ausgleichs für öffentliche Dienstleistungen) festgelegt werden;

3.

ein neues Konzept des 4. Altmark-Kriteriums abgesteckt wird, demzufolge der Ausgleich für die Mehrkosten aufgrund des besonderen Auftrags und nicht anhand eines Vergleichs mit einem durchschnittlichen, gut geführten und angemessen ausgestatteten Unternehmen errechnet wird.

2.12

Dieser Gemeinschaftsrahmen zur Festlegung der Regeln und Grundsätze für die Bedingungen, unter denen ein Ausgleich für öffentliche Dienstleistungen mit dem „Binnenmarkt“ im Sinne von Artikel 106 Absatz 2 des AEUV vereinbar ist, tritt im November 2011 außer Kraft.

2.13

Da außerdem sowohl in diesem Gemeinschaftsrahmen als auch in der genannten Entscheidung eine Bewertung der damit eingeführten Vorschriften vorgesehen ist, hat die Kommission eine Überprüfung des Pakets Monti-Kroes veranlasst und insbesondere in 2008/2009 die Mitgliedstaaten aufgefordert, einen Bericht über die Anwendung des derzeit geltenden Maßnahmenpakets vorzulegen. 2010 hat sie eine öffentliche Konsultation hierüber eingeleitet.

2.14

Auf der Basis dieser beiden Maßnahmen hat die Kommission Leitlinien ausgearbeitet, die in der hier in Rede stehenden Mitteilung enthalten sind, mit der bis zum Monat Juli mit den europäischen Institutionen und den sonst interessierten Parteien eine Grundsatzdebatte lanciert werden soll, bevor neue Entwurfstexte erstellt werden.

3.   Wesentlicher Inhalt der Mitteilung

3.1

Im Rahmen des Ziels, Vorschriften auszuarbeiten, die klarer, einfacher und verhältnismäßiger sind, wird in der Mitteilung gefordert:

zu klären

die Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Tätigkeiten,

die für die Mitgliedstaaten geltenden Grenzen für die Einstufung einer Tätigkeit als DAWI,

deren Erbringung mit den effizientesten und effektivsten Mitteln,

die Wechselwirkung mit den sektorspezifischen DAWI-Vorschriften;

einen stärker diversifizierten und verhältnismäßigeren Ansatz bezüglich der verschiedenen Arten von öffentliche Dienstleistungen zu wählen;

die Anwendung der Vorschriften für bestimmte Arten lokaler Dienste kleineren Umfangs, die nur geringe Auswirkungen auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten haben, sowie der Vorschriften für bestimmte Arten sozialer Dienste zu vereinfachen;

Wirksamkeits- und Wettbewerbserwägungen bei der Behandlung groß angelegter kommerzieller Dienste mit eindeutig EU-weiter Dimension mehr Gewicht beizumessen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA unterstützt die Schritte der Mitgliedstaaten und anderer unmittelbar Betroffener, die im Bericht über die Umsetzung des Monti-Kroes-Pakets oder bei der öffentlichen Konsultation zu dieser Thematik gefordert haben, die Beihilfevorschriften über DAWI dahingehend zu überarbeiten, dass Rechtsunsicherheiten beseitigt werden und eine größere Ausgewogenheit zwischen wirtschaftlichen, sozialen und umweltbezogenen Interessen herbeigeführt wird.

4.2

Der EWSA begrüßt uneingeschränkt einen stärker diversifizierten und verhältnismäßigeren Ansatz bezüglich der verschiedenen Arten von öffentlichen Dienstleistungen, der auch die Finanzierungsvorschriften klären soll. Er billigt auch eine Befreiung von der Anmeldepflicht für öffentliche Dienstleistungen geringen Umfangs und für bestimmte soziale Dienste, die aber noch zu definieren sind. Besonders wichtig ist die Beibehaltung bestehender Ausnahmen in bestimmten Bereichen (z.B. Beschäftigung besonders schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen wie Menschen mit Behinderungen).

4.3

Der EWSA fragt sich jedoch in diesem Zusammenhang, warum die Kommission die Befreiung von der Anmeldepflicht für öffentliche Dienstleistungen geringen Umfangs auf den lokalen Rahmen begrenzen will, wo doch die Bedingung, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu beeinträchtigen, auf lokaler wie regionaler oder gar nationaler Ebene genügen sollte.

4.4

Laut der Mitteilung erfolgt die Überprüfung des Maßnahmenpakets im Kontext der allgemeinen Ziele der Kommission im Bereich öffentliche Dienste, insbesondere ihrer Mitteilung „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte“, sowie der EU-2020-Strategie.

4.5

Der EWSA erinnert in diesem Kontext an seine Einschätzung in der Stellungnahme zur „Binnenmarktakte“ (INT/548 vom 15.03.2011), wonach das Ziel der Mitteilung und weiterer Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen darin bestehen sollte, den Mitgliedstaaten bei der Entwicklung und Verbesserung ihres Dienstleistungsangebots im Einklang mit dem Protokoll über die DAI Hilfestellung zu leisten.

4.6

In diesem Zusammenhang ersucht der EWSA die Kommission, für jede einzelne der Modalitäten für die Finanzierung von Ausgleichzahlungen für die Erfüllung von gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen zu klären, ob sie den Altmark-Kriterien genügen und somit nicht als „staatliche Beihilfen“ einzustufen sind. Die Meldeverfahren und die verschiedenen Ausnahmeregelungen sind derzeit noch nicht hinreichend bekannt. Dies führt zu einem reduzierten Markt, da Organisationen, die für eine effektive Dienstleistungserbringung von Ausgleichszahlungen abhängen, nicht konkurrenzfähig sind, was sich insofern unmittelbar auf das Leben der Unionsbürger auswirkt, als diesen hochwertige und leicht zugängliche Dienstleistungen vorenthalten werden.

4.7

Nach Ansicht des EWSA ist schon die Aufnahme der Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Dienstleistungen in das DAI-Protokoll, ohne die Schwierigkeit der Differenzierung zwischen diesen beiden Kategorien zu beseitigen, Beweis für die Notwendigkeit, die hier greifenden Begriffe und Regelungen einschließlich der Rolle der Organisationen ohne Erwerbszweck und des Begriffs „angemessener Profit“ zu klären um nicht mehr ausschließlich auf den fallspezifischen legislativen oder rechtswegorientierten Ansatz angewiesen zu sein. Da gleichzeitig sozial- und wettbewerbspolitische Ziele verfolgt werden, ist eine klarere Definition des Begriffs „angemessener Profit“ erforderlich. Deshalb wäre es sinnvoller, auf europäischer Ebene Leitlinien und eine Auslegung der einschlägigen Erwägungen vorzugeben.

4.8

Man kann deshalb die Absicht der Kommission, den Unterschied zwischen DAWI und NDAI zu klären, nur begrüßen. Bereits in seiner Stellungnahme zur „Zukunft der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ (CESE 976/2006) hat der EWSA festgestellt, dass die Unterscheidung zwischen wirtschaftlichem und nichtwirtschaftlichem Charakter weiterhin vage und unsicher ist.

4.9

Der EWSA ist weiterhin davon überzeugt, dass einerseits angesichts der Schwierigkeiten, den Begriff DAWI/NDAI erschöpfend zu definieren, und andererseits des Risikos, einen zu engen Ansatz zu wählen, das Augenmerk nicht auf den Aspekt wirtschaftlich oder nichtwirtschaftlich gerichtet werden sollte. Vielmehr sollte der spezielle Auftrag der betreffenden Dienste und die Anforderungen (Pflichten als öffentlicher Dienst), die von einer Behörde auferlegt werden, im Mittelpunkt stehen, denen diese Dienste zwecks Erfüllung ihres Auftrags zu genügen haben und die klar festgelegt sein müssen.

4.10

Wenngleich der Vertrag von Lissabon eine Anleitung für die Anwendung der Vorschriften zu wirtschaftlichen wie nichtwirtschaftlichen DAI in Form des DAI-Protokolls enthält, wurde mit Artikel 14 AEUV eine neue Rechtsgrundlage für Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) geschaffen. Darin werden der Rat und das Europäische Parlament damit beauftragt, durch Verordnungen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die Grundsätze und Bedingungen, vor allem wirtschaftlicher und finanzieller Art, festzulegen, dass diese ihren Aufgaben nachkommen können.

4.11

Der EWSA ist deshalb der Auffassung, dass in diesem Zusammenhang die Bestimmungen für die Umsetzung der Ausgleichszahlungen für die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen im Kontext staatlicher Beihilfen für zehntausende von Behörden - die sie umsetzen müssen - demokratischer sein können, sofern sie im Anwendungsbereich des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens nach Maßgabe von Artikel 14 AEUV liegen und vorbehaltlich der Übereinstimmung mit dem Vertrag.

4.12

Der EWSA billigt das Anliegen der Kommission, die Mitgliedstaaten dazu zu bewegen, Wirksamkeitserwägungen mehr Gewicht beizumessen. Dabei darf das Augemerk aber nicht allein auf die wirtschaftlichen Kriterien gerichtet werden, sondern es müssen auch die sozialen, territorialen und umweltbezogenen Aspekte nach Maßgabe des speziellen Auftrags jedes einzelnen DAWI berücksichtigt werden, wie er von den Behörden festgelegt wurde. Die Kommission sollte das Kriterium der „Wirksamkeit“ nicht auf kurzfristige Erwägungen beschränken, sondern auch die Qualität, die Ergebnisse und die Nachhaltigkeit der Leistungen einbeziehen, vor allem wenn es um Dienste in den Bereichen Soziales und Gesundheitsfürsorge geht. Des Weiteren sollten die Eigenheiten sozialwirtschaftlicher Unternehmen (Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, Vereine und Stiftungen) berücksichtigt werden.

4.13

Ein erheblicher Teil der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse wie Sozial- oder Gesundheitsdienste ist somit durch eine asymmetrische Beziehung zwischen dem Erbringer und dem Abnehmer gekennzeichnet, die sich von einer Handelsbeziehung des Typs Lieferant-Verbraucher unterscheidet. Dienstleistungen von allgemeinem Interesse stellen oft maßgenaue Lösungen dar, bei denen die Besonderheiten der jeweiligen Situation und die Bedürfnisse der Abnehmer berücksichtigt werden; sie können nur nach dem Prinzip der Solidarität funktionieren und hängen stark von öffentlicher Finanzierung ab. Der EWSA möchte die Kommission auffordern, eine Konsultation einzuleiten, um zu überprüfen, welche Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse für eine Gruppenfreistellung in Frage kommen könnten, da sie die den Wettbewerb nur in unerheblichem Maße beeinflussen und keine grenzüberschreitenden Möglichkeiten bieten.

4.14

Mit diesem Wirksamkeitskriteriums würden die Bewertungskriterien der Entscheidung und des Gemeinschaftsrahmens wieder auf das 4. Kriterium des Altmark-Urteils ausgerichtet werden. Dabei besteht außerdem die Gefahr, dass dies für alle Vergütungen gelten würde, auch für Vergütungen öffentlicher lokaler Dienste kleineren Umfangs, die nur geringe Auswirkungen auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten haben, oder für bestimmte Arten sozialer Dienste von allgemeinem Interesse, die die Kommission eigentlich von der Anmeldepflicht befreien und als mit dem Binnenmarkt vereinbar ansehen möchte. Dies bedeutet, dass diese Dienste weiterhin einer nachträglichen Kontrolle unterworfen werden und somit eine neue rechtliche Unsicherheit geschaffen wird.

4.15

Eine solche Unsicherheit besteht auch bezüglich der Zuständigkeit, die die Kommission zur Bewertung der Wirksamkeit für sich in Anspruch nimmt, während ihr doch das Gericht in der Rechtssache M6/TF1 (T-568/08 und T573/08) diese Zuständigkeit abspricht.

4.16

Bezüglich der Absicht der Kommission, die Grenzen, die den Mitgliedstaaten bei der Einstufung einer wirtschaftlichen Tätigkeit als DAWI gesetzt werden, zu klären, fordert der EWSA seit Jahren, die Bedingungen zur Durchführung von Artikel 106 Paragraph 2 zu klären, der widersprüchlich ausgelegt wird, dergestalt dass er einerseits als Abweichung oder Ausnahme gegenüber den allgemeinen Vorschriften des Vertrags (siehe die Mitteilung vom 20.11.2007) dargestellt wird, während andererseits im Weißbuch von 2004 festgestellt wird, dass „die tatsächliche Erfüllung einer Aufgabe von allgemeinem Interesse bei Kollisionen Vorrang vor der Anwendung der Regeln des Vertrags hat“.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/153


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Reifen von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern und über ihre Montage (Kodifizierter Text)“

KOM(2011) 120 endg. — 2011/0053 COD

2011/C 248/27

Der Rat beschloss am 1. April 2011 und das Europäische Parlament am 24. März 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Reifen von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern und über ihre Montage (Kodifizierter Text)

KOM(2011) 120 endg. — 2011/0053 (COD).

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 157 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 8 Stimmenthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/154


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (Kodifizierter Text)“

KOM(2011) 189 endg. — 2011/0080 COD

2011/C 248/28

Am 10. Mai 2011 beschloss das Europäische Parlament und am 3. Mai 2011 der Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 192 Absatz 1 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (Kodifizierter Text)

KOM(2011) 189 endg. — 2011/0080 COD.

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt und sich bereits in seiner Stellungnahme CESE 23/81 fin vom 29. April 1981 (1) zu dieser Thematik geäußert hat, beschloss er auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 154 gegen 2 Stimmen bei 10 Stimmenthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme abzugeben und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in der oben genannten Stellungnahme vertreten hat.

Brüssel, 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Vorhaben, ABl. C 185 vom 27.7.1981, S. 8.


Berichtigungen

25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/155


Berichtigung der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Hin zu einer ökologisch effizienten Wirtschaft — die Wirtschaftskrise als Chance für den Beginn einer neuen Ära im Energiebereich begreifen“ (Initiativstellungnahme)

( Amtsblatt der Europäischen Union C 128 vom 18. Mai 2010 )

2011/C 248/29

In der Inhaltsübersicht auf der Titelseite (Dokument 2010/C 128/06) und auf Seite 29 im Titel der Stellungnahme:

anstatt:

„Hin zu einer ökologisch effizienten Wirtschaft — die Wirtschaftskrise als Chance für den Beginn einer neuen Ära im Energiebereich begreifen“ (Initiativstellungnahme)

muss es heißen:

„Die Einhaltung der Menschenrechte in der europäischen Einwanderungspolitik und in ihren Rechtsvorschriften“ (Initiativstellungnahme).