ISSN 1725-2407

doi:10.3000/17252407.C_2011.048.deu

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 48

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

54. Jahrgang
15. Februar 2011


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

ENTSCHLIESSUNGEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

465. Plenartagung am 15./16. September 2010

2011/C 048/01

Entschließung des Europäischen Wirtschafts- Sozialausschusses zum Thema Die Lage der Roma in der Europäischen Union

1

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

465. Plenartagung am 15./16. September 2010

2011/C 048/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Strategie der Europäischen Union für den Donauraum

2

2011/C 048/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die legale Einwanderung vor dem Hintergrund des demografischen Wandels (Sondierungsstellungnahme)

6

2011/C 048/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Grüne Arbeitsplätze

14

2011/C 048/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Situation der tropischen Thunfischflotte der Europäischen Union und künftige Herausforderungen (Sondierungsstellungnahme)

21

2011/C 048/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Hin zu einem europäischen Raum der Straßenverkehrssicherheit: Strategische Leitlinien für die Straßenverkehrssicherheit bis 2020 (Stellungnahme auf Ersuchen des Europäischen Parlaments)

27

2011/C 048/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Finanzierungsstrukturen für KMU vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Finanzsituation (Initiativstellungnahme)

33

2011/C 048/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Nach der Krise — ein neues Finanzsystem innerhalb des Binnenmarktes (Initiativstellungnahme)

38

2011/C 048/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Kreativität und Unternehmergeist als Ausweg aus der Krise (Initiativstellungnahme)

45

2011/C 048/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Eine Antwort der EU auf die Verschiebung des weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisses (Initiativstellungnahme)

51

2011/C 048/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Neubelebung der Wirtschaft: aktueller Stand und konkrete Initiativen (Initiativstellungnahme)

57

2011/C 048/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Auf dem Weg zu einem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung 2012 (Initiativstellungnahme)

65

2011/C 048/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Verbesserung der Modelle partizipativer öffentlich-privater Partnerschaft beim Aufbau elektronischer Dienste für alle in der EU-27 (Initiativstellungnahme)

72

2011/C 048/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Welche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse brauchen wir zur Bewältigung der Krise? (Initiativstellungnahme)

77

2011/C 048/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die neue Energiepolitik der EU: Anwendung, Effizienz und Solidarität für die Bürger (Initiativstellungnahme)

81

2011/C 048/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Kanada (Initiativstellungnahme)

87

2011/C 048/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Situation von Menschen mit Behinderungen in den Mittelmeerpartnerländern

94

2011/C 048/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Politik der Mehrsprachigkeit der EU (Ergänzende Stellungnahme)

102

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

465. Plenartagung am 15./16. September 2010

2011/C 048/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Dritte Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union — KOM(2009) 15 endg. — zu dem Arbeitsdokument der Kommission — Verringerung der Verwaltungslasten in der Europäischen Union — Anhang zu den Dritten Strategischen Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung — KOM(2009) 16 endg. — zu dem Arbeitsdokument der Kommission — Dritter Fortschrittsbericht über die Strategie zur Vereinfachung des ordnungspolitischen Umfelds — KOM(2009) 17 endg.

107

2011/C 048/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: An die Zukunft denken: Entwicklung einer gemeinsamen EU-Strategie für Schlüsseltechnologien — KOM(2009) 512 endg.

112

2011/C 048/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch Verknüpfung von UnternehmensregisternKOM(2009) 614 endg.

120

2011/C 048/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Vereinfachung der Durchführung von Forschungsrahmenprogrammen — KOM(2010) 187 endg.

129

2011/C 048/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 97/68/EG hinsichtlich der Vorschriften für gemäß dem Flexibilitätssystem in Verkehr gebrachte Motoren — KOM(2010) 362 endg. — 2010/0195 (COD)

134

2011/C 048/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates — KOM(2010) 94 endg. — 2010/0064 (COD)

138

2011/C 048/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette in Europa verbessernKOM(2009) 591 endg.

145

2011/C 048/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Optionen für ein Biodiversitätskonzept und Biodiversitätsziel der EU für die Zeit nach 2010 — KOM(2010) 4 endg.

150

2011/C 048/27

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch — Waldschutz und Waldinformation: Vorbereitung der Wälder auf den KlimawandelKOM(2010) 66 endg.

155

2011/C 048/28

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung (EURATOM) des Rates zur Festlegung von Höchstwerten an Radioaktivität in Nahrungsmitteln und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation (Neufassung) — KOM(2010) 184 endg. — 2010/0098 (CNS)

160

2011/C 048/29

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung (EU) Nr. xxxx/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom xxxx zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates (Verordnung über die einheitliche GMO) hinsichtlich der im Rahmen des deutschen Branntweinmonopols gewährten Beihilfe — KOM(2010) 336 endg. — 2010/0183 (COD)

163

2011/C 048/30

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 663/2009 über ein Programm zur Konjunkturbelebung durch eine finanzielle Unterstützung der Gemeinschaft zugunsten von Vorhaben im Energiebereich — KOM(2010) 283 endg. — 2010/0150 (COD)

165

2011/C 048/31

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2008/9/EG zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige — KOM(2010) 381 endg. — 2010/0205 (CNS)

167

2011/C 048/32

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2187/2005 des Rates hinsichtlich des Verbots der Fangaufwertung und der Beschränkungen des Flunder- und Steinbuttfangs in der Ostsee, den Belten und dem Öresund — KOM(2010) 325 endg. — 2010/0175 (COD)

168

2011/C 048/33

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Verkehr mit vegetativem Vermehrungsgut von Reben — KOM(2010) 359 endg. — 2010/0194 (COD)

169

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

ENTSCHLIESSUNGEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

465. Plenartagung am 15./16. September 2010

15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/1


Entschließung des Europäischen Wirtschafts- Sozialausschusses zum Thema „Die Lage der Roma in der Europäischen Union“

2011/C 48/01

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss nahm auf seiner Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 16. September) mit 151 gegen 22 Stimmen bei 28 Stimmenthaltungen folgende Entschließung an:

1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verurteilt kategorisch jedwede Diskriminierung von Roma und anderen ethnischen Minderheiten.

2.

Der Ausschuss hat sich stets für die Achtung der Grundrechte aller Menschen, die in der Europäischen Union leben, eingesetzt und gegen jedwede Form der Diskriminierung nationaler Minderheiten, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit angekämpft. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurden der rechtliche und politische Rahmen für dieses Anliegen und die Mittel für seine Umsetzung gestärkt.

3.

Der Ausschuss hat außerdem stets ausdrücklich den freien Personenverkehr und das Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger und ihrer Familien gemäß dem Gemeinschaftsrecht befürwortet.

4.

Der Ausschuss hat sich immer für aktive Maßnahmen zur sozialen Eingliederung von Minderheiten und Migranten - insbesondere der Roma - stark gemacht.

5.

Der Ausschuss bekräftigt seine Unterstützung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit, gemäß dem die Verantwortung für jedwede Handlung, einschl. etwaiger krimineller Taten, stets eine Einzelverantwortung ist.

6.

Der Ausschuss ist sich bewusst, dass sich die Probleme in Bezug auf die Eingliederung der Roma zunächst auf der Ebene der jeweiligen Mitgliedstaaten stellen. Er betont jedoch auch die Zuständigkeit der EU, die sich aus dem neuen Vertrag ergibt, und die Notwendigkeit einer Antwort auf EU-Ebene, die zugleich den Besonderheiten der Roma Rechnung trägt, um die Gleichbehandlung aller Menschen in der Europäischen Union sicherzustellen.

7.

Der Ausschuss spricht sich für die wirtschaftliche und soziale Integration der Roma sowie der anderen Minderheiten und der Migranten aus und schlägt den europäischen Institutionen vor, eine umfassende und überzeugende Strategie gegenüber den Mitgliedstaaten auf den Weg zu bringen, um eine echte Integration zu ermöglichen, die auf den gemeinsamen Rechten und Pflichten aller Unionsbürger fußt. Eine derartige Strategie muss gemeinsam und unter Mitwirkung der Roma gestaltet und mit den entsprechenden Mittel ausgestattet werden, die dem Umfang dieser Herausforderungen angemessen sind.

Brüssel, den 16. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI

Der Generalsekretär des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Martin WESTLAKE


STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

465. Plenartagung am 15./16. September 2010

15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/2


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Strategie der Europäischen Union für den Donauraum“

2011/C 48/02

Berichterstatter: Miklós BARABÁS

Mitberichterstatter: Mihai MANOLIU

Am 26. Februar 2010 ersuchte Maroš ŠEFČOVIČ, Vizepräsident der Europäischen Kommission, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema:

Strategie der Europäischen Union für die Donauregion“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 20. Juli 2010 an

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 16. September) mit 123 gegen 2 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die vorliegende Stellungnahme des EWSA soll in erster Linie dazu dienen, dafür zu sorgen, dass die europäische organisierte Zivilgesellschaft die von der Europäischen Kommission gebotene Möglichkeit nutzt und praktische, konkrete Anregungen formuliert, die einen Beitrag zum Aktionsplan der in Ausarbeitung befindlichen Donaustrategie (1) (im Folgenden DS) darstellen werden. Der EWSA hofft, dass in seinen Empfehlungen gebührend zum Ausdruck kommt, wie stark sich der Ausschuss und die organisierte europäische Zivilgesellschaft für die Strategie engagieren und diese unterstützen. Der EWSA geht davon aus, dass die künftige Strategie einen echten Beitrag zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen aller Bürger, die in dem von ihm als Spiegel Europas angesehenen Donauraum leben, leisten wird.

1.2   Auf politischer Ebene gilt für die geplante Donaustrategie Folgendes:

1.2.1

sie muss offen und zugänglich sein, für soziale, wirtschaftliche und ökologische Gesichtspunkte empfänglich sein, den Empfehlungen der Organisationen der Zivilgesellschaft Rechnung tragen und sich auf deren Erfahrungen stützen;

1.2.2

sie kann angesichts der Komplexität und wechselseitigen Abhängigkeit der betroffenen Fragen nur dann erfolgreich sein, wenn sie konsequent den Grundsatz des integrierten Ansatzes verfolgt, anstatt eine sektorale Sichtweise einzunehmen, und wenn der Schwerpunkt auf die Notwendigkeit gelegt wird, den Zielen der maßgebliche Akteure gerecht zu werden;

1.2.3

sie muss der Zusammenarbeit in Bereichen der „weichen Sicherheit“ Rechnung tragen und auf deren Förderung abgestellt werden. Hierunter fallen insbesondere die Zusammenarbeit von Notdiensten bei Naturkatastrophen, die Mobilität von Arbeitnehmern, Unternehmen usw. sowie die Ausarbeitung von Notfallplänen für Umweltunfälle;

1.2.4

sie muss dazu beitragen, dass die durch den Lissabon-Vertrag gebotenen Möglichkeiten noch umfassender genutzt werden und somit das Prinzip der partizipativen Demokratie konsequent angewandt wird;

1.2.5

sie muss ein geeignetes Instrument sein, um

a.

als die Politik für die Entwicklung der Makroregionen im Wesentlichen dazu beizutragen, den Prozess der europäischen Integration zu vertiefen, vor allem im Rahmen des Programms „Europa 2020“ (intelligent, nachhaltig, integrativ), und

b.

für eine Annäherung der im Donauraum liegenden sechs Drittstaaten an die Europäische Union zu sorgen, indem sie in ihren Integrationsbemühungen unterstützt werden;

1.2.6

sie muss Ausdruck der makroregionalen Politik der Europäischen Union sein und dafür sorgen, dass darin eine aktive und schöpferische Rolle und Mitwirkung der organisierten Zivilgesellschaft vorgesehen wird;

1.2.7

sie muss zur Abstimmung der Tätigkeit der in der Region bereits auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Bereichen existierenden Kooperationssysteme sowie zur Verbesserung ihrer Effizienz und zur Beseitigung von Überschneidungen beitragen;

1.2.8

sie muss ein klares, einfaches und transparentes Governancesystem mit einem von unten nach oben gerichteten Ansatz aus Sicht der organisierten Zivilgesellschaft besitzen; die erzielten Ergebnisse müssen im Rahmen jährlicher Konferenzen bewertet werden;

1.2.9

sie muss in Form eines Prozesses umgesetzt werden, dessen Durchführung Flexibilität und eine regelmäßige Überprüfung und nach Möglichkeit die Zuweisung zusätzlicher finanzieller Mittel vorsieht;

1.2.10

darin müssen realistische Ziele vorgegeben und zur Gewährleistung einer effizienten Umsetzung Prioritäten gesetzt werden; für ihre Verwirklichung muss ein mittelfristiger Aktionsplan erarbeitet werden, aus dem hervorgeht, dass die aktive Einbeziehung und Mitwirkung sämtlicher Akteure unter Anwendung des Partnerschaftsprinzips eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg ist;

1.2.11

sie muss für die Gesellschaft und die Bürger sichtbare und greifbare Ergebnisse hervorbringen, um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen für die Bürger, einschließlich der Jugendlichen, herbeiführen zu können;

1.2.12

in ihr muss die Bedeutung des sozialen und zivilen Dialogs zum Ausdruck kommen;

1.2.13

sie muss die Bedeutung des Verbundcharakters des Donauraums anerkennen;

1.2.14

sie muss den mit der Umsetzung der EU-Strategie für den Ostseeraum gesammelten Erfahrungen Rechnung tragen.

1.3   Praktische Empfehlungen auf Ebene der Zivilgesellschaft hinsichtlich des Aktionsplans für die geplante Donaustrategie:

1.3.1

es muss ein Netz der Organisationen der Zivilgesellschaften der Region (Dunai Civil Fórum, Forum der Zivilgesellschaft des Donauraums) geschaffen werden, das u.a. ein gemeinsames Handeln und gemeinsame Projekte ermöglichen wird; die Mitglieder des Netzes treten jährlich in den verschiedenen Ländern der Region zusammen;

1.3.2

es müssen Programme (Treffen, Festivals, Besuche, Ausstellungen, Messen usw.) organisiert werden, um das Zugehörigkeitsgefühl der im Donauraum lebenden Völker und die Heranbildung eines regionalen Bewusstseins beim Erhalt der kulturellen Vielfalt, insbesondere im Hinblick auf junge Menschen, zu fördern; zur Erreichung dieses Ziels sollte auch eine regionale Kulturzeitschrift beitragen;

1.3.3

es sollte jedes Jahr an wechselnden Orten eine Donauwoche veranstaltet werden, die ein geeignetes Forum sein kann, um mit der DS zusammenhängende aktuelle Fragen zu erörtern und die Ergebnisse zu präsentieren;

1.3.4

damit eine kontinuierliche Unterstützung der Bürger und der organisierten Zivilgesellschaft sowohl innerhalb der EU als auch in den benachbarten Drittstaaten gewährleistet werden kann, ist eine wirksame und fortlaufende Kommunikationsstrategie für die DS erforderlich;

1.3.5

bei der Gestaltung der DS-Programme muss den benachteiligten und marginalisierten Gruppen, vor allem den Roma, besondere Beachtung geschenkt werden;

1.3.6

die regelmäßigen Beziehungen und die systematische Zusammenarbeit zwischen den Akteuren sowie der soziale und zivile Dialog müssen in der Region verstärkt werden; bei diesen Prozessen können die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte eine wichtige Rolle spielen;

1.3.7

ein wichtiges Instrument für die Zusammenarbeit und den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt des Donauraums kann die Schaffung eines Donaugeschäftsforums (Danube Business Forum) sein, dem auch soziale und wirtschaftliche Akteure angehören; die Arbeitgeberverbände der Region sollten Zugang zu den Finanzierungsprogrammen für die Organisation dieses Forums haben und zur Beteiligung hieran ermutigt werden;

1.3.8

durch einen weiteren Abbau bzw. die Beseitigung der die Freizügigkeit behindernden Hemmnisse und die Anwendung des Grundsatzes der menschenwürdigen Arbeit und der angemessenen Vergütung sollten die zwischenmenschlichen Beziehungen gestärkt werden;

1.3.9

die Ergebnisse und Dienstleistungen der Informationsgesellschaft müssen für die Umsetzung der Donaustrategie genutzt werden;

1.3.10

es sollte eine internationale Forschergruppe eingesetzt werden, um die Fragen in Bezug auf die Donaustrategie aus wissenschaftlicher Sicht aus zu analysieren und zu untersuchen; zu diesen Arbeiten sollte auch ein Stipendienprogramm beitragen;

1.3.11

es muss geprüft werden, wie sich die verschiedenen Themenjahre und thematischen Programme der Europäischen Union mit der Donaustrategie verknüpfen lassen;

1.3.12

es müssen Initiativen zur Vermittlung der in der Region gesprochenen Sprachen gefördert werden;

1.3.13

der EWSA sollte eine Beobachtungsstelle einrichten oder eine ständige Studiengruppe einsetzen, die sich mit der Donaustrategie befasst;

1.3.14

die in der Donaustrategie bzw. dem dazugehörigen Aktionsplan genannten Elemente sollten von einem auch Vertreter der Zivilgesellschaft umfassenden Lenkungsausschuss umgesetzt und überwacht werden, der in einem Jahresbericht seine Schlussfolgerungen darlegt;

1.3.15

parallel zur Verabschiedung der DS sollte die Europäische Kommission einige Pilotprojekte fördern, mit denen Tests durchgeführt und erste Erfahrungen gesammelt werden können;

1.3.16

die Durchführung der DS und des dazugehörigen Aktionsplans muss über verschiedene Quellen finanziert werden: Neben EU-Mitteln (insbesondere aus den Strukturfonds) kämen in erster Linie die Eigenmittel der Länder der Region, private Gelder sowie die internationalen Finanzinstitute in Betracht. In der festen Annahme, dass aus diesen Quellen Mittel beigesteuert werden, schlagen wir die Schaffung eines Sonderfonds vor.

1.3.17

In den Augen des EWSA ist die Donaustrategie, deren Verabschiedung für das erste Halbjahr 2011 während des ungarischen EU-Ratsvorsitzes vorgesehen ist, ein entscheidendes Instrument für die Schaffung eines dynamischen, wettbewerbsfähigen und blühenden Donauraums.

2.   Leitlinie für die Donaustrategie

2.1   Für die Erarbeitung der DS ist es wichtig, das theoretische Gerüst zu definieren, das die Strategie für die Zusammenarbeit im Donauraum und das zu ihrer Umsetzung dienende Aktionsprogramm stützt.

2.2   So muss bei der Erarbeitung der DS Folgendem Rechnung getragen werden:

den Gesichtspunkten des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts;

der Rolle des Flusses in den Bereichen Verkehr (insbesondere im Hinblick auf den die Donau betreffenden VII. paneuropäischen Verkehrskorridor), Transport und Infrastruktur und dem damit zusammenhängenden Potenzial zur Entwicklung wirtschaftlicher Aktivitäten im Allgemeinen; der Notwendigkeit, verkehrsbedingt erforderliche Maßnahmen zur Instandhaltung der Fahrrinne zu unterstützen, die im vorrangigen TEN-V-Vorhaben Nr. 18 erwähnten Engpässe im Schiffsverkehr zu beseitigen (in diesem Zusammenhang sollte die unter Federführung der Internationalen Kommission zum Schutz der Donau (IKSD) verfasste gemeinsame Erklärung als Leitfaden dienen und in die Praxis umgesetzt werden) und intermodale Verkehrsprojekte (Bau von Containerterminals in Häfen) sowie ergänzende Straßenverkehrsprojekte in der Donauregion (für die Güterverkehrsströme wichtige Brücken) weiterzuführen; darüber hinaus der Notwendigkeit, Projekte mit spürbaren Auswirkungen auf die Entwicklung zu realisieren, wie z.B. den Donau-Bukarest-Kanal, der für die europäische Wirtschaft von Vorteil wäre;

der Donau als Trinkwasser- und Energiequelle und zu erhaltender natürlicher Umgebung - das Schlüsselelement hierbei ist die nachhaltige Entwicklung; Energieinfrastrukturprojekte wie z.B. Wasserkraftwerke sollten unterstützt werden;

der Rolle von Innovation, Forschung und Bildung im Donauraum;

der Notwendigkeit der Entwicklung von Möglichkeiten im Bereich des Tourismus im Donauraum und der ländlichen Entwicklung; im Hinblick auf Letztere sollte die Finanzierung von Projekten in Erwägung gezogen werden, mit denen Aktivitäten in Ländern mit einer starken landwirtschaftlichen Tradition gefördert werden; die Finanzierung von Infrastrukturprojekten für das Verladen von Getreide würde insbesondere in Ländern mit einer langen landwirtschaftlichen Tradition zur Nutzung des Potenzials der lokalen Landwirtschaft beitragen;

der Rolle des Flusses bei der Heranbildung eines gemeinsamen Bewusstseins und einer gemeinsamen Identität im Donauraum, bei denen der interkulturelle Dialog und die Solidarität - auch zwischen den EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten der Region - eine wesentliche Rolle spielen; dies wäre eine Ergänzung zur Herausbildung eines die gesamte Europäische Union betreffenden europäischen Bewusstseins;

der Notwendigkeit der Wahrung der Umweltbelange bei jedweder Zunahme des Verkehrsvolumens;

der Fähigkeit zur Konfliktlösung, mit der den in der Region historisch gewachsenen Spannungen begegnet werden kann.

2.3   Aufgrund der weit verzweigten und häufig miteinander in Wettstreit tretenden Werte und Interessen ist es wichtig, eine integrierte und auf gemeinsamen Grundprinzipien beruhende DS auszuarbeiten, die neben den wirtschaftlichen Zwängen auch gesellschaftlichen Anforderungen und Faktoren Rechnung trägt, einschließlich der Standpunkte und des Beitrags der Zivilgesellschaft.

2.4   Eine erfolgreiche DS, die auf dem wirtschaftlichen, territorialen und sozialen Zusammenhalt aufbaut, führt zur Schaffung einer dynamischen, wettbewerbsfähigen und blühenden Donauregion.

3.   Hintergrund

3.1   Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung am 18./19. Juni 2009 die Europäische Kommission aufgefordert, noch vor Ende 2010 eine europäische Strategie für den Donauraum auszuarbeiten. Im Verlauf der Vorbereitungsarbeiten haben viele ihre Meinung geäußert, insbesondere im Rahmen der von der Europäischen Kommission lancierten offenen Konsultation.

3.2   Der EWSA befürwortet klar und entschieden das neue Konzept der Europäischen Union für die makroregionale Politik und als Teil davon die Konzipierung einer DS. Der EWSA ist bereit, als institutioneller Vertreter der europäischen organisierten Zivilgesellschaft bei der Ausarbeitung und Umsetzung dieser Strategie eine aktive Rolle zu spielen und die Initiative zu ergreifen.

3.3   Das Interesse, das der EWSA für Fragen in Bezug auf den Donauraum hegt, und sein diesbezügliches Engagement sind nicht neu. In den vergangenen Jahren hat er zu verschiedenen Fachgebieten, wie etwa Verkehr oder Umweltschutz, zahlreiche Dokumente verabschiedet. Aus diesen Dokumenten geht ganz klar hervor, warum der EWSA die Donauregion für wichtig hält und die Konzipierung einer DS befürwortet.

3.4   Es ist anzumerken, dass sich mit den letzten Erweiterungen der Europäischen Union ihr geografischer Mittelpunkt deutlich nach Osten verschoben hat, während ihr wirtschaftlicher Schwerpunkt unverändert in Westeuropa blieb. Der wirtschaftliche, territoriale und soziale Zusammenhalt, der das entscheidende Element der DS ist, und die ihrer Umsetzung zugrunde liegenden praktischen Konzepte sind ein geeigneter Beitrag zur Beseitigung dieses Ungleichgewichts.

Brüssel, den 16. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Die künftige Donaustrategie wird sich auf die EU-Mitgliedstaaten Deutschland, Österreich, Ungarn, Slowakei, Tschechische Republik, Slowenien, Bulgarien und Rumänien und die Drittstaaten Kroatien, Serbien, Ukraine, Moldau, Bosnien und Herzegowina und Montenegro erstrecken.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/6


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die legale Einwanderung vor dem Hintergrund des demografischen Wandels“ (Sondierungsstellungnahme)

2011/C 48/03

Berichterstatter: Luis Miguel PARIZA CASTAÑOS

Mit Schreiben vom 16. Februar 2010 ersuchte Joëlle MILQUET, Vize-Premierministerin Belgiens und Ministerin für Beschäftigung und Chancengleichheit sowie für Migrations- und Asylpolitik, im Namen des künftigen belgischen Ratsvorsitzes den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum Thema

Die legale Einwanderung vor dem Hintergrund des demografischen Wandels“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 2. September 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 115 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1

Der EWSA hält zur Bewältigung des demografischen Wandels ein Gesamtkonzept für notwendig, das bei zahlreichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aspekten ansetzt. Die legale Einwanderung ist Teil der Antwort der EU auf diese demografische Situation.

1.2

Die interne Mobilität der Unionsbürger ist nur gering und schwächer ausgeprägt als die Einwanderung von Drittstaatsangehörigen. Nach Ansicht des Ausschusses müssen die bestehenden Mobilitätshindernisse abgebaut und die interne Mobilität der europäischen Arbeitnehmer gefördert werden.

1.3

Der EWSA unterstützt die Europa-2020-Agenda und das darin formulierte Ziel, den in Arbeit stehenden Anteil der Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren durch einen stärkeren Anteil von Frauen und älteren Arbeitnehmern sowie eine bessere Eingliederung von Einwanderern in den Arbeitsmarkt auf 75 % anzuheben.

1.4

Die gemeinsame Einwanderungspolitik muss einem mittel- bis langfristigen strategischen Konzept folgen, in dem sämtliche Aspekte Berücksichtigung finden: demografischer Kontext, Entwicklung der Arbeitsmärkte, Integration, kulturelle Vielfalt, Grundrechte, Gleichbehandlung, Diskriminierungsverbot und Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern.

1.5

Die Entscheidung über die Aufnahme neuer Zuwanderer liegt bei den einzelnen Mitgliedstaaten. Die EU kann hier durch eine gemeinsame Politik und möglichst einheitliche Rechtsvorschriften einen wertvollen Beitrag leisten.

1.6

Ungeachtet einiger nationaler Unterschiede benötigen die EU und die Mitgliedstaaten flexible Rechtsvorschriften, die die Einwanderung von Arbeitnehmern - sowohl von hochqualifizierten Personen als auch solchen, die einfachen Beschäftigungen nachgehen - auf legalen und transparenten Wegen ermöglichen.

1.7

Angesichts der Herausforderungen im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel hält der EWSA eine Änderung der geltenden Richtlinien und die Ausarbeitung neuer Rechtsvorschriften für nötig.

1.8

Mit der Annahme des Vertrags von Lissabon ist auch die Charta der Grundrechte in Kraft getreten, was dazu beitragen wird, dass die EU ihre Rechtsvorschriften über Einwanderung ausgewogener gestaltet und stärker auf die Achtung der Menschenrechte ausrichtet.

1.9

In Europa nehmen jedoch Intoleranz, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gegenüber Einwanderern und Minderheiten zu. Die Entscheidungsträger in Politik, Gesellschaft und Medien müssen hier äußerst verantwortungsvoll vorgehen und eine wichtige politische und soziale Vorbildfunktion übernehmen, um solchen Einstellungen vorzubeugen. Auch die EU-Institutionen und die Organisationen der Zivilgesellschaft müssen entschieden und aktiv gegen diese Ideologien und Einstellungen vorgehen.

1.10

Das EU-Einwanderungsrecht muss die Gleichbehandlung auf der Grundlage des Diskriminierungsverbots garantieren.

1.11

Die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern sollte sich nicht ausschließlich auf die Bewältigung der illegalen Einwanderung, die Rückkehr und die Kontrolle der Grenzen beschränken, sondern die entsprechenden Abkommen müssen den Interessen aller Seiten gerecht werden, d.h. dem der Einwanderer, deren Grundrechte geachtet werden müssen, dem der Herkunftsländer, damit sich die Auswanderung dort positiv auf die Entwicklung von Beschäftigung und Gesellschaft auswirkt, und dem der Aufnahmeländer in Europa.

1.12

Zu einer gemeinsamen Einwanderungspolitik gehört auch die Integration als gegenseitiger gesellschaftlicher Prozess der reziproken Anpassung zwischen Zuwanderern und Aufnahmegesellschaft, der durch gute Verwaltungs- und Regierungspraktiken in der Europäischen Union, auf nationaler wie auf regionaler und lokaler Ebene unterstützt werden muss. Ein gemeinsamer europäischer Ansatz bringt einen zusätzlichem Mehrwert, da er die Integration mit den im Vertrag verankerten Werten und Grundsätzen, mit der Gleichbehandlung und dem Diskriminierungsverbot, mit der Charta der Grundrechte, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und mit der Europa-2020-Agenda verknüpft.

1.13

Der EWSA schlägt der Kommission vor, ihn um eine Sondierungsstellungnahme über die Zweckmäßigkeit der Einrichtung einer europäischen Plattform für den Dialog über die Steuerung der Arbeitsmigration zu ersuchen.

2.   Die Bevölkerung der Europäischen Union

2.1

Die EU hat eine Bevölkerung von knapp 500 Mio. Einwohnern  (1). Diese hat in den letzten zehn Jahren zugenommen und ist um mehr als 18 Mio. Menschen gewachsen (2).

2.2

Hier sind jedoch große Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten zu beobachten. In mehreren Ländern ist die Bevölkerungszahl gesunken, was insbesondere auf Ungarn, Polen, Bulgarien und Rumänien zutrifft. In den übrigen Mitgliedstaaten ist sie gleich geblieben oder gewachsen, was hauptsächlich in Spanien, Frankreich, Italien und Großbritannien der Fall ist. In einigen Mitgliedstaaten gibt es auch große regionale Unterschiede.

2.3

Das natürliche Bevölkerungswachstum in der EU trug mit etwas mehr als 3 Millionen neuen Einwohnern dazu bei (3). Die Länder mit dem absolut gesehen größten natürlichen Bevölkerungswachstum waren Frankreich, Großbritannien, Spanien und die Niederlande, obgleich es auch in anderen Ländern einen positiven Saldo gab. Den größten natürlichen Bevölkerungsrückgang verzeichneten Deutschland, Bulgarien, Rumänien und Ungarn.

2.4

Die Bevölkerung der EU wird immer älter. Der Bevölkerungsanteil der unter 15-Jährigen ist von 17,7 % 1998 auf 15,7 % im Jahr 2008 gesunken.

2.5

Der Bevölkerungsanteil der Menschen, die 65 und älter sind, ist in der EU von 15,3 % 1998 auf 17 % im Jahr 2008 gestiegen. In Irland und Luxemburg ist dieser Anteil leicht zurückgegangen, in Deutschland und Italien nähert er sich jedoch der 20 %-Grenze und liegt in Griechenland bei über 18,5 %.

2.6

Die Quote der demografischen Abhängigkeit  (4) ist in der EU in den letzten zehn Jahren praktisch stabil geblieben, 49,2 % 1998 gegenüber 48,6 % 2008. Sie Quote ist in diesem Zeitraum in Dänemark, Deutschland, Griechenland, Italien und den Niederlanden gestiegen, in Frankreich und Finnland gleich geblieben und in den anderen Mitgliedstaaten zurückgegangen, wobei dieser Trend in den Ländern, in denen der Anteil der Kinder und Jugendlichen am stärksten zurückgegangen ist, besonders ausgeprägt war.

2.7

Die zusammengefasste Fruchtbarkeitsziffer  (5) lag 2006 bei 1,53 Kindern pro Frau. Sie ist im Zeitraum von 1999 bis 2008 in allen EU-Mitgliedstaaten gestiegen. In vielen Mitgliedstaaten liegt sie jedoch unter dem Wert von 1,5 Kindern pro Frau. Nur in Frankreich wird ein Wert von zwei Kindern pro Frau erreicht.

2.8

Die Lebenserwartung der europäischen Bevölkerung bei Geburt steigt und liegt im Durchschnitt bei über 82 Jahren für Frauen und über 76 Jahren für Männer.

2.9

Die Säuglingssterblichkeit  (6) sinkt in den meisten Mitgliedstaaten und lag 2006 im EU-Durchschnitt bei unter fünf Todesfällen pro 1 000 Lebendgeburten.

3.   Einwanderung in die Europäische Union

3.1

Europa ist das Ziel eines kleinen Teils der internationalen Migrationsbewegungen. Menschen mit Migrationshintergrund gehören bereits seit Jahren zu seiner Bevölkerung.

3.2

Im Vertrag und damit auch in den Stellungnahmen des EWSA wird unter Einwanderung die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen verstanden.

3.3

Die Einwanderung war im Zeitraum 1999-2008 die Hauptquelle für den Bevölkerungszuwachs in der EU. Durch die Nettozuwanderung ist die Bevölkerungszahl der EU um fast 15 Mio. Menschen angestiegen (7). Lediglich Bulgarien, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien weisen einen negativen Migrationssaldo aus. Eine leichte Nettozuwanderung verzeichnen mehrere Mitgliedstaaten, wobei sie in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien am größten ist. Im Zeitraum zwischen 1999 und 2008 verzeichneten die meisten Mitgliedstaaten eine Nettozuwanderung, nämlich alle außer Bulgarien (– 215 600), Lettland (– 24 700), Litauen (– 88 100), Polen (– 566 100) und Rumänien (– 594 700).

3.4

Die Migrationsströme bewirken ein Bevölkerungswachstum in der EU. Auf die Einwanderung entfallen 80 % des in den letzten zehn Jahren verzeichneten Bevölkerungszuwachses.

3.5

In einigen Ländern der EU (Italien, Malta, Österreich und Portugal) machte die Nettozuwanderung mehr als 4 % der durchschnittlichen Bevölkerungszahl in diesem Zeitraum aus, in anderen Ländern waren es mehr als 10 %: Irland ((10,66 %), Luxemburg (11,08 %), Spanien (12,62 %) und Zypern (11,64 %). Der Bevölkerungsrückgang aufgrund einer Nettoabwanderung dagegen lag zwischen 0,75 % der Bevölkerung in Lettland und 2,62 % in Rumänien.

3.6

Die Zahl der Ausländer (Unionsbürger und Drittstaatsangehörigen zusammen genommen) lag 2008 bei fast 31 Mio. Menschen. Deutschland ist das Land mit den meisten Ausländern (mehr als 7 Mio.), gefolgt von Spanien (5,3 Mio.), Großbritannien (4 Mio.), Frankreich (3,7 Mio.) und Italien (3,4 Mio.), wobei ihre Zahl 2009 außer in Deutschland überall zunahm. In Griechenland und Belgien leben fast eine Mio. Ausländer, während es in Irland, den Niederlanden, Österreich und Schweden jeweils mehr als eine halbe Million sind.

3.7

Im vierten Quartal 2009 (8) lebten fast 11 Mio. Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat. Davon wohnten 2,5 Mio. in Deutschland, 1,8 Mio. in Großbritannien, 1,6 Mio. in Spanien, 1,2 Mio. in Frankreich und 1,1 Mio. in Italien. Weniger Unionsbürger lebten in Belgien (642 900), Irland (350 500), Luxemburg (191 000), Österreich (322 200), den Niederlanden (272 100), Griechenland (142 500) und Schweden (185 700).

3.8

Seit dem vierten Quartal 2005 ist die Zahl der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, die in einem anderen Mitgliedstaat der Union leben, um mehr als 2,7 Mio. angestiegen, wobei Italien, Großbritannien und Spanien bevorzugten Auswanderungsziele innerhalb der Union sind, auf die fast 1,7 Mio. entfallen.

3.9

2009 ging das Wachstum der Ausländerzahl auf unter eine Million zurück, was in etwa dem Niveau von 2006 entspricht.

4.   Künftige Bevölkerungsentwicklung in der Europäischen Union

4.1

Den demografischen Prognosen von Eurostat zufolge wird die Bevölkerungszahl der EU im Jahr 2018 zwischen 495 Mio. und 511 Mio. liegen, wobei sich die Schwankungsbreite aus dem Vorhandensein oder Fehlen einer Migration erklärt.

4.2

Unter Einrechnung der Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen wird für 2020 eine Bevölkerung in der EU von 514 Millionen Menschen prognostiziert, die 2030 die Zahl von 520 Mio. erreichen wird. Diese Prognose gründet sich auf die Annahme, dass es jährlich zu einer Nettozuwanderung von knapp 1,5 Mio. Menschen kommen wird.

4.3

Demzufolge wird bis 2020 ein Bevölkerungswachstum einschließlich Zuwanderung von 14 Mio. Menschen vorhergesagt. Davon entfallen laut Prognose 5,3 Mio. auf Spanien, 4 Mio. auf Großbritannien, 1,4 Mio. auf Italien, 1,3 Mio. auf Frankreich, fast 1 Mio. auf Irland, ca. 0,5 je auf Schweden und Belgien sowie knapp 0,5 Mio. auf Portugal. Ein Bevölkerungsrückgang dagegen wäre zu verzeichnen in Rumänien (um über 660 000 Menschen), in Deutschland (um 530 000) und in Bulgarien (um 419 000), während die Bevölkerungszahl in Polen, Ungarn, Litauen und Lettland jeweils um mehr als 100 000 Menschen abnehmen würde.

4.4

Danach wird für die Bevölkerung der EU im Jahr 2020 im Vergleich zu 2008 folgendes prognostiziert: eine Zunahme der Altersgruppe 0-14 Jahre um fast 845 000, ein Rückgang in der Altersgruppe 15-64 Jahre um 2,8 Mio. und eine Zunahme der Gruppe der über 65-Jährigen um 18,1 Mio. Überdies wird auch die Bevölkerung im Alter zwischen 20 von 49 Jahren um 4,7 Mio. schrumpfen. Demzufolge vollzieht sich die prognostizierte Bevölkerungszunahme in der EU hauptsächlich in der Altersgruppe ab 65 Jahren, was eine verstärkte Bevölkerungsalterung mit einem Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen von 20 % widerspiegelt.

5.   Der Arbeitsmarkt in der Europäischen Union

5.1

Die demografische Variable auf den Arbeitsmärkten muss zusammen mit anderen - wirtschaftlichen, sozialen und politischen - Variablen betrachtet werden, was jedoch den Rahmen in dieser Stellungnahme sprengen würde.

5.2

Im Zeitraum 1998-2008 wuchs die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter um 12,1 Mio., wobei davon ein Wachstum von knapp 12 Mio. auf die Altersgruppe zwischen 20 von 59 Jahren entfiel.

5.3

Im Jahr 2009 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in der EU fast 218 Mio., d.h. 3,8 Mio. weniger als im Vorjahr. Mehr als 24 Mio. Menschen (11 %) gingen einer Zeitbeschäftigung nach. Das durchschnittliche Renteneintrittsalter lag bei 61,4 Jahren.

5.4

Im vierten Quartal 2009 arbeiteten fast 5,8 Mio. Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat. Davon arbeiteten 1,4 Mio. in Deutschland, 1,1 Mio. in Großbritannien, 820 000 in Spanien, 650 000 in Italien, 540 000 in Frankreich, 280 000 in Belgien, 190 000 in Irland, 180 000 in Österreich, 150 000 in den Niederlanden und 125 000 in Schweden.

5.5

Die Erwerbsquote in der EU-15 ist im Zeitraum zwischen 1998 und 2008 in allen Altersgruppen gestiegen, und zwar um 1 Prozentpunkt (15-19 Jahre) bis um zu 10 Prozentpunkte (60-64 Jahre). Bei Männern ist die Erwerbsquote praktisch konstant geblieben, allerdings mit der Ausnahme der Altersgruppe 50 bis 70 Jahre, innerhalb der sie (bei den 60-65Jährigen) um bis zu 10 Prozentpunkte stieg. Die Frauenerwerbsquoten sind in allen Altersgruppen gestiegen, was insbesondere auf die 30- bis 65-Jährigen zutrifft, wobei der größte Anstieg um über 10 Prozentpunkte in der Altersklasse zwischen 50 von 65 Jahren zu verzeichnen war.

5.6

In den letzten Jahren haben immer mehr Frauen eine Erwerbstätigkeit aufgenommen, allerdings liegt die Frauenerwerbsquote immer noch unter der Erwerbstätigkeitsquote der Männer.

5.7

Die EU wird im Jahr 2020 eine Bevölkerung im erwerbstätigen Alter von 361 Mio. Menschen haben, von denen ungefähr 238 Mio. tatsächlich erwerbstätig (9) sein und die übrigen 123 Mio. keiner Erwerbstätigkeit nachgehen werden. Das entspricht einer Erwerbsquote von 74,2 % bei den 20- bis 64-Jährigen, die aufgrund bestimmter Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur leicht unter der Erwerbsquote von 2008 liegt.

5.8

Unter Berücksichtigung der Arbeitslosenquoten (10) könnte es im Jahr 2020 ungefähr 221,5 Mio Erwerbstätige geben, was einer Erwerbsquote von 69,3 % in der Altersgruppe 20 bis 64 Jahre entspräche.

5.9

In der Europa-2020-Agenda (11) wird jedoch vorgeschlagen, den in Arbeit stehenden Anteil der Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren durch einen stärkeren Anteil von Frauen und älteren Arbeitnehmern sowie eine bessere Eingliederung von Einwanderern in den Arbeitsmarkt auf 75 % anzuheben.

5.10

Sollte diese Erwerbsquote von 75 % in der Altersgruppe von 20 bis 64 Jahren erreicht werden, würde es 2020 über 17,5 Mio. Erwerbstätige mehr geben. Selbst dann würden in dieser Altersgruppe noch mehr als 76 Mio. Menschen keine Erwerbstätigkeit ausüben, wobei allerdings auch als erwerbsunfähig eingestufte Kranke und Behinderte eingerechnet wurden.

5.11

Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den Beschäftigungsquoten der einzelnen Mitgliedstaaten, die 2009 von der geringsten Beschäftigungsquote in Malta (60 %) bis zur höchsten Beschäftigungsquote in den Niederlanden (fast 80 %) reichten, wobei mehrere Länder das gesteckte Ziel von 75 % bereits erreicht haben. Aus diesem Grund könnte eine Anhebung der Beschäftigungsquote in den Ländern mit einer geringen - unter dem EU-Durchschnitt liegenden - Quote (das sind die meisten Mitgliedstaaten) auf einen über dem EU-Durchschnitt aber unter dem 75 %-Ziel liegenden Wert Bevölkerungswanderungen innerhalb der EU voraussetzen.

5.12

Einer der Faktoren, die für eine höhere Beschäftigungsquote notwendig sind, ist die Anhebung des Bildungsniveaus der Bevölkerung. 2008 lag die Beschäftigungsquote in der Altersgruppe 15-64 für Hochschulabsolventen bei 84 %, für Menschen mit einem Sekundarschulabschluss dagegen bei 71 % und für geringer Qualifizierte bei 48 %. Die Beschäftigungsquote der Akademiker lag auch deutlich über der Durchschnittsquote von 66 %. Die Verbesserung des Bildungsniveaus kann zudem zur Erhöhung der Produktivität und zur Befriedigung der wachsenden Nachfrage nach höher qualifizierten Arbeitnehmern beitragen.

5.13

In der derzeitigen Wirtschaftskrise und Arbeitsmarktlage findet nicht die gesamte (einheimische und zugewanderte) Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter Arbeit, wobei die Arbeitslosenquote bei zirka 10 % liegt. Im Februar 2010 waren in der EU 23,01 Mio. Frauen und Männer im erwerbsfähigen Alter von Arbeitslosigkeit betroffen, d.h. 3,1 Mio. mehr als im Februar 2009.

5.14

Die demografische Alterung beschleunigt sich. Mit dem Renteneintritt der geburtenstarken (60er) Jahrgänge wird die Erwerbsbevölkerung der EU abnehmen und die Zahl der über 60-Jährigen doppelt so schnell zunehmen: bis 2007 stieg sie um 1 Mio. pro Jahr, jetzt wird sie um 2 Mio. pro Jahr wachsen.

5.15

Nach Angaben der Europäischen Kommission (12) wird sich der Arbeitskräftemangel ab 2020 verschärfen, wodurch Europa dann das Niveau seiner Wirtschaftstätigkeit und Beschäftigung wohl kaum halten dürfte, wobei sich diese Situation über mehrere Jahrzehnte hinziehen könnte.

5.16

In einigen Mitgliedstaaten wird der Verbleib älterer Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt gefördert, wodurch sich das tatsächliche Renteneintrittsalter an das gesetzliche Rentenalter annähert. Es werden sogar Gesetzesreformen erwogen, um das Rentenalter auf über 65 Jahre anzuheben, wie im Grünbuch der Europäischen Kommission (13) festgestellt wird.

6.   Die Rolle der Einwanderung vor dem Hintergrund der Bevölkerungsentwicklung

6.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hält zur Bewältigung des demografischen Wandels ein Gesamtkonzept für notwendig, das bei zahlreichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aspekten ansetzt. Die EU muss u.a. auf dem Gebiet der Beschäftigungs- und Bildungspolitik, im Hinblick auf eine bessere Gestaltung der Arbeitsmärkte, bei den Rentensystemen, bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, bei familienpolitischen Maßnahmen usw. tätig werden.

6.2

Die Einwanderungspolitik gehört zu den politischen Entscheidungen, die die EU in diesem Zusammenhang treffen muss.

6.3

Der Ausschuss stellt die Schlussfolgerungen der unter dem Vorsitz Felipe González' tätigen Reflexionsgruppe heraus, die in dem Dokument Projekt Europa 2030  (14), zusammengefasst sind. Danach „wird sich die demografische Herausforderung in der Europäischen Union nur durch Maßnahmen in zwei sich ergänzenden Bereichen lösen lassen: Steigerung der Beschäftigungsquote und Umsetzung einer ausgewogenen, gerechten und proaktiven Zuwanderungspolitik.“ Demzufolge „[…] werden Arbeitsmigranten Teil der Lösung für den Arbeitskräftemangel und die Qualifikationsdefizite in Europa sein, und die EU wird einen proaktiven Ansatz in der Frage der Zuwanderung entwickeln müssen.

6.4

Der EWSA hat sich in zahlreichen Stellungnahmen für eine gemeinsame Einwanderungspolitik der EU ausgesprochen, die es ermöglicht, dass neue Zuwanderer ihre Migrationspläne in Europa über legale und transparente Verfahren verwirklichen können.

6.5

Europa ist ein beliebtes Ziel für einen Teil der internationalen Migration: aufgrund seines relativen wirtschaftlichen Wohlstands und seiner politischen Stabilität ist es für Zuwanderer attraktiv, hier ihre Chance zu suchen.

6.6

Die EU sollte berücksichtigen, dass zahlreiche Zuwanderer viel Unternehmergeist haben und in Europa Unternehmen gründen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen.

6.7

Die beschäftigungsbedingte Mobilität innerhalb der EU ist geringer als die Zuwanderung. In den letzten Jahren waren es vor allem polnische und rumänische Bürgerinnen und Bürger, die von der Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch gemacht haben. Nach Ansicht des EWSA sollte die EU die Arbeitsmobilität ihrer Bürgerinnen und Bürger fördern und dazu das EURES-Netz ausbauen und die Anerkennung akademischer und beruflicher Qualifikationen und Abschlüsse verbessern.

7.   Gemeinsame Einwanderungspolitik

7.1

Die Entwicklung der gemeinsamen Einwanderungspolitik kommt nur mit großer Mühe voran. Die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der ungeregelten Einwanderung und des Menschenhandels wurde verbessert, es konnten Übereinkünfte mit Drittländern unterzeichnet werden, ein gemeinsames Einwanderungskonzept wurde erarbeitet; bei den Rechtsvorschriften über die Aufnahme neuer Wirtschaftsmigranten, über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt sowie über die Rechte der Zuwanderer gab es jedoch nur wenig Fortschritte.

7.2

Bei der Ausarbeitung der gemeinsamen Einwanderungspolitik sollte berücksichtigt werden, dass jeder Mitgliedstaat besondere Gegebenheiten aufweist (Arbeitsmarkt, Rechtsordnung, historisch enge Bande mit Drittländern usw.).

7.3

Die gemeinsamen Rechtsvorschriften über die Aufnahme von Zuwanderern bestehen in Gestalt verschiedener Richtlinien für die einzelnen Berufskategorien der Arbeitsmigranten.

7.4

Die europäischen Unternehmen möchten die Verfahren für die internationale Einstellung von hoch qualifizierten Arbeitsmigranten verbessern. Zu diesem Zweck wurde die Richtlinie (15) über die „EU Blue Card“ verabschiedet, die der Ausschuss - mit einigen Änderungsvorschlägen - unterstützt hat.

7.5

Für andere Erwerbstätigkeiten gibt es jedoch noch keine gemeinsamen Rechtsvorschriften, obgleich die EU in der Zukunft zahlreiche Arbeitsmigranten für Beschäftigungen mit mittleren und geringen Qualifikationsanforderungen aufnehmen wird.

7.6

Die Kommission hat in ihrem Beitrag zum Stockholmer Programm den Vorschlag unterbreitet, eine europäische Plattform für den Dialog über die Steuerung der Arbeitsmigration einzurichten, an der sich die Sozialpartner beteiligen können; dieser Vorschlag wurde vom Rat jedoch nicht angenommen. Nach Ansicht des EWSA sollte die Kommission den Ausschuss zur Zweckmäßigkeit der Einrichtung dieser Plattform konsultieren.

8.   Rechtsvorschriften

8.1

Seit zwei Jahren wird in der EU über einen Vorschlag der Kommission für eine Rahmenrichtlinie  (16) über Rechte für Zuwanderer diskutiert, in der auch ein einheitliches Antragsverfahren vorgesehen ist. Der EWSA hält es für sehr wichtig, dass diese Richtlinie während des belgischen Ratsvorsitzes verabschiedet wird.

8.2

Am 13. Juli 2010 hat die Kommission zwei neue Legislativvorschläge unterbreitet, einen für saisonal beschäftigte Arbeitsmigranten (17) und einen zweiten für Arbeitsmigranten, die befristet in einen anderen Mitgliedstaat entsendet werden (18). Der EWSA wird den mit diesen Vorschlägen verfolgten Ansatz untersuchen und entsprechende Stellungnahmen dazu ausarbeiten.

8.3

Die Richtlinie 2003/86 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung sieht nur Mindestvorschriften vor und ermöglicht damit, dass in einigen nationalen Rechtsvorschriften das Recht auf Familienzusammenführung nicht gänzlich gewährleistet ist. Die Richtlinie sollte dahingehend geändert werden, dass Zuwanderer nach einem Jahr rechtmäßigen Aufenthalts die Familienzusammenführung beantragen und damit ihr Grundrecht auf ein Familienleben geltend machen können. Der Ausschuss spricht sich zudem dafür aus, dass auch die im Rahmen der Familienzusammenführung nachgezogenen Ehegatten oder Lebenspartner sowie die Kinder, sobald sie das gesetzliche Mindestalter erreichen, eine Arbeitserlaubnis erhalten können. Die Kommission wird im Oktober ein Grünbuch dazu vorlegen.

8.4

Seit mehreren Jahren gilt bereits die so genannte Studentenrichtlinie  (19). Nach Ansicht des Ausschusses sollten Zuwanderer, die eine Aufenthaltsgenehmigung gemäß dieser Richtlinie besitzen, bei deren Ablauf eine Arbeitserlaubnis im Schnellverfahren beantragen können, wobei die abgelaufene Aufenthaltsgenehmigung verlängert wird. Die Kommission wird 2011 einen Bericht über die Anwendung dieser Richtlinie erstellen.

8.5

Eine weitere geltende Rechtsvorschrift ist die Forscherrichtlinie  (20). Nach Auffassung des Ausschusses sollte in diesem Zusammenhang ein Schnellverfahren eingeführt werden, über das die Betroffenen bei Ende ihres Forschungsprojekts ein Blue Card für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit erhalten können. Die Kommission wird 2012 einen Bericht über die Anwendung dieser Richtlinie erstellen.

8.6

Gelöst werden muss auch eines der für viele Einwanderer und Unternehmen in Europa größten Probleme, nämlich die mangelnde Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen.

8.7

Damit der Großteil der Einwanderung auf legalen und transparenten Wegen erfolgt, sollten in den Rechtsvorschriften über die Aufnahme auch Erwerbstätigkeiten in Kleinstunternehmen und in den Familien berücksichtigt werden. Deshalb hat der EWSA in einer anderen Stellungnahme (21) eine sechs Monate geltende beschränkte Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung zur Arbeitsuche für Migranten vorgeschlagen.

8.8

Ausgehend von der Charta der Grundrechte muss die EU den Schutz der Menschenrechte jeder Person im Rahmen der Rechtsordnungen der EU und der Mitgliedstaaten garantieren.

8.9

Die Menschenrechte haben universellen Charakter, sind unveräußerlich und schützen alle Menschen unabhängig von ihrer Lage und ihrer Rechtsstellung. Aus diesem Grund hat der EWSA eine Initiativstellungnahme (22) vorgelegt und darin vorgeschlagen, dass bei den Maßnahmen und in den Rechtsvorschriften der EU im Bereich Einwanderung und Grenzkontrolle die Menschenrechte gebührend gewahrt werden.

8.10

In den EU-Rechtsvorschriften über Einwanderung muss die Gleichbehandlung auf der Grundlage des Diskriminierungsverbots (Artikel 21 der Grundrechtecharta) garantiert sein, ebenso die Bestimmungen von Artikel 15 Absatz 3 der Charta: „Die Staatsangehörigen dritter Länder, die im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten arbeiten dürfen, haben Anspruch auf Arbeitsbedingungen, die denen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger entsprechen.

8.11

Gleichbehandlung bei der Arbeit bezieht sich auf Arbeitsbedingungen, Lohn, Kündigungsschutz, Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie Vereinigungs- und Streikrecht. Die Gleichbehandlung erstreckt sich aber auch auf andere soziale Grundrechte wie das Recht auf Gesundheitsversorgung, die Ansprüche auf Leistungen der Renten- und Arbeitslosenversicherung und das Recht auf Fortbildung.

8.12

Der Ausschuss beobachtet mit Sorge, dass in Europa Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz zunehmen. Der Ausschuss würdigt und schätzt die Arbeit der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte.

8.13

Nach Einschätzung des EWSA kommt ein Teil der Einwanderer sicherlich nur auf Zeit, und in einigen Fällen im Rahmen einer zirkulären Migration, doch die Erfahrung zeigt, dass der Großteil der Migranten auf Dauer oder für einen langen Zeitraum kommt. Daher müssen die europäische Politik und die Rechtsvorschriften der Union stets für die Achtung der Menschenrechte, einen sicheren rechtlichen Status für Einwanderer, Integration und Familienzusammenführung sorgen.

8.14

Die EU und die Mitgliedstaaten können mit den Herkunftsländern Vereinbarungen für die zirkuläre Migration schließen, um die Einwanderung durch transparente Verfahren zu erleichtern. Der EWSA unterstützt die mit einigen Herkunftsländern vereinbarten Mobilitätspartnerschaften. Seiner Ansicht nach sollten diese Vereinbarungen jedoch ausgewogen sein und allen Beteiligten - den Einwanderern, den Herkunftsländern und der EU - zum Nutzen gereichen.

8.15

Damit ein System für zeitlich begrenzte Migration funktionieren kann, muss im Gemeinschaftsrecht die Möglichkeit sehr flexibler kurzzeitiger Aufenthaltstitel in Kombination mit Rückkehrverfahren und Garantien für neue Arbeitsverträge in späteren Jahren vorgesehen werden. Dies wird dazu führen, dass viele Einwanderer die legalen Wege nutzen und nicht illegal in Europa bleiben, sobald ihre Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen ist.

8.16

Der EWSA schlägt die wiederholte Erteilung kurzfristiger Aufenthaltsgenehmigungen für drei bis neun Monate vor, die über einen Zeitraum von drei, vier bzw. fünf Jahren immer wieder verlängert werden können. Die entsprechenden Verfahren erfordern finanzielle und logistische Mittel und die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Behörden der Herkunfts- und des Aufnahmeländer sowie den Gewerkschaften.

8.17

Der Ausschuss weist darauf hin, dass die zirkuläre Migration die soziale Verwurzelung und Integration, feste Bindungen zwischen Zuwanderer und Arbeitgeber sowie die Mitarbeit in einer Gewerkschaft erschwert. Sie erschwert auch die Fortbildung.

8.18

Die Verfahren für die befristete Aufnahme könnten die Übereinkommen in den Bereichen Bildung und Anerkennung beruflicher Qualifikationen einschließen; dadurch können Einwanderer, die im Rahmen einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung in Europa arbeiten, ihre beruflichen Qualifikationen und damit ihre Arbeitsmarktchancen bei Rückkehr verbessern.

8.19

Einwanderer, die im Besitz einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung gemäß der Daueraufenthaltsrichtlinie  (23) sind, verlieren diese Berechtigung, wenn sie zwölf Monate lang abwesend sind.

8.20

Um sowohl die Mobilität der Einwanderer als auch Unternehmensinitiativen und Beschäftigungsprojekte in den Herkunftsländern zu fördern, müssen die EU-Rechtsvorschriften über Einwanderung ermöglichen, dass das Daueraufenthaltsrecht langfristig (mindestens für drei Jahre) beibehalten wird und die Rückkehr nicht automatisch den Verlust der Arbeitserlaubnis und Aufenthaltsgenehmigung in Europa bewirkt.

8.21

Die von den Einwanderern in der EU erworbenen Rentenansprüche müssen garantiert werden, wobei zu diesem Zweck Gegenseitigkeitsabkommen mit den Herkunftsländern ausgehandelt werden sollten und das ILO-Übereinkommen Nr. 157 zu ratifizieren ist.

8.22

Nach Ansicht des Ausschusses sollten die Mitgliedstaaten der EU die ILO-Übereinkommen Nr. 97 und 143 über Arbeitsmigranten ratifizieren. Des Weiteren sollten die Mitgliedstaaten das „Internationale Übereinkommen zum Schutze der Rechte aller Wanderarbeiter und ihrer Familienangehörigen“ (24) ratifizieren, wie der EWSA in einer früheren Initiativstellungnahme (25) vorgeschlagen hatte.

9.   Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern

9.1

Der EWSA hat angeregt (26), dass sich die EU im außenpolitischen Bereich für einen internationalen Rechtsrahmen für die Migration einsetzen sollte.

9.2

Die EU hat bislang mehrere Nachbarschafts- und Assoziierungsabkommen geschlossen. Nach Ansicht des EWSA sollte in diesen Abkommen das Kapitel über Migration und Mobilität stärker zum Tragen kommt. Vorrangig gefördert werden sollten Mobilitätsvereinbarungen zwischen der EU und den Ländern ihres geografischen Umfelds, mit denen die Union bereits feste Beziehungen der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit etabliert hat.

9.3

Der Ausschuss hat bereits zwei Stellungnahmen (27) verabschiedet, in denen er vorschlägt, dass die Einwanderung nach Europa einen Beitrag zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den Herkunftsländern leisten sollte.

9.4

Die Ausbildung im Herkunftsland kann die Einwanderungspolitik erleichtern und zur Steuerung der Einwanderung unter Berücksichtigung der von den europäischen Unternehmen nachgefragten beruflichen Qualifikationen beitragen.

9.5

Der Ausschuss schlägt vor, dass die EU und die Herkunftsländer Abkommen zur Anerkennung von beruflichen Abschlüssen und über die Ausbildung in den Herkunftsländern schließen.

9.6

Erwogen werden sollte auch die Möglichkeit, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten die Ausbildungsprogramme in den Herkunftsländern finanzieren und damit zum Aufbau qualitativ guter Bildungseinrichtungen beitragen. Die im Rahmen solcher Programme erworbenen Abschlüsse sollten als europäische Abschlüsse anerkannt werden. Diese Ausbildungsprogramme sollten durch ein Schnellverfahren für den Erhalt der Arbeitserlaubnis und Aufenthaltsgenehmigung flankiert werden.

10.   Integrationspolitische Maßnahmen

10.1

Zu den Zielen der Europa-2020-Agenda gehört auch die Integration. Integration ist ein gegenseitiger gesellschaftlicher Prozess der reziproken Anpassung, der in komplexen Beziehungen zwischen Menschen bzw. Gruppen verläuft. Der Integrationsprozess verläuft allmählich und in gesellschaftlichen Strukturen (Familie, Schule und Universität, Stadtviertel bzw. Gemeinde, Arbeitsstelle, Gewerkschaft, Unternehmerverbände, kirchliche und kulturelle Einrichtungen und Sportverbände usw.).

10.2

Im Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission und dem EWSA wurde vor kurzem das Europäische Integrationsforum eingerichtet, um der Zivilgesellschaft und Einwandererverbänden eine Mitwirkung an der Integrationspolitik in der EU zu ermöglichen.

10.3

Der EWSA hat mehrere Stellungnahmen zur Förderung integrationspolitischer Maßnahmen erarbeitet und eine ständige Studiengruppe zur Förderung der Integration und zur Festigung seiner Beziehungen zu den Organisationen der Zivilgesellschaft und zum Integrationsforum eingerichtet.

10.4

Der Ausschuss hat eine neue Initiativstellungnahme (28) zum Thema „Integration und Sozialagenda“ verabschiedet, um dem Ziel der Integration zu einer stärkeren Beachtung in der neuen sozialpolitischen Agenda der EU zu verhelfen; dabei muss den sozialen Auswirkungen der Einwanderung, der Stellung der Einwanderer in der Arbeitswelt, der sozialen Eingliederung, der Geschlechtergleichstellung, der Armut, der allgemeinen und beruflichen Bildung, der Gesundheitsfürsorge, dem Sozialschutz und der Bekämpfung von Diskriminierungen stärker Rechnung getragen werden.

10.5

Zudem hatte der spanische Ratsvorsitz den EWSA um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum Thema „Integration von Arbeitsmigranten“ ersucht. In dieser Stellungnahme (29) wird untersucht, welche Bedeutung die Beschäftigung, gleiche Arbeitsbedingungen, die Chancengleichheit und die Gleichbehandlung in der Arbeitswelt für die Integration haben. Die Stellungnahme enthält zudem Empfehlungen an die Adresse der europäischen Institutionen und nationalen Behörden sowie an die Sozialpartner.

10.6

Auf der Konferenz der für Integration zuständigen Minister am 15./16. April 2010 in Saragossa wurde die Kommission aufgefordert, eine neue Agenda für die Integration zu erarbeiten. Der Beitrag des EWSA hierzu ist ein Informationsbericht zum Thema „Die neuen Herausforderungen auf dem Gebiet der Integration“, in dem vorgeschlagen wird, mit der neuen Agenda die Bürgerbeteiligung von Einwanderern am demokratischen Prozess zu stärken.

10.7

Der Ansatz der Gegenseitigkeit macht neue Anstrengungen der Staaten nötig, damit die nationalen Gesetze die Zuerkennung der Staatsbürgerschaft an Zuwanderer, die sie beantragen, erleichtern und die Verfahren transparent sind.

10.8

Der EWSA hatte seinerzeit eine Initiativstellungnahme (30) für den mit der Ausarbeitung des Verfassungsvertrags beauftragten Konvent verabschiedet, um zu erreichen, dass die Unionsbürgerschaft auch langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen zuerkannt werden kann.

10.9

Neben der Bewältigung des demografischen Wandels stehen die EU und die Mitgliedstaaten vor einer weiteren großen politischen und gesellschaftlichen Herausforderung: Sie müssen ihre Neubürger mit den gleichen Rechten und Pflichten integrieren. Dazu muss in den nationalen und europäischen staatsbürgerlichen Rechten Raum geschaffen werden für Menschen mit Migrationshintergrund, die Europa durch große ethnische, religiöse oder kulturelle Vielfalt bereichern.

11.   Zuwanderer ohne aufenthaltsrechtlichen Status

11.1

Der EWSA erinnert daran, dass in der EU hunderttausende Migranten ohne geregelten Aufenthaltsstatus leben, die in der Schattenwirtschaft und in ungeregelten Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, für die Behörden „unsichtbar“ bleiben und ihre Grundrechte nicht in Anspruch nehmen können.

11.2

In dem von der Reflexionsgruppe erstellten Dokument „Projekt Europa 2030“ wird die notwendige „EU-weite Angleichung der Rechte illegaler Zuwanderer“ vorgeschlagen. Der EWSA schließt sich diesem Vorschlag an.

11.3

Der EWSA bekräftigt seinen in früheren Stellungnahmen (31) formulierten Vorschlag, die Einzelfalllegalisierung irregulärer Einwanderer zu erleichtern und dabei das soziale und berufliche Umfeld der Betroffenen zu berücksichtigen. Dies sollte auf der Grundlage der Verpflichtung erfolgen, die der Rat der Europäischen Union im Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl (32) eingegangen ist.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Vorläufige Daten von Eurostat zum Stichtag 1.1.2009.

(2)  Berechnung auf der Grundlage der Eurostat-Daten für den Zeitraum 1999-2009, jeweils zum Stichtag 1. Januar.

(3)  Berechnung auf der Grundlage der Eurostat-Daten für den Zeitraum 1999-2008 (Geburten minus Todesfälle).

(4)  Sie entspricht dem Verhältnis der Bevölkerung im Alter unter 15 und über 65 Jahren zur Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 Jahren.

(5)  Durchschnittliche Anzahl der Kinder pro Frau in diesem Jahr, berechnet als Summe der altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern.

(6)  Die Säuglingssterblichkeit erfasst den Anteil der lebend geborenen Kinder, die vor Erreichen des ersten Lebensjahres sterben.

(7)  Die Berechnung erfolgt nach folgender Formel: (Migrationssaldo=Bevölkerungszahl 2009-Bevölkerungszahl 1999-natürliches Bevölkerungswachstum 1999-2008).

(8)  Angaben der Arbeitskräfteerhebung.

(9)  Schätzung auf der Grundlage der durchschnittlichen Erwerbsquoten im vierten Quartal 2007 und im ersten Quartal 2008.

(10)  Siehe Fußnote 9.

(11)  KOM(2010) 2020 endg.

(12)  KOM(2009) 674 endg.

(13)  KOM(2010) 365 endg.

(14)  http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/10/st10/st10559-re01.de10.pdf.

(15)  Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung.

(16)  KOM(2007) 638 endg.

(17)  KOM(2010) 379 endg.

(18)  KOM(2010) 378 endg.

(19)  Richtlinie 2004/114/EG des Rates.

(20)  Richtlinie 2005/71/EG des Rates.

(21)  ABl. C 80 vom 3.4.2002, S. 37.

(22)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 29.

(23)  Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen.

(24)  Das Übereinkommen wurde auf der UNO-Vollversammlung im Rahmen der Resolution Nr. 45/158 vom 18. Dezember 1990 verabschiedet.

(25)  ABl. C 302 vom 7.12.2004, S. 49.

(26)  ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 91.

(27)  ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 82 und ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 91.

(28)  ABl. C 347 vom 18.12.2010, S. 19.

(29)  ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 16.

(30)  Stellungnahme des EWSA im ABl. C 208 vom 3.9.2003, S. 76.

(31)  ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 16.

(32)  Rat der Europäischen Union, Dokument Nr. 13440/08, 24.9.2008.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/14


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Grüne Arbeitsplätze“

2011/C 48/04

Berichterstatter: Edgardo Maria IOZIA

Mit Schreiben vom 7. Juni 2010 ersuchte Joëlle MILQUET, Vizepremierministerin und für Migrations- und Asylpolitik zuständige Ministerin der Beschäftigung und Chancengleichheit, im Namen des belgischen Ratsvorsitzes den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema:

Grüne Arbeitsplätze“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 2. September 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 16. September) mit 142 gegen 3 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Vorschläge und Empfehlungen

1.1

Angesichts des umfassenden Beitrags zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen, der von allen Branchen erwartet wird, weist der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss zunächst darauf hin, dass er die Formulierung „Ökologisierung von Arbeitsplätzen“ (greening of jobs) für angemessener hält als „grüne Arbeitsplätze“ (green jobs).

1.2

Die Europäische Union steckt sich häufig ehrgeizige Ziele, ohne gleichzeitig die zu deren Verwirklichung erforderlichen Instrumente und Mittel vorzusehen. Auch im Falle der Ökologisierung von Arbeitsplätzen wurde sehr viel gesagt, aber bisher nur wenig konkret gehandelt. Kommission, Rat und Parlament sollten einen europäischen Plan für die Förderung der grünen Arbeitsplätze erarbeiten. Der EWSA begrüßt nachdrücklich die Initiative des belgischen Ratsvorsitzes, der dieses Thema zu einer seiner Prioritäten erklärt hat. Dies ist eine äußerst wichtige Reaktion auf die Beschäftigungskrise, die ganz Europa erfasst hat.

1.3

Der EWSA empfiehlt der Kommission, auf der Grundlage der derzeit vom ESF-Ausschuss vorgenommenen Datenauswertung und des in Bearbeitung befindlichen Arbeitsdokuments der GD EMPL eine spezifische Mitteilung über die Förderung der Ökologisierung von Arbeitsplätzen zu erarbeiten. Dieses Thema ist von so großer strategischer Bedeutung, dass es eine umfassende und eingehende Debatte verdient.

1.4

Der EWSA ist überzeugt, dass die EU einen grundlegenden Beitrag dazu leisten kann, gemeinsame Instrumente und Ziele zu ermitteln und den Mitgliedstaaten mit geringem wirtschaftlichem und technologischem Potenzial zu helfen, zusammen mit den übrigen Ländern die gesteckten Ziele zu erreichen. Die Schaffung „grünerer“ Arbeitsplätze sollte in allen EU-Politikbereichen berücksichtigt werden.

1.5

Sobald die konkreten Bedingungen für ihre Verwendung und ihre Übertragbarkeit festgelegt sind, könnte der Einsatz der Struktur- und Kohäsionsfonds zu diesem Zweck sicher dazu beitragen, den gewaltigen Finanzbedarf zu decken. Durch eine klare diesbezügliche Politik würden die Perspektiven für grüne Arbeitsplätze konkretisiert. Hinsichtlich des nächsten Finanzplanungszeitraums (2014-2020) erscheint es angezeigt, dieser dringenden Notwendigkeit Rechnung zu tragen und die im Rahmen der verschiedenen Strukturfonds verfügbaren Mittel einem ganzheitlichen Ansatz entsprechend anzupassen, indem Effizienz und Wirksamkeit der Programme Vorrang erhalten.

1.6

Der Europäische Sozialfonds (ESF) kann diesbezüglich eine wesentliche Rolle spielen. Um die Europa-2020-Strategie voranzutreiben, die auf ein „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ abzielt, muss die Rolle des ESF neu definiert werden und auf konkrete, mit der neuen Strategie in Einklang stehende Prioritäten konzentriert werden. Im Juni 2010 legte der ESF-Ausschuss eine Stellungnahme zur Zukunft des ESF vor, in der er betont, dass der Fonds auf die Beschäftigungsförderung ausgerichtet werden muss, und dabei ausdrücklich auf die grünen Arbeitsplätze verweist. Der EWSA hält es nicht für unerlässlich, eine auf grüne Arbeitsplätze zugeschnittene sechste Säule des Fonds zu schaffen. Vielmehr sollten seines Erachtens die Mittel vorrangig allen Aktivitäten zugewiesen werden, die dazu beitragen könnten, den CO2-Fußabdruck zu reduzieren.

1.7

Zur Begegnung der finanziellen Erfordernisse, die mit den Programmen zur Förderung von Umschulungsmaßnahmen einhergehen, kann der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) ein nützliches Instrument sein. Seine Zugänglichkeit sollte verbessert werden, da er derzeit nur Unternehmen mit mindestens 500 Beschäftigten zur Verfügung steht; diese Mindestzahl sollte auf 50 Beschäftigte gesenkt werden.

1.8

Der EWSA ist der Ansicht, dass die europäischen Branchenräte für Beschäftigung und Qualifikationen eine hervorragende Idee sind, die unterstützt werden sollte. Diese Räte sollten „eine erhebliche Unterstützung bei der Bewältigung des Wandels in den einzelnen Wirtschaftszweigen und insbesondere bei der Antizipierung der […] Erfordernisse in den Bereichen Beschäftigung und Qualifikationen sowie bei der Abstimmung der Qualifikationen auf Angebot und Nachfrage leisten können“. Die Branchenräte sollten auf den Ergebnissen von Initiativen wie dem Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR), dem Europäischen System zur Anrechnung von Studienleistungen (ECTS), dem Europäischen Leistungspunktesystem für die Berufsbildung (ECVET), dem Europäischem Bezugsrahmen für die Qualitätssicherung in der beruflichen Aus- und Weiterbildung (EQARF) und dem Europass basieren und zu deren Weiterentwicklung beitragen (1).

1.9

Die Errichtung eines „Europäischen Staatsfonds“ unter der Verwaltung der EIB, die bereits hervorragende Arbeit bei der Unterstützung von Initiativen zur Förderung der Energieeffizienz leistet (einschließlich des finanziellen Beitrags zu den im Rahmen des Bürgermeisterkonvents beschlossenen Investitionen), könnte eine Antwort auf die heute fast unlösbaren Probleme sein, die sich aus den immensen Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Kapital auf den Märkten ergeben.

1.10

Der EWSA hält einen neuen „Marshall-Plan“ für Umwelt und soziale Nachhaltigkeit für erforderlich, um eine Entwicklung in Gang zu setzen, die im Einklang mit dem Vermögen unseres Planeten steht, sein Entropieniveau (d.h. seine „Alterung“) möglichst unverändert beizubehalten. Ein außerordentlicher europäischer Plan wäre daher notwendig angesichts des radikalen Wandels, dem so schnell wie möglich begegnet werden muss, um ein neuartiges Wachstum zu erzeugen, das umweltfreundlich, nachhaltig und dem Fortschritt im Sinne der Verträge förderlich ist. Dies könnte auch in die eingehenderen Überlegungen zur Erforschung von Indikatoren einfließen, die „über das BIP hinausgehen“.

1.11

Es ist überaus wichtig, den Bürgern die Notwendigkeit einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik begreiflich zu machen, auch durch die Bereitstellung korrekter und gezielter Informationen. Ein gutes Beispiel für die Förderung der Bürgerinformation ist das Programm Life+; der EWSA fordert dessen Verlängerung im Rahmen des nächsten Finanzplanungszeitraums (2014-2020).

1.12

Die Bewältigung des Übergangs vom alten zum neuen Entwicklungsmodell ist sicherlich die größte Herausforderung, die auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene von den Behörden und Sozialpartnern gemeinsam angegangen werden muss. Im Rahmen des sozialen Dialogs auf Gewerkschafts- oder Branchenebene sollten spezifische Projekte vorgesehen werden, um die Auswirkungen des Wandels auf die Produktionssysteme in den unterschiedlichen betroffenen Sektoren zu antizipieren. Auf Unternehmensebene ist es notwendig, einen ständigen Dialog zwischen den Sozialpartnern zu führen und klare Ziele in Bezug auf berufliche Erfordernisse, die Verbesserung der Qualifikationen und die Antizipierung von Entwicklungen festzulegen. Es bedarf einer ernstzunehmenden Politik der Folgenabschätzung von Energie- und Klimaplänen im Zusammenhang mit europäischen und einzelstaatlichen Rechtsvorschriften.

1.13

Im Übergangsprozess führen die Maßnahmen zur Entwicklung emissionsärmerer Tätigkeiten zur Schaffung zahlreicher neuer Stellen, möglicherweise aber auch zum Verlust vieler Arbeitsplätze. Es müssen rechtzeitig angemessene Instrumente für Einkommensbeihilfen und Umschulungen erarbeitet werden. In dieser Hinsicht spielen die Sozialpartner und lokalen Gebietskörperschaften eine wesentliche Rolle. Darüber hinaus ist es wichtig, FuE zu forcieren, um zu sehen, wo die technische Entwicklung hingeht und sich neue Beschäftigungsfelder entwickeln.

1.14

In der Haushaltspolitik wurden Anreize und Finanzhilfen reduziert – in einigen Fällen sogar drastisch. Das hat zu einer geringeren Zahl von Beschäftigten geführt, z.B. in Spanien in den Bereichen Windkraft und Fotovoltaik. Es wäre wünschenswert, die öffentlichen Investitionen und den Rechtsrahmen aufrechtzuerhalten, wobei Änderungen vorhersehbar sein und ggf. auf internationaler Ebene gebilligt werden sollten, um eine solide Planungsgrundlage für private Unternehmen zu schaffen.

1.15

Forschung und Entwicklung bleiben wesentliche Stützpfeiler der EU-Wachstumsstrategie. In der Europa-2020-Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum wird erneut das Ziel von FuE-Investitionen in Höhe von mindestens 3 % des jährlichen BIP vorgegeben.

1.16

Mindestens 50 % der Fonds aus den EHS-Verkäufen (EHS = Emissionshandelssystem, engl. ETS/Emissions Trading Scheme) sollten zur Förderung der Energieeffizienz und der grünen Wirtschaft eingesetzt werden. Zweckmäßig ist auch eine Übertragung von Mitteln von Unternehmen mit dem höchsten CO2-Ausstoß auf Unternehmen, die zur Treibhausgasreduzierung beitragen. Für Sektoren, die nicht unter die EHS-Regelungen fallen (z.B. Straßen- und Seeverkehr), sollten alternative Maßnahmen ergriffen werden.

1.17

Die Förderung grüner Arbeitsplätze (der EWSA bevorzugt das Konzept nachhaltiger Arbeitsplätze für eine nachhaltige Wirtschaft) muss nach dem EHS-Modell über einen Mix aus Anreiz- und Strafmaßnahmen erfolgen, mit denen die nötigen Ressourcen bereitgestellt werden, ohne jedoch die bereits leeren Staatskassen weiter zu belasten. Dieser Finanzierungsansatz, der von entscheidender Bedeutung sein wird, setzt voraus, dass alle Beteiligten mitspielen, denn die Europa-2020-Strategie und die Hilfsprogramme können nicht funktionieren, wenn die Mitgliedstaaten keinen haushaltspolitischen Spielraum mehr haben. Die Unternehmen, die sich dazu verpflichten, die Qualität der Arbeitsplätze zu verbessern und nachhaltigere Herstellungsverfahren anzuwenden, sollten ermutigt und gefördert werden. Sie benötigen einen klaren und stabilen Rechtsrahmen, möglichst mit international vereinbarten Regeln. Eine rasche, einvernehmliche Lösung des Problems des europäischen Patents wäre sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung.

1.18

Öffentliche Gelder sollten vornehmlich dazu verwandt werden, Arbeitslose zu unterstützen, die in black jobs (Arbeitsplätzen, die mit hohen Treibhausgasemissionen und hoher Umweltbelastung verbunden sind) beschäftigt waren. Ein erheblicher Teil der Gelder sollte für die Berufsausbildung im Rahmen entsprechender am Konzept des lebenslangen Lernens ausgerichteter Kurse vorgesehen werden.

1.19

Der EWSA hält es für sinnvoll, das EGKS-Modell anzuwenden, das die Bewältigung eines ebenso bedeutenden Übergangs - nämlich von der Kohle zum Erdöl - ermöglichte, wobei natürlich den zwischenzeitlichen Entwicklungen Rechnung getragen werden muss. Dieses Modell sah eine enge Einbindung der Sozialpartner vor, die - wie der EWSA erneut betont - bei dem erwarteten radikalen Wandel eine führende Rolle spielen sollten; auch umfasste es nachhaltige Hilfspläne.

1.20

Besondere Aufmerksamkeit verdienen Bildungsangebote zur Gleichstellung von Frauen, auch in Bezug auf Lohn- und Qualifikationsniveaus. Insbesondere sollte das Augenmerk auf die Grundbildung im Zusammenhang mit der grünen Wirtschaft und den Umweltunterricht gerichtet werden. Der soziale Dialog sollte eine Bezugsgröße für das lebenslange Lernen in der grünen Wirtschaft sein.

1.21

Auch wenn im Bereich der erneuerbaren Energien z.B. in der Verwaltung beinah ebenso viele Frauen wie Männer arbeiten, sinkt der Prozentsatz der Frauen bei stärker fachlich-technisch geprägten Berufstätigkeiten (Installation, Wartung) auf ein Minimum.

1.22

In einer früheren Stellungnahme hat der EWSA die Rolle der allgemeinen und beruflichen Bildung in einer C02-armen Gesellschaft gewürdigt. Dazu hat er ein Kooperationsabkommen mit der Nationalen Stiftung Carlo Collodi über das Projekt Pinocchio unterzeichnet, dem zufolge die Holzmarionette als Werbeträger für europäische Bildungskampagnen im Bereich Energie und Umwelt eingesetzt werden soll (2).

1.23

Schulen und Arbeitsbehörden müssen entsprechende Bildungsangebote unterbreiten.

1.24

Die Kluft zwischen berufsbezogener Nachfrage und bildungsbezogenem Angebot muss durch eine engere Zusammenarbeit aller Akteure geschlossen werden. Im Rahmen fortlaufender und flächendeckender Konsultationen sollten Berufsbildungsexperten der Sozialpartner, Arbeitsbehörden und Vertreter der Gebietskörperschaften zusammenarbeiten, um gemeinsam rechtzeitig den Arbeitskräfte- und Bildungsbedarf zu ermitteln.

1.25

Ein europäisches Qualifikationszertifizierungssystem könnte dazu anregen, dass Jugendliche nachhaltigere Tätigkeiten ausüben. Dadurch würden Perspektiven eines europäischen Arbeitsmarkts eröffnet und das Recht auf Freizügigkeit verwirklicht, bei dem es sich um das eklatanteste Beispiel eines Rechts handelt, das in der Praxis wegen der Unangemessenheit und mangelnden Harmonisierung der Bildungssysteme nicht wahrgenommen werden kann. Das ESCO-Projekt (europäisches Klassifizierungssystem für Fertigkeiten, Qualifikationen und Berufsbilder) wird ein wesentliches Instrument zum Abgleich von Angebot und Nachfrage sein, insbesondere hinsichtlich „neuer Berufe“. Von Vorteil wäre auch die Einbeziehung des EURES-Netzes (für innereuropäische Mobilität).

1.26

Unternehmen und Gewerkschaften haben die Aufgabe, Leitlinien für Bildungsmaßnahmen festzulegen und im Interesse besserer Ergebnisse kontinuierlich zusammenzuarbeiten. In vielen europäischen Ländern ist diese Zusammenarbeit institutionalisiert in Form von bilateralen Instituten oder verschiedenen Berufsbildungseinrichtungen, die fortwährend kooperieren. Diese Beispiele sollten durch ein spezifisches Programm der Europa-2020-Strategie, wo das Wissen als Priorität festgelegt ist, verbreitet werden.

1.27

Hier spielt auch der soziale und zivile Dialog eine Rolle. Ohne die Einbeziehung der Zivilgesellschaft lässt sich kein derart richtungweisendes Programm durchführen. Die Sozialpartner könnten sich dauerhaft dafür einsetzen, alle Arbeitsplätze „grüner“ zu gestalten. Energieeffizienz- und Einsparungsziele könnten in Abkommen aufgenommen werden, um einen Teil der tatsächlich erzielten Einsparungen in Form von Kollektivprämien umzuverteilen. Im Vereinigten Königreich und in anderen Ländern existieren bereits entsprechende Beispiele.

1.28

Um die gesamte Gesellschaft hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft zu bewegen, bedarf es klarer Ziele, einer umfassenden Informationsverbreitung, eines grundlegenden sozialen und politischen Zusammenhalts und eines Konsenses hinsichtlich der zu nutzenden Instrumente. Die EU kann hier eine äußerst wichtige Rolle spielen, und zwar mittels flankierender Rechtsvorschriften (darum handelt es sich de facto beim Klimapaket) und vor allem mittels einer kohärenten Methode des Dialogs und der Diskussion, die auf nationaler und lokaler Ebene angewendet werden sollte. Eine stärkere gemeinsame Politik im Energie- und Umweltbereich ist immer dringender erforderlich. Der EWSA hat sich bereits für einen „europäischen öffentlichen Dienst für Energie“ ausgesprochen (3). Angesichts der großen Schwierigkeiten wäre zunächst eine engere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Energiebereich wünschenswert. So könnten als Erstes die Netze miteinander verbunden und schrittweise intelligente Netze (smart grids) eingeführt werden, die erheblich dazu beitragen könnten, das Problem der Verwaltung der Energieversorgung zu lösen. Der EWSA, der italienische Nationalrat für Wirtschaft und Arbeit (CNEL) sowie der französische und der spanische Wirtschafts- und Sozialrat erarbeiten derzeit einen gemeinsamen Vorschlag zu diesem Thema. Für den wachsenden Einsatz regenerativer Energien ist neben dem Ausbau der Netze vor allem die Frage der Speicherung zu lösen.

1.29

Die Bürger müssen von der Bedeutung des Vorschlags überzeugt werden. Erforderlich sind dazu die Mobilisierung von Energien und Ressourcen, die so außergewöhnlich sind wie die Zeiten, in denen wir leben, sowie ein schrittweiser Übergang von Konsum- und Entwicklungsmustern auf andere, rationalere, umweltfreundlichere und humanere Muster.

1.30

Von grundlegender Bedeutung sind die Information und Einbeziehung von Bürgern und Vereinigungen. Die Bereitstellung umfassender Informationen kann zu hervorragenden Ergebnissen führen, wenn sie Hand in Hand mit klaren und transparenten Zielen geht.

1.31

Die Anpassungsmaßnahmen müssen sich nicht nur an Einzelpersonen, Arbeitnehmer und Manager, sondern auch an Unternehmen und Behörden richten. Es sollte mehr mit weniger Mitteln erreicht werden. Im Energiebereich bedeutet dies eine Reduzierung der Energieintensität (Energie-Einheit pro BIP-Einheit) und eine ständige Verbesserung der Energierentabilität (EROEI = energy returned on energy invested).

1.32

Eine wichtige Rolle spielen Unternehmensverbände (insbesondere vor Ort), da sie Informationen und eine nachhaltige Unternehmenskultur verbreiten können. Um nachhaltige und integrierte Energiebezirke bilden zu können, in denen sich bedeutende Synergien schaffen lassen, beispielsweise bei der Kraft-Wärme-Kopplung, ist es erforderlich, dass die Verbände sich mit den Unternehmen und Behörden abstimmen und diese unterstützen.

1.33

Das Beispiel der Erdwärme ist sehr aufschlussreich. In Schweden wurden die Entwicklung der Geothermik sowie ein günstiger Regelungsrahmen ermöglicht durch den entscheidenden Beitrag der Unternehmen und die Sensibilisierung der Behörden, die die Förderung der Verbreitung von Wärmepumpen beschlossen haben. Einen ähnlichen Fall gibt es in der Lombardei, wo die Unternehmen mit Rechtsvorschriften dazu ermutigt werden, Systeme mit geschlossenem Kreislauf einzusetzen, die umweltverträglich sind und eine sehr hohe Energierentabilität (EROEI) gewährleisten.

1.34

Bei der Schaffung grüner Arbeitsplätze spielt die Landwirtschaft eine wesentliche Rolle. Die lokale Energieerzeugung, die Nutzung von Biomasse und ein geringerer Einsatz von Bioziden und Pestiziden sind die großen Herausforderungen, die die Landwirtschaft bewältigen muss.

1.35

Ein stabiler Rechtsrahmen, eine enge Einbindung der Zivilgesellschaft, eine einzigartige Mobilisierung von Kapital und geistigen Ressourcen, die Förderung von Forschung und Entwicklung, klare Programme zur Erleichterung des Übergangs, die allgemeine und berufliche Bildung im Hinblick auf eine kohlenstoffarme Gesellschaft, die Förderung von Maßnamen für eine umweltfreundliche Mobilität innerhalb und außerhalb der Städte und die Einleitung eines spezifischen mit EU-Mitteln angemessen finanzierten Plans für eine nachhaltige Wirtschaft, die Einführung von Faktoren für ein neues Wachstum - dies sind die Eckpfeiler einer europäischen Initiative zur Unterstützung und Förderung einer nachhaltigen Wirtschaft und grüner Arbeitsplätze, die den europäischen Kriterien für Gute Arbeit entsprechen, wie sie der Europäische Rat im März 2007 bereits formuliert hat.

2.   Einleitung

2.1

Der belgische Ratsvorsitz hat den EWSA darum ersucht, eine Stellungnahme bezüglich der Förderung von Beschäftigungsmaßnahmen, die beim Übergang hin zu einer CO2-armen Wirtschaft nützlich sind, zu erarbeiten, da dieses Thema zu den Prioritäten des belgischen EU-Ratsvorsitzes zählen soll.

2.2

Der EWSA hat bereits eine Stellungnahme zu einem analogen Thema erarbeitet: „Förderung nachhaltiger grüner Arbeitsplätze für das Energie- und Klimapaket der EU“ (4). Diese Stellungnahme wird durch die vorliegende ergänzt und präzisiert.

2.3

Die Öffentlichkeit ist sich gemeinhin der Tatsache bewusst, dass zum jetzigen Zeitpunkt eine substanzielle Änderung am Entwicklungsmodell unabdingbar ist.

2.4

Im Hinblick auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit

den Energieeffizienzprogrammen,

dem Klimawandel,

der schrittweisen Reduzierung der Verfügbarkeit von Kohlenwasserstoffen,

der notwendigen Verstärkung der Energieunabhängigkeit,

der erforderlichen allmählichen Ersetzung veralteter und umweltschädlicher Kraftwerke

und der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Nachhaltigkeit

sollte ein langfristiges Strategieprogramm erarbeitet werden, um die Probleme, die diese epochalen Veränderungen mit sich bringen, auf umfassende Weise anzugehen.

2.5

Diese politischen Maßnahmen werden große Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben. Bauwesen, Verkehr, Energie und Netze sind die am stärksten betroffenen Sektoren, die ihre aktuellen Produktionsmuster am radikalsten ändern werden müssen.

2.6

Die Veränderungen führen zu ernsten Problemen im Zusammenhang mit der Anpassung und Umstellung sowie der beruflichen und geografischen Mobilität - insbesondere in Ländern, die in hohem Maße von Energieträgern mit umfangreichen C02-Emissionen (z.B. Erdöl und Steinkohle) abhängig sind und über eine Industrie mit hohem Energiebedarf (z.B. Zement und Aluminium) verfügen, in der die Verfügbarkeit von Energie zu erschwinglichen Preisen der wichtigste Faktor für das wirtschaftliche Überleben der bestehenden Produktionsanlagen ist.

2.7

Es wird erwartet, dass bis 2030 in Europa mehr als eine Mio. Arbeitsplätze geschaffen werden; diese Schätzungen müssen jedoch angesichts der negativen Folgen der Maßnahmen zur Stabilisierung der Staatsdefizite, die die wirtschaftliche Erholung verlangsamen, aktualisiert werden. Bisher beruht die Unterstützung der Entwicklung grüner Arbeitsplätze insbesondere im Energiesektor auf Fördermaßnahmen für erneuerbare Energieträger, vor allem Sonnen-, Wärme- und Windkraft, sowie im Automobil- und Verkehrssektor für Hybrid-, Elektro- und Gasfahrzeuge.

2.8

Anreize im Bereich des Baus bzw. Umbaus von Wohnungen haben eine sehr wichtige Rolle für die Entwicklung einer nachhaltigen Industrie gespielt, die heute klare Vorstellungen von ihren künftigen Verpflichtungen hat, aber auch von den Beschäftigungsmöglichkeiten durch die Renovierung öffentlicher und privater Gebäude und die Verbesserung der Energieeffizienz von öffentlichen Verwaltungs- und Dienstgebäuden und von Büros und Industrieanlagen.

2.9

Es muss eine neue Form der Wettbewerbsfähigkeit angestrebt und gefördert werden. Innovative und umweltfreundlichere Produkte, sauberere Herstellungsverfahren und ein geringerer Verbrauch sind der Schlüssel für eine neue Periode der Entwicklung und des Fortschritts. Die EU will nach wie vor eine Vorreiterrolle beim Übergang zu einer emissionsfreien Wirtschaft spielen. Hierzu muss sie der Industrie helfen, ihre Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten, insbesondere den KMU, die am stärksten Gefahr laufen, ihre Marktstellung zu verlieren. Der „Small Business Act“ sollte in die Praxis umgesetzt werden, vor allem im Bereich der Innovation.

2.10

Die Anforderungen und Bedürfnisse von Unternehmen und Arbeitnehmern sollte im Mittelpunkt der Überlegungen stehen („bottom-up“). Anstatt dirigistische Maßnahmen zu erwägen („top-down“), sollte die Kommission diesem Umstand stärker Rechnung tragen und die EU-Strategien an diesen Erfordernissen orientieren. Das allgemeine Ziel sollte darin bestehen, Faktoren für ein neues Wachstum einzuführen, das nachhaltig und umweltfreundlich ist, aber auch für ein hohes Maß an Beschäftigung sorgt und den Fortschritt begünstigt.

2.11

Im Bereich der bilateralen und multilateralen Beziehungen mit Drittstaaten, insbesondere China, Indien und Brasilien, sollten Austausch- und Informationsprogramme zu (bereits angewandten oder anzuwendenden) bewährten Methoden aufgelegt werden.

3.   Nachhaltige Wirtschaft, Förderung grüner Arbeitsplätze

3.1

Die Zukunftsaussichten Europas auf der internationalen Wirtschaftsbühne hängen von der Fähigkeit ab, sich bei der Entwicklung erneuerbarer Energieträger zu behaupten, die bereits durch das enorme Wachstum der asiatischen Wirtschaft (mit China und Taiwan vorweg) in Frage gestellt ist. Die neue amerikanische Regierung beabsichtigt, den Abstand in diesem Bereich zu verringern und ihr gewaltiges Potenzial mit umfangreichen Investitionen im Energiesektor auszuschöpfen. Die jüngsten Ereignisse im Golf von Mexiko - die durch die Ölbohrplattform Deepwater Horizon ausgelöste Umweltkatastrophe, die ironischerweise am „Tag der Erde“ geschah - tragen zu einer rascheren Beschlussfassung zugunsten einer Umstellung auf eine nachhaltige Wirtschaft bei.

3.2

Die berufsbezogenen Anforderungen zur Bewältigung der Herausforderungen der Klima- und Umweltpolitik sind immens. Sämtliche Branchen und Aktivitäten sind von diesen Maßnahmen potenziell betroffen. Es müssen erhebliche Anstrengungen im Bereich der Programmplanung und Abstimmung, Prioritätensetzung und Erschließung der erforderlichen Finanzquellen unternommen werden. Aber vor allem ist eine angemessene Politik erforderlich, die von entsprechenden technischen Kapazitäten und Humanressourcen flankiert wird.

3.3

Hinsichtlich des Arbeitsmarkts ist es notwendig, die Herausforderung dieses Wandels anzunehmen und zugleich Maßnahmen zur Wiederbeschäftigung von in veralteten Branchen tätigen Arbeitnehmern und zur Vorbereitung auf die neuen erforderlichen Berufe vorzusehen.

3.4

Die Arbeitsbehörden werden sich sehr anstrengen müssen, um einen Übergang zu bewältigen, von dem hunderttausende Arbeitnehmer betroffen sind. Hochwertige Berufsbildungsprogramme, die auf die Chancengleichheit von Frauen und Männern abzielen, sind unerlässlich. Dem öffentlichen Dienst wird eine wesentliche Rolle dabei zukommen, hohe Ausbildungsqualität, Chancengleichheit und Zugang zur Beschäftigung zu garantieren.

3.5

Auch Privatunternehmen müssen alles daran setzen, den technologischen Sprung zu bewerkstelligen, der für die Umstellung von einer hauptsächlich Kohlenwasserstoffe als Energieträger nutzenden Wirtschaft auf eine emissionsarme und nachhaltige Wirtschaft erforderlich ist.

3.6

Insbesondere die KMU werden Hilfe und Unterstützung benötigen. Trotz der guten Vorsätze des Bankenwesens wird der Zugang zu Krediten immer schwieriger und kostspieliger; die Lage auf dem Kapitalmarkt bietet sicher keinen Grund zu der Hoffnung, dass in naher Zukunft in großem Umfang Kredite zur Verfügung stehen.

3.7

Arbeitsplätze, die in der grünen Wirtschaft geschaffen werden, müssen per definitionem angemessen, hochwertig und entsprechend entlohnt sein. Die Frage lautet, wie dies sichergestellt werden kann. Nur dank eines ständigen und kontinuierlichen Dialogs zwischen den Sozialpartnern und den öffentlichen Behörden wird dies tatsächlich möglich sein. So können Steuern dazu beitragen, ein System im Gleichgewicht zu halten, das mit dem erhöhten Wettbewerbsdruck durch diejenigen konfrontiert sein wird, die die derzeitigen Energieträger besitzen und weder Märkte noch Profite verlieren wollen.

3.8

Die Umstellungskosten können weder insgesamt auf die Endpreise aufgeschlagen noch gänzlich den Steuerzahlern aufgebürdet werden. Zumindest in dieser Hinsicht sollte eine Steuerharmonisierung in allen Mitgliedstaaten erfolgen. Die jüngste Krise des Euros hat erneut gezeigt, dass Steuersysteme und Steuerabgaben stärker harmonisiert werden müssen.

4.   Die Rolle der Union: die Strukturfonds

4.1

In Reaktion auf verschiedene Fragen des EWSA hat die GD EMPL einige interessante Einschätzungen vorgenommen, die im Folgenden zusammengefasst werden.

4.2

In Artikel 3 der allgemeinen Verordnung über die Strukturfonds ist die nachhaltige Entwicklung als eine Priorität der Gemeinschaft festgeschrieben; ferner werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und soziale Integration in ihren Programmen zu berücksichtigen sowie die Umweltqualität zu gewährleisten und zu verbessern.

4.3

In Artikel der ESF-Verordnung heißt es, dass mit dem Fonds Initiativen zur Verbesserung der Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer, Unternehmen und Unternehmer gefördert werden sollen, insbesondere durch die Unterstützung der Entwicklung von Qualifikationen und Kompetenzen und der Verbreitung umweltfreundlicher Technologien.

4.4

Die zahlreichen ESF-Maßnahmen im Bereich der grünen Arbeitsplätze und der Kompetenzentwicklung lassen sich nicht quantifizieren, da sie weder eine Priorität noch eine Ausgabenkategorie im Sinne von Artikel 2 der ESF-Verordnung darstellen. Angesichts der äußerst weit gefassten Definition grüner Arbeitsplätze (alle Arbeitsplätze können „ökologisiert“ werden) hält es der EWSA nicht für erforderlich, eine sechste spezifische Kategorie für grüne Arbeitsplätze zu schaffen. Er fordert vielmehr, die Leitlinien für die Programme zur beruflichen Anpassung und Umschulung auszuweiten.

4.5

Es ist schwer vorstellbar, dass die existierenden operationellen Programme im aktuellen Finanzplanungszeitraum so geändert werden, dass im Rahmen der EU-Fonds eine Art „europäischer Marshall-Plan“ umgesetzt werden kann. Für den nächsten Programmplanungszeitraum könnten spezifische Maßnahmen vorgesehen werden, mit denen im Rahmen der Europa-2020-Strategie die verschiedenen Strukturfonds entsprechend ausgerichtet würden (EFRE und Kohäsionsfonds auf Infrastrukturen und Wohnungsbau, ESF auf die Förderung von Aus- und Umschulungsprogrammen).

4.6

Im nächsten Finanzplanungszeitraum (2014-2020) könnte die Ökologisierung von Arbeitsplätzen über das Querschnittsziel der nachhaltigen Entwicklung hinaus als eine besondere Priorität des ESF verankert werden, wodurch die Durchführung der entsprechenden Projekte konkreter gefördert und genauer verfolgt werden könnte. Dies ist nicht unbedingt die wirksamste Option. Der EWSA ist der Ansicht, dass alle Maßnahmen, die auf die Reduzierung der ökologischen Auswirkungen und des CO2-Fußabdrucks abzielen, politikübergreifend gefördert werden sollten. Sämtliche Produktionstätigkeiten wie auch die öffentlichen und privaten Dienste müssen ihren Beitrag leisten zur Verwirklichung der Ziele der Treibhausgasreduzierung und der Begrenzung der durch den Menschen verursachten Umweltverschmutzung auf ein Niveau, das mit der nachhaltigen Entwicklung vereinbar ist.

4.7

Die Kommission beteiligt sich aktiv an Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten gemäß den Verpflichtungen der EU. Die GD EMPL hat vor kurzem unter den Behörden, die die vom ESF finanzierten Projekte verwalten, eine Umfrage bezüglich der Kompetenzen und der Ökologisierung von Arbeitsplätzen sowie eine Studie über den ESF und die nachhaltige Entwicklung in Angriff genommen. Diese Dokumente sollten im ESF-Ausschuss verteilt und erörtert werden. Der EWSA hofft, dass sie veröffentlicht und in eine Ad-hoc-Mitteilung der Kommission einfließen werden, in der auch die Ergebnisse des derzeit von der GD EMPL erarbeiteten Arbeitsdokuments über grüne Arbeitsplätze berücksichtigt werden. In dieser Mitteilung sollten die verschiedenen Möglichkeiten zur „Förderung grüner Arbeitsplätze“ untersucht werden, um diesbezügliche Entscheidungen im nächsten Finanzplanungszeitraum vorzubereiten.

5.   Umweltbelastende Arbeitsplätze kontra grüne Arbeitsplätze

5.1

Der Übergang wird auch den Verlust zahlreicher Arbeitsplätze zur Folge haben. Die neue soziale Markwirtschaft der EU darf nicht die betroffenen Arbeitnehmer im Stich lassen. Zu den Initiativen, die ergriffen werden müssen, gehören u.a. Maßnahmen zur Umschulung und Einkommensstützung und Mittel zur Förderung der geografischen Mobilität. Im Mittelpunkt des sozialen Dialogs auf europäischer Ebene, zwischen Gewerkschaften und Branchen sowie auf nationaler und regionaler Ebene muss die vorausschauende Steuerung des Wandels mit Blick auf ein integratives Entwicklungsmodell stehen.

5.2

Für die Arbeitsbeziehungen, bei denen ehrgeizige und gemeinsame Ziele verfolgt werden müssen, um das Wirtschaftssystem zu stärken und in sozialer und ökologischer Hinsicht nachhaltiger zu gestalten, ist ein kooperatives und partizipatives Modell erforderlich.

5.3

Über die neuen Berufe hinaus müssen die alten grundlegend geändert und alle ein wenig „grüner“, d.h. nachhaltiger gestaltet werden. Bei allen Unternehmen und öffentlichen und privaten Arbeitsplätzen sollten Energieeffizienzprogramme durchgeführt werden. Dank eines neuen Bewusstseins für einen gemäßigteren Verbrauch werden Ressourcen frei, die anderweitig eingesetzt werden können. Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften über messbare Ziele und die Aufteilung von Gewinnen auf Unternehmen und Arbeitnehmer können eine sinnvolle Methode zur umfassenden Sensibilisierung für die Bedeutung von Energiesparmaßnahmen sein.

6.   Inner- und außerstädtische Mobilität

6.1

Im Einklang mit einer Politik der Reduzierung der Treibhausgasemissionen muss dem öffentlichen Verkehr - Bus, S- und U-Bahn und außerstädtische Zugverbindungen - Vorrang gegeben werden. Wenn die Bürger davon abgebracht werden können, ihr Privatfahrzeug zu benutzen, werden mehr Arbeitsplätze im Bereich der öffentlichen Verkehrsmittel geschaffen, die immer umweltfreundlicher gemacht werden sollten. In Europa werden im Stadtverkehr bereits Elektrobusse sowie mit „grünem Wasserstoff“ und mit emissionsarmen Kohlenwasserstoffen wie Methan betriebene Busse eingesetzt. Behörden haben die Aufgabe, umweltfreundliche Verkehrsmittel zu fördern, indem sie diesen Verkehrsträgern bei Ausschreibungen den Vorzug geben.

6.2

Die Experimente im Bereich des Mobilitätsmanagements in Unternehmen haben in einigen Fällen signifikante Ergebnisse hervorgebracht. Diese Methoden sollten verbreitet und ihre Effizienz gesteigert werden. Auch sollte die Tätigkeit des „grünen Managers“ gefördert werden, der die Aufgabe hat, die Umweltauswirkungen und Emissionen eines Unternehmens zu reduzieren, und zwar nicht nur während des Produktionszyklus, sondern auch in Büros, beim Transport der Erzeugnisse und bei der Beschaffung von Rohstoffen oder Halbfertigprodukten (durch die Bevorzugung lokaler Lösungen).

6.3

Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene neue digitale Agenda kann auch einen signifikanten Beitrag zum grünen Wachstum, zur grünen Wirtschaft und zur Ökologisierung von Arbeitsplätzen leisten. In vielen Fällen könnte die Telearbeit zu grüneren Arbeitsplätzen beitragen, da sie den Energieverbrauch für die Fahrten zwischen Wohnort und Arbeitsplatz erheblich senkt. Die europäischen Sozialpartner haben bereits vor längerem dazu ein Rahmenabkommen ausgehandelt. Die Kommission sollte die Telearbeit durch entsprechende Fördermaßnahmen zur Verbreitung dieser Arbeitsform wirkungsvoll unterstützen. Im Rahmen der Maßnahmen zur Emissionssenkung sollten Informationskampagnen, Konferenzen sowie Studien über die Entwicklung von Geschäftstätigkeiten und bewährte Verfahren vorgesehen werden. Sollten die modernen Technologien dazu führen, dass die Beschäftigten eine Vielzahl ihrer beruflichen Tätigkeiten von daheim ausüben, und sollte dabei die Qualität mehr Gewicht als die Quantität erhalten, dann sollte das Augenmerk auf die besonderen Arbeitsbedingungen dieser Personen gerichtet werden.

7.   Zivilgesellschaft und Förderung grüner Arbeitsplätze

7.1

Die Zivilgesellschaft spielt zweifelsohne eine äußerst wichtige Rolle bei der Meisterung der gewaltigen Herausforderung, vor der wir stehen. Der EWSA ist davon überzeugt, dass die Ergebnisse nicht den Erwartungen entsprechen werden und Europa die durch die neue Entwicklung eröffnete Chance endgültig verpassen wird, wenn die Behörden, angefangen bei den EU-Institutionen, nicht alles daran setzen, die Sozialpartner einzubeziehen, ihnen eine aktive und proaktive Rolle zu geben, sie an Initiativen und Projekten zu beteiligen und sie in ihren Bemühungen um eine nachhaltige Wirtschaft zu unterstützen.

Brüssel, den 16. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 347 vom 18.12.2010, S. 1.

(2)  ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 15-19.

(3)  ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 43, ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 65-68 und ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 51-55.

(4)  Siehe die Stellungnahme des EWSA vom 14. Juli 2010 zum Thema „Förderung nachhaltiger grüner Arbeitsplätze für das Energie- und Klimapaket der EU“, Berichterstatter: Edgardo Maria IOZIA, Verabschiedung auf der Plenartagung am 14./15. Juli 2010.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/21


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Situation der tropischen Thunfischflotte der Europäischen Union und künftige Herausforderungen“ (Sondierungsstellungnahme)

2011/C 48/05

Berichterstatter: Gabriel SARRÓ IPARRAGUIRRE

Der spanische EU-Ratsvorsitz beschloss am 20. Januar 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

„Die Situation der tropischen Thunfischflotte der Europäischen Union und künftige Herausforderungen“ (Sondierungsstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 31. August 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 118 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss betrachtet die hohen Anforderungen, die durch Vorschriften der EU an soziale und gesundheitliche Standards, Lebensmittelsicherheit, Umweltschutz, Rechtsnormen, Sicherheit der Seeschifffahrt, verantwortungsvolle Regierungsführung und Kontrolle gestellt werden, als ein herausragendes Beispiel für umsichtige und nachhaltige Bewirtschaftung von Ressourcen.

1.2

Andererseits erhöht die Anwendung der genannten Grundsätze die Kosten eines Erzeugnisses, das auf dem Markt mit denen anderer Länder, die in jeder Hinsicht weniger strenge Maßstäbe anlegen, konkurrieren muss. Die EU sollte sich deshalb weiterhin für die Anwendung all der genannten Grundsätze durch die Fangflotten der übrigen Welt im Sinne einer Angleichung nach oben mit dem EU-Standard als Bezugspunkt für die übrigen Akteure einsetzen.

1.3

Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass die größte Herausforderung für den EU-Thunfischfang in tropischen Gewässern darin besteht, seine Existenz in einem Umfeld zu sichern, das von unlauterem Wettbewerb und einem durch die EU selbst geschaffenen ungünstigen Rechtsrahmen geprägt ist.

1.4

Auf internationaler Ebene besteht die Herausforderung für Europa in der Anwendung fester Rechtsvorschriften, die einen freien, aber fairen Wettbewerb fördern. Von grundlegender Bedeutung ist die Ausarbeitung einer integrierten und in jeder Hinsicht kohärenten EU-Politik, die es gestattet, die Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit des EU-Thunfischfangs in tropischen Gewässern in wirtschaftlicher, sozialer wie ökologischer Hinsicht zu sichern, und zwar ganz im Sinne des 1992 in Rio de Janeiro unterzeichneten Übereinkommens über die biologische Vielfalt.

1.5

Im Hinblick auf die Piraterie fordert der Ausschuss die Mitgliedstaaten und den Rat auf, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um in das Mandat der Antipiraterie-Operation „Atalanta“ im Indischen Ozean insbesondere den Schutz der Thunfischflotte einzubeziehen.

1.6

Der Ausschuss betrachtet die Aufrechterhaltung der partnerschaftlichen Fischereiabkommen (PFA) als grundlegend für die weitere Tätigkeit der tropischen Thunfischflotte der EU. Er fordert die Kommission auf, das Geflecht der Thunfischabkommen gemäß den Bedürfnissen der EU-Fangflotte zu erweitern und dringend zu prüfen, ob eine Ausnahme von der Ausschließlichkeitsklausel der PFA in dem Sinne gemacht werden kann, dass die EU-Flotte auch private Fanglizenzen erwerben kann, sofern es der Zustand der Fischereiressourcen nach dem neuesten wissenschaftlichen Kenntnisstand erlaubt.

1.7

Die Führungsrolle der EU in den regionalen Fischereiorganisationen (RFO) zur Förderung der Grundsätze verantwortungsbewusster und nachhaltiger Fischerei ist von entscheidender Bedeutung, um zu einer angemessenen Bewirtschaftung der weltweiten Fischbestände zu gelangen. Der Ausschuss ist der Ansicht, dass Europa seine Anstrengungen auf diesem Gebiet verstärken sollte.

1.8

Die Beibehaltung des Präferenzsystems für die AKP-Staaten und des APS+ ohne Abänderungen wie die vor kurzem erfolgte, für Verzerrungen auf dem Weltmarkt für Thunfisch sorgende Einräumung des Ursprungsstatus für Papua-Neuguinea und die Fidschi-Inseln ist von grundlegender Bedeutung für die Sicherung des Fortbestehens der Branche in der EU und ihrer Investitionen in Drittländern. Angesichts möglicher Störungen im europäischen Thunfischsektor ist der Ausschuss der Ansicht, dass die Überwachungs- und Schutzmaßnahmen geprüft und gegebenenfalls angewendet werden sollten, die in dem zwischen der Europäischen Union und den Pazifikstaaten geschlossenen Interim-Partnerschaftsabkommen vorgesehen sind.

1.9

Die Aufrechterhaltung von EU-Zöllen auf verarbeitete Thunfischerzeugnisse ist von entscheidender Bedeutung für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Branche in der EU. Nach Meinung des Ausschusses sollten sowohl im Rahmen der WTO als auch bei Handelsverhandlungen der EU mit Drittländern Anstrengungen unternommen werden, um ein höchstmögliches Schutzniveau zu erzielen.

1.10

Angesichts dessen ist der Ausschuss der Ansicht, dass die EU-Institutionen den Grundsatz der Gemeinschaftspräferenz verteidigen sollten. Des Weiteren vertritt er die Auffassung, dass die Ausgleichszahlungen für den von der EU-Fangflotte an die verarbeitende Industrie gelieferten tropischen Thunfisch wieder auf ihr ursprüngliches Niveau, d.h. 93 % des EU-Referenzpreises, gebracht werden sollten, da ihr Wert in den letzten Jahren deutlich abgenommen hat und bis auf 87 % des Erzeugerpreises gesunken ist.

2.   Derzeitige Situation der EU-Fangflotte für tropischen Thunfisch

2.1

In Europa entwickelte sich der Thunfischfang seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Spanien und Frankreich, um die wachsende Nachfrage der den Binnenmarkt beliefernden Konservenindustrie zu decken. Zunächst handelte es sich dabei um die Küstenfischerei nach Weißem Thun (Thunnus alalunga). Im Laufe der Zeit und im Zuge des technischen Fortschritts wurde die Fischerei nach Süden ausgeweitet, um dort tropische Thunfischarten wie Gelbflossenthun (Thunnus albacares), Echten Bonito (Katsuwonus pelamis) und in geringerer Zahl Großaugenthun (Thunnus obesus) zu fangen. Nachdem zunächst Gewässer in der Nähe Frankreichs, Spaniens und Portugals befischt wurden, steuerten die Fangschiffe in den 1960er und 1970er Jahren die westafrikanischen Küstengewässer, im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre den Indischen Ozean und den Ostpazifik und zu Beginn des 21. Jahrhunderts schließlich auch den Westpazifik an.

2.2

Die Befischung tropischer Thunfischarten durch die Ringwadenflotte der EU erfolgt pelagisch und selektiv. Fangziele sind die großen Thunfischschwärme, die sich im tropischen Gürtel der drei großen Ozeane konzentrieren. Der Fang erfolgt auf hoher See oder in den ausschließlichen Wirtschaftszonen von Drittländern.

2.3

Die aufgrund ihres hohen Nährwerts äußerst geschätzten Thunfischarten zählen in vielen Ländern der Welt zur Grundnahrung, werden weltweit in großen Mengen gehandelt und stellen eine wichtige Einnahmequelle für die mit Fang, Verarbeitung und Vermarktung befassten Länder dar.

2.4

Dies erklärt, warum der Thunfischfang in bestimmten Ländern eine äußerst bedeutende Wirtschaftstätigkeit ist. Die weltweite Fangmenge tropischer Thunfischarten beläuft sich unter Berücksichtigung sämtlicher Fangtechniken gegenwärtig auf über 4 Mio. t/Jahr, wobei etwa 2 Mio. t auf die Ringwadenfischerei entfallen. Die Bestände dieser Arten befinden sich im Allgemeinen in gutem Zustand, da die jeweiligen RFO für jeden Ozean angemessene Bewirtschaftungsprogramme unterhalten.

2.5

Die EU-Flotte umfasst 54 Thunfischwadenfänger/Froster (34 spanische und 20 französische Schiffe), die jährlich zusammen etwa 400 000 t fangen, was etwa 10 % der weltweiten Fangmenge entspricht.

2.6

Der Großteil dieser Schiffe operiert in internationalen Gewässern auf der Grundlage von dreizehn bestehenden partnerschaftlichen Fischereiabkommen zwischen der EU und Drittländern (davon sechs im Bereich des Atlantiks, vier im Gebiet des Indischen Ozeans und drei im Pazifikraum).

2.7

Weltweit befischen etwa dreißig Länder mit insgesamt etwa 580 Fangschiffen den tropischen Thunfisch, wobei die Gesamtkapazität dieser Schiffe eine BRZ (1) von 650 000 erreicht. Auf die EU-Ringwadenflotte (BRZ: 97 500) entfallen dabei 9 % der Schiffe sowie 15 % der weltweiten Kapazität der Wadenfischerei nach Thun.

2.8

Die wichtigsten Fanggründe für tropischen Thun liegen im Pazifik, auf den 67 % der weltweiten Fangmengen entfallen, gefolgt vom Indischen Ozean (22 %) und dem Atlantik (11 %).

2.9

Der tropische Thunfischfang wird durch vier spezifische regionale Fischereiorganisationen (RFO) geregelt:

2.9.1

die ICCAT (International Commission for the Conservation of Atlantic Tuna – Internationale Kommission zur Erhaltung der Thunfischbestände im Atlantik), die den Thunfischfang im Atlantischen Ozean und den angrenzenden Meeren, z.B. dem Mittelmeer, verwaltet (1969 gegründet);

2.9.2

die IOTC (Indian Ocean Tuna Commission – Thunfischkommission für den Indischen Ozean), die den Thunfischfang im Indischen Ozean regelt (1997 gegründet);

2.9.3

die IATTC (Inter-American Tropical Tuna Commission – Interamerikanische Kommission für tropischen Thunfisch), die für den Ostpazifik (amerikanische Seite) zuständig ist (1949 gegründet);

2.9.4

die WCPFC (Western and Central Pacific Fisheries Commission - Fischereikommission für den westlichen und mittleren Pazifik), die den Thunfischfang im mittleren und westlichen Pazifik (Ozeanien und Asien) regelt (2004 gegründet).

2.10

Die EU-Flotte unterliegt zahlreichen administrativen Kontrollen durch verschiedene einzelstaatliche Ministerien wie auch Generaldirektionen der Europäischen Kommission. Um unter der Flagge eines Mitgliedstaats der EU fahren und seine Erzeugnisse in den Handel bringen zu dürfen, muss ein Schiff die verwaltungstechnischen Anforderungen für den Erwerb der geforderten Zertifikate in Bezug auf BRZ, Laderaum, Maschinen, Tiefkühlanlage, Besatzung, Seetauglichkeit, Seenotrettung, Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz, veterinärrechtliche Zulassung, besondere Fangerlaubnisse, Fanglizenzen der Länder, in deren Hoheitsgewässern es operiert, Satellitenüberwachung, Kontrollen durch Beobachter an Bord, Fangkontrollen mittels elektronischer Logbücher, Absatzkontrollen usw. erfüllen. Die Aufrechterhaltung dieser Zertifikate, Genehmigungen und Lizenzen erfordert tägliche Verwaltungsaufgaben, jährliche Erneuerungen und periodische Überprüfungen, wie sie in diesem Ausmaß von keiner anderen Fischereiflotte der Welt geleistet werden müssen. All diese Anforderungen erhöhen in erheblichem Maße die Betriebskosten der EU-Fangflotten.

2.11

Darüber hinaus unterliegt die EU-Ringwadenflotte beim Thunfischfang im Gegensatz zu den Flotten von Drittländern den Bestimmungen der Gemeinsamen Fischereipolitik. Die Beachtung der Grundsätze dieser Politik, die auf verantwortungsbewusster Fischerei, den Empfehlungen der RFO sowie der Einhaltung der Vorschriften in Bezug auf Hygiene, Seeschifffahrt, Sicherheit, Umwelt und sozialen Schutz der Arbeitnehmer basiert, erhöht für die europäischen Reedereien die Kosten und verringert so ihre Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu Schiffen aus Ländern, die diesen Bestimmungen nicht unterliegen oder sie weniger streng handhaben.

2.12

In den letzten Jahren sah sich die EU-Flotte zudem zunehmend stärker mit Problemen durch die Piraterie im Indischen Ozean konfrontiert. Diese Situation führt - neben der Furcht und Unsicherheit der Besatzungen auf den Thunfischfängern, die eine legitime unternehmerische Tätigkeit ausüben - zu einer Verringerung der Fangmengen bei steigenden Betriebskosten durch an Bord der Schiffe zu unterhaltende Sicherheitsdienste.

2.13

Der Großteil der tropischen Thunfischproduktion geht an die Konservenindustrie, die als weltweit größte fischverarbeitende Industrie gilt. Europa ist der weltweit bedeutendste Absatzmarkt mit einem jährlichen Verbrauch von 800 000 t eingedostem tropischen Thunfisch, von denen mehr als die Hälfte aus Drittländern eingeführt wird.

3.   Entwicklung der EU-Fangflotte für tropischen Thunfisch

3.1

Die Entwicklung der europäischen Fangflotte für tropischen Thunfisch verlief in den letzten fünfzig Jahren parallel zu jener der europäischen Verabeitungsindustrie für tropischen Thunfisch.

3.2

Thunfisch war das erste Fischereierzeugnis, das zum Schutz der verarbeitenden Industrie vollständig vom gemeinschaftlichen Zollsatz befreit wurde. Die damalige EWG führte Ausgleichszahlungen ein, durch die den Reedereien die Differenz zwischen dem Verkaufspreis und 93 % des jährlich neu festgelegten Referenzpreises erstattet wurde. Aufgrund der späteren Senkung dieses Prozentsatzes auf 87 % kam es in den letzten Jahren nicht mehr zu derartigen Ausgleichszahlungen an EU-Reedereien, sodass das System heute völlig wirkungslos ist.

3.3

Flotte und Konservenindustrie der EU leisten im Rahmen der EU-Handelspolitik seit vielen Jahren einen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung von Drittländern. In diesem Zusammenhang wurde durch die Abkommen von Yaundé, Lomé und Cotonou ein stabiler Rahmen für den Handel zwischen den AKP-Staaten und der EU geschaffen. Ebenso wurde durch die Sonderregelung zum System allgemeiner Zollpräferenzen (APS+) der Handel zwischen der EU und ihren Handelspartnern in Mittelamerika und in der Andengemeinschaft befördert.

3.4

Im Rahmen von Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) haben die AKP-Staaten beim Export ihrer Produkte aus tropischem Thunfisch (ganzer Thunfisch, Thunfischfilets und Thunfischkonserven) zollfreien Zugang zum EU-Markt. Diese Bedingungen haben es der thunfischverarbeitenden Industrie der EU ermöglicht, Direktinvestitionen in den Staaten Côte d'Ivoire, Ghana, Madagaskar, Seychellen und Mauritius sowie indirekte Investitionen in Kenia und Senegal zu tätigen, die in jenen Ländern zur Schaffung von mehr als 40 000 Arbeitsplätzen beigetragen und den Technologietransfer gefördert haben.

3.5

Darüber hinaus wurde von der EU eine Sonderregelung des Allgemeinen Präferenzsystems (APS+) eingerichtet, um diese günstigen Handelsbedingungen auf die Länder Mittel- und Südamerikas auszuweiten, für deren Fischereierzeugnisse ein ermäßigter Zollsatz von 0 % gilt. Europäische Investitionen flossen dabei unter anderem nach Ecuador, El Salvador, Guatemala, Brasilien (generelles APS oder für Drittländer zu einem Zollsatz von 24 % auf Konserven) und Chile (im Rahmen des Freihandelsabkommens mit der EU), sowie indirekt nach Kolumbien und Venezuela, wodurch sie zur Sicherung von 50 000 direkten Arbeitsplätzen in der Thunfischbranche beitrugen.

3.6

Im Rahmen dieser Abkommen haben EU-Unternehmen einige ihrer Schiffe in Drittländer in Afrika, Amerika und Ozeanien transferiert, wo sie unter der Flagge von Ländern fahren, die von der EU als bevorzugte Partner der Union betrachtet werden und mit deren Wirtschaftsbetrieben sie Fusionen bzw. die Gründung von gemeinsamen Unternehmen empfiehlt.

3.7

Ein Teil der vierhunderttausend Tonnen umfassenden Fangmenge der europäischen tropischen Thunfischflotte werden bei diesen in Drittländern errichteten Betrieben angelandet und dort verarbeitet, wodurch zahlreiche Arbeitsplätze in den Häfen geschaffen, Hafengebühren für das Anlanden und Umladen des Fischs entrichtet und die Fangschiffe in den Häfen mit Erzeugnissen dieser Drittländer versorgt werden, was spürbar zu deren Entwicklung beiträgt.

3.8

Ein Blick auf die EU-Thunfischbranche als Ganze zeigt, dass sich die Flotte und die verarbeitende Industrie gemeinsam entwickelt haben und damit aufgrund zahlreicher gemeinsamer Interessen der europäischen Branchenvertreter der einzige EU-Fischereisektor mit einer branchenübergreifenden transnationalen Struktur entstanden ist. Wie erwähnt, hat die EU-Thunfischbranche im Einklang mit den EU-Leitlinien zahlreiche Investitionen in Drittländern getätigt und dort, wo Länder in die Präferenzsysteme der EU einbezogen sind, zur Steigerung der Wirtschaftstätigkeiten gesorgt.

4.   Herausforderungen für die EU-Fangflotte für tropischen Thunfisch

4.1

Die größte Herausforderung für die Thunfischflotte und die thunfischverarbeitende Industrie der EU ist der ungleiche Wettbewerb mit anderen Wirtschaftsbeteiligten, die ihre Wachstumsziele auf den europäischen Markt ausgerichtet haben, auf dem 50 % der Jahresproduktion (EU plus Drittländer) an eingedostem tropischen Thunfisch verbraucht werden.

4.2

Die weltweite Produktion von Thunfischkonserven beläuft sich jährlich auf 1,6 Mio. t, von denen etwa 330 000 t aus der EU stammen (2).

4.3

Hauptkonkurrenten der europäischen Thunfischflotte sind die asiatischen Ringwadenflotten, die im ertragreichsten Fanggrund der Welt, dem Pazifischen Ozean, operieren, auf den mehr als 60 % der weltweiten Fangmengen an tropischem Thunfisch entfallen. Ein Großteil der Fänge dieser Flotten wird in das Dreieck Thailand-Philippinen-Indonesien geliefert, der Region mit der weltweit größten thunfischverarbeitenden Industrie. Die dort hergestellten Erzeugnisse sind zwar von minderer Qualität, jedoch vom Preis her auf dem europäischen Markt äußerst wettbewerbsfähig, auf dem sie trotz eines Zolltarifs von 24 % bereits einen Anteil von 35 % erreichen.

4.4

Auch die thunfischverarbeitende Industrie leidet - ähnlich wie oben für die Flotte beschrieben - unter dem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Drittstaaten, die weder zu den AKP noch den vom APS+ begünstigten Staaten gehören. In den meisten Fällen sind der Einkauf kostengünstigerer Rohstoffe, niedrigere Steuern, Lohnkosten und Zahlungen für die soziale Sicherheit der Beschäftigten sowie geringere Gesundheitsgarantien der hergestellten Erzeugnisse Faktoren, die zweifellos die Produktionskosten senken und einen im Vergleich zu europäischen Erzeugnissen niedrigeren Verkaufspreis der Importware ermöglichen.

4.5

Generell lassen sich weltweit zwei unterschiedliche Systeme der Thunfischproduktion unterscheiden. Auf der einen Seite steht das durch die EU-Flotte bzw. die EU-Investitionen in Drittländern (AKP bzw. APS) repräsentierte System, in dem die verarbeitende Industrie Europas bzw. der AKP/APS-Staaten beliefert werden und in dem maximale Standards für Sicherheit am Arbeitsplatz, Sozialschutz, Lebensmittelsicherheit und Umweltschutz sowie die Beachtung der Regeln für eine verantwortungsbewusste Fischerei gelten. Das andere, zunehmend weiter ausgreifende System ist das der Flotten und Industrien, in denen der Gedanke der Nachhaltigkeit kaum Beachtung findet und in dem in den Bereichen Arbeit, Soziales und Gesundheit weitaus niedrigere Standards gelten.

4.6

Ebenso wie die AKP- bzw. APS-Staaten, denen für die Einbeziehung in eines der Präferenzsysteme der EU zur Bedingung gemacht wird, einer Reihe von internationalen Übereinkommen beizutreten, in denen die genannten Aspekte geregelt werden, sollte auch der Marktzugang der übrigen in die EU exportierenden Länder an die Erfüllung dieser Standards geknüpft werden, um so einen fairen Wettbewerb mit den Erzeugnissen der EU und ihrer bevorzugten Partner zu gewährleisten.

4.7

Eine weitere Hauptgefahr für den Fortbestand der Thunfischbranche der EU sind Änderungen der europäischen Rechtsvorschriften zur Regelung des empfindlichen Gleichgewichts auf dem Weltmarkt für Thunfisch. Diese Rechtsvorschriften haben über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen eine Schlüsselrolle dabei gespielt, Investitionen und Entwicklungen der europäischen Thunfischbranche in die von der EU als vorrangige Partner benannten Länder zu lenken.

4.8

Dieser Entwicklungsrahmen, der sich für die Thunfischbranche als besonders wirkungsvoll erwiesen hat, ist durch die WTO-Verhandlungen, die mögliche Unterzeichnung von Freihandelsverträgen der EU mit anderen Ländern bzw. Ländergruppen und die jüngste Abänderung der Ursprungsregeln, durch die Papua-Neuguinea und den Fidschi-Inseln der Ursprungsstatus eingeräumt wird (3), gefährdet.

4.9

Sowohl in den WTO-Verhandlungen als auch in bilateralen Verhandlungen besteht die größte Gefahr für den Thunfischsektor in der Abschaffung der Einfuhrzölle auf verarbeitete Thunfischerzeugnisse. Die Einfuhr von ganzem gefrorenem Thunfisch wurde bereits vor über dreißig Jahren vollständig liberalisiert (mit einem Zolltarif von Null), um die Versorgung der europäischen verarbeitenden Industrie sicherzustellen, weshalb die Flotte der EU gezwungen ist, in einem offenem Wettbewerb mit anderen Flotten, die den europäischen Markt mit ganzem gefrorenem Thunfisch beliefern, zu bestehen. Eine Ausweitung der Liberalisierung auch auf verarbeitete Thunfischerzeugnisse würde indes nur den fortschreitenden Niedergang der EU-Branche und den Verlust von Arbeitsplätzen und Wirtschaftstätigkeiten zugunsten außereuropäischer Wettbewerber mit geringeren Kosten befördern.

4.10

Der Papua-Neuguinea und den Fidschi-Inseln im Rahmen der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit Pazifikstaaten eingeräumte Ursprungsstatus für Fischereierzeugnisse zerstört das Gleichgewicht auf dem Weltmarkt für Thunfisch, was katastrophale Folgen für die EU-Branche und die übrigen AKP- und APS-Länder hat. Der Verzicht auf die Forderung, dass in Papua-Neuguinea oder Fidschi verarbeiteter Thunfisch aus AKP- bzw. EU-Staaten stammen muss, um zollfrei auf den europäischen Markt gebracht werden zu dürfen, veranlasst die wichtigsten Wettbewerber, vornehmlich aus dem asiatischen Raum, neue Verarbeitungsanlagen in Papua-Neuguinea zu errichten.

4.11

Mit diesem Zugeständnis fördert die EU die Überfischung der bereits bis an ihre Grenze belasteten Thunfischbestände im Pazifik. Überdies handelt es sich bei den Unternehmen, die zollfreien Zugang zum europäischen Markt erhalten werden, hauptsächlich um asiatische Firmen, denen ein Anreiz geboten wird, die Produktionskapazitäten für Konserven in einem bereits von Preisverfall durch Überangebot betroffenen Markt weiter zu erhöhen. Die europäische Präsenz im westlichen und mittleren Pazifik ist dem politischen Willen der durch Papua-Neuguinea angeführten Länder der Forum Fisheries Agency entsprechend auf vier Thunfischfänger begrenzt.

4.12

Das Zugeständnis stellt zudem eine Benachteiligung der übrigen AKP- und APS-Länder dar, da es Papua-Neuguinea und Fidschi einen einseitigen Vorteil im Hinblick auf die Möglichkeit des Erwerbs preisgünstiger Rohstoffe verschafft, da erstere die Ursprungsregeln beachten müssen, letztere hingegen nicht. Auch lässt sich mutmaßen, dass damit eine Möglichkeit bereitsteht, aus illegaler Fischerei stammende Erzeugnisse zu legalisieren.

4.13

Eine weitere Herausforderung, vor der die europäische tropische Thunfischflotte steht, ist die Aufrechterhaltung des Geflechts von Fischereipartnerschaftsabkommen. Dieses Geflecht ist von grundlegender Bedeutung, da es der EU-Flotte in einem weltweit einmaligen Rahmen der Rechtssicherheit und Transparenz den Zugang zu den Beständen weit wandernder Fischarten garantiert. Tropischer Thunfisch konzentriert sich räumlich und zeitlich nicht nach einem festgelegten Bewegungsmuster, weshalb für die Tätigkeit der Thunfischflotte eine möglichst große Zahl von Fischereiverträgen im Bereich der drei großen Ozeane erforderlich ist.

4.14

Derzeit besteht ein großer Mangel an Fanglizenzen für Thunfischfroster im Atlantik, u.a. wegen der geringeren Anzahl von Abkommen in den vergangenen Jahren und vor allem wegen der Piraterie im Indischen Ozean, die dazu geführt hat, dass einige Schiffe, die dort gefischt hatten, ihre Zuflucht im Atlantik suchen, wo die Fischerei noch unter Mindestsicherheitsstandards ausgeübt werden kann. Deshalb hält es der Ausschuss für unerlässlich, dass die EU bei allen Fischereipartnerschaftsabkommen im Atlantik von den Anrainerstaaten eine Erhöhung des Kontingents an Lizenzen fordert, sofern es der Zustand der Fischereiressourcen nach dem neuesten wissenschaftlichen Kenntnisstand erlaubt.

4.15

Da sich eine solche Erhöhung zeitlich mehr als gewünscht hinziehen kann, weil sie nicht ausschließlich von der EU abhängt, empfiehlt der EWSA dringend, die Möglichkeit einer Ausnahme von der Ausschließlichkeitsklausel zu prüfen (sie verwehrt den EU-Reedern, in den Ländern, mit denen ein Fischereipartnerschaftsabkommen besteht, private Fanglizenzen zu erwerben), damit die EU-Flotte private Fanglizenzen erwerben kann, sofern es der Zustand der Fischereiressourcen nach dem neuesten wissenschaftlichen Kenntnisstand erlaubt.

4.16

Die Vertreter der tropischen Thunfischflotte sind daher der Ansicht, dass die Union im Einklang mit den Schlussfolgerungen des Rates von 2004 die Bedeutung der Partnerschaftsabkommen für den Fischfang im Rahmen der Reform der GFP festigen und eine Politik der Ausweitung des Geflechts der Abkommen mit den wichtigsten Anrainerstaaten jedes Ozeans betreiben sollte, indem sie neue Abkommen mit folgenden Ländern schließt:

Atlantik: Senegal, Guinea, Sierra Leone, Liberia, Ghana, Äquatorialguinea und Angola.

Indischer Ozean: Kenia, Tansania, französische Inseln in der Straße von Mosambik, britische Territorien im Indischen Ozean und Jemen.

Pazifik: Ecuador, Kolumbien, Peru, Panama, Costa Rica sowie ein regionales Abkommen mit der Forum Fisheries Agency.

4.17

Zudem halten die Vertreter der tropischen Thunfischflotte der Gemeinschaft die weitere Präsenz der EU in den regionalen Fischereiorganisationen (RFO) für Thunfisch für unverzichtbar, um auch in Zukunft Maßstäbe für verantwortungsbewusste Fischerei setzen zu können, wie dies gegenwärtig (unterstützt durch das Verhalten ihrer Thunfischflotte) der Fall ist.

4.18

Neben Japan und Korea ist nur noch die EU Vertragspartner in allen vier RFO für Thunfisch (ICCAT, IOTC, IATTC, WCPFC). Sie muss deshalb die Mechanismen nutzen, die es ihr gestatten, die Grundsätze verantwortungsbewusster Fischerei auf kohärente und objektive Weise zu fördern.

4.19

Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU für ein möglichst einheitliches und kohärentes weltweites Bewirtschaftungssystem eintreten sollte, und zwar als deutliche Antwort auf die Gegebenheiten eines vollständig globalisierten Marktes wie jenem für tropischen Thunfisch, sowie mit dem weiteren Ziel einer künftigen internationalen Organisation zur Regelung aller horizontalen Belange des weltweiten Thunfischfangs. Erste Ansätze für ein solches globales System bot bereits der Kobe-Prozess zur Überprüfung der Funktionsweise der RFO für Thunfisch.

4.20

Bezüglich der Piraterie im Indischen Ozean zeigen sich die Vertreter der europäischen Thunfischflotte äußerst besorgt angesichts der über das gesamte Jahr 2009 hinweg zu beobachtenden und sich auch 2010 fortsetzenden Ausweitung der Piratenangriffe auf Thunfischfänger, die sich immer weiter entfernt von den Hoheitsgewässern Somalias, in einigen Fällen in über 1 000 Seemeilen Entfernung zur somalischen Küste und sogar innerhalb der ausschließlichen Wirtschaftszonen der Seychellen sowie anderer Anrainerländer (Kenia und Tansania) ereignen.

4.21

Die Thunfischflotte ist für Piratenangriffe besonders anfällig. Im Unterschied zu Handelsschiffen, die sich ständig in Fahrt befinden, verharren Fangschiffe während der Fangtätigkeit mit ausgelegten Netzen häufig zwei bis drei Stunden lang an einer Stelle, was das Risiko, von Piraten angegriffen und geentert zu werden, erhöht. Zudem erleichtern der niedrige Freibord und die Heckrampe der Fangschiffe den Piraten das Entern.

4.22

Deshalb muss dringend das Mandat der Antipiraterie-Operation „Atalanta“ (Gemeinsame Aktion 2008/851/GASP des Rates vom 10. November 2008 über die Militäroperation der Europäischen Union als Beitrag zur Abschreckung, Verhütung und Bekämpfung von seeräuberischen Handlungen und bewaffneten Raubüberfällen vor der Küste Somalias) in der Form geändert werden, dass insbesondere auch der Schutz der Thunfischflotte, die im Indischen Ozean operiert, einbezogen wird, um Angriffe und Entführungen zu verhindern, wie es mit den Schiffen „Playa del Bakio“ (2008) und „Alakrana“ (2009) geschah.

4.23

Aufgrund der Knappheit an Fanglizenzen für den Atlantik und den Kontingentierungen, die in den regionalen Fischereiorganisationen des Pazifikraumes vereinbart wurden, haben die EU-Thunfischfänger derzeit große Schwierigkeiten, aus dem Indischen Ozean zu anderen Fanggründen zu wechseln. Darüber hinaus hängen von der Fangtätigkeit der Thunfischflotte im Indischen Ozean zahlreiche Arbeitsplätze in den Reedereien und den Drittländern ab, wo Arbeitnehmer in den Konservenfabriken und Anlegehäfen tätig sind, weshalb ein Verlassen des Indischen Ozeans bedeuten würde, dass nicht nur in der EU, sondern auch auf den Seychellen, in Madagaskar, Kenia, Mauritius usw. zahlreiche Arbeitsplätze verloren gingen.

4.24

Dies sind die Herausforderungen für die tropische Thunfischflotte und die thunfischverarbeitende und Konservenindustrie der EU im Hinblick auf ihr Fortbestehen und die Aufrechterhaltung ihrer weltweiten Präsenz. Sie bedeuten keine finanzielle Belastung für den Europäischen Fischereifonds, sondern erfordern einzig und allein politische Entscheidungen der EU.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Bruttoraumzahl, vom Englischen „Gross Tonnage“ (GT): Maß für den Rauminhalt eines Schiffs.

(2)  FAO 2007.

(3)  Verordnung (EG) Nr. 1528/2007 des Rates vom 20. Dezember 2007 mit Durchführungsbestimmungen zu den Regelungen der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen oder der zu Wirtschaftspartnerschaftsabkommen führenden Abkommen für Waren mit Ursprung in bestimmten Staaten, die zur Gruppe der Staaten Afrikas, des karibischen Raums und des Pazifischen Ozeans (AKP) gehören – Anhang I, Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe a.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/27


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Hin zu einem europäischen Raum der Straßenverkehrssicherheit: Strategische Leitlinien für die Straßenverkehrssicherheit bis 2020“ (Stellungnahme auf Ersuchen des Europäischen Parlaments)

2011/C 48/06

Berichterstatter: Virgilio RANOCCHIARI

Das Europäische Parlament beschloss am 2. Juni 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

Hin zu einem europäischen Raum der Straßenverkehrssicherheit: Strategische Leitlinien für die Straßenverkehrssicherheit bis 2020“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 6. September 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 128 gegen 4 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) weist erneut darauf hin, dass das Ziel des dritten Europäischen Aktionsprogramms für die Straßenverkehrssicherheit – eine Halbierung der Zahl der Verkehrstoten im Zeitraum von 2001 bis 2010 – auch ohne Einrechnung der EU-Erweiterung sehr ehrgeizig war. Tatsächlich war die Zahl der Unfälle mit Todesfolge in der EU-27 offiziellen Angaben aus dem Jahr 2008 zufolge im Vergleich zu 2001 um 28,4 % zurückgegangen. Jüngere Angaben der Kommission zeigen jedoch überraschende Fortschritte, die 2010 im Endergebnis zu einem über 40 %igen Rückgang der Verkehrstotenzahlen führen könnten.

1.2   Die Ursachen für das Nichterreichen des Ziels einer Halbierung der Zahl der Verkehrstoten sind in einer Kombination aus folgenden Faktoren zu suchen:

1.2.1

Die Zuständigkeit der Gemeinschaftsebene beschränkt sich auf das Aktionsprogramm und die Leitlinien für dessen Umsetzung, während die Durchführung aller Maßnahmen im Rahmen des Aktionsprogramms den jeweiligen Ebenen in den Mitgliedstaaten obliegt.

1.2.2

Die Durchführung und Durchsetzung von Maßnahmen für die Straßenverkehrssicherheit ist von Land zu Land unterschiedlich.

1.2.3

Es gibt keine einheitliche Auslegung der statistischen Angaben zur Straßenverkehrssicherheit in den EU-Mitgliedstaaten.

1.2.4

Während des vergangenen Jahrzehnts wurde der Schwerpunkt stärker auf die Durchsetzung als auf die Verkehrserziehung aller Verkehrsteilnehmer gelegt.

1.2.5

Den Mitgliedstaaten wurden keine Zwischenziele vorgegeben; auch wurde den unterschiedlichen Risikoquoten der einzelnen Mitgliedstaaten keine besondere Beachtung geschenkt, die eigentlich einen auf jedes Land spezifisch zugeschnittenen Fahrplan erfordern würden.

1.3   Hinsichtlich der „passiven und aktiven“ Sicherheitsmaßnahmen kommt der EWSA zu dem Schluss, dass im vergangenen Jahrzehnt erhebliche Verbesserungen erzielt wurden, dies vor allem durch die Einführung einer großen Bandbreite technischer Sicherheitsinnovationen in Personenkraftwagen und schweren Nutzfahrzeugen durch die Industrie. Für die Zukunft könnte die Latte für Sicherheitsstandards höher angesetzt werden; auch vor dem Hintergrund der Markteinführung sehr preiswerter Pkw, die die Sicherheitsstandards gerade so eben erfüllen, sollten Maßnahmen ergriffen werden.

1.3.1   Noch schlechter präsentiert sich die Lage bei vornehmlich aus Südostasien importierten preiswerten Mopeds und Motorrädern, die häufig die Anforderungen der europäischen Typgenehmigung nicht erfüllen. Dies ist jedoch unbedingt erforderlich, da das Risiko einer schweren Verletzung im Straßenverkehr für Fahrer motorisierter Zweiräder 18-20mal höher ist als für Autofahrer, während immer mehr Pendler aufgrund der Staus in den Städten motorisierte Zweiräder für den Weg zur Arbeit nutzen.

1.4   Bei der Verbesserung der Sicherheit der Straßeninfrastruktur hätten nach Ansicht des EWSA im vergangenen Jahrzehnt noch weit mehr Fortschritte erzielt werden können. Der wichtigste Schritt europaweit nach vorne war hier die Richtlinie des Rates über die Sicherheit von Tunneln. Im Gegensatz dazu wurden keine bemerkenswerten Verbesserungen in Bezug auf ländliche Straßen und Straßen zweiter Ordnung erzielt, auf denen sich über 50 % der tödlichen Verkehrsunfälle ereignen.

1.5   Wenn das 4. Europäische Aktionsprogramm für die Straßenverkehrssicherheit für den Zeitraum bis 2020 leistungsfähiger sein soll, müssten nach Auffassung des EWSA folgende Aspekte berücksichtigt werden:

1.5.1

angesichts der geteilten Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten ist eine starke politische Führung erforderlich;

1.5.2

für die EU-27 werden harmonisierte und detaillierte statistische Angaben für die Sicherheit im Straßenverkehr benötigt;

1.5.3

für schwere Verletzungen von Straßenverkehrsteilnehmern sollten Ziele und eine gemeinsame Definition schwerer Verletzungen aufgestellt werden;

1.5.4

eine strengere Gemeinschaftspolitik in Bezug auf die Harmonisierung und Regulierung von Maßnahmen für die Straßenverkehrssicherheit und Unterstützung für die Mitgliedstaaten sind erforderlich, um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten diese Maßnahmen besser und rascher umsetzen; auch die verpflichtende Anwendung des europaweiten eCall-Systems sollte ins Auge gefasst werden, wenn ein freiwilliger Ansatz keine Wirkung zeigt;

1.5.5

mehr Aufmerksamkeit sollte einer differenzierten Verkehrserziehung und Schulung aller - insbesondere junger und älterer - Verkehrsteilnehmer sowie anderen ungeschützten Verkehrsteilnehmern (Fahrer motorisierter Zweiräder, Radfahrer und Fußgänger) gewidmet werden;

1.5.6

alle (insbesondere private) Arbeitgeber, die einen Fuhrpark betreiben, sollten in laufende oder künftige Projekte in Bereichen wie etwa Förderung bewährter Verfahrensweisen für die Vermeidung von Zusammenstößen im Berufsverkehr eingebunden werden, ihre Mitarbeiter zum Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel anregen und Maßnahmen für die Sicherheit ihrer Fahrzeugflotten entwickeln. Die erwartete ISO-Norm 39001 für ein Managementsystem für die Straßenverkehrssicherheit wird hier ein wichtiges Instrument sein;

1.5.7

für die ungeschützten Verkehrsteilnehmer sind EU-Rechtsvorschriften erforderlich. Beispielsweise wird für motorisierte Zweiräder eine neue Typgenehmigung gebraucht, einschließlich verpflichtendem ABS oder CBS für Fahrzeuge über 150 ccm sowie automatischer Scheinwerfereinschaltung und die Einführung einer technischen Überwachung sowie die Aufnahme einer Zwei-Phasen-Ausbildung in die Überarbeitung der Führerscheinrichtlinie;

1.5.8

hinsichtlich des Ausbaus der Infrastruktur empfiehlt der EWSA, dass das neue Aktionsprogramm das Ziel enthalten sollte, das Sicherheitsniveau des transeuropäischen Straßennetzes anzuheben und mindestens 25 % der Straßen, die nicht Teil dieses Netzes sind, auf den Stand dieses Straßennetzes zu bringen;

1.5.9

das Aktionsprogramm sollte zwar ehrgeizige, aber auch realistische Ziele enthalten und nicht nur ein globales Ziel für die Verringerung der Zahl der Verkehrstoten insgesamt, sondern auch spezifische Ziele für die Verringerung der Zahl Schwerverletzter und der Zahl verletzter ungeschützter Straßenverkehrsteilnehmer, wie etwa Fußgänger, Radfahrer und Fahrer motorisierter Zweiräder, vorschlagen. Mit Blick auf dieses globale Ziel weist der EWSA darauf hin, dass die Risikoquoten in der EU sehr große Unterschiede aufweisen, und empfiehlt daher eindringlich, differenzierte Ziele für die Verringerung der Zahl der Verkehrstoten bis 2020 auf der Grundlage der Zahlen der Mitgliedstaaten von 2010 aufzustellen;

1.5.10

um sicherzustellen, dass die im Aktionsprogramm festgelegten Ziele tatsächlich erreicht werden, hält der EWSA eine jährlich durchgeführte Kontrolle durch die EU für erforderlich. Zu diesem Zweck schlägt der EWSA vor, eine Europäische Agentur für Straßenverkehrssicherheit zu errichten, um in Abstimmung mit von den Mitgliedstaaten bestellten Vertretern für die Straßenverkehrssicherheit die Umsetzung des Aktionsprogramms zu beobachten und weiterzuverfolgen.

1.6   Und schließlich muss die EU eine starke und dauerhafte Verknüpfung zu dem von den Vereinten Nationen ausgerufenen „Jahrzehnt der Verkehrssicherheit“ schaffen und sollte sich bemühen, zum globalen Vorreiter für Sicherheit im Straßenverkehr zu werden.

2.   Einleitung

2.1   In einem Schreiben vom 28. April 2010 an den Präsidenten des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, Mario SEPI, ersuchte Brian SIMPSON, der Vorsitzende des Ausschusses für Verkehr und Fremdenverkehr des Europäischen Parlaments (TRAN), den EWSA gemäß Artikel 124 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema Verkehrssicherheit.

2.2   In seinem Schreiben verwies Herr SIMPSON auf das neue Arbeitsprogramm der Kommission für 2010, das am 31. März 2010 veröffentlicht wurde und einen Vorschlag zur Entwicklung eines neuen Verkehrssicherheitspakets enthält, mit dem ein „Europäischer Raum der Straßenverkehrssicherheit“ geschaffen werden soll.

2.3   Er bat den EWSA, sich einiger grundlegender Fragen zum vergangenen Jahrzehnt anzunehmen: Wie wirksam waren die Maßnahmen auf EU-Ebene für die Herbeiführung einer Änderung des Verhaltens der Straßenverkehrsteilnehmer und für die Verbesserung der passiven Sicherheit von Fahrzeugen und der Straßeninfrastruktur? Wie gut wurden die Maßnahmen von den Mitgliedstaaten umgesetzt und was wäre erforderlich, um einen echten „Raum der Straßenverkehrssicherheit“ in allen 27 EU-Mitgliedstaaten zu schaffen?

2.4   2001 legte die Kommission ihr Verkehrsweißbuch vor, 2003 folgte das Aktionsprogramm; beide basieren auf dem Ziel, die Zahl der Verkehrstoten bis zum Jahr 2010 zu halbieren.

2.5   Die jüngsten verfügbaren Angaben aus dem Jahr 2008 zeigen eine Verringerung um 36,8 % bei den im Straßenverkehr Getöteten in der EU-15 und eine Verringerung um 28,4 % in der EU-27 im Vergleich zu den Zahlen von 2001. Zwar ist dies schon ein erheblicher Rückgang, doch reicht dieser leider nicht an das Ziel einer Senkung um 50 % heran. Die Kommission hat erst vor kurzem die Zahlen für 2009 veröffentlicht, die Prognosen für 2010 sind nicht allzu weit vom ursprünglichen Ziel entfernt und lassen eine Gesamtverringerung bis 2010 um mehr als 40 % erwarten.

2.5.1   Falls diese bedeutenden Ergebnisse erreicht werden, so ist dies nach Auffassung des EWSA vor allem dem Inkrafttreten der jüngsten Rechtsvorschriften für die Straßenverkehrssicherheit und den Verbesserungen bei der Fahrzeugsicherheit und weniger Änderungen des Verhaltens der Straßenverkehrsteilnehmer zu verdanken (in diesem Bereich bleibt noch einiges zu tun).

2.6   Um herauszufinden, welche Maßnahmen in eine neue Strategie aufgenommen werden sollten, muss zuvor ermittelt werden, welche Maßnahmen und Initiativen sich im vergangenen Jahrzehnt als wirkungsvoll erwiesen haben und welche nicht.

2.7   Der Schwerpunkt des Aktionsprogramms der Kommission für das vergangene Jahrzehnt lag auf drei grundlegenden Dimensionen:

Änderungen des Verhaltens des Einzelnen, wie etwa das Anlegen des Sicherheitsgurts, Kinderrückhaltesysteme, die Nutzung von Mobiltelefonen und kein Alkohol am Steuer;

Förderung von Initiativen der Industrie zur Entwicklung und Markteinführung sichererer Fahrzeuge;

Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur, z.B. durch eine bessere Planung von Straßen und Tunneln sowie die Harmonisierung moderner Notfallsysteme in allen Mitgliedstaaten.

2.8   Zwischen April und Juli 2009 führte die Europäische Kommission öffentliche Konsultationen durch, über die die Unionsbürger und Akteure des öffentlichen Sektors auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene sowie Vertreter von Unternehmen und der freien Berufe in die Ermittlung der wesentlichen Straßenverkehrssicherheitsprobleme, die in dem Aktionsprogramm für den Zeitraum 2011-2020 zur Sprache kommen sollen, sowie der vorrangigen Maßnahmen einbezogen werden sollten, mit denen gegen die nicht hinnehmbare und teure Größenordnung der im Straßenverkehr Getöteten und Schwerverletzten in der gesamten EU vorgegangen werden könnte.

2.9   Der EWSA stimmt dem Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr darin zu, dass vor der Annahme eines neuen Aktionsprogramms für die Straßenverkehrssicherheit die Wirksamkeit der in der Vergangenheit durchgeführten Maßnahmen, des Verkehrsweißbuchs aus dem Jahr 2001 und des Aktionsprogramms aus dem Jahr 2003 bewertet werden sollte.

2.10   Bei dieser Bewertung kann u.a. auf jüngere Informationen und Standpunkte aus einschlägigen Stellungnahmen des EWSA der letzten Jahre zurückgegriffen werden. Aus diesen Stellungnahmen geht eindeutig hervor, dass die Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit für den EWSA ein wesentliches Thema im Rahmen der Verkehrspolitik ist, das auch in Zeiten von Haushaltszwängen in allen Mitgliedstaaten ganz oben auf der Tagesordnung stehen sollte.

2.11   Auf der internationalen Bühne sind derweil wichtige Entwicklungen im Gange. Im Anschluss an die erste weltweite Ministerkonferenz zur Straßenverkehrssicherheit im November 2009 in Moskau („Time for Action“) rief die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Zeitraum von 2011 bis 2020 zum „Jahrzehnt der Verkehrssicherheit“ aus, um die Zahl der Unfälle mit Todesfolge im Straßenverkehr weltweit erst zu stabilisieren und anschließend zu verringern; aktuell kommen jedes Jahr über eine Million Menschen im Straßenverkehr ums Leben, ca. 20 Mio. werden schwer verletzt, 90 % dieser Unfälle ereignen sich in Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen. Global gesehen wurden die wirtschaftlichen Folgen dieser Art „Pandemie“ auf zwischen 1 % und 3 % des BIP verschiedener Länder geschätzt. In Europa lagen die diesbezüglichen Kosten für die Gesellschaft 2009 bei ca. 130 Mrd. Euro.

2.12   Dieser Schwung sollte nach Ansicht des EWSA genutzt werden - das neue Aktionsprogramm gibt der EU Gelegenheit, sich eine weltweite Führungsrolle bei der Straßenverkehrssicherheit zu sichern - eine Gelegenheit, die die EU nicht ungenutzt verstreichen lassen sollte.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Der EWSA möchte darauf hinweisen, dass für eine Bewertung der Wirksamkeit von in der Vergangenheit durchgeführten Maßnahmen zur Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit vergleichbare quantitative und qualitative statistische Angaben zur Straßenverkehrssicherheit aus den Ländern der EU-27 vorhanden sein müssen. Derzeit übermitteln zwar alle Mitgliedstaaten der EU grundlegende Angaben zur Straßenverkehrssicherheit, doch sind die Qualität und Tiefe dieser Informationen noch immer nicht ausreichend und ermöglichen keine Differenzierung zwischen Straßenverkehrsteilnehmern, Straßenkategorien, Wetterbedingungen und der Schwere von Verletzungen.

3.2   Vor dem Hintergrund, dass sich das Verkehrsvolumen auf den Straßen in der EU in den letzten 30 Jahren verdreifacht hat, begrüßt der EWSA die erheblichen Fortschritte, die die EU auf dem Weg zu ihrem Ziel einer Halbierung der Verkehrstoten bis 2010 gemacht hat. In einer Europäischen Union mit 15 Mitgliedstaaten hatte sich die EU hiermit bereits ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, wie der EWSA in seiner am 10. Dezember 2003 verabschiedeten Stellungnahme zum Thema Verkehrssicherheit 2003-2010 betonte - in einer erweiterten Union wäre dieses Ziel noch schwerer zu erreichen.

3.3   Der EWSA weist darauf hin, dass sich die EU zwar ein sehr ehrgeiziges Ziel für die Reduzierung von tödlichen Verkehrsunfällen gesetzt hat, dies für Unfälle mit schwerverletzten Verkehrsteilnehmern jedoch verabsäumt hat. Zwischen 2001 und 2008 ging die Zahl der Unfälle mit schwerverletzten Straßenverkehrsteilnehmern in der EU-27 um nur 18 % zurück. Daher müssen, sobald eine gemeinsame Definition schwerer und leichterer Verletzungen vereinbart worden ist, in das neue Aktionsprogramm der Kommission diesbezügliche Maßnahmen aufgenommen werden, die von den Mitgliedstaaten umzusetzen sind, wenn bei diesen Zahlen eine drastische Senkung erfolgen soll.

3.4   Bei der Frage nach der Wirksamkeit der Maßnahmen auf EU-Ebene für die Herbeiführung von Verhaltensänderungen während des vergangenen Jahrzehnts ist zu berücksichtigen, dass nur das Aktionsprogramm und Leitlinien für dessen Umsetzung auf Gemeinschaftsebene beschlossen werden, wohingegen die Durchführung aller Maßnahmen im Rahmen des Aktionsprogramms im Sinne des Subsidiaritätsprinzips den verschiedenen Ebenen in den Mitgliedstaaten obliegt.

3.5   Wenn alle Mitgliedstaaten die in dem Aktionsprogramm zusammengefassten Maßnahmen auf gleiche Weise umsetzten, entstünden weniger Probleme; doch leider zeigt die Erfahrung, dass dies nicht der Fall ist, da die Unterschiede bei der Straßenverkehrssicherheit unter den EU-Mitgliedstaaten erheblich sind. Die Maßnahmen für die Um- und Durchsetzung im Bereich der Straßenverkehrssicherheit unterscheiden sich von Land zu Land; nach Auffassung des Ausschusses wäre eine strengere Gemeinschaftspolitik zweifellos wirkungsvoller.

3.6   Daher betont der Ausschuss die Bedeutung der Entwicklung und Umsetzung eines ehrgeizigeren Harmonisierungs- und Regulierungsprogramms, einhergehend mit Unterstützung für die Mitgliedstaaten, damit diese Maßnahmen für die Straßenverkehrssicherheit sowohl besser als auch schneller umsetzen. Eine mögliche Antwort wäre die Errichtung einer Europäischen Agentur für Straßenverkehrssicherheit.

3.6.1   Denn tatsächlich gibt es bereits für alle anderen Verkehrsträger außer der Straße eine Sicherheitsagentur. Die Agentur für Straßenverkehrssicherheit sollte ein nicht allzu großes Exekutivorgan sein, das ständig durch von den Mitgliedstaaten abgestellte Vertreter für die Straßenverkehrssicherheit unterstützt wird.

3.6.2   Nach Auffassung des EWSA dürfte die Agentur unter Rückgriff auf bestehende Stellen wie die Europäische Beobachtungsstelle für die Straßenverkehrssicherheit die exekutive Arbeit im Bereich der Straßenverkehrssicherheit effizienter durchführen. Beispielsweise könnte sie die Karte der Unfallschwerpunkte jährlich prüfen, unsichere Straßen kennzeichnen und die Ergebnisse den Straßenverkehrsteilnehmern in der EU mitteilen, was bereits in einer früheren EWSA-Stellungnahme (1) gefordert worden war. Auch könnte die Agentur nationalen und lokalen Gruppen, die sich für Straßenverkehrssicherheit einsetzen, Unterstützung bieten, indem sie bewährte Verfahren in der EU anregt und verbreitet.

3.6.3   Daneben könnte die Agentur dafür sorgen, dass die Straßenverkehrssicherheit in andere einschlägige EU-Politikbereiche einfließt, wie etwa Bildung, Gesundheit und Umwelt, und einen „Fahrplan“ mit kurz- und mittelfristigen Prioritäten erstellen, wodurch eine der wesentlichen Schwachstellen des früheren Aktionsprogramms behoben würde.

3.7   Hinsichtlich einer Verhaltensänderung der Straßenverkehrsteilnehmer im vergangenen Jahrzehnt ist festzustellen, dass über die Hälfte der Unfälle mit Todesfolge direkt auf menschliches Verhalten zurückzuführen sind, wie etwa Nichteinhaltung von Geschwindigkeitsbegrenzungen, junge und unerfahrene Fahrer sowie Alkohol am Steuer. Nach Auffassung des EWSA sind Verkehrserziehung, Durchsetzung und Schulung gleich wichtig und beeinflussen sich gegenseitig, letztlich profitieren jedoch alle Verkehrsteilnehmer von Verkehrserziehung am meisten.

3.8   Der EWSA weist darauf hin, dass „Änderungen des individuellen Verhaltens“ eine der drei Schwerpunktdimensionen des Aktionsprogramms der Kommission für das vergangene Jahrzehnt waren. Angesichts der Zunahme der Fahrzeuge auf den Straßen in den vergangenen zehn Jahren sollten Maßnahmen in diesem Bereich intensiviert werden.

3.9   Zudem ist zu berücksichtigen, dass das Risiko für einige ungeschützte Kategorien von Verkehrsteilnehmern - wie etwa Motorradfahrer, Radfahrer und Fußgänger - noch immer unverhältnismäßig hoch ist. Eine intensivere Verkehrserziehung, kombiniert mit einem umfassenden Regelungsrahmen für die Typgenehmigung von motorisierten Zweirädern und einer Zwei-Phasen-Ausbildung für motorisierte Zweiradfahrer, könnte als Maßnahme nach Auffassung des EWSA eine Änderung des Verhaltens bei diesen Verkehrsteilnehmern herbeiführen.

3.10   Außerdem muss die Bevölkerungsalterung in der EU berücksichtigt werden, was spezifische diesbezügliche Straßenverkehrssicherheitsmaßnahmen erfordert, wie etwa intelligente Verkehrssysteme, angepasste Fahrzeuge und Infrastruktur, Sensibilisierungs- und Schulungsmaßnahmen.

3.11   Für das kommende Jahrzehnt empfiehlt der EWSA eine stärkere Ausrichtung der Politik auf differenzierte Verkehrserziehungs- und -schulungsmaßnahmen sowie Prüfungen für alle Verkehrsteilnehmer, insbesondere für die „Risikogruppen“ - sehr junge und ältere Verkehrsteilnehmer sowie ungeschützte Verkehrsteilnehmer wie etwa Motorradfahrer, Fußgänger und Radfahrer.

3.12   Die Maßnahmen auf EU-Ebene sollten in einem Aktionsprogramm für die Straßenverkehrssicherheit mit klaren und strikten Empfehlungen und Leitlinien für die Durchführung durch die Mitgliedstaaten dargelegt werden. Auch sollten jährlich Rückmeldungen mit angemessen definierten statistischen Angaben an die Kommission erfolgen, um eine rasche Reaktion zu ermöglichen. Gleichzeitig sollte die Kommission die Mitgliedstaaten auffordern, bestehende und künftige Rechtsvorschriften im Bereich der Straßenverkehrssicherheit so rasch wie möglich umzusetzen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Die große Herausforderung für erfolgreiche Straßenverkehrssicherheitsmaßnahmen ist die Zusammenarbeit zwischen den Behörden auf EU-, nationaler und lokaler Ebene. Zwar können Fortschritte bei technischen Fragen durch die Annahme und Umsetzung von EU-Rechtsvorschriften erzielt werden, Fortschritte bei der Herbeiführung von Änderungen des Verhaltens der Verkehrsteilnehmer können jedoch nur auf nationaler Ebene erreicht werden. Daher sind strenge Leitlinien der EU und jährliche Rückmeldungen der Mitgliedstaaten an die Kommission unerlässlich.

4.2   In Bezug auf die Wirksamkeit von auf EU-Ebene ergriffenen Maßnahmen zur Herbeiführung einer Verhaltensänderung der Verkehrsteilnehmer in den vergangenen zehn Jahren stellt der EWSA fest, dass die EU-Politik aus Subsidiaritätsgründen und aufgrund der fehlenden Kontrollmöglichkeiten nicht in vollem Umfang erfolgreich war. Durch Verkehrserziehung und ständige Weiterbildung lässt sich Verhalten am besten positiv beeinflussen, insbesondere das Verhalten junger Fahrer und älterer Verkehrsteilnehmer. Die Mitgliedstaaten haben diese Maßnahmen auf unterschiedliche und gelegentlich unangemessene Weise eingeführt.

4.3   Der EWSA ist überzeugt, dass der Schwerpunkt der Politik im kommenden Jahrzehnt unter Berücksichtigung dieser Verhaltensarten auf den Bereichen Verkehrserziehung und Schulung für alle Kategorien von Verkehrsteilnehmern in den Mitgliedstaaten liegen sollte. Beispielsweise die Einführung einer Mindeststundenzahl für Verkehrserziehung in den Schulen und - auf freiwilliger Basis - die Anregung zu ständiger Vertiefung dieser Kenntnisse.

4.4   Die Mitgliedstaaten sollten regelmäßige und gezielte Kampagnen entwickeln, um für diese Thematik zu sensibilisieren und das Verhalten der Straßenverkehrsteilnehmer zu beeinflussen und dabei sicherheitsbezogene Aspekte ansprechen, darunter gegenseitige Rücksichtnahme, Schutzausrüstung, Geschwindigkeit sowie Probleme im Zusammenhang mit Alkohol und Drogen; gleichzeitig sollte der Schwerpunkt auf der Durchsetzung liegen.

4.5   Besondere Aufmerksamkeit sollte im neuen Aktionsprogramm den unterschiedlichen Risikoquoten im Straßenverkehr in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten gewidmet werden. 2008 war die Risikoquote in Ländern mit hohem Risiko viermal höher als in Ländern mit geringem Risiko. Für Länder, deren Risikoquote deutlich über dem EU-Durchschnitt liegt, sollte ein höheres Ziel für die Senkung der Zahl der im Straßenverkehr Getöteten und Schwerverletzten anvisiert werden, mit differenzierten Reduzierungszielen für 2020 auf der Grundlage der Zahlen von 2010.

4.6   Bei der passiven und aktiven Sicherheit wurden im vergangenen Jahrzehnt erhebliche Fortschritte erzielt, vor allem durch die Einführung einer großen Bandbreite an technischen Sicherheitsmaßnahmen in Pkw und Lkw durch die Industrie. Durch über die EU-Rahmenprogramme finanzierte FuE-Projekte könnten weitere Verbesserungen bei IVS-Technologien vorangebracht werden.

4.7   Aufgrund der Wirtschaftskrise ist ein neues und zunehmend gefährliches Phänomen entstanden: die Markteinführung sehr preisgünstiger Pkw, die die Mindestsicherheitsstandards nur gerade so eben erfüllen. Zur Gewährleistung und Verbesserung der Sicherheit könnte das Sicherheitsniveau der bestehenden Fahrzeugflotte erhöht werden, indem die Fahrzeuge wann immer möglich mit den neuen Sicherheitsvorrichtungen nachgerüstet werden. Regelmäßige Überprüfungen und jährliche Inspektionen sind erforderlich. Noch schlimmer präsentiert sich die Lage im Bereich der motorisierten Zweiräder, wo Marktaufsicht und regelmäßige Kontrollen von grundlegender Bedeutung sind (2). Nach Auffassung des EWSA muss die EU reagieren, indem sie höhere Sicherheitsstandards vorschreibt.

4.8   In diesem Zusammenhang sind neue Rechtsvorschriften für die EU-Typgenehmigung von motorisierten Zweirädern, einschließlich verpflichtendem ABS oder BCS für Fahrzeuge über 150 ccm, die Einführung einer technischen Überwachung und die Aufnahme einer Zwei-Phasen-Ausbildung in die Überarbeitung der Führerscheinrichtlinie erforderlich. Außerdem sollte die EU Sensibilisierungskampagnen unterstützen, um die Einhaltung der grundlegenden Sicherheitsvorschriften sicherzustellen.

4.9   Die Planung von Straßen und Straßenrändern spielt bei Unfällen eine wichtige Rolle. Aus Untersuchungen in diesem Bereich geht hervor, dass die Straßeninfrastruktur bei ca. 30 % der Unfälle eine Rolle spielt. Hier kann also einiges an Fortschritten erzielt werden. Wie sich herausgestellt hat, sind nicht nur finanzielle Zwänge die größten Hindernisse für mehr Sicherheit, sondern auch allgemein mangelndes Problembewusstsein. Statistiken zeigen, dass ländliche Straßen häufig am gefährlichsten sind. Die Gewährung von EU-Fördermitteln (transeuropäisches Straßennetz, Strukturfonds) sollte an den Bau sicherer Straßen geknüpft werden. Auf jeden Fall muss bei der Planung, Anlage und Instandhaltung der Straßeninfrastruktur auch die Sicherheit motorisierter Zweiräder berücksichtigt werden.

4.10   Für den EWSA war die wirksamste Maßnahme für eine sicherere Infrastruktur im vergangenen Jahrzehnt einer der Vorschläge aus dem dritten Aktionsprogramm für die Straßenverkehrssicherheit: die Richtlinie über die Sicherheit von Tunneln (2004/54/EG). Die Einführung dieser Richtlinie hatte europaweit starken Einfluss.

4.11   Für das nächste Jahrzehnt empfiehlt der EWSA hinsichtlich des Ausbaus der Infrastruktur, dass das Aktionsprogramm das Ziel enthalten sollte, das Sicherheitsniveau des transeuropäischen Straßennetzes anzuheben und mindestens 25 % der Straßen, die nicht Teil dieses Netzes sind, auf den Stand dieses Straßennetzes zu bringen. Ein Beschluss des Rates über eine geänderte Richtlinie über ein Sicherheitsmanagement für die Straßenverkehrsinfrastruktur mit verbindlichen technischen Anhängen und einem größeren Anwendungsbereich (der auch für Straßen gilt, die nicht zum transeuropäischen Straßennetz zählen) sowie die Annahme europäischer Leitlinien für eine sichere städtische Straßeninfrastruktur würden einen Beitrag zu einer erheblichen Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit leisten. Kurzfristig muss die EU auf die rasche Annahme der vier Maßnahmen ihrer Infrastrukturrichtlinie durch alle Mitgliedstaaten hinwirken: Bewertung des Sicherheitseffekts baulicher Maßnahmen, Sicherheitsaudit, Verbesserung der Sicherheit im bestehenden Straßennetz und Sicherheitsüberprüfungen.

4.12   Aufgrund der geteilten Zuständigkeit ist der Überzeugung des EWSA zufolge eine starke politische Führung eine Grundvoraussetzung für die Schaffung eines echten „Raums der Straßenverkehrssicherheit“ in allen 27 EU-Mitgliedstaaten. Entscheidungsträger auf EU-Ebene, aber auch auf nationaler und regionaler Ebene in den Mitgliedstaaten, müssen von der Bedeutung der Zusammenarbeit bei der Durchführung kurz- und langfristiger Änderungen am Legislativrahmen - begleitet von massiven Informationskampagnen - überzeugt sein. Ein Rückgriff auf die Sachkenntnis privater Schlüsselakteure für die Straßenverkehrssicherheit in Europa wird Akzeptanz und Unterstützung erzeugen und spart Kosten.

4.13   Mit Blick auf den Privatsektor könnten Arbeitgeber, die einen Fuhrpark betreiben, einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung unternehmen, da Dienstreisen und der Berufspendelverkehr große Risikoquellen darstellen. Tatsächlich sollten Maßnahmen für eine Senkung der Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle alle Arten des Berufsverkehrs, mit Ausnahme des Straßengüterverkehrs, abdecken.

4.13.1   Öffentliche und private Arbeitgeber sollten bewährte Verfahren zur Vermeidung von Zusammenstößen im Berufspendelverkehr verbreiten und ihre Mitarbeiter wann immer möglich zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel anhalten, Sicherheitsleitlinien für ihre Fahrzeugflotten aufstellen und das Sicherheitsniveau ihres Fuhrparks kontrollieren. Ein gutes Beispiel in diesem Bereich ist das von der Europäischen Kommission kofinanzierte Projekt PRAISE (3), mit dem das arbeitsbezogene Management für Straßenverkehrssicherheit verbessert und Arbeitgebern das einschlägige Know-how an die Hand gegeben werden soll. Diese Frage könnte auch für die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) interessant sein.

4.13.2   In diesem Zusammenhang wird gerade auch an einer internationalen ISO-Norm 39001 für ein Managementsystem für die Straßenverkehrssicherheit gearbeitet, die Ende 2011 vorliegen soll. Die Europäische Kommission sollte alle Unterzeichner der Charta für die Straßenverkehrssicherheit auffordern, sich so bald wie möglich gemäß ISO 39001 zertifizieren zu lassen.

4.14   Weitere Voraussetzungen für einen „Raum der Straßenverkehrssicherheit“: mehr und besser vergleichbare statistische Informationen über die Mitgliedstaaten, jährliche Rückmeldung von Informationen aus den Mitgliedstaaten an die Kommission, Einrichtung eines Monitoring- und Follow-up-Systems auf EU-Ebene durch die Errichtung einer Europäischen Agentur für Straßenverkehrssicherheit, ordnungsgemäße und rasche Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften durch alle Mitgliedstaaten, stärkerer Fokus auf Verkehrserziehung und ständiger Weiterbildung und besondere Aufmerksamkeit für junge und alte Verkehrsteilnehmer.

4.15   Der EWSA empfiehlt ein Aktionsprogramm mit ehrgeizigen, aber auch realistischen Zielen. Aus politischen Gründen sollte das Ziel für das nächste Jahrzehnt wie zuvor auch ein globales Ziel sein. Hinsichtlich der Verringerung der Zahl der Verkehrstoten wird der EWSA nicht in die Debatte eingreifen, indem er eine konkrete Prozentangabe vorschlägt, er empfiehlt jedoch eindringlich, auch spezifische Ziele aufzustellen für die Verringerung der Zahl Schwerverletzter und der Zahl der in Verkehrsunfälle verwickelter und verletzter ungeschützter Verkehrsteilnehmer, wie etwa Fußgänger, Radfahrer und Fahrer motorisierter Zweiräder.

4.16   Daneben sollte die EU, evtl. durch die Agentur für Straßenverkehrssicherheit, nicht nur langfristige Ziele, sondern auch Zwischenziele aufstellen und ein Programm für die technische Unterstützung derjenigen Mitgliedstaaten auflegen, die nicht so gut abschneiden, um sie bei der Entwicklung einer nationalen Strategie für die Verringerung der Zahl der Verkehrstoten zu unterstützen.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 80 vom 30.3.2004, S. 77-80.

(2)  ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 30.

(3)  PRAISE: Preventing Road Accidents and Injuries for the Safety of Employees (www.etsc.eu/PRAISE.php).


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/33


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Finanzierungsstrukturen für KMU vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Finanzsituation“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 48/07

Berichterstatterin: Anna Maria DARMANIN

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 26. Februar 2009, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Finanzierungsstrukturen für KMU vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Finanzsituation“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Juli 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 16. September) mit 121 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss fordert die Kommission auf, die Finanzierungsinstrumente für die KMU zu verbessern und sicherzustellen, dass die Garantieregelung innerhalb des Rahmenprogramms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (CIP) auch nach der laufenden Förderperiode aufrechterhalten bleibt, die Strukturfonds den KMU leicht zugänglich werden und die Prioritäten für die Förderung klar formuliert werden. In der gegenwärtigen Situation knapperer Eigenmittel bieten Bürgschaftseinrichtungen ihren Bankpartnern im Rahmen von Basel II eine angemessene Kreditrisikominderung. Deshalb müssen Bürgschaftseinrichtungen gefördert werden.

1.2   Der EWSA empfiehlt die Schaffung von Handelsplattformen für Kleinstunternehmen und KMU. Die meisten zugelassenen Börsen verlangen von den KMU für ihre Notierung zu viele Berichterstattungsvorschriften und langwierige Verfahren. Darüber hinaus sind die Kosten gewöhnlich prohibitiv, selbst für Zweitnotierungen („Secondary listings“). Regionale Miniplattformen, die durch ein europäisches Netz koordiniert würden, wären ein neues Instrument, mit dem neues Kapital für kleine und mittlere Unternehmen beschafft werden könnte. Dies würde die Finanzierung durch weiteres Risikokapital und durch „Business angels“ ermuntern. Es könnte auch dazu verhelfen, dass kleine Wagniskapitalgeber Kleinunternehmen unterstützen.

1.3   Kleine und mittelständische Betriebe, insbesondere Kleinstunternehmen, haben größere Schwierigkeiten beim Zugang zu Finanzierung. Außerdem ist es für die Gesellschaft insgesamt sehr unklar, wohin all das Geld für die Rettung der Banken gegangen ist. Es ist vielleicht nicht opportun, die Banken zu zwingen, diese Daten zu veröffentlichen, aber andererseits hält es der EWSA für angemessener, dass die Banken einen bestimmten Prozentsatz der Rettungsgelder (in den Ländern, in denen sie verwendet werden) für Kredite an Klein- und Kleinstunternehmen vorsehen, insbesondere für innovative Vorhaben.

1.4   Der EWSA spricht sich für die Entwicklung eines Rechtsrahmens aus, mit dem die Gründung von Beteiligungs- und Ethik-Kleinstkreditinstituten erleichtert wird. Diese Finanzierungsform dürfte für KMU zweifellos von Nutzen sein, denn sie beruht auf der Risikoteilung und Gewinnbeteiligung sowie einer gediegenen Finanzierung und vermeidet Spekulationen. Erscheinungen wie Beteiligungsbanken sollten von der Kommission sorgfältig geprüft werden. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, ein Grünbuch vorzulegen, das Ausgangspunkt für eine Debatte über Beteiligungsbanken auf europäischer Ebene werden kann. Eigene Initiativen von Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg und Malta sind zwar zu begrüßen, könnten aber eine weitere Integration des Finanzdienstleistungssektors in der EU verhindern. Darüber hinaus dürften unkoordinierte Initiativen nicht die wirkungsvollsten Ergebnisse erzielen, die diese Art von Finanzierung erreichen kann, wie etwa Risikoteilung, Gewinnbeteiligung und eine sozial verantwortliche Finanzierung. Die Förderung der islamischen Mikrokreditformen könnte auch zu neuen unternehmerischen Tätigkeiten führen und zugleich in bestimmten Regionen zur Bekämpfung der Armut beitragen. In diesem Zusammenhang sollte eine Richtlinie ausgearbeitet werden, die alternativen Finanzierungsformen vorsieht, behandelt und fördert und sicherstellt, dass für diese Formen gleiche Bedingungen wie für andere, konventionelle Finanzierungsformen gelten.

1.5   Der Ausschuss empfiehlt den Mitgliedstaaten, die Kredite unmittelbar an die KMU zu vergeben bzw. den Finanzierungsinstituten Voll- oder Teilbürgschaften zu gewähren, um ihnen Anreize zur Kreditvergabe an KMU zu geben. In der Finanzkrise hat eine Reihe von Mitgliedstaaten diesen Weg beschritten, der den Zugang der KMU zur Finanzierung in der Tat erleichtert hat.

1.6   Nach Auffassung des EWSA sollte der Europäische Investitionsfonds entweder unmittelbar Investitionsmittel an KMU vergeben oder durch einen Unterfonds für einen besonderen Bereich, wie etwa durch den Fond für Jungunternehmer, mit dem auch eine unternehmerische Kultur gefördert würde. Ferner sollten EIF-Mittel an Intermediäre vergeben werden, die sich ausschließlich mit der Förderung von KMU befassen. Der EWSA schlägt vor, das Risiko zwischen der EIB und den Intermediären zu teilen, um diese zu ermutigen, EIB-Mittel auch an KMU zu vergeben.

1.7   Der Ausschuss empfiehlt den Banken unterschiedliche Finanzierungsformen, wie etwa Beteiligungs-, Innovations- und ethische Finanzierungen. Solche wie etwa diejenigen der Grameen Bank in Bangladesh dürften wegen des Basel-II-Regelwerks nur sehr begrenzt möglich sein. Finanzierungseinrichtungen können sich nicht mit dem Problem befassen, sondern nur mit Lösungen, d.h. ein Kreditsystem muss auf Analysen des sozialen Hintergrunds anstatt auf vorgegebenen Bankverfahren beruhen. Deshalb ist eine rasche Überarbeitung von Basel II oder wenigstens ein Abkommen erforderlich, das von den konventionellen Finanzierungsmodi Abstand gewinnt.

1.8   In der EU verbreiten sich nun Netze von „Business angels“. Leider sind sie anscheinend nicht geregelt und es könnte mit ihnen ein erheblicher Missbrauch getrieben werden, der Unternehmer davon abhalten könnte, einen solch wichtiges Instrument zur Finanzierung von Wachstum zu nutzen. Deshalb sollte ein Rechtsrahmen entwickelt werden, mit dem Anreize für die Tätigkeiten der „Business angels“-Netze oder für vergleichbare Aktivitäten geboten werden.

1.9   Der EWSA plädiert für Steueranreize in den Mitgliedstaaten für „Business angels“ und ihre Netze wie auch für Investoren aus der eigenen Familie, etwa die Eltern. Viele Jungunternehmer greifen auf Finanzmittel der eigenen Familie zurück, da andere nicht zur Verfügung stehen. Solche Investoren sollten ebenfalls durch Steuervergünstigungen belohnt und gefördert werden.

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1   Die EU-Mitgliedstaaten stehen vor einer großen Herausforderung, nämlich, Unternehmergeist zu fördern und zu stimulieren. Dies wurde auf dem Europäischen Rat von Lissabon im März 2000 als ein Ziel aufgestellt, um die Beschäftigungsquote zu erhöhen, wirtschaftliche Reformen durchzuführen und den sozialen Zusammenhalt zu verbessern. Am 21. Januar 2003 legte die Europäische Kommission das Grünbuch „Unternehmergeist in Europa“ vor. Darin wies sie mit Nachdruck auf den Mangel an europäischen Bürgern hin, die eigene Unternehmen gründen, sowie auf ein fehlendes kontinuierliches Wachstum der vorhandenen Unternehmen.

2.2   Die Stimulierung des Unternehmergeistes hat wichtige wirtschaftliche und soziale Vorteile. Unternehmergeist ist nicht nur eine treibende Kraft bei der Schaffung von Arbeitsplätzen, bei Innovationen, Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum, sondern trägt auch zur persönlichen Selbstentfaltung und Verwirklichung sozialer Ziele bei (1).

2.3   Die Wechselbeziehung zwischen Unternehmergeist und volkswirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gilt für das Überleben der Unternehmen, Innovationstätigkeiten, die Schaffung von Arbeitsplätzen, technische Fortschritte und die Steigerung der Produktivität und der Ausfuhren. Unternehmerische Initiative ist also nicht nur für den Einzelnen von Vorteil, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt.

2.4   Laut einer Erhebung des britischen Centre for Enterprise and Economic Development Research waren die am häufigsten genannten Probleme für Jungunternehmer die Finanzierung der Existenzgründung und die komplexen Verwaltungsvorschriften. Doch nur 40 % der befragten Unterstützungs- und Beratungsdienste für Unternehmen waren der Meinung, dass diese Finanzierungsengpässe größer seien als bei anderen Kleinunternehmen. Denn viele Neugründungen haben Schwierigkeiten, die Sicherheiten für eine Anschubfinanzierung aufzubringen, wenngleich dies für Jungunternehmer eine größere Hürde sein kann, weil sie weniger Möglichkeiten zur Sammlung von Vermögenswerten hatten, die sie als Sicherheit bieten können. Wie groß diese konkreten Hürden sind, hängt freilich von der jeweiligen Branche und Wirtschaftstätigkeit ab.

2.5   Die derzeitige Wirtschaftskrise hält von unternehmerischen Initiativen ab, insbesondere durch die Art und Weise, wie die KMU davon betroffen sind. Der EWSA hat sich ausführlich mit dem Entstehen und den Folgen der Finanzkrise und der kritischen Rolle des Bankensystems dabei befasst. Tatsache ist, dass die KMU noch immer stark von der Krise betroffen sind und große Schwierigkeiten haben, Kredite zu erhalten.

2.6   Unter den gegenwärtigen Umständen bleiben Bankkredite (trotz beträchtlicher Senkungen der Leitzinsen) aus folgenden Gründen äußerst knapp:

die Verluste aufgrund der zwischen einzelnen Märkten unterschiedlichen Bilanzierungspraktiken (indem Banken den Wert der Wertpapiere, die sie in ihren Bilanzaufstellungen führen, nach unten berichtigen, weil es für solche Positionen in absehbarer Zukunft keinen Markt geben wird);

Zunahme uneinbringlicher Forderungen oder fauler Kredite aufgrund derselben Krise;

fehlende Finanzierungen zwischen Banken, ein Sachverhalt, der trotz der Maßnahmen zahlreicher Regierungen bislang nicht abgestellt wurde;

der konstante Faktor Furcht – Bankpersonal, das um seinen Job fürchtet, dürfte wenig geneigt sein, riskant erscheinende Kreditzusagen zu tätigen.

2.7   Somit wird das Kapital von Banken zurückgehalten – entweder für Kunden, die zu verlieren sich Banken schlecht leisten können, oder für festverzinsliche Instrumente besserer Bonität, wie etwa Staatspapiere. Mit dem wachsenden Kreditbedarf der Regierungen zur Versorgung ihrer Volkswirtschaften mit Finanzmitteln hat sich das Angebot an Staatsanleihen vermehrt und dies wiederum eine Verknappung der Geldmittel für Unternehmer- und Verbraucherkredite bewirkt.

3.   Eine kurze Übersicht über Wesensmerkmale der KMU jenseits der offiziellen Statistiken

3.1   Die KMU sind auf vielfältige Weise ein Sonderfall. Eine Aufzählung aller Einzelmerkmale würde der Dynamik der KMU nicht gerecht werden. Gleichwohl ist es sinnvoll, einige davon herauszugreifen.

3.2   Kleine und mittlere Unternehmen befinden sich in der Regel und über mehrere Generationen hinweg in Familienhand; dabei ist die Familie ein wichtiger, aber häufig nicht ausreichender Investor für das Unternehmen. KMU sind in der Regel ortsgebunden, was sich auf ihre Praxis der Weitervergabe von Aufträgen und ihre (häufig sehr vorsichtige) Einstellungspolitik auswirkt. Es gibt häufig keine starke Unterscheidung zwischen der Geschäftsleitung und dem Eigentum am Unternehmen, und häufig besteht zwischen der Belegschaft und den Eigentümern eine enge Beziehung (was die Loyalitäten auf beiden Seiten verstärkt). Die KMU sind flexibel, dynamisch und greifen rasch Innovationen auf. Typischerweise sind KMU bei der Verwaltung ihrer liquiden Mittel risikoscheu, und sie ziehen es häufig vor, ihre eigenen Reserven zu verwenden, anstatt Krediteinrichtungen in Anspruch zu nehmen, denn sie müssen einen hohen Verwaltungsaufwand betreiben, um Kredite zu beantragen und zu erhalten.

3.3   Dass die KMU als risikoreichere Kreditkunden betrachtet werden, hängt zum Teil von ihrer typischen Merkmalen ab: oft handelt es sich um junge Unternehmen, die etwas gegen umständliche bürokratische Finanzierungssysteme haben, nicht genügend Sicherheiten bieten können und sich in Anbetracht ihrer Größe in der Regel keine Risikomanagementinstrumente leisten können.

3.4   Zu bedenken ist auch, dass die Probleme der KMU bei Kleinstunternehmen noch stärker zum Tragen kommen.

4.   Finanzierungsinstrumente

4.1   Börsengang - Neuemissionen (IPO) werden in der Regel mit etablierten Unternehmen in Verbindung gebracht, die eine Erhöhung ihres langfristigen Kapitals in Form von börsennotierten Aktien (shares) oder Anleihen (bonds) beabsichtigen. Dies erfolgt im Allgemeinen vor der Phase der Ausweitung, wenn die Unternehmenseigner und/oder Risikokapitalgeber eine Ausstiegsmöglichkeit suchen. Es gibt auch einen sekundären Kreditmarkt, der allerdings generell nicht für Kleinstunternehmen infrage kommt, und „nur Firmen am oberen Ende des KMU-Sektors können diesen Weg einschlagen“. Zwar ist der Aufwand für alternative Börsennotierungen im Allgemeinen etwas geringer als für Erstnotierungen, aber für beide gelten dieselben Offenlegungsvorschriften. Die Kosten für einen Börsengang betragen 500 000 EUR und mehr.

4.2   Neue Finanzierungsquellen, Beteiligungsbanken – In ganz Europa bilden sich neue Bankformen heraus, seien es so genannte Beteiligungsbanken oder aber ethische Banken oder auch islamische Banken. Ihre Arbeitsweise ist interessant und möglicherweise für KMU und ihre Bedürfnisse im gegenwärtigen Kontext geeignet. Sie bieten verschiedene Instrumente, von denen allerdings viele in europäischen Ländern nicht neu sind. Doch hemmen gewisse Rechtsvorschriften, insbesondere das Steuerrecht, die Entwicklung solcher Finanzierungsformen. Leider treffen verschiedene EU-Staaten (etwa Großbritannien, Frankreich, Luxemburg, Deutschland, Malta und Italien) jeweils eigene Maßnahmen, was die Gefahr von Hindernissen innerhalb des Binnenmarktes heraufbeschwört. Aber vielleicht können alternative Rechtsinstrumente entwickelt werden, damit Finanzeinrichtungen nach dem Beteiligungsmodell auch den EU-Markt durchdringen können (2).

4.2.1   Diese Finanzierungsform dürfte für KMU zweifellos von Nutzen sein, denn sie beruht auf der Risikoteilung und Gewinnbeteiligung sowie einer gediegenen Finanzierung und vermeidet Spekulationen und bestimmte Arten von Investitionen.

4.2.2   Eine wirklich neue Entwicklung ist die islamische Kleinstkreditvergabe. Sie umfasst eine Reihe von Finanzdienstleistungen für Personen, die traditionell als nicht kreditwürdig eingestuft werden, vor allem weil sie keine Garantien bieten können, mit denen sich Finanzeinrichtungen gegen Verluste schützen.

4.2.3   Die wahre Revolution der Kleinstkreditvergabe besteht darin, dass sie Menschen, denen der Zugang zu den Finanzmärkten verwehrt ist, neue Perspektiven eröffnet und sie in die Lage versetzt, endlich ihre eigenen Vorhaben und Ideen mit ihren eigenen Mitteln zu realisieren und sich damit von fremder Hilfe, Unterstützung und Abhängigkeit freizumachen. Die Erfahrungen mit der Kleinstkreditvergabe überall auf der Welt haben klar gezeigt, dass auch die Armen ein breites Spektrum an Finanzdienstleistungen benötigen und bereit sind, die damit verbundenen Kosten zu tragen, und dass sie durchaus bankfähig sind. Die Zielgruppe für Kleinstkredite sind vor allem solche Armen, die an der Schwelle zur so genannten Armutslinie leben und leichter ein bescheidenes Leben führen könnten und unternehmerische Ideen, aber keinen Zugang zum formellen Finanzmarkt haben.

4.2.4   Zu diesem Bereich wurden nur wenige Studien durchgeführt und die gemachten Erfahrungen sind noch relativ begrenzt, aber es hat sich gezeigt, dass er ein großes Potenzial zur Bekämpfung der Armut und der finanziellen und gesellschaftlichen Ausgrenzung aufweist und den Kundenstamm der Finanzeinrichtungen in Entwicklungsländern mit islamischem Hintergrund erweitert und wohlhabender machen kann. Beteiligungsbanken konzentrieren sich also nicht nur auf den finanziellen Erfolg, sondern sie verfolgen auch eine Maximierung der gesellschaftlichen Vorteile durch die Schaffung soliderer Finanzeinrichtungen, die echte Finanzdienstleistungen auch für diejenigen auf der untersten Ebene bieten können.

4.3   Staatliche und EU-Finanzierungssysteme – Die Mitgliedstaaten haben über ihre Intermediäre mit verschiedenen Maßnahmen, wie etwa Steueranreize oder Finanzierungsprogramme wie Zuweisungen im Rahmen des Europäischen Regionalentwicklungsfonds und des Europäischen Investitionsfonds, Unternehmen gefördert.

4.3.1   Die Inanspruchnahme bestimmter Initiativen für die Gründungsphase und die Aufbringung des Startkapitals erfolgten möglicherweise nicht im gewünschten Umfang.

4.4   „Business angels“, d.h. private Geldgeber oder informelle Wagniskapitalinvestoren gelten als nichttraditionelle Finanzierungsquellen und stellen Unternehmen vorwiegend von der Startkapitalphase bis zur ersten Wachstumsphase Beteiligungskapital zur Verfügung.

5.   Es sollte ein Aktionsrahmen angenommen werden, um die Folgen der Investitions- und Finanzierungskrise aufzufangen und den KMU den Zugang zu Krediten zu erleichtern

5.1   In der gegenwärtigen Situation ist die rasche Umsetzung des „Small Business Act“ (SBA) von entscheidender Bedeutung. Der EWSA hatte den von der Kommission vorgestellten SBA begrüßt, muss nun allerdings betonen, dass die Umsetzung der vorgeschlagenen Initiativen von höchster Dringlichkeit ist.

5.1.1   Zu einer Zeit, wo Liquidität für KMU ein Luxus ist, dringt der EWSA auf eine Neufassung der Richtlinie zur Bekämpfung des Zahlungsverzugs, damit sichergestellt wird, dass die KMU für ihre Leistungen ihr Geld pünktlich erhalten und die 30-Tage-Frist eingehalten wird. Doch muss die Umsetzung wirklich praktikabel sein und auch von den (privaten und öffentlichen) Lieferanten getragen werden.

5.1.2   Die Richtlinie für ermäßigte Mehrwertsteuersätze für lokal erbrachte, arbeitsintensive Dienstleistungen, die vor allem von den KMU erbracht werden, sollte ebenfalls rasch in Kraft treten. Wenngleich sie durchaus umstritten ist, würde eine solche Richtlinie doch die KMU wirtschaftlich stimulieren und diese für die Endverbraucher attraktiver machen.

5.2   Daten der europäischen Handelskammern zufolge haben 30 % der KMU Liquiditätsprobleme, und zwar ein Viertel unter ihnen aufgrund von verweigerten Bankkrediten. Zu einer Zeit, in der die Banken einer genauen Kontrolle unterliegen und eine äußerst konservative Kreditvergabepolitik betreiben, würde es der gesamten Wirtschaft zum Schaden gereichen, wenn die KMU die Opfer einer solch zurückhaltenden Politik würden.

5.2.1   Durch eine Erhöhung der Mittel für die EIB im Rahmen des Konjunkturprogramms wurden in der EU die Finanzmittel der Banken für die KMU aufgestockt. Aber nach den Erfahrungen der KMU ist der Zugang zu Bankkrediten immer noch sehr schwierig. Anscheinend also wurden zwar Finanzmittel für die Kreditvergabe an KMU bereitgestellt, aber in der Praxis kommen sie bei den KMU nicht an. Deshalb ist es wichtig, dass die ausgewählten Vermittlerbanken, die die Finanzmittel der EIB verwalten sollen, die KMU ohne Abstriche unterstützen. Wenn eine Vermittlerbank solche Finanzmittel fortlaufend nicht an die KMU weiterleitet, so sollte diese Vermittlerbank von der EIB ersetzt werden. Und schließlich sollte als Anreiz, damit die Intermediäre die Gelder der EIB wirklich an die KMU weiterverleihen, das Kreditrisiko zwischen ihnen und der EIB geteilt und nicht allein den ersteren aufgebürdet werden.

5.3   Ein wichtiger Aspekt, insbesondere für Unternehmensgründungen, ist der Zugang zu Wagniskapital. Der Markt für solches Kapital für die Frühphase eines Unternehmens beläuft sich in Europa auf ca. 2 Mrd. EUR pro Jahr, was nur etwa einem Viertel des US-amerikanischen Volumens entspricht. Lediglich eines von 50 KMU wendet sich mit einem Kreditgesuch an ein Risikokapitalunternehmen. Informationen über Risikokapitalfinanzierungen sind zwar leicht erhältlich, aber sehr häufig erkennen traditionelle KMU gar nicht, dass auch sie Risikokapital erhalten können. Dies hängt auch mit der konservativen Einstellung der europäischen Unternehmer zu Risiken zusammen, die eher Bankdienstleistungen als Risikokapital in Anspruch nehmen wollen.

5.4   Öffentliche Ausschreibungen sind ein wichtiger Zugang für KMU, doch sind sie - angesichts der größeren Erfahrungen der „großen Fische“ und auch der strengen Bestimmungen bezüglich der Bankgarantien und der Umsatzerklärungen - derzeit am wenigsten wettbewerbsfähig. Bei öffentlichen Ausschreibungen müssten mehr an KMU orientierte Maßnahmen getroffen werden, wie etwa geringere durch Bankgarantien abgesicherte Kapitalanforderungen, Förderung der Einriechung von Angeboten durch die KMU oder die Unterstützung von Zusammenschlüssen von KMU.

5.5   Die Verringerung des bürokratischen Aufwands hat für die KMU allererste Priorität, denn sie haben im Verhältnis zu den Großunternehmen einen überproportionalen Aufwand an Rechts- und Verwaltungsvorschriften. Es ist erwiesen, dass Großunternehmen pro Mitarbeiter im Durchschnitt 1 EUR an Verwaltungsgebühren aufwenden müssen, Kleinunternehmen hingegen 10 EUR. Die Kommission ist auf dem richtigen Wege, wenn sie versucht, den Verwaltungsaufwand zu senken, aber von einer effektiven Hilfe für die KMU ist man noch weit entfernt.

5.6   Die Zukunft unserer Wirtschaft hängt von einem nachhaltigen Wettbewerb ab. KMU, die an den Grundsätzen der Nachhaltigkeit festhalten und im Bereich der „grünen Wirtschaft“ tätig sind, sollten deshalb bei Finanzierungsfragen besonders unterstützt werden.

5.7   EU-Fördermittel sind für solche KMU umfangreich und breit gestreut, die im Bereich neue Technologien tätig sind. Diejenigen KMU hingegen, die traditionellere Produkte oder Dienstleistungen liefern, müssen Anreize erhalten, um innovative Ansätze auch in ihren eigenen Arbeitsbereichen zu verfolgen. Die Förderinstrumente müssen also weiter konsolidiert werden, um auch dieses breite Spektrum an KMU-Tätigkeiten zu unterstützen.

5.8   Der EWSA erkennt an, dass Verbände, wie die AECM-Mitgliedsorganisationen, in der Krise von entscheidender Bedeutung waren. Er fordert die Kommission auf, weiterhin ein günstiges Klima für solche Organisationen zu schaffen, damit sie die KMU durch Finanzierungsbürgschaften unterstützen können.

5.9   Das Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (CIP) war ebenfalls ein wichtiges Instrument zugunsten der KMU; deshalb ersucht der Ausschuss die Kommission, die in diesem Programm enthaltene Garantieregelung für KMU auch nach 2013 beizubehalten.

Brüssel, den 16. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Flash Eurobarometer 192, Entrepreneurship Survey of the EU (Erhebung zur unternehmerischen Initiative - 25 EU-Mitgliedstaaten sowie Vereinigte Staaten, Island und Norwegen), Analysebericht, April 2007.

(2)  Siehe „Islamic Finance in a European Union Jurisdiction Workshops Report“ (Bericht über das Seminar „Islamische Finanzierungsformen unter EU-Recht“), Hrsg.: Malta Institute of Management, Malta Employers Association und Malta Union of Bank Employees.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/38


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Nach der Krise — ein neues Finanzsystem innerhalb des Binnenmarktes“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 48/08

Berichterstatter: Edgardo Maria IOZIA

Mitberichterstatter: Umberto BURANI

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 18. Februar 2010, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Nach der Krise — ein neues Finanzsystem innerhalb des Binnenmarktes“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Juli 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September (Sitzung vom 16. September) mit 160 gegen 8 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   In dieser Stellungnahme will der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) Möglichkeiten zur Reform des europäischen Finanzsystems aufzeigen, wobei untersucht werden soll, wie es reguliert und in seiner Funktionsfähigkeit verbessert werden könnte, um die Systemrisiken zu verringern. Wenn der wilden Spekulation nicht Einhalt geboten wird und die Regierungen nicht endlich die längst überfälligen Antworten finden, kann diese Krise noch an Stärke und Intensität zunehmen.

1.2   Wie soll das Finanzsystem im Binnenmarkt nach der Krise aussehen? EZB/ESZB, Handels-, Investmentbanken, auf dem Gegenseitigkeitsprinzip basierende Finanzinstitute und Genossenschaftsbanken, ethische Banken, Versicherungsgesellschaften, Rentenfonds, Investmentfonds, Beteiligungsgesellschaften, Hedgefonds, Ratinggesellschaften; Produzenten, Vermarkter und Verkäufer von Finanzprodukten und Wertpapieren; Börsen, ungeregelte Märkte; Regulierungsbehörden, Aufsichtsbehörden, Kreditratingagenturen: Dies sind die wichtigsten Akteure des Finanzsystems, die ihr Verhalten ändern, sich nach strengeren Regeln richten und sich organisatorisch an ihre neuen Aufgaben anpassen müssen.

1.3   Nicht alle Marktteilnehmer sind gleichermaßen für die Krise verantwortlich. Glücklicherweise sind einige wichtige Sektoren wie auch einige wichtige grenzüberschreitend operierende Unternehmensgruppen nicht unmittelbar von der Krise betroffen gewesen, da sie ihren Geschäften fernab vom großen Finanzkasino nachgegangen sind. Nicht nur Versicherungsgesellschaften, Genossenschafts- und Volksbanken und Sparkassen, sondern auch führende europäische und internationale Handelsbanken mussten weder ihre Bilanzen wegen finanzieller Verluste berichtigen noch mussten sie ihre Regierungen um Hilfe bitten.

1.4   „Die Ursache der Krise ist die moralische Misere“ - der EWSA schließt sich diesem Urteil von Tomáš Baťaaus dem Jahr 1932 an und bedauert, dass sich nichts geändert hat. Arbeitnehmer und Rentner, Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger, Organisationen der Zivilgesellschaft, Verbraucher und Nutzer haben großes Interesse daran, auf ein effizientes, sicheres und erschwingliches Finanzsystem zählen zu können, dem sie ihre Ersparnisse anvertrauen und das sie um Unterstützung für wirtschaftliche Initiativen bitten können und das als unverzichtbares Instrument für Wirtschaftswachstum und als Garant wichtiger sozialer Funktionen wie Renten sowie Krankheits-, Unfalls- und Schadensversicherungen zu betrachten ist. Dies alles ist durch die extrem schwere Finanzkrise - im Zuge eines allgemeinen Vertrauensverlusts - in Gefahr geraten.

1.5   Es muss wieder Vertrauenskapital aufgebaut werden, und zwar nicht nur gegenüber den Finanzinstituten, sondern auch gegenüber den politischen Institutionen sowie den Regulierungs- und Aufsichtsbehörden, denen es nicht gelungen ist, diese Katastrophe abzuwenden, die nach den jüngsten Schätzungen des IWF bislang 2,3 Billionen EUR verschlungen hat.

1.6   Die öffentliche Meinung wurde zutiefst erschüttert. Die auf die Finanzkrise folgende Liquiditätskrise hat die Realwirtschaft getroffen, die einen enormen Rückschlag hinnehmen musste: Mit mehr als 23 Mio. Arbeitslosen im Dezember ist die Arbeitslosenquote auf über 10 % gestiegen und hat mit 22 % in Lettland und 19 % in Spanien die höchsten Werte erreicht. Diese Zahl wird noch weiter steigen. Alle öffentlichen Haushalte hatten riesige Defizite zu verzeichnen, die durch Korrekturmaßnahmen abgebaut werden müssen, was dem Wachstum sicherlich nicht förderlich ist und vielmehr einen Aufschwung bremst, der sich bereits als zögerlich und ohne positive Auswirkungen auf die Beschäftigung abzeichnete.

1.7   Der EWSA hat in diesen Jahren in einer Reihe von Stellungnahmen verschiedene Überlegungen entwickelt, die häufig nicht beachtet wurden, aber andernfalls sicherlich dazu beigetragen hätten, die verheerenden Auswirkungen der Krise zu verhindern oder zumindest zu verringern.

1.8   Der EWSA ruft die Organe der EU auf, den Reformprozess zu beschleunigen. Rund eineinhalb Jahre nach der Vorlage des Berichts der De-Larosière-Gruppe ist der europäische Beschlussfassungsprozess noch nicht in die Endphase getreten. Die Regierungen haben den Reformentwurf bedauerlicherweise geschwächt, indem z.B. die Möglichkeit der Intervention der europäischen Aufsichtsbehörde bei multinationalen Finanzinstituten ausgeschlossen wurde.

1.8.1   Der EWSA begrüßt die Mitteilung der Kommission über Legislativvorhaben zur Verbesserung der Regulierung und Transparenz des Finanzmarktes. Diese Vorschläge, die während der Erarbeitung dieser Stellungnahme vorgelegt wurden, gehen in die gewünschte Richtung. Die Verbesserung der EU-Aufsicht über die Ratingagenturen und das Anstoßen der Diskussion über Corporate Governance in Finanzinstituten gehören zu den wichtigsten Aspekten. Die Berichte über die Vergütung der Geschäftsführer und über die Vergütungspolitik ergänzen das Maßnahmenpaket. Die Kommission hat sich verpflichtet, in den nächsten sechs bis neun Monaten weitere Vorschläge für eine bessere Arbeitsweise der Derivatemärkte und geeignete Maßnahmen für Leerverkäufe und Kreditausfall-Swaps sowie zu Verbesserungen der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID) vorzulegen.

1.8.2   Der EWSA erwartet die anderen, für den Bereich der Verantwortlichkeit angekündigten Initiativen mit großem Interesse: Die Überarbeitung der Richtlinie über Einlagensicherungssysteme und der Richtlinie über Anlegerentschädigung. Die Marktmissbrauchsrichtlinie und die Eigenkapitalrichtlinie (CRD IV) sollen geändert werden, zu den Anlageprodukten für Kleinanleger wird indes ein Legislativvorschlag erarbeitet. Zur Vermeidung von Aufsichtsarbitrage wird die Kommission eine Mitteilung über Sanktionen im Finanzsektor vorlegen.

1.9   Nach Auffassung des EWSA muss intensiver an der Vorbereitung des Finanzsystems für die Zeit nach der Krise gearbeitet werden, das transparent, sozial und ethisch verantwortlich, besser kontrolliert und innovativ sein und ein ausgewogenes Wachstum aufweisen muss, das mit dem Rest des Wirtschaftssystems kompatibel und auf mittel- und langfristige Wertschöpfung sowie nachhaltiges Wachstum ausgerichtet ist.

1.10   Im Finanzwesen sind Millionen von Menschen beschäftigt. Bei der großen Mehrheit handelt es sich um rechtschaffene Menschen, die professionell arbeiten und Respekt verdienen. Eine kleine Minderheit unverantwortlicher und skrupelloser Menschen hat die Reputation einer ganzen Gruppe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufs Spiel gesetzt.

1.11   Der EWSA dringt auf mehr Transparenz, insbesondere bei der Ermittlung der Risiken. Die OTC-Märkte sollten nicht für den bilateralen Handel offenstehen, sondern ausschließlich mit einer zentralen Gegenpartei abgewickelt werden, die durch die Überwachung des Gesamtrisikos für zu stark gefährdete Parteien den Zugang zu den Transaktionen begrenzen kann. Außerdem sollten die Transaktionen entweder über eine einzige Plattform oder höchstens eine festgelegte Anzahl von Plattformen abgewickelt werden, um die Transparenz der Märkte zu verbessern.

1.12   Der sozialen Verantwortung der Unternehmen im Finanzbereich sollte bei allen Aktivitäten Rechnung getragen werden. Verkaufsvolumina wurden gegenüber einer angemessenen Investitionsberatung bevorzugt. Dies bedeutet die Rückkehr zu einem hohen Berufsethos und eine ausdrückliche Anprangerung von Missständen durch die berufsständischen Vereinigungen, die mit Präventivmaßnahmen zu korrektem Verhalten anhalten und Sanktionen gegen diejenigen Unternehmen verhängen müssten, die der bösen Absicht, des Betrugs oder eines anderen strafrechtlich verfolgbaren Verhaltens für schuldig befunden wurden.

1.13   Eine offenere und demokratischere Governance der nationalen und europäischen Aufsichtsbehörden, bei der die Interessenträger in die Regulierungs- und Aufsichtsmaßnahmen einbezogen werden. Arbeitnehmer, Unternehmen, Verbraucher und Nutzer müssten bei der Governance der Unternehmen eine anerkannte Rolle spielen. Der EWSA empfiehlt eine stärkere Beteilung der Zivilgesellschaft im Rahmen der Anhörung und bei der Folgenabschätzung. Jüngste Entscheidungen der Kommission bezüglich der Wahl von Sachverständigengruppen zeigen, dass die Industrie eindeutig bevorzugt wird und die Verbraucher und Arbeitnehmer nicht angemessen beteiligt werden. Der EWSA empfiehlt erneut und mit Nachdruck eine ausgewogene Vertretung der Zivilgesellschaft im Rahmen der von der Kommission organisierten Sachverständigengruppen und Ausschüssen.

1.14   Eine Governance der Unternehmen, wobei sich die Anforderungen der Redlichkeit und Transparenz von den Managern bis hin zu den Aktionären erstrecken müssten, bei deren Kapital bislang per definitionem von einem rechtmäßigen Ursprung ausgegangen wurde, bis eklatante Beispiele gezeigt haben, dass dies nicht immer der Fall ist.

1.15   Die Rolle der Manager hat ebenso jedes vernünftige Maß überschritten wie ihre teilweise astronomischen Vergütungen, die selbst nach den Verstaatlichungen zur Rettung einiger vom Konkurs bedrohter Institute beibehalten wurden. Gefordert sind eine seriöse Politik zur Eindämmung der Boni, die nur dann fließen sollten, wenn mittelfristig stabile und überdurchschnittliche Ergebnisse erzielt wurden, sowie Anreize für das Personal, die an verantwortungsbewusste Verkäufe und nicht an Bankprodukt-Kampagnen ohne ausreichende Würdigung der Verbraucherbedürfnisse gebunden sind. Diese Anreize sollten zu einer Aufwertung der Humanressourcen in Bezug auf berufliche Leistung, Kundenzufriedenheit und mehr Professionalität führen.

1.16   Der EWSA empfiehlt seriöse und wirksame Maßnahmen seitens der nationalen Aufsichtsbehörden, die nicht sonderlich von der Zweckmäßigkeit von Maßnahmen überzeugt zu sein scheinen, die nicht nur an das moralische Gewissen appellieren, sondern dazu dienen, das offene oder verdeckte Risikoprofil auch in Zukunft beizubehalten. Viele hochriskante Transaktionen, die zur Mehrung der Gewinne und Boni durchgeführt wurden, hätten vermieden werden können.

1.17   Der EWSA dringt darauf, die Verweise auf das Rating im Hinblick auf die mit den Basel-II-Grundsätzen eingeführte Klassifizierung der Anlagen und die sich daraus ergebende Deckung durch die Risikofonds aus dem Gemeinschaftsrecht zu streichen, und fordert die nationalen Behörden auf, die Investitionspolitik zu ändern.

1.18   Die Klassifizierung der staatlichen Schuldtitel der Mitgliedstaaten sollte ausschließlich von einer neuen unabhängigen europäischen Agentur wahrgenommen werden. Die angekündigte Herabstufung der Schuldtitel eines Landes hat - wie unlängst im Falle Griechenlands und anderer in Bedrängnis geratener europäischer Länder - zu gravierenden Schwierigkeiten auf den Märkten geführt, da sie massive spekulative Angriffe gegen die Anleihen ausgelöst und so den Eindruck einer schweren Krise verstärkt hat.

1.19   Die Griechenland gewährten Hilfen werden zum Schutz des internationalen Finanzsystems dienen, das für hunderte Milliarden Euro griechische Schuldtitel gezeichnet hat und sich dabei auch auf die weltweit größte Geschäftsbank verlässt, die beträchtliche Finanzierungen kaschiert hat, die nicht in den offiziellen Bilanzen Athens ausgewiesen wurden. Allein die französischen (76,45 Mrd. EUR) und deutschen Banken (38,57 Mrd. EUR) gewähren Kredite in Höhe von 115 Mrd. EUR: Wieder einmal werden die europäischen Steuerzahler für das rechtswidrige Verhalten zur Kasse gebeten. Die griechischen Bürger werden einen hohen wirtschaftlichen und sozialen Preis zahlen müssen.

1.20   Nach Auffassung des EWSA muss das Thema einer Besteuerung einiger Finanztransaktionen und insbesondere hochspekulativer Transaktionen vertieft werden. Eine Stellungnahme zu diesem Thema wurde vor kurzem verabschiedet.

1.21   Der EWSA empfiehlt die Schaffung integrierter Krisenmanagementsysteme mit wirksamen Kriterien für Vorwarnung, Prävention und Krisenbewältigung. Es müssen zuverlässige Mechanismen der gegenseitigen Verantwortung zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten entwickelt werden, insbesondere was die großen europäischen Unternehmensgruppen angeht: in Mittel- und Osteuropa z.B. befinden sich die Finanzmärkte fast ausschließlich in den Händen westeuropäischer Banken und Versicherungen.

2.   Einleitung

2.1   „Die Ursache der Krise ist die moralische Misere

Wendepunkt der Wirtschaftskrise? Ich glaube nicht an spontane Wendepunkte. Was wir gemeinhin als Wirtschaftskrise bezeichnen, ist nur ein anderes Wort für ethische Misere.

Die moralische Misere ist die Ursache, die Wirtschaftskrise ist nur die Folge. Unser Land ist voller Leute die glauben, dass man sich mit Geld vor dem wirtschaftlichen Niedergang retten kann. Mir ist angst und bange vor den Konsequenzen dieses Irrtums. In der Situation, in der wir uns jetzt befinden, benötigen wir keine brillanten Clous oder Arrangements.

Wir brauchen eine moralische Einstellung gegenüber den Menschen, der Arbeit und dem öffentlichen Eigentum.

Keine Unterstützung mehr für Konkurse, keine Schulden mehr, nie mehr Werte für nichts weggeben, nie mehr Ausnutzung von Arbeitnehmern. Es wäre besser gewesen, wir hätten andere Dinge getan, um die Armut nach dem Krieg zu überwinden und Arbeit und Rücklagen wirksamer, wünschenswerter und ehrlicher zu machen - anstatt uns der Faulheit und der Verschwendung hinzugeben. Recht hast Du: Die Vertrauenskrise muss überwunden werden, aber das schaffen wir weder mit technischen oder finanziellen Mitteln noch auf Pump. Vertrauen ist ein persönliches Phänomen, und es kann nur mit einem moralischen und beispielhaften persönlichen Verhalten wiederhergestellt werden.“ Tomáš Baťa, 1932.

2.2   Nichts hat sich geändert.

2.2.1   Das - für eine Stellungnahme des Ausschusses ungewöhnliche - Zitat kann viel besser in das Thema einführen als eine weitere kluge Untersuchung der Krise und der Fehler der Politik, der Aufsichtsbehörden, der Ratingagenturen, des Finanzwesens sowie auch der Investoren und Aktionäre. Das Thema ist sattsam bekannt: Es soll hier lediglich festgestellt werden, dass die durchgeführten oder sich gerade in der Prüfungs- oder Planungsphase befindlichen Maßnahmen im Bereich der Makro- und Mikroaufsicht im Großen und Ganzen brauchbar und vernünftig sind. Was aber immer noch fehlt, ist eine organische und strukturelle Verbindung zwischen Marktaufsicht (Banken, Versicherungen, Finanzmärkte) und Überwachung der Zahlungssysteme. Letztgenannte können, wenn sie entsprechend gedeutet werden, wertvolle Hinweise auf individuelle Schwächen oder systemische Risiken geben. Die Behörden sollten die Möglichkeit erwägen, ein solches System zur Gegenkontrolle aufzubauen.

2.2.2   Im Gegensatz zu früher ist die Zivilgesellschaft nicht gewillt, die Debatte über die Zukunft des Finanzsystems den Fachleuten, Technikern und Politikern zu überlassen. Sie möchte sich vielmehr aktiv am Aufbau eines nachhaltigen Finanzwesens beteiligen - denn die Konsequenzen dieser Entscheidungen haben unweigerlich die Arbeitnehmer, Unternehmen und Bürger zu tragen. Die öffentlichen Gelder für die Rettung der am meisten exponierten Banken zuerst und dann die nötigen Wiederbelebungsmaßnahmen für die Wirtschaft, die unter einer Kreditklemme sondergleichen leidet, haben die Haushaltsdefizite und die Staatsschulden steigen lassen. Diese müssen nun durch weitere Korrekturmaßnahmen saniert werden, durch die die Bürger erneut mit Abgaben und Steuern belastet werden, auf die sie gut hätten verzichten können.

2.2.3   Das Finanzsystem kann und darf nach der Krise nicht identisch sein mit demjenigen, das sich in den vergangenen 20 Jahren herausgebildet hatte. Auf Wachstumsraten, die durch kurzfristiges Denken auf astronomische Höhen getrieben wurden, muss künftig verzichtet werden.

2.2.4   Eine sehr hohe Rentabilität hat die ehrgeizigsten Unternehmen zu einer noch vor wenigen Jahren unvorstellbaren Fusionswelle getrieben.

2.2.5   Diese Zusammenschlüsse wurden durch die Liberalisierung und Privatisierung in vielen Ländern, vor allem aber durch die von den Binnenmarktrichtlinien ausgehenden Impulse erleichtert und haben nicht nur geografische Grenzen, sondern auch die Grenzen zwischen verschiedenen spezialisierten Bereichen verwischt: Handelsbanken, Investmentbanken, Finanzgesellschaften, Wertpapierhändler, Börsengesellschaften, Wertpapierverwahrstellen, Verwalter von Zahlungssystemen, Versicherungen usw.

2.2.6   Die entstandenen Finanzkonglomerate zeichnen sich aus durch starke Heterogenität, komplexe Strukturen, Über-Kreuz-Beteiligungen und Sonderaktien („golden shares“ - vor allem für vormals staatliche Banken), die eine Gesamtaufsicht über die Strukturen extrem schwierig machen. Erst jetzt, nachdem die Märkte durch die Krise erschüttert worden sind, wird begriffen, dass transnationale Aufsichtsstrukturen geschaffen werden müssen. Die Entscheidungsprozesse kommen aber viel zu langsam voran. Die mächtigen Finanzorganisationen versuchen, die Regulierungsmaßnahmen der Behörden einzuschränken, wobei sie einige europäische Regierungen überzeugen konnten, ihre Argumente zu unterstützen. Der De-Larosière-Bericht, die darauf aufbauenden Richtlinien und die Überarbeitung der Basel II Abkommen sowie die Änderung der IASB kommen nur sehr mühsam voran, und viele Versprechen für Veränderungen scheinen auf der Strecke zu bleiben.

2.3   Rentabilität

2.3.1   Rentabilität und Wachstum

2.3.1.1   Eine hohe Rentabilität wird seit jeher als Indiz für ein gesundes Unternehmen angesehen. Mittels Wiederanlage des Gewinns trägt sie auch zum Größenwachstum bei. Reinvestiert ein Unternehmen mit einer Eigenkapitalrendite von 10 % seine gesamten Gewinne, ist ein jährliches Wachstum um 10 % möglich, wenn das Verhältnis zwischen Verbindlichkeiten und Eigenmitteln unverändert bleibt. Wächst das Unternehmen schneller, bedeutet das, dass entweder die Schuldenlast oder das Eigenkapital erhöht wird.

2.3.1.2   Daraus geht hervor, dass Unternehmen mit hoher Rentabilität bessere Möglichkeiten für Wachstum und Entwicklung haben.

2.3.2   Rentabilität und Risiko

2.3.2.1   Häufig müssen zur Steigerung der Rentabilität größere Risiken eingegangen werden: diesbezüglich wird die Auffassung vertreten, dass es auf die risikobereinigte Rentabilität ankommt. Nur die Steigerung der risikobereinigten Rentabilität führt tatsächlich zu Wertschöpfung (wohl bemerkt für die Aktionäre, nicht unbedingt für die anderen Interessenträger).

2.3.2.2   Wer entscheidet über die dem Risiko angemessene Rentabilität? Natürlich der Finanzmarkt.

2.3.2.3   Welche Lehren können diesbezüglich aus der Krise gezogen werden? Es kann gefolgert werden, dass zwar die Fähigkeit zur Interpretation und Abschätzung zahlreicher Risiken gestiegen ist, der Markt diese aber nicht immer korrekt quantifizieren kann.

2.3.2.4   Daraus folgt, dass gewisse Rentabilitäts- und Entwicklungsmodelle - sowohl der Unternehmen als auch der gesamten Wirtschaft - sich ganz einfach deshalb durchsetzen konnten, weil die Risiken nicht korrekt abgeschätzt wurden.

2.3.2.5   Die wichtigste Lehre, die wir aus der Krise ziehen müssen, ist jedoch, dass wir niemals in der Lage sein werden, alle Risiken korrekt abzuschätzen.

2.3.3   Triebkräfte der Rentabilität

2.3.3.1   Die beiden wichtigsten Triebkräfte der Rentabilität - nicht nur für Finanzunternehmen - sind:

Effizienzsteigerung aufgrund von Skaleneffekten (Größenwachstum) und Verbundvorteilen (Ausdehnung des Angebots von Produkten und Dienstleistungen);

Innovation: Angebot neuer Produkte und Dienstleistungen, bei denen die Gewinnspannen aufgrund geringeren Wettbewerbs größer sind.

2.3.3.2   Deshalb verkündeten zahlreiche Akteure des Finanzmarkts lange Zeit Schlagworte wie „je größer desto besser“ und „gelobt sei die Finanzinnovation“. Die damit verbundenen Risiken wurden jedoch lange Zeit unterschätzt. Sie sollen deshalb in Erinnerung gerufen werden:

2.3.3.3   Größe - Skaleneffekte: Die größte Gefahr birgt das systemische Risiko des „Zu groß, um zu scheitern“„(too big to fail)“.

2.3.3.4   Breites Angebot - Verbundvorteile: Das Hauptrisiko ist immer systemischer Natur und lässt sich in dieser Aussage zusammenfassen: „Zu stark miteinander verflochten, um zu scheitern“„(too interconnected to fail)“.

2.3.3.5   Finanzinnovation: Sie bedeutet die Einführung neuer Produkte und Dienstleistungen zur Steuerung neuer Risiken und zur neuartigen Steuerung altbekannter Risiken. Wären dies banale Tätigkeiten, hätten sie schon andere durchgeführt. Die damit einhergehenden Risiken werden häufig nur sehr grob abgeschätzt.

2.4   Die Finanzkrise wurde durch schlecht abgeschätzte Risiken der Finanzinnovation ausgelöst. Aber Innovation ist wichtig für das Erzielen hoher Rentabilität - zu hoher Rentabilität, bezieht man sich auf die Wachstumsraten reifer Volkswirtschaften. Es gilt, die Ursachen des Problems zu betrachten, nicht die Folgen: Wir müssen Rentabilitäts- und Wachstumsraten akzeptieren, die nicht mehr im zweistelligen Bereich liegen - die nicht nur als legitim, sondern als geradezu erforderlich galten. Denn per Definition ist es ausgesprochen wahrscheinlich, dass eine sehr hohe Rentabilität in einer Wirtschaft, die seit 50 Jahren nicht mehr wächst, nicht zu unterschätzende Risiken birgt. Wenn wir nicht sagen, dass es keinen Sinn hat und ungesund ist, in einer reifen Wirtschaft zweistellige Gewinne aus den getätigten Investitionen anzustreben, dann beseitigen wir nicht die Ursachen der Krise, die uns an den Rand des Abgrunds geführt hat.

2.5   Das Geschäft von Banken und Finanzintermediären

Das Finanzsystem fungiert als Intermediär für Währungs-, Finanz- und Risikogeschäfte. Im Risikobereich betrifft dies vor allem vorwiegend auf dem „Over the Counter Market“ (OTC) gehandelte Derivate. Die Zentralbanken und Kreditinstitute können durch die Währungspolitik direkt beeinflusst werden, die aber gegen Derivate machtlos ist. Tatsächlich werden nur geringe liquide Mittel durch Derivate gebunden.

2.6   Die von Derivaten ausgehende Gefahr oder die Gefahren des Risikomanagements

Derivate sind die maßgebliche finanztechnische Innovation. Auf dem OTC spielt sich die Risikoteilung ab, bei der ursprünglich von einem Finanzakteur eingegangene Risiken übertragen und in zahllose Transaktionen aufgeteilt werden. In der Theorie soll dadurch die ursprünglich destabilisierende Eigenschaft des Risikos fragmentiert und somit abgeschwächt werden. Dabei wurde allerdings übersehen, dass durch die zahlreichen Verflechtungen, die diese Transaktionen mit sich bringen, ein schwer kontrollierbares Ausfallsrisiko, ein immer geringeres Bewusstsein für das Gesamtrisiko sowie das Phänomen des „too interconnected to fail“ entstand.

2.7   Hin zu einem stabileren Finanzsystem

Es ist falsch zu behaupten, dass Innovation im Finanzwesen als etwas Negatives zu betrachten ist, weil es dazu beigetragen hat, die Voraussetzungen für die Krise zu schaffen. Es kann unmöglich davon ausgegangen werden, dass die Krise nur ein simpler Betriebsunfall ist. Sie hat vielmehr gezeigt, dass das System, so wie es war, nicht akzeptabel ist.

Eine integriertes System der Risikokontrolle muss sich auf drei Achsen bewegen: Instrumente, Märkte und Institutionen.

2.7.1   Instrumente

Statt die Schaffung neuer Instrumente zu verbieten, müsste eine Art Registrierungsmechanismus zur Anwendung kommen, mit dem festgelegt wird, wem die Instrumente angeboten werden dürfen. Nicht registrierte Instrumente dürfen nur von qualifizierten Akteuren verwendet werden. Es sollte der gleiche Grundsatz wie für Arzneimittel gelten: Einige sind praktisch frei verkäuflich, andere verschreibungspflichtig, und wieder andere sind nur in besonderen Einrichtungen erhältlich.

2.7.2   Institute

Die herkömmliche Mikroaufsicht, durch die die Stabilität einzelner Intermediäre kontrolliert werden soll, ist unzureichend. Um einen Rahmen für die Makroaufsicht zu schaffen, müssen zwei wichtige externe Effekte berücksichtigt werden:

Verflechtung. Die Finanzinstitute haben gemeinsame Forderungen, was die negativen Auswirkungen der Risiken verstärkt. Hier sehen wir uns wieder den beiden Problemen „too big to fail“ und „too interconnected to fail“ (für einen Konkurs zu groß bzw. zu stark verflochten) gegenüber;

prozyklisches Verhalten. Das Finanzsystem soll die Risiken der Realwirtschaft unter Kontrolle halten. In Wirklichkeit geschieht es jedoch häufig, dass sich die Dynamiken der beiden Systeme gegenseitig verstärken, was zur Folge hat, dass Booms und Krisen verschärft statt abgemildert werden.

2.7.2.1   Über das sogenannte „Schattenbankensystem“ wurden nicht nur legitime Flexibilitätsziele verfolgt, sondern es wurde auch versucht, die aufsichtsrechtlichen Vorschriften zu umgehen. Die unter diese Vorschriften fallenden Einrichtungen wie die Banken haben dieses System für die sogenannte „Aufsichtsarbitrage“ genutzt, mit anderen Worten zur Erhöhung der Verschuldung entgegen den Vorschriften. Dieses System muss ebenfalls in das Regelungsumfeld eingebunden werden. Die Banken dürfen dieses System nicht zur Umgehung der Eigenkapitalanforderungen benutzen können.

2.7.3   Märkte

Die Krise hat unmissverständlich gezeigt, dass die Finanzmärkte keine inhärente Fähigkeit zur Selbstkorrektur besitzen, um in allen Situationen zu einem neuen Gleichgewicht zu finden. Der Übergang von einer Fülle von Transaktionen hin zur Illiquidität kann eventuell sehr schnell eintreten.

2.7.3.1   Wenn es sich wie im OTC um bilaterale Transaktionen handelt, kann der Konkurs eines Instituts sehr schnell auf viele Gegenparteien übergreifen, mit dem sich daraus ergebenden Systemrisiko. Um die Systemrisiken der Märkte zu begrenzen, müssen Transaktionen mit einer zentralen Gegenpartei an die Stelle der bilateralen Transaktionen treten. Außerdem sollten die Transaktionen entweder über dieselbe Plattform oder eine festgelegte Reihe von Plattformen abgewickelt werden, um mehr Transparenz zu gewährleisten. Die Erfüllung dieser Bedingungen wird wahrscheinlich eine stärkere Standardisierung der gehandelten Papiere erfordern - was kein unerwünschter Nebeneffekt, sondern eine positive Folgeerscheinung ist, die die Transparenz der Märkte verbessern wird.

3.   Governance

3.1   Die Märkte mögen bereits schwer zu kontrollieren sein, aber noch schwieriger ist die Governance zu kontrollieren: Dem Anschein nach übt zwar derjenige die Kontrolle effektiv oder mittels Paktieren aus, der die Mehrheit hat, aber in der Praxis ermöglichen die verschiedenen Rechtsordnungen, von denen einige permissiver als andere sind, die Schaffung von Finanzeinrichtungen unklaren Ursprungs. Neben einem generellen Transparenzproblem kommt eine komplexe Problematik mit ins Spiel: die der Durchdringung des Finanzwesens durch verborgene Mächte oder der Finanzkriminalität. Sie betrifft Staatsfonds und öffentlich kontrollierte Fonds, Geldwäsche, Steuerhinterziehung, Steueroasen - mit anderen Worten die - nicht unbedingt mehrheitliche - Präsenz „undurchsichtiger“ Interessen. Das Problem betrifft nicht nur die großen Unternehmensgruppen, sondern vielleicht in noch stärkerem Maße die Vielzahl der nicht notwendigerweise großen Finanzunternehmen und Investitionsfonds. Die Richtlinien sehen Bestimmungen für die Zulassung von Personen zu den Leitungsgremien und von Aktien zum Börsenhandel vor, sagen aber nichts über die Art und den Ursprung des Kapitals aus, wodurch dieser implizit als legal vorausgesetzt wird. Es geht hier nicht um neue Regelungen, sondern um die Herstellung operativer Verbindungen zwischen Ermittlungs- und Aufsichtsbehörden.

3.2   Die Achillesferse der großen Unternehmensgruppen ist häufig gerade eine schwache Governance, die zugeschnitten ist auf die Vorstellungen und Bedürfnisse der Manager, die zu den wahren Herren der Unternehmen geworden sind. Die Kapitalverwässerung, die auf die zunehmende Integration zwischen den Marktteilnehmern zurückzuführen ist, hat zu einer progressiven Schwächung der Referenzaktionäre geführt, in einigen Fällen bis zu dem Punkt, dass einem feindlichen Übernahmeangebot nicht mehr standgehalten werden kann. Große, international operierende Unternehmensgruppen wurden von ihren Wettbewerbern zuerst gekauft und dann ausgesaugt, mit sehr gravierenden Folgen für die Realwirtschaft und für die Arbeitnehmer.

3.3   „… in recht naher Zukunft wird die Gesellschaft in einem ganz anderen System grundlegender wirtschaftlicher, sozialer und politischer Institutionen organisiert sein, bei dem auch die grundlegenden sozialen Überzeugungen und Ideologien gänzlich andere sein werden. Im neuen sozialen Gefüge wird eine andere Gruppe oder Klasse - die Manager - die herrschende Klasse sein“ (James Burnham, The Managerial Revolution: What is Happening in the World. New York, John Day Co., 1941) (1).

3.4   Die Politik hat - quasi als willfähriges Werkzeug der großen Bankmanager - bei diesem Umbau mitgespielt. Selbst mit den jüngsten - erzwungenen - Übernahmen von Banken durch einige Mitgliedstaaten ist es nicht gelungen, wieder etwas Ordnung in die Beziehungen zwischen Managern und Aktionären zu bringen. Die vernichtende Niederlage von Präsident Obama gegen die AIG-Bosse, die 165 Mio. US-Dollar direkt aus den vom US-Finanzministerium bereitgestellten 170 Mrd. USD kassiert haben, zeigt das Ausmaß der - in diesem Fall unverschämt und arrogant ausgenutzten - ungeheuren Machtfülle der Manager. In den Vereinigten Staaten konnten die Großbanken dank des von den Steuerzahlern finanzierten Konjunkturpakets in Höhe von 787 Mrd. wieder auf die Beine kommen - und haben anschließend ihre Manager mit Boni überschüttet (49,5 Mrd. allein bei Goldman Sachs, JpMorganChase und Morgan Stanley). Dank der magischen Boni lassen sich jetzt auch noch Steuern sparen: da diese Vergütungen steuerlich abzugsfähig sind, wird das gesamte System (nach den Berechnungen der Robert Willens LLC) etwa 80 Mrd. sparen. In Europa sind die Zahlen bescheidener, aber die Royal Bank of Scotland hat 1,3 Mrd. Pfund Sterling verteilt. Nichts hat sich geändert!

3.5   Die Governance-Mechanismen müssen ernsthaft überdacht werden, in den Unternehmen muss die Macht zwischen Aktionären und Managern neu verteilt werden, und alle müssen wieder auf den ihnen gebührenden Platz verwiesen werden.

3.6   Die Beteiligung der Interessenträger an der Governance und eine fortschrittlichere Wirtschaftsdemokratie könnten zur Wiederherstellung des Gleichgewichts der Kräfte sowie zur kurz- bis langfristigen Ausrichtung der Unternehmensstrategien beitragen, was für die ganze Wirtschaft offenkundig von Nutzen wäre.

3.7   Nach der leichtsinnigen Phase zweistelliger Zuwachsraten sollte die Neuorientierung des Finanzsystems durch dauerhafte und stabile Gewinne, ein umsichtiges Risikomanagement und eine vorsichtige Investitionspolitik gekennzeichnet sein.

4.   Der Kredit - Wachstumsfaktor und soziale Funktion

4.1   Die unersetzliche Rolle des Finanzsystems, das den Produktionstätigkeiten Ressourcen zuleitet, hat offensichtliche positive soziale Auswirkungen. Durch die Arbeit und durch den von den Unternehmen - auch dank der Unterstützung der Banken - erwirtschafteten Reichtum werden Wohlstand und Dienstleistungen an die Allgemeinheit verteilt. Die Stabilität und Sicherheit der Wirtschaftstätigkeit wird dadurch gewährleistet, dass das Risiko von den Versicherungen mitgetragen wird.

4.2   Die soziale Funktion darf aber nicht mir der „sozialen“ Bewertung des Risikos verwechselt werden. Die Bank ist ein Unternehmen wie alle anderen auch und muss für die ihr anvertrauten Gelder haften: Eine Bank, die ein am Rande des Bankrotts stehendes Unternehmen finanziert, kann strafrechtlich belangt und im Falle von Privatkunden der Verleitung zur Überschuldung bezichtigt werden.

4.3   Das einzige gültige Kriterium für die Kreditvergabe ist eine strenge, objektive und verantwortungsvolle Bewertung des Risikos, natürlich in Verbindung mit einer Abschätzung der sozialen Zweckbestimmung der zur Verfügung gestellten Mittel: Es macht einen Unterschied, ob die Mittel jemandem gewährt werden, der die Produktion steigern oder Entlassungen verhindern will, oder jemandem, der seine Wirtschaftstätigkeit ins Ausland verlagern will. Dies sind universelle Kriterien, die für alle Banken - große wie kleine - und für Aktiengesellschaften ebenso wie für Genossenschaften oder Sparkassen Gültigkeit haben; sie gelten auch für diejenigen, die erklärtermaßen „soziale“ Funktionen wahrnehmen wie Mikrokredite bzw. ethische oder sozialverantwortliche Kredite.

5.   Was für ein Finanzsystem wollen wir nach der Krise?

5.1   Tomáš Baťa hat vor fast 80 Jahren den richtigen Weg gewiesen: eine starke Rückbesinnung auf das Berufsethos; die Wiederentdeckung von Werten und Grundsätzen, die im Lauf der Zeit massiv an Bedeutung eingebüßt hatten; auf Seiten der Investoren ein Sichbescheiden mit mäßigeren, aber stabileren Gewinnen bei einer langfristigen Politik; die Trennung zwischen den Tätigkeiten rein spekulativen Charakters, die besser reguliert werden müssen, und den übrigen Finanztätigkeiten.

5.2   Ein transparentes Finanzsystem, das ausreichende Informationen liefert, um das mit den vorgeschlagenen Transaktionen verbundene Risiko erkennen zu lassen: von Revolving-Kreditkarten (einigen Großemittenten wurde unlängst untersagt, ihre Produkte weiterhin unter Verstoß gegen die Wucher- und Geldwäschebestimmungen zu verkaufen) über die einfachen bis hin zu den komplexesten Finanzprodukten.

5.3   Ein sozialverantwortliches Finanzsystem. Das Streben nach schnellem Profit hat viele Finanzunternehmen dazu veranlasst, stärker auf die Quantität und das Verkaufsvolumen statt auf die Qualität der für den Kunden erbrachten Dienstleistung zu achten. Viele haben sich von Vorschlägen zum Kauf von Finanzprodukten beeinflussen lassen, die sich als für die Bedürfnisse der Sparer völlig ungeeignet erwiesen haben. Dies war ein Verkaufen wider besseren Rat, gesunden Menschenverstand und grundlegende professionelle Standards statt Verkaufen nach fundierter Beratung. Um höhere Ergebnisse zu erzielen, wurden diese Verkäufe durch ständigen täglichen Druck forciert, nicht nur durch den Einsatz von Prämien und Boni, sondern auch durch ein dem Mobbing vergleichbares Vorgehen gegen diejenigen, die nicht die geforderten immer höheren Ergebnisse erzielen konnten. Der im Gesetz festgeschriebene Grundsatz für betrügerisches Handeln und verdeckte Mängel sollte auch für das Finanzsystem gelten.

5.4   Ein ethisch verantwortliches Finanzsystem. Die berufsständischen Vereinigungen sollten Initiativen zur Verhütung von Fehlverhalten ergreifen und die Verantwortung für die exemplarische Bestrafung derjenigen Unternehmen übernehmen, die der bösen Absicht, des Betrugs oder eines anderen strafrechtlich verfolgbaren Verhaltens für schuldig befunden wurden. Derartige Stellungnahmen lassen bislang auf sich warten.

5.5   Ein besser kontrolliertes Finanzsystem. Die Akteure des Finanzsystems werden immer zahlreicher, während es den Aufsichtsbehörden immer weniger möglich ist, die Entwicklungen des Marktes genauestens zu verfolgen, und die Legislative immer weniger in der Lage ist, Ordnung zu schaffen und ungeeignete Akteure oder gar kriminelle Organisationen vom Markt fernzuhalten. In diesem Bereich muss unbedingt gestrafft, gesäubert und aufgeräumt werden. Das Finanzsystem, das doch mit den fortschrittlichsten Unternehmensmodellen operieren muss, ist nicht wirklich ein Wirtschaftszweig wie alle anderen. Es arbeitet mit einem ganz besonderen Kapital, nämlich dem Vertrauen der Anleger und Kunden, das für seine Tätigkeit unverzichtbar ist. Die Bewertung eines Titels mit AAA reichte aus, damit sich die Anleger absolut beruhigt fühlten. Die Realität hat gezeigt, dass die Sicherheitsmechanismen ihren Zweck bei Weitem nicht erfüllen.

5.6   Ein innovatives Finanzsystem. Die Suche nach neuen Finanzinstrumenten, die die Erfordernisse des Marktes besser erfüllen sollen, muss auch künftig die treibende Kraft der Wirtschaft sein. Die Verringerung der Verschuldung, die Erhöhung der Möglichkeiten der Risikoabsicherung und das Sichbescheiden mit einem angemessenen Gewinn ist der richtige Weg vorwärts: zurück in die Zukunft. Nach zwei Schritten zurück aufgrund der Schuld von Finanzhasardeuren müssen jetzt drei Schritte vorwärts in eine Zukunft der nachhaltigen Entwicklung getan werden.

Brüssel, den 16. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Anm. d. Übers.: Titel im deutschen Buchhandel nicht erhältlich, Text frei übersetzt.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/45


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Kreativität und Unternehmergeist als Ausweg aus der Krise“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 48/09

Berichterstatterin: Madi SHARMA

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 18. Februar 2010 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Kreativität und Unternehmergeist als Ausweg aus der Krise“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 1. September 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 109 gegen 2 Stimmen bei 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Vorwort – „Die Brücke“

Um die Krise zu überwinden und die mit Arbeitslosigkeit, Armut, Ungleichheit, Globalisierung und dem Klimawandel verbundenen Herausforderungen zu bewältigen, muss es Europa gelingen, dass sich seine Bürgerinnen und Bürger für andere Gedanken öffnen.

1.1   In dieser Stellungnahme werden Überlegungen zu dem zusätzlichen Nutzen angestellt, den Kreativität und Unternehmergeist als ein Ausweg aus der Krise erbringen, wobei der Schwerpunkt auf Investitionen in Humankapital durch Stärkung und Förderung des Vertrauens in die eigene Kraft gelegt wird.

1.2   In Europa wird Unternehmergeist in der Regel mit Unternehmensneugründungen, KMU sowie dem privatwirtschaftlichen und sozialwirtschaftlichen Sektor verbunden. „Unternehmerische Kompetenz ist die Fähigkeit des Einzelnen, Ideen in die Tat umzusetzen“, weshalb ihr Wert für die Gesellschaft, insbesondere in Krisenzeiten, nicht unterschätzt oder gar verworfen werden darf, denn sie

beinhaltet Kreativität, Innovation und Risikobereitschaft sowie

die Fähigkeit, Projekte zu planen und durchzuführen, um bestimmte Ziele zu erreichen,

hilft dem Einzelnen in seinem täglichen Leben zu Hause und in der Gesellschaft,

ermöglicht Arbeitnehmern, ihr Arbeitsumfeld bewusst wahrzunehmen,

beruht auf der Fähigkeit, Chancen zu ergreifen,

ist die Grundlage für die besonderen Fähigkeiten und Kenntnisse, die Unternehmer benötigen, um eine gesellschaftliche oder gewerbliche Tätigkeit zu begründen (1).

2.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

2.1   Mit dieser Stellungnahme sollen Möglichkeiten der Bewertung und Freisetzung des Potenzials der Bürgerinnen und Bürger der EU ermittelt werden. Ihr liegt ein umfassender Ansatz zugrunde, um Chancen für eine größere Zahl von Bürgern - unabhängig von Alter, Geschlecht, Rasse, Fähigkeiten oder sozialen Verhältnissen - zu schaffen. Davon ausgehend muss mit speziellen regionalen, nationalen und europäischen Programmen zur Förderung von Kreativität und Unternehmergeist für die benachteiligten Bevölkerungsgruppen gesorgt werden, um so Ungleichheiten in der Gesellschaft entgegen zu treten.

2.2   Sie behandelt folgende Fragen:

Wie kann die Vielfalt Europas erhalten, aber in eine gemeinsame Identität übergeleitet werden?

Wie kann Europa GÜNSTIGE VORAUSSETZUNGEN schaffen und seine Bürgerinnen und Bürger zum Handeln befähigen?

Wie kann ein stolzes, anspruchsvolles und wertebewusstes Europa geschaffen werden, dessen Bürger als Botschafter fungieren und ihre Erfolge hochhalten?

2.3   Nach der Finanzkrise erkennt der EWSA, dass die Schaffung von Arbeitsplätzen gefördert und gesunde und nachhaltige Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten geschaffen werden müssen. Qualitativ hochwertige Arbeit erfordert hohe unternehmerische Kompetenz sowie Investitionen in den öffentlichen und privaten Sektor, um international wettbewerbsfähig zu sein. Unternehmergeist ist ein Instrument zur Bewältigung dieser Herausforderung und Grundlage für realistische Hoffnungen auf den Erfolg aller Teile der Gesellschaft, und er trägt dazu bei, dass Europa eine dynamischere Identität findet.

2.4   In der EU-2020-Strategie sind thematische und zielgerichtete Leitinitiativen vorgesehen, mit denen die folgenden Prioritäten vorangebracht werden sollen:

Wertschöpfung durch wissensbasiertes Wachstum;

Befähigung zur aktiven Teilhabe an integrativen Gesellschaften. Die Aneignung neuer Fähigkeiten, die Förderung von Kreativität und Innovation, die Entwicklung von Unternehmergeist und ein reibungsloser Übergang zwischen Beschäftigungsverhältnissen sind entscheidend in Zeiten, da höhere Anpassungsfähigkeit mit mehr Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt belohnt wird;

Schaffung einer wettbewerbsfähigen, vernetzten und ökologischeren Wirtschaft.

2.5   Die Krise ermöglicht neue Modelle für Entwicklung, Wachstum und Regierungshandeln. Bessere und einheitliche Rahmenbedingungen sind für den Wandel von zentraler Bedeutung, und dies eröffnet den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft die Möglichkeit, mit praktischen und greifbaren Mechanismen beizutragen.

2.6   Das europäische Humankapital könnte durch die Schaffung eines FÖRDERNDEN Umfelds rasch voll zum Tragen kommen, wenn die folgenden einfachen und durchführbaren Empfehlungen IN DIE TAT UMGESETZT werden.

10 wesentliche Erfolgsbausteine hin zu einem Wandel

1.

LEITBILD: eine einheitliche Zielvorstellung für Europa;

2.

BILDUNG: Förderung des Initiativgeists;

3.

MOBILITÄT: Schaffung von Möglichkeiten für organisierte Mobilität zu Lernzwecken;

4.

RISIKOBEWUSSTSEIN: den Europäern ihre Risikoaversion nehmen;

5.

STIMULIERUNG: Förderung des unternehmerischen Geistes;

6.

RECHENSCHAFTSPFLICHT: zu europäischen Projekten;

7.

GEMEINSCHAFTSSINN: Förderung der aktiven Bürgerschaft;

8.

UMSETZUNG: von Maßnahmen für Unternehmer und KMU;

9.

KONSULTATION: Schaffung einer Plattform für die Anhörung der Interessenträger;

10.

FÖRDERUNG: einer neuen Kultur in den Medien und mithilfe von Botschaftern.

2.7   Diese Empfehlungen dürfen nicht die Aufgabe eines einzelnen Akteurs bleiben, sondern müssen in der Verantwortung aller liegen. In einer durch rasanten Wandel und Komplexität gekennzeichneten Welt benötigt der Einzelne neue Fähigkeiten und Fertigkeiten, um nicht aufs Abstellgleis zu geraten. Sozialer Dialog kann einen Wandel bewirken, um die Ziele der EU-2020-Strategie zu erreichen und ein nachhaltiges Unternehmertum zu entwickeln. In ganz Europa muss eine Tradition begründet werden, die den Weg für die unternehmerische Initiative von Einzelpersonen und Organisationen ebnet.

2.8   Der europäische Mehrwert von Investitionen in unternehmerischen Geist:

 

Gebe ich dir 1 Euro und gibst du mir 1 Euro, so haben wir jeder nur einen 1 Euro.

 

Gebe ich dir aber 1 Idee und gibst du mir 1 Idee, so haben wir bereits 2 Ideen.

Unternehmergeist in Europa = 500 Millionen Menschen + 500 Millionen Ideen + 500-millionenfaches Handeln.

Wie viele dieser Ideen könnten uns aus der Krise herausführen?

3.   Europa heute

3.1   Europa geriet 2008 in den Strudel einer Finanzkrise, die von den USA ausging, aber wirtschaftlich und sozial gravierende Folgen für die Gesellschaft hatte. Die Ursachen der Krise sind gut dokumentiert, zumal Europa mittel- bis langfristig zu den am stärksten betroffenen Regionen gehört.

3.2   2010 werden in der EU über 20 Millionen Arbeitslose gezählt. Die Mehrheit dieses ungenutzten Humankapitals sind junge Menschen, Frauen, ältere Arbeitskräfte, Migranten und weitere, besonders schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen. Weder der öffentliche Sektor mit seinen riesigen Haushaltsdefiziten noch die mit den Herausforderungen der Krise und der Globalisierung konfrontierten großen Unternehmen werden kurzfristig in der Lage sein, allein so viele Arbeitsplätze zu schaffen. Der Mythos einer Rückkehr zu einem starken Wachstum in der EU wird schon bald unrealistisch werden, wenn es nicht zu einem strukturellen Wandel kommt, da Arbeitslosigkeit hauptsächlich ein strukturelles Problem und weniger ein Problem des wirtschaftlichen Konjunkturzyklus ist.

3.3   Die EU muss sich auf die Wirtschaft, ein nachhaltiges Unternehmertum sowie die Beschäftigungs- und Sozialpolitik konzentrieren, die Globalisierung wird aber nicht den Schongang einlegen, bis Europa den Rückstand wettgemacht hat, auch wenn es viel zur Entwicklung anderer beitragen kann. Aus der europäischen Dimension erwächst die Möglichkeit für einen Austausch von Erfahrungen und durch sie wird eine bessere europäische Identität - inner- und außerhalb Europas - geschaffen.

3.4   Heute besteht die Europäische Union aus 27 kenntnisreichen, vereinten und leistungsfähigen Mitgliedstaaten, der sich benachbarte Länder nur zu gern anschließen würden. Europa hat viele Stärken - Frieden, Stabilität, Vielfalt, Rechtssysteme, geordnete Verhältnisse und Solidarität. Europa hält seine gesellschaftlichen Werte hoch und respektiert seine Regionen. Wirtschaftlich betrachtet verfügt Europa über einen Markt von 500 Mio. Menschen und Unternehmen mit viel Wachstumspotenzial.

3.5   Jetzt ist die Zeit dafür gekommen, dass Europa seine kollektiven Stärken voll ausspielt.

4.   Unternehmergeist: eine Stärke Europas und EIN Ausweg aus der Krise

4.1   Beim Unternehmergeist geht es um Wertschöpfung, die Europa aus der Krise bringt. Im Vertrag von Lissabon werden Unternehmergeist und die Vielfältigkeit von Wirtschaftsakteuren anerkannt, und jetzt müssen neue Wege nachhaltigen Unternehmertums als wichtige Triebkräfte für Wachstum und für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit gefunden werden.

4.2   Dazu gehört es, neue Ideen zu suchen und den entsprechenden Schwung zu erlangen, der die Grundlage für Vertrauen, Glaubwürdigkeit und anhaltendes Wachstum für die Zukunft bildet. Mit dem geschaffenen Wohlstand werden Investitionen in die Bildung, in Arbeitsplätze, Qualifikationen, Produktivität, in die Gesundheit und in soziale Verhältnisse unterstützt, bei denen Unternehmergeist, Kreativität und Innovation grundlegende Instrumente für das Vorankommen der Gesellschaft sind.

4.3   Durch zahlreiche theoretische und empirische Erfahrungen von Forschern sowie Erfahrungen aus der Wirtschaftspraxis wurde ein deutlicher Zusammenhang zwischen Unternehmergeist und Wachstum festgestellt (2). Wirtschaftsverbände, Gewerkschaftsverbände, internationale Entwicklungsorganisationen, die Weltbank, ILO, OECD und Nichtregierungsorganisationen unterstützen die Förderung von Unternehmergeist als wichtiges Instrument für Wachstum, Entwicklung, Bekämpfung der Armut und soziale Teilhabe. In zahlreichen Stellungnahmen des EWSA werden Empfehlungen abgegeben, in denen dem Unternehmergeist in der Gesellschaft ein hoher Stellenwert eingeräumt wird und viele Mitgliedstaaten verfügen über bewährte Verfahren auf diesem Gebiet.

4.4   Unternehmergeist wird weltweit als Triebkraft für Innovationen, Investitionen und Wandel anerkannt und muss somit eine unerlässliche Rolle bei der Überwindung der derzeitigen wirtschaftlichen Lage spielen, die von hoher Unsicherheit geprägt ist. In diesem Zusammenhang ist die Anerkennung von durch Unternehmergeist erworbenen Fähigkeiten und Kompetenzen ein Mittel, um Probleme zu lösen und auf neuen Ideen aufzubauen.

4.5   In der EU ging die wirtschaftliche Entwicklung immer mit einem deutlichen Bekenntnis zur sozialen Dimension einher, und dies muss auch durch Einbeziehung unternehmerischer Aktivitäten in unser tägliches Leben fortgesetzt werden. Außerhalb der Wirtschaft zeigt sich dies u.a. wie folgt:

Soziale Teilhabe und Armutsbekämpfung werden durch unternehmerische Initiative unterstützt, „denn die Gesellschaft steht im Mittelpunkt der Analyse jeglicher Innovation“ (3), weil sie ihre Vorstellungen, Verfahrensweisen und Institutionen verändert.

Beim Umweltschutz sind nachhaltige Energiequellen und die Anpassung an den Klimawandel gefragt, was neue Arbeitsweisen und eine umweltfreundlichere Gestaltung von Arbeitsplätzen sowie die Entstehung neuer „grüner“ Arbeitsplätze und sauberer Technologien nach sich ziehen wird.

Tourismus, Neuorientierung und Abwanderung, einschließlich der Neubelebung ländlicher und benachteiligter Gebiete verlangen unternehmerische Aktivitäten zur Schaffung von Arbeitsplätzen sowie Veränderungen der Infrastruktur, namentlich in Bereichen wie Stadtsanierung, Land- und Forstwirtschaft sowie Inseltourismus (4) und Ferien auf dem Bauernhof.

Im Bildungswesen dient Kreativität der Identifizierung der maßgeblichen Triebkräfte, die ein Streben nach Wissen bewirken, damit sich Menschen aller Bildungsstufen und unabhängig vom Alter mit dem Lernen befassen.

Im Gesundheitswesen werden neue Arbeitsweisen und Technologien eingesetzt, um ein optimales Umfeld für die medizinische Betreuung, die Forschung und Bereitstellung von Arzneimitteln und Therapien zu schaffen.

Aufgrund demografischer Prognosen werden soziale Anpassungsmaßnahmen erforderlich sowie neuartige und kreative Lösungen in den Bereichen Infrastruktur und Dienstleistungen, Erwerbstätigkeit, Familie und soziale Sicherung.

Die Tätigkeitsbereiche von Nichtregierungsorganisationen, die lebensnahe Projekte und Bildungsangebote umfassen, sind effektiv und wegweisend, da sie in zahlreichen Bereichen neue Lösungen für die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme erfordern.

Die Kapazitäten des öffentlichen Sektors erfordern Lösungen, um das Niveau mit begrenzten Mitteln zu halten und noch zu erhöhen.

4.6   In allen Menschen schlummern Begabungen, Kreativität und Unternehmergeist, die in einem Umfeld verstärkt werden, das solche Aktivitäten begünstigt. Dass der Einzelne im Mittelpunkt steht und dabei die Vielfalt gewahrt wird, ist von wesentlicher Bedeutung, denn Ausgrenzung setzt eine fatale Abwärtsspirale in Gang, bei der sich die Chancenungleichheit immer weiter verschärft: Je geringer die Entfaltungsmöglichkeiten, desto geringer der Anreiz, sich weiterzuentwickeln (5). Besonders in Europa eröffnen sich heute neue Lösungsansätze, damit es nicht mehr so viele unqualifizierte und arbeitslose Menschen gibt. Ein Ansatz der Vielfalt kann darüber hinaus zur Schaffung von Möglichkeiten für eine größere Zahl von Bürgerinnen und Bürgern - unabhängig von Alter, Geschlecht, Rasse, Fähigkeiten oder sozialen Verhältnissen - beitragen.

4.7   In jeder Lebensdimension sorgen eine Reihe kollektiver Faktoren für ein Umfeld, in dem sich Erfolge einstellen, auch beim Bewältigen einer Krise:

ein klares LEITBILD mit einer realisierbaren MISSION und erreichbaren ZIELSETZUNGEN;

ein PROJEKT mit EINHEITLICHER ZWECKBESTIMMUNG/IDENTITÄT;

ein KRISTALLISATIONSPUNKT und VERTRAUEN IN DIE EIGENE KRAFT;

eine FÜHRERSCHAFT, die Individualität ebenso fördert wie starke gemeinsame WERTVORSTELLUNGEN.

5.   10 ERFOLGSBAUSTEINE - Selbstvertrauen zur Schaffung eines fördernden Umfelds ist gefragt

Wachstum entsteht nicht in einem Vakuum; es setzt gleichgesinnte Bürger, Netze und Interessenträger voraus. Letztlich werden Traditionen in der Gesellschaft, am Arbeitsplatz und zu Hause den Unternehmergeist von Einzelpersonen und Organisationen begünstigen, was auch die Förderung des Beschäftigungsaufbaus durch kleine Unternehmen und ein größeres Angebot an Fachkräften einschließt. Interessenträger - Arbeitgeber, Gewerkschaften, NRO, der öffentliche Sektor und Entscheidungsträger müssen sich zusammenschließen, um einen kulturellen Wandel zu thematisieren und eine „unternehmerische Kultur“ zum Nutzen ALLER zu ermöglichen und so nicht nur einen Ausweg aus der Krise zu fördern, sondern auch die langfristigen Herausforderungen unseres Planeten zu bewältigen.

5.1   Eine klare und einheitliche Zielvorstellung für Europa  (6) muss mit einer Strategie und konkreten Zielsetzungen vermittelt werden. Hierzu gehören politische Führungskraft, verbunden mit Rechenschaftspflicht, Verantwortung und Realitätssinn. Das Binnenmarktprojekt wird wirtschaftlichen Wohlstand für alle, aber auch mehr Mobilität, neue Qualifikationen, geschäftliche Perspektiven und ein größeres Angebot bringen, und es ist erneut mit Leben zu erfüllen und zu vollenden. Unternehmergeist für alle muss jeden Bereich der Politik durchdringen.

5.2   Die Erziehung zu unternehmerischem Denken und Handeln in ganz Europa quer durch den Lehrplan und als Bestandteil des lebenslangen Lernens erfordert nach wie vor ein echtes Engagement seitens der Verantwortlichen. Die Förderung des Initiativgeistes muss einen hohen Stellenwert erhalten; ebenso müssen Kreativität und unternehmerische Initiative gewürdigt und nicht mit Geschäftemacherei oder Gewinnstreben gleichgesetzt werden. Kreativität entfaltet sich durch den Wissenserwerb in formalen und informellen Systemen. Erzieher und Lehrkräfte müssen voll und ganz einbezogen werden, um die richtige Kommunikation sicherzustellen. Lehrer lehnen möglicherweise eine enge Definition von Unternehmertum im Sinne von Unternehmensneugründung ab und begrüßen eher den breiteren Ansatz als Schlüsselkompetenz für das Leben. Durch „kontinuierliche Heranführung an den Unternehmergeist über alle Stufen des Bildungssystems“ zur Entwicklung von Aktivitäten und des Lehrprozesses kann „Unternehmergeist in den Klassenraum“ gebracht werden (7).

5.2.1   Die Lehrkräfte benötigen zukunftsweisende Arbeitsmethoden, experimentelles Lernen und Mechanismen, um die Lernenden mit modernen Fähigkeiten und Technologien vertraut zu machen. Sie müssen ihre Rolle als Wegbereiter berücksichtigen, die den Lernenden helfen, unabhängiger zu werden und die Initiative beim Lernen zu ergreifen. Eine effiziente Lehrerbildung, Austausch bewährter Verfahren und Netze (8) sowie Methodologien und Instrumente können die Lehrkräfte dabei unterstützen, sich an alle Lernmethoden anzupassen. Zur Förderung des Wissenstransfers könnten Partnerschaften mit Arbeitgebern, Gewerkschaften und NRO in Erwägung gezogen werden.

5.3   Die Schaffung von Möglichkeiten für organisierte Mobilität zu Lernzwecken muss für Europäer zur Selbstverständlichkeit werden. Der Zugang zu Bildungsmöglichkeiten ist ein bestimmender Faktor für sozialen Zusammenhalt, politische Teilhabe und staatsbürgerliches Engagement (9). Der EWSA könnte als ehrgeizige Initiative ein EU-Bildungsprogramm für das 21. Jahrhundert einleiten und mit den Interessenträgern erörtern, das dann später den EU-Verantwortlichen vorgelegt wird.

5.3.1   Dem Wissensdreieck (Bildung, Forschung, Innovation) kommt bei der Förderung von Wachstum und Beschäftigung eine entscheidende Bedeutung zu. Erasmus, Leonardo, Socrates und weitere Programme müssen allen offenstehen, leichter zugänglich sein, weniger Verwaltungsaufwand verursachen und die richtigen Anreize für die Teilnahme setzen. Der EWSA empfiehlt die Einführung eines Europasses, in dem alle in Europa absolvierten Bildungsmaßnahmen verzeichnet sind.

5.4   Das Führen der Europäer zu größerer Risikobereitschaft und zum Vertrauen in die eigene Kraft verbunden mit einer Kultur des „kalkulierten“ Risikos sollte im Mittelpunkt stehen, um eine leistungsfähige Gesellschaft zu entwickeln. Die Vorteile von Kreativität und Innovationen für die Gesellschaft und ihre Anerkennung durch die Gesellschaft sollte durch bewusste Anstrengungen dahingehend gefördert werden, dass die in Europa vorherrschende negative Kultur des Scheiterns überwunden wird.

5.4.1   Es müssen neuartige Mechanismen für die Erschließung von Finanzmitteln ins Auge gefasst werden. Dazu könnten die Bereitstellung von Kleinstkrediten (PROGRESS, ESF, JASMINE, JEREMIE und CIP) sowie Kleinstdarlehen für Kreditgenossenschaften und Gemeinschaftsprojekte gehören (10). Diese Instrumente können nicht nur zur Unterstützung von Unternehmern eingesetzt werden, sondern auch für nachhaltige bürger- und entwicklungsorientierte Initiativen, besonders von NRO.

5.4.2   Bestehende Instrumente zur Förderung von Innovationen müssen an den Wandel angepasst werden (dienstleistungs- und nutzerorientierte Innovationen). Bewältigung und Reduktion von Komplexität und Erhöhung der Flexibilität von Systemen, Erleichterung der Zusammenarbeit und rascherer Zugang zu Finanzmitteln - so kann die Umsetzung von Wissen in marktfähige Produkte beschleunigt werden.

5.5   Förderung von Großunternehmen als Nährboden und zur Stimulierung des Unternehmergeists. Es kommt darauf an, den Sachverstand und die Begabungen aller Arbeitnehmer zu würdigen, denn sie verfügen über zahlreiche praktische und intellektuelle Fähigkeiten. Das Ermitteln von Kompetenzen und weichen Fähigkeiten sollte durch die Entwicklung neuer Mittel für eine bessere Anerkennung dieser Fähigkeiten gefördert werden.

5.5.1   Die Bereitstellung von Praktikumsplätzen und Lehrstellen für Lernende und Arbeitslose sollte besser gefördert und angeregt werden.

5.5.2   Die Entwicklung eines unternehmerischen Rahmens für Ausgründungen, bei dem das Großunternehmen die Innovatoren unterstützt und betreut und ihnen Marktchancen eröffnet, könnte dazu dienen, angemeldete, aber noch schlummernde Patente auf den Markt zu bringen. Bei der Entwicklung der Arbeitsbeziehungen und der Förderung eines optimalen Arbeitsumfelds müssen Maßnahmen zur Unterstützung von Ausschüssen für den sozialen Dialog und der Sozialpartner in Betracht gezogen werden, damit diese Folgenabschätzungen erstellen bzw. entsprechende Beiträge mit Blick auf die EU-Beschäftigungsstrategie und die EU-2020-Strategie leisten.

5.6   Eine Bewertung der langfristigen Ziele europäischer Projekte ist erforderlich, um die Investitionen zu rechtfertigen. Hierzu sollten Überlegungen hinsichtlich der Nachhaltigkeit des Projekts, der Verwertung erfolgreicher Ergebnisse und der Ergebnisse zum Nutzen der Gesellschaft als Grundlage gehören.

5.6.1   Hier könnten generationen- und branchenübergreifende Projekte entwickelt werden, wozu auch Cluster gehören, um Erfahrungen und innovative Ideen zusammenzuführen und neue Kenntnisse, handwerkliche Fertigkeiten, Fachwissen und Netze mithilfe von Mentoren- bzw. Tutorenverhältnissen zu teilen. Durch die Förderung nachhaltiger Wirtschaftsprojekte umweltbewusster Unternehmer, die sich der Herausforderungen des Klimawandels und der Knappheit von Energie und fossilen Rohstoffen bewusst sind, wird der Umweltschutz hervorgehoben.

5.7   Förderung von Gemeinschaftsinitiativen und einer aktiven Bürgerschaft zur Unterstützung europäisch ausgerichteter Projekte zum Wohle der Gemeinschaft und/oder von der Gemeinschaft initiierter Projekte. Hierbei sollten Vielfalt und besonders schutzbedürftige Gruppen berücksichtigt werden, und dies könnte mit einem freiwilligen europäischen Zertifizierungsmechanismus für die soziale Verantwortung von Unternehmen (CSR) sowie mit Optionen für die Überarbeitung von Gemeinschaftsinitiativen verbunden werden.

5.8   Ein deutliches Bekenntnis zu Maßnahmen zur Unterstützung eines fördernden Umfelds für Unternehmer, die ein Unternehmen gründen wollen, ist unerlässlich. 98 % aller Firmen in der EU sind KMU; der EU-Rahmen mit seinen langjährigen Traditionen der Entwicklung von KMU muss beibehalten und verbessert werden (11).

Der „Small Business Act“ für Europa und der Grundsatz „Vorfahrt für KMU“ erfordern immer noch ein starkes Engagement in vielen Mitgliedstaaten, und hier ist man noch weit entfernt von dem, was in einer Krise nötig wäre. Bessere Zugangs- und Teilnahmemöglichkeiten für KMU bei EU-Projekten und öffentlichen Ausschreibungen müssen geschaffen werden, denn offene Märkte führen zu einem Anstieg der Unternehmensneugründungen. Ein interaktives Umfeld kann durch Nutzung von Gründungszentren, Clustern, Wissenschafts- und Technologieparks und Partnerschaften mit Hochschuleinrichtungen gefördert werden. Dazu könnte auch eine ZENTRALE ANLAUFSTELLE DER EU gehören, bei der Unternehmer aller Branchen Auskünfte erhalten.

Es müssen Überlegungen hinsichtlich der Schaffung eines soziales Sicherungsnetzes für Selbstständige angestellt werden, das die Besonderheiten der Unternehmensführung berücksichtigt, vor allem im Hinblick auf Mutterschaft, Kinderbetreuung und Einstellung der Geschäftstätigkeit.

Die Annahme des EU-Statuts für KMU durch den Rat, um auf diese Weise das Binnenmarktprojekt zu unterstützen und den KMU eine grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit zu erleichtern. Dieses Vorhaben, das auf eine EWSA-Initiative zurückgeht, schafft eine europäische Identität für neue Unternehmer.

Zunehmende Sensibilisierung und Unterstützung für das Programm „Erasmus für junge Unternehmer“  (12). Es müssen Wege gefunden werden, wie eine größere Zahl von Gastunternehmen gewonnen und ihr Beitrag anerkannt werden kann, damit wirklich etwas bewirkt wird. Dazu könnten ein „Europäischer Preis für Unternehmer“, ein EU- Markenzeichen oder die Teilnahme an Maßnahmen mit hoher Öffentlichkeitswirksamkeit gehören. Eine Bescheinigung der Kompetenzen von Unternehmern erfolgt - anders als bei Arbeitnehmern - nur selten, sodass ihr Beitrag zur Gesellschaft keine Anerkennung findet.

5.9   Nutzung des Sachverstands durch Schaffung einer Plattform für die Anhörung der Interessenträger zu Fragen der Verbesserung des Geistes und der Kultur der Innovation und Kreativität in der EU. Die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Interessenträgern könnte abgestimmte und bereichsübergreifende Empfehlungen an die Politik hervorbringen, u.a. zu folgenden Themen: die Vertiefung der Beziehungen zwischen Hochschulen und Industrie, die Innovationstätigkeit unter kommerziellen und nichtkommerziellen Vorzeichen, die Mobilität von Wissenschaftlern, der Einsatz von Strukturfondsmitteln, der globale Erfahrungsaustausch und die Schaffung eines Rahmens zur Behandlung dringender Fragen. Durch Bürgerdialog für eine bessere Förderung von Unternehmergeist auf regionaler Ebene kann ein europäisches Unternehmerprofil gefördert werden, das dem Zeitgeist des 21. Jahrhunderts entspricht.

5.10   Förderung der neuen Kultur über die Medien mit einem Netz von Botschaftern und Vorbildern. Es muss für eine Kultur geworben werden, die unternehmerisches Denken anerkennt und Initiativen für Neugründungen und Wachstumsunternehmen, Sozialunternehmer, Innovationstätigkeit des öffentlichen Sektors, Kreativität am Arbeitsplatz, Nachfolgeplanung und Mitbestimmung fördert. Die neue Kultur des Unternehmergeistes in Europa erfordert Führungsstärke und Engagement, die von Sprechern oder „Botschaftern“ vermittelt werden.

6.   Die Krise ist der Stimulus, der Europa dazu bringt, nicht nur das Potenzial seiner Bürgerinnen und Bürger zu erkennen, sondern auch deren unternehmerischen Geist und unternehmerisches Denken zu fördern.

6.1   Diese Krise wird nicht die einzige sein, mit der Europa konfrontiert werden wird, und um sicherzustellen, dass Europa für künftige Herausforderungen gewappnet ist, muss eine Dynamik erzeugt werden, die durch die 10 Erfolgsbausteine in Verbindung mit den nachstehenden Maßnahmen Veränderungen bewirkt:

Aktionsplan,

Task-Force Europäischer Unternehmergeist,

Plattform der Interessenträger,

Europäischer und G-20-Gipfel zu Unternehmergeist,

Europa erneuern (Europa 2020).

6.1.1   Der EWSA könnte diese Ideen demnächst mit den entsprechenden Interessengruppen weiterentwickeln.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  KOM(2005) 548. Anhang, Ziffer 7.

(2)  Audretsch, D. B. and R. Thurik (2001), Linking Entrepreneurship to Growth, OECD Science, Technology and Industry Working Papers, 2001/2, OECD Publishing. doi: 10.1787/736170038056.

(3)  EUCIS-LLL in Barcelona 2010.

(4)  Bornholm, Dänemark.

(5)  Hillman 1997.

(6)  Die Bürger müssen in der Lage sein, Folgendes festzustellen:

I.

Das Leitbild für Europa sind weltoffene Vereinigte Staaten von Europa, in der alle Kulturen und Sprachen geachtet werden.

II.

Die besondere Stärke Europas liegt darin, dass es nach jahrhundertelangen Bürgerkriegen und Konflikten ein gemeinsames und friedliches Gemeinwesen geschaffen hat.

III.

Europa steht für ein prosperierendes politisches Gemeinwesen, das ein Höchstmaß an Möglichkeiten bietet, individuelle oder kollektive Träume zu verwirklichen.

IV.

Europäer zu sein bedeutet, gemeinsame Wertvorstellungen zu teilen, zumeist als gute Mischung aus individuellen (leistungsbezogenen) und kollektiven Wertvorstellungen.

V.

Ein europäischer Bürger zu sein bietet den Vorteil, in kultureller, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Hinsicht den gemeinschaftlichen Maßstab anzulegen und die eigenen Fähigkeiten und Qualifikationen für die eigene Zukunft und die anderer weiterzuentwickeln.

(7)  ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 110.

(8)  Bericht „Towards greater cooperation and coherence in entrepreneurship education“ (Für mehr Zusammenarbeit und Kohärenz bei der Vermittlung unternehmerischer Fähigkeiten), Europäische Kommission, März 2010.

(9)  BIG ISSUE, ACAF Spanien.

(10)  Siehe: www.european-microfinance.org - Beispiele für Gemeinschaftsprojekte und soziale Eingliederungsprojekte, die auf unternehmerische Initiative zurückzuführen sind.

(11)  KMU werden oft als die größte Gruppe von Unternehmern angesehen und Empfehlungen zur Unterstützung ihres Wachstums wurden sowohl vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB), der Europäischen Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe (UEAPME) sowie in zahlreichen Stellungnahmen des EWSA gegeben.

(12)  Europäische Kommission, GD Unternehmen, Programm „Erasmus für junge Unternehmer“.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/51


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine Antwort der EU auf die Verschiebung des weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisses“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 48/10

Berichterstatter: Brian CALLANAN

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 18. Februar 2010 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Eine Antwort der EU auf die Verschiebung des weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisses“ (Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 20. Juli 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September 2010) mit 135 gegen 4 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

1.1   Die Mitgliedstaaten leiden unter der schlimmsten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren und der Wirtschaftsaufschwung bleibt weiterhin lückenhaft, schwach und anfällig. Infolge dieser tiefsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich das weltweite Gleichgewicht verändert. Europa muss seine Position und seine Strategien in diesem neuen Umfeld neu definieren. Da es 85 % seines Handels auf seinem Binnenmarkt abwickelt, werden sich einige Antworten auf die neuen Herausforderungen intern finden lassen. Eine Erhöhung der Binnennachfrage ist entscheidend dafür, dass eine nachhaltige EU die globalen Herausforderungen bewältigen kann. Der EWSA hat zu diesem Themenbereich eine Reihe von Stellungnahmen verfasst. In dieser Stellungnahme wird die externe Dimension der Antwort der EU auf die weltweite Wirtschaftskrise untersucht: die Neupositionierung der EU auf dem Weltmarkt. Dabei werden Veränderungen in der Wirtschaftsleistung der EU auf dem weltweiten Markt und die internationalen Auswirkungen des Aufstiegs Chinas und anderer Entwicklungsländer betrachtet. Es werden Fragen gestellt, die eine Analyse dieser Themen sowie eine Diskussion über deren Auswirkungen auf die Politik- und Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem Rest der Welt anregen sollen. Des Weiteren enthält sie Gedanken und Ideen der Zivilgesellschaft zu einer politischen Debatte, deren Schlussfolgerungen weitreichende Folgen haben werden.

1.2   Europa steht bei der Reaktion auf die dramatischen Veränderungen in den weltweiten Wirtschafts-, Politik- und Handelsbeziehungen, die durch die Rezession noch beschleunigt wurden, vor grundlegenden Herausforderungen. Dabei muss Europa sich anpassen, indem es: das Wachstum ankurbelt; mehr und bessere Arbeitsplätze schafft und die Wirtschaft umweltfreundlicher und innovativer gestaltet; die von der EU-2020-Strategie anvisierte Beschäftigungsquote von 75 % erreicht und sicherstellt, dass dabei auch Risikogruppen wie junge Menschen, Frauen, Menschen mittleren Alters und Menschen mit Behinderungen eingeschlossen werden.

1.3   Bisher hat das Projekt Europa seine meiste Energie darauf verwendet, nach innen zu schauen: Aufbau des Binnenmarktes, Umstrukturierung der Institutionen, Währungsstreitigkeiten, endlose Verhandlungen über die Verträge. Um diese Rezession zu überstehen und sich für die Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfolgreich neu zu organisieren, muss Europa im kommenden Jahrzehnt nach außen schauen. Auf diese Weise wird sich die EU Entwicklungen stärker bewusst, die insbesondere durch das neue Zusammenspiel zwischen den USA und China und den Einfluss bedeutender Gruppen von Entwicklungsländern wie den BRIC-Staaten bestimmt werden, und kann besser auf sie reagieren.

1.4   Jedenfalls hat Europa laut Kommissionspräsident José Manuel BARROSO die Mittel, den Verstand, die nötigen Kapazitäten, die Geschichte und die personellen, intellektuellen und kulturellen Ressourcen, um Erfolg zu haben.

1.5   Die Kommission setzt sich in ihrem Arbeitsprogramm dafür ein, die Hindernisse für internationale Handels- und Investitionsströme abzubauen, die derzeitigen bilateralen Verhandlungen zum Abschluss zu bringen, die Durchsetzung vorhandener Abkommen zu verbessern und Initiativen zur Öffnung des Handels für Wachstumsbereiche, wie Hightech, Dienstleistungen und Umweltdienste, zu ergreifen.

1.6   Eine besorgniserregende Entwicklung ist die Tatsache, dass Europa in keinem Hightech-Sektor weltweit führend ist und nicht über genug Hightech-Unternehmen verfügt, um die Schlüsseltechnologien der Zukunft gut auszunutzen.

1.7   Der EWSA weist auf die Bedeutung von Fragen hin, die über die Kernthemen dieser Stellungnahme, d.h. den schädlichen Protektionismus und die Bewältigung des Klimawandels, hinausgehen, wie z.B.: Förderung unternehmerisch und global ausgerichteter Jungunternehmen; Unterstützung der Innovation in bereits etablierten Industriezweigen; Aufrechterhaltung der für Europa strategisch wichtigen Sektoren; Berücksichtigung des Exportpotenzials öffentlicher Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung; sowie Begünstigung von Partnerschaften zwischen europäischen Städten und Städten in anderen Teilen der Welt.

1.8   Eine Folge der weltweiten Rezession ist die zunehmende Attraktivität protektionistischer Maßnahmen. Der Generaldirektor der Welthandelsorganisation, Pascal LAMY, hat die Länder ermahnt, dieser Versuchung zu widerstehen.

1.9   Außerhalb der EU muss die Doha-Runde erfolgreich abgeschlossen werden, was sich jedoch als schwierig erweist. In der Zwischenzeit knüpft die EU ein Netz von bilateralen Partnerschaften und Abkommen sowohl mit Industrie- als auch Entwicklungsländern, das die globale Handelspolitik zunehmend beeinflussen wird.

1.10   Weitere wichtige Ziele der EU-Politik sind: Gegenseitigkeit in den neuen bilateralen Abkommen der EU, wenn möglich unter Förderung der Energiesicherheit; Gewährleistung flexibler, den sich oft schnell ändernden Bedingungen angepasster Vorschriften; Beseitigung nichttarifärer Handelshemmnisse, auch über die Grenzen hinaus, Transparenz der Arbeitsnormen und Qualitätsstandards im Einklang mit den Normen der ILO; Freihandelsabkommen für Umweltgüter und -dienstleistungen.

1.11   Multilaterale Umweltübereinkommen und internationale Handelsvereinbarungen müssen reibungslos ineinander greifen, sodass sie sich gegenseitig unterstützen und nicht behindern.

1.12   Die Energiesicherheit ist eine der zentralen Herausforderungen, die die EU im Zusammenhang mit dem Klimawandel zu bewältigen hat. Zum Beispiel durch eine Zusammenarbeit in folgenden Bereichen: Verhandlungen über externe Liefervereinbarungen (wie es bereits im Rahmen bilateraler Handelsabkommen geschieht); Export von Fachwissen und Technologien zur Verbesserung der Infrastruktur, wie z.B. „intelligente Netze“ oder die neue Generation von Energieerzeugungstechnologien, die auf andere als fossile Brennstoffe zurückgreifen; gemeinsame Nutzung der neuen Technologien, die zur Erreichung der derzeitigen 20 %-Ziele der EU im Hinblick auf die Nutzung alternativer Energien entwickelt werden; Auffindung von Möglichkeiten für den Export von Fachwissen, um Anreize zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes zu entwickeln und zu nutzen.

1.13   Da die einzelnen Teile der Welt immer stärker voneinander abhängig und miteinander verknüpft sind, müssen auch die Denkweisen der politischen Entscheidungsträger einander angenähert werden. Die Interaktion zwischen dem europäischen Binnenmarkt und der europäischen Handelspolitik ist noch nie so wichtig gewesen wie heute. Dasselbe gilt für die erforderliche Konsultation innerhalb der EU, zwischen ihren einzelnen Institutionen und mit ihren Mitgliedstaaten, durch die die effiziente Entwicklung, Festlegung und Umsetzung einer flexibleren Handelspolitik unterstützt und gestärkt wird.

1.14   Auf menschlicher Ebene geht es darum, die Angst und Unsicherheit zu bewältigen, die durch Änderungen der wirtschaftlichen Machtkonstellationen hervorrufen werden. Die organisierte Zivilgesellschaft hat die Chance und die Pflicht, den Bürgern, Politikern und Volkswirtschaften dabei zu helfen, mit diesen Veränderungen umzugehen.

1.15   Die neue 2020-Strategie der Kommission ist die erste strategische politische Reaktion der EU auf die Rezession und die Verschiebung des weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisses. Voraussetzung für den Erfolg der Strategie ist ein – auch mit den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft – abgestimmtes europäisches Vorgehen (laut Kommissionspräsident BARROSO in der Mitteilung „Europa 2020“). Als Reaktion auf die Verschiebungen des weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisses muss sich die EU auf die Partnerschaft zwischen Staat und organisierter Zivilgesellschaft stützen, um eine hohe Wirtschaftsleistung und sozialen Zusammenhalt zu erreichen.

1.16   Allerdings verfügt die Kommission über nur wenige direkte Instrumente zur Beeinflussung des Fortschritts; die Verantwortung bleibt weitestgehend bei den Regierungen der Mitgliedstaaten, die im eigenen Land unter einem verstärkten finanziellen, politischen und sozialen Druck stehen.

2.   Einleitung

2.1   „Die Mitgliedstaaten leiden unter der schlimmsten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren … und der Wirtschaftsaufschwung bleibt weiterhin lückenhaft, schwach und anfällig. (1) Infolge dieser tiefsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich das weltweite Gleichgewicht verändert. Europa muss seine Position und seine Strategien in diesem neuen Umfeld neu definieren. Da es 85 % seines Handels auf seinem Binnenmarkt abwickelt, werden sich einige Antworten auf die neuen Herausforderungen intern finden lassen. Eine Erhöhung der Binnennachfrage ist entscheidend dafür, dass eine nachhaltige EU die globalen Herausforderungen bewältigen kann. Der EWSA hat zu diesem Themenbereich eine Reihe von Stellungnahmen verfasst (2). In dieser Stellungnahme wird die externe Dimension der Antwort der EU auf die weltweite Wirtschaftskrise untersucht: die Neupositionierung der EU auf dem Weltmarkt. Dabei werden Veränderungen in der Wirtschaftsleistung der EU auf dem weltweiten Markt und die internationalen Auswirkungen des Aufstiegs Chinas und anderer Entwicklungsländer betrachtet. Es werden Fragen gestellt, die eine Analyse dieser Themen sowie eine Diskussion über deren Auswirkungen auf die Politik- und Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem Rest der Welt anregen sollen. Des Weiteren enthält sie Gedanken und Ideen der Zivilgesellschaft zu einer politischen Debatte, deren Schlussfolgerungen weitreichende Folgen haben werden.

2.2   Europa ist von der Weltwirtschaft abhängig und dominiert derzeit viele ihrer Märkte. Aber wie lange noch? Um 1800 machten Europa und seine Niederlassungen in der „Neuen Welt“ 12 % der Weltbevölkerung und etwa 27 % ihres gesamten Einkommens aus. Diese Vorherrschaft erreichte 1913 ihren Höhepunkt, als diese „entwickelten“ Volkswirtschaften 20 % der Weltbevölkerung, aber über die Hälfte (d.h. über 50 %) des Welteinkommens ausmachten. Heute ist dieser Anteil an der Weltbevölkerung wieder auf 12 % gesunken mit weiter fallender Tendenz; unser Anteil am Welteinkommen bleibt jedoch weiterhin bei etwa 45 % (3).

Um die Auswirkungen der derzeitig stattfindenden Veränderungen auf den weltweiten Märkten wirksam bewältigen zu können, ist der Ausschuss der Ansicht, dass sich die politischen Entscheidungsträger der EU stärker auf die neuen Gegebenheiten der europäischen Welthandelsbeziehungen, insbesondere die europäische Exportleistung, konzentrieren und diesen mehr Beachtung schenken sollten.

3.   Hintergrund

3.1   Europäischer Handel

3.1.1   Die Gesamthöhe der europäischen Exporte wird auf etwa 1,3 Billionen US-Dollar geschätzt. Den Handel zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten nicht eingerechnet, machten die Exporte der EU im Jahr 2008 16 % der gesamten weltweiten Exporte aus, wobei die wichtigsten Handelspartner der EU im Export die USA, Russland, die Schweiz, China und die Türkei waren.

3.1.2   In einer globalisierten Welt, in der die EU-Länder wichtige Akteure auf bedeutenden Märkten sind, müssen die Politiken, die den Beziehungen zwischen den einzelnen europäischen Ländern zugrunde liegen, auf weltweite Entwicklungen reagieren, wie z.B. die Auswirkungen der zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung der Handelspartner China, Indien und Brasilien auf die politischen Beziehungen. Aber wie soll sich Europa anpassen? Indem die EU in weltweiten Angelegenheiten eine wichtigere Rolle für sich selbst in Anspruch nimmt? Oder ganz im Gegenteil, indem die EU akzeptiert, dass gerade in raschem Tempo ein neues Weltbild entsteht, das hauptsächlich von einer neuen „G2“ bestehend aus Washington und Peking beherrscht wird?

3.1.3   Die Kommission erkennt in ihrem Arbeitsprogramm an, dass der internationale Handel ein Wachstumsmotor für Beschäftigung und Investitionen in der Union ist, und setzt sich dafür ein, die Hindernisse für internationale Handels- und Investitionsströme abzubauen, die derzeitigen bilateralen Verhandlungen zum Abschluss zu bringen, die Durchsetzung vorhandener Abkommen zu verbessern und Initiativen zur Öffnung des Handels für Wachstumsbereiche, wie Hightech, Dienstleistungen und Umweltdienste, zu ergreifen. Von kritischer Bedeutung wird die Verbesserung der bilateralen Beziehungen mit den USA, China, Japan und Russland sein.

3.2   Europäischer Handel in der Weltwirtschaft

3.2.1   Durch die Rezession verändern sich die weltweiten wirtschaftlichen Machtkonstellationen. Von 2000 bis 2007 haben Schwellenländer, vor allem China, ihre Investitionen ausgeweitet und führen die Erholung der Weltwirtschaft nun an, insbesondere aufgrund des Exportwachstums (z.B. 17,7 % im Dezember 2009). In demselben Zeitraum verzeichnete die EU eine ungleichmäßig hohe Exportleistung und bedeutende Verluste auf einigen dynamischen Märkten, insbesondere in Asien und Russland.

3.2.2   Während also eine exportbedingte wirtschaftliche Erholung in China stattfindet, bleibt dies in der EU noch weitestgehend ein Wunschdenken. Die Kommission schätzt, dass die Exporte der EU 2010 um 5 % und 2011 um 5,1 % zunehmen werden. Die Abwertung des Euro gegenüber den Währungen der wichtigsten Handelspartner der EU wird dazu einen bedeutenden Beitrag leisten. Dies wird jedoch nicht zu einer Ankurbelung des „nationalen“ Wirtschaftsaufschwungs anderer Länder als Deutschland und Irland führen, die ohnehin bereits stark in den internationalen Handel eingebunden sind (4).

3.2.3   In einem Bericht der Europäischen Kommission wurde festgestellt, dass die Exportleistung der EU bei Hightech-Produkten schwach ausfällt, was zu Bedenken über die Fähigkeit Europas Anlass gibt, seine Produkte in Bezug auf Qualität und Innovation auf dem neuesten Stand zu halten (5). Die Erbringung von Dienstleitungen hat ebenfalls abgenommen und zwischen 2004 und 2006 an Marktanteil verloren. Dies ist eine besorgniserregende Entwicklung, wie auch die Tatsache, dass Europa in keinem Hightech-Sektor weltweit führend ist und nicht über genug Hightech-Unternehmen verfügt, um die Schlüsseltechnologien der Zukunft gut auszunutzen.

3.2.4   Trotz dieser Schwachpunkte ist die EU die wichtigste Handelsmacht für Dienstleistungen, der wichtigste Exporteur und zweitgrößte Importeur von Gütern, tätigt viele Direktinvestitionen im Ausland und gehört zu den wichtigsten Empfängern ausländischer Direktinvestitionen. Für Europa ist die Aufrechterhaltung und Stärkung seiner Stellung im internationalen Handel deshalb ungemein wichtig. Dies erfordert jedoch ein Umdenken auf Grundlage der veränderten und wesentlich komplexeren weltweiten Handelsbedingungen.

3.2.5   Der EWSA weist auf die Bedeutung von Fragen hin, die über die Kernthemen dieser Stellungnahme, d.h. den schädlichen Protektionismus und die Bewältigung des Klimawandels, hinausgehen, wie z.B.: Förderung unternehmerisch und global ausgerichteter Jungunternehmen; Unterstützung der Innovation in bereits etablierten Industriezweigen; Aufrechterhaltung der für Europa strategisch wichtigen Sektoren; Berücksichtigung des Exportpotenzials öffentlicher Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung; sowie Begünstigung von Partnerschaften zwischen europäischen Städten und Städten in anderen Teilen der Welt.

3.3   Ein neues Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Macht und Politik

3.3.1   Aufgrund des Konkurses von Lehman Brothers, einer der ältesten Investmentbanken an der Wall Street, und das dadurch ausgelöste Chaos auf den Märkten, in dessen Rahmen die verarbeitende Industrie ihren stärksten Rückgang seit dem Zweiten Weltkrieg zu verzeichnen hatte, stürzte die Weltwirtschaft im freien Fall ab. Staatliche Eingriffe verhinderten einen Domino-Effekt im weltweiten Bankensystem, konnten jedoch eine schnelle und abrupte Abnahme der Kapitalströme nicht verhindern.

3.3.2   Die Auswirkungen auf den Handel waren unmittelbar zu spüren, da der Zugang zu Krediten eingeschränkt wurde und die Verbraucherausgaben drastisch sanken, wodurch sich die Unternehmen gezwungen sahen, ihre Produktion herunterzufahren. Allerdings ist das Ausmaß dieser Anpassungen in den einzelnen Handelsblöcken sehr unterschiedlich gewesen, wobei sich die chinesische Wirtschaft am schnellsten wieder erholt hat. Einen maßgeblichen Beitrag dazu leistete die Entscheidung der chinesischen Regierung, eine fiskalpolitische Maßnahme zu verabschieden, durch die 580 Mrd. US-Dollar in die chinesische Wirtschaft gepumpt wurden, um einen raschen Wirtschaftsaufschwung zu erreichen.

3.3.3   Im März 2009 wurden in Peking, London, Washington und Frankfurt politische Maßnahmen ergriffen. Die Staats- und Regierungschefs der G20 versprachen eine Unterstützung von 1 Billion US-Dollar seitens des IWF und der Weltbank, um auf weltweiter Ebene zu wiederholen, was bereits in einzelnen Staaten unternommen worden war. Auf diesem Treffen konnte einer neuen Generation mächtiger und/oder einflussreicher Akteure auf der internationalen Bühne ein „Reifezeugnis“ ausgestellt werden, die eine neue Weltwirtschaftsordnung und drastische Veränderungen für die Wirtschaftsbeziehungen mit möglicherweise großen Folgen für die europäische Handelspolitik widerspiegeln.

3.3.4   Konsumlastige Länder wie die USA wurden dazu ermutigt, ihre Ausgaben zu reduzieren, und Länder mit einem Überschuss an Krediten und Währungsreserven wurden dazu angehalten, ihre Verbrauchernachfrage zu steigern. Es wurde auf die Bedeutung hingewiesen, nachhaltige und ausgewogene Ansätze in der Weltwirtschaft zu verfolgen, und darauf aufmerksam gemacht, dass es im eigenen Interesse der EU ist, enger mit dem Rest der Welt zusammenzuarbeiten.

3.3.5   Trotz des jüngst neu belebten Wachstums gibt es Gründe dafür, weiter auf der Hut zu bleiben. Wirtschaftsexperten sind sich weiter uneinig über die künftige Entwicklung der Weltwirtschaft. Es wurden Fragen darüber aufgeworfen, wann und wie die konjunkturpolitischen Maßnahmen zurückgefahren werden sollten, welche Auswirkungen sie bisher gehabt haben und ob sie auf lange Sicht nachhaltig sind. Während zum Teil eine Neubelebung des Wachstums stattfindet, kommt es jedoch gleichzeitig zu einer „menschlichen Rezession“ (6). Die hohe Arbeitslosigkeit bedeutet, dass es für die führenden Politiker schwierig geworden ist, den freien Handel politisch, intellektuell und innenpolitisch zu rechtfertigen .

3.3.6   Die europäische Entscheidungsfindung muss sich als Reaktion auf die Verschiebung des weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisses folgenden Herausforderungen stellen: umgehende Einstellung auf deren Auswirkungen; Entwicklung einer dazu nötigen neuen Denkweise; gemeinsames, einvernehmliches, wohl durchdachtes und schnelles Handeln; Förderung neuer Möglichkeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen wie der „grünen Wirtschaft“; Unterstützung von Unternehmen bei der Erhaltung von Arbeitsplätzen; Unterstützung derjenigen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, um sich an die neuen Möglichkeiten anzupassen und auf diese einzustellen, da vergangene strukturelle Veränderungen gezeigt haben, dass die Unterstützung von Einzelpersonen bei der Neuorientierung und Anpassung die wirksamste politische Lösung darstellt (7).

4.   Zwei Hauptprobleme

4.1   Protektionismus

4.1.1   Eine Folge der weltweiten Rezession ist die zunehmende Attraktivität protektionistischer Maßnahmen. Der Generaldirektor der Welthandelsorganisation, Pascal LAMY, hat die Länder ermahnt, dieser Versuchung zu widerstehen (8). Die EU hat am meisten von transparenten und durchsetzbaren Regeln profitiert, die auf faire und objektive Weise wettbewerbsfähige Handelsbedingungen fördern und begünstigen. Jedoch sind laut dem für Handel zuständigen Kommissionsmitglied Karel DE GUCHT während der aktuellen Wirtschaftskrise bereits 280 handelshemmende Maßnahmen von den wichtigsten Handelspartnern der EU eingeführt worden. Es wird befürchtet, dass diese Maßnahmen zu einem neuen und dauerhaften Bestandteil des allgemeinen Handelsrahmens werden könnten.

4.1.2   Eines der größten derzeitigen Handelshemmnisse ist der künstlich niedrig gehaltene Kurs des chinesischen Renminbi oder Yuan, durch den die chinesische Regierung die Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Exporte gewährleisten will. Dies ist ein großes Hindernis für den freien und fairen Handel, weshalb die jüngsten Maßnahmen zur Verbesserung der Lage begrüßt werden. Es sind jedoch auch langfristige und dauerhafte Veränderungen der Wechselkurspolitik der chinesischen Regierung erforderlich.

4.1.3   Konjunkturprogramme kurbeln das Wirtschaftswachstum an, indem sie die Nachfrage steigern, jedoch bleibt ihr vorrangiges Ziel die Unterstützung lokaler Unternehmen. Eine Nebenwirkung davon könnte jedoch die Stützung nicht wettbewerbsfähiger Sektoren sein. Durch die Wettbewerbsregeln und Vorschriften über staatliche Beihilfen ist die EU in der Lage, die Bemühungen zu koordinieren, um dies zu verhindern, und ein reibungslos funktionierender Binnenmarkt schließt potenziell schädigende protektionistische Maßnahmen aus.

4.1.4   Außerhalb der EU muss die Doha-Runde erfolgreich abgeschlossen werden, was sich jedoch als schwierig erweist. In der Zwischenzeit knüpft die EU ein Netz von bilateralen Partnerschaften und Abkommen sowohl mit Industrie- als auch Entwicklungsländern, das die globale Handelspolitik zunehmend beeinflussen wird.

4.1.5   Weitere wichtige Ziele der EU-Politik sind: Gegenseitigkeit in den neuen bilateralen Abkommen der EU, wenn möglich unter Förderung der Energiesicherheit; Gewährleistung flexibler, den sich oft schnell ändernden Bedingungen angepasster Vorschriften; Beseitigung nichttarifärer Handelshemmnisse, auch über die Grenzen hinaus, Transparenz der Arbeitsnormen und Qualitätsstandards im Einklang mit den Normen der ILO; Freihandelsabkommen für Umweltgüter und -dienstleistungen (9).

4.1.6   Durch die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags kommt es zu einer Reform der Beschlussfassungsprozesse der Union, in deren Rahmen die Mitentscheidungsbefugnis des Parlaments auf weitere wichtige Politikbereiche wie den Handel ausgeweitet wird. Es ist wichtig, dass diese neuen Prozesse, die Rat, Parlament und Kommission einschließen, zu schnelleren und flexibleren Maßnahmen führen, die die Fähigkeit der Union verbessern, effizient und kohärent sowohl auf wichtige strategische Bedürfnisse als auch auf kleine tagtägliche Aspekte der Handelspolitik zu reagieren.

4.2   Klimawandel

4.2.1   In Europa herrscht nun Einigkeit darüber, dass der Klimawandel ein sofortiges Handeln erfordert. Eine dramatische Folge der Globalisierung ist die durch sie hervorgerufene gegenseitige Abhängigkeit. Ein ungebremster Klimawandel geht zu Lasten künftiger Generationen und beeinträchtigt die Globalisierung, treibt die Rohstoffpreise in die Höhe und hat Naturkatastrophen zur Folge, insbesondere in Entwicklungsländern. Daher ist der Klimawandel von sowohl wirtschafts- als auch handelspolitischer Relevanz.

4.2.2   Die EU hat bei den Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels im Rahmen des Kyoto-Protokolls international die Führung übernommen. Das Ergebnis des Klimagipfels in Kopenhagen stellte für die Bemühungen Europas einen Rückschlag dar, was die internationale Zusammenarbeit insbesondere mit Entwicklungsländern betrifft, deren Emissionen die der Industrienationen bis 2020 überschritten haben werden. Die EU ist darüber hinaus besorgt, dass die ärmsten Länder der Welt am stärksten unter der aktuellen Phase des Klimawandels zu leiden haben, auf die die EU eine umfassende, realistische und praktische politische Antwort benötigt, um zu vermeiden, dass künftige Generationen womöglich mit vermeidbaren sozialen und wirtschaftlichen Folgen zu kämpfen haben.

4.2.3   Die Aufnahme des Klimawandels in die Handels- und Entwicklungspolitik der EU würde bedeuten, Kosten auf sich zu nehmen und Beschränkungen aufzuerlegen im Hinblick auf ein Ziel, das nur dann verwirklicht werden kann, wenn andere Handelsblöcke ebenso vorgehen (10). Multilaterale Umweltübereinkommen und internationale Handelsvereinbarungen müssen reibungslos ineinander greifen, sodass sie sich gegenseitig unterstützen und nicht behindern. Ist es also klug, die Führung zu übernehmen, während andere sich nicht dazu bewegen lassen bzw. nicht dazu gezwungen werden können mitzuziehen? Kann China zum Beispiel dazu gezwungen werden, sein Modell zur CO2-Reduzierung, in dem der „Verbraucher zahlt“, durch das Modell der EU, in dem der „Hersteller zahlt“, zu ersetzen (11)? Oder kann der Wall Street Einhalt geboten werden, die mit Unterstützung von Washington versucht, sich die Führungsrolle auf einem stark gewachsenen Emissionshandelsmarkt zu sichern?

4.2.4   Die Energiesicherheit ist eine der zentralen Herausforderungen, die die EU im Zusammenhang mit dem Klimawandel zu bewältigen hat. Während einzelne Mitgliedstaaten die Führung übernehmen, ist auch eine wirkliche und bedeutende europäische Dimension vorhanden, insbesondere im handelspolitischen Kontext. Zum Beispiel durch eine Zusammenarbeit in folgenden Bereichen: Verhandlungen über externe Liefervereinbarungen (wie es bereits im Rahmen bilateraler Handelsabkommen geschieht); Export von Fachwissen und Technologien zur Verbesserung der Infrastruktur, wie z.B. „intelligente Netze“ oder die neue Generation von Energieerzeugungstechnologien, die auf andere als fossile Brennstoffe zurückgreifen; gemeinsame Nutzung der neuen Technologien, die zur Erreichung der derzeitigen 20 %-Ziele der EU im Hinblick auf die Nutzung alternativer Energien entwickelt werden; Auffindung von Möglichkeiten für den Export von Fachwissen, um Anreize zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes zu entwickeln und zu nutzen.

5.   Reaktion

5.1   Herausforderungen erkennen und Chancen ergreifen

5.1.1   Um Chancen für den europäischen Handel zu schaffen, ist es wichtig, sich die Herausforderungen, die ein verändertes weltweites Umfeld für die EU, ihre Institutionen und ihre Mitgliedstaaten mit sich bringt, ehrlich vor Augen zu führen. Die durch den Lissabon-Vertrag eingeführten institutionellen Reformen müssen nach Ansicht des Ausschusses in noch engerer Zusammenarbeit und noch wirksamer umgesetzt werden, um der Herausforderung gerecht zu werden, neue und innovative Wege aufzutun, wie die bisherigen Errungenschaften der EU aufrechterhalten und ihre künftigen Ziele erreicht werden können (12). Wirksame Eingriffe erfordern eine ganzheitliche Sichtweise, die sich auf ein hohes Maß an aktuellen Kenntnissen, Einblicken und Verständnis stützt.

5.1.2   Da die einzelnen Teile der Welt immer stärker voneinander abhängig und miteinander verknüpft sind, müssen auch die Denkweisen der politischen Entscheidungsträger einander angenähert werden. Die Interaktion zwischen dem europäischen Binnenmarkt und der europäischen Handelspolitik ist noch nie so wichtig gewesen wie heute. Dasselbe gilt für die erforderliche Konsultation innerhalb der EU, zwischen ihren einzelnen Institutionen und mit ihren Mitgliedstaaten, durch die die effiziente Entwicklung, Festlegung und Umsetzung einer flexibleren Handelspolitik unterstützt und gestärkt wird.

5.1.3   Auf menschlicher Ebene geht es darum, die Angst und Unsicherheit zu bewältigen, die durch Änderungen der wirtschaftlichen Machtkonstellationen hervorrufen werden. Die organisierte Zivilgesellschaft hat die Chance und die Pflicht, den Bürgern, Politikern und Volkswirtschaften dabei zu helfen, mit diesen Veränderungen umzugehen. Der Rückgriff auf protektionistische Maßnahmen angesichts der veränderten globalen Machtverhältnisse könnte sich als ein aussichtsloses Unterfangen erweisen. Die Unterstützung der Menschen, Unternehmen und Regierungen bei der Anpassung an die neuen Gegebenheiten ist eine wirksame Methode zur Bewältigung der Angst und Unsicherheit. Zum Beispiel stellen die niedrige Geburtenrate und die alternde Bevölkerung in Europa tief greifende strukturelle Herausforderungen dar, die überwunden werden müssen.

5.1.3.1   Die wichtigste Politik besteht im Einklang mit den Zielen der EU-2020-Strategie darin, die Erwerbsquote zu erhöhen. Eine naheliegende Maßnahme ist es, für eine erschwingliche Kinderbetreuung für alle Eltern, die dies möchten, zu sorgen. Das bedeutet in der Praxis, dass mehr Frauen im Arbeitsmarkt verbleiben können. Dies wäre mit langfristigen und ausreichend hohen Zahlungen für Elternurlaub zu kombinieren. Als Folge müsste die Geburtenrate steigen, wenn die Eltern wirtschaftlich entlastet werden.

5.1.3.2   Außerdem stehen einzelne Unternehmen, die in Länder außerhalb der EU exportieren, aufgrund des Fehlens einwanderungspolitischer Maßnahmen zur angemessenen Erhöhung des Arbeitskräfteangebots vor einem schwierigen Dilemma: Sollen sie das Wachstum ihres Unternehmens drosseln oder seine Tätigkeiten dorthin verlegen, wo ein ausreichendes Angebot vorhanden ist (13)? Aus diesem Grund scheint es klug, gerechtfertigt und dringend nötig, eine umfassende und integrative einwanderungspolitische Antwort der EU auf die demografischen Herausforderungen in Erwägung zu ziehen.

5.1.4   Die neue 2020-Strategie der Kommission ist die erste strategische politische Reaktion der EU auf die Rezession und die Verschiebung des weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisses. Voraussetzung für den Erfolg der Strategie ist ein – auch mit den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft – abgestimmtes europäisches Vorgehen (laut Kommissionspräsident BARROSO in der Mitteilung „Europa 2020“). Als Reaktion auf die Verschiebungen des weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisses muss sich die EU auf die Partnerschaft zwischen Staat und organisierter Zivilgesellschaft stützen, um eine hohe Wirtschaftsleistung und sozialen Zusammenhalt zu erreichen.

5.1.5   Allerdings wird die neue Initiative in vielen Fällen auf dieselben Schwierigkeiten stoßen wie die Lissabon-Strategie: ihre Prioritäten könnten sich als zu verschiedenartig herausstellen; ihre Umsetzung könnte sich als problematisch erweisen; die Kommission verfügt über nur wenige direkte Instrumente zur Beeinflussung des Fortschritts; die Verantwortung bleibt weitestgehend bei den Regierungen der Mitgliedstaaten, die im eigenen Land unter einem verstärkten finanziellen, politischen und sozialen Druck stehen (14).

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, Pat COX, in dem kürzlich erschienenen Zeitungsartikel „Europe must raise its game now and not later“: http://www.irishtimes.com/newspaper/opinion/2010/0407/1224267827518.html.

(2)  Siehe u.a.: „Finanzkrise: Auswirkungen auf die RealwirtschaftABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 10.; „Europäisches Konjunkturprogramm“ (Ergänzende Stellungnahme; ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 149; Europäisches Konjunkturprogramm (ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 71); „Die Lissabon-Strategie nach 2010ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 3.

(3)  Der Historiker Niall Ferguson schrieb in der Financial Times (10.4.2010) über eine Reform des britischen Geschichtsunterrichts in der Sekundarstufe.

(4)  European Economic Forecast Spring 2010 - European Economy 2 – 2010.

(5)  Europäische Kommission, Generaldirektion Handel: „Global Europe: EU Performance in the global economy“, siehe http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2008/october/tradoc_141196.pdf (Zugriff: 4. Februar 2010).

(6)  „Falling Flat: More Evidence that America is Experiencing a Jobless Recovery“, The Economist, siehe http://www.economist.com/world/united-states/displaystory.cfm?story_id=15473802 (6. Februar 2010).

(7)  Siehe z.B. EWSA-Stellungnahme zum Thema „Europäisches Konjunkturprogramm“ (ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 149), in der es heißt: „Im Lichte der erwarteten demografischen Entwicklung muss eine intelligente Umstrukturierung der Wirtschaft daher darum bemüht sein, Beschäftigte anstatt zu kündigen im Unternehmen zu behalten und weiter zu qualifizieren, um beim Erstarken der Wirtschaft über ausreichend ausgebildete Fachkräfte zu verfügen. Die Unterstützung für Arbeitslose sollte an Programme für Umschulungen und Verbesserung des Qualifikationsniveaus geknüpft werden“.

(8)  http://www.wto.org/english/news_e/sppl_e/sppl101_e.htm, „Lamy warns on protectionism“, WTO-News.

(9)  Was derzeit nicht auf der Tagesordnung steht, aber dennoch in Betracht gezogen werden sollte, ist eine Diskussion über Regelungen zum geistigen Eigentum.

(10)  Die Gruppe der Arbeitgeber des EWSA erklärte kürzlich, dass „die zunehmende Zahl rivalisierender Gravitationszentren unter den Weltakteuren (…) zu einer hochkomplexen Interaktion bilateraler und multilateraler Beziehungen geführt“ hat und unter anderem Maßnahmen wie „Kohlendioxidverringerung und Energieeinsparung“ und den „Schutz offener Märkte gegen verdeckten Protektionismus“ erfordert. Siehe Broschüre „A New Phase Ahead: Need for a Political and Economic Impetus“, S. 10. In englischer Sprache abrufbar unter http://www.eesc.europa.eu/?i=portal.en.group-1-statements&itemCode=9894.

(11)  Rein logisch gesehen lässt sich der chinesische Standpunkt nicht ganz abstreiten: Warum sollte China eine Steuer auf die Produktion von Gütern akzeptieren, die dann in Industrieländern konsumiert werden, wo keine CO2-bezogene Verbrauchsteuer erhoben wird?

(12)  Ein gutes Beispiel für die erforderlichen innovativen Verfahrensweisen ist die von Präsident Barroso kürzlich eingesetzte Gruppe von Kommissaren, die sich mit der Finanzierung von Forschung und Entwicklung beschäftigen soll, ein Bereich, in dem zahlreiche unterschiedliche Direktionen über ihre eigenen, sich jedoch potenziell überschneidenden und/oder gegenseitig unterstützenden Rollen, Budgets und Verantwortungen verfügen.

(13)  Viele Unternehmen haben sich in der Tat bereits entschieden, und diejenigen, die aus Europa abgewandert sind, profitieren auch von den niedrigen Zolltarifen für viele in die EU importierte Güter, was Überlegungen darüber anstößt, ob diese betreffenden Steuern bzw. Zolltarife überdacht werden sollten.

(14)  Als eine von Europas kleinsten, offensten und handelsbasierten Volkswirtschaften könnte Irland als ein Labor zur Beobachtung dieser Antwort in einem Mikrokosmos betrachtetet werden, da die Regierung zur Unterstützung eines handelsbedingten Wirtschaftsaufschwungs folgende Aspekte fördert: Investitionen in Hochschul- und Postgraduiertenstudiengänge zur Förderung der Wissenschaft, Technologie und Innovation; Entwicklung eines weltweit wettbewerbsfähigen Forschungssystems, in dessen Rahmen ein Wissenstransfer von der Forschung zum Markt stattfindet; Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit in Irland ansässiger, international tätiger Unternehmen; Verringerung des CO2-Ausstoßes um 20 %; Unterstützung von Entwicklungsländern, die unter den Folgen des Klimawandels leiden.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/57


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Neubelebung der Wirtschaft: aktueller Stand und konkrete Initiativen“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 48/11

Berichterstatter: Lars NYBERG

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 18. März 2010 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Neubelebung der Wirtschaft: aktueller Stand und konkrete Initiativen“ (Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 20. Juli 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 16. September) mit 146 gegen 45 Stimmen bei 16 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Finanzkrise von 2008 und die darauf folgende Wirtschaftskrise erreichten ein seit dem Zweiten Weltkrieg nicht da gewesenes Ausmaß. Als sich Anfang 2010 eine Erholung von dieser Rezession abzuzeichnen begann, kam es zum Ausbruch einer diesmal nicht weltweiten, sondern europäischen Staatsanleihenkrise. Die Notwendigkeit, die öffentlichen Haushalte bei den Kosten im Zuge von Stützmaßnahmen für die Banken und sonstigen Ermessensmaßnahmen zu entlasten, wie auch die steigende Arbeitslosigkeit und die zusätzlichen Sparmaßnahmen in zahlreichen Ländern, sind eine Bedrohung für das Wirtschaftswachstum. Vor diesem Hintergrund sind nach Ansicht des EWSA politische Maßnahmen nicht nur deshalb erforderlich, um die Wirtschaft neu zu beleben, sondern auch um zu verhindern, dass Europa erneut in eine Rezession gerät.

1.2   Die EU verzeichnete 2009 ein negatives Wachstum von – 4,1 %. Vor der Staatsanleihenkrise im Frühjahr wurde für 2010 ein Wachstum von 0,7 % prognostiziert. Die Arbeitslosigkeit wird 2010 voraussichtlich bei ca. 10 % liegen und mit einem Rückgang der Erwerbsquote um 2 % verbunden sein. Das durchschnittliche Haushaltsdefizit stieg von 2,3 % im Jahr 2008 auf 6,8 % im Jahr 2009 und wird 2010 den Schätzungen zufolge 7,5 % erreichen. Während der Finanzkrise wurde die Liquidität auf dem Finanzmarkt durch massive Zahlungen aus den öffentlichen Haushalten gesichert. Der vor der Krise verzeichnete private Kreditboom wurde mittlerweise von einem hohen Bedarf an öffentlichen Krediten abgelöst. Um die Nachfrage zu steigern, braucht gleichzeitig der Privatsektor noch weitere Kredite. Die Wirtschaftslage der Mitgliedstaaten ist sehr unterschiedlich. Am höchsten sind die Haushaltsdefizite in Griechenland und anderen Mittelmeerländern sowie im Vereinigten Königreich und in Irland. Die höchsten Arbeitslosenquoten verzeichnen die baltischen Länder und Spanien. Gleichzeitig ist es den baltischen Ländern innerhalb kurzer Zeit gelungen, die hohen Staatsdefizite und das negative Wachstum durch eine strikte Wirtschaftspolitik zu verringern.

1.3   Eine Einstiegsstrategie

Aufgrund der weitreichenden wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ist es unangemessen, von einer Ausstiegsstrategie zu sprechen. Wir müssen mittels neuer wirtschaftlicher und politischer Initiativen zu einem Fahrplan für die sich neu herausbildende Gesellschaft gelangen - d.h. einer Einstiegsstrategie.

1.4   Der privater Verbrauch ist für die Gesamtnachfrage von grundlegender Bedeutung

Infolge der restriktiven Auswirkungen der Vorschläge zur Verringerung der höchsten Staatsdefizite auf die gesamteuropäische Wirtschaft ist ein selbsttragendes Wachstum in die Ferne gerückt. Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der Gesamtnachfrage und insbesondere des privaten Verbrauchs für die Andauer des Wachstumsprozesses. Um mit der wirtschaftlichen Unterstützung deutlichen Einfluss auf das Wachstum nehmen zu können, müssen die unteren Einkommensgruppen ins Visier genommen werden. Da sie einen größeren Teil ihres Einkommens verbrauchen, wird weniger Geld in höheren Ersparnissen versickern. Wenn es gelingt, die seit Jahrzehnten andauernde Verlagerung von der Arbeit hin zum Kapital umzukehren, kann eine Quelle künftigen Wachstums erschlossen werden. Investitionen und Exporte sind selbstverständlich wichtig, aber da der private Verbrauch ca. 60 % des BIP ausmacht, ist seine Entwicklung für das Wachstum - insbesondere in der gegenwärtigen Lage - von entscheidender Bedeutung.

1.4.1   Die Auswirkungen der Sparprogramme abschätzen

Die Wachstumsmöglichkeiten werden durch hohe Arbeitslosigkeit, eine niedrigere Erwerbsquote, moderate Einkommenssteigerungen, Kürzungen der öffentlichen Ausgaben, Steuererhöhungen und die neuen Sparprogramme eingeschränkt. Unter diesen Umständen sollte die Kommission unverzüglich die bremsende Wirkung all dieser Faktoren bewerten und Vorschläge für wachstumssichernde Gegenmaßnahmen vorlegen. Wachstum ist für andere wirtschaftspolitischen Ziele notwendig. Stillhalten und abwarten, bis die restriktive Wirkung der Sparprogramme einsetzt, ist keine Lösung.

1.5   Die Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit messen

Die Leistungsbilanz wurde im Rahmen der wirtschaftspolitischen Ziele nicht angemessen berücksichtigt. Angesichts der seit Langem bestehenden Defizite und Überschüsse in einigen Ländern lag es auf der Hand, dass die Probleme der EU-Wirtschaftskrise des Frühjahrs 2010 eines Tages auftreten würden. Der EWSA unterstreicht, dass die großen Leistungsbilanzunterschiede abgebaut werden müssen. Zentrales Ziel wird dann die in realen Lohnstückkosten gemessene Wettbewerbsfähigkeit, die Lohn- und Produktivitätsentwicklung sein. Während der letzten zehn Jahre ist die Wettbewerbsfähigkeit Irlands, Griechenlands, Italiens, Spaniens und Portugals im Durchschnitt um 10 % zurückgegangen, Haushaltsprobleme waren unvermeidlich.

1.5.1   Leistungsbilanz als Kriterium des Stabilitäts- und Wachstumspakt

Bei einer unterschiedlichen Lohn- und Produktivitätsentwicklung innerhalb eines Währungsraums besteht die einzige Lösung darin, in den hinterherhinkenden Ländern die relativen Löhne zu verändern oder die Produktivität zu steigern. Der EWSA schlägt daher vor, dass die Kommission ähnlich wie für die öffentlichen Defizite und Schulden eine Überprüfung der Leistungsbilanzen vornimmt. Dies kann durch eine Änderung der Verordnungen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt formal geregelt werden. Die Leistungsbilanzen wie auch die ursächlichen Lohn- und Produktivitätsentwicklungen sollten in allen 27 Mitgliedstaaten überprüft werden, jedoch mit mehr Handlungsbefugnissen in den Euroländern. Auf diese Weise wird die Realwirtschaft in den Stabilitäts- und Wachstumspakt einbezogen.

1.5.2   Statistiken über private Darlehen und ausländische Anteile von Staatsschulden

Bei den Diskussionen über den Stabilitäts- und Wachstumspakt sollten neue Statistiken über private Darlehen und der ausländische Anteil von Staatsschulden berücksichtigt werden.

1.6   Effektivere Regulierungs- und Aufsichtsverfahren im Finanzsektor

Im Hinblick auf den Finanzsektor könnte es eine wirkungsvolle Maßnahme sein, wenn ein Teil des Bankkapitals in öffentlicher Hand verbleibt, um Einblicke in den Banksektor zu bekommen. Die Erfahrungen des Jahres 2010 im Finanzbereich zeigen, dass die vorgeschlagene finanzielle Überwachung und Regulierung nicht ausreicht. Effektivere Regulierungs- und Aufsichtsmaßnahmen sind notwendig, insbesondere nach dem Verhalten des Banksektors in der Griechenland-Krise, um dieses Verhalten zu ändern und neue Wege zur Finanzierung der Staatsschulden zu finden.

1.7   Öffentliche Investitionen in den Bereichen Infrastrukturen und Energie

Bei Investitionen muss der Schwerpunkt auf dem Umweltschutz und Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels liegen. Der EWSA spricht sich dafür aus, den Markt mit Hilfe von Steuern zur Verringerung der Schadstoffemissionen zu bewegen. In Zeiten mangelnder Unternehmensinvestitionen muss der öffentliche Sektor mit Investitionen in Infrastruktur und Energie in die Bresche springen. Gemäß dem überarbeiteten Stabilitäts- und Wachstumspakt dürfen solche Investitionen bei der Feststellung eines übermäßigen Defizits nicht berücksichtigt werden.

1.8   Aktive Arbeitsmarktpolitik

Im Mittelpunkt der Arbeitsmarktpolitik sollte die Suche nach neuen Kompetenzen für neue Arbeitsplätze stehen. Außerdem muss der allgemeine Bildungsstand angehoben werden. Die Strategie Europa 2020 ist dafür wichtig. Zu den Maßnahmen zur Anhebung der Beschäftigungsrate zählen natürlich eine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung und ein Elternurlaub, der lang genug ist und ausreichend vergütet wird.

1.9   Eine Eintrittsstrategie für Familienpolitik und Maßnahmen zur Entwicklung der Kompetenzen

Wenn der Bedarf an Arbeitslosenunterstützung zurückgeht, sollten die gleichen öffentlichen Mittel in die Familienpolitik und die Maßnahmen zur Entwicklung der Kompetenzen fließen. Aus einer Ausstiegsstrategie wird eine Einstiegsstrategie. Die Architektur der Sozialsysteme muss zu Wohlstand und Beschäftigung führen, wenn auch natürlich im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten.

1.10   Neue Einnahmequellen – Steuern auf Finanztransaktionen und CO2-Emissionen

Steuern auf Finanztransaktionen und CO2-Emissionen sind mögliche neue Einnahmequellen für die öffentliche Hand. Neben der Steigerung der Einnahmen können sie auch zur Verringerung der Kurztermingeschäfte auf dem Finanzmarkt und zur Verbesserung unserer Umwelt beitragen.

1.11   Ausgabe von Eurobonds durch die EIB

Durch die Ausgabe von Eurobonds - oder besser EU-Bonds unter Einbeziehung aller 27 Mitgliedstaaten - durch die EIB könnte für den öffentlichen Sektor neues Kapital ohne völlige Abhängigkeit vom privaten Finanzsektor aufgebracht werden. Die Finanzierungsquellen sollten vorgelagert sein, z.B. in Form von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (EBAV); damit würde die EIB zu einer Schnittstelle zwischen diesen neuen Kapitalquellen und ihren Investitionen. Eurobonds sind ebenfalls mögliche Instrumente für langfristige private Sparanlagen.

2.   Aktueller Stand  (1)

2.1   Die Finanzkrise von 2008 und die darauf folgende Wirtschaftskrise erreichten ein seit dem Zweiten Weltkrieg nicht dagewesenes Ausmaß. Als sich Anfang 2010 eine Erholung von dieser Rezession abzuzeichnen begann, kam es zum Ausbruch einer - diesmal nicht weltweiten, sondern europäischen - Staatsverschuldungskrise. Die Notwendigkeit, die öffentlichen Haushalte von Stützmaßnahmen für die Banken und andere Branchen sowie von Ausgaben für sonstige Ermessensmaßnahmen zu entlasten, wie auch die steigende Arbeitslosigkeit und die zusätzlichen Sparmaßnahmen in zahlreichen Ländern sind eine Bedrohung für das Wirtschaftswachstum. Vor diesem Hintergrund sind nach Ansicht des EWSA politische Maßnahmen nicht nur deshalb erforderlich, um die Wirtschaft neu zu beleben, sondern auch, um zu verhindern, dass Europa erneut in eine Rezession gerät.

2.2   Negatives Wachstum

2.2.1   Als das Europäische Konjunkturprogramm im Dezember 2008 beschlossen wurde, ging man von einem Wirtschaftswachstum für 2009 von +/- Null aus, das dann schließlich bei minus 4,1 % lag. Das Programm basierte auf viel zu optimistischen Annahmen. Ohne fiskalpolitische Impulse wäre die Lage aber noch schlechter gewesen.

2.2.2   Das Niveau der wirtschaftlichen Unterstützung seitens der Mitgliedstaaten war mit 1,2 % des BIP größer als geplant, für 2009 und 2010 könnte es bei 2,7 % des BIP liegen. Der in den Mitgliedstaaten festgestellte Mittelbedarf überstieg die geplante Unterstützung, aber angesichts der Wachstumsentwicklung waren die Maßnahmen immer noch unzureichend.

2.2.3   Die wirtschaftlichen Anreize wurden nicht nur von den öffentlichen Haushalten gesetzt. Die EZB und andere Zentralbanken senkten die Zinssätze bis nahe Null und steigerten die Liquidität im Wirtschaftssystem auf eine bislang nie dagewesene Höhe. Einige Mitgliedstaaten wendeten zudem enorme Summen öffentlicher Gelder zur Rettung einiger Banken auf. Trotzdem wurde 2009 das Negativwachstum durch diese Maßnahmen nicht verhindert, was die Schwere der Finanz- und Wirtschaftskrise belegt.

2.2.4   Vor der Krise des Frühjahrs 2010 lag die Wachstumsprognose für 2010 bei 0,7 % und damit unter den Prognosen für unsere wichtigsten globalen Wettbewerber. Positive Aspekte sind die Aufwärtsbewegung bei den Indikatoren für Vertrauen, verstärktes Wachstum in anderen Teilen der Welt und die Rückkehr des Welthandels auf ein Niveau, das annähernd dem früheren Volumen entspricht. Als negative Aspekte sind zu vermelden: die Unternehmensinvestitionen waren im vierten Quartal 2009 immer noch rückläufig, bei der Industrieproduktion sind keine spürbaren Verbesserungen zu erkennen, die jüngsten Nachfrageanstiege dienten nur zur Erhöhung der Lagerbestände, die extrem niedrige Kapazitätsauslastung ist kein Ansporn zu Investitionen, das Bankwesen gewährt keinerlei Spielräume für erhöhte Investitionen und obendrein sind auch noch Turbulenzen auf dem Markt für Staatsanleihen zu verzeichnen.

2.3   Handel

Der Welthandel brach im vierten Quartal 2008 ein. Im Jahr zuvor war er um 20 % gestiegen, nun aber ging er um 12 % zurück. Der Rückgang setzte sich in den folgenden Quartalen fort. Der stärkste Rückgang in einem Quartal in Bezug auf das Vorjahrsquartal betrug ca. 30 %. Im vierten Quartal 2009 war mit einem Anstieg um 4 % eine Trendumkehr festzustellen. Die Zahlen für die EU sind fast identisch. Der Rückgang war im innergemeinschaftlichen Handel etwas ausgeprägter als im Handel mit Drittstaaten.

2.4   Arbeitsmarkt

2.4.1   Es wird immer noch von einer Zunahme der Arbeitslosigkeit infolge der Krise ausgegangen, da solche Effekte im Allgemeinen der realwirtschaftlichen Entwicklung hinterherhinken. 2010 wird die Arbeitslosigkeit in der EU bei ca. 10 % - mit erheblichen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten - liegen, was einen Anstieg um 3 % innerhalb eines Jahres bedeutet.

2.4.2   Arbeitslosigkeit ist nur eine der Auswirkungen, eine andere ist der Rückgang der Beschäftigungsquote, der bei ca. 2 % der Erwerbsbevölkerung lag. Außerdem wurde für viele Beschäftigte die Arbeitszeit reduziert, um Arbeitsplätze zu erhalten, was einem weiteren Rückgang der Erwerbsbevölkerung um 1 % entspricht. Bei einer wirtschaftlichen Erholung wird in letztgenannten Bereich zuerst wieder der Normalzustand erreicht werden. Das Wachstum muss stark genug sein, ansonsten handelt es sich um ein „Wachstum ohne Beschäftigung“.

2.5   Öffentliche Defizite

Das durchschnittliche Haushaltsdefizit stieg von 2,3 % des BIP im Jahr 2008 auf 6,8 % im Jahr 2009 und wird 2010 voraussichtlich 7,5 % erreichen. Diese Verschlechterung ist nicht nur auf aktive Unterstützungsmaßnahmen, sondern auch auf erhöhte Ausgaben und verringertes Steueraufkommen aufgrund des Mechanismus der automatischen Stabilisatoren zurückzuführen. Laut OECD wurden durch diese sozialen Sicherungsmechanismen in Europa mehr Arbeitsplätze gerettet als in anderen Wirtschaftssystemen.

2.6   Finanzmarkt

2.6.1   Auch im Jahr 2010 ist die Lage auf dem Finanzmarkt immer noch unklar. Es ist nicht zu erkennen, ob die nach wie vor niedrige Investitionsrate auf anhaltende Liquiditäts-Engpässe, Risikovermeidung der Kreditinstitute oder mangelnde Nachfrage seitens der Industrie zurückzuführen ist.

2.6.2   Eine Rückkehr des Kreditmarkts zu eher langfristigen anstelle von kurzfristigen Transaktionen ist notwendige Voraussetzung für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung. Dieser Aspekt wird in einer Stellungnahme des EWSA zum Thema Steuern auf Finanztransaktionen (2) vertieft.

2.6.3   Seit 2006 und bis zum Ausbruch der Finanzkrise war ein enormer Anstieg von Privatkrediten festzustellen (3). Die Schulden privater Haushalte verdoppelten sich im Euroraum genauso wie in den USA. Die privaten Ausgaben waren hoch und führten in einigen Ländern zu hohen Leistungsbilanzdefiziten. 2009 verschwand dieser Privatkredit-Boom und wurde teilweise durch Schulden der öffentlichen Hand ersetzt. Die hohen Haushaltsdefizite werden in den kommenden Jahren anhalten. Gleichzeitig muss die Nachfrage des Privatsektors erhöht werden, um die Erholung auf den Weg zu bringen, und für beides sind Kredite erforderlich.

2.6.4   Die Rentenkassen wurden durch erhebliche Kursrückgänge bei Wertpapieren getroffen, die für 2009 auf real 24 % veranschlagt werden (4). Die Renten sind in Gefahr, wodurch die Möglichkeiten für eine Ankurbelung der privaten Nachfrage eingeschränkt werden. Versorgungsansprüche aus Rentenkassen sind ausgesprochen langfristig, die Rentenkassen legen ihre Guthaben aber sehr viel kurzfristiger an. Deshalb muss die Quote langfristiger Finanzierungsinstrumente auf dem Kapitalmarkt sowohl für Pensionsfonds als auch für andere Altersversorgungseinrichtungen, wie z.B. Versicherungsunternehmen, erhöht werden.

2.7   Länderüberblick

2.7.1   Der stärkste Rückgang des BIP aller Mitgliedstaaten war in Deutschland und im Vereinigten Königreich zu verzeichnen. Unter den kleinsten Mitgliedstaaten war der Rückgang in den drei baltischen Ländern 2009 am größten - nach einer Reihe von Jahren mit sehr starker Zunahme des BIP. In diesen Jahren waren auch die Löhne sehr stark und überproportional im Vergleich zum Produktivitätszuwachs gestiegen. Die baltischen Länder - insbesondere Litauen - reagierten aber sehr schnell mit Lohnsenkungen auf die Krise. Die größten Lohnzuwächse waren 2009 in Griechenland zu verzeichnen, die mit keinem entsprechenden Produktivitätszuwachs einhergingen. Die Ausnahme bildete 2009 Polen, das ein Wachstum von 1,7 % aufwies. Gründe dafür liegen in der Zunahme öffentlicher Investitionen und des privaten Verbrauchs sowie in einer recht erfreulichen Beschäftigungsentwicklung.

2.7.2   Die baltischen Staaten - gefolgt von Bulgarien und Spanien - beklagen 2009 auch den größten Rückgang in der Beschäftigungsquote. Kein Mitgliedstaat konnte seine Beschäftigungsquote halten, aber in Deutschland betrug der Rückgang lediglich 0,4 %. Die Arbeitslosenquote war 2009 in Lettland mit 21,7 % am höchsten, gefolgt von Litauen, Estland, Spanien, der Slowakei und Irland.

2.7.3   In den Turbulenzen der Staatsanleihenkrise im Jahr 2010 stellte sich heraus, dass das Staatsdefizit Griechenlands ca. 13 % des BIP beträgt, was zu spekulativen Angriffen auf den Euro führte. Ein ähnliches Defizit wurde für das Vereinigte Königreich festgestellt. Das Defizit in Spanien stieg quasi „über Nacht“ auf ein unhaltbares Niveau. Gegen die großen Defizite und die hohe Staatsverschuldung werden in diesen Ländern sowie u.a. in Portugal, Italien und Irland Sparmaßnahmen beschlossen.

3.   Konkrete Initiativen für die Neubelebung der Wirtschaft

3.1   Keine „Ausstiegs-“, sondern vielmehr eine „Einstiegsstrategie“

3.1.1   Es wurde viel über eine „Ausstiegsstrategie“ - d.h. den Rückzug des Staates aus sämtlichen außerordentlichen Unterstützungsmaßnahmen für die Wirtschaft - debattiert. Die rechtlichen Gründe dafür liegen in der Vorschrift, dass das Haushaltsdefizit höchstens 3 % und die Staatsschulden höchsten 60 % des BIP betragen dürfen. Wie die Kommission in der Mitteilung Europa 2020 zutreffend deutlich machte, „sollten Stützungsmaßnahmen erst auslaufen, wenn sich die wirtschaftliche Erholung selbst trägt (5). Bei allen Unsicherheiten, die unsere Volkswirtschaften kennzeichnen, wird sehr schwer festzustellen sein, wann genau sich der Aufschwung von selbst trägt. Infolge der restriktiven Auswirkungen der Vorschläge zur Verringerung der höchsten Staatsdefizite auf die gesamteuropäische Wirtschaft ist ein selbsttragendes Wachstum in die Ferne gerückt. Überdies bedeutet eine Ausstiegstrategie in diesem Sinne, dass wir nach dem Stopp für die Unterstützungsmaßnahmen zur Vorkrisensituation zurückkehren könnten, was nicht der Fall ist.

3.1.2   Erstens werden derzeit in Bezug auf den Finanzsektor zahlreiche Änderungen umgesetzt oder vorbereitet. Es steht zu hoffen, dass der Finanzsektor transparenter und krisenresistenter wird. Zweitens muss sich die Lage auch in anderen Bereichen der Wirtschaft verändern, ansonsten besteht die Gefahr, dass sich die Probleme, mit denen wir in den letzten Jahren zu kämpfen hatten, erneut stellen.

3.1.3   Das Überdenken der wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte sollte uns dabei behilflich sein, neue wirtschaftliche und politische Initiativen zu erarbeiten, um die Wirtschaft weniger krisenanfällig zu machen. Deshalb kann hier nicht von einem Vorschlag für eine Ausstiegsstrategie die Rede sein, denn wenn wir einen Fahrplan für eine Ausstiegsstrategie festlegen, entscheiden wir auch über die sich neu herausbildende Gesellschaft - d.h. wir entscheiden über eine Einstiegsstrategie.

3.2   Gesamtnachfrage

3.2.1   Theoretisch gibt es zwei Möglichkeiten zur Erzielung von Wirtschaftswachstum: Steigerung der Produktion mit der gleichen Technologie oder Verbesserung der Technologie zur optimierten Verwendung der bestehenden Produktivmittel. Es hängt von der jeweiligen wirtschaftlichen Lage ab, auf welche dieser beiden Möglichkeiten das Schwergewicht zu legen ist. In einer Hochkonjunkturphase wird auf alle Ressourcen zurückgegriffen und Wachstum kann nur mittels Investition in innovative Produktionsverfahren erzielt werden. In einer Rezession - wie der ab 2008 - gibt es zahlreiche ungenutzte Ressourcen, die einer Verwendung zugeführt werden müssen. Deshalb ist eine Politik der Nachfrageförderung erforderlich. Die Gesamtnachfrage wird indes leider nicht mehr als echter Motor für Wirtschaftswachstum anerkannt.

3.2.2   Maßnahmen zur Nachfrageförderung müssen nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf Verbrauch und Investitionen haben, sie müssen auch das Vertrauen der Verbraucher und Investoren mehren. Genau so wie automatische Stabilisatoren während des konjunkturellen Abschwungs funktionieren, kann verstärktes Vertrauen in Aufschwungsphasen wirken. Vertrauen kann die Wirkung öffentlicher Maßnahmen verstärken und zu einem selbsttragenden Aufschwung führen. Für das Eintreten dieses Falles sind nicht nur die Höhe der Unterstützung, sondern auch die Gruppen, denen diese zugute kommt, von Bedeutung. Bevölkerungsgruppen mit niedrigerem Einkommen verwenden einen größeren Teil ihres Einkommens für den Konsum als Bevölkerungsgruppen mit höherem Einkommen. Deshalb gilt: Je mehr Unterstützung die erstgenannten Gruppen erhalten, desto weniger wird davon durch eine erhöhte Sparquote aufgesogen.

3.2.3   In Bezug auf das ursprüngliche Konjunkturprogramm könnte die Wirkung hinter den Erwartungen zurückbleiben, da ein Großteil der Maßnahmen der Mitgliedstaaten bereits geplant war und keinerlei zusätzlichen Wachstumsimpulse setzte. Die Kommission betonte im Frühjahr 2010 zu Recht, dass wachstumsfördernde Maßnahmen sozial wirksam sein müssen. Die Wachstumsprognose für 2010 liegt unter 1,5 %, das von vielen Wirtschaftswissenschaftlern als das Wachstumspotenzial der EU angesehen wird. Aber selbst bei einem Wachstum von 1,5 % würden Arbeitslosigkeit und Haushaltsdefizite nicht rasch genug abgebaut.

3.2.4   Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der Gesamtnachfrage für die Ankurbelung des Wachstums und verweist insbesondere auf die Bedeutung des privaten Verbrauchs.

3.2.5   Erhöhte Investitionen sind ebenfalls wichtig. Gemäß dem überarbeiteten Stabilitäts- und Wachstumspakt ist es möglich, die Korrektur eines übermäßigen Defizits aufzuschieben, wenn die übermäßigen Ausgaben für Investitionen getätigt werden. Investitionen sind allerdings nicht immer das einzige Instrument, um höheres Wachstum zu erzielen.

3.2.6   Andererseits sind erhöhte Ausfuhren auch nicht hinreichend. Der Handel findet in der EU vorwiegend zwischen den Mitgliedstaaten statt. Der Anteil des Handels mit Drittstaaten - Ausfuhren in andere weltwirtschaftliche Regionen - betrug lange Zeit ca. 10 % des BIP der EU. Der Anteil der EU am Welthandel beträgt ein Drittel. Wird jedoch der innergemeinschaftliche Handel ausgeklammert, sinkt dieser Anteil auf 16 %. Der Handel ist wichtig, er ist auch ein Gradmesser für die globale Wettbewerbsfähigkeit. Es gibt Anzeichen für einen Anstieg der Ausfuhren in den Rest der Welt, was natürlich durchaus positiv ist. Angesichts unzureichender Investitionen und der Verschlechterung der Lage auf dem Arbeitsmarkt ist dies allerdings nur ein schwacher Trost.

3.2.7   Laut ILO (6) findet bereits seit über zehn Jahren in der Weltwirtschaft eine Schwerpunktverlagerung von der Arbeit zum Kapital statt. Von 1999 bis 2007 ist die Gewinnquote in der EU-27 von 37 % auf 39 % des BIP gestiegen. Nach einem drastischen Rückgang auf 36 % im zweiten Halbjahr 2008 stieg sie im Lauf des Jahres 2009 auf 37 % (7). Es gibt Anzeichen für eine zunehmend ungleiche Einkommensverteilung.

3.2.8   Der private Verbrauch hat den Löwenanteil am BIP, der je nach den von den öffentlichen oder privaten Einrichtungen gemäß dem politischen System eines jeden Mitgliedstaates unternommenen Maßnahmen erheblich schwanken kann. Gleichwohl kann eine Veränderung des Anteils des privaten Verbrauchs auch auf einen Wandel der Einkommensverteilung hinweisen. Der Verbrauch war 2008 auf einen Anteil von 58 % am BIP der EU zurückgegangen, gegenüber 60 % im Jahr 2005 und 61 % im Jahr 2000. Wenngleich dies nur eine geringe Veränderung über einen langen Zeitraum ist, ist es einen Hinweis dafür, dass es Luft für eine Steigerung des privaten Verbrauchs als Mittel zur Belebung der Gesamtnachfrage gibt (8), insbesondere in der gegenwärtigen Wirtschaftslage.

3.2.9   Im Jahr 2010 sind indes bei hoher Arbeitslosigkeit und zurückgegangener Erwerbsquote, die mit bescheidenen Lohnerhöhungen einhergehen, keine Anzeichen für eine Zunahme des Verbrauchs zu erkennen, der eher abzunehmen scheint. Eine Reduzierung der öffentlichen Unterstützungsmaßnahmen ist deshalb zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine sinnvolle Politik. Angesichts dieser Schlussfolgerung ist die gegenwärtige Lage (im Jahr 2010) mit massiven Einschnitten bei den öffentlichen Ausgaben und Erhöhungen der Steuereinnahmen aus wirtschaftspolitischer Sicht äußerst problematisch. Der durch die öffentlichen Haushalte verursachte unvermeidliche Rückgang der Gesamtnachfrage ist insofern definitiv prozyklisch, als er die Wachstumsmöglichkeiten einschränken wird. Die Auswirkungen, d.h. vor allem die Kürzung des Einkommens der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, wird in Form einer geringeren Nachfrage auf die Wirtschaft insgesamt durchschlagen. Das Wachstum wird nicht seine potenzielle Rate erreichen können.

3.2.9.1   Für die EU sind Schätzungen über die möglichen restriktiven Auswirkungen dieser neuen Haushaltskürzungen von höchstem Interesse. Es wurden drastische Maßnahmen ergriffen. Desgleichen dürfte es im Interesse der EU liegen, diejenigen Länder, die sich nicht in einer so extrem schwierigen Situation befinden, zu einem Gegensteuern zu veranlassen, d.h. einer Steigerung der Gesamtnachfrage. Die Kommission sollte unverzüglich eine Schätzung über den Umfang dieser Gegenmaßnahmen vornehmen und anschließend angemessene Vorschläge unterbreiten. Die Kommission gedenkt, dies in der Wirtschaftsprognose im November 2010 zu tun. Dies ist aber zu spät. Das Wachstum lag im ersten Quartal 2010 - allerdings vor den Sparprogrammen - nahe bei den prognostizierten 0,7 %. Stillhalten und abwarten, bis die restriktive Wirkung der Sparprogramme einsetzt, ist keine Lösung.

3.2.9.2   Der EWSA ist der Auffassung, dass die aktuelle wirtschaftliche Lage neue Diskussionen erforderlich macht. Die 3 %-Grenze für Haushaltsdefizite sollte beibehalten werden, aber es muss über die großen Unterschiede bei den Defiziten gesprochen werden, da Staaten mit sehr hohen Defiziten definitiv eine Haushaltssanierung vornehmen müssen. Die Anforderungen an andere Länder, deren Defizit an der 3 %-Marke oder leicht darüber liegt, sollten etwas milder sein. Wo noch immer die Möglichkeit besteht, Defizite mit relativ niedrigen Zinsraten zu finanzieren, gibt es ein Interesse, vor allzu drastischen Haushaltsmaßnahmen vorläufig abzusehen. Eine Lektüre des überarbeiteten Stabilitäts- und Wachstumspakts aus dem Jahr 2005 zeigt, dass dies den damals vorgenommenen Änderungen sehr wohl entspricht, insbesondere in Bezug auf öffentliche Investitionen und den Handlungszwängen in Rezessionen.

3.3   Leistungsbilanz wieder auf der politischen Tagesordnung

3.3.1   Preisstabilität, Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung waren beim Streben nach Wohlstand seit Langem die vorherrschenden Ziele der Wirtschaftspolitik. Ein ausgeglichener Haushalt und die Eindämmung der Staatsschulden sind Zwischenziele, mit denen das Erreichen der echten Ziele sichergestellt werden soll. Zwei Ziele wurden seit Langem nicht mehr berücksichtigt: eine gerechte Einkommensverteilung und die Leistungsbilanz. Letztere büßte an Bedeutung ein, was ein Fehler war. Bei einem Binnenmarkt mit einer einheitlichen Währung ist dieses Ziel von grundlegender Bedeutung.

3.3.2   Betrachtet man die Leistungsbilanz, d.h. die Handelsbilanz mit anderen Ländern, wird klar und deutlich, welche Entwicklung der Euroraum nehmen musste. Im Laufe der Zeit hat Griechenland ein hohes Leistungsbilanzdefizit aufgebaut, wohingegen Deutschland, die Niederlande und Schweden lange Zeit Überschüsse aufwiesen. Andererseits haben die meisten Mittelmeerländer Leistungsbilanzdefizite, das gleichwohl in Bulgarien am größten ist.

3.3.3   Kurzfristig sind selbst hohe Leistungsbilanzdefizite oder -überschüsse kein Problem. Problematisch wird es erst dann, wenn die Ungleichgewichte viele Jahre lang anhalten oder wenn eingeführtes Kapital nicht richtig investiert wurde und potenzielle Produktivitätsgewinne nicht erzielt werden. Im Euroraum weisen Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und Irland praktisch seit der Einführung des Euro ziemliche hohe Leistungsbilanzdefizite auf. Außerhalb des Euroraums sind die Defizite der baltischen Länder und Bulgariens extrem hoch. Große Defizite können nur mittels einer außerordentlich rigiden Wirtschaftspolitik - wie 2009 in Estland, Lettland und Litauen durchgeführt - abgebaut werden.

3.3.4   Nachdem der EWSA auf die großen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten hingewiesen hat, möchte er betonen, dass diese Unterschiede verringert werden müssen. Das führt zum zentralen Ziel der Wettbewerbsfähigkeit. Wettbewerbsfähigkeit wird durch die Entwicklung der realen Lohnstückkosten gemessen, die die Auswirkungen der Lohn- und der Produktivitätsentwicklung insgesamt widerspiegelt. Im Euroraum ist vor allem die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Österreichs aufgrund niedrigerer realer Lohnstückkosten gestiegen. Anderseits sind die Löhne in Deutschland seit 2008 stärker gestiegen als die Produktivität, was zu Einbußen bei der Wettbewerbsfähigkeit geführt hat. Im letzten Jahrzehnt ist die Wettbewerbsfähigkeit in Irland, Griechenland, Italien, Spanien und Portugal im Durchschnitt um 10 % gesunken (9). Eine anhaltende Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit kann zu Haushaltsproblemen führen. Diese Auswirkungen wurden durch die Ereignisse des Jahres 2010 verdeutlicht. Deren Hauptursache, die in Veränderungen der Wettbewerbsfähigkeit zu suchen ist, wurde nicht angemessen zur Kenntnis genommen.

3.3.5   Da den Ländern des Euroraums nicht mehr das Instrument der Wechselkursänderung zur Verfügung steht, müssen zur Beobachtung des Verlaufs der relativen Wettbewerbsfähigkeit – die mit einem höheren Preisniveau als in anderen Ländern einhergeht – die „realen Wechselkurse“ herangezogen werden. Weicht die Entwicklung der Löhne und der Produktivität innerhalb eines Währungsraums ab, gibt es keine andere Möglichkeit zur Beseitigung der Probleme, als die relativen Löhne der Länder zu verändern oder die Produktivität in den hinterherhinkenden Ländern mittels Investitionen zu erhöhen. Es wäre absurd, von den Ländern mit einer guten Produktivitätsentwicklung zu verlangen, diese Entwicklung zu stoppen.

3.3.6   Die in der Krise des Frühjahrs 2010 gemachten Erfahrungen zeigen, dass Eurostat mit Prüfbefugnissen gegenüber den nationalen statistischen Ämtern ausgestattet werden sollte. Wenn statistische Daten über die Leistungsbilanz sowie die Lohn- und Produktivitätsentwicklung die Grundlage für neue politische Debatten auf europäischer Ebene sind, wird es noch wichtiger sein, über genaue Statistiken zu verfügen.

3.3.7   Der EWSA empfiehlt, die beiden Ziele in puncto Haushaltsbilanz und Staatsschulden durch ein drittes Ziel für die Leistungsbilanz vorzuschlagen. Diese kann nicht durch eine einzige Zahl widergespiegelt werden. Leistungsbilanzüberschüsse in einigen Ländern entsprechen immer Leistungsbilanzdefiziten in anderen Ländern. Probleme treten aber dann auf, wenn die Unterschiede zu groß sind, zu unvermittelt auftreten oder wenn importiertes Kapital nicht für produktive Investitionen verwendet wird.

3.3.8   Der EWSA legt der Kommission deshalb - analog zur Überwachung des Haushaltsdefizits und des Schuldenstands - eine obligatorische Überprüfung der Leistungsbilanzen der Euroländer nahe. Dies wurde nun auch von der Kommission in den Grundzügen der Wirtschaftspolitik und in einem Dokument zur Stärkung der wirtschaftlichen Erholung vorgeschlagen. Diese Fragen werden derzeit auch in der Arbeitsgruppe „Wirtschaftspolitische Steuerung“ unter dem Vorsitz von EU-Ratspräsident Herman VAN ROMPUY erörtert.

3.3.9   Der EWSA dringt auf eine konzeptuelle Stärkung dieser Vorschläge. Die neuen Zielvorgaben im Hinblick auf die Leistungsbilanz sollten genauso wie die beiden bestehenden Ziele des Stabilitäts- und Wachstumspakts behandelt werden. Die Leistungsbilanzen wie auch die zugrunde liegenden Lohn- und Produktivitätsentwicklungen sollten von der Kommission für alle 27 Mitgliedstaaten überprüft werden. Was die Ergreifung von Maßnahmen gegen Länder mit einer negativen Entwicklung angeht, sollten jedoch ebenso wie bei den öffentlichen Defiziten und Schulden mehr Befugnisse gegenüber den Euroländern vorgesehen werden. Das Handeln der EU sollte darin bestehen, die Richtung für Politikänderungen vorzugeben, nicht aber, diese praktisch umzusetzen. Dies wird weiterhin Sache der Mitgliedstaaten unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips sein. Durch eine Änderung der Verordnungen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt könnte die Realwirtschaft - oder mit anderen Worten die makroökonomische Dimension - in den Stabilitäts- und Wachstumspakt einbezogen werden.

3.3.10   Die Krise hat gezeigt, dass auch andere Aspekte des Stabilitäts- und Wachstumspakts weiterentwickelt werden müssen. Statistiken über Privatkredite und der Anteil ausländischer Darlehen an den Staatsschulden sollten zusammen mit den üblichen, gemäß Stabilitäts- und Wachstumspakt erforderlichen Statistiken veröffentlicht werden. Diese neuen Zahlen könnten als Frühwarnsystem und als Druckmittel gegen Länder mit problematischer Wirtschaftslage verwendet werden.

3.4   Weitere Schlüsselbereiche für eine Neubelebung der europäischen Wirtschaft

3.4.1   Finanzielle Unterstützung der öffentlichen Hand, Regulierung des Finanzsektors

3.4.1.1   Um eine für sämtliche Wirtschaftsbranchen - vor allem die Automobilbranche - verheerende Entwicklung abzuwenden, wurde umfangreiche öffentliche Unterstützung gewährt. Die üblichen Vorschriften für staatliche Beihilfemaßnahmen wurden nicht angewandt, um die Unterstützung zu stoppen.

3.4.1.2   Die spektakulärste Unterstützung wurde dem Finanzsektor gewährt, und in einigen europäischen Ländern sowie in den USA wurden einige Banken teilverstaatlicht. Diese Politik wird sicherlich an einen Wendepunkt gelangen, was allerdings noch einige Jahre dauern kann. Auch auf lange Sicht kann es ein wirkungsvoller Aspekt einzelstaatlicher Finanzpolitik sein, einen Teil des Bankkapitals in öffentlicher Hand zu halten, um Einblicke in den Bankensektor zu bekommen.

3.4.1.3   Teile des Finanzsektors, die von den Regierungen Unterstützung in nie dagewesenem Umfang erhalten haben, haben sich anschließend während der Griechenland-Krise an spekulativen Angriffen auf den Staatsanleihenmarkt im Euroraum beteiligt. Der Finanzmarkt versuchte, der Politik die Entscheidungskompetenz zu entreißen. Nach Durchlaufen einer sehr schweren Krise haben die Politiker wieder die Macht übernommen. Den Politikern kann zum Vorwurf gemacht werden, dass sie nichts unternommen haben, bis eine schwere Krise da war - dies gilt sowohl für die Finanzkrise als auch die Staatsanleihenkrise. Dies zeigt, dass die vorgeschlagene Regulierung und Finanzaufsicht nicht ausreicht. Effektivere Regulierungs- und Aufsichtsmaßnahmen sind notwendig, um eine Änderung des Verhaltens der Finanzinstitute herbeizuführen und neue Wege zur Finanzierung der Staatsschulden zu finden.

3.4.2   Grüne Wirtschaft

Auf lange Sicht müssen sich die Investitionen auf den Umweltschutz und Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels konzentrieren. Mit einer Verlagerung bei der Zusammensetzung der Investitionen muss jetzt begonnen werden. Die Kommission ist davon überzeugt, dass der Trend zu einer solchen Umstellung bei unseren internationalen Wettbewerbern stärker ausgeprägt ist. Eine solche Umstellung ist nicht nur aus Gründen des Umweltschutzes, sondern auch für die weltweite Wettbewerbsfähigkeit der EU von zentraler Bedeutung. So können neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um die wegfallenden zu ersetzen. Auf diese Weise kann wirtschaftliche Nachhaltigkeit mit ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit kombiniert werden. Ebenso wie die Kommission in ihrem Vorschlag zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik spricht sich auch der EWSA dafür aus, den Markt mit Hilfe von Steuern zur Verringerung der Schadstoffemissionen zu bewegen.

3.4.3   Infrastruktur und Energie

In Zeiten mangelnder Unternehmensinvestitionen muss der öffentliche Sektor mit Investitionen in die Bresche springen. Dies ist sowohl zur Ankurbelung des Wachstums als auch wegen des großen Bedarfs an Investitionen in den Bereichen Infrastrukturen und Energie notwendig. Die erneut fehlende Bereitschaft der Banken, bei der Gewährung von Darlehen für Unternehmen Risiken einzugehen, bereitet insbesondere den KMU Probleme. Trotz der gegenwärtigen Probleme bei Staatsanleihen gibt es in den meisten Ländern hierfür immer noch einen Zinsbonus, was einen Vorteil für öffentliche Investitionen bedeutet. Gemäß dem überarbeiteten Stabilitäts- und Wachstumspakt müssen Investitionen bei der Berechnung des übermäßigen Haushaltsdefizits nicht berücksichtigt werden.

3.4.4   Aktive Arbeitsmarktpolitik

Die Arbeitsmarktpolitik muss aktiv gestalten und darf sich nicht nur auf die wirtschaftliche Unterstützung der Arbeitslosen beschränken. Für die Weiterbildung und Umschulung sowohl von erwerbstätigen als auch von arbeitslosen Arbeitnehmern wurden zahlreiche unterschiedliche Programme aufgelegt. Das Ziel „Bildung für alle“ des turnusmäßigen Dreiervorsitzes der EU - Spanien, Belgien und Ungarn - ist vielversprechend. Eine Politik der Einbeziehung sollte nicht nur darin bestehen, die Menschen in Arbeit zu bringen, sondern sie sollte es ihnen auch ermöglichen, eine aktivere Rolle in der Gesellschaft zu spielen.

3.4.4.1   Die Festlegung eines Ziels für eine höhere Beschäftigungsquote - wie in der Strategie Europa 2020 - ist aber niemals ausreichend, zur Erhöhung der Beschäftigungsquote sind vielmehr einige grundlegende Maßnahmen erforderlich.

Dazu gehören Maßnahmen zum Ausbau der Kompetenzen, lebenslanges Lernen ist unabdingbar. Ein großes Problem ist die Entscheidung, wer dafür bezahlen muss: die Gesellschaft, die Arbeitgeber oder die Arbeitnehmer? Alle drei müssen in irgendeiner Form zur Finanzierung beitragen.

Die Grundlage ist das allgemeine Bildungsniveau: Europa muss den Bildungsstand insgesamt anheben.

Maßnahmen zur Anhebung der Beschäftigungsrate bestehen natürlich darin, eine qualitativ hochwertige und preiswerte Kinderbetreuung aufzubauen. Diese sollte mit Elternurlaub einhergehen, der lang genug ist und ausreichend vergütet wird, so dass die Menschen wieder Kinder bekommen wollen.

Zahlreiche Hindernisse können der Vermittelbarkeit von Arbeitssuchenden entgegenstehen. Zur Erhöhung der Beschäftigungsquote könnte es erforderlich sein, jedes einzelne Handikap mit gezielten Maßnahmen anzugehen.

3.4.5   Sozialpolitik

3.4.5.1   In einem Bericht (10) über Sozialschutz und soziale Eingliederung stellt die Kommission fest, dass die Systeme der sozialen Sicherheit entscheidend zur Abfederung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Krise beigetragen haben. Die Sozialausgaben sind dem Bericht zufolge während der Krise im Durchschnitt von 28 auf 31 % des BIP der Mitgliedstaaten angestiegen. Wenn der Bedarf an Arbeitslosenunterstützung zurückgeht, sollten die gleichen öffentlichen Mittel in die Familienpolitik und die Maßnahmen zur Entwicklung der Kompetenzen fließen. Dies ist ein Beispiel dafür, wie aus einer Ausstiegsstrategie eine Einstiegsstrategie wird.

3.4.5.2   Eine angemessene Einkommensstützung sowie Zugang zum Arbeitsmarkt und zu hochwertigen Sozialdiensten sind nach Aussage der Kommission wichtig. Was die EU im sozialen Bereich tun kann, ist nur eine kleine Ergänzung zur nationalen Sozialpolitik. Es hat bereits zahlreiche EU-Instrumente gegeben, mit denen die Mitgliedstaaten ermuntert werden sollten, voneinander zu lernen - Leistungsvergleich, gegenseitige Bewertung (Peer Review), Methode der offenen Koordinierung-, jedoch ohne die erhofften Ergebnisse. Die EU kann die Mitgliedstaaten nicht dazu zwingen, Beispielen bewährter Verfahren zu folgen. Öffentliches Anprangern von Missständen könnte eine Möglichkeit sein, um die Unterschiede stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken.

3.4.5.3   Die Sparprogramme müssen ausgewogen sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Sozialschutzsysteme auf dem Altar eines ausgeglichenen Haushalts geopfert werden. Die Krise hat zahlreiche Mängel der Sozialsysteme aufgedeckt. Die Architektur der Sozialsysteme muss zu Wohlstand und Beschäftigung führen. Aber auch die Sozialsysteme unterliegen gewissen Zwängen, da die finanziellen Möglichkeiten nicht überschritten werden dürfen.

3.4.6   Neue Einnahmequellen  (11)

3.4.6.1   In einer Stellungnahme zur Post-Lissabon-Strategie hat der EWSA eine Steuer sowohl auf Finanztransaktionen als auch CO2-Emissionen als neue Einnahmequellen für die öffentliche Hand genannt. Diese Steuern haben eine doppelte Dividende, d.h. neben der Steigerung der Einnahmen können sie auch zur Verringerung der Kurztermingeschäfte auf dem Finanzmarkt und zur Verbesserung unserer Umwelt beitragen. Derzeit wird nach neuen Finanzierungsquellen gesucht, um die riesigen Haushaltslöcher zu stopfen. Steuern auf Finanztransaktionen und CO2-Emissionen sind einer Erhöhung anderer Steuern wie z.B. der Steuern auf Arbeit oder der Mehrwertsteuer vorzuziehen, da dadurch die allgemeine Nachfrage gebremst würde, was in der gegenwärtigen Situation nicht ratsam ist.

3.4.6.2   Eine weitere neue öffentliche Finanzierungsmethode sind Eurobonds. Dadurch könnte für den öffentlichen Sektor neues Kapital aufgebracht werden, ohne völlig vom privaten Finanzsektor abhängig zu sein. Mit Eurobonds könnten Finanzmittel direkt an der Quelle angezapft werden, z.B. bei Rentenkassen, die nach langfristigen Anlagemöglichkeiten für ihr Geld suchen. Außerdem könnte auch privaten Anlegern der Zugang zu langfristigen Anlagemöglichkeiten bei der EIB für ihre Ersparnisse eröffnet werden, um für die EIB neue Finanzierungsquellen zu erschließen. Somit würde die EIB zu einer Schnittstelle zwischen diesen neuen Kapitalquellen und ihren Investitionen. Langfristige Geldanlagen würden dann für langfristige öffentliche Investitionen z.B. in Infrastruktur zur Verfügung stehen. Eurobonds ist ein „Konzept“, in das jedoch alle EU-Mitgliedstaaten eingebunden werden sollten. Auch hier haben wir wieder eine doppelte Dividende - der Spielraum für Spekulationen gegen Staatsanleihen auf dem Finanzmarkt würde ebenfalls verringert.

Brüssel, den 16. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Auf der Grundlage der Kommissionsdokumente Fortschrittsbericht über die Durchführung des Europäischen Konjunkturprogramms und Zwischenprognose vom Februar 2010 (Anm. d. Übers.: Liegen zum Zeitpunkt der Übersetzung nicht auf Deutsch vor).

(2)  Siehe Steuer auf Finanztransaktionen.

(3)  Centre for European Policy Studies, Nr. 202, Februar 2010.

(4)  OECD, Pensions at a glance, 2009.

(5)  KOM(2010) 2020 endg., Ziffer 4.1.

(6)  ILO, Global Wage Report 2009 (globaler Bericht über Löhne), November 2009.

(7)  Eurostat, Euroindikatoren 61/2010 vom 30. April 2010.

(8)  Die Zahlen wurden auf der Grundlage der Daten von Eurostat berechnet. Die Unterschiede zwischen den Staaten sind erstaunlich groß: so bewegt sich der Anteil des Verbrauchs am BIP zwischen 46 % in Schweden und 75 % in Griechenland. In den meisten Ländern sind geringe Rückgänge beim Anteil des Verbrauchs zu verzeichnen, aber in einigen Ländern waren die Veränderungen geradezu dramatisch. Der Rückgang im Vereinigten Königreich von 72 % auf 60 % in acht Jahren ist schwer zu erklären.

(9)  Crisis in the euro area and how to deal with it. Centre for European Policy Studies, Februar 2010.

(10)  Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Vorschlag für den Gemeinsamen Bericht über Sozialschutz und soziale Eingliederung 2010 - KOM(2010) 25 endg.

(11)  Siehe Stellungnahmen des EWSA zum Thema „Steuer auf Finanztransaktionen“, und „Auswirkungen der Staatsverschuldungskrise auf das europäische Regieren“.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/65


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Auf dem Weg zu einem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung 2012“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 48/12

Berichterstatter: Frederic OSBORN

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 18. Februar 2010 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Auf dem Weg zu einem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung 2012“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 31. August 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 116 Ja-Stimmen bei 1 Gegenstimme und 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1

Als Sprachrohr der organisierten Zivilgesellschaft in Europa empfiehlt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, dass die Europäische Union in den Vorbereitungen für den neuen Weltgipfel der Vereinten Nationen zur nachhaltigen Entwicklung in Rio 2012 eine Führungsrolle übernehmen soll.

1.2

Die EU sollte sich für eine ehrgeizige Agenda für diesen Gipfel stark machen, um der nachhaltigen Entwicklung in der ganzen Welt, und zwar sowohl seitens der Regierungen als auch der Zivilgesellschaft im weitesten Sinn, neuen Schwung zu verleihen.

1.3

Auf diesem Gipfel sollen der Geist von Rio sowie die Grundsätze von 1992 und die Agenda 21 wiederbelebt werden, um die verschiedenen Akteure mit ins Boot zu holen und die Welt auf einen nachhaltigeren Weg zu bringen.

1.4

Auf diesem Gipfel sollte ein weiterer Meilenstein und eine Frist gesetzt werden für die Einigung und Verpflichtung auf die nächsten Schritte in Bezug auf die laufenden Verhandlungen über den Klimawandel und die biologische Vielfalt, den Abschluss der derzeitigen Verhandlungen über Quecksilber und den Start neuer Verhandlungen über die Aufnahme der Nachhaltigkeit in die Corporate Governance sowie in die Zuständigkeiten der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften.

1.5

Die Gipfelteilnehmer sollten die Erd-Charta anerkennen und unterstützen und so mit gutem Beispiel für Einzelpersonen und Organisationen weltweit vorangehen, um sich zu den Zielen der Charta zu verpflichten und im Einklang mit ihr zu handeln.

1.6

Die EU sollte diesen Gipfel nutzen, um ihren eigenen Verfahren und Strukturen für Fortschritte in Bezug auf eine nachhaltige Entwicklung neuen Schwung zu verleihen und gleichzeitig eine vergleichbare Neubelebung der weltweiten Bemühungen um Nachhaltigkeit fordern. Der Ausschuss fordert die EU insbesondere auf,

zahlreiche Aspekte der „grünen“ Wirtschaft innerhalb Europas festzulegen und umzusetzen sowie neue Finanzkanäle zu schaffen und Möglichkeiten zum Technologie- und Wissensaustausch zu finanzieren, um die Entwicklungsländer bei ihrem Übergang zu einer nachhaltigen Entwicklung zu unterstützen;

zahlreiche Aspekte der Governance für eine nachhaltige Entwicklung in Europa zu stärken;

die Zivilgesellschaft in ganz Europa für den Rio-Prozess zu gewinnen, die Vision von Rio 1992 neu zu beleben und die Unterstützung sowohl seitens der Politik als auch bei der Bevölkerung hierfür zu suchen.

1.7

Für Fortschritte bei der Ökologisierung der Wirtschaft sollte die EU in den kommenden 12 Monaten folgende Maßnahmen ergreifen:

ihre Strategie für nachhaltige Entwicklung überarbeiten und stärken und deren wichtigste Ziele im Rahmen der EU-2020-Strategie berücksichtigen sowie parallele Vorschläge für die Schaffung eines stärkeren internationalen Rahmens zur Förderung und Koordinierung nationaler Nachhaltigkeitsstrategien in den Gipfelverhandlungen unterbreiten;

die laufenden Arbeiten für bessere Fortschrittsindikatoren für die Nachhaltigkeit abschließen und diese ausdrücklich in den grundlegenden Überwachungsrahmen für die EU-2020-Strategie einbauen sowie gleichzeitig Vorschläge für die Einrichtung und Beibehaltung kohärenterer und konsistenterer internationaler Indikatoren für Messung und Beobachtung des Fortschritts in Bezug auf die Nachhaltigkeit in den Gipfelverhandlungen unterbreiten;

ihre langjährigen Studien über nachhaltige Verbrauchs- und Produktionsmuster zu Ende führen und im Rahmen der Ziele der Leitinitiative „Ressourcenschonendes Europa“ der EU-2020-Strategie berücksichtigen sowie parallele Vorschläge für die Gipfelverhandlungen unterbreiten;

die europäischen Erfahrungen mit Ökosteuern und fiskalischen Instrumenten der Umweltpolitik (einschl. Bepreisung von Kohlenstoffemissionen und Emissionshandel) bündeln und in eine neue, EU-weite Initiative für ökologisch orientierte fiskalische Instrumente einfließen lassen und parallele Vorschläge für VN-Leitlinien oder -Rahmenbestimmungen in diesem Bereich unterbreiten;

die europäischen Erfahrungen zur sozialen Dimension der nachhaltigen Entwicklung zusammentragen, u.a. in Bezug auf die Perspektiven für die Schaffung neuer grüner Arbeitsplätze zur Ersetzung einiger während der Wirtschaftskrise verloren gegangener Arbeitsplätze sowie die Möglichkeiten zum Abbau von Ungleichheiten, und diese in die Gipfeldiskussionen zum sozialen Aspekt der Ökologisierung der Wirtschaft einfließen lassen;

wirksame Maßnahmen ergreifen, um die nachhaltige Entwicklung in den Entwicklungsländern zu fördern und angemessene finanzielle und technologische Unterstützung zu leisten.

1.8

Zur Verbesserung der Governance für eine nachhaltige Entwicklung sollte die EU

den Ausbau des Umweltprogramms (UNEP) und die Stärkung der Kommission für nachhaltige Entwicklung (CSD) der Vereinten Nationen unterstützen;

sich für die Aufnahme der nachhaltigen Entwicklung in die Mandate der Weltbank, des IWF, der WTO und weiterer einschlägiger internationaler Gremien einsetzen;

die Stärkung nationaler Nachhaltigkeitsstrategien, nationaler Systeme für ihre Ausarbeitung, Umsetzung und Überwachung sowie von Mitteln wie der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung sowohl in der EU als auch in den internationalen Verhandlungen fördern, um diese Arbeit auf supranationaler Ebene zu unterstützen und zu harmonisieren;

die Stärkung regionaler und lokaler Nachhaltigkeitsstrategien und Umsetzungsmaßnahmen sowohl in der EU als auch in den internationalen Verhandlungen fördern;

die Aufnahme der nachhaltigen Entwicklung in Vorschriften und Leitlinien für die Corporate Governance in der Wirtschaft sowohl in der EU als auch in den internationalen Verhandlungen fördern.

1.9

Zur Sicherstellung des Engagements und der Mitwirkung der Zivilgesellschaft sollte die EU:

für die umfassende Beteiligung der Interessenträger am VN-Prozess plädieren;

mit dem EWSA und weiteren Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, um eine umfassende Beteiligung der Zivilgesellschaft im Vorbereitungsprozess in der EU und ihren Mitgliedstaaten sicherzustellen;

unabhängige Vorbereitungen in einzelnen Bereichen der Zivilgesellschaft einschl. Unternehmen, Gewerkschaften, NGO, Wissenschaft, Bildung, Landwirte, Frauen und Jugend, sowohl in der EU als auch in den internationalen Verhandlungen fördern.

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen nahm am 24. Dezember 2009 eine Entschließung an, 2012 eine Konferenz zur nachhaltigen Entwicklung (UNCSD) abzuhalten. Diese wird somit 40 Jahre nach der Konferenz über die Umwelt des Menschen in Stockholm (UNCHE), 20 Jahre nach der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio (UNCED) und 10 Jahre nach dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg (WSSD) erneut in Rio stattfinden.

2.2

Gemäß dieser Entschließung der Generalversammlung werden mit dieser Konferenz drei Ziele verbunden:

Erneuerung des politischen Engagements für die nachhaltige Entwicklung;

Bewertung der bisherigen Fortschritte und der noch nicht umgesetzten Schlussfolgerungen der großen Weltgipfel zur nachhaltigen Entwicklung;

Bewältigung neuer und zukünftiger Herausforderungen.

Auf der Tagesordnung werden folgende zwei Themen stehen:

eine „grüne“ Wirtschaft vor dem Hintergrund der nachhaltigen Entwicklung und der Armutsbekämpfung;

der institutionelle Rahmen für die nachhaltige Entwicklung.

2.3

Der EWSA begrüßt diese Initiative. Die Dynamik der nachhaltigen Entwicklung hat in den letzten Jahren offenkundig nachgelassen; daher bedarf es neuer Impulse, um der Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele neuen Schwung zu verleihen. In Europa sind weiterhin bei der nachhaltigen Entwicklung als übergreifendem Konzept für die Politikgestaltung zwar Fortschritte zu verzeichnen, doch sind diese in den letzten Jahren von den Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der notwendigen Ausrichtung auf den Konjunkturaufschwung beeinträchtigt worden. Der neue Rio-Gipfel könnte die Gelegenheit sein, um der nachhaltigen Entwicklung wieder den ihr gebührenden Platz als wichtiger Impulsgeber für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten einzuräumen.

2.4

Es sind drei Treffen des Vorbereitungskomitees (Preparatory Committee, PrepCom) vorgesehen. Das erste Treffen fand vom 17. bis 19. Mai 2010 statt, die beiden weiteren Treffen sind für 2011 und 2012 geplant.

Das Vorbereitungskomitee hat in seiner ersten Sitzung Verfahren, Prozesse und Zeitpläne für die Konferenz ausgearbeitet und erste Debatten über die oben genannten Hauptthemen geführt. Es hat sich außerdem darauf verständigt, dass das VN-Generalsekretariat die Mitgliedstaaten, einschlägige internationale Organisationen und die Hauptgruppen um Beiträge zu einer begrenzten Zahl an zielgerichteten Fragen ersuchen sollte.

2.5

Die Zivilgesellschaft war im Vorbereitungskomitee durch die neun von den Vereinten Nationen anerkannten Hauptgruppen vertreten, die außerdem gebeten wurden, eigene Vorbereitungsarbeiten durchzuführen und die weiteren Etappen des Vorbereitungsprozesses sowie dann auch die Konferenz durch ihre Beiträge zu bereichern. Einige der Hauptgruppen haben betont, dass sie die Gelegenheit dieses Vorbereitungsprozesses für den Weltgipfel 2012 nutzen wollen, um selbst die Fortschritte auf dem Gebiet der nachhaltigen Entwicklung in ihren jeweiligen Tätigkeitsbereichen zu bewerten. Sie wollen in Rio das Erreichte, die Chancen und die Herausforderungen darstellen und eine weitreichendere Anerkennung und Unterstützung seitens der Regierungen in diesem Prozess erringen sowie Empfehlungen an die Regierungen zu der Form und den Zielen der offiziellen Verhandlungen richten.

2.6

Die Europäische Union hat in der ersten Sitzung des Vorbereitungskomitees aktiv zur Festlegung einer positiven und machbaren Agenda für den Vorbereitungsprozess für den Weltgipfel beigetragen; außerdem verfolgt sie in Zusammenarbeit mit ihren Mitgliedstaaten einen eigenen Vorbereitungsprozess. Der Ausschuss begrüßt, dass er im Namen der Zivilgesellschaft als Teil der EU-Delegation an dieser ersten Sitzung teilnehmen konnte, und will auch weiterhin eine aktive Rolle zunächst durch die Ausarbeitung dieser Initiativstellungnahme und anschließend durch weitere Arbeiten im Zuge des Vorbereitungsprozesses spielen (siehe Ziffer 7.2).

3.   Vision und Engagement

3.1

Mit dem Weltgipfel 1992 in Rio waren ehrgeizige Ansinnen verbunden, und er war ein großer Erfolg. Weltweit konnten Unterstützung und Maßnahmen für die nachhaltige Entwicklung mobilisiert werden. Dies wurde dank einer aussagekräftigen und konkreten Agenda mit einer engagierten und inspirierenden Vision möglich, die von der Öffentlichkeit unterstützt und vom politischen Willen getragen wurde.

3.2

Die Herausforderung einer nachhaltigen Entwicklung ist genauso dringend wie eh und je und in vielerlei Hinsicht sogar noch dringlicher. In der ersten Sitzung des Vorbereitungskomitees ließen die Regierungsvertreter jedoch Einsatz und Ehrgeiz vermissen. Einige waren mehr damit beschäftigt, überzogene Erwartungen zu dämpfen, als Entschlossenheit für einen positiven Wandel aufzubauen.

3.3

Die Zivilgesellschaft verfolgt ehrgeizigere Ziele. Die zahlreichen unterschiedlichen Interessenträger, die an der ersten Sitzung des Vorbereitungskomitees teilnahmen, forderten konkrete Vorschläge von den offiziellen Delegierten und entwickelten ihre eigenen parallelen Verfahren zur Konferenzvorbereitung. Nach Meinung des Ausschuss gibt es in Europa eine breite Palette an Interessenträgern, die über die erforderliche Entschlossenheit verfügen und in der Lage sind, ihr Gewicht noch stärker in die Waagschale zu werfen und auf ein positives Ergebnis des Vorbereitungsverfahrens für 2012 zu drängen. Der Ausschuss fordert die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, dieses Potenzial auszuschöpfen und auf sämtlichen Ebenen ein für alle Interessenträger offenes Verfahren mit ehrgeizigen Zielsetzungen festzulegen, um umfassenden Nutzen aus den Erfahrungen der verschiedenen Akteure zu ziehen.

3.4

Werden den Teilnehmern an den Klimaschutzverhandlungen und den Verhandlungen zur biologischen Vielfalt ein Ziel und eine Frist für den rechtzeitigen Abschluss eines fundierten Übereinkommens vorgegeben, damit es von den führenden Politikern auf dem Rio-Gipfel 2012 angenommen werden kann, könnte dies beiden Verfahren zu Gute kommen. In den letzten beiden Jahren vor Rio 1992 hatte sich die Zusammenführung von Zielsetzungen als sehr effizient erwiesen, um enorme Fortschritte zu erzielen. Auf der 2012-Konferenz könnte eine Frist für die Verhandlungen über den Klimawandel und die biologische Vielfalt festgesetzt werden, um einen weiteren Meilenstein zu erreichen.

3.5

Der Weltgipfel 2012 könnte auch genutzt werden, um Entscheidungen in den laufenden internationalen Verhandlungen über Quecksilber sowie über den Mechanismus zur Reduzierung von Treibhausgas-Emissionen aus Entwaldung und Walddegradierung REDD (Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation) zu beschleunigen. Er bietet vielleicht auch Gelegenheit, den Startschuss für neue Verhandlungen über die Aufnahme der Nachhaltigkeit in die Corporate Governance (siehe Ziffer 6.8) und lokale Maßnahmen zur Nachhaltigkeit (siehe Ziffer 6.9) zu geben.

3.6

Der Weltgipfel von 1992 mündete in einer neuen und inspirierenden Vision einer harmonischen Zukunft für die Erde, die in dem neuen Diskurs einer nachhaltigen Entwicklung ihren Niederschlag fand. Für Rio 2012 ist eine neue Formulierung dieser Vision notwendig. Der Ausschuss schlägt vor, dass die EU ihre Bemühungen zu diesem Zweck auf die Erd-Charta ausrichtet und den Gipfel nutzt, um dieses inspirierende Dokument formell anzuerkennen (wie das die UNESCO bereits getan hat). Diese Charta hat in den letzten Jahren immer mehr Unterstützung weltweit gefunden, und ihre Anerkennung durch die Vereinten Nationen insgesamt würde ihre Geltung in allen Teilen der Welt stärken und dazu beitragen, den ehrgeizigen Geist von Rio 1992 – „Can do“ bzw. „Wir können etwas bewegen“ – wiederbeleben.

4.   Stand der Umsetzung und offene Fragen

4.1

Das Vorbereitungskomitee hielt in seiner ersten Sitzung fest, dass die Umsetzung der Ziele der Stockholm-Konferenz von 1972 sowie der Weltgipfel zur nachhaltigen Entwicklung von 1992 und 2002 nicht überzeugt und ungleichmäßig ausfällt. Trotz einiger Fortschritte, insbesondere betreffend Einkommenszuwachs, Bekämpfung der Armut, Erleichterung des Zugangs zu Bildung und Gesundheitsversorgung, vor allem in den Schwellenländern, bleiben noch erhebliche Herausforderungen bestehen.

4.2

Es gibt nach wie vor anhaltende Umsetzungslücken in Bezug auf Beseitigung der Armut, Nahrungsmittelsicherheit, Einkommensunterschiede, Erhalt der biologischen Vielfalt, Bekämpfung des Klimawandels, Verringerung des Drucks auf die Ökosysteme und die Fischbestände, Zugang zu sauberem Wasser und Abwasserbeseitigung sowie umfassende Einbindung der Frauen in die Verwirklichung der international vereinbarten Ziele. Dies zeugt von einem fragmentarischen Ansatz für die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele. Seit Rio sind die Verbrauchs- und Produktionsmuster nahezu gleich geblieben, obwohl grundlegende Änderungen für eine weltweit nachhaltige Entwicklung unabdingbar sind.

4.3

Anstrengungen zur Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele einschl. der Millenniums-Entwicklungsziele werden auch durch die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise gebremst, die die Wirtschaftsleistung beeinträchtigt, hart erkämpfte Fortschritte abbröckeln lässt und die Zahl der Menschen, die in äußerster Armut leben, ansteigen lässt.

4.4

Innerhalb Europas (wie auch in den anderen Industrieländern) wurden in den letzten 20 Jahren zwar Fortschritte bei der Verwirklichung einiger Umweltziele erreicht, doch in Bezug auf die Hauptziele wie Ressourcenverbrauch und CO2-Emissionen bleibt noch viel zu tun. Der ökologische Fußabdruck, den Europa durch die Überbeanspruchung der Ressourcen und die Verlagerung von Verschmutzung in der übrigen Welt hinterlässt, ist nach wie vor alles andere als nachhaltig. Auch im sozialen Bereich kann angesichts der Arbeitslosenquoten und der immer größeren Ungleichheiten in und zwischen den Gemeinschaften von Nachhaltigkeit kaum die Rede sein.

4.5

Das Vorbereitungskomitee hat keine vollkommen neuen Punkte in Sachen Nachhaltigkeit ermittelt; es hat jedoch darauf hingewiesen, dass viele dieser bereits auf dem Gipfel in Rio 1992 bekannten Punkte immer dringlicher werden, wie die jüngsten und aktuellen Krisen in Bezug auf Finanz und Wirtschaft, Energie, Wasser und Nahrungsmittel zeigen. Weitere Probleme wie Klimawandel und Verlust an biologischer Vielfalt haben sich ebenfalls als dringlicher und dramatischer als ursprünglich angenommen erwiesen. Hinzu kommt noch das kontinuierliche Anwachsen der Weltbevölkerung.

4.6

Innerhalb der Entwicklungsländer tut sich ein Graben auf zwischen den Schwellenländern, deren rasantes Wachstum eine neue Belastung für die weltweiten Ressourcen und die Umwelt ist, und den am wenigsten entwickelten Ländern, in denen Armut und Umweltverschmutzung erhebliche Risikofaktoren für die Nachhaltigkeit bleiben. Bis auf einige wenige Ausnahmen haben die Industrieländer ihre Versprechungen für öffentliche Entwicklungshilfe, die sie den Entwicklungsländern zur Unterstützung einer nachhaltigeren Entwicklung oftmals gemacht haben, bislang bei weitem nicht erfüllt.

4.7

Vor diesem Hintergrund steht die EU vor der besonderen Herausforderung, die Nachhaltigkeit ihrer eigenen Wirtschaft zu verbessern und gleichzeitig ausreichende finanzielle und technische Hilfe zu mobilisieren, um die Entwicklungsländer, insbesondere die am wenigsten entwickelten Länder, bei einer wirksameren Bewältigung ihrer Probleme in Bezug auf eine nachhaltige Entwicklung zu unterstützen. Die EU sollte diesen Gipfel dazu nutzen, ihre eigenen Verfahren und Strukturen neu auszurichten, um Fortschritte in diesen Fragen zu erzielen. Der Ausschuss fordert die EU insbesondere auf,

zahlreiche Aspekte der „grünen“ Wirtschaft innerhalb Europas festzulegen und umzusetzen sowie neue Finanzkanäle zu schaffen und Möglichkeiten zum Technologie- und Wissensaustausch zu finanzieren, um die Entwicklungsländer bei ihrem Übergang zu einer nachhaltigen Entwicklung zu unterstützen (Ziffer 5);

zahlreiche Aspekte der Governance für eine nachhaltige Entwicklung in Europa zu stärken (Ziffer 6);

die Zivilgesellschaft in ganz Europa für den Rio-Prozess zu gewinnen, die Vision von Rio 1992 neu zu beleben und die Unterstützung sowohl seitens der Politik als auch bei der Bevölkerung hierfür zu suchen (Ziffer 7).

5.   Eine „grüne“ Wirtschaft vor dem Hintergrund der nachhaltigen Entwicklung und der Armutsbekämpfung

5.1

Die Ökologisierung der Wirtschaft wird eines der Hauptthemen der Konferenz sein. Zwar gehen die Ansichten darüber, was eine „grüne Wirtschaft“ eigentlich ist, immer noch weit auseinander, doch besteht ein Konsens darüber, dass eine grüne Wirtschaft in den Kontext einer nachhaltigen Entwicklung gestellt werden muss. Eine grüne Wirtschaft oder die Ökologisierung der Wirtschaft kann als eines der wesentlichen Mittel angesehen werden, um den Weg hin zu einer nachhaltigeren Entwicklung in der Zukunft einzuschlagen.

5.2

Der Wandel zu einer grünen Wirtschaft durch die Förderung einer effizienteren Nutzung von natürlichen Ressourcen und Energie sowie neuen Technologien für saubere Energie und umweltfreundlichere Herstellungsverfahren kann neue Wachstums- und Beschäftigungschancen eröffnen. Es gilt, einen geeigneten politischen Rahmen auf nationaler Ebene zu schaffen, um die Umstellung auf eine grüne Wirtschaft sowie nachhaltige Verbrauchs- und Produktionsmuster zu fördern und die Wirtschaftstätigkeit in Einklang mit der Tragfähigkeit der Umwelt zu bringen.

5.3

Nachhaltige Entwicklung und nachhaltiger Wandel müssen natürliche Grenzen einhalten und die natürlichen Ressourcen und das Kulturerbe schützen. Nachhaltige Entwicklung bedeutet jedoch nicht Stagnation, ganz im Gegenteil: sie erfordert einen ständigen Wandel, eine ständige Weiterentwicklung. So ist beispielsweise im Energiewesen in den kommenden 40 Jahren eine grundlegende Änderung der Produktions- und Verbrauchsmethoden erforderlich, wie aus dem jüngsten Bericht der Internationalen Energie-Agentur zu technologischen Szenarien für 2050 hervorgeht. In der Chemieindustrie wurde bereits viel unternommen, um die Produktionsmuster effizienter und nachhaltiger zu gestalten und diesen Wandel auch in einen kommerziellen Vorteil umzumünzen.

5.4

Die im Rahmen einer grünen Wirtschaft einsetzbaren Politikinstrumente lassen sich in folgende Kategorien einteilen:

korrekte Tarifierung;

öffentliches Beschaffungswesen;

ökologische Steuerreform;

öffentliche Investitionen in nachhaltige Infrastruktur;

gezielte öffentliche F&E-Förderung in umweltfreundliche Technologien;

sozialpolitische Maßnahmen im Hinblick auf die Vereinbarkeit von sozialen Zielen und Wirtschaftspolitik.

5.5

Auf internationaler Ebene haben die Vereinten Nationen bereits einige einschlägige Initiativen auf den Weg gebracht, auf denen der Weltgipfel 2012 aufbauen könnte. So werden mit der „Green Economy Initiative“ Regierungen bei der Neugestaltung und Neuausrichtung von Maßnahmen, Investitionen und Ausgaben auf Bereiche wie saubere Technologien, erneuerbare Energieträger, Wassermanagement, umweltverträgliche Beförderung, Abfallbewirtschaftung, grüne Gebäude sowie nachhaltige Land- und Forstwirtschaft unterstützt. Die Abschätzung des ökonomischen Wertes von Ökosystemen und biologischer Vielfalt (The Economics of Ecosystems and Biodiversity) sowie der Global Green New Deal (GGND) sind Schlüsselprojekte im Rahmen dieser Initiative.

5.6

Derzeit sind die Industrieländer relativ gesehen am stärksten für den Klimawandel verantwortlich, da sie einen höheren Ausstoß von Treibhausgasen pro Kopf aufweisen. Daher stehen sie auch vor der größten Herausforderung, ihre Wirtschaft auf ein kohlenstoffärmeres Modell umzustellen. Gleichzeitig stehen ihnen aber auch ausgefeiltere Technologien und umfassendere Mittel zur Verfügung, um die Führungsrolle für diesen Übergang zu übernehmen, sofern sie sich dieser Herausforderung umgehend stellen.

5.7

In den Entwicklungsländern bestehen Bedenken dahingehend, dass eine „grüne Wirtschaft“ ein Konzept des Nordens ist, das ihren Entwicklungsprozess verlangsamen und eine protektionistische Komponente enthalten könnte. Es wird von entscheidender Bedeutung sein, den Entwicklungsländern zu verdeutlichen, welche Vorteile dieses Konzept ihnen bringen und wie es ihrer Entwicklung zugute kommen wird. Ein wichtiger Punkt ist die Frage, wie ernst die Industrieländer ihr Engagement zur Förderung einer grünen Wirtschaft in den Entwicklungsländern nehmen.

5.8

Um 2012 überzeugende Fortschritte hinsichtlich der Ökologisierung der Weltwirtschaft zu erzielen, müssen die Industrieländer unter Beweis stellen, dass sie derartige Konzepte auf ihre eigene Wirtschaft anwenden und bereit sind, die Entwicklungsländer konkret finanziell sowie durch Technologietransfer und Kapazitätenaufbau zu unterstützen.

5.9

Die EU hat zwar einige, jedoch noch keine ausreichenden Fortschritte bei der Ökologisierung ihrer Wirtschaft erzielt. Nach Meinung des Ausschusses würde es keinesfalls genügen, wenn die EU sich in Rio einfach nur auf ihre eigenen begrenzten Fortschritte in den letzten 20 Jahren und die verschiedenen Bestandteile ihrer 2020-Strategie, die in eine nachhaltige Richtung weisen, beruft. Für eine solidere Verhandlungsposition für 2012 sollte die EU in den nächsten 12 Monaten insbesondere

ihre Strategie für nachhaltige Entwicklung überarbeiten und stärken und deren wichtigste Ziele im Rahmen der EU-2020-Strategie berücksichtigen;

die laufenden Arbeiten für bessere Fortschrittsindikatoren für die Nachhaltigkeit abschließen und diese ausdrücklich in den grundlegenden Überwachungsrahmen für die EU-2020-Strategie einbauen;

ihre langjährigen Studien über nachhaltige Verbrauchs- und Produktionsmuster zu Ende führen und im Rahmen der Ziele der Leitinitiative „Ressourcenschonendes Europa“ der EU-2020-Strategie berücksichtigen;

die europäischen Erfahrungen mit Ökosteuern und fiskalischen Instrumenten der Umweltpolitik (einschl. Bepreisung von Kohlenstoffemissionen und Emissionshandel) bündeln und Vorschläge für VN-Leitlinien oder -Rahmenbestimmungen in diesem Bereich unterbreiten;

die europäischen Erfahrungen zur sozialen Dimension der nachhaltigen Entwicklung zusammentragen, u.a. in Bezug auf die Perspektiven für die Schaffung neuer grüner Arbeitsplätze zur Ersetzung einiger während der Wirtschaftskrise verloren gegangener Arbeitsplätze sowie die Möglichkeiten zum Abbau von Ungleichheiten.

Vergleichbare Maßnahmen sind auch seitens der Mitgliedstaaten erforderlich. Dank Fortschritten in diesen Bereichen in Europa wäre die EU in einer guten Position, um sich für eine weltweite „Agenda für eine grüne Wirtschaft“ mit vergleichbarem Inhalt einzusetzen.

5.10

In finanzieller Hinsicht müssen große Anstrengungen zur Mobilisierung öffentlicher und privater Mittel unternommen werden, um die unerledigten Punkte auf der Agenda der Millenniumsziele anzugehen und die neuen Fahrpläne für eine grüne Wirtschaft voranzubringen. Die Rio-Ziele für die öffentliche Entwicklungshilfe wurden bislang nicht erreicht. Die internationalen Finanzinstitutionen, das VN-Entwicklungsprogramm, die WTO, die VN-Handels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD) sowie die Finanz-, Wirtschafts- und Handelsministerien in aller Welt müssen sowohl in die Mobilisierung der Mittel als auch alle weiteren Aspekte der Umstellung auf eine grünere Weltwirtschaft eingebunden werden. Die EU muss einen kohärenten und konsistenten Vorschlag zu den Zielsetzungen dieser internationalen Ökologisierungsbemühungen und zur Erfüllung der alten Entwicklungshilfeversprechen unterbreiten.

6.   Der institutionelle Rahmen für die nachhaltige Entwicklung

6.1

Es besteht breites Einvernehmen darüber, dass die Governance für nachhaltige Entwicklung auf internationaler Ebene nicht besonders effizient ist und dass erhebliche Veränderungen notwendig sind, um sie mit neuem Leben zu erfüllen. Dies würde auch der Governance für nachhaltige Entwicklung auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene zugute kommen.

6.2

International gesehen besteht die dringende Notwendigkeit, den Geltungsbereich des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) auszuweiten und die Befugnisse der VN-Kommission für nachhaltige Entwicklung (CSD) oder ihres Nachfolge-Gremiums auszubauen, um die nachhaltige Entwicklung in allen Sektoren der globalen Wirtschaft und in allen internationalen Gremien zum Leitbild zu machen. Die Möglichkeit, das UNEP in eine Weltumweltorganisation mit einem umfangreicheren Mandat umzuwandeln, wird schon seit langem diskutiert. Diese muss auf einer solideren, glaubwürdigen und zugänglichen wissenschaftlichen Basis beruhen. Sie muss besser in der Lage sein, innovative Wege für die Zusammenarbeit mit den anderen Komponenten des VN-Systems zu finden, die große Zahl an einzelnen multilateralen Umweltabkommen zu koordinieren und den Kapazitätenaufbau im Umweltbereich in den Entwicklungsländern und anderswo zu stärken. Außerdem muss sie über umfangreichere und gesichertere Ressourcen verfügen. 2012 könnte die Gelegenheit bieten, um diesen Ideen Taten folgen zu lassen.

6.3

Die nachhaltige Entwicklung muss an Gewicht und Einfluss im VN-System gewinnen. Eine Möglichkeit wäre die Einrichtung eines eigenen VN-Rates für nachhaltige Entwicklung. Eine andere Möglichkeit wäre die Eingliederung der Kommission für nachhaltige Entwicklung in einen erweiterten Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) mit einem umfangreicheren Mandat zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung im gesamten VN-System sowie in der Weltbank und im Internationalen Währungsfonds (IWF). Im Rahmen der Arbeiten der neuen hochrangigen Gruppe für Klimawandel und Entwicklung (High Level Panel on Climate Change and Development), die vor Kurzem vom VN-Generalsekretär eingerichtet wurde, könnten jedoch neue, weitreichendere Möglichkeiten entstehen.

6.4

Im Hinblick auf weitere Diskussionen empfiehlt der Ausschuss, dass die EU drei allgemeine Ziele verfolgen sollte:

Aufnahme der nachhaltigen Entwicklung in das Mandat einiger der wichtigsten Organisationen einschl. der Vereinten Nationen selbst und ihres Wirtschafts- und Sozialrates, der Weltbank, des IWF und der WTO sowie speziell mit der nachhaltigen Entwicklung befasster Gremien wie die Kommission für nachhaltige Entwicklung, das Umweltprogramm und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen;

Stärkung der Kommission für nachhaltige Entwicklung und ihrer Kapazitäten zur Koordinierung der Arbeiten zum Thema nachhaltige Entwicklung im gesamten VN-System, indem ihr insbesondere ein entsprechender Status und die notwendigen Befugnisse übertragen werden, so dass sie die Finanz- und Wirtschaftsministerien an einen Tisch bringen kann, um die Aufnahme der nachhaltigen Entwicklung in die Weltwirtschaftpolitik zu gewährleisten;

Ausbau des Umweltprogramms und seiner Fähigkeit, kritische Veränderungen in der globalen Umwelt zu überwachen und wirksame Schutzmaßnahmen zu fördern.

6.5

Außerdem muss die Governance für nachhaltige Entwicklung auf nationaler, regionaler, lokaler und Unternehmensebene gestärkt werden. Nationale, subnationale und lokale Nachhaltigkeitsstrategien müssen neu aufgelegt oder dynamisiert werden. Im Rahmen der Corporate Governance muss der nachhaltigen Entwicklung mehr Bedeutung beigemessen werden. Es gilt, nationale Räte für nachhaltige Entwicklung oder vergleichbare Gremien auf- oder auszubauen, um stärkere Impulse für die nachhaltige Entwicklung zu geben. Die Zivilgesellschaft muss aktiver eingebunden werden. In der Europäischen Union wurde mit der Strategie für nachhaltige Entwicklung ein Rahmen für alle diese Elemente festgelegt, in denen Fortschritte erzielt werden müssen. Allerdings wurde diese nicht mit ausreichender Entschlossenheit verfolgt. Ihre Schlüsselelemente müssen aufgegriffen und in die EU-2020-Strategie aufgenommen und ihre Umsetzung aufmerksam überwacht werden.

6.6

Die Hauptgruppen der Zivilgesellschaft, deren Rolle im VN-System mit Rio 1992 gestärkt wurde, werden ihre eigenen einschlägigen Erfahrungen analysieren und Beispiele für bewährte Verfahren nach Rio bringen. Sie streben nach einer Anerkennung bzw. Stärkung dieser bewährten Verfahren im Rahmen nationaler und lokaler Strategien für nachhaltige Entwicklung oder Initiativen zur sozialen Verantwortung der Unternehmen.

6.7

Der Ausschuss empfiehlt, dass die EU sich für umfassende Beiträge der Zivilgesellschaft und der Hauptgruppen zu dem Vorbereitungsprozess für 2012 stark machen sollte. Die Hauptgruppen sollten ermutigt werden, das Erreichte dazustellen und Vorschläge für die Stärkung und Konsolidierung ihrer Rolle zu unterbreiten.

6.8

Im Industriesektor sollte die Nachhaltigkeit in dem neuen Rahmen für die soziale Verantwortung der Unternehmen verankert werden. Verhandlungen über ein einschlägiges neues internationales Übereinkommen könnten auf dem Rio-Gipfel 2012 auf den Weg gebracht werden.

6.9

Regionale und sonstige nachgeordnete Gebietskörperschaften spielen bei der Umsetzung zahlreicher Aspekte der nachhaltigen Entwicklung eine immer größere Rolle – ebenso wie viele Städte und Gemeinden. Diese Entwicklungen könnten in einem neuen Übereinkommen verankert werden, in dem ausdrücklich Mandate für die Verwirklichung einzelner Nachhaltigkeitsziele festgelegt werden (unter Bereitstellung der entsprechenden Finanzmittel). Die Vorbildlichkeit einiger weniger könnte somit gängige Praxis werden.

7.   Mögliche Rolle der EU und des EWSA

7.1

Die EU wird zweifelsohne eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung einer Strategie für 2012 spielen. Die EU sollte der internationalen Staatengemeinschaft vor Augen führen, warum die Ökologisierung der Wirtschaft zum Wohle sowohl des Nordens als auch des Südens ist und institutionelle Änderungen zur Förderung der Governance für nachhaltige Entwicklung voranbringen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten diese Konferenz auch als Gelegenheit nutzen, ihren eigenen Wandel hin zu einer grüneren Wirtschaft zu beschleunigen, ihre Governance- und Verwaltungsmechanismen für nachhaltige Entwicklung zu verbessern und die Einbindung der Zivilgesellschaft in diesen Prozess zu stärken.

7.2

Der Ausschuss selbst ist bereit, eine wichtige Aufgabe zu übernehmen, indem er die Zivilgesellschaft bei der Formulierung ihrer Beiträge für sowohl den europäischen als auch den internationalen Vorbereitungsprozess unterstützt. Außerdem könnte er auf ehrgeizige Ergebnisse drängen. Eine umfassende Mitwirkung der Zivilgesellschaft ist wichtig, um das erforderliche Momentum zu schaffen und den notwendigen Druck auszuüben, um in Rio auch überzeugende Fortschritte zu erzielen. Der Ausschuss will in den kommenden 12 Monaten folgende Maßnahmen ergreifen:

Durchführung weiterer Konsultationen der Interessenträger zu den Zielen von Rio 2012 in Brüssel und Einrichtung einer gemeinsamen Plattform, sofern dies machbar ist;

Mobilisierung der Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten über die nationalen Räte für nachhaltige Entwicklung, das Netzwerk europäischer Beratungsgremien für Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung (EEAC) sowie die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte, um ihren Beitrag einzuholen;

Ausarbeitung zahlreicher sektorspezifischer Studien zu den Bedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung der Ökologisierung der Wirtschaft in wichtigen Bereichen wie Energie, Verkehr, Baugewerbe und Landwirtschaft sowie in der allgemeinen Wirtschaftspolitik;

Zusammenarbeit mit regionalen und bilateralen ständigen Delegationen, um die Beiträge der europäischen Zivilgesellschaft mit Maßnahmen der Zivilgesellschaft in anderen Regionen der Welt zu vergleichen und zu koordinieren.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/72


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Verbesserung der Modelle ‚partizipativer öffentlich-privater Partnerschaft‘ beim Aufbau elektronischer Dienste für alle in der EU-27“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 48/13

Berichterstatter: Claudio CAPPELLINI

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16. Juli 2009 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Verbesserung der Modelle ‚partizipativer öffentlich-privater Partnerschaft‘ beim Aufbau elektronischer Dienste für alle in der EU-27“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 6. September 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 16. September) mit 102 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Mitteilung der Europäischen Kommission zur Digitalen Agenda und befürwortet die im Binnenmarktbericht der Kommission unterbreiteten Vorschläge, die zum Ziel haben, aus einem digitalen Binnenmarkt und ultraschnellen Internetverbindungen, die Bürgern und KMU in ländlichen und abgelegenen Gebieten Zugang zu einschlägigen Anwendungen ermöglichen, einen nachhaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen zu ziehen. Außerdem stimmt der Ausschuss der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Ausschuss der Regionen darin zu, dass durch eine intensivere Beobachtung sichergestellt werden muss, dass die Festnetz- und Drahtlos-Breitbandversorgung in der Fläche bis 2013 verwirklicht wird. Auf allen Ebenen muss mehr investiert werden, und für die Versorgung der ländlichen und abgelegenen Gebiete sowie für die Aktualisierung der Netze sollten auch öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) in Betracht gezogen werden.

1.2

Der EWSA befürwortet den gemeinsamen politischen Rahmen für die EU und die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Verwirklichung der Europa-2020-Ziele und fordert daher die Europäische Kommission zur Einrichtung einer beratenden Ad-hoc-Gruppe auf, die die Mitgliedstaaten, Kandidatenländer und interessierte private Betreiber dabei unterstützen kann, den Zugang ländlicher und abgelegener Gebiete zur Breitbandversorgung besser zu beobachten.

1.3

Es gibt ein erhebliches Marktversagen bei der Versorgung abgelegener Gebiete mit erschwinglicher Hochgeschwindigkeits-Breitbandtechnik. Die Europäische Kommission muss daher eine umfassende Palette von Maßnahmen fördern, die die Entwicklung offener Netze durch staatliche bzw. öffentliche Initiativen erleichtern. Die EU muss die Entwicklung der elektronischen Dienste im öffentlichen und im privaten Sektor umfassend unterstützen, um die Gesundheitsversorgung, das Bildungsangebot, die Notdienste von allgemeinem Interesse, die Sicherheit und soziale Dienste auf regionaler und lokaler Ebene zu verbessern. Die Teilnahme aller Behörden an ÖPP kann KMU, die sich auf IKT-Dienste im öffentlichen Bereich spezialisieren, strategisch unterstützen und die IKT-Kompetenzen von Jungunternehmern fördern.

1.4

Durch die Strukturfonds und über die EIB (Europäische Investitionsbank) sowie durch Instrumente des Europäischen Investitionsfonds (EIF) sollten in abgelegenen, ländlichen und einkommensschwachen Gebieten Privatinvestitionen und ÖPP gefördert werden, um benachteiligten Bürgern und KMU einen erschwinglichen Internetzugang zu ermöglichen. Die Europäische Kommission sollte spezifische Programme und Maßnahmen für die Förderung und Verbreitung lokaler ÖPP im Rahmen regionen- und grenzübergreifender Pilotprojekte vorsehen, die Veranstaltung eines „Europäischen Tages elektronischer Dienste für alle“ sollte gefördert werden.

1.5

Der EWSA misst dem Aufbau stärkerer Partnerschaften zwischen öffentlichen und privaten Anbietern öffentlicher elektronischer Dienste große Bedeutung für eine bessere und effizientere Erbringung von Diensten bei. Mehr Transparenz und eine aktive Bürgerbeteiligung sind erforderlich, indes muss die Verantwortung für die öffentlichen Infrastrukturinvestitionen und die Überwachung der Leistungserbringung unverändert bleiben. Öffentliche Dienstleistungen werden häufig auf regionaler und lokaler Ebene erbracht, wo KMU und ihre Verbände Partnerschaften mit dem öffentlichen Sektor eingehen könnten, entweder unmittelbar als Anbieter oder, wenn größere finanzielle Ressourcen oder ein umfangreicheres Know-how erforderlich sind, als Teil eines Konsortiums. In einigen Regionen Frankreichs (Auvergne), Italiens (Trentino-Südtirol, Lombardei) und weiteren EU-Mitgliedstaaten ist dies bereits der Fall.

1.6

Die Verfügbarkeit qualitativ hochwertiger und erschwinglicher Breitbandtechnik kann die Zugänglichkeit und Qualität der Behördendienste verbessern und es KMU ermöglichen, auf dem Markt konkurrenzfähiger zu sein. Abgelegene Regionen und Gemeinden werden vom Zugang zu schnelleren Breitbanddiensten am meisten profitieren.

1.7

Der Ausschuss hält es für notwendig, die Entwicklung allgemeiner und schneller Festnetz- und Drahtlos-Breitbandanschlüsse für alle Bürger und Verbraucher durch gesonderte Investitionsaufwendungen voranzutreiben. Hier wäre ein besser geeigneter Beihilferahmen, der auf EU-Ebene angesiedelt ist und den EU-Wettbewerbsregeln entspricht, hilfreich, ebenso wie eine bessere Abstimmung der verschiedenen Politiken und Programme der EU, so dass eine freie Wahl der Verbraucher dazu beiträgt, dass die anvisierten Ziele für den Zugang zu elektronischen Diensten für alle Bürger und an allen Orten erreicht werden können.

1.8

Nach Meinung des Ausschusses sollte bis 2013 jeder Haushalt Zugang zu erschwinglichem Breitband-Internet haben. Zur Erweiterung der drahtlosen Breitbandnetze und zur Verbesserung der Qualität der Dienste sollte die digitale Dividende gefördert und genutzt werden. Die Mitgliedstaaten müssen ihre nationalen Ziele für die Breitband- und Hochgeschwindigkeits-Internetabdeckung aktualisieren, um die regionalen Gebietskörperschaften und private Akteure dazu anzuhalten, konsequent das Ihre zur Umsetzung einer europäischen Hochgeschwindigkeits-Breitband-Strategie zu tun. Insbesondere regionale Gebietskörperschaften, beratende Einrichtungen auf EU- und/oder nationaler Ebene, KMU, Organisationen und sonstige private Akteure sollten von Anfang an in die Initiative „Internet der Zukunft“ der Europäischen Kommission eingebunden werden.

1.9

Der EWSA spricht sich für ÖPP-Lösungen aus, deren Finanzierungsmodelle eine kostenwirksame und fristgerechte Breitbandversorgung der Bürger in ländlichen und grenzüberschreitenden Regionen ermöglichen kann. Diesbezüglich betont der Ausschuss, dass Kompetenzen im IKT-Bereich insbesondere für KMU und Jungunternehmer in ländlichen und abgelegenen Gebieten für eine integrative digitale Gesellschaft von grundlegender Bedeutung sind, zumal wenn sich hinsichtlich des Zugangs zu elektronischen Diensten für ältere, benachteiligte und einkommensschwache Bürger eine digitale Kluft auftut. Auch die bestehenden Zugangsprobleme müssen angegangen werden.

1.10

Die EU-Institutionen sollten die Entwicklung der elektronischen Dienste im öffentlichen und im privaten Sektor umfassend unterstützen, um die Gesundheitsversorgung, das Bildungsangebot, die Notdienste, die Sicherheit und Dienstleistungen von allgemeinem Interesse sowie soziale Dienste auf regionaler und lokaler Ebene zu verbessern.

2.   Hintergrund / Allgemeiner Kontext

2.1

Das Internet ist zu einer der strategisch wichtigsten Infrastrukturen des 21. Jahrhunderts geworden und stellt eine wesentliche Verpflichtung im Zusammenhang mit der im Vertrag von Lissabon vorgesehenen Sicherstellung des Universaldienstes durch die EU dar. In ländlichen und abgelegenen Gebieten jedoch hat sich die Lage kaum verbessert, und von einem europäischen Markt für elektronische Dienste kann keine Rede sein (1). Da der Privatsektor offensichtlich nicht bereit ist, die Nachfrage nach Diensten zu decken, und der öffentliche Sektor dazu allein nicht in der Lage ist, würde es sich anbieten, dass sich öffentliche und private Träger im Wege von öffentlich-privaten Partnerschaften in diesem Bereich den Nutzen und die Risiken teilen. Die aktive Einbeziehung und Rolle der organisierten Zivilgesellschaft in ÖPP beim Aufbau elektronischer Dienste könnten hierbei ausschlaggebend sein.

2.2

Ziel dieser Initiativstellungnahme ist es, diese Problematik zu erörtern und die Debatte über nachhaltige Lösungen für die Einführung elektronischer Dienste überall und für alle in Europa - vor allem in den entlegensten Gebieten und für die schutzbedürftigsten Gruppen – in den Vordergrund zu rücken.

2.3

In dieser Stellungnahme geht es ganz allgemein darum:

mit Hilfe des EWSA sowie öffentlicher und privater Interessenvertretungen zu analysieren, wie über ÖPP elektronische Dienste für alle, d.h. für Bürger, Unternehmen und insbesondere lokale und regionale Verwaltungen, gefördert werden können;

Möglichkeiten für die stärkere gesellschaftliche Integration schutzbedürftiger Gruppen und für die wirtschaftliche Integration entlegener Gebiete durch nachhaltige und wirksame Formen öffentlich-privater Partnerschaften für den Aufbau von elektronischen Diensten in Europa aufzuzeigen (2);

die EU-Institutionen, politische Entscheidungsträger sowie öffentliche und private Interessenträger, die im Rahmen von ÖPP beim Aufbau elektronischer Dienste zusammenarbeiten wollen, zu unterstützen und dazu Probleme und mögliche Lösungen auszuloten, Folgenabschätzungen bezüglich Angebot und Nachfrage von elektronischen Diensten im Verhältnis zu den Bedürfnissen der Zivilgesellschaft durchzuführen, die erforderlichen Beschäftigungs- und Qualifikationserfordernisse zu identifizieren und auf EU-Ebene bewährte Maßnahmen und Programme herauszugreifen, die auf die nationale/regionale Ebene übertragen werden könnten.

2.4

Die IKT durchdringen die meisten Bereiche unserer Gesellschaft. In dem Maße, wie sich die Übergänge zwischen Festnetztelefonie, Internet, Fernsehen, Mobiltelefonie und anderen Kommunikationsdiensten auflösen, verschwimmen auch die Grenzen zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor sowie zwischen der EU-Politik und einzelstaatlichen Politiken. Tatsächlich ist es durch nationale und regionale politische Maßnahmen nicht gelungen, wirklich allen Zugang zu diesen Diensten zu ermöglichen.

2.5

In diesem Zusammenhang hat Neelie KROES, das neue für die Digitale Agenda zuständige Kommissionsmitglied, eine Debatte betreffend eine öffentliche Konsultation eingeleitet, um zu sondieren, „ob wir die Vorschriften anpassen müssen, damit allen EU-Bürgern der Zugang zu unverzichtbaren Kommunikationsdiensten und einem schnellen Internet garantiert werden kann. Wir müssen dafür sorgen, dass niemand aus der digitalen Gesellschaft ausgegrenzt wird.“ Auch in der jüngst vorgelegten Mitteilung „Europa 2020“ wird das Ziel bekräftigt, einen nachhaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen aus einem digitalen Binnenmarkt auf der Grundlage des schnellen und ultraschnellen Internets und interoperabler Anwendungen zu ziehen, mit Breitbandinternetzugang für alle im Jahr 2013.

2.6

Schon in der Lissabon-Strategie wurde festgestellt, dass wir Zugang zu modernen digitalen Ausrüstungen (z.B. Internet, GPS) sowie zu elektronischen Dienstleistungen benötigen. Eine Modernisierung der öffentlichen Dienste muss daher folgenden Ansprüchen genügen:

Bereitstellung hochwertigerer und sicherer Dienste für die Öffentlichkeit;

Erfüllung der Forderungen von Unternehmen, insbesondere KMU, die weniger Verwaltungsaufwand und mehr Effizienz benötigen;

Gewährleistung der grenzübergreifenden Kontinuität der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (einschl. des Katastrophenschutzes) als wesentliche Voraussetzung für die Förderung der Mobilität in Europa und den sozialen Zusammenhalt in den Mitgliedstaaten.

2.7

Den geltenden EU-Rechtsvorschriften (Universaldienstrichtlinie 2002) (3) zufolge müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass alle Bürger Anschluss an das öffentliche Telefonnetz an einem festen Standort haben sowie Zugang zu öffentlichen Telefondiensten für die Sprach- und Datenkommunikation mit funktionaler Internetzugangsmöglichkeit haben. Den Verbrauchern müssen Telefonauskunftsdienste und Teilnehmerverzeichnisse, öffentliche Münz- und Kartentelefone sowie besondere Einrichtungen für Behinderte zur Verfügung stehen.

2.8

Die Europäische Kommission hat jüngst in einer Mitteilung öffentlich-private Partnerschaften als eine der Möglichkeiten aufgezeigt, die Einführung von Internet-Diensten in Europa zu beschleunigen und den EU-Bürgern elektronische Dienste anzubieten. Durch einen ganzheitlicheren Ansatz im Wege öffentlich-privater Partnerschaften sollen die europäischen Bürger in die Lage versetzt werden, bekannte und künftige Technologien besser zu nutzen. Ferner könnten über die ÖPP Hemmnisse nicht-technischer Art identifiziert und strategisch angegangen werden (4). Der Begriff ÖPP deckt eine Vielzahl an Konstellationen ab, daher finden sich in der Literatur verschiedene Definitionen, wie etwa in den ÖPP-Leitlinien der Vereinten Nationen (5) oder den Vorgehensweisen der EIB.

2.9

Die Europäische Kommission hat unter Einbeziehung des EWSA u.a. zu folgenden Themen öffentliche Anhörungen durchgeführt:

Zugangsnetze der nächsten Generation (NGA-Netze);

Ummünzung der digitalen Dividende in sozialen Nutzen und wirtschaftliches Wachstum;

Universaldienst im Digitalzeitalter.

2.10

Mit der Mitteilung der Europäischen Kommission KOM(2009) 479 endg. über „Eine öffentlich-private Partnerschaft für das Internet der Zukunft“ soll der Rahmen für die Herausbildung einer „intelligenten“ Gesellschaft und gleichzeitig für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen IKT-Branche geschaffen werden. Die Vorbereitung auf den Start einer Initiative für eine öffentlich-private Partnerschaft für das Internet der Zukunft, die auch von einigen Mitgliedstaaten und der Branche unterstützt wird, erfordert eine intensivere Einbeziehung der Zivilgesellschaft und regionaler Gebietskörperschaften.

3.   Allgemeine Bemerkungen: ÖPP und Aufbau elektronischer Dienste

3.1

So wie in unserer Gesellschaft die Bereitstellung von bzw. der Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser, Bildung, Gesundheitsfürsorge, Mobilität und Behörden gewährleistet wird, muss auf möglichst nachhaltige und wirksame Weise dafür gesorgt werden, dass in der Informationsgesellschaft alle Bürger und Unternehmen in der EU, insbesondere in ländlichen und abgelegenen Gebieten, die gleichen Möglichkeiten haben.

3.2

Bislang ist dies noch nicht überall in der EU gegeben, und es gibt noch immer Gebiete und Gruppen, die von eExclusion - digitaler Ausgrenzung - bedroht sind. Bei eExclusion könnten demografische (Alter, Geschlecht, Familienstand usw.), wirtschaftliche und soziale (Bildungsniveau, Beschäftigung, Status, Einkommen usw.) und auch geografische Faktoren (wie etwa Wohnlage, geografische Lage, besondere regionale oder lokale Gegebenheiten, geopolitische Aspekte usw.) eine Rolle spielen. Marktversagen bei elektronischen Diensten ist einzelfallbedingt und u.a. womöglich auf ungünstige geografische Voraussetzungen, dünne Besiedlung, hohe Steuern oder eine Kombination dieser Faktoren zurückzuführen. Ungenügende Nachfrage und Nutzung in diesen Gebieten schrecken private Betreiber häufig von Investitionen ab.

3.3

Im Mittelpunkt der Überlegungen darf jedoch nicht nur die geografische Ausgrenzung stehen, sondern muss auch das Phänomen der sozialen Ausgrenzung, die eng mit den beschränkten finanziellen Möglichkeiten und begrenzten Kompetenzen bestimmter Nutzergruppen zusammenhängt, bedacht werden (6). Daher sollte der Umfang des Universaldienstes dahingehend ausgeweitet werden, dass der Zugang aller Nutzer ungeachtet ihrer geografischen, finanziellen oder sozialen Lage gewährleistet ist.

3.4

Besondere Anstrengungen und Maßnahmen sind erforderlich, um Ergebnisse für schutzbedürftige Gruppen und vor allem nichtstädtische Gebiete herbeizuführen.

3.5

Der Ausschuss hat in mehreren Stellungnahmen einschlägige Empfehlungen zu verschiedenen Aspekten der elektronischen Dienste, ihrer Interoperabilität und der IKT-Infrastrukturen unterbreitet (7).

3.6

Seiner Ansicht nach könnten ÖPP zum Aufbau elektronischer Dienste in der EU – vielversprechendes Neuland mit kritischen Tätigkeitsaspekten - beitragen.

3.7

Untersuchungen ist zu entnehmen, dass vor allem folgende Argumente für einen ÖPP-Ansatz sprechen:

qualitative Verbesserung der elektronischen Dienste für schutzbedürftige Gruppen;

Verbesserung der Kostenwirksamkeit, da Innovationen, Erfahrung und Flexibilität des privaten Sektors zum Tragen gebracht werden;

verstärkte Investitionen in öffentliche Infrastrukturen zur Ausweitung der Bereitstellung von elektronischen Diensten;

Dauerhaftigkeit der höheren Flexibilität der privaten Partner und des Mittelzugangs;

qualitative Verbesserung der öffentlichen Ausgaben;

Effizienzgewinne und Konvergenz der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse.

3.8

Zudem sind Investitionen in dringende Infrastrukturvorhaben ein wichtiges Instrument der Wirtschaftsförderung, insbesondere in der aktuellen Krise, und könnten einer baldigen dauerhaften wirtschaftlichen Erholung förderlich sein. In diesem Zusammenhang könnten ÖPP wirksam dazu beitragen, dass Infrastrukturvorhaben durchgeführt und Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und zur Unterstützung von Unternehmen bereitgestellt werden, durch die die lokale Entwicklung und wirtschaftliche Erholung in einigen Regionen der EU sichergestellt würde (8).

3.9

Es gibt auch Risiken, die mit ÖPP für elektronische Dienste verbunden sind. Hierzu gehört die Gefahr, abgelegene Gebiete nicht versorgen zu können, da diese für einen privaten Dienstleister häufig Verluste implizieren. Deshalb sollten alle ÖPP eine Verpflichtung beinhalten, die Dienste auch für abgelegene Gebiete anzubieten.

4.   Kritische Aspekte beim Aufbau elektronischer Dienste

4.1

In dieser Stellungnahme geht es auch um den Aufbau elektronischer Dienste, d.h. die Verbreitung der entsprechenden Einrichtungen und den gleichberechtigten Zugang zu ihnen in der gesamten EU. Dies erfordert entweder die bedarfsgerechte Schaffung einer neuen „intelligenten“ Infrastruktur oder die Verbesserung der vorhandenen Infrastruktur. In Verbindung damit wäre auf einige kritische Aspekte einzugehen:

Effizienz: Nur weil es eine Infrastruktur gibt, heißt das noch lange nicht, dass sie auch effizient funktioniert oder für alle interessierten sozialen Gruppen gleichermaßen zugänglich ist. Ein Beispiel aus jüngster Zeit liefert die Eurobarometer-Umfrage zur Notrufnummer 112. Obwohl dieser Dienst in 20 EU-Mitgliedsstaaten bereits eingeführt und aktiviert ist, ist der Anteil der Befragten, die darüber Bescheid wissen, mit 32 % sehr gering (9). Verbesserungen können dadurch erzielt werden, dass die Verbraucher besser informiert und die Bürger stärker einbezogen und Anwendungen für das elektronische Lernen gezielter eingesetzt werden.

Ländliche Gebiete: Bezüglich des Zugangs zu elektronischen Diensten gibt es in der ganzen EU immer noch erhebliche Unterschiede (10). Ländliche Gebiete sind nach wie vor mit IKT unterversorgt. 23 % der Menschen in ländlichen Gebieten haben keinen Zugang zu Breitbandfestnetzen (11).

4.2

In einem echten Ansatz des „offenen Marktes“ sollten ÖPP von Anfang an so angegangen werden, dass auf allen Ebenen die EU-, nationalen und regionalen Behörden, die Sozialpartner, Akteure der Zivilgesellschaft, KMU-Verbände, Verbrauchervereinigungen und sonstigen Interessenträger (Betreiber, Verkäufer, Anbieter von IT-Diensten, vertikale und Anwendungsmärkte usw.) wirksam eingebunden sind.

4.3

Ein geeigneter Anfang könnten die bestehenden EU-Strukturfonds, EIB/EIF und einige spezifische Programme wie etwa die Mechanismen des Forschungsrahmenprogramms in künftigen IKT-Förderprogrammen (Zeitraum 2011-2013) sein, für die jährlich knapp 300 Mio. EUR zur Verfügung stehen.

4.4

Diesbezüglich könnten ÖPP auf die Arbeiten der fünf europäischen Technologieplattformen (ETP) zurückgreifen und dabei zu einer wechselseitigen Bereicherung in Bezug auf die internetbezogenen Fragen und ihre jeweiligen strategischen Forschungspläne beitragen. Ein wesentliches Merkmal einer solchen öffentlich-privaten Partnerschaft wäre die Entwicklung von offenen, genormten und sektorübergreifenden Dienste-Plattformen.

4.5

Aus europäischer Sicht wären Sektoren wie Gesundheitswesen, Mobilität, Umwelt und Energieversorgung erste Anwärter, um von den neuen „intelligenten“ internetgestützten Infrastrukturen zu profitieren, die die rasche Einführung von Diensten und deren Akzeptanz durch Millionen von Nutzern und Verbrauchern vereinfachen werden.

Brüssel, den 16. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  KOM(2009) 479 endg., „Eine öffentlich-private Partnerschaft für das Internet der Zukunft“.

(2)  Das Hauptproblem in Verbindung mit den elektronischen Diensten in der EU ist, dass es keine gemeinsame Definition gibt. Zumeist werden elektronische Dienste gleichgesetzt mit IKT, also u.a. elektronische Behördendienste, e-business, elektronische Gesundheitsdienste, Informationen des öffentlichen Sektors, e-learning, e-inclusion und elektronisches Beschaffungswesen.

(3)  ABl. L 108 vom 24.4.2002, S. 51-77.

(4)  White paper on the Future Internet PPP definition, Januar 2010, liegt nur in englischer Sprache vor.

(5)  Guide Book on Promoting Good Governance in Public-Private Partnership – United Nations, New York und Genf, 2008.

(6)  ABl. C 139 vom 11.5.2001, S. 15; ABl. C 123 vom 25.4.2001, S. 53; ABl. C 108 vom 30.4.2004, S. 86.

(7)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 60; ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 92; ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 8; ABl. C 317, 23.12.2009, S. 84; ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 36; ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 50; Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ummünzung der digitalen Dividende in sozialen Nutzen und wirtschaftliches Wachstum“, Berichterstatterin: Anna Maria Darmanin (TEN/417).

(8)  KOM(2009) 615 endg., Mitteilung der Kommission „Mobilisierung privater und öffentlicher Investitionen zur Förderung der Konjunktur und eines langfristigen Strukturwandels: Ausbau öffentlich-privater Partnerschaften“.

(9)  Flash Eurobarometer 285 – The European Emergency Number 112, Analytical Report, Wave 3, Februar 2010.

(10)  Telekommunikation: Konsultation zum künftigen Universaldienst Digitalzeitalter, IP/10/2010 vom 2.3.2010 (siehe http://ec.europa.eu/information_society/policy/ecomm/doc/library/public_consult/universal_service2010/index_en.htm).

(11)  KOM (2009) 103 endg. „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat - Besserer Zugang zur modernen Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) in ländlichen Gebieten“.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/77


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Welche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse brauchen wir zur Bewältigung der Krise?“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 48/14

Berichterstatter: Raymond HENCKS

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 18. März 2010, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Welche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse brauchen wir zur Bewältigung der Krise?

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 6. September 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 119 gegen 11 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Die jüngste Finanzkrise, die sich zu einer Wirtschaftskrise ausgewachsen hat, trifft zwar die Mitgliedstaaten in sehr unterschiedlichem Maße, wird aber langfristige soziale Folgen wie zunehmende Arbeitslosigkeit, Prekarität, Ausgrenzung und Armut haben - schon heute ist jeder sechste Europäer betroffen.

1.2

Fast 80 Millionen Menschen, d.h. 16 % der Bevölkerung der Europäischen Union, leben unterhalb der Armutsschwelle und haben große Schwierigkeiten, Arbeit und Wohnraum zu finden, Unterstützungsleistungen in Anspruch zu nehmen und Zugang zu wesentlichen Dienstleistungen insbesondere im Gesundheitswesen sowie Sozialleistungen zu erhalten. Die benachteiligten Bevölkerungsgruppen (Behinderte, Zuwanderer) sind hart betroffen und werden auch künftig hart betroffen sein, wobei insbesondere die in den beiden letzten Jahrzehnten erzielten Fortschritte und die Integration in die Gesellschaft und die Arbeitswelt in Frage gestellt werden.

1.3

Die zunehmende Gewalt, die Probleme in den Vorstädten, der Anstieg von Kriminalität und asozialem Verhalten sowie eine gewisse Abnahme des Solidaritätsgefühls sind weitere Anzeichen dafür, dass aus der Finanz- und Wirtschaftskrise eine Sozialkrise geworden ist.

1.4

Die zaghafte Konjunkturerholung reicht nicht aus, um diesen Problemen Einhalt zu gebieten. Noch schlimmer: Aufgrund der Erfahrungen aus früheren Krisen (1993-1996 und 2002-2004) muss davon ausgegangen werden, dass die sozialen Folgen noch lange nach der wirtschaftlichen Erholung zu spüren sein werden.

1.5

Die Zunahme von Armut und sozialer Ausgrenzung haben zu einer ständig steigenden Nachfrage nach Sozialdiensten insbesondere in den Bereichen Gesundheit, Wohnungswesen, Bildung, Energie, Verkehr und Kommunikationsmittel geführt.

2.   Die Rolle der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in Krisenzeiten

2.1

Diese Krise hat gezeigt, dass moderne und effiziente Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (DAI) mit mehr als 500 000 in diesem Bereich tätigen (öffentlichen, privaten, gemischten) Unternehmen, die 64 Mio. Beschäftigte (über 30 % der Arbeitsplätze in der EU) zählen und mehr als 26 % des BIP der Union erwirtschaften, wirtschaftlich stabilisierend wirken (Studie „Mapping of the public services“ („Eine ‚Kartografie‘ der Daseinsvorsorge in Europa“), veröffentlicht vom Europäischen Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP), Mai 2010).

2.2

Die DAI können zudem die schlimmsten sozialen und territorialen, aber auch ökologischen Folgen mildern, wenn sie dazu dienen, allen Bürgern den Zugang zu wesentlichen Gütern und Dienstleistungen und zu den Grundrechten zu sichern. Sie sind ein wesentlicher Faktor für die Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts sowie einer nachhaltigen Entwicklung.

2.3

Im Lauf der Geschichte und im Rahmen des europäischen Aufbauwerks haben die Mitgliedstaaten - im Namen des gemeinsamen bzw. allgemeinen Interesses und mit den unterschiedlichsten Gestaltungsformen und -modalitäten - ergänzend zum gemeinsamen Wettbewerbsrecht und zu den Regeln des Marktes Sonderregelungen für die DAI erlassen, die gegebenenfalls regelmäßig überprüft und neu definiert werden müssen, wie insbesondere im Rahmen des Vertrags von Lissabon.

2.4

Gemäß ihrer Rolle als Grundpfeiler des europäischen Sozialmodells und einer sozialen Marktwirtschaft müssen die DAI durch Interaktion und durch Integration des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts:

das Recht aller Bürgerinnen und Bürger auf Zugang zu grundlegenden Gütern und Dienstleistungen garantieren;

den wirtschaftlichen, sozialen, territorialen und kulturellen Zusammenhalt sicherstellen;

für soziale Gerechtigkeit und soziale Integration sorgen, Solidarität zwischen den Gebieten, Generationen und/oder sozialen Schichten schaffen, das allgemeine Interesse der Gemeinschaft fördern;

die Gleichbehandlung aller Bürger und Einwohner garantieren;

die Bedingungen für eine nachhaltige Entwicklung schaffen.

2.5

Die Krise hat gezeigt, dass die Marktmechanismen allein nicht ausreichen, um einen universellen Zugang aller Bürger zu diesen Rechten zu gewährleisten; öffentliche Investitionen werden daher heutzutage nicht nur allseits akzeptiert, sondern sogar auf internationaler Ebene empfohlen.

3.   Die Gefahr von Haushaltskürzungen in Krisenzeiten

3.1

Infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise ist für manche Mitgliedstaaten ein ausgeglichener Haushalt immer schwerer zu erreichen, was ihre Fähigkeit zur Erfüllung ihrer Aufgaben von allgemeinem Interesse in Frage stellen könnte.

3.2

Die von den Mitgliedstaaten für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse bereitgestellten Finanzmittel geraten dadurch unter starken Druck, wenngleich die Mitgliedstaaten in sehr unterschiedlichem Maße in der Lage sind, auf die steigende Nachfrage nach Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu reagieren.

3.3

Diese Haushaltsengpässe könnten zu Einschnitten bei den Sozialleistungen und sozialen Errungenschaften sowie bei den Sozialschutz- und Beihilfesystemen führen, was gravierende Folgen für die am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen hätte und zu Lasten der bisherigen Fortschritte bei der Verringerung von Armut und Ungleichheit sowie bei der Verbesserung des sozialen Zusammenhalts ginge.

3.4

Es erscheint unverzichtbar, dass die Kommission Stellung zum Finanzierungsbedarf bezieht, und zwar nicht allein aus kurzfristiger und rein wettbewerbspolitischer Sicht (staatliche Beihilfen), sondern auch, um die finanzielle Tragfähigkeit der DAI und die Erfüllung ihres Auftrags im Einklang mit den Bestimmungen des Vertrags von Lissabon sicherzustellen.

3.5

Die Mitgliedstaaten müssen daher mit der Unterstützung der Europäischen Union ihre Haushalte dahingehend anpassen, dass sie ihre Dienstleistungen von allgemeinem Interesse aufrechterhalten bzw. ausweiten, um wirksam auf die Herausforderungen der sozialen Krise zu reagieren.

3.6

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission die Instrumentarien der Mitgliedstaaten im Bildungsbereich durch eine Lockerung der Kofinanzierungsmodalitäten des Europäischen Sozialfonds unterstützt hat. Der Fonds zur Förderung des sozialen Zusammenhalts sollte stärker zur Verbesserung der sozialen Dimension der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten genutzt werden, um das soziale Gefälle zu verringern und die Volkswirtschaften zu stabilisieren.

4.   Die Rolle der Europäischen Union

4.1

Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip und wie im Vertrag von Lissabon nachdrücklich ausgeführt, muss es jedem Mitgliedstaat weiterhin freistehen, ausgehend von sozialem und staatsbürgerlichem Handeln bzw. unter Bezugnahme auf dieses Handeln diejenigen Dienstleistungen, die einem allgemeinen Interesse und grundlegenden Bedürfnissen entsprechen, zu definieren, zu organisieren und zu finanzieren.

4.2

Sämtliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse tragen unabhängig davon, ob es sich um wirtschaftliche oder nichtwirtschaftliche Dienstleistungen handelt, aufgrund ihrer Natur und ihres Auftrags zur Verwirklichung der Ziele der Europäischen Union bei, insbesondere zur ständigen Verbesserung der Lebensbedingungen ihrer Bürger sowie zur Gewährleistung ihrer Rechte und zur Schaffung der Voraussetzungen für deren Wahrnehmung.

4.3

Infolgedessen hat die Union, die Verantwortung für die Verwirklichung dieser Ziele trägt, auch Verantwortung in Bezug auf die dazu verwendeten Instrumente wahrzunehmen.

4.4

Die Union muss unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und im Rahmen einer mit den Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeit dafür sorgen und dazu beitragen, dass effiziente, zugängliche, erschwingliche und hochwertige DAI für alle zur Verfügung stehen.

4.5

Die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der DAI berührt in keiner Weise die Befugnisse der EU, auf ihrer Ebene Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) festzulegen, sofern ihr dies für die Verwirklichung ihrer Ziele notwendig erscheint.

4.6

Der EWSA hat sich in verschiedenen Stellungnahmen dafür ausgesprochen, dass die Organe der Europäischen Union - ohne den Status der jeweiligen Erbringer schon im Vorfeld festzulegen - das Vorhandensein und die Notwendigkeit europäischer Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in den Bereichen anerkennen, in denen die EU ihre Ziele durch eigenes Handeln effizienter erreichen kann, als wenn die Mitgliedstaaten jeweils einzeln vorgehen. Der Ausschuss hatte in diesem Zusammenhang insbesondere Studien darüber vorgeschlagen, ob die Energieversorgung als europäische DAI machbar ist.

5.   Gemeinwohlverpflichtungen und Universaldienst

5.1

Obgleich davon ausgegangen wird, dass der Zugang zu den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse teilweise durch die Kräfte des Marktes und den freien Wettbewerb gewährleistet wird, müssen gemäß Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union die Union und die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse dafür Sorge tragen, dass diese Dienste ihren Aufgaben nachkommen können.

5.2

Um zu verhindern, dass die alleinige Anwendung der Regeln des Marktes die Betreiber dazu veranlasst, sich allein um rentable Dienste zu Lasten der wenig lukrativen Dienste, um dicht besiedelte Gebiete zu Lasten isolierter oder strukturschwacher Gebiete und um die solventesten Verbraucher zu Lasten der Gleichbehandlung zu bemühen, hat die Liberalisierung der netzgebundenen Wirtschaftszweige (Telekommunikation, Energie, Verkehr, Post) auf EU-Ebene zur Entwicklung zweier neuer Konzepte geführt: dem der Gemeinwohlverpflichtungen und dem des Universaldienstes.

5.3

Diese beiden Konzepte ergänzen einander insofern, als sie den Nutzern der Dienstleistungen eine Reihe Garantien bieten sollen: ein mehr oder weniger umfangreiches Angebot an Diensten, das in denjenigen Bereichen, in denen ein Universaldienst definiert wurde (Telekommunikation, Postdienste, Stromversorgung), nach bestimmten Qualitätsnormen und zu einem erschwinglichen Preis überall in der EU zur Verfügung gestellt werden muss; spezifische Aspekte, die die Union oder die Mitgliedstaaten gewährleisten können und die nicht nur die die für die Nutzer erbrachten Dienstleistungen, sondern auch Fragen der Sicherheit u.a. in Bezug auf die Versorgungssicherheit, die Unabhängigkeit der Union, die Planung langfristiger Investitionen, den Umweltschutz usw. für Gemeinwohlverpflichtungen betreffen können. In beiden Fällen kann von den Wettbewerbsregeln abgewichen werden, wenn deren Anwendung die Bereitstellung der vorgenannten Leistungen verhindern würde.

5.4

Dieses Konzept eines universellen Zugangs zu erschwinglichen Bedingungen müsste eine Art „Grundstock“ gemeinsamer Regeln für sämtliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in der Union bilden und das Minimum der von den Mitgliedstaaten und den lokalen Behörden einzuhaltenden Verpflichtungen vorgeben, die ihren Gemeinwohlauftrag somit nicht einschränken dürfen, sondern ausweiten und seiner Finanzierung Vorrang einräumen müssen.

5.5

Der Begriff des universellen Zugangs nimmt den einzelnen Mitgliedstaaten somit nicht die Möglichkeit, über Mindeststandards hinaus weitere Elemente der Dienstleistung von allgemeinem Interesse insbesondere im Bereich der Gemeinwohlverpflichtungen zu gewährleisten.

6.   Notwendige Maßnahmen

6.1

Mit dem Vertrag von Lissabon hat die Union eine Dynamik der Grundrechte und ihrer Gewährleistung in Gang gesetzt, die - durch die konkrete Anwendung aller Rechte (statt allein des Zugangs zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse), die die Charta der Grundrechte der Europäischen Union allen Bürgerinnen und Bürgern einräumt - ein Fundament gemeinsamer Prinzipien für eine stärkere gesellschaftliche Regulierung bilden sollte.

6.2

Das Recht auf universellen Zugang zu den DAI darf sich nicht allein auf die von den netzgebundenen Wirtschaftszweigen erbrachten Dienstleistungen beschränken, sondern muss sich auf alles erstrecken, was notwendig ist, um ein Leben in Würde zu ermöglichen, den sozialen Zusammenhalt zu sichern und die Grundrechte zu garantieren.

6.3

Daher muss einerseits untersucht werden, ob vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise und im Hinblick auf Dauerhaftigkeit die derzeit geltenden Bestimmungen (Telekommunikation, Postdienste, Stromversorgung) ausreichend sind, um eine Verschlechterung der Qualität der angebotenen Dienstleistungen und die Ausbreitung von Phänomen wie Ausgrenzung, soziale Verwerfungen und Armut zu verhindern. Andererseits muss untersucht werden, ob für neue Bereiche nicht „ein hohes Niveau in Bezug auf Qualität, Sicherheit und Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung und Förderung des universellen Zugangs und der Nutzerrechte“ gewährleistet werden muss gemäß den im Protokoll Nr. 26 zum Vertrag von Lissabon definierten gemeinsamen Grundsätzen.

6.4

Es steht außer Frage, dass die Bürger mehr Sicherheit im beruflichen Werdegang wollen und auch eine bessere Absicherung gegen Arbeitslosigkeit und Armut, mehr Chancengleichheit beim Zugang zu lebenslanger allgemeiner und beruflicher Bildung und zu Sozialleistungen sowie einen besseren Schutz der großen ökologischen Gleichgewichte im Interesse gegenwärtiger und künftiger Generationen.

6.5

So wäre ein universelles Recht denkbar für den Zugang zu:

einem Bankkonto und Zahlungsmitteln,

erschwinglichen Krediten mithilfe staatlicher Kleinstkredite oder Bürgschaften,

menschenwürdigem Wohnraum,

häuslicher Pflege,

Mobilität,

sozialen Diensten,

speziellen Angeboten für Behinderte usw.,

Energieversorgung sowie

digitalen Diensten mit Zugangssicherung.

6.6

Die derzeitige Krise wie auch die Suche nach den wirksamsten Mitteln zu ihrer Bewältigung muss zusammen mit der Umsetzung des Lissabon-Vertrags (Artikel 14 AEUV, Charta der Grundrechte, Protokoll Nr. 26) von den Organen der EU zum Anlass genommen werden, um die Stellung und Rolle der DAI in diesem Kontext zu überprüfen, zu bewerten und neu festzulegen.

6.7

Die EWSA schlägt vor, gemeinsame Überlegungen mit sämtlichen Interessenträgern und der Zivilgesellschaft zu der Frage anzustoßen, ob neue Gemeinwohlverpflichtungen bzw. neue Dienstleistungen von allgemeinem Interesse möglicherweise angebracht sein könnten, um auf die Krise zu reagieren und um die drei bisher zu sehr getrennt betrachteten Dimensionen des Zusammenhalts - wirtschaftliche, soziale und territoriale Dimension - synergetisch miteinander zu verknüpfen und geeignete Maßnahmen vorzuschlagen, die eine ausgewogene Entwicklung ermöglichen.

6.8

Vor diesem Hintergrund spricht sich der EWSA für einen Bericht über die „Förderung des universellen Zugangs zu den gemeinschaftlichen Rechten und den DAI“ sowie die Definition neuer Zielsetzungen aus, die im Rahmen des Europäisches Jahres zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2010 und generell der EU-2020-Strategie sowie auch zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung und einer grünen Wirtschaft verfolgt werden können.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/81


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die neue Energiepolitik der EU: Anwendung, Effizienz und Solidarität für die Bürger“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 48/15

Berichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 18. März 2010 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die neue Energiepolitik der EU: Anwendung, Effizienz und Solidarität für die Bürger“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 6. September 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 16. September) mit 44 gegen 2 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1   Es müssen alle Facetten der Funktionsweise des Energiebinnenmarkts wie Infrastruktur, öffentliches Beschaffungswesen, reibungsloses Funktionieren des Marktes und Verbraucherschutz gestärkt werden. Diesbezüglich betont der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, dass die Energieinfrastruktur und die transeuropäischen Transportnetze zur Errichtung des Energiebinnenmarktes unbedingt ausgebaut werden müssen.

So müssen insbesondere Mechanismen zur Festlegung von Kriterien für die Preisbildung ausgearbeitet werden, um erhebliche und ungerechtfertige Unterschiede zu vermeiden, die oftmals fälschlicherweise mit der Art der genutzten Energie, den Versorgungsquellen oder den Verteilungswegen begründet werden.

Des Weiteren sollten Kriterien und Maßnahmen für die Rationalisierung der Energieerzeugung in den Mitgliedstaaten festgelegt werden, wobei eine nachhaltige Ressourcennutzung sichergestellt und die geografischen und klimatischen Bedingungen durch die Ermittlung der besten Zeiträume für den Betrieb von Wind-, Sonnen- und Gezeitenkraftwerken genutzt werden sollten.

1.1.1   Für ein reibungsloses Funktionieren der Energiemärkte ist Transparenz unerlässlich, damit die miteinander in Wettbewerb stehenden Unternehmen Zugang zu den Energienetzen und den Kunden vorfinden. Hierfür müssen die Behörden Verdrängungspraktiken, die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung und wettbewerbsbeschränkende Absprachen zwischen Unternehmen verhindern. Die Wettbewerbspolitik muss auch auf das Wohlergehen der Verbraucher und die Verbesserung ihrer Bedingungen ausgerichtet sein, wobei besonderen Aspekten wie der Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit, dem Energietransport und dem Energieendvertrieb Rechnung getragen werden muss. Der Ausschuss verweist auf seine Stellungnahmen zum Universaldienst sowie zu den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, in denen er deutlich zum Verbraucherschutz Stellung genommen und die Notwendigkeit unterstrichen hat, den Begriff „Universaldienst“ klar zu bestimmen, um gemeinsame Vorschriften für die Bereitstellung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse festzulegen.

1.1.2   Insbesondere in Bezug auf die Vergabeverfahren muss verhindert werden, dass die Vergabebehörden bei der Festlegung kostenintensiverer oder diskriminierenderer Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen (1) bzw. den Zugang zu dem Netz für den grenzüberschreitenden Stromhandel (2) ihre Vorrechte missbrauchen und subjektive Auslegungen der in Artikel 194 Absatz 2 AEUV (3) verankerten Hoheitsrechte heranziehen. Die Europäische Union sollte alles in allem ihr institutionelles Gewicht in die Waagschale werfen, um die Verfahren zur Gewährleistung der Transparenz der vom gewerblichen Endabnehmer zu zahlenden Gas- und Strompreise zu stärken und zu verbessern (4).

1.1.3   In diesem Zusammenhang ist eine Neudefinierung der Rolle der Branche Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse für die Funktionsweise des Binnenmarktes wahrscheinlich, die die Aufgaben, die ihr von den nationalen, regionalen oder lokalen Behörden übertragen werden können, vor dem Hintergrund des Vertrags von Lissabon effizienter erfüllen müssen (5). Dies ist im Energiebereich angesichts der Schlüsselrolle der Dienstleistungen, die von großen Netzunternehmen erbracht werden, von besonderer Bedeutung.

1.1.4   Diesbezüglich wird es eine heikle Aufgabe sein, einen ausgewogenen Rechtsrahmen zwischen dem weiträumigen Ermessensspielraum einerseits, der den Behörden der Mitgliedstaaten zugestanden wird (Artikel 1 des Protokolls Nr. 26 im Anhang zu EUV und AEUV gemeinsam mit Artikel 194 Absatz 2 AEUV), und dem freien Wettbewerb im Binnenmarkt andererseits zu finden, zumal der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, ohne die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Gewährleistung des Zugangs zu den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (6) zu berühren, die erforderliche Konformität dieser Rechtsprechung mit den Verträgen (7) betont und außerdem unterstrichen hat, dass mögliche Ausnahmen zu den Vertragsbestimmungen aufgrund der internen Ausübung der Zuständigkeiten in diesem Bereich in jedem Fall restriktiv auszulegen sind (8).

2.   Einleitung

2.1   Auf das europäische Energiewesen werden in den kommenden 40 Jahren zahlreiche Herausforderungen zukommen, die grundlegende Änderungen in Energieversorgung, -übertragung und -verbrauch erforderlich machen werden. Um diese Herausforderungen auf europäischer Ebene anzugehen, hat die Europäische Kommission im Hinblick auf eine neue Energiestrategie 2011-2020 und einen Aktionsplan für 2050 eine Konsultation der Interessenträger auf den Weg gebracht. Der Ausschuss wiederum arbeitet derzeit Stellungnahmen zu diesen beiden Initiativen aus.

2.2   Für die Konzipierung einer umfassenden und integrierten europäischen Strategie, mit der künftige Herausforderungen angegangen werden können, muss die Europäische Union die neuen Zuständigkeiten, die ihr mit dem Vertrag von Lissabon im Energiebereich übertragen wurden, ausschöpfen und die Mitgliedstaaten in einigen Punkten, die rechtlich gesehen in den Bereich der einzelstaatlichen oder geteilten Zuständigkeit fallen, zu einer engen Zusammenarbeit anhalten. Einige der aktuellen Fragen könnten weitere Änderungen der Verträge oder sogar einen neuen Vertrag erforderlich machen (z.B. der Vorschlag von Jacques Delors für einen neuen Vertrag zur Errichtung einer Europäischen Energiegemeinschaft). In dieser Stellungnahme wird auf den Vertrag von Lissabon und diejenigen Maßnahmen Bezug genommen, die notwendig sind, um sicherzustellen, dass die im Vertrag von Lissabon verankerten geteilten Zuständigkeiten zur Gewährleistung eines integrierten Konzepts und im Einklang mit dem Verbraucherrechten wie den unterschiedlichen Zuständigkeiten, die der EU und den Mitgliedstaaten mit dem Vertrag übertragen werden, ausgeübt werden.

2.3   Mit Artikel 194 des Vertrags über die Funktionsweise der Europäischen Union (AEUV) (9) wurde eine neue supranationale Handlungsgrundlage für die Energiepolitik geschaffen, die allerdings gewissen Bedingungen unterliegt, die sich einerseits aus dem EU-Rechtsrahmen, d.h. ihrer ausdrücklichen Verankerung im primären EU-Recht und im geltenden Gemeinschaftsrecht, und andererseits aus ihrer künftigen Verknüpfung mit einigen in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden „die Grundrechtscharta“) festgeschriebenen Rechten ergeben.

2.4   In diesem Sinn kann die europäische Energiepolitik ihre Ziele, namentlich Sicherstellung des Funktionieren des Energiemarktes, Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit, Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen und Förderung der Interkonnektion der Energienetze, nur insoweit verfolgen, als sie im Einklang mit der Funktionsweise des Binnenmarktes und mit der Verbesserung der Umwelt stehen (Artikel 194 Absatz 1 AEUV). Die Europäische Kommission möchte daher insbesondere die Ziele Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit, nachhaltige Nutzung der Energieressourcen und Energiezugang zu für die Verbraucher annehmbaren und wettbewerbsfähigen Preisen verwirklichen, da die Integration des europäischen Energiemarktes kein Selbstzweck, sondern ein grundlegendes Mittel zur Verwirklichung der genannten Ziele ist.

2.5   Außerdem werden die künftigen Maßnahmen, die die EU gemäß dem üblichen Gesetzgebungsverfahren zur Erreichung dieser Ziele beschließt, das Recht eines Mitgliedstaats, die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung zu bestimmen, nicht berühren (Artikel 194 Absatz 2 AEUV).

2.6   Diese Bestimmung, mit der ausdrücklich die Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten in bestimmten Bereichen gewahrt wird, garantiert den Mitgliedstaaten einen breiten Handlungsspielraum gemäß Artikel 2 Absatz 6 AEUV (10), wobei gleichwohl sichergestellt wird, dass ihr Handeln gemäß Artikel 194 Absatz 1 AEUV „im Geiste der Solidarität“ erfolgt.

2.7   Angesichts der Aufnahme des Energiewesens in die geteilten Zuständigkeiten (Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe i) AEUV) und zur bestmöglichen Vorbeugung etwaiger künftiger Kollisionen zwischen dem allgemeinen Interesse der EU, den nationalen Interessen ihrer Mitgliedstaaten (11) und den besonderen Interessen der Energieunternehmen sowie den Rechten der Bürger, der Verbraucher und der Nutzer erscheint es angezeigt, dass der Ausschuss sich zu dieser Frage äußert.

2.8   Die Europäische Kommission hat ein umfangreiches Maßnahmenpaket vorgeschlagen, um die Verpflichtungen der Europäischen Union zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Förderung der erneuerbaren Energieträger bis 2020 einzuhalten. Diesbezüglich haben sich Rat und Europäisches Parlament zu einer Verringerung der Treibhausgasemissionen um 20 %, die Festlegung des Anteils der erneuerbaren Energieträger auf 20 % und die Erhöhung der Energieeffizienz um 20 % verpflichtet. Die Europäische Kommission hat daher eine neue allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung angenommen, um die staatlichen Beihilfen für erneuerbare Energieträger unter Einhaltung bestimmter Kriterien von der Notifizierung freizustellen.

2.9   Zu den Schlüsselelementen der neuen Energiestrategie 2011-2020 der Europäischen Kommission zählen neben dem Schutz der Bürger als Verbraucher sowie dem Zugang zu Energiedienstleistungen und zur Beschäftigung in kohlenstoffarmen Wirtschaftssektoren auch folgende Punkte:

Umsetzung der bereits beschlossenen Maßnahmenpakete zur Liberalisierung des Energiemarktes und zur Bekämpfung des Klimawandels sowie des Strategieplans für Energietechnologie (SET-Plan);

Fahrplan für die Verringerung der CO2-Emissionen des Energiesektors bis 2050;

technologische Innovation;

Stärkung und Koordinierung der Außenpolitik;

Verringerung des Energiebedarfs (Aktionsplan für Energieeffizienz), insbesondere die Entwicklung der erforderlichen Energieversorgungs- und -vertriebsinfrastruktur im Einklang mit der Nachfrage auf dem Energiebinnenmarkt.

2.10   Diese Vorschläge der Europäischen Kommission, die teilweise noch auf Annahme in Rat und Europäischem Parlament warten, und ihre künftige Umsetzung in den Mitgliedstaaten (z.B. für die Erdgasversorgung, die flächendeckende Nutzung erneuerbarer Energieträger sowie die Energieeffizienz im Verkehrs- und Bauwesen usw.) reihen sich in die Logik zur Verwirklichung der Ziele der EU-2020-Strategie ein.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Einerseits müssen die Maßnahmen ermittelt werden, die aufgrund des Fehlens einer ausreichenden, in den Verträgen verankerten Rechtsgrundlage für die kurzfristige Gestaltung einer echten Energiepolitik im Einklang mit den Herausforderungen, denen die EU im 21. Jahrhundert gegenübersteht, erforderlich sind. Diesbezüglich sind bereits einige Initiativen hervorzuheben, wie der Vorschlag von Jacques Delors zur Formulierung eines neuen Vertrags zur Errichtung einer Europäischen Energiegemeinschaft, nach dem der EU die Zuständigkeit für die Einrichtung von mehr und besseren länderübergreifenden Energieinfrastrukturnetzen sowie zur Schaffung von Gemeinschaftsfonds und -instrumenten für Forschung, Entwicklung und Innovation im Energiebereich und handelspolitischen Instrumenten zur Zusammenarbeit auf den internationalen Energiemärkten übertragen wird (12).

3.2   Andererseits müssen nicht zuletzt in Verbindung mit dem bereits erwähnten Artikel 194 AEUV Überlegungen zu drei Aspekten angestellt werden, auf die sich die öffentlichen Maßnahmen auf innerstaatlicher und supranationaler Ebene auswirken, und zwar die Wahrung und Stärkung der Rechte der Unionsbürger, die Kohärenz der Anwendung der Ausnahmeregelungen für die Mitgliedstaaten in Bezug auf die supranationale Energiesicherheit und die Vereinbarkeit der einzelstaatlichen Instrumente mit der Errichtung und dem Funktionieren des Energiebinnenmarktes, insbesondere betreffend die Transport- und Verteilungsinfrastruktur, den Energienetzverbund, das öffentliche Beschaffungswesen und die Verbraucherrechte.

3.3   Die enger mit den künftigen Maßnahmen der EU-Energiepolitik verknüpften Rechte sind in erster Linie in Titel IV (Solidarität) der Grundrechtscharta, insbesondere Artikel 36 (Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse), 37 (Umweltschutz) und 38 (Verbraucherschutz) verankert. Die möglichen Auswirkungen der Ratifizierung von Protokoll Nr. 14 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch sämtliche Mitgliedstaaten sollten untersucht werden. Gemeinsam mit dem Vertrag von Lissabon könnte dieses Protokoll die Tür für einen Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention öffnen.

3.3.1   In diesen Bestimmungen werden allerdings nur Grundsätze für das institutionelle Handeln der EU, nicht jedoch ausdrücklich subjektive Rechte (13) anerkannt, auch wenn in Bezug auf den Umwelt- und den Verbraucherschutz ein solider europäischer Rechtsrahmen zum Schutz der Individualinteressen sowie der Interessen der Allgemeinheit („diffuse interests“) besteht. Ungeachtet dessen wird die Umsetzung des Protokolls Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse im Anhang zu EUV und zu AEUV den Zugang der Bürger zu den einzelnen Energiequellen voraussichtlich verbessern, wodurch insbesondere die Lage der am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen berücksichtigt wird.

3.3.2   Aus den bereits erwähnten Gründen sind künftige rechtliche Spannungen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten abzusehen, da die supranationale Aufgabe, die grundlegenden Bestandteile der Funktionsweise des europäischen Energiemarktes zu liberalisieren und/oder zu harmonisieren, und die Aufgabe der Mitgliedstaaten, das soziale Wohlergehen (14) sicherzustellen, nur schwer miteinander in Einklang zu bringen sind. Die Europäische Kommission ist gleichwohl der Ansicht, dass die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ihre Energieversorgungssicherheit ganz im Gegenteil sogar verbessern wird.

3.3.3   Dies trifft um so mehr zu, als in der Grundrechtscharta bekanntermaßen nur Mindestnormen für den Schutz der in ihr anerkannten Rechte und Freiheiten festgelegt werden (15) und sie außerdem in einigen Mitgliedstaaten nur beschränkt zur Anwendung kommt (16). Es gilt, den sozialen Zusammenhalt so umfassend wie möglich sicherzustellen, um die Solidaritätsrechte in Bezug auf den Energiezugang sowohl der wirtschaftlich am stärksten benachteiligten wie auch der schwächsten Bevölkerungsgruppen und von Menschen mit Behinderungen sicherzustellen.

3.3.4   Außerdem drohen die verheerenden Auswirkungen der derzeitigen weltweiten Wirtschaftskrise auf die Beschäftigung (sprich Vernichtung von Arbeitsplätzen), Löhne und Gehälter (in Bezug auf deren Anpassung) und die Fähigkeit der öffentlichen Hand, die Sozialleistungen aufrechtzuerhalten, große Bevölkerungsteile zunehmend vom Energiezugang auszuschließen und sogenannte Energiearmut herbeizuführen.

3.4   Ein weiterer zu lösender Fragenkomplex betrifft die Kohärenz zwischen den Strategien der einzelnen Mitgliedstaaten für die nationale Sicherheit und die Notwendigkeit der Sicherstellung der Energieversorgung auf supranationaler Ebene.

3.4.1   Lieferwege und Bezugsquellen der für die Europäische Union bestimmten Energie sollen zur Versorgungssicherheit der EU insgesamt und ihrer einzelnen Mitgliedstaaten beitragen. In Zukunft wird die Versorgungssicherheit von der Entwicklung beim Brennstoffmix, von der Produktionsentwicklung in der EU und in den die EU beliefernden Drittländern sowie von den Investitionen in Speicheranlagen und in Lieferwege innerhalb und außerhalb der EU abhängen.

3.4.2   In Artikel 4 Absatz 2 AEUV wird die nationale Sicherheit als „grundlegende Funktion des Staates“ anerkannt, wobei den Mitgliedstaaten ausdrücklich die alleinige Verantwortung für ihren Schutz zuerkannt wird. Daher müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten sich in politischer und rechtlicher Hinsicht koordinieren, um die in Artikel 194 Absatz 1 AEUV geforderten Synergien und Komplementaritätseffekte zu erzielen.

3.4.3   Hierfür müssen Möglichkeiten zur institutionellen Aufwertung der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (17) ausgelotet werden, wie etwa die Förderung des Austausches bewährter Verfahren und der Zusammenarbeit zwischen den Regulierungsbehörden und den Wirtschaftsakteuren, die Ausarbeitung von Stellungnahmen zur Konformität jedweden Beschlusses der nationalen Regulierungsbehörden mit supranationalen Verpflichtungen und unter bestimmten Bedingungen die Entscheidung über die Modalitäten und Bedingungen für Zugang und Betriebssicherheit der Strom- und Gasinfrastrukturen, die zumindest von zwei Mitgliedstaaten geteilt werden. Die Koordination und die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten müssen unter Aufsicht dieser Agentur erfolgen. Jedwede Ausweitung bzw. Änderung der Zuständigkeiten der Agentur muss jedoch im Einklang mit den allgemeinen Beschränkungen stehen, die der EuGH in seiner Rechtsprechung, insbesondere in seinem Urteil in der Rechtssache Meroni (18), zum Ausdruck gebracht hat.

3.4.4   Es gilt, den EU-Rechtsrahmen für die Energieversorgungssicherheit umzusetzen, der vor Einführung des oben genannten Artikel 4 Absatz 2 AEUV ausgearbeitet und angenommen wurde und rein supranationale Maßnahmen (19) sowie Maßnahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und den Ad-hoc-Standpunkt des Europäischen Rates, den dieser auf seiner Frühjahrestagung 2010 zur Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit formuliert hat (20), umfasst, und seine Konformität mit einigen Bestimmungen der Europäischen Energiecharta über die Nutzung von Energietransportanlagen und den Transit von Energieerzeugnissen (21) sicherzustellen.

3.4.5   Zur Stärkung der Energieversorgungssicherheit und der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im gemeinschaftsweiten Notfall und insbesondere zur Unterstützung der Mitgliedstaaten, die aufgrund ihrer geografischen oder geologischen Gegebenheiten weniger begünstigt sind, müssen die Mitgliedstaaten gemeinsame Präventivmaßnahmen bzw. Notfallpläne auf supranationaler einschl. auf transnationaler Ebene entwickeln. Diese Pläne sollten regelmäßig aktualisiert und veröffentlicht werden. Der Kohäsionsfonds und die Strukturfonds könnten in Zukunft für die finanzielle Unterstützung dieser Pläne herangezogen werden.

3.4.6   Für eine bessere Gewährleistung der oben genannten Ziele sollten so schnell wie möglich und auf der Grundlage von Artikel 122 bzw. 194 AEUV Maßnahmen angenommen werden, um die Versorgungssicherheit für bestimmte Energieerzeugnisse bei ernsthaften Schwierigkeiten der Mitgliedstaaten zu regeln und das Verfahren für die Gewährung von Finanzhilfen an die Mitgliedstaaten festzulegen, die von Naturkatastrophen oder Ausnahmesituationen getroffen werden. Außerdem sollte die Anwendung von Artikel 149 AEUV als zusätzliche Rechtsgrundlage zur Verwirklichung der genannten Ziele in Erwägung gezogen werden, wenn die besonderen Bedingungen, die die Annahme von supranationalen Maßnahmen rechtfertigen, dies ratsam erscheinen lassen.

3.4.7   Im Lichte der Herausforderungen und Ziele der EU im Energiebereich erscheint die Forderung nach einem echten europäischen öffentlichen Dienst für Energie unerlässlich, der unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips u.a. für die Erstellung eines öffentlichen Registers der Energieverbrauchsmuster und die Art der verbrauchten Energie in den Mitgliedstaaten, die Maßnahmen zur Vorbeugung von Unfällen im Zusammenhang mit Energienutzung und -transport sowie die Koordinierung des Katastrophenschutzes bei Unfällen verantwortlich ist.

Brüssel, den 16. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Zur Erleichterung des freien Wettbewerbs gelten ab 2011 die Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 715/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 (ABl. L 211 vom 14.8.2009, S. 36).

(2)  Ab 2011 gelten außerdem die Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 714/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 (ABl. L 211 vom 14.8.2009, S. 15).

(3)  Der supranationale Rechtsrahmen setzt sich aus der Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. L 134 vom 30.4.2004, S. 1), geändert durch die Richtlinie 2005/51/EG (ABl. L 257 vom 1.10.2005, S. 127), und der Verordnung (EG) Nr. 2083/2005 (ABl. L 333 vom 20.12.2005, S. 28) zusammen.

(4)  Im Einklang mit den Zielen der Richtlinie 90/377/EWG des Rates vom 29. Juni 1990 (ABl. L 185 vom 17.7.1990, S. 16); Richtlinie 2003/54/EG und Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 (ABl. L 176 vom 15.7.2003, S. 37 bzw. S. 57) und dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. November 2007 (KOM(2007) 735 endg.).

(5)  Das Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse im Anhang zu EUV und zu AEUV ergänzt Artikel 14 AEUV und bietet dem EuGH eine neue Auslegungsgrundlage für den einschlägigen Artikel 36 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

(6)  Folglich hat der Europäische Gerichtshof den Mitgliedstaaten u.a. das Recht zuerkannt, die Festlegung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, mit denen sie bestimmte Unternehmen betrauen, den Zielen ihrer einzelstaatlichen Politik anzupassen - Urteil vom 23. Oktober 1997, Rs. C-159/94, Kommission der Europäischen Gemeinschaften / Französische Republik, Slg. 1997, I-5815, Randnr. 49.

(7)  Siehe Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 23. Mai 2000, Rs. C-209/98, Sydhavnens Sten & Grus, Slg. 2000, I-3743, Randnr. 74.

(8)  Siehe Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 17. Mai 2001, Rs. C-340/99, TNT Traco, Slg. 2001, I-4109, Randnr. 56 bis 58.

(9)  Veröffentlicht im ABl. C 83 vom 30.3.2010, S. 47.

(10)  

Der Umfang der Zuständigkeiten der Union und die Einzelheiten ihrer Ausübung ergeben sich aus den Bestimmungen der Verträge zu den einzelnen Bereichen.

(11)  Das Verhältnis zwischen Rechtsvorschriften und Verwaltungspraktiken könnte angesichts der Bestimmung von Artikel 2 Absatz 2 AEUV äußerst komplex werden. So können sowohl die Union als auch die Mitgliedstaten in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden. Die Mitgliedstaaten nehmen ihre Zuständigkeiten wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat oder die Union entschieden hat, diese nicht mehr auszuüben. Vor diesem Hintergrund ist in Artikel 1 des Protokolls Nr. 25 (über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit) im Anhang zu EUV und AEUV festgelegt: „Ist die Union in einem bestimmten Bereich (…) tätig geworden, so erstreckt sich die Ausübung der Zuständigkeit nur auf die durch den entsprechenden Rechtsakt der Union geregelten Elemente und nicht auf den gesamten Bereich“.

(12)  Siehe Sondierungsstellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Energiearmut im Kontext von Liberalisierung und Wirtschaftskrise“, CESE 990/2010.

(13)  Siehe BENOÎT ROHMER, F., VVAA: „Commentary of the Charter of Fundamental Rights of the European Union“, Brüssel, 2006, S. 312 ff.; LUCARELLI, A., VVAA: „L’Europa dei diritti. Commento alla Carta dei diritti fondamentali del’Unione Europea“, Bologna, 2002, S. 251 ff.

(14)  Siehe MOREIRO GONZÁLEZ, C. J.: „El objetivo del bienestar social en el contexto de crisis económica mundial“, Gaceta Jurídica de la UE y de la Competencia, Nueva Época, 11, 5, 2009, S. 7 ff.

(15)  Siehe Artikel 51 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Erklärung Nr. 1 zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Anhang zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat, ABl. C 83 vom 30.3.2010, S. 337, sowie die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, die ursprünglich unter der Verantwortung des Präsidiums des Konvents, der die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgearbeitet hat, formuliert und unter der Verantwortung des Präsidiums des Europäischen Konvents aktualisiert wurden, ABl. C 303/2 vom 14.12.2007, S. 17.

(16)  Siehe Protokoll Nr. 30 im Anhang zum EUV und zum AEUV über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich sowie Erklärung Nr. 61 der Republik Polen zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Erklärung Nr. 62 der Republik Polen zu dem Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich und Erklärung Nr. 53 der Tschechischen Republik zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Anhang zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den Vertrag von Lissabon angenommen hat.

(17)  Gegründet durch die Verordnung (EG) Nr. 713/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 (ABl. L 211 vom 14.8.2009, S. 1).

(18)  Laut Rechtsprechung des EuGH darf die Europäische Kommission keine Rechts- oder Vollzugsaufgaben übertragen, es sei denn, dies ist im Vertrag ausdrücklich vorgesehen (siehe Urteil es Europäischen Gerichtshofes vom 17. Juli 1959, verbundene Rechtssachen 36-58, 37-58, 38-58, 40-58 und 41-58, Meroni, Sammlung der Rechtsprechung S. 349).

(19)  Siehe u.a. Mitteilung der Kommission „Zweite Überprüfung der Energiestrategie - EU-Aktionsplan für Energieversorgungssicherheit und Solidarität“ (KOM(2008) 781 endg.), in der neben weiteren einschlägigen Maßnahmen die Überarbeitung der Richtlinie 2006/67/EG des Rates zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Mindestvorräte an Erdöl und/oder Erdölerzeugnissen zu halten, vorgeschlagen wird, was zur Annahme der Richtlinie 2009/119/EG des Rates vom 14. September 2009 (ABl. L 265 vom 9.10.2009, S. 9) geführt hat, und der Richtlinie 2004/67/EG des Rates über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung; Grünbuch „Hin zu einem sicheren, nachhaltigen und wettbewerbsfähigen europäischen Energienetz“.

(20)  Schlussfolgerungen des Europäischen Rates (25./26. März 2010), Dok CO EUR 4, CONCL 1.

(21)  Siehe 98/181/EG, EGKS, Euratom: Beschluß des Rates und der Kommission vom 23. September 1997 über den Abschluß des Vertrags über die Energiecharta und des Energiechartaprotokolls über Energieeffizienz und damit verbundene Umweltaspekte durch die Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 69 vom 9.3.1998, S. 1) und 2001/595/EG: Beschluss des Rates vom 13. Juli 2001 über die Genehmigung – durch die Europäische Gemeinschaft – der Änderung der Handelsbestimmungen des Vertrags über die Energiecharta (ABl. L 209 vom 2.8.2001, S. 32).


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Die folgenden Textstellen der Fachgruppenstellungnahme wurden zugunsten von im Plenum angenommenen Änderungsanträgen abgelehnt, hatten jedoch jeweils mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt:

Ziffer 1.1, vierter Satz:

Es müssen alle Facetten der Funktionsweise des Energiebinnenmarkts wie Infrastruktur, öffentliches Beschaffungswesen, reibungsloses Funktionieren des Marktes und Verbraucherschutz gestärkt werden. Diesbezüglich betont der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, dass die Energieinfrastruktur und die transeuropäischen Transportnetze zur Errichtung des Energiebinnenmarktes unbedingt ausgebaut werden müssen.

So müssen insbesondere Mechanismen zur Festlegung von Kriterien für die Preisbildung ausgearbeitet werden, um erhebliche und ungerechtfertige Unterschiede zu vermeiden, die oftmals fälschlicherweise mit der Art der genutzten Energie, den Versorgungsquellen oder den Verteilungswegen begründet werden.

Des Weiteren sollten supranationale Kriterien und Maßnahmen für die Rationalisierung der Energieerzeugung in den Mitgliedstaaten festgelegt werden, wobei eine nachhaltige Ressourcennutzung sichergestellt und die geografischen und klimatischen Bedingungen durch die Ermittlung der besten Zeiträume für den Betrieb von Wind-, Sonnen- und Gezeitenkraftwerken genutzt werden sollten.

Abstimmungsergebnis

27 Stimmen für die Streichung des Wortes „supranational“, 17 Stimmen dagegen, 2 Stimmenthaltungen.

Ziffer 1.1.5

Daher sollte eine Regelung im Wege einer Verordnung in Erwägung gezogen werden, in der die in der Charta der Rechte der Energieverbraucher (KOM(2007) 386 endg. CESE 71/2008, Berichterstatter: Edgardo IOZIA) (1) verankerten Rechte sowie die besonderen Merkmale der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, die die Mitgliedstaaten in diesem Bereich geltend machen können, mittels gemeinsamer Mindestnormen für die Verpflichtungen öffentlicher Dienste enthalten sein könnten, die klar definiert sowie transparent, objektiv und nicht diskriminierend sein müssen. Das heißt, dass zwischen den Rechten der Bürger und den Möglichkeiten der Mitgliedstaaten zur Einführung oder Aufrechterhaltung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen bei der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu unterscheiden ist.

Eine Verordnung ist aus folgenden Gründen besser geeignet als eine Richtlinie:

Eine Verordnung ist von den zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten, der Energiewirtschaft und den Kunden unmittelbar anzuwenden;

sie kann relativ schnell in innerstaatliches Recht umgesetzt werden;

sie gewährleistet die Klarheit und Kohärenz der Vorschriften und Verpflichtungen in der gesamten EU;

sie legt direkt die Beteiligung aller Gemeinschaftsinstitutionen fest.

Abstimmungsergebnis

28 Stimmen für die Streichung der Ziffer, 16 Stimmen dagegen, 2 Stimmenhaltungen

Ziffer 3.4.5

Zur Stärkung der Energieversorgungssicherheit und der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im gemeinschaftsweiten Notfall und insbesondere zur Unterstützung der Mitgliedstaaten, die aufgrund ihrer geografischen oder geologischen Gegebenheiten weniger begünstigt sind, müssen die Mitgliedstaaten gemeinsame Präventivmaßnahmen bzw. Notfallpläne auf supranationaler einschl. auf transnationaler Ebene entwickeln (z.B. geschäftliche Vereinbarungen zwischen den Unternehmen, höhere Exporte, Kompensationsmechanismen). Diese Pläne sollten regelmäßig aktualisiert und veröffentlicht werden. Der Kohäsionsfonds und die Strukturfonds könnten in Zukunft für die finanzielle Unterstützung dieser Pläne herangezogen werden.

Abstimmungsergebnis

30 Stimmen für die Streichung des Textes in der Klammer, 11 Stimmen dagegen, 3 Stimmenthaltungen.


(1)  Mitteilung der Kommission ‚Auf dem Weg zu einer Charta der Rechte der Energieverbraucher‘ (KOM(2007) 386 endg.).“


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/87


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Kanada“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 48/16

Berichterstatter: José Isaías RODRÍGUEZ GARCÍA-CARO

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 26. Februar 2009 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Kanada“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 3. September 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 16. September) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die europäische und die kanadische Zivilgesellschaft haben - auch auf wirtschaftlicher Ebene - Werte gemeinsam, die die Grundlage für die Identität ihrer Gesellschaften im 21. Jahrhundert bilden. Die Verknüpfung ihrer Prinzipien kann einen Mehrwert für die Europäische Union (EU) und Kanada und somit für die gesamte internationale Gemeinschaft erbringen.

1.2   Vor diesem Hintergrund sollte Kanada ein bevorzugter Partner der EU sein. Die derzeitigen Beziehungen können zwar als angemessen, müssen aber als eher begrenzt bezeichnet werden. Deshalb begrüßt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Aufnahme von Verhandlungen über ein umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen. Dieses Abkommen weckt große Erwartungen, nicht nur was die Zukunft der Beziehungen zwischen der EU und Kanada, sondern auch die transatlantischen Beziehungen angeht. Es sei darauf verwiesen, dass die Vereinigten Staaten und Kanada zusammen mit Mexiko das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) unterzeichnet haben; in dieser Hinsicht könnte Kanada ein wichtiges Eintrittstor zum US-amerikanischen Markt darstellen.

1.3   Der EWSA begrüßt die Ergebnisse des Gipfels EU/Kanada vom 6. Mai 2010. Als positiv bewertet er die Tatsache, dass sich die Staats- und Regierungschefs dazu verpflichtet haben, die strittige Frage der Visumausstellung zu lösen. Ferner ist er der Auffassung, dass die Absicht der kanadischen Regierung, ihre Asylpolitik zu überarbeiten, zur Erleichterung der Ausstellung von Visa für Unionsbürger - gemäß bestimmten auf vollkommener Gegenseitigkeit beruhenden Regeln - beitragen dürfte.

1.4   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Aufnahme spezifischer Modalitäten für die Beteiligung und Einwilligung der Provinzen und Territorien sowie der Zivilgesellschaft für die erfolgreiche Umsetzung des Abkommens von grundlegender Bedeutung ist. Die Öffnung der Märkte für öffentliches Beschaffungswesen ist eines der Themen, die für die EU von großem Interesse sind. Die kanadischen Provinzen haben hier sehr weitgehende Befugnisse; deshalb sollten sie an den Verhandlungen über diesen Punkt beteiligt werden. Angesichts der diesbezüglichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen wirtschaftlichen und sozialen Akteuren hält der EWSA die aktive Teilnahme der Sozialpartner an den Verhandlungen für unabdingbar.

1.5   Der EWSA spricht sich dafür aus, dass das Europäische Parlament im Verhandlungsprozess mit angemessenen Begleit- und Informationsmaßnahmen tätig wird und sich nicht damit begnügt, so wie im Vertrag von Lissabon vorgesehen, die Endfassung zu billigen und zu ratifizieren.

1.6   Nach der Unterzeichnung des Abkommens sollte der Gemeinsame Ausschuss für Zusammenarbeit EU/Kanada ähnliche Aufgaben wie der Transatlantische Wirtschaftsrat EU/USA ausüben, um u.a. eine Annäherung der Rechtsvorschriften zwischen der EU und Kanada zu erreichen.

1.7   Die EU muss ein ehrgeiziges Abkommen aushandeln, das sämtliche Aspekte der Handelsbeziehungen zwischen der EU und Kanada berührt, einschließlich des öffentlichen Beschaffungswesens. In dieser Hinsicht ist es besonders wichtig, durch eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften und die Beseitigung der nicht handelsbezogenen Hemmnisse möglichst schnell die realen Schwierigkeiten auszuräumen, vor denen die Unternehmen stehen.

1.8   Im Abkommen gilt es auch Fragen der Ökologie und der nachhaltigen Entwicklung zu berücksichtigen.

1.9   Der EWSA ist der Ansicht, dass sowohl die EU als auch Kanada sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen sollten, ihre Beziehungen zu festigen, da dies zum Vorteil ihrer Gesellschaften ist. Deshalb ist es wichtig, dass beide Seiten einen ständigen Dialog mit den Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft unterhalten, und zwar nicht nur während der Verhandlungen, sondern auch bei der Überwachung der Umsetzung und der Ergebnisse des künftigen Abkommens - mit dem Ziel, dieses zu verbessern.

1.10   Der EWSA schlägt vor, im Kontext des Abkommensein Beratungsgremium der organisierten Zivilgesellschaft EU/Kanada einzusetzen. Dieses Gremium wäre für das gemeinsame Arbeitsorgan, das für die politische Ausrichtung des Abkommens maßgeblich verantwortlich ist, beratend tätig und könnte zu den von diesem Arbeitsorgan ausgehenden Konsultationen in den vom Abkommen berührten Bereichen Stellungnahmen abgeben. Dieser beratende Ausschuss könnte sich an dem Vorbild anderer gemischter beratender Gremien der organisierten Zivilgesellschaft orientieren, deren jüngstes Beispiel der Gemischte Beratende Ausschuss im Rahmen des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Zentralamerika von 2010 ist.

2.   Einleitung

2.1   Der EWSA verabschiedete bereits 1996 eine Stellungnahme zu den Beziehungen zwischen der EU und Kanada (1). Seither hat sich der Kontext, in dem diese Beziehungen eingebettet sind, aufgrund einer Reihe von Ereignissen verändert, was die Erarbeitung dieser Stellungnahme erforderlich gemacht hat.

2.2   Die europäische und die kanadische Zivilgesellschaft teilen Werte, die die Grundlage für die Identität ihrer Gesellschaften im 21. Jahrhundert bilden. Die Verfechtung gemeinsamer Grundsätze kann einen Mehrwert für die EU und Kanada und somit für die gesamte internationale Gemeinschaft bedeuten, so etwa bei Wirtschafts-, Umwelt-, Sicherheits- und Einwanderungsfragen. Darüber hinaus wäre eine stärkere multilaterale Zusammenarbeit wünschenswert, z.B. in den Bereichen Ordnungspolitik, Klimawandel und Konfliktlösung.

2.3   Viele Wirtschaftsbranchen der EU und Kanadas ergänzen sich in hohem Maße, und beide Weltregionen teilen wirtschaftliche Werte, die ein Abkommen erleichtern würden. In diesem Sinne bestand das wichtigste Ergebnis des Gipfels EU/Kanada am 6. Mai 2009 in Prag darin, Verhandlungen über ein umfassendes bilaterales Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA: EU-Canada Comprehensive Economic and Trade Agreement) aufzunehmen.

2.4   Der EWSA begrüßt die Aufnahme von Verhandlungen über ein Abkommen und hofft, dass dieses eine neue Etappe in den Beziehungen EU/Kanada einläuten und die Zusammenarbeit fördern wird - zum beiderseitigen Vorteil. Das Abkommen wird auch die klare Botschaft an die internationale Gemeinschaft senden, dass sowohl die EU als auch Kanada Protektionismus in Zeiten einer Wirtschafts- und Finanzkrise ablehnen. Zudem ist die Stärkung der transatlantischen Beziehungen ohne umfassende Beteiligung Kanadas nicht möglich.

2.5   Es ist zu betonen, dass dieses Dokument nach seiner Unterzeichnung das erste neuere Handelsabkommen zwischen mehreren, mehrheitlich der OECD angehörenden Ländern sein wird, die in Fragen des Wirtschaftswachstums und der Schaffung von Arbeitsplätzen ähnlich sensibel sind. Insofern wird erwartet, dass mit dem Abkommen eine solide Grundlage geschaffen wird, was sowohl die nachhaltige wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung als auch die Anhörung der Zivilgesellschaft und die Überwachung der Umsetzung des Handelsabkommens angeht.

3.   Die Zivilgesellschaft in Kanada

3.1   Das kanadische System zur Konsultation der Zivilgesellschaft unterscheidet sich vom europäischen. Die Zivilgesellschaft kann sowohl von Parlamentsausschüssen als auch von kanadischen Bundesministern ad hoc konsultiert werden. Letztere Form der Konsultation ist im Rahmen der Verfahren des kanadischen Parlaments obligatorisch, bei denen nachgewiesen werden muss, dass diese Konsultation tatsächlich stattgefunden hat. Gängige Praxis ist auch die Anhörung der Zivilgesellschaft auf Ebene der Provinzen.

3.2   In Kanada gehören fast 4,6 Mio. (2) Arbeitnehmer einer Gewerkschaft an, was etwa 26,1 % aller Arbeitnehmer entspricht. Auch wenn die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in den letzten zehn Jahren aufgrund der proportionalen Zunahme von Arbeitsplätzen um mehr als eine halbe Million gestiegen ist, hat sich der prozentuale Anteil der Arbeitnehmer, die Mitglied einer Gewerkschaft sind, in diesem Zeitraum kaum verändert.

3.3   Der Canadian Labour Congress (CCT) (3) ist das wichtigste nationale Sprachrohr der Gewerkschaftsbewegung. Die meisten nationalen Gewerkschaften in Kanada sind Teil des CCT, der sich aus 12 Provinz- und Territoriumsverbänden sowie 136 Arbeitsräten zusammensetzt und etwa drei Millionen Gewerkschaftsmitglieder repräsentiert. Seine Aufgabe besteht darin, für akzeptablere Lohn- und Arbeitsbedingungen, strengere Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen, gerechtere Steuerregelungen sowie Sozialmaßnahmen u.a. in den Bereichen Kinderbetreuung, Krankenversicherung und Renten zu sorgen. Darüber hinaus setzt er sich für die Verbesserung der Bildungs- und Beschäftigungsprogramme ein.

3.4   Der Canadian Council of Schief Exekutives (4) ist die wichtigste Unternehmervereinigung des Landes. Ihm gehören rund 150 Geschäftsführer der wichtigsten Firmen Kanadas sowie herausragende Unternehmerpersönlichkeiten aus allen Zweigen des verarbeitenden Gewerbes an. Das Hauptziel dieser Organisation besteht darin, die Standpunkte der Unternehmer auf drei Ebenen - Kanada, Nordamerika und weltweit - zu vertreten. Auf der Ebene Kanadas konzentriert sie ihre Arbeit auf nationale Angelegenheiten wie Steuer- und Währungspolitik, Umweltschutz, Wettbewerb, Gesellschaftsrecht und Gesetzgebung. Auf der Ebene Nordamerikas beschäftigt sie sich hauptsächlich mit der gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit zwischen den USA und Kanada sowie dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA). Auf weltweiter Ebene setzt sie sich mit internationalen Steuerfragen, Handel, Investitionen, Entwicklungspolitik wie auch bi- und multilateralen Beziehungen auseinander.

3.5   Die Canadian Federation of Independent Business (5) hat auf nationaler Ebene 105 000 Mitglieder aus sämtlichen Wirtschaftszweigen. Ihr Ziel besteht darin, die Interessen der mittelständischen Unternehmen (KMU) auf Ebene des Bundesstaats wie auch der Provinzen und Territorien zu vertreten. Darüber hinaus gibt es die kanadische Handelskammer (6), die über Einfluss auf einzelstaatlicher Ebene verfügt.

3.6   Der kanadische Verbraucherschutzbund Consumers Association of Canada (7) ist wohl die repräsentativste Verbrauchervereinigung. Sein wichtigstes Ziel ist es, die Verbraucher zu informieren (8) und im Hinblick auf die Lösung von Verbraucherkonflikten ihre Botschaften an die Regierung und die Unternehmen zu senden.

3.7   Darüber hinaus gibt es in Kanada mehrere Landwirtschaftsverbände. Der größte Verband ist die Canadian Federation of Agriculture (CFA) (9) mit über 200 000 Mitgliedern. Die CFA wurde 1935 gegründet, damit die kanadischen Landwirte ihre Anliegen mit einer einzigen Stimme vorbringen können. Dabei handelt es sich um eine Dachorganisation, die die landwirtschaftlichen Organisationen der Provinzen und die nationalen Erzeugergruppen vertritt und sich für die Interessen der kanadischen Agrar- und Nahrungsmittelwirtschaft einsetzt.

3.8   Der Fischereisektor wird vor allem durch den Fisheries Council of Canada (FCC) (10) repräsentiert. Der FCC vertritt die Fischereiindustrie auf nationaler Ebene und umfasst etwa 100 Unternehmen, die den Großteil der kanadischen Fisch- und Meereserzeugnisse verarbeiten.

4.   Neuer Impuls für die Beziehungen EU/Kanada: wirtschaftlicher Austausch und politische Beziehungen

4.1   Kanadas Wirtschaft ist mit einem BIP von 1,51 (11) Mrd. US-Dollar die vierzehntgrößte der Welt. Der wichtigste Wirtschaftszweig Kanadas ist die Dienstleistungsbranche, der 2008 über 69,6 % (12) des BIP ausmachte und in dem drei Viertel der kanadischen Erwerbsbevölkerung (13) tätig sind.

4.2   Die kanadische Handelsbilanz verzeichnete 2009 ein Defizit von schätzungsweise 34,3 Mrd. US-Dollar, während sie 2008 noch einen Überschuss von 7,6 Mrd. aufwies. Die wichtigsten Ausfuhrgüter Kanadas sind Kraftfahrzeuge und Autoteile, Industriemaschinen, Flugzeuge, Telekommunikationsanlagen, Chemieprodukte, Kunststoffe und Düngemittel. Laut dem gemeinsamen Dokument der EU und Kanadas vom März 2009 ist jeder fünfte Arbeitnehmer in Kanada im Handel tätig.

4.3   Die offiziellen Beziehungen zwischen der EU und Kanada reichen bis 1959 zurück, als das Abkommen über Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie geschlossen wurde. Seitdem haben beide Seiten zahlreiche Abkommen und Erklärungen unterzeichnet. Im Einklang mit der Neuen Transatlantischen Agenda, die 1995 mit den Vereinigten Staaten unterzeichnet wurde, wurden auf dem Gipfeltreffen EU/Kanada im Dezember 1996 eine politische Erklärung und ein Aktionsplan mit dem zweifachen Ziel verabschiedet, die bilateralen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen weiterzuentwickeln und die Zusammenarbeit in mulilateralen Angelegenheiten zu verbessern. Dieser Plan sah darüber hinaus die Veranstaltung halbjährlicher Gipfeltreffen vor, um die bilateralen Beziehungen zu bewerten und zu beleben.

4.4   Kanada und die EU unterhalten äußerst wichtige Wirtschaftsbeziehungen. Im Jahr 2009 belief sich der Handel mit Gütern zwischen beiden Regionen auf 40,2 Mrd. EUR (14) und der mit kommerziellen Dienstleistungen (öffentliche Dienstleistungen nicht inbegriffen) auf 18,8 Mrd. EUR. Darüber hinaus war die Tendenz in den letzten Jahren insgesamt positiv, denn die Güterexporte der EU nach Kanada stiegen zwischen 2000 und 2009 von 21,1 auf 22,4 Mrd. EUR, während die Güterimporte aus Kanada in die EU im selben Zeitraum von 19 auf 17,8 Mrd. EUR sanken. So ist der Überschuss der EU im Handel mit Gütern im letzten Jahrzehnt von 2,1 auf 4,7 Mrd. EUR gestiegen. Die EU führt nach Kanada vor allem Arzneimittel, Kraftfahrzeuge und Flugzeugmotoren aus. Die wichtigsten Ausfuhrgüter aus Kanada in die EU sind hingegen Flugzeuge, Edelsteine, Eisenerz, Arzneimittel und Uran. 2009 fiel der Handelsbilanzüberschuss im Dienstleistungsbereich mit Einfuhren im Wert von 2,5 Mrd. EUR ebenfalls zugunsten der EU aus.

4.5   Auf wirtschaftlicher Ebene hat die EU großes Interesse an einer Liberalisierung des Markts für öffentliches Beschaffungswesen. Während die kanadischen Unternehmen in Europa freien Zugang zu öffentlichen Aufträgen haben - da sowohl Kanada als auch die EU das Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (1994) der Welthandelsorganisation (WTO) unterzeichnet haben-, gilt dies für europäische Unternehmen in Kanada nicht. Die Provinzen sind für Bereiche wie Energie, Umwelt, Verkehr und Gesundheit zuständig. Somit liegt auf der Hand, dass es wichtig ist, sie in den Verhandlungsprozess einzubeziehen, um ein zufriedenstellendes, für die EU wirtschaftlich vorteilhaftes Abkommen zu erreichen. Anfang dieses Jahres unterzeichnete Kanada ein Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten, um seine Märkte für öffentliches Beschaffungswesen auf subregionaler Ebene zu öffnen. Kanada unterbreitete diesen Vorschlag als Reaktion auf die protektionistischen Maßnahmen unter dem Titel „Buy America“, die die USA zur Ankurbelung ihrer Wirtschaft eingeführt hatten. Das Abkommen zeugt von der Absicht der Provinzen, ihre Märkte für öffentliches Beschaffungswesen für den internationalen Wettbewerb zu öffnen.

4.6   Die bilateralen Beziehungen zwischen der EU und Kanada beruhen im Wesentlichen auf folgenden Instrumenten:

Rahmenabkommen über handelspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit von 1976;

transatlantische Erklärung von 1990, die den institutionellen Rahmen für die Gipfeltreffen EU/Kanada und die Ministertreffen bildet;

Aktionsplan und gemeinsame politische Erklärung über die Beziehungen zwischen der EU und Kanada von 1996 mit drei Hauptthemen: Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, Außen- und Sicherheitspolitik, transnationale Angelegenheiten;

auf dem Gipfeltreffen im März 2004 in Ottawa verabschiedete neue Partnerschaftsagenda, die die Beziehungen auf bisher unberührte Bereiche ausweitete (internationale Koordinierung, gemeinsame Beteiligung an Friedensmissionen, Entwicklungszusammenarbeit, wissenschaftliche Zusammenarbeit, Justiz, auswärtige Angelegenheiten usw.), einschließlich Billigung des Verhandlungsrahmens für das Abkommen zur Förderung des Handels und der Investitionen.

4.7   Allgemein können die Beziehungen zwischen Kanada und der EU als hervorragend bezeichnet werden. Die wichtigsten politischen Reibungspunkte zwischen Kanada und der EU sind Fraugen der Arktis, das europäische Verbot des Handels mit Robbenerzeugnissen und die kanadische Visumpflicht für Angehörige bestimmter EU-Mitgliedstaaten.

Einerseits wirft die bevorstehende Öffnung neuer Schifffahrtswege in der Arktis eine Reihe von Fragen der Staatshoheit auf, da die Möglichkeit, dieses Gebiet kommerziell zu nutzen, bisher dato nicht in Betracht gezogen worden war. Schätzungen zufolge könnten in dieser Region 20 % der weltweiten Erdöl- und Erdgasreserven liegen und darüber hinaus alternative und sehr attraktive Handelswege eröffnet werden. Das Fehlen multilateraler Vorschriften bzw. Regelungen ist eine Angelegenheit, die mittelfristig behandelt werden muss, bevor Uneinigkeiten oder Streitigkeiten bezüglich der Staatshoheit über das Gebiet auftreten. Im Dezember 2009 legte der Rat der EU drei Hauptziele für die Arktis-Politik der EU fest: 1. Schutz und Erhalt der Arktis im Einvernehmen mit der lokalen Bevölkerung, 2. Förderung einer nachhaltigen Ressourcennutzung und 3. Beitrag zu einer besseren multilateralen Governance der Arktis gemäß dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS).

Andererseits verlangt Kanada Visa von den Bürgern der Tschechischen Republik, Rumäniens und Bulgariens und verweist dabei auf Missbrauchsfälle im Zusammenhang mit Asylanträgen von Bürgern dieser Länder. Da die Visumpolitik der EU auf Gegenseitigkeit beruht, muss dringend eine Lösung gefunden werden, bevor sich die EU gezwungen sieht, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Bulgarien und Rumänien unternehmen derzeit Anstrengungen, um die von Kanada festgelegten Kriterien für die Visumfreiheit zu erfüllen. Für Bürger der Tschechischen Republik hat Kanada noch keine konkreten Maßnahmen ergriffen, um die Visumpflicht aufzuheben. Kanada begründet sein Vorgehen mit dem Fehlen eines Schutzes vor Scheinanträgen auf Asyl. Gegenwärtig wird an einer Gesetzesreform gearbeitet, bis zu deren Annahme durch das Parlament allerdings noch einige Zeit verstreichen wird.

4.8   Vor diesem Hintergrund begrüßt der EWSA die Ergebnisse des Gipfels EU/Kanada vom 6. Mai 2010, auf dem sich die Staats- und Regierungschefs dazu verpflichtet haben, diese strittige Frage zu lösen, und die Ansicht vertraten, dass die Absicht Kanadas, seine Asylpolitik zu überarbeiten, einen positiven Beitrag zur Erleichterung des Problems der Ausstellung von Visa für alle Unionsbürger leisten dürfte.

5.   Bewertung des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens zwischen der EU und Kanada

5.1   Am 6. Mai 2009 wurde auf dem Gipfeltreffen EU/Kanada in Prag vereinbart, die Verhandlungen über ein umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen aufzunehmen.

5.2   Die Schlussfolgerung der gemeinsam von der EU und Kanada durchgeführten Analyse der Kosten und des Nutzens einer engeren wirtschaftlichen Partnerschaft zwischen der EU und Kanada lautet, dass es für beide Seiten große Vorteile hätte, würden die Zölle abgeschafft, der Handel mit Dienstleistungen liberalisiert und nicht-tarifäre Hemmnisse für Güter und Investitionen abgebaut.

5.3   Laut dem vorgenannten Bericht sollte das Abkommen folgende Bereiche abdecken: Handel mit Gütern, gesundheitliche und pflanzenschutzrechtliche Fragen, technische Handelshemmnisse, Handelserleichterungen, Zollverfahren, grenzüberschreitender Handel mit Dienstleistungen, Investitionen, öffentliches Beschaffungswesen, Zusammenarbeit bei der Rechtsetzung, geistiges Eigentum, Personenverkehr, Wettbewerbspolitik, institutionelle Verpflichtungen, Beilegung von Streitigkeiten sowie nachhaltige Entwicklung. Die nicht handelsbezogenen Hemmnisse und die Regulierung werden zu den wichtigsten Verhandlungsthemen gehören.

5.4   Die Liberalisierung des Handels mit Gütern und Dienstleistungen zwischen beiden Seiten könnte zu einem Anstieg des bilateralen Handelsverkehrs um 20 % führen. Darüber hinaus wird geschätzt, dass die EU sieben Jahre nach Inkrafttreten eines derartigen Abkommens einen Anstieg bei den Realeinkommen um 11,6 Mrd. EUR verzeichnen würde, Kanada dagegen um 8,2 Mrd. Die gesamten EU-Exporte nach Kanada würden bis 2014 um 24,3 % bzw. 17 Mrd. EUR steigen, die kanadischen Exporte hingegen um 20,6 % bzw. 8,6 Mrd. EUR.

5.5   Der Studie zufolge besteht ein Spielraum für die Ausweitung der Zusammenarbeit durch die Kooperation in den Bereichen Wissenschaft und Technologie in Form einer gemeinsamen Forschungsagenda, insbesondere in strategisch wichtigen Bereichen wie Energie und Umwelt, saubere Kohletechnologien, Abscheidung und Speicherung von CO2, Bioenergie, Stromerzeugung und intelligente Stromnetze.

5.6   Andere Bereiche für eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen des Abkommens wären die Sicherheitspolitik, Aspekte der sozialen Sicherheit, ein Kooperationssystem für die Anerkennung von Qualifikationen und die Zusammenarbeit auf Ebene der Organisation für die Fischerei im Nordwestatlantik.

5.7   Aus Handelssicht scheinen Zollfragen in den Verhandlungen keine Probleme aufzuwerfen. Ein wichtiger Punkt in den Verhandlungen wird die Harmonisierung der Rechtsvorschriften sein, da der Rechtsrahmen aufgrund der Tendenz zu einer Dienstleistungswirtschaft und zu Auslandsinvestitionen wichtiger ist denn je. Allerdings könnten die geteilten Gesetzgebungsbefugnisse von Bundesstaat, Provinzen und Territorien für die Verhandlungen über das Abkommen in diesem Punkt ein Hindernis darstellen.

5.8   Daher wurden die Provinzen ausnahmsweise direkt in den Verhandlungsprozess eingebunden, was die EU begrüßt. Zuständig für die Verhandlungen ist ein Vertreter der Bundesregierung; gleichwohl kann es in geteilten oder alleinigen Zuständigkeitsbereichen sowohl zwischen den Provinzen als auch zwischen diesen und der Bundesregierung zu Unstimmigkeiten kommen.

5.9   Kanada verfügt über keinen wirklichen Binnenmarkt. Auch wenn sowohl die Bundesregierung als auch die Provinzen es für notwendig erachten, einen Binnenmarkt zu schaffen, existiert derzeit nur ein starker politischer Willen. Allerdings zwingt die weltweite Wirtschaftskrise Kanada dazu, so bald wie möglich ein Abkommen zu schließen, das es ermöglicht, über die Vereinigten Staaten hinaus andere ausländische Absatzmärkte zu erschließen.

5.10   Unter den sensibelsten Branchen bildet die Automobilindustrie den größten Handelsstreitpunkt zwischen der EU und Kanada. Im Gegensatz dazu sind die Beziehungen im Fischereisektor gut, weshalb dieser kein dominantes Verhandlungsthema sein wird. Im Energiebereich möchte die EU ihre Energielieferanten diversifizieren. In diesem Zusammenhang soll ein spezielles Energieabkommen ausgehandelt werden, das bisher jedoch nur als Entwurf vorliegt. Weitere Branchen, in denen europäische Unternehmen bei Geschäften in Kanada auf Probleme stoßen, sind Luftfahrt, Bankenwesen und öffentliche Auftragsvergabe. Ferner herrscht Einigkeit zwischen der EU und Kanada in puncto Ursprungsbezeichnungen und Agrarangelegenheiten.

5.11   In ökologischer Hinsicht müssen die Bundesregierung und die Provinzregierungen noch einen gemeinsamen Standpunkt zu Umweltfragen erarbeiten, insbesondere hinsichtlich des Ausstoßes von Treibhausgasen. Die Provinzen vertreten unterschiedliche Ansichten: Quebec, Ontario, Britisch-Kolumbien und Manitoba gehören der „Western Climate Initiative“ an und ergreifen mit Blick auf den Klimawandel Eindämmungs- und Anpassungsmaßnahmen, während Alberta und Neufundland, deren Wirtschaft von der Erdölproduktion stark abhängig ist, diese Initiative nicht unterstützen. Dieses Problem bleibt ungelöst, und es ist unwahrscheinlich, dass in diesem Verhandlungspunkt ein verbindliches Abkommen erzielt wird, was jedoch keinesfalls zu Positionen führen darf, die mit für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen nachteiligen Bedingungen verbunden sind. Kanada hat sich indes dazu verpflichtet, in Technologien für saubere Energie zu investieren und sich für die bilaterale Zusammenarbeit im Bereich einer Atomenergiestrategie zu engagieren.

6.   Standpunkte der Zivilgesellschaft zum Abkommen EU/Kanada

6.1   Arbeitgeber

6.1.1   Die europäischen Arbeitgeber (Business Europe) fordern: die Beseitigung tarifärer und nicht-tarifärer Handelshemmnisse, ohne irgendeine Zollposition auszuklammern; einen deutlich umfassenderen Zugang zu öffentlichen Aufträgen auf allen Ebenen (national und subnational); eine Verpflichtung zur Konvergenz der Gesetzgebung in vorrangigen Branchen; einen stärkeren Schutz des geistigen Eigentums (einschließlich des Schutzes der Herkunftsbezeichnungen, vor allem im Falle alkoholischer Getränke); einen Streitbeilegungsmechanismus; und mehr berufliche Mobilität (einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Abschlüssen von Unternehmensmitarbeitern und bestimmten Berufsgruppen wie Krankenpflegern und Rechtsanwälten).

6.1.2   Das Abkommen eröffnet neue Möglichkeiten für Geschäfte zwischen zwei Partnern, die einen vergleichbaren Entwicklungsstand aufweisen und ähnliche handelspolitische Ansätze verfolgen. Der Wohlstand rührt unmittelbar von einer Wirtschaftspolitik her, die sich auf die Liberalisierung des Handels und die Anziehung ausländischer Direktinvestitionen stützt. Heute ist es wichtiger denn je, die Märkte offen zu halten, da davon ein wichtiger Impuls für Wettbewerb, Innovation und Wachstum ausgeht.

6.1.3   Die Unternehmerschaft ist der Ansicht, dass im internationalen Handel multilaterale Regelungen vorherrschen sollten, sie vertritt aber auch die Auffassung, dass mit Hilfe ehrgeizigerer bilateraler Abkommen, die eine schnellere Beseitigung von Handelshemmnissen (insbesondere nichttarifären) ermöglichen und den Dienstleistungshandel und Investitionen begünstigen, weitere Forschritte erreicht werden können.

6.1.4   Ein ambitioniertes und weit reichendes Abkommen zwischen der EU und Kanada würde zur Stärkung der bilateralen wirtschaftlichen Beziehungen beitragen, die sich bereits in den letzten Jahren nicht nur über den Export, sondern auch über komplexere Operationen im Dienstleistungsbereich und bei der Unternehmensansiedlung intensiviert haben.

6.1.5   Vom Abkommen wird ein Impuls zur Verstärkung der bilateralen Wirtschafts- und Handelsströme ausgehen. Die Verhandlungen sollten zur Schaffung neuer Geschäftsmöglichkeiten in Bereichen führen, in denen die Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem weltweiten Markt eindeutig unter Beweis gestellt haben, wie z.B. Energie (insbesondere erneuerbare Energieträger), Infrastrukturverwaltung, Finanzdienstleistungen, Bauwesen, Umweltdienstleistungen und -technologien und Telekommunikation.

6.1.6   Das übergeordnete Ziel besteht darin, Möglichkeiten mit weniger Hindernissen zu schaffen, d.h. durch die Beseitigung von Hemmnissen beim Export von Gütern, Dienstleistungen und Kapital neue Geschäftschancen für die Unternehmen zu eröffnen.

6.1.7   Das Abkommen wird entscheidend zur Integration zwischen den Wirtschaftssystemen der EU und Kanadas beitragen und die wirtschaftliche Erholung beider Seiten in Krisenzeiten durch die Ausweitung der Handels- und Investitionsströme begünstigen.

6.1.8   Der internationale Handel kann und muss eine wichtige Rolle als treibende Kraft für Wachstum und Entwicklung auf der ganzen Welt spielen. Deshalb muss die Handelspolitik – durch die Marktöffnung – ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaftspolitik der EU sein.

6.2   Gewerkschaften

6.2.1   Die europäischen und internationalen Gewerkschaften (EGÖD, EGB, IGB) haben Empfehlungen formuliert in Bezug auf die Arbeitnehmerrechte und die Einhaltung der grundlegenden Arbeitsübereinkommen der ILO Nr. 98 (Tarifverhandlung), Nr. 138 (Mindestalter), Nr. 94 (Arbeitsklauseln in den von Behörden abgeschlossenen Verträgen) und Nr. 29 (Zwangsarbeit) und weitere Aspekte einer menschenwürdigen Arbeit. Sie fordern, dass beide Seiten regelmäßige Fortschrittsberichte über die Umsetzung der entsprechenden Verpflichtungen vorlegen. In diesem Zusammenhang weisen sie darauf hin, dass der Canadian Labour Congress bei der ILO häufig Klagen wegen Verstößen gegen die Arbeitsübereinkommen auf Ebene der kanadischen Provinzen einreicht. Zwar garantieren die Bundesgesetze das Recht der Arbeitnehmer auf Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, das Gewerkschaftsrecht wird landesweit de facto jedoch durch verschiedene Rechtsvorschriften in den Provinzen eingeschränkt, was Anlass zu Kritik seitens der ILO gibt.

6.2.2   Beide Seiten müssen sich darüber hinaus dazu verpflichten, die OECD-Leitlinien für multinationale Unternehmen und die dreigliedrige Grundsatzerklärung der ILO über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik zu befolgen sowie die Arbeitsnormen nicht einzuschränken, damit Anreize für Auslandsinvestitionen geschaffen werden.

6.2.3   Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) fordert die Aufnahme eines substanziellen Kapitels zum Thema nachhaltige Entwicklung in das Abkommen, das einen bindenden Mechanismus zur Gewährleistung der Umsetzung der grundlegenden Arbeitsübereinkommen vorsieht.

6.2.4   Der Europäische Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst (EGÖD) fordert seinerseits, dass das Abkommen zum Schutz der aktuellen und künftigen öffentlichen Dienstleistungen beitragen soll, wozu nationale Rechtsvorschriften nötig sind.

6.2.5   Seitens der kanadischen Gewerkschaften unterstützt der Canadian Labour Congress nachdrücklich die Nutzung des öffentlichen Beschaffungswesens zur Erreichung sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Entwicklungsziele und wendet sich daher gegen eine Öffnung des öffentlichen Beschaffungswesens für Crown Corporations (staatliche Unternehmen) und subföderale Verwaltungsebenen.

6.2.6   Der Canadian Labour Congress ist auch tief besorgt angesichts der Tatsache, dass mögliche Interessenkonflikte zwischen Investoren und Staat die öffentlichen Dienste und innerstaatlichen Regelungen gefährden könnten, sowie angesichts der Folgen eines übermäßigen Schutzes des geistigen Eigentums, insbesondere im Falle der Arzneimittelpreise.

6.2.7   Es muss einen bindenden Mechanismus geben, durch den die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen beider Seiten Maßnahmen von den Regierungen fordern können.

6.2.8   Es wird die Einrichtung eines Forums für Handel und nachhaltige Entwicklung gefordert, das Arbeitnehmer, Arbeitgeber und sonstige Organisationen der Zivilgesellschaft auf ausgewogene Weise konsultiert. Derzeit vertreten die kanadischen Gewerkschaften die Auffassung, dass im Rahmen des Konsultationsprozesses die Positionen der Unternehmen begünstigt werden.

6.2.9   Darüber hinaus fordern sie tragfähige Klauseln über die Einhaltung multilateraler Umweltabkommen (einschließlich des Kyoto-Protokolls). Diesbezüglich sind sie der Auffassung, dass die Achtung der Menschenrechtskonventionen (u.a. über politische und Bürgerrechte) festgeschrieben werden sollte, da dies für die soziale Dimension der nachhaltigen Entwicklung von großer Bedeutung ist.

6.3   Verschiedene Tätigkeiten

6.3.1   Der Agrarsektor fordert, dass die Verhandlungsführer der EU den einschlägigen sensiblen Erzeugnissen Rechnung tragen. In Bezug auf die Ursprungsbezeichnungen empfehlen sie, das Abkommen mit Südkorea zum Vorbild zu nehmen. Die Milchwirtschaft ist von grundlegender Bedeutung; es wird erwartet, dass das Abkommen hier neue Absatzmöglichkeiten für die europäischen Erzeuger schafft. Im Fleischsektor werden die Interessen der EU eher defensiv verfochten; so werden Quoten für Schweine- und Geflügelfleisch, Eier und Eierzeugnisse gefordert. Beim Getreide (vor allem Weizen) verteidigt der Sektor seine Interessen aber auch sehr offensiv und lehnt die Erhöhung der kanadischen Quote ab. Darüber hinaus erscheint es angezeigt, dass die kanadische Regierung die Welthandelsorganisation über Rechtsvorschriften, die Handelshemmnisse mit sich bringen können, informiert, sodass der Ausschuss Technische Handelshemmnisse ihre Vereinbarkeit prüfen kann, so wie im Falle des kanadischen Gesetzes C-32 über die Inhaltsstoffe von Tabakerzeugnissen.

6.3.2   In Bezug auf die allgemeine und berufliche Bildung erinnert der EWSA daran, dass die Möglichkeit der Zusammenarbeit zwischen der EU und Kanada in diesem Bereich bereits in der gemeinsamen Erklärung vom November 1990 erwähnt wurde. 2006 erweiterten die EU und Kanada das Abkommen um die Bereiche Hochschulbildung, Berufsbildung und Jugendliche für den Zeitraum 2006-2013. Es handelt sich somit um das erste von der EU unterzeichnete bilaterale Abkommen, in dem die Zusammenarbeit zugunsten von Jugendlichen außerhalb der Hochschulbildung erwähnt wird. Dennoch erscheint die finanzielle Ausstattung dieses Abkommens nicht angemessen. Der EWSA fordert, diese Maßnahmen entsprechend zu finanzieren und die zahlreichen Sozialarbeiter finanziell zu unterstützen, die mit Kindern und Jugendlichen in der EU arbeiten und bereit sind, an einem Erfahrungsaustausch und gemeinsamen Tätigkeiten mit vergleichbaren Organisationen in Kanada teilzunehmen.

7.   Die Haltung des EWSA zum umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen

7.1   Der EWSA befürwortet die Förderung und Liberalisierung des Handelsaustauschs und begrüßt deshalb die Aufnahme der Verhandlungen über das Abkommen EU/Kanada. Gleichwohl bedauert er das Scheitern der Doha-Runde und erinnert daran, dass er ein multilaterales Vorgehen bevorzugt und Handelsprotektionismus ablehnt.

7.2   Der EWSA befürwortet sämtliche Maßnahmen zur Lösung der wenigen noch verbleibenden Konfliktpunkte in bilateralen Fragen (Zugang zur Arktis, Visa, Handel mit Robbenerzeugnissen) und unterstreicht, dass dieses Abkommen wichtig ist, um den Austausch der EU mit der nordamerikanischen Region im Bereich des NAFTA zu fördern. In diesem Zusammenhang empfiehlt er, eine angemessene Überwachung durch das Europäische Parlament in allen Phasen der Verhandlungen über das Abkommen zu gewährleisten, um so die endgültige Annahme des Abkommens durch diese Institution zu erleichtern.

7.3   Der EWSA begrüßt die hervorragenden Beziehungen zwischen der EU und Kanada und ermuntert beide Seiten diese Beziehungen zu nutzen, um ihre politischen Bündnisse mit multilateraler Zielsetzung zu stärken, insbesondere gezielte und konkrete Maßnahmen, z.B. hinsichtlich der Wiederbelebung der Weltkonjunktur, der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen, der Eindämmung des Klimawandels und des gemeinsamen Krisenmanagements (Friedensmissionen, Katastrophenschutz).

7.4   Der EWSA setzt sich nachdrücklich für das Modell des europäischen sozialen und zivilen Dialogs ein. Deshalb betont er, dass die Sozialpartner und die organisierte Zivilgesellschaft im Rahmen der Verhandlungen über das Abkommen und dessen späterer Umsetzung angehört, einbezogen und beteiligt werden sollten.

7.5   Der EWSA ist der Auffassung, dass im künftigen Abkommen die Einsetzung eines Gemischten Beratenden Ausschusses EU/Kanada vorgesehen werden sollte, dem Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft angehören. Dieser Ausschuss sollte den Dialog und die Zusammenarbeit in wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fragen der Beziehungen zwischen der EU und Kanada fördern, die bei der Umsetzung des Abkommens zutage treten. Angesichts der Tatsache, dass es in Kanada keine ihm entsprechende Institution zur Vertretung der organisierten Zivilgesellschaft gibt, schlägt der EWSA vor, gemeinsam mit den Organisationen der kanadischen Zivilgesellschaft zu untersuchen, wie die Beteiligung an diesem künftigen Ausschuss am besten definiert werden kann.

Brüssel, den 16. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Stellungnahme EXT/142 „Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Kanada“, Brüssel, 27. November 1996.

(2)  Labour Force Survey [Arbeitnehmer-Befragung] 2008, Statistics Canada.

(3)  http://canadianlabour.ca.

(4)  http://www.ceocouncil.ca/en/.

(5)  http://www.cfib.org.

(6)  http://www.chamber.ca.

(7)  http://www.chamber.ca.

(8)  Weitere Verbrauchervereinigungen in Kanada sind: Consumers Council of Canada, Society of Consumer Affairs Professionals of Canada (SOCAP), Option consommateurs und Union des consommateurs.

(9)  http://www.cfa-fca.ca/pages/home.php.

(10)  http://www.fisheriescouncil.ca/.

(11)  Geschätzte 1,3 Mrd. US-Dollar im Jahr 2009 und 1,4 Mrd. US-Dollar im Jahr 2008. FMI. World Economic Outlook Database. Oktober 2009.

(12)  https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/ca.html.

(13)  Quelle: Spanisches Außenhandelsinstitut (–ICEX).

(14)  Eurostat.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/94


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Situation von Menschen mit Behinderungen in den Mittelmeerpartnerländern“

2011/C 48/17

Berichterstatter: Meelis JOOST

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16. Juli 2009 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Situation von Menschen mit Behinderungen in den Mittelmeerpartnerländern“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 3. September 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 16. September) einstimmig mit 56 Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1

Der EWSA begrüßt, dass zahlreiche Partnerstaaten des Mittelmeerraums das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert und dadurch die Grundlage für die Verbesserung der Lebensqualität behinderter Menschen geschaffen haben.

1.2

Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass die Organisationen der Zivilgesellschaft, die die Menschen mit Behinderungen in den Partnerstaaten des Mittelmeerraums vertreten, wirkungsvoller als bisher in die Zusammenarbeit im Rahmen der Partnerschaft Europa-Mittelmeer einbezogen werden sollten. Die aktive Beteiligung dieser Organisationen an der Entwicklung der Zivilgesellschaft setzt voraus, dass ihre Finanzierung gesichert ist.

1.3

Der EWSA fordert die Partnerstaaten des Mittelmeerraums auf, den Ansatz „Design für alle“ bei der Gestaltung des Lebensumfelds zu fördern, zumal durch ein barrierefreies und benutzerfreundliches Umfeld auch ein Beitrag zur Erschließung des touristischen Potenzials geleistet wird.

1.4

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf sicherzustellen, dass die Finanzmittel für die Partnerstaaten im Mittelmeerraum auch den zivilgesellschaftlichen Behindertenverbänden offenstehen, und dass durch den Einsatz der Mittel aus den Programmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik nicht zusätzliche Hemmnisse für die gleichberechtigte Teilhabe der Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben geschaffen werden.

1.5

Angesichts des kulturellen Hintergrunds der Partnerstaaten im Mittelmeerraum und unter Würdigung dessen, was durch das Modell der Wohltätigkeit für die Verbesserung der Lebensqualität der Menschen mit Behinderungen erreicht wurde, fordert der EWSA die Beteiligten auf, nun Schritte in Richtung eines auf Rechten basierenden Ansatzes zu unternehmen, so dass die Gesellschaft ihrer Verantwortung für das Wohlergehen der Menschen mit Behinderungen und deren tägliches Auskommen nachkommt und ein Umfeld sowie Dienstleistungen schafft, die den Bedürfnissen aller Nutzer Rechnung tragen. Ein solcher Ansatz steht im Einklang mit dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

1.6

Die Staaten im Mittelmeerraum sollten stärker auf Bildungswege setzen, die für Menschen mit Behinderungen geeignet sind, um so hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen und für Arbeitskräfte zu sorgen, die die Arbeitsmarkterfordernisse erfüllen. Außerdem sollten sie die negativen Folgen der Landflucht auf Beschäftigungslage und Migrationsbewegungen eindämmen.

1.7

Ausgehend von der statistisch belegten Erkenntnis, wonach Menschen mit Behinderungen mindestens 10 % der Bevölkerung ausmachen, dürften in den Partnerstaaten des Mittelmeerraums an die 25 Millionen Menschen mit Behinderungen leben. Der EWSA appelliert an die Entscheidungsträger im Mittelmeerraum, auf die Schaffung von Chancengleichheit hinzuarbeiten und unter anderem auch die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt voranzutreiben.

1.8

Die Partnerstaaten im Mittelmeerraum sollten in möglichst viele Initiativen einbezogen werden, durch die der Zusammenhalt der Staaten auf beiden Seiten des Mittelmeeres verbessert wird, darunter die europäischen Themenjahre (1), die jährliche Wahl einer Kulturhauptstadt Europas und die jüngste Initiative, jedes Jahr eine Europäische Hauptstadt der allgemeinen Barrierefreiheit (2) zu wählen.

2.   Einleitung

2.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat in früheren Stellungnahmen die soziale Entwicklung in den Mittelmeerpartnerländern untersucht.

2.2

Der Ausschuss beschloss die Erarbeitung dieser Initiativstellungnahme, um die Situation behinderter Menschen im Mittelmeerraum stärker ins Bewusstsein zu rücken und einen Beitrag zur Verbesserung ihrer Lage zu leisten. Derzeit durchläuft der Bereich Soziales eine entscheidende Entwicklungsphase mit weltweit großen Herausforderungen.

2.3

Der 1995 eingeleitete Barcelona-Prozess gab den Beziehungen zwischen der EU und ihren Nachbarn im Mittelmeerraum neuen Schwung (3) und zeichnete den Weg vor für die Errichtung einer Zone des Friedens und der wirtschaftlichen Prosperität in der Region. Fünfzehn Jahre nach Annahme der Barcelona-Erklärung sind jedoch nur mäßige Fortschritte zu verzeichnen.

2.4

Die im Jahre 2008 ins Leben gerufene Initiative für eine Mittelmeerunion hat der Zusammenarbeit neue Impulse verliehen, die die Partner im Mittelmeerraum für eine ausgewogene Entwicklung der Region nutzen können. Einen besonderen Stellenwert könnte in diesem Zusammenhang die Entwicklung der sozialen Belange einnehmen, wozu auch die Verbesserung der Situation der Menschen mit Behinderungen gehört.

2.5

Die Europäische Kommission könnte im Rahmen der Partnerschaftsabkommen den Aspekt der Entwicklung im Sozialsektor stärker gewichten und noch deutlicher darauf aufmerksam machen, dass eine Verbesserung des sozialen Zusammenhalts dringend erforderlich ist.

2.6

Im Oktober 2002 wurde im Libanon das Arabische Jahrzehnt für Menschen mit Behinderungen ausgerufen, das 2012 zu Ende geht. An der Lancierung dieses Jahrzehnts nahmen neunzehn arabische Staaten und Vertreter von mehr als hundert arabischen zivilgesellschaftlichen Behindertenverbänden teil. Die aus diesem Anlass angenommene Deklaration war das Ergebnis eines langwierigen Konsultationsprozesses unter den Sozialministern der teilnehmenden Staaten.

2.7

Von den Ländern im Mittelmeerraum haben etliche das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert (4), dessen Ziel es ist, die Rechte der Behinderten zu garantieren und ihre Lebensqualität zu verbessern. Der Ratifizierungsprozess des Übereinkommens ist im EU-Zusammenhang mit dem Entwurf einer Antidiskriminierungsrichtlinie verknüpft, zu dem sich der EWSA in einer Stellungnahme geäußert hat. Die Richtlinie, die der Diskriminierung in den verschiedenen Lebensbereichen entgegenwirken soll, ist zwar noch nicht verabschiedet, aber dieser Prozess ist im Gang - mit ihm bewegt sich die EU in großen Schritten auf den rechtlichen Schutz der Behinderten zu.

2.8

Die Zusammenarbeit in der Entwicklung der Humanressourcen zeitigte positive Ergebnisse. Der Index der Humanentwicklung stieg von 0,694 im Jahre 1995 auf 0,736 im Jahre 2007 (5). Da sich die derzeitige Krise negativ auf diese Entwicklung auswirkt, sollte die Chancengleichheit in der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Mittelmeerpartnerländer einen besonders hohen Stellenwert haben.

2.9

In den Partnerstaaten des Mittelmeerraums ist die Situation im Hinblick auf die Rechte und die Lebensqualität der Menschen mit Behinderungen von Land zu Land verschieden. Ziel dieser Stellungnahme ist es, die Aufmerksamkeit der Staaten auf die Notwendigkeit zu lenken, die Situation der Behinderten und die Effizienz der in diesem Bereich tätigen zivilgesellschaftlichen Organisationen zu verbessern sowie die Vertreter dieser Organisationen aktiver als bisher in die regelmäßige zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit zwischen der EU und den Partnerländern des Mittelmeerraums einzubinden. Die Beispiele einzelner Staaten sowie die Verweise auf die in diesen Staaten durchgeführten Untersuchungen und die gesammelten Daten machen deutlich, dass die genannten Staaten es mit der Eingliederung von Behinderten ernst meinen und Schritte unternommen haben, um den sozialen Zusammenhalt zu verbessern.

3.   Soziale Einbindung und Chancengleichheit

3.1

Hinter dem Barcelona-Prozess (1995) steht die Absicht, die sozialwirtschaftlichen Entwicklungen zu beiden Seiten des Mittelmeeres insgesamt stärker anzugleichen. Die spezifischen Bedürfnisse unterschiedlicher Personengruppen hatte man dabei allerdings nicht im Auge. Die Kohäsionspolitik der EU hat gezeigt, dass die Förderung der Chancengleichheit für schutzbedürftige Gruppen sowie die Verbesserung des Zusammenhalts der Gesellschaft einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen erbringen.

3.2

Bei der Schaffung eines gemeinsamen Freihandelsgebiets kommt es besonders darauf an, dass die Menschen mit Behinderungen in den Partnerländern immer mehr ein Lebensumfeld und ein Auskommen finden können, das der Situation in der EU ähnelt. Um dies zu erreichen, müssen die Menschen mit Behinderungen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene effektiver in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden.

3.3

Ein integratives Bildungswesen, die Beschäftigungspolitik, die regional ausgewogene Entwicklung und die Teilhabe an den Beschlussfassungsprozessen helfen bei der Verringerung der Armut; sie steigern überdies die Attraktivität der Partnerländer im Mittelmeerraum als Wohn- und Arbeitsort und wirken so der Emigration entgegen. Im Endergebnis verbessert die soziale Einbindung die Mobilität der Menschen. In vielen Partnerländern des Mittelmeerraums wird den Kindern mit Behinderungen der erforderliche Zugang zur Bildung verwehrt, so dass ihnen der Arbeitsmarkt mit seinen Möglichkeiten größtenteils verschlossen bleibt, wenn sie das erwerbsfähige Alter erreicht haben.

3.4

In den meisten Schulen der Mittelmeerpartnerländer fehlen Ausbildungsmöglichkeiten für Kinder mit Behinderungen. Etwa die Hälfte aller Kinder mit Behinderungen lebt getrennt von ihren Familien in Pflegeeinrichtungen. Menschen mit Behinderungen können ihr Recht auf Teilhabe am Arbeitsmarkt nicht verwirklichen, obwohl in den Partnerländern eigens Gesetze erlassen wurden, die die Verpflichtung enthalten, sie zu unterstützen und ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt zu sichern. Eine 2003 durchgeführte Untersuchung des libanesischen Behindertenverbandes LPHU (Lebanese Physically Handicapped Union) macht deutlich, dass die Einrichtungen, die den Großteil der für Menschen mit Behinderungen bestimmten öffentlichen Gelder erhalten, den Behinderten nicht die für den Eintritt in den Arbeitsmarkt erforderliche Bildung vermitteln.

Das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Europa-Mittelmeer-Raum

3.5

Das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wurde von folgenden nicht der EU angehörenden Staaten der Partnerschaft Europa-Mittelmeer ratifiziert: Algerien, Bosnien und Herzegowina, Marokko, Tunesien, Türkei, Ägypten, Syrien, Jordanien, Kroatien und Montenegro. Nicht ratifiziert wurde es bislang von Israel, Palästina, dem Libanon, Albanien, Mauretanien, Monaco und dem Beobachterstaat Libyen. Auch ein Teil der EU-Mitgliedstaaten hat das Übereinkommen noch nicht ratifiziert.

3.6

Die Artikel des Übereinkommens garantieren Menschen mit Behinderungen Schutz vor Diskriminierung in sämtlichen Lebensbereichen: in der Arbeitswelt und beim Zugang zu Verkehrsmitteln, öffentlichen Gebäuden und Wohnraum. In dem Übereinkommen wird nachdrücklich betont, dass sowohl in der Stadt als auch auf dem Land einschlägige Dienstleistungen und ein angemessener Sozialschutz gewährleistet sein müssen.

3.7

In dem Übereinkommen wird dem Zugang zu Bildung, dem Recht auf freie Wahl des Wohnorts, dem Recht auf Familienleben und der Teilhabe am politischen Leben ein wichtiger Stellenwert beigemessen. In mehreren Kapiteln geht es auch um Frauen und Kinder mit Behinderungen, zwei Gruppen, die für die Verbesserung des sozialen Zusammenhalts in der Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Mittelmeerraum von großer Bedeutung sind.

3.8

Zum eigentlichen Basistext des Übereinkommens gehört im Anhang noch ein nicht bindendes Protokoll. Die Staaten, die das Übereinkommen unterzeichnet und ratifiziert haben, verpflichten sich darin zur Einrichtung einer Beobachtungsstelle, um die Einhaltung des Übereinkommens zu überwachen. Zugleich übernehmen die Teilnehmerstaaten durch die Ratifizierung die Verpflichtung, den Vereinten Nationen darüber Bericht zu erstatten, inwieweit die Situation der Menschen mit Behinderungen den Bestimmungen des Übereinkommens entspricht.

3.9

Die Ratifizierung des Übereinkommens ist der erste Schritt auf dem langen Weg zur Änderung des Verhaltens der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen und ihres Lebensumfelds, und zwar sowohl in den Mitgliedstaaten der EU als auch in den Partnerstaaten des Mittelmeerraums. Heutzutage entspricht die soziale und wirtschaftliche Situation mancher Bevölkerungsgruppen, darunter auch der Menschen mit Behinderungen, in den Staaten des südlichen Mittelmeerraums nicht den Vorgaben des Übereinkommens.

Der Aspekt der Chancengleichheit in der regionalen Entwicklung

3.10

Der regionalen Zusammenarbeit zwischen den Partnerstaaten im Mittelmeerraum kommt eine wichtige Rolle bei der Verbesserung des Alltagslebens von Menschen mit Behinderungen zu. Die Möglichkeit zur Mobilität, die Verbreitung von Informationen, die Schaffung von Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen und die Durchführung gemeinsamer Projekte müssten wesentlich wirkungsvoller als heute vorangetrieben werden. Der innerstaatliche regionale Zusammenhalt, der in einer nachhaltigen Entwicklung ländlicher Gebiete sowie dem Angebot von Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen auch außerhalb der städtischen Gebiete zum Ausdruck kommt, steigert die Konkurrenzfähigkeit der Partnerländer im Mittelmeerraum.

3.11

Das gegenseitige Verständnis, wozu auch die Toleranz zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und die Bekämpfung der Diskriminierung gehören, sollte die Beziehungen der Mittelmeerpartnerländer untereinander und die Beziehungen im Rahmen der Partnerschaft Europa-Mittelmeer bestimmen.

3.12

Die soziale Verletzlichkeit der ländlichen Gegenden des Mittelmeerraums zeigt sich in Form von Armut, Arbeitslosigkeit, mangelnder Infrastruktur, Bodendegradation und in einer anhaltenden Landflucht. Die Staaten sollten alles daransetzen, diese negative Entwicklung zu stoppen.

Organisationen der Zivilgesellschaft, die die behinderten Menschen vertreten, und ihre gesellschaftliche Rolle

3.13

In den meisten Mitgliedstaaten der EU gibt es Dachverbände, in denen die verschiedenen Verbände der Menschen mit Behinderungen vereint sind. Das Vorhandensein von Dachorganisationen für Menschen mit Behinderungen hilft den verschiedenen Behindertengruppen, die Bedürfnisse der jeweils anderen Gruppen besser zu verstehen und bei der Politikgestaltung mit einer Stimme zu sprechen. In den Partnerstaaten des Mittelmeerraums sollte die Schaffung und Stärkung der Dachorganisationen für Menschen mit Behinderungen unterstützt werden.

3.14

In folgenden Partnerstaaten des Mittelmeerraums sind Dachverbände für Menschen mit verschiedenen Arten von Behinderungen gebildet worden: Marokko, Jordanien, Tunesien, Ägypten.

3.15

Handicap International (HI) hat einen Wettbewerb für Organisationen ohne Erwerbscharakter ausgeschrieben, um Menschen mit Behinderungen an ihren Tätigkeiten zu beteiligen.

Tunesien und Jordanien wurden in das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) eingebunden. In Jordanien wurde als Partner der UNDP die Al Hussein Society for the Habilitation and Rehabilitation of the Physically Challenged, eine Organisation für Menschen mit körperlichen Behinderungen, ins Leben gerufen. Ziel ist es, durch die Einrichtung von IT-Räumlichkeiten, die mit speziellen Computerprogrammen, unter anderem grafikbasierten Anwendungen, ausgestattet sind, und die Durchführung von EDV-Schulungen Menschen mit körperlichen Behinderungen an den Möglichkeiten der Informationstechnologie teilhaben zu lassen.

3.16

Die internationale Dachorganisation für Menschen mit Behinderungen, DPI (Disabled Peoples International), bestätigt auf ihrer Internetseite, dass innerhalb der Organisation ein sechster Großraum, der die arabischen Länder umfasst, im Aufbau begriffen ist. Nach Angaben der Organisation haben bereits zehn Staaten einen Beitrittswunsch geäußert, und die Vorbereitungsarbeiten sollten im Verlauf von zwei bis drei Monaten zum Abschluss gebracht werden können.

4.   Steigerung der Lebensqualität der Menschen mit Behinderungen durch die Verbindung von Wohltätigkeit mit einem auf Rechten basierenden Ansatz

4.1

Aufgrund des kulturellen Hintergrunds sind im Mittelmeerraum der Umgang mit behinderten Menschen und ihre Rolle in der Gesellschaft stark durch den Glauben geprägt. Die verschiedenen Auffassungen über die Ursachen von Behinderung sollten durch wissenschaftlich fundierte Informationen ersetzt werden, was einer auf Rechten basierenden Herangehensweise an die Behindertenproblematik dienlich wäre. In den Partnerländern des Mittelmeerraums ist das Verhalten der Gesellschaft gegenüber Menschen mit angeborenen und erworbenen Behinderungen tendenziell unterschiedlich, wobei diejenigen, die von einer angeborenen und äußerlich sichtbaren Behinderung betroffen sind, am schwersten zu leiden haben. Daher ist es sehr wichtig, über die verschiedenen Arten der Behinderung zu informieren und auf die Kompetenzen und Fähigkeiten behinderter Menschen hinzuweisen.

4.2

In Marokko beispielsweise betrifft die Behindertenproblematik in ungünstigem Licht betrachtet etwa 25 % der Familien. Der Zugang zu Dienstleistungen ist im Falle einer sichtbaren Behinderung erheblich erschwert. Die bedeutende Rolle der Religion und der Familie in Marokko ist Ursache für die Verbreitung einer auf Wohltätigkeit basierenden Denkweise in der Gesellschaft. Der edle Grundsatz, hilfebedürftige Menschen zu unterstützen, reicht jedoch allein nicht aus, um zu gewährleisten, dass Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen oder chronischen Krankheiten ihr Leben bewältigen können.

4.3

Neben der Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen durch Wohltätigkeit könnte auch für eine kontinuierliche Verbesserung der Dienstleistungsangebote und des Lebensumfelds gesorgt werden. Die Behindertenverbände und weitere sozial engagierte Organisationen der Zivilgesellschaft könnten - bei einer gleichzeitigen Unterstützung durch die Gesellschaft - die Wohltätigkeit erfolgreich durch ein auf das Recht gestütztes Modell ergänzen. Menschen mit Behinderungen müssen an den Beschlussfassungsprozessen, die die Entwicklung des Sozialsystems betreffen, beteiligt werden. In Marokko beispielsweise ist die Tendenz zu verzeichnen, das auf Wohltätigkeit gründende Modell durch einen stärker auf Rechten basierenden Ansatz zu ersetzen.

4.4

Als gutes Beispiel für einen derartigen Ansatz aus den Partnerländern des Mittelmeerraums, wo der Staat oder eine örtliche Behörde das erwähnte Modell eingesetzt hat, können die Projekte von Handicap International (HI) in Marokko angeführt werden. Handicap International ist eine Nichtregierungsorganisation, die seit 1993 in Marokko tätig ist. Eine 2004 mit finanzieller Beteiligung des Sozialministeriums durchgeführte Befragung zur Lage der Menschen mit Behinderungen, darunter auch behinderter Kinder und ihrer Familien, hat ergeben, dass 70 % der Behinderten keinen Zugang zur Bildung haben und dass lediglich 30 % der behinderten Kinder eine Schulbildung genießen. Das zentrale Problem, so stellte sich heraus, ist der Mangel an sozialen Dienstleistungen und das Fehlen von Spezialisten sowie die Tatsache, dass der Ausschluss von der Schulbildung in 50 % der Fälle eine negative Einstellung der Gesellschaft gegenüber Kindern mit Behinderungen zur Folge hat. Als Schlussfolgerung aus der Untersuchung wurden folgende Empfehlungen abgegeben:

Die Gesellschaft als Ganzes muss ihr Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderungen ändern.

Für die Jahre 2006 bis 2011 wurde eine Marokko und auch Tunesien umfassende staatliche Strategie erarbeitet, die darauf abzielt, durch die Vernetzung der örtlichen Zentren für Menschen mit Behinderungen das Dienstleistungsspektrum in der Region zu erweitern.

Zentraler Punkt der Strategie war die Schulung der Dienstleistungsanbieter (z.B. der Aufbau eines Netzes von Physiotherapeuten in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium).

Alle Interessengruppen vor Ort sollen in die Arbeit des Netzes für Menschen mit Behinderungen eingebunden werden.

Neben dem Ausbau der Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation sollte stärker auf die lokale, gemeindenahe (community-based) Verbreitung einschlägiger Kenntnisse hingewirkt werden.

4.5

Der Situation behinderter Kinder bzw. der Familien in den Partnerländern des Mittelmeerraums, in denen Menschen mit Behinderungen leben, muss besonders beachtet werden. Menschen mit Behinderungen und die Familien, die sich um diese Menschen einschließlich der behinderten Kinder kümmern, sollten selbst an den Entscheidungen über erforderliche neue Dienstleistungen und an der Einrichtung geeigneter Rehabilitationsmöglichkeiten und sonstiger Dienstleistungen mitwirken. Im derzeitigen Sozialfürsorge- und Rehabilitationssystem ist die Familie der Partner sowohl der lokalen Verwaltung und der Vertreter nationaler Behörden als auch der Dienstleistungsanbieter. Sie macht Vorschläge für Dienstleistungen, beteiligt sich an der Gestaltung des Dienstleistungsangebots und ist in allen behinderungsspezifischen Fragestellungen ein wertvoller Ratgeber. In Ermangelung eines entwickelten Dienstleistungsnetzes ist es möglich, den erwähnten Ansatz auf Grundlage der gemeindenahen Rehabilitation (community-based rehabilitation, CBR) anzuwenden und informelle Gruppen zur Unterstützung behinderter Menschen sowie diesem Zweck dienende Vereinigungen (juristische Personen) ohne Erwerbszweck einzubeziehen.

Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung und die Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensumstände von Menschen mit Behinderungen

4.6

Nur durch eine systematische und kontinuierliche Unterstützung sind Menschen mit Behinderungen in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen und ihre Rechte geltend zu machen. Angesichts der Tatsache, dass die Unterschiede in der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der einzelnen Mittelmeerländer wie auch die derzeitige Krise nur einen begrenzten Spielraum zur Schaffung von Dienstleistungen bieten, sollten die Menschen mit Behinderungen selbst aktiv an der Suche nach Lösungen beteiligt werden.

4.7

Die soziale Einbindung gelingt dann am besten, wenn für Beschäftigungsmöglichkeiten gesorgt wird. Dabei müssen die Ermöglichung einer Beschäftigung auf dem ersten, offenen Arbeitsmarkt wie auch die Ausübung einer geschützten und geförderten Arbeit in Betracht gezogen werden. In der Europäischen Union sind durch gesetzgeberische Maßnahmen und die Anwendung bewährter Verfahrensweisen Schritte zur Verbesserung der Beschäftigungslage behinderter Menschen unternommen worden. Anlässlich des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen 2003 haben die Verbände der Sozialpartner in der EU ihre gemeinsame Erklärung über die Beschäftigungsförderung für Menschen mit Behinderungen erneut bekräftigt. Der zentrale Gedanke dieser Erklärung, in der nicht die Behinderung, sondern die Begabungen im Mittelpunkt stehen, ist ein gutes Hilfsmittel, um in den Partnerländern des Mittelmeerraums die nötigen Schritte zur Förderung der Beschäftigung für Menschen mit Behinderung einzuleiten, insbesondere durch die Unternehmen der Sozialwirtschaft.

4.8

Die Eingliederung behinderter Menschen in den Arbeitsmarkt kann in den Partnerländern des Mittelmeerraums auch durch das 1993 geschlossene Abkommen arabischer Staaten zur Förderung der Beschäftigung und Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen flankiert werden. In dem Abkommen wird die Notwendigkeit unterstrichen, das Arbeitsumfeld barrierefreier zu gestalten und behinderten Menschen eine angemessene Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu ermöglichen. Darüber hinaus wird der Vorschlag gemacht, auch für Menschen mit Behinderungen eine Beschäftigungsquote einzuführen, eine Maßnahme, die auch in einem Teil der EU-Mitgliedstaaten verbreitet ist, um die Beschäftigungslage unter Behinderten zu verbessern.

4.9

Die Menschen mit Behinderungen wollen einen Beitrag zur Gesellschaft leisten - doch dafür muss ein geeignetes Umfeld geschaffen werden, das auf einer auf Rechten basierenden und vollständigen Integration in die Gesellschaft beruht. Wichtig ist auch, die Arbeit der Behindertenverbände zu unterstützen. Der Staat sollte systematisch für die Menschen Sorge tragen, auch für die Menschen mit Behinderungen, die das schwächste Glied der Gesellschaft bilden.

4.10

Frauen beteiligen sich in der Regel aktiv an der Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität behinderter Menschen, entweder privat in der Familie oder im Rahmen gesellschaftlicher Maßnahmen. Die Rolle der Frauen bei der Verrichtung dieser Arbeiten verdient Anerkennung. Gleichzeitig darf die Durchführung sozialer Maßnahmen nicht allein auf den Schultern der Familien lasten. In den Partnerstaaten des Mittelmeerraums tragen in den Familien, in denen Kinder mit Behinderungen leben, die Frauen, das heißt die Mütter der Kinder, oftmals den größten Teil der Pflegebelastung, was durch religiöse Überzeugungen und kulturelle Besonderheiten noch begünstigt wird.

Die allgemeine Situation der Frauen und Kinder sowie der Minderheiten in den Mittelmeer-Partnerländern wird in einem Bericht über die menschliche Entwicklung in der arabischen Welt (Arab Human Development Report) aus dem Jahr 2002 beschrieben, demzufolge im Jahr 2000 etwa 53 % der Frauen Analphabeten waren, ein Wert, der 2015 voraussichtlich noch bei 37 % liegen wird.

4.11

Als gutes Beispiel für ein Programm zur sozialen Sicherheit aus dem Mittelmeerraum können die Projekte von Handicap International (HI) angeführt werden, die in Tunesien zur Entwicklung der sozialen Sicherheit und Solidarität durchgeführt wurden und an denen sowohl miteinander vernetzte Fachleute als auch die Endnutzer, das heißt Menschen mit Behinderungen und ihre Familien, beteiligt waren: 1998-2002 wurde das Projekt „Vorbeugung von Behinderungen bei Kindern“ durchgeführt, um durch die Schulung von Fachleuten auf dem Gebiet der Rehabilitation und durch die Versorgung der spezialisierten Zentren mit der nötigen Ausstattung die Qualität der Dienstleistungsangebote für Kinder mit Behinderungen zu verbessern. Im Zeitraum 1998-2003 wurden im Rahmen eines eigenen Projekts zwei Rehabilitationskliniken eingerichtet sowie ein Rehabilitationszentrum, eine technische Hilfswerkstatt und zwei mobile technische Reparaturwerkstätten gebaut. Das von Handicap International in Marokko, Algerien und Tunesien durchgeführte Projekt „Förderung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen im Maghreb“ (2004-2006) zielte darauf ab, vor Ort Initiativen anzuregen, um die soziale Integration behinderter Menschen zu fördern und ihnen mehr Selbstvertrauen und Würde zu geben. Auch das tunesische Sozialministerium und verschiede Behindertenverbände nahmen an diesem Projekt teil.

4.12

Ein anschauliches Beispiel für ein Projekt, das die Europäische Union in einem Partnerland des Mittelmeerraums durchgeführt hat, um eine Änderung des Verhaltens gegenüber Menschen mit Behinderungen herbeizuführen, ist das Jugendprogramm EuroMed (EuroMed Youth Programme), einer der Eckpfeiler der von der Europäischen Kommission durchgeführten Jugendarbeit in den Ländern der Dritten Welt. Dabei handelt es sich um eines der regionalen Programme im dritten Kapitel des Barcelona-Prozesses, das darauf ausgelegt ist, die informelle Ausbildung und den kulturübergreifenden Dialog in den 27 EuroMed-Partnerländern zu entwickeln. Die Zahl der teilnehmenden Staaten wird sich in naher Zukunft auf 37 erhöhen. Das Jugendprogramm Euro-Med ist eine konkrete Initiative in der Europa-Mittelmeer-Partnerschaft. Die im Rahmen dieser Initiative zur Verfügung stehenden Mittel können genutzt werden, um das gegenseitige Verständnis unter den jungen Menschen in den Partnerstaaten des Mittelmeerraums zu verbessern, die Demokratisierung der Zivilgesellschaft voranzutreiben, die Zivilcourage junger Menschen, insbesondere junger Frauen zu erhöhen, den Jugendorganisationen mehr Gehör zu verschaffen sowie den Informations- und Erfahrungsaustausch unter den Jugendorganisationen zu stimulieren. Eine Änderung des Verhaltens gegenüber Menschen mit Behinderungen und gegenüber chronisch kranken Menschen kann gerade durch derartige Maßnahmen herbeigeführt werden. Das Programm wurde 1999 ins Leben gerufen und kann als verlängerter Arm des Jugendprogramms der Europäischen Kommission in dieser Region betrachtet werden.

5.   „Design für alle“ - Schaffung eines barrierefreien Umfelds im Mittelmeerraum

5.1

Die Gebäudestruktur und der Verkehr sind in den Partnerländern des Mittelmeerraums noch nicht auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ausgerichtet. Es sollte nicht vergessen werden, dass von einem barrierefreien und benutzerfreundlichen Umfeld neben den Menschen mit Behinderungen auch weitere gesellschaftliche Gruppen profitieren, beispielsweise Familien mit Kindern, ältere Menschen und Menschen, die nach einer Verletzung für eine gewisse Zeit in ihrer Mobilität eingeschränkt sind.

5.2

„Design für alle“ bedeutet, die Produkte und das Lebensumfeld so zu gestalten, dass alle Menschen sie möglichst uneingeschränkt nutzen können, ohne dass es einer Anpassung oder einer Sonderlösung bedarf. Das universelle Design entfaltet seine Wirkung im Zusammenspiel mit anderen gesellschaftlichen Zielen und ist Teil eines ganzheitlichen Lösungsansatzes.

5.3

Die wesentlichen, bei der Gestaltung unseres Lebensumfelds zu berücksichtigenden Grundsätze des Konzepts „Design für alle“ lauten wie folgt:

gleichberechtigte Nutzung durch verschiedene Bevölkerungsgruppen;

im Konzept „Design für alle“ hat die Frage der Menschenrechte eine zentrale Bedeutung;

Benutzerfreundlichkeit / flexible Nutzung - Änderungen können leicht durchgeführt werden;

einfach und intuitiv - trägt der Logik des Nutzers Rechnung;

verständliche Informationen für den Nutzer;

Robustheit - das geschaffene Umfeld ist widerstandsfähig gegen Zerstörung und Abnutzung;

das Umfeld und die Hilfsmittel erfordern keine große körperliche Anstrengung;

das geschaffene Umfeld ist geräumig und zur Nutzung durch Menschen geeignet, die verschiedene Hilfsmittel verwenden.

5.4

Neben der Gestaltung der physischen Umgebung kommt auch der Einstellung der Menschen eine besondere Bedeutung zu. Die Verkehrssicherheit im städtischen Umfeld hängt in hohem Maße von der Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer gegenüber den anderen Verkehrsteilnehmern ab. Bei der Schaffung eines barrierefreien und benutzerfreundlichen Umfelds spielt die Öffentlichkeitsarbeit eine ganz wesentliche Rolle.

5.5

In einigen Mittelmeerpartnerländern sind bereits Rechtsvorschriften über die Zugänglichkeit des öffentlichen Raums erlassen worden (u.a. in Jordanien, Marokko und Tunesien). In dem Übereinkommen der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen heißt es ausdrücklich, dass die Missachtung des Grundsatzes der Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen als Diskriminierungstatbestand gilt. Ganz wesentlich sind auch der barrierefreie Zugang zu den Arbeitsplätzen und die Sicherheit am Arbeitsplatz.

5.6

Die Situation des öffentlichen Verkehrs ist für Menschen mit Behinderungen dort günstiger, wo der Eisenbahnverkehr gefördert und modernisiert wurde. In Marokko beispielsweise ist der Eisenbahnverkehr gut entwickelt, Menschen mit Behinderungen können den Zug benutzen, wenn die Bahnhofsgebäude und Bahnsteige ihnen den Zugang ermöglichen.

5.7

Gute Beispiele aus den Partnerländern des Mittelmeerraums für Projekte zur Barrierefreiheit im Verkehr oder weitere Projekte im Rahmen der Initiative „Design für alle“ sollten herausgestellt werden.

5.8

In Jordanien wurden beispielsweise Schritte unternommen, damit die rechtlichen Bestimmungen, durch die den Menschen mit Behinderungen der Zugang zum öffentlichen Raum gesichert wird, auch im alltäglichen Leben eingehalten werden. Zu diesem Zweck führte die Stadtverwaltung von Groß-Amman in Zusammenarbeit mit dem Rat für Menschen mit Behinderungen eine zweitägige Anhörung durch. Vergleichbare Initiativen in der ganzen Region wären sehr zu begrüßen.

Ein barrierefreies Umfeld als Motor für die Tourismusbranche

5.9

Jährlich besuchen mehr als 40 Millionen Touristen die EU-Partnerstaaten des Mittelmeerraums. Ein barrierefreies Umfeld und die Anwendung der Grundsätze des Konzepts „Design für alle“ spielen in der Tourismusbranche eine sehr wichtige Rolle. Bequemlichkeit und Erreichbarkeit sind wichtige Faktoren, die Touristen bei der Wahl ihres Urlaubsortes beeinflussen. Es werden also die Regionen bevorzugt, in denen man sich bereits um ein barrierefreies Umfeld bemüht.

5.10

Bei der Durchführung gemeinsamer Projekte, namentlich bei allen Projekten, die durch die EU finanziert werden, sollten die Grundsätze des Konzepts „Design für alle“ beachtet werden. Wichtig ist auch die Förderung der Barrierefreiheit im Bereich des Verkehrs. http://www.euromedtransport.org.

5.11

Der Bericht des Europarates über die vollständige Integration durch die Anwendung der Grundsätze des universellen Designs enthält eine Reihe guter Beispiele, wie die Vorzüge eines für alle zugänglichen Umfelds bei der Integration von Menschen mit Behinderungen genutzt werden können. Die EU-Partnerländer des Mittelmeerraums könnten sich diese positiven Beispiele zu Nutze machen.

5.12

Die Erkenntnis, dass ein barrierefreies, auf den Grundsätzen des Konzepts „Design für alle“ beruhendes Umfeld positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft hat, ist ein wichtiges Argument für die Entscheidungsträger, sich für die Schaffung eines für alle Menschen, auch für die Menschen mit Behinderungen, tauglichen Umfelds einzusetzen.

5.13

Bei der Anwendung des Konzepts „Design für alle“ sind die zahlreichen Hindernisse zu bedenken, mit denen Hör- und Sehbehinderte konfrontiert sind. Hindernisse dieser Art müssen aus dem Weg geräumt werden, um in sämtlichen Lebensbereichen beim Zugang zu Waren und Dienstleistungen für alle Menschen die gleichen Rechte zu gewährleisten.

6.   Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen der EU und den Mittelmeerpartnerländern zum Thema Menschen mit Behinderungen

6.1

In allen Partnerländern des Mittelmeerraums gibt es Vertretungen der Europäischen Union. Dadurch ist es leichter, sich mit bereichsbezogenen Themengebieten und der EU-Politik vertraut zu machen. Die Vertretungen sollten mit gutem Beispiel vorangehen und den Behindertenverbänden gegenüber offen sein. Des Weiteren sollte darauf geachtet werden, dass die von den EU-Vertretungen zur öffentlichen Nutzung vorgesehenen Gebäude nach den Grundsätzen des Konzepts „Design für alle“ eingerichtet sind.

6.2

Seit dem Vertrag von Amsterdam 1999 gehört die Bekämpfung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen für die EU zu den wichtigen Themen. Zurzeit wird die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU diskutiert, zu der der EWSA eine Stellungnahme abgegeben hat (6). 2010 ist das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, das gerade vor dem Hintergrund der sozialen Lage in den Ländern des Mittelmeerraums zur Weiterentwicklung der Zusammenarbeit mit diesen Staaten genutzt werden sollte. Die Zivilgesellschaften und Regierungen der Mittelmeerpartnerländer könnten stärker in die Aktivitäten im Rahmen dieser Themenjahre einbezogen werden.

6.3

Die europäischen Themenjahre und andere Initiativen, die dazu dienen, die Prioritäten der Europäischen Union einem breiteren Publikum bekannt zu machen, könnten von den zivilgesellschaftlichen Organisationen der Partnerländer im Mittelmeerraum, die im sozialen Bereich tätig sind und sich mit Fragen der Menschenrechte und der Bekämpfung von Diskriminierung beschäftigen, für die Öffentlichkeitsarbeit genutzt werden. Die Öffentlichkeitsarbeit ist von großer Bedeutung, um eine Änderung des Verhaltens in der Gesellschaft herbeizuführen und die Lebensqualität behinderter Menschen und weiterer benachteiligter Gruppen zu verbessern.

6.4

Der jüngste Vorschlag, nach dem Vorbild der Europäischen Kulturhauptstadt auch den Titel einer Europäischen Hauptstadt der allgemeinen Barrierefreiheit zu vergeben, müsste auf jeden Fall in den EuroMed-Prozess eingeflochten werden, sodass auch Städte in den Partnerländern sich um diesen Titel bewerben können.

6.5

Der EWSA vertritt ferner die Auffassung, dass Investitionen in Forschung und Entwicklung die Schaffung neuer technischer Hilfsmittel sowie IKT-basierter Produkte und Dienstleistungen fördern und dadurch dazu beitragen würden, die Lebensqualität behinderter Menschen zu verbessern, die Gesundheits- und Sozialkosten zu senken, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern und die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu begünstigen.

6.6

Die Förderung der Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Behindertenforum (EDF) und den Behindertenverbänden in den Mittelmeerpartnerländern, aber auch der Ausbau der direkten Kontakte zwischen den Behindertenverbänden der EU-Mitgliedstaaten und der Partnerländer im Mittelmeerraum würde die Entstehung von Dachverbänden in den Ländern, in denen ein derartiger Zusammenschluss bislang noch fehlt, positiv beeinflussen.

6.7

Das Europäische Behindertenforum arbeitet mit der Arabischen Organisation für Menschen mit Behinderungen zusammen, die 1989 in Kairo als unabhängiger Dachverband der zivilgesellschaftlichen Behindertenverbände mehrerer Länder gegründet wurde. Naser Al-Mahmood, Vorsitzender der Arabischen Organisation für Menschen mit Behinderungen, nahm als Delegationsführer an der Generalversammlung 2010 des EDF in Madrid teil. Diese Zusammenarbeit ist von großer Bedeutung, um die Situation der Menschen mit Behinderungen in den Partnerländern des Mittelmeerraums zu verbessern.

Brüssel, den 16. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  2010 ist das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung.

(2)  ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 8.

(3)  Derzeit gehören der Mittelmeerunion die 27 EU-Mitgliedstaaten und die folgenden Länder im Mittelmeerraum an: Algerien, Marokko, Tunesien, Türkei, Ägypten, Israel, Palästina, Syrien, Libanon, Jordanien, Kroatien, Albanien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina, Monaco, Mauretanien und als Beobachterstaat Libyen.

(4)  http://www.un.org/disabilities.

(5)  UNDP.

(6)  ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 19.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/102


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Politik der Mehrsprachigkeit der EU“ (Ergänzende Stellungnahme)

2011/C 48/18

Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2009, gemäß Artikel 29 Buchstabe A der Durchführungsbestimmungen zur Geschäftsordnung eine ergänzende Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Politik der Mehrsprachigkeit der EU“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 9. Juli 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 145 gegen 2 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

In den letzten Jahren hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss zwei Stellungnahmen zum Thema EU-Strategie für Mehrsprachigkeit an die Institutionen der Union gerichtet:

1)

In der ersten Stellungnahme zum Thema „Eine neue Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit“ ging es um die von der Kommission 2005 vorgelegte neue Strategie auf diesem Gebiet (1);

2)

Die zweite Stellungnahme ging auf ein Ersuchen von Kommissionsmitglied ORBAN um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zur Mitteilung der Kommission „Mehrsprachigkeit: Trumpfkarte Europas, aber auch gemeinsame Verpflichtung (2) zurück.

1.2

Die Politik der Mehrsprachigkeit gehört zu den politischen Prioritäten des EWSA und ist Teil des Programms seiner Präsidentschaft 2008-2010, da sie zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, zur Verwirklichung der Ziele der Lissabon-Strategie und zur Stärkung der europäischen Integration durch den interkulturellen Dialog (Einheit in Vielfalt) beiträgt.

1.3

Die 2006 definierte Politik der Mehrsprachigkeit befindet sich derzeit in der Phase der Weiterentwicklung und Umsetzung. In dieser ergänzenden Stellungnahme sollen die Entwicklungen auf diesem Gebiet und die von der Kommission - konkret von deren GD Bildung und Kultur - diesbezüglich eingeleiteten Maßnahmen schon jetzt untersucht sowie die entsprechenden Empfehlungen des EWSA ergänzt und aktualisiert werden, was vor allem für die Fragen lebenslanges Lernen, Erwachsenenbildung und Beschäftigung sowie die nachhaltigen wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Auswirkungen gilt.

2.   Mehrsprachigkeit in Europa: Bestandsaufnahme

2.1

Der Rat (Bildung, Jugend und Kultur) vom 21. November 2008 hat Schlussfolgerungen zur Förderung der kulturellen Vielfalt und des interkulturellen Dialogs in den Außenbeziehungen der Union und ihrer Mitgliedstaaten und eine Entschließung zu einer europäischen Strategie für Mehrsprachigkeit (3) angenommen.

2.2

Die Kommission und der Rat haben dabei mehrere Vorschläge des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses aufgegriffen:

Förderung der Vielfalt bei der Sprachverwendung und beim Bildungsangebot,

Förderung von Interkulturalität und der Sprachen der Migranten,

Verbreitung der europäischen Sprachen in den kulturellen Beziehungen zu Drittländern,

Förderung des lebenslangen Lernens und der Diversität auf wirtschaftlichem Gebiet und in den Unternehmen,

Unterstützungsmaßnahmen in den Bereichen Übersetzen und Dolmetschen.

2.3

Mittlerweile hat die Kommission zwei Plattformen für die Konsultation eingerichtet, davon eine für die im Bereich Bildung und Kultur tätigen Verbände und regierungsunabhängigen Organisationen und eine weitere für wirtschaftliche Interessenträger, an welcher die Sozialpartner und Hochschulen (4) sowie der EWSA als Beobachter beteiligt sind.

2.4

Die Gewerkschaften haben seit 2006 ebenfalls eine Reihe von Initiativen eingeleitet oder daran teilgenommen: Dazu gehören Konferenzen über die Verwendung der Sprachen am Arbeitsplatz, Gerichtsurteile, die zur Geltendmachung des Rechts auf Verwendung der eigenen Sprache am Arbeitsplatz und gegen Diskriminierungen erwirkt wurden, gemeinsame Initiativen im Bereich der französischen Sprache (Schaffung eines französischsprachigen Internetportals zusammen mit Arbeitnehmern aus der Flugzeugindustrie aus Quebec).

2.5

Die Kommission hat auf ihre öffentlichen Konsultationen mehrere (8) Antworten von örtlich oder branchenspezifisch organisierten Gewerkschaften und Organisationen erhalten, jedoch erst 2009 den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) ordnungsgemäß konsultiert.

2.6

Der EWSA hat an der Europäischen Konferenz zum Thema Mehrsprachigkeit teilgenommen, die im Juni 2009 in Berlin von der Europäischen Beobachtungsstelle für Mehrsprachigkeit veranstaltet wurde. Bei dieser Beobachtungsstelle handelt es sich um ein Netz von Organisationen, dem u.a. Unternehmen und Hochschulen angehören. Der EGB und die Sozialpartner verschiedener Branchen haben ebenfalls an dieser Konferenz teilgenommen.

2.7

Auf einzelstaatlicher Ebene lässt sich der Bericht über die Verwendung der französischen Sprache anführen, den der französische Minister für Kultur und Kommunikation im Rahmen des Gesetzes 94-665 (5) jährlich dem französischen Parlament vorlegt. Dabei wird Bilanz gezogen über die Stellung des Französischen in Frankreich und seine Präsenz in den internationalen Organisationen. Im Jahresbericht 2009 wird ein Überblick über die Situation des Französischen in den EU-Institutionen und den internationalen Organisationen mit Sitz in Afrika gegeben. In dem Dokument geht es auch um die Verwendung des Französischen und um Mehrsprachigkeit in der öffentlichen Verwaltung und am Arbeitsplatz, um Unternehmensstrategien für Sprachverwendung, um die Sprache in Gesellschaft und Wissenschaft sowie um Analphabetismus, die Integration von Zuwanderern und den jeweiligen Bildungsstand der Beschäftigten im öffentlichen und im privaten Sektor.

2.8

Der EGB wird die Finanzierung einer Studie und die Einsetzung einer Arbeitsgruppe („Task Force“) zum Thema „Sprachen und Arbeitsbedingungen“ einleiten, wobei es hier um mehrere Aspekte der Verwendung der Sprache am Arbeitsplatz gehen soll, nämlich darum:

die Unterstützung wissensbasierter Berufsgruppen, von Lehrern und Praktikern der Erwachsenenbildung aber auch von Dolmetschern und Übersetzern sowie Wissenschaftlern für diese spezifischen und gesamtgesellschaftlich wichtigen Forderungen zu erhalten;

die Verwendung der Landessprache am Arbeitsplatz zu vertreten, wobei für die Kriterien der Fremdsprachenkenntnis von Beschäftigten der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Diskriminierungsverbot gewahrt werden müssen;

die wirtschaftlichen Vorteile der Staaten zu untersuchen, deren Sprache auf zwischenstaatlicher Ebene am meisten verwendet wird;

die Rechte der Europäischen Betriebsräte und ähnlicher Instanzen zu stärken, da es bislang nur einen Anspruch auf circa 20 Stunden pro Jahr für Sprachunterricht gibt;

die Aspekte der Sicherheit der Arbeitnehmer und Benutzer zu stärken, insbesondere hinsichtlich der ihnen zur Verfügung gestellten Mittel und der Anforderungen der Arbeitgeber an sie im Bereich der Anerkennung von Qualifikationen, Sprachkompetenzen und der entsprechenden Löhne und Gehälter.

2.9

Die Kommission (GD Bildung und Kultur) hat an die Teilnehmer der von ihr eingerichteten Konsultationsplattformen eine beschränkte Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen veröffentlicht, um damit

Vorhaben für Unternehmensdienstleistungen zu unterstützen;

die für die Stärkung der Fremdsprachenkenntnisse notwendigen Bildungsmaßnahmen, beispielhafte Vorgehensweisen sowie konkrete Vorschläge in einem Verzeichnis zu erfassen;

Projekte zur Förderung der Integration benachteiligter Gruppen zu entwickeln, z.B. für Migranten, Schulabbrecher und ältere Menschen;

Lernmethoden und technologiegestützte Modelle zu verbreiten;

und insgesamt den in ihrer Strategie und in den Empfehlungen des Rates enthaltenen Maßnahmen konkrete Gestalt zu geben.

2.10

Bedauerlich ist, dass sämtliche Arbeitsdokumente der Konsultationsplattformen sowie die Ausschreibung für Projekte zur Förderung der Mehrsprachigkeit ausschließlich in einer Sprache veröffentlicht wurden. Erste Empfehlung an die Kommission: Die Kommission sollte mit gutem Beispiel und Effizienz vorangehen und gegenüber möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern eine gewisse Kohärenz mit ihrer Strategie zur Verteidigung und Förderung der Mehrsprachigkeit zeigen; sie sollte dabei die Grundrechte der Teilnehmer an den von ihr eingerichteten Konsultationsplattformen - der Vertreter von Organisationen der Zivilgesellschaft und/oder der Sozialpartner - achten, d.h. ihnen im mündlichen Sprachgebrauch und hinsichtlich der Unterlagen die Arbeit in ihrer Sprache bzw. in einer Amtssprache der Europäischen Union gestatten  (6) und dazu mindestens drei oder vier Relais- oder Pivot-Sprachen einsetzen, darunter die Sprache zumindest eines der 2004 und 2007 beigetreten Mitgliedstaaten.

2.11

Die Kommission hat nun den Leitfaden 2010 zum Programm für lebenslanges Lernen  (7) veröffentlich, dessen spezifisches Programmziel Nr. 7 die Förderung des Sprachenlernens und der sprachlichen Vielfalt ist. In diesem Rahmen gibt es vier Einzelprogramme, nämlich Comenius für schulische Bildung, Erasmus für Hochschulbildung, Leonardo da Vinci für Berufsbildung und Grundtvig für Erwachsenenbildung, mit einer Reihe von Querschnittsprojekten wie der Schwerpunktaktivität 2 Sprachenlernen. Außer den EU-Mitgliedstaaten können sich an dem Programm beteiligen: die EWR-Staaten, die Türkei, die überseeischen Länder und Gebiete, Kroatien und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien für einige Aktivitäten im Rahmen der Vorbereitungsphase, sowie Drittstaaten, die unter die Regelungen der Europäischen Nachbarschaftspolitik fallen oder die „von der EU im Rahmen der Entwicklung eines strategiepolitischen Dialoges in den Bereichen Bildung oder Mehrsprachigkeit als vorrangig bezeichnet werden“. Der Ausschuss misst dem Ziel eines europäischen Bezugsrahmens für die Qualitätssicherung im Bereich des lebenslangen Lernens große Bedeutung bei und ersucht die Organisationen der Zivilgesellschaft, den ersten Teil des veröffentlichten Leitfadens zu konsultieren. Der Veröffentlichung des zweiten Teils sieht er mit Interesse entgegen, insbesondere den darin enthaltenen Angaben über die für den Bereich Mehrsprachigkeit bereitgestellten Mittel (anteilig und Gesamtbetrag). Zweite Empfehlung: Der Ausschuss weist die Kommission erneut darauf hin, dass trotz unbestreitbarer Verbesserungen im Vergleich zu vorhergehenden Programmen ein Gesamtüberblick das Verständnis des Leitfadens und damit den Zugang zu den Programmen und Verfahren erleichtern würde. Die Modalitäten sind nach wie vor kompliziert und fördern kaum die Beteiligung von Organisationen, die sich in diesen Verfahren weniger auskennen, aber unabhängig von ihrer Größe und ihrer Verwaltungskapazität durch ihre Erfahrung und Innovation innerhalb des Adressatenkreises als Bereicherung angesehen werden können. Bestimmte öffentliche Bildungseinrichtungen beklagen zudem die verfahrenstechnischen und organisatorischen Zwänge, denn dabei wird kaum berücksichtigt, dass es ihnen an administrativen Mitteln fehlt, sowie die unzureichenden Finanzmittel, die aus den Programmen für die Ausbildung junger Dolmetscher (Mobilität, Eintauchen in die Sprache) und für die Weiterbildung ihrer Ausbilder zur Verfügung gestellt werden.

2.12

Im Jahresbericht des Europäischen Rechnungshofes zum Haushaltsjahr 2008 (8) werden Mittel in Höhe von 1,06 Mrd. EUR aus EU-Fonds für Bildung und Kultur einschließlich Mehrsprachigkeit ausgewiesen, sei es im Rahmen der zentralen Mittelverwaltung (EU-Agentur) oder der dezentralen Verwaltung (einzelstaatliche Agenturen); zudem werden verschiedene direkte und zweitrangige Kontrollen angeführt, die aufgrund der großen Zahl unmittelbar geförderter Akteure durchgeführt wurden, allerdings ohne nähere Angaben über den auf die Mehrsprachigkeit entfallenden Teil. Im Übrigen ist es gar nicht einfach, um nicht zu sagen unmöglich, jeweils den europäischen und die einzelstaatlichen Anteile sowie die finanziellen Gesamtaufwendungen für die einzelnen Aspekte einer europäischen Strategie für Mehrsprachigkeit zu ermitteln. Aufgrund dessen kann die Strategie weder im Vorfeld noch im Nachhinein bewertet werden. Deshalb sollte die Kommission nunmehr erwägen, was gegen dieses Manko unternommen werden kann. Dritte Empfehlung: Bestandsaufnahme der Aktionen für Mehrsprachigkeit, hinsichtlich der bereitgestellten Mittel und der durchgeführten Maßnahmen, auf EU-Ebene wie auf nationaler Ebene.

3.   Die Politik der Mehrsprachigkeit im EWSA

3.1

Der EWSA und der AdR verfügen über einen gemeinsamen Übersetzungsdienst (wobei 4-6 % des Volumens extern übersetzt wird) und nehmen den interinstitutionellen Dolmetschdienst der Kommission (SCIC) in Anspruch, der zu 49 bis 52 % auf nicht verbeamtete freie Mitarbeiter zurückgreift, um saisonal bedingte Schwankungen zu bewältigen und die Häufigkeit der Inanspruchnahme durch die einzelnen Institutionen zu berücksichtigen.

3.2

Der EWSA und der AdR haben jeweils Dienstleistungsvereinbarungen (Service Level Agreements) unterzeichnet, in denen die Bedingungen für die Bereitstellung von Dolmetschern durch die Generaldirektion Dolmetschen der Europäischen Kommission - kurz SCIC, die Kriterien für die Abrechnung dieser Dienstleistungen sowie die Pflichten beider Vertragsparteien festgelegt sind. Die Arbeitsbedingungen und die Vergütung der freiberuflichen Dolmetscher sind in einer Interinstitutionellen Vereinbarung geregelt, die zwischen den beteiligten EU-Institutionen und dem Internationalen Verband der Konferenzdolmetscher (AIIC) ausgehandelt wurde.

3.3

Die gemeinsamen Dienste der beiden Ausschüsse haben zur Abdeckung der mit 11 neuen Amtssprachen gewachsenen Erfordernisse in diesem Bereich (462 mögliche Sprachkombinationen) nach den Erweiterungen 2004 und 2007 ein Pivot-Sprachensystem (9) eingeführt. Zudem haben die Generalsekretäre der beiden Ausschüsse am 25. Mai 2010 einen Verhaltenskodex für die Übersetzung beschlossen, der es ermöglicht, aufgrund der Besonderheit der von den jeweiligen Versammlungen und Verwaltungen erstellten Dokumente eine Rangfolge und Fristen für die Übersetzungen festzulegen.

3.4

Die Sprachendienste haben eine Informationsbroschüre (Entwurf) für Mitglieder und Berichterstatter erstellt, um in sprachlichen Fragen stärker untereinander und mit den Mitgliedern zusammenzuarbeiten. In dieser Broschüre wird vor allem darauf hingewiesen, dass es eine persönliche Betreuung in Sprachfragen gibt, um die Berichterstatter bei der Erstellung der Dokumente in der Ausgangssprache zu unterstützen, insbesondere wenn dies nicht ihre Muttersprache ist. Diese Beratung und die Möglichkeit, die Dokumente vor der Weitergabe an den Übersetzungsdienst Korrektur lesen zu lassen, tragen zu einer Verbesserung der Qualität der Dokumente und damit der Arbeitsbedingungen der Übersetzer sowie zu einer Verkürzung der Fristen bei.

3.5

Diese stärkere Zusammenarbeit mit dem Ziel besserer Dienstleistungen und Bedingungen für Berichterstatter, Mitglieder und Übersetzer, sollte mittelfristig auch die Mitglieder bzw. ihre Vertreter einschließen, die in einer Kontaktgruppe über die bereits bestehenden Kontakte zwischen Übersetzungsdienst, Verwaltungen und Generalsekretariaten hinaus generelle, notwendige, transparente und längerfristig angelegte Überlegungen über eine eigene Sprachenpolitik der beiden Ausschüsse unter Einbeziehung der Aspekte Qualität und Quantität anstellen könnten (vierte Empfehlung).

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Die Konsultation des Internationalen Verbands der Konferenzdolmetscher AIIC (Association internationale des interprètes de conférences) und der Gewerkschaft der EU-Beamten Union syndicale zeigt, dass diese Organisationen nicht nur die Interessen der angestellten und selbstständigen Dolmetscher im Hinblick auf die Personalstärke, Arbeitszeiten und materielle Arbeitsbedingungen (Arbeitsräume und Dolmetschkabinen) vertreten, sondern auch eine Aufsichtsfunktion für den Berufsstand haben. Freiberuflich tätige Dolmetscher und Übersetzer haben aufgrund von Vereinbarungen mit den EU-Institutionen die gleichen Rechte und erhalten die gleichen Bezüge wie EU-Beamte, die die gleichen Aufgaben erfüllen, allerdings nur für die gearbeiteten Tage und für jeden Einsatz einzeln, was in der Praxis dann doch Unterschiede bedingt. In den Vereinbarungen sind jedoch auch Regeln über die Qualität der Dienstleistungen enthalten; ebenso handeln Dolmetscher, die Mitglieder des AIIC sind, bei Aufträgen durch die EU-Institutionen normalerweise die Bedingungen für ein ganzes Team von Dolmetschern aus. Bislang haben die EU-Institutionen in ihrer Eigenschaft als rechtsetzende Instanzen eine positive Rolle gespielt und die Tätigkeit des AIIC auf dem Gebiet der Sozialvorschriften und berufsständischen Bestimmungen ergänzt.

4.2

Im Zuge der vielfältiger werdenden Nachfrage hat sich offenbar eine Reihe von Praktiken herausgebildet und gibt es bestimmte Kunden, die nicht so sehr auf die Akkreditierung und die Qualität achten und sogar Dienstleistungen für „Kabinen mit Besetzung“ akzeptieren, bei denen ein Dienstleister das Material (Kabinen und Tontechnik) und die Dienste der Dolmetscher im Rahmen ein und derselben Abrechnung zur Verfügung stellt, was zweierlei Effekte hat:

einerseits illegaler Einsatz von Leiharbeitskräften und die Abschöpfung einer illegalen Provision (das Unternehmen ist nicht als Leiharbeitsfirma angemeldet und darf sowohl nach EU-Recht als auch nach den internationalen Übereinkommen keine Provisionen von Honoraren einbehalten);

andererseits mangelhafte Kontrolle der Qualität der erbrachten Dienstleistungen, die vermeintlich „europäisches“ Niveau haben, was fälschlich suggeriert, qualifizierte EU-Dolmetscher kämen zum Einsatz.

4.3

Im Hinblick auf die Institutionen hatte der AIIC die Generaldirektion Dolmetschen darauf hingewiesen, dass mehrere Generaldirektionen der Kommission gelegentlich Aufträge für Konferenzdienstleistungen einschließlich Verdolmetschung ausschreiben, die nicht den Bestimmungen der Vereinbarungen entsprechen. Nach Konsultation des Juristischen Dienstes hat die GD Dolmetschen die anderen Generaldirektionen der Kommission diesbezüglich informiert.

4.4

Der Berufsstand des Dolmetschers ist nicht reglementiert. Der AIIC weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass angesichts der vielfältiger werdenden Nachfrage (Unternehmen, sozialer Sektor usw.) Überlegungen zur Förderung des Berufsstandes erforderlich sein könnten, wobei klare Kriterien für die Verwendung der Berufsbezeichnung Dolmetscher (Hochschulabschluss, Professionalität und Berufserfahrung usw.) festgelegt werden sollten, um negative Auswirkungen auf den ganzen Berufsstand zu vermeiden und Nutzer und Kunden vor missbräuchlichen Praktiken (hohe Rechnungen für unterdurchschnittliche Qualität) zu schützen. Die Kommission könnte dahingehend eine europaweite Konsultation der Sozialpartner einleiten (fünfte Empfehlung). Darüber hinaus stimmen alle befragten institutionellen und freiberuflichen Vertreter der Dolmetscher und Übersetzer darin überein, dass ein positives und attraktives Bild dieser beiden Berufe vermittelt und gefördert werden muss, um das ausscheidende Personal mittel- und langfristig ersetzen zu können.

4.5

Das Europäische Parlament verfügt in beiden Bereichen über eigene Dienste, hat auch einen Verhaltenskodex (10) und greift 2010 zu 40 %, d.h. für 22 Mio. EUR, auf externe Übersetzungen zurück.

4.6

Im Rahmen der Sprachenregelung der Institutionen hat der Europäische Rechnungshof zwei Sonderberichte (11) über die Ausgaben für Dolmetschleistungen (RS 5/2005) und für die Übersetzung (RS 9/2006) im EP, in der Kommission und im Rat erstellt.

5.   Sprachenregelung und kulturelle Vielfalt nach dem Vertrag von Lissabon

5.1

Abgesehen von der Zahl der Sprachen und der Sprachenregelung für die Übermittlung der Entwürfe von Gesetzgebungsakten an die nationalen Parlamente (Protokoll Nr. 1 Artikel 4) sind im Vertrag von Lissabon keine wesentlichen Änderungen an der Sprachenregelung der EU vorgenommen worden, vielmehr wurde das Ziel der Achtung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt Europas bekräftigt (12).

5.2

Die Sprachenregelung der EU-Institutionen wird unbeschadet der Bestimmungen der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom Rat einstimmig durch Verordnungen getroffen (Art. 342 AEUV, ex-Art. 290 EGV). Die Sprachenregelung des Europäischen Gerichtshofes wird ebenfalls vom Rat einstimmig durch eine Verordnung getroffen (Protokoll Nr. 3 Artikel 64). In Artikel 3 EUV (ex-Artikel 2 EUV) ist u.a. festgelegt, dass die Union „den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt [wahrt] und […] für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas [sorgt].

5.3

In Artikel 55 EUV (ex-Artikel 53 EUV) werden die Sprachen festgelegt, in denen der Vertrag abgefasst ist und in die er übersetzt ist. Die Erklärung Nr. 16 zu Artikel 55 Absatz 2 EUV sieht Folgendes vor: „Die Konferenz ist der Auffassung, dass die Möglichkeit der Erstellung von Übersetzungen der Verträge in den Sprachen nach Artikel 55 Absatz 2  (13) zur Verwirklichung des Ziels beiträgt, den Reichtum der kulturellen und sprachlichen Vielfalt der Union im Sinne von Artikel 3 Absatz 3 Unterabsatz 4 zu wahren. Sie bekräftigt diesbezüglich, dass die Union großen Wert auf die kulturelle Vielfalt Europas legt und diesen und anderen Sprachen weiterhin besondere Bedeutung beimessen wird.

5.4

Im Kapitel „Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft“ (zweiter Teil des AEUV) ist festgelegt, dass die Unionsbürger das Recht haben, sich in einer der Sprachen der Verträge an die Organe und die beratenden Einrichtungen der Union zu wenden und eine Antwort in derselben Sprache zu erhalten (Artikel 20 AEUV (ex-Artikel 17 EGV)).

5.5

Im Titel XII „Allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport“ heißt es: „Die Union trägt zur Entwicklung einer qualitativ hoch stehenden Bildung dadurch bei, dass sie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördert und die Tätigkeit der Mitgliedstaaten unter strikter Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems sowie der Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen erforderlichenfalls unterstützt und ergänzt.“ (Art. 165 AEUV (ex-Art. 149 EGV)).

5.6

Auf dem Gebiet der gemeinsamen Handelspolitik ist in Artikel 207 Absatz 4 AEUV (ex-Artikel 133 EGV) Folgendes festgelegt: „Der Rat beschließt ebenfalls einstimmig über die Aushandlung und den Abschluss von Abkommen in den folgenden Bereichen: a) Handel mit kulturellen und audiovisuellen Dienstleistungen, wenn diese Abkommen die kulturelle und sprachliche Vielfalt in der Union beeinträchtigen könnten“;

5.7

In der Charta der Grundrechte wird die Sprache als einer der verbotenen Diskriminierungsgründe genannt: „Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“ (Art. 21). Und in Artikel 22 heißt es: „Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.“

5.8

In dieser Hinsicht sollte auch der EWSA den Inhalt vor die Form stellen und vor der Änderung seines Internetportals immer sicherstellen, das sämtliche Seiten und Dokumente zugänglich sind und bereits in die EU-Sprachen übersetzt wurden. Die für die Änderungen der Präsentation aufgewendeten Haushaltsmittel könnten gemeinsam mit dem Sprachendienst getragen werden, der ja auch und vor allem einen Kommunikationsauftrag hat (Empfehlung Nummer 6).

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  KOM(2005) 596 vom 22. November 2005, ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 68.

(2)  KOM(2008) 566 vom 18. September 2008, ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 109.

(3)  Entschließung 2008/C320/01.

(4)  Wirtschaftsforum für Mehrsprachigkeit.

(5)  Französisches Gesetz vom 4.8.1994 über die Verwendung der französischen Sprache.

(6)  Artikel 22 der EU-Grundrechtecharta: „Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“.

(7)  http://ec.europa.eu/education/lifelong-learning-programme/doc78_de.htm - „Das Programm für lebenslanges Lernen“.

(8)  ABl. C 269 vom 10.11.2009.

(9)  2009-106 vom 23.11.2009.

(10)  PE 413.599/BUR vom 18.11.2008.

(11)  ABl. C 291 vom 23.11.2005 und ABl. C 284 vom 21.11.2006.

(12)  Siehe auch: PE 431.591.0: Studie über die Struktur- und Kohäsionspolitik nach dem Vertrag von Lissabon, 15.2.2010.

(13)  Das heißt, der Vertrag kann ‚in jede andere von den Mitgliedstaaten bestimmte Sprache übersetzt werden, sofern diese Sprache nach der Verfassungsordnung des jeweiligen Mitgliedstaats in dessen gesamtem Hoheitsgebiet oder in Teilen davon Amtssprache ist.


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

465. Plenartagung am 15./16. September 2010

15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/107


Stellungnahme

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

zu der

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Dritte Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union“

KOM(2009) 15 endg.

zu dem

„Arbeitsdokument der Kommission — Verringerung der Verwaltungslasten in der Europäischen Union — Anhang zu den Dritten Strategischen Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung“

KOM(2009) 16 endg.

zu dem

„Arbeitsdokument der Kommission — Dritter Fortschrittsbericht über die Strategie zur Vereinfachung des ordnungspolitischen Umfelds“

KOM(2009) 17 endg.

2011/C 48/19

Berichterstatter: Claudio CAPPELLINI

Mitberichterstatterin: Milena ANGELOVA

Die Europäische Kommission beschloss am 15. Juli 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Dritte Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union

KOM(2009) 15 endg.;

Arbeitsdokument der Kommission - Verringerung der Verwaltungslasten in der Europäischen Union - Anhang zu den Dritten Strategischen Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung

KOM(2009) 16 endg.;

Arbeitsdokument der Kommission - Dritter Fortschrittsbericht über die Strategie zur Vereinfachung des ordnungspolitischen Umfelds

KOM(2009) 17 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Juli 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 103 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Unternehmen und Zivilgesellschaft brauchen einen verständlichen und leicht anwendbaren Rechtsrahmen. Durch bessere Rechtsetzung wird ein Beitrag zu mehr Wettbewerbsfähigkeit geleistet, indem dieser Rechtsrahmen von unnötigen Kosten und unnötigem Aufwand befreit wird.

Der EWSA spricht sich nachdrücklich für eine solche Politik aus und sieht eine bessere Rechtsetzung als geeignetes Mittel an, in der derzeitigen Wirtschaftskrise die Unternehmen unter Vermeidung zusätzlicher Kosten und Investitionen zu unterstützen.

1.2

Durch bessere Rechtsetzung sollten die Qualität, die Kohärenz und die Umsetzung einer angemessenen und zielgerichteten rechtlichen Reaktion auf Marktversagen sowie die EU-2020-Agenda verbessert werden. Bessere Rechtsetzung kann durch Reduzierung unnötiger Vorschriften erzielt werden, bedeutet aber keine vollständige Deregulierung (1). Ihr Ziel besteht darin, Vorschriften für die Anwender und Steuerzahler einfach, handhabbar und kostengünstiger zu gestalten. Durch bessere Rechtsetzung sollen raschere und effizientere Entscheidungen sowie eine entsprechende Umsetzung gefördert und die Verfahren im Hinblick auf eine umfassende Verantwortung überwacht werden.

1.3

Bessere Rechtsetzung sollte als einheitliche und kohärente Politik aufgefasst werden, die auf einer Reihe von Grundsätzen beruht, wie etwa dem Grundsatz „Vorfahrt für KMU“ des Small Business Act. Der „Small Business Test“ sollte dabei regelmäßiger und systematischer als bisher zur Anwendung kommen. Der EWSA schlägt vor, diese Politik umfassend und in sich stimmig zu gestalten und zu diesem Zweck systematischer Interessengruppen hinzuzuziehen. Einer transparenten Prioritätensetzung sollten Konsultationen vorausgehen, die authentisch, umfassend und konsequent sind.

1.4

Bei der besseren Rechtsetzung könnten erheblich mehr Fortschritte zu verzeichnen sein, wenn die Thematik weniger technokratisch wäre und auf allen Regulierungsebenen auf einer breiten Mitwirkung der Zivilgesellschaft basieren würde. Den Wirtschafts- und Sozialräten auf nationaler und europäischer Ebene sollten rechtzeitig Folgenabschätzungen zugehen; darüber hinaus sollte eine umfassende Informationsgrundlage zur Verfügung gestellt werden. Den EU-Vorschriften kämen die innovativen Lösungen, ein stärkeres Problembewusstsein und höhere Legitimität aufgrund dieser Beratungen zugute.

1.5

Ein Übergang von Richtlinien zu Verordnungen würde für mehr Transparenz, bessere Umsetzung und Durchsetzung sorgen. Viele Probleme in Zusammenhang mit Rechtsetzung tun sich bei der Umsetzung in einzelstaatliches Recht auf. Die Mitgliedstaaten sollten die EU-Vorschriften nicht vervielfachen oder verkomplizieren und sie sollten entsprechend streng von der Kommission und den Sozialpartnern überwacht werden (2).

1.6

Der Ausschuss ruft die Kommission dazu auf, den Grundsatz der besseren Rechtsetzung bei der Durchführung und Verwaltung der europäischen Fonds durch die Mitgliedstaaten anzuwenden, indem unnötige oder unangemessene nationale Vorschriften und administrative Verfahren, die eine ordnungsgemäße und rasche Zuteilung dieser Mittel verhindern, vermieden werden (3).

1.7

Der EWSA könnte die Initiative „Bessere Rechtsetzung“ dadurch unterstützen, dass er der Zivilgesellschaft und sonstigen Gremien die positiven Aspekte und die Probleme der Politik erläutert. Hierdurch würde die Rolle des EWSA in der partizipativen Demokratie, wie sie in Artikel 11 des Vertrages von Lissabon festgehalten ist, deutlich sichtbar (4).

2.   Bessere Rechtsetzung - eine Einführung

2.1

Die Rechtsetzung ist ein zentrales Instrument der EU-Politik. Durch die Rechtsinstrumente der EU wurden der europäische Binnenmarkt, stärkere Wettbewerbsfähigkeit sowie mehr Auswahl für die Verbraucher und besserer Verbraucherschutz, niedrigere Transaktionskosten, Umweltschutz und eine Reihe weiterer Vorteile für Unternehmen und Bürger in der EU geschaffen. Die EU-Rechtsinstrumente haben auch insofern für Rechtssicherheit auf dem Markt gesorgt, als zahlreiche einzelstaatliche Vorschriften durch klare gemeinschaftliche Regeln ersetzt wurden, nach denen die Unternehmen sich richten und die sie befolgen können und von denen Bürger, Arbeitnehmer und Verbraucher in ganz Europa profitieren.

2.2

Die erfolgreiche Reform der Rechtsetzung hat dazu geführt, dass die Notwendigkeit einer Regulierung zur Bewältigung von Risiken allgemeiner, nichtwirtschaftlicher Art noch größer geworden ist. Während es in den Mitgliedstaaten keine Neuerung ist, soziale Ziele mithilfe von Vorschriften zu erreichen, bereitet die Entwicklung von Vorschriften auf EU-Ebene Probleme im Zusammenhang mit der Umsetzung, mit Überschneidungen, übergenauer Umsetzung und Missverständnissen. Durch Vorschriften kann auch die Anwendung von Instrumenten ohne normativen Charakter verhindert werden. Da die Glaubwürdigkeit der EU eine koordinierte Politik voraussetzt, ist eine Strategie zur besseren Rechtsetzung derzeit von entscheidender Bedeutung.

2.3

Da Märkte nicht immer optimale Ergebnisse erzielen und häufig nicht alle externen Kosten berücksichtigen, sollten durch bessere Rechtsetzung die Qualität, die Kohärenz und die Umsetzung einer angemessenen rechtlichen Reaktion auf Marktversagen verbessert werden. Der entsprechenden Ressourcenknappheit muss durch wirksamen Schutz der Interessen der wichtigsten betroffenen Gruppen (Verbraucher, Arbeitnehmer, kleine und mittlere Unternehmen) und Risikomanagement in zentralen Bereichen (Umwelt, Gesundheit, Sicherheit und soziale Bedürfnisse) begegnet und zugleich Wettbewerbsfähigkeit und Unternehmergeist gewahrt werden. Bessere Rechtsetzung sollte demnach, auch wenn das Ziel darin besteht, Vorschriften für die Anwender und Steuerzahler einfach, handhabbar und kostengünstiger zu gestalten, auf keinen Fall mit Deregulierung gleichgesetzt werden. Rechtsstaatlichkeit ist zwar der Grundpfeiler jeder organisierten Gesellschaft, ihre mangelhafte Konzeption kann jedoch die Gesellschaft in ihrem normalen Funktionieren behindern und für Bürger, Arbeitnehmer und Unternehmen eine Ungleichbehandlung zur Folge haben.

2.4

Eine umfassende Konsultation ist von grundlegender Bedeutung. Eine gut konzipierte und zielgerichtete Regulierung gewährt Verlässlichkeit durch klare und kohärente Regeln sowie leichte Einhaltung und Durchsetzung. Die Ziele und die Methoden zu ihrer Erreichung, die möglichst wirksam, kostengünstig und wenig schwerfällig sein sollen, müssen klar dargelegt werden. Eine bessere faktische Grundlage mit einer breiten Palette von Indikatoren ist zwar hilfreich, doch können die meisten Politikbereiche nicht alleine auf dieser Grundlage bewertet werden. Eine umfassende Anhörung der betroffenen Kreise und Experten ist von größter Bedeutung, um einen Mittelweg zwischen der Erreichung der politischen Ziele einerseits und der Verringerung des Verwaltungsaufwands für Unternehmen und Bürger andererseits zu finden. Wird ein solcher Ausgleich nicht erreicht, können komplexe, schwer anwendbare bzw. einhaltbare, kaum durchsetzbare und zudem mit unverhältnismäßig hohen Kosten verbundene Regeln die Folge sein. Durch eine bessere Konsultation wird das Problembewusstsein geschärft und die Anwendung der Vorschriften verbessert.

3.   Die Maßnahmen der Kommission

3.1

Im Dritten Fortschrittsbericht der Kommission über die Umsetzung ihrer Mitteilung (5) aus dem Jahr 2005 werden die erzielten Fortschritte bei der Verbesserung der bestehenden Rechtsetzung, der Reduzierung des bürokratischen Aufwands für Unternehmen und Bürger sowie der Verankerung neuer Initiativen zur Förderung einer besseren Regelungskultur einer Prüfung unterzogen.

3.2

In dem Bericht wird aufgezeigt, was im Rahmen der Aktualisierung, Modernisierung und Vereinfachung bislang geleistet wurde und welches die neuen Ziele sind (6). Nach den in der Mitteilung enthaltenen Schätzungen werden durch die Vereinfachung in den 2007 festgestellten 13 prioritären Bereichen die Verwaltungskosten um 115 bis 130 Mrd. EUR reduziert. Durch den Wegfall der statistischen Berichtspflicht für kleine und mittlere Unternehmen ergeben sich ab 2010 Einsparungen in Höhe von über 200 Mrd. EUR. Auch durch die Aufhebung der Beschränkungen für elektronische Rechnungsstellung im Rahmen der Mehrwertsteuerrichtlinie und die Schaffung eines papierlosen Umfelds im Zollwesen der EU werden beträchtliche Einsparungen erzielt.

3.3

Der Bericht zeigt, inwiefern integrierte Folgenabschätzungen zu besserer Qualität und mehr Kohärenz des EU-Rechtsrahmens beitragen können. Dieser Mechanismus der Folgenabschätzung wird weiter verbessert und ausgebaut werden. In dem Bericht wird betont, dass die Notwendigkeit einer besseren Rechtsetzung auf allen Ebenen in der EU, quer durch alle Organe und Einrichtungen zur Chefsache gemacht werden muss. Auch eine Zusammenarbeit mit Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine bessere Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist ungeachtet des bislang nur mäßigen Fortschrittes sehr wichtig. Ebenfalls unterstrichen wird die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit mit den Handelspartnern der EU und einer Annäherung bei der Erstellung weltweiter Regeln durch eine Einflussnahme auf die G20-Agenda in diesem Bereich.

3.4

Der EWSA begrüßt die Ergebnisse der Kommission und ihre neuen Prioritäten zur Verbesserung der Wirksamkeit. Das Bekenntnis zur Fortsetzung dieser Politik trägt zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und zur Schaffung von Arbeitsplätzen bei und ist somit auch dem wirtschaftlichen Wiederaufschwung dienlich. Allerdings müssen dringend auch die von dieser Politik betroffenen Gruppen umfassender eingebunden werden.

4.   Bessere Rechtsetzung und EU-Politikgestaltung

4.1

Bessere Rechtsetzung ist ein eigenständiger Politikbereich. Ihr Ziel besteht darin, durch bereichsübergreifendes und koordiniertes Handeln den Aufwand für Unternehmen zu reduzieren und die Gesetzgebung zu einem wirksamen Instrument zu machen, das den Bedürfnissen der Gesellschaft in angemessener und praktikabler Weise gerecht wird. Bessere Rechtsetzung sollte eine Reihe von Grundsätzen, wie etwa das Prinzip „Vorfahrt für KMU“ des Small Business Act (SBA), die transparente Wahl von Prioritäten in enger Zusammenarbeit und ausführlicher Abstimmung mit den betroffenen Kreisen, rasche und effiziente Entscheidungen sowie die Überwachung der Umsetzung umfassen, um eine umfassende Verantwortung zu gewährleisten.

4.2

Das Programm „Bessere Rechtsetzung“ muss kohärenter und umfassender verfolgt werden, da Einzelinitiativen wenig Wirkung zeigen. Die Mitteilung beinhaltet eine Beschreibung der Maßnahmen und spezifischen Pläne, jedoch keine Übersicht über die Wechselwirkung dieser Pläne und darüber, inwiefern sie die in der ursprünglichen Agenda aufgedeckten Mängel beheben (7). Wenn die bessere Rechtsetzung kohärent sein soll, muss ihre Ausgestaltung transparenter sein. Der EWSA ist der Auffassung, dass alle EU-Organe und insbesondere die Kommission mit ihren Gestaltungsmöglichkeiten diese Frage gemeinsam angehen sollten.

4.3

Zur Verbesserung der bestehenden Gesetzgebung gehört mehr als die Reduzierung des Umfangs des Amtsblattes und der Zahl der Rechtsakte. Der EWSA begrüßt daher das Versprechen der Kommission, einen stärker integrierten Ansatz zu wählen, bei dem Überschneidungen, redundante Vorschriften, Lücken und Unstimmigkeiten beseitigt und vor allem der Verwaltungsaufwand reduziert werden soll (8). Im Mittelpunkt steht dabei die wirksame Reduzierung der Mitteilungs- und Auskunftspflichten, insbesondere für KMU, in Bereichen wie Statistik, Mehrwertsteuer oder Gesellschaftsrecht. Der EWSA unterstützt die allgemeine Ausrichtung der neuen Maßnahmen zur Vereinfachung, Aktualisierung und Verbesserung der bestehenden Rechtsetzung.

4.4

Der EWSA begrüßt die im Rahmen des Folgenabschätzungsverfahrens unternommene genaue Überprüfung, da diese zu einer umfassenderen Beurteilung der Notwendigkeit neuer Regelungen führt. Der EWSA würdigt auch den Ausschuss für Folgenabschätzung für die Qualität seiner Arbeit. Die unabhängige Prüfung durch diese Einrichtung ist zusammen mit Transparenz und einer breiten Konsultation betroffener Kreise für eine bessere Rechtsetzung von entscheidender Bedeutung. Der EWSA unterstützt die hierdurch angestrebten Verbesserungen.

4.5

Der Abschluss der von der Kommission vorgenommenen Überprüfung erfordert jedoch eine politische Schlussfolgerung zu diesem Thema (9). Da eine solche Schlussfolgerung in der Mitteilung fehlt, bleibt offen, ob die Kommission die Aufgabe bereits als erledigt ansieht.

5.   Die Initiative zur besseren Rechtsetzung in den Mitgliedstaaten

5.1

Der EWSA nimmt mit einiger Besorgnis zur Kenntnis, dass die Pläne zur Koordinierung der Maßnahmen mit den Mitgliedstaaten in Verzug geraten sind. Hierdurch gerät die Wirksamkeit der Initiative in Mitleidenschaft. Die Mitgliedstaaten müssen, sofern möglich bei allen grundlegenden Änderungen noch vor der Verabschiedung von Rechtsvorschriften, Folgenabschätzungen durchführen. Die für die Folgenabschätzungen zuständigen nationalen Einrichtungen müssen stärker in die Diskussionen auf EU-Ebene einbezogen werden. Die Koordinierung der nationalen Programme zur Reduzierung des Verwaltungsaufwands ist von zentraler Bedeutung. Eine Verzögerung kann die Wettbewerbsfähigkeit Europas gefährden. Die Unterstützung dieser Agenda sollte als eine Frage von allgemeinem Interesse angesehen werden.

5.2

Bessere Rechtsetzung sollte sich nicht darauf beschränken, die Gestaltung von Rechtsvorschriften zu verbessern oder einer Inflation von Vorschriften vorzubeugen. Bessere Rechtsetzung umfasst auch, dass durch Förderung der Koregulierung und häufigere Anwendung von Verhaltenskodizes anhand beratender Methoden über Alternativen nachgedacht wird, mit denen ähnliche Ergebnisse erzielt werden können (10). Die Normierung technischer Anforderungen bietet Beispiele für bewährte Verfahren bei der Behandlung dieses komplexen Themas, ohne auf aufwändige Harmonisierungsrichtlinien zurückzugreifen, die mit den Bedürfnissen der Verbraucher und Unternehmen nicht Schritt halten. Die Errungenschaften im Bereich der Herstellung gewerblicher Güter sollten bei anderen Wirtschaftstätigkeiten, insbesondere bei den Dienstleistungen, nachvollzogen werden (11).

5.3

Während es die Kommission unterlässt, solche ergänzenden Maßnahmen zu fördern, wird die Lücke in der Rechtsetzung durch eine zunehmende Zahl nationaler Vorschriften gefüllt, die ihrerseits die Kohärenz des Binnenmarktes untergraben. Mehrdeutigkeiten in der nationalen Rechtsetzung sollten vermieden werden. Vor diesem Hintergrund sollten der Austausch bewährter Verfahren und ein Leistungsvergleich zwischen den Mitgliedstaaten gefördert werden. Eine bessere Rechtsetzung kann nur dann spürbare Ergebnisse für die Bürger bringen, wenn die einzelstaatlichen Behörden in vollem Umfang in den Prozess einbezogen werden. Bei der Umsetzung sollte stets an eine Vereinfachung und eine bessere Rechtsetzung gedacht und von der Wiedereinführung von Hindernissen und Auflagen durch die Hintertür abgesehen werden.

5.4

Die Errungenschaften des Binnenmarktes werden allzu oft durch Hindernisse auf nationaler Ebene konterkariert. Eine Bilanz der Ergebnisse zeigt, dass „ein sehr erheblicher Anteil der Verwaltungslasten (…) anscheinend das Ergebnis ineffizienter öffentlicher und privater Verwaltungspraktiken (zwischen 30 % und 40 %)“ (12) ist. Allerdings werden in der Mitteilung weder Angaben zu diesen Praktiken gemacht, noch werden Maßnahmen ins Auge gefasst, um solchen unliebsamen Tendenzen Einhalt zu gebieten. Der EWSA fürchtet, dass die Einführung zusätzlicher Anforderungen durch die Umsetzung von Richtlinien in innerstaatliches Recht die Durchsetzung gemeinsamer Regeln im Binnenmarkt untergräbt. Er ist der Ansicht, dass auf EU-Ebene mehr getan werden sollte, um den Umfang potenzieller Lasten zu verringern, die von nationalen Verwaltungen eingeführt werden können. Ein umfassenderes Konzept für bessere Rechtsetzung scheint hierbei wesentlich zu sein, nämlich ein Konzept, bei dem nationale Behörden, private Einrichtungen und betroffene Kreise eng einbezogen werden. In Richtlinien sollten nicht nur Mindestanforderungen festgelegt, sondern es sollte auch dem Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Rechtsetzung Grenzen gesetzt werden. Die Regulierung der Telekommunikation ist ein Beispiel für die Festlegung solcher Grenzen zur Eindämmung einseitiger Maßnahmen.

5.5

Der EWSA vertritt ferner die Meinung, dass Mitgliedstaaten von der Umsetzung europäischer Vorschriften, die nicht in nationales Recht umgesetzt werden müssen, Abstand nehmen sollten, um Unsicherheit und mögliche Uneinheitlichkeit zu vermeiden. In der ursprünglichen Agenda aus dem Jahr 2005 wurde vorgeschlagen, Richtlinien in Verordnungen zu überführen, wo immer dies aus Sicht der Verträge machbar und zweckmäßig ist. Diese Idee wurde weder weiterentwickelt noch in der Mitteilung erwähnt. Verordnungen bieten mehr Sicherheit, schaffen einheitliche Bedingungen und können die zeitgleiche Umsetzung von Maßnahmen sicherstellen, was bei Richtlinien oft nicht der Fall ist. Wenn Verordnungen und Leitlinien für staatliche Beihilfen mit anderen Formulierungen und anderem Wortsinn in nationales Recht umgesetzt werden, sollte die Kommission in den Mitgliedstaaten richtungweisend eingreifen. In manchen Fällen könnte das 28. Regime als Möglichkeit in Betracht gezogen werden (13).

6.   Stärkere Mitwirkung von Zivilgesellschaft und Sozialpartnern an der Initiative zur besseren Rechtsetzung

6.1

Der EWSA hat sich in ausführlichen Analysen und unter großem Zeitaufwand mit der Initiative zur besseren Rechtsetzung befasst, hat allgemeine und zielgerichtete Stellungnahmen zur Verbesserung der EU-Rechtsetzung verfasst und die Vorschläge der Kommission eingehend geprüft. Er hat des Weiteren konkrete Vorschläge zur Weiterentwicklung des EU-Rechtsrahmens vorgelegt und Anregungen gegeben, wie die Rechtsetzungsverfahren, die Rechtsvorschriften und ihre Anwendung verbessert werden können (14). Er hat einen integrierten Ansatz der Rechtsetzung unterstützt, indem er die Bedeutung eines aktiven Ansatzes, größerer Transparenz und verbesserter Konsultation sowie einer größeren Verantwortung für Institutionen hervorgehoben hat (15). Zudem hat er die Initiative zur besseren Rechtsetzung ausgeweitet, denn für ihn ist das nationale Recht die notwendige Ergänzung zu den Bemühungen auf EU-Ebene (16).

6.2

Die Binnenmarktbeobachtungsstelle (BBS) des EWSA koordiniert die Standpunkte und die Initiativen der interessierten Kreise, um bewährte Verfahren für eine bessere Rechtsetzung aufzuzeigen. Als institutionelles Forum für die organisierte Zivilgesellschaft zur Vertretung ihrer Standpunkte arbeitet die Beobachtungsstelle eng mit europäischen Institutionen, insbesondere mit der Kommission, zusammen und bietet Beratung und Unterstützung für Themen aus dem Umfeld der besseren Rechtsetzung. Der vorliegenden Stellungnahme liegen somit frühere Beiträge, Beispiele aus der täglichen Zusammenarbeit und bewährte Verfahren zugrunde.

6.3

In Artikel 11 des Vertrags von Lissabon wird dem EWSA eine besondere Rolle bei der Umsetzung des vertikalen und horizontalen Dialogs zugemessen (17). Die Konsultation der betroffenen Kreise zum Thema Reduzierung des Verwaltungsaufwands lässt noch immer zu wünschen übrig. Zwar leistet die Gruppe der hochrangigen Interessenträger einen wertvollen Beitrag, doch sollten auch die europäischen Verbände und Organisationen, die die wichtigsten Interessengruppen vertreten - Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Verbraucher, Umweltschützer und andere Interessen - in stärkerem Maße in den Konsultationsprozess einbezogen werden. Online wurden lediglich 148 Antworten, in Berichten und Schreiben nur 237 Vorschläge zur Reduzierung von bürokratischem Aufwand eingereicht (18). Zivilgesellschaftliche Gruppen müssen stärker in die Initiative zur besseren Rechtsetzung eingebunden werden. Zivilgesellschaftliche Gruppen sind in vielen Bereichen tätig, vermitteln Bürgern, Unternehmen und Arbeitnehmern ihre Werte und unterstreichen die Verpflichtung Europas zu leicht verständlicher und anwendbarer Politik.

6.4

Unter diesem Aspekt ist die Mitteilung zu technokratisch gehalten. Es geht nicht deutlich daraus hervor, welche Vorteile sich für die europäischen Bürger und Unternehmen aus der Initiative zur besseren Rechtsetzung ergeben. Die organisierte Zivilgesellschaft kann hier eine Hilfe sein, indem sie die Ergebnisse bekanntmacht und eine Politik fordert, die die Anwendung der Grundsätze einer besseren Rechtsetzung auf nationaler Ebene und auf EU-Ebene überwacht und unterstützt (19).

6.5

Der EWSA ist der Auffassung, dass im Hinblick auf eine ausgeglichenere Gesamtdarstellung eine engere Einbeziehung der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner angestrebt werden sollte. Interessierte Kreise vertreten allzu oft spezifische Interessen, die mit allgemeineren Interessen von Vertretern der Zivilgesellschaft insgesamt zusammengebracht werden müssen. Die Binnenmarktbeobachtungsstelle und der Ausschuss der Regionen spielen in dieser Beziehung bereits eine aktive Rolle und der EWSA bringt wiederholt seine Bereitschaft zum Ausdruck, enger an der Bereitstellung einer soliden Informationsgrundlage für fundierte Entscheidungen mitzuwirken.

6.6

Der EWSA stimmt der Auffassung zu, dass die EU-Organe ihre Konzepte für eine bessere Rechtsetzung koordinieren müssen. Es müssen umgehend Vereinfachungsmaßnahmen durch die Legislativorgane ergriffen werden. Ebenso wichtig ist es, die ursprünglichen Vorschläge dahingehend zu ändern, dass die Kosten bzw. ihr Nutzen mit Blick auf die Rechtsdurchsetzung klar benannt werden.

6.7

Daher sollten umfangreiche und vergleichende Folgenabschätzungen erstellt werden, unabhängig davon, welche Institution sie durchführt. Im Rahmen der Folgenabschätzungen sollte eine Reihe von Informationsgrundlagen erarbeitet werden, anhand deren die Folgen von Rechtsvorschriften auf wirtschaftliche, soziale und ökologische Bereiche untersucht werden.

6.8

Der EWSA schlägt vor, die Informationsgrundlage für die Folgenabschätzungen im Rahmen der Initiative „Bessere Rechtsetzung“ auf eine breitere faktische Grundlage zu stellen und in stärkerem Maße akademische Kreise einzubeziehen. Die Frage der Erfassung fundierter und objektiver Daten wird wissenschaftlich erforscht und Studierenden wird vermittelt, wie sie solche objektiven Daten hoher Qualität erheben können, die häufig im Rahmen einer Prüfung durch Fachkollegen validiert werden. In politischen Debatten schlägt sich dies jedoch kaum nieder. Die Initiative zur besseren Rechtsetzung würde dadurch zielführender und zugleich könnte ein größerer Teil der europäischen Gesellschaft beteiligt werden.

7.   Spezifische Aspekte

7.1

Eine wirksame Verwendung von EU-Mitteln wird oft von einzelstaatlichen Vorschriften zu staatlichen Beihilfen bzw. dem öffentlichen Auftragswesen beeinträchtigt, die weit über die Anforderungen der Union hinausgehen. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Verbesserung des Rechtsrahmens für EU-Mittel vorrangig zu behandeln. Die geringe Ausschöpfungsrate und die Probleme bei der Mittelzuweisung lassen darauf schließen, dass die Nutzung der EU-Fonds durch einzelstaatliche Rechtsvorschriften behindert wird.

7.2

Der EWSA begrüßt den in der Mitteilung erwähnten Vorstoß zur Mitgestaltung der globalen Ordnungspolitik und die praktischen Schritte, die bereits zur Sicherstellung einer besseren Zusammenarbeit mit den Handelspartnern der EU unternommenen wurden. Europa sollte in diesem Bereich eine führende Rolle übernehmen, indem es sein Fachwissen in den Dienst eines umfassenderen und kohärenten globalen ordnungspolitischen Umfelds stellt. Europa hat einen wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung von Finanzreformen und sollte seine Anstrengungen in allen Bereichen fortsetzen, insbesondere durch die Förderung des Handels durch gemeinsame Standards und eine Erhöhung der Rechtssicherheit für Unternehmen und Direktinvestitionen weltweit.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 26, Ziffer 4.4; ABl. C 24 vom 31.1.2006, S. 39; ABl. C 93 vom 27.4.2007, S. 25.

(2)  ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 6; ABl. C 24 vom 31.1.2006, S. 52; ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 9; ABl. C 93 vom 27.4.2007, S. 25.

(3)  Z.B. die Vorschriften für staatliche Beihilfen oder die öffentliche Auftragsvergabe, die auf Unternehmen Anwendung finden.

(4)  ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 59.

(5)  KOM(2005) 535 endg. vom 25.10.2005.

(6)  Hierzu gehören unter anderem das fortlaufende Vereinfachungsprogramm, die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands, Kodifizierung und Neufassung sowie die Aufhebung veralteter Rechtsakte.

(7)  KOM(2005) 535 endg. vom 25.10.2005; KOM(2007) 23 endg. vom 24.1.2007.

(8)  KOM(2009) 16 endg.

(9)  KOM(2009) 17 endg., Absatz 6.2.

(10)  ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 26.

(11)  KOM(2005) 535 endg. vom 25.10.2005, Absatz 3 d).

(12)  KOM(2009) 16 endg., Absatz 2.3.

(13)  CESE 758/2010 (INT/499, noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(14)  ABl. C 24 vom 31.1.2006, S. 39 und 52.

(15)  ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 26.

(16)  ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 6.

(17)  ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 59. (Artikel 11).

(18)  Siehe KOM(2009) 16 endg., Absatz 5.1.

(19)  ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 9.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/112


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: An die Zukunft denken: Entwicklung einer gemeinsamen EU-Strategie für Schlüsseltechnologien“

KOM(2009) 512 endg.

2011/C 48/20

Berichterstatter: Peter MORGAN

Die Europäische Kommission beschloss am 30. Oktober 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: An die Zukunft denken: Entwicklung einer gemeinsamen EU-Strategie für Schlüsseltechnologien

KOM(2009) 512 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Juli 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 112 gegen 2 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Wirtschafts- und Sozialausschuss befürwortet den Vorschlag, sich auf Schlüsseltechnologien zu konzentrieren. Er bekräftigt die Notwendigkeit einer wirksamen, auf Schlüsseltechnologien ausgerichteten Forschung und Entwicklung in Hochschulen und Forschungszentren zur Förderung der Entwicklung und des Einsatzes von Schlüsseltechnologien in Industrie und Unternehmen.

1.2   Aber dieser Vorschlag erscheint in seiner jetzigen Form lediglich als ein weiterer in einer langen Reihe von EU-Initiativen, mit denen die Innovations- und FuE-Intensität auf dem Binnenmarkt verbessert werden sollen. Frühere Vorhaben waren nicht erfolgreich, wie die Kommission selbst in ihrer nachstehend in Ziffer 3.8 zusammengefassten Analyse der derzeitigen Lage feststellen musste. Deshalb ist ein neues Konzept vonnöten.

1.3   In der Mitteilung heißt es: „Während für die erforderlichen FuE-Maßnahmen und ihre spezifischen Anwendungen überwiegend die Unternehmen die Verantwortung tragen, ist es die Aufgabe der politischen Entscheidungsträger, geeignete Rahmenbedingungen und Förderinstrumente zur Verfügung zu stellen, mit denen die Kapazitäten der EU-Industrie für die Entwicklung von Schlüsseltechnologien gestärkt werden“. Die Zuständigkeit hierfür liegt bei den Mitgliedstaaten, doch hält der Ausschuss diesen Ansatz für problematisch, weil es in den Mitgliedstaaten, wie weiter unten in Ziffer 5 erläutert, nicht genügend High-Tech-Spitzenunternehmen gibt, um Schlüsseltechnologien in ausreichendem Maße einzusetzen.

1.4   Da das Spektrum an großen High-Tech-Unternehmen unvollständig ist, stehen die KMU in der EU vor besonderen Problemen. Manche KMU beginnen klein und werden zu großen Akteuren auf dem Weltmarkt. Die meisten High-Tech-Unternehmensgründungen benötigen Geschäftsbeziehungen zu einem Großunternehmen, das ihr Wachstum und ihr Überleben stützt. Viele KMU werden im weiteren Verlauf von Großunternehmen aufgekauft, die mit solchen Erwerbungen ihre eigenen FuE-Aktivitäten unterfüttern. Da nun einschlägige EU-Unternehmen fehlen, werden US-amerikanische und asiatische Unternehmen zu Partnern oder Eigentümern von KMU aus der EU.

1.5   In dieser Mitteilung wird stillschweigend davon ausgegangen, dass die Interessen der EU genau definiert und bekannt sind; dies ist aber nicht der Fall. Die meisten Unternehmen in dieser Technologiesparte sind multinational oder global. Deren Zentrale und Börsennotierung kann sich überall befinden. Die Aktionäre sind ebenfalls weltweit verstreut. Die Glieder der Wertschöpfungskette Grundlagenforschung, Produktentwicklung, Herstellung und Montage können auf verschiedene Kontinente verteilt sein. Firmenübernahmen können überall dort erfolgen, wo die erforderliche Technologie vorgefunden wird. Markenwerbung und Verkauf werden weltweit erfolgen. Jedes Produkt ist überall erhältlich.

1.6   Wo also liegt das europäische Interesse in diesem Geflecht von Interessen? Es hängt vom Erfolg oder Misserfolg der Mitgliedstaaten bei der Förderung von Unternehmen ab. Es sind mehr Unternehmen erforderlich, um Schlüsseltechnologien einzusetzen. Es müssen Impulse für Firmengründungen und für Unternehmenswachstum gegeben und Anreize für ausländische Investitionen geboten werden. Die vorhandene Unternehmenskultur in Europa muss einer Prüfung unterzogen werden. Seit den Römischen Verträgen und der Einheitlichen Europäischen Akte ist es Europa nicht gelungen, in der technologischen Entwicklung mit der übrigen Welt Schritt zu halten. Die Schlüsseltechnologien sind möglicherweise die letzte Chance für Europa, bei High-Tech-Erzeugnissen und -Dienstleistungen eine führende Rolle zu übernehmen.

1.7   Damit eine solche Politik erfolgreich ist, ist ein Ausbau der Produktionstätigkeit in Europa erforderlich. Dazu muss ein Paradigmen-Wechsel vollzogen werden. Die Vorstellung, dass die Produktion an Entwicklungsländer weitervergeben werden kann, ist nicht länger haltbar. Fertigungstechnik und Technologie sind ausschlaggebend für Innovation in Form von High-Tech-Erzeugnissen. Diese Grundlage für Wettbewerbsvorteile muss wieder nach Europa zurückgeholt werden, und die Entwicklung von jungen Unternehmen im Technologiebereich sollte gefördert werden. Zudem braucht Europa neue Arbeitsplätze.

1.8   Der EWSA betont, dass eine ausgewogene Balance zwischen angewandter Forschung und Grundlagenforschung erforderlich ist. Grundlagenforschung liefert das Saatgut, aus dem heraus langfristig und nachhaltig Innovationen und neue Schlüsseltechnologien wachsen. Eine ausgewogene Balance zwischen angewandter Forschung und Grundlagenforschung ist auch wichtig, um hoch qualifizierte Forscher zu gewinnen.

1.9   Eine EU-zentrierte Strategie lässt sich auf einem globalen Markt nur schwerlich realisieren. Der Ausschuss stellt fest, dass in der Mitteilung keine Leistungsindikatoren, Ziele oder Fristen genannt werden, an denen die Ergebnisse dieser Initiative gemessen werden könnten. Erste Aufgabe der hochrangigen Gruppe sollte es sein, das Programm in eine etwas konkretere Form zu gießen.

1.10   Eine detaillierte Antwort auf die Vorschläge zu Schlüsselindustrien wird in Ziffer 4 erfolgen. Hier seien nur die Hauptpunkte erwähnt:

Gegen das Versagen des Binnenmarktes bei der Förderung von Unternehmen angehen und eine Wirtschaftsstrategie zur Behebung des erheblichen Defizits an europäischen High-Tech-Unternehmen entwickeln;

die Produktionstätigkeit wieder nach Europa holen und die Entwicklung neuer Unternehmen in Europa fördern;

erleichterter Zugang der Unternehmen zu Finanzierungen für innovative Technologien;

finanzielle Anreize, um die EU zu einem lohnenden Standort für innovative Schlüsselindustrien und ihre Vermarktung zu machen;

radikale Reformen der Schulen und Hochschulen zur Heranbildung der erforderlichen Fähigkeiten;

Förderung von Clustern innovativer High-Tech-Unternehmen im Umkreis von Hochschulen und Forschungszentren;

es muss zur Kenntnis genommen werden, dass sich die Welt verändert hat und nun aggressive internationale Handelspolitiken angezeigt sind;

sicherstellen, dass diese Initiative übergreifend angelegt ist und alle verwandten Initiativen sämtlicher Generaldirektionen einbezieht.

1.11   Die Kommission ist zu Recht darüber besorgt, dass sich eine falsch informierte Öffentlichkeit unter Umständen unbesehen gegen die Einführung von Produkten und Dienstleistungen sperrt, die auf Schlüsselindustrien beruhen. Der Ausschuss plädiert für die Einbindung der Zivilgesellschaft, damit die erforderlichen Fortschritte erzielt werden können. Es ist von großer Bedeutung, das Interesse der Öffentlichkeit im Allgemeinen und das der Jugendlichen im Besonderen an der faszinierenden Wissenschaft und Technologie zu wecken, die uns im Alltag begleitet, sei es nun die außerordentliche Kombination von TMT (1) bei Erzeugnissen wie den iPhone-Geräten oder aber die Kombination von Biologie, Chemie, Physik und Logistik, die uns in der Mikrowelle zubereitete Mahlzeiten auf den Tisch bringt. Europa benötigt mehr Wissenschaftler mit dem Ehrgeiz, die Welt zu verändern.

1.12   Gleichzeitig drängt der Ausschuss darauf, dass bei der Entwicklung der – an sich risikobehafteten - Schlüsseltechnologien der Vorsorgeansatz gewählt wird, damit die Probleme für das Klima und die Gesundheit sowie die sozialen Auswirkungen so gering wie möglich gehalten und die Entwicklungen nachhaltig gestaltet werden. Entwicklungen und Entdeckungen werden verhindert, wenn in der Forschung keine Risiken eingegangen werden; wenn allerdings Anwendungen der Schlüsseltechnologien in die Massenproduktion eingehen, dann erwartet der EWSA, dass weder das Wohlergehen der breiten Bevölkerung noch eine nachhaltige Umweltentwicklung aufs Spiel gesetzt werden.

2.   Einleitung

2.1   In Punkt 1 der Mitteilung der Kommission heißt es: „… die EU [braucht] eine starke innovative Akzentsetzung, um möglichst gut für die kommenden großen gesellschaftlichen Herausforderungen gewappnet zu sein“. Die Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf, zu einer Einigung über die Bedeutung des Einsatzes von Schlüsseltechnologien in der EU zu gelangen. Eine solche Einigung ist eine Voraussetzung für den Ausbau der EU zu einer Brutstätte für Innovationen. Sie wird auch benötigt, wenn es darum geht, Europa zu einem internationalen Hauptakteur zu machen, dessen Engagement zu einem höheren Lebensstandard inner- und außerhalb seiner Grenzen führt.

2.2   Die Kommission hat vorgeschlagen, eine hochrangige Sachverständigengruppe einzusetzen, die sich mit den in Ziffer 4 genannten Bereichen befassen soll. Dies ist mittlerweile geschehen. Die hochrangige Gruppe setzt sich aus Sachverständigen der Mitgliedstaaten zusammen. Um Synergieeffekte zu erzielen, sollte diese Gruppe mit anderen mit anderen hochrangigen Expertengruppen, Sachverständigengruppen der Kommission und sonstigen Technologieeinrichtungen zusammenarbeiten.

2.3   Die Gruppe sollte:

die Wettbewerbssituation der relevanten Technologien in der EU unter besonderer Berücksichtigung ihres industriellen Einsatzes und ihres Beitrags zur Bewältigung wichtiger gesellschaftlicher Herausforderungen bewerten;

die verfügbaren öffentlichen und privaten FuE-Kapazitäten für Schlüsseltechnologien in der EU eingehend analysieren und

konkrete Empfehlungen für eine effizientere industrielle Umsetzung von Schlüsseltechnologien in der EU aussprechen.

Der EWSA erwartet von der Gruppe, dass sie ihre Arbeit auf Weitblick, Zielorientierung und einen übergreifenden Ansatz gründet.

3.   Schlüsseltechnologien

3.1   Folgenden Schlüsseltechnologien wird die größte strategische Bedeutung zugesprochen:

3.2   Nanotechnologie ist ein Sammelbegriff, der die Konzeption, Charakterisierung, Herstellung und Anwendung von Strukturen, Geräten und Systemen durch Steuerung der Gestalt und Größe auf der Nanoebene umfasst.

3.3   Bei der Mikro- und Nanoelektronik geht es um Halbleiterbauteile und stark miniaturisierte elektronische Teilsysteme und ihren Einbau in größere Erzeugnisse und Systeme.

3.4   Photonik umfasst die Gebiete der Erzeugung, Messung und Nutzbarmachung von Licht.

3.5   Die fortgeschrittene Werkstofftechnik führt sowohl zur Entwicklung kostengünstigerer Ersatzstoffe als auch zu neuen Produkten und Dienstleistungen mit höherem Mehrwert. Gleichzeitig senkt sie die Ressourcenabhängigkeit und Umweltgefahren sowie das Abfallaufkommen.

3.6   Industrielle Biotechnologie umfasst die Verwendung von Mikroorganismen oder ihren Bestandteilen wie etwa Enzymen zur Herstellung von industriell nutzbaren Produkten, Stoffen und chemischen Bausteinen mit Eigenschaften, die die Möglichkeiten der konventionellen petrochemischen Prozesse übersteigen.

3.7   Hauptziel der Mitteilung ist es, eine gemeinschaftsweite Einigung über die Auswahl der Schlüsseltechnologien zu erzielen. Aus der Wahl der Technologien ergeben sich die entsprechenden Softwareprogramme und Anwendungen. Der Ausschuss ist damit einverstanden, dass weitere Präzisierungen im Zusammenhang mit der Auflistung der hochrangigen Sachverständigengruppe überlassen werden. Er empfiehlt allerdings, auch Hochleistungsrechnen (HPC) und Simulationswissenschaften zu berücksichtigen.

3.8   Nach den Feststellungen der Kommission stehen in der EU einem umfassenderen Einsatz der Schlüsseltechnologien beträchtliche Schwierigkeiten entgegen. Insbesondere war die EU bisher bei Vermarktung und Einsatz der Nanotechnologie sowie einiger Aspekte der Photonik, Biotechnologie und Halbleitertechnik weniger erfolgreich als die USA und einige asiatische Länder. In allen diesen Bereichen werden zwar umfangreiche FuE-Maßnahmen unternommen, es mangelt jedoch an einer zufriedenstellenden Umsetzung dieser Maßnahmen in wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorteile. Hierfür lassen sich mehrere Gründe anführen:

Die Ergebnisse der eigenen Forschung und Entwicklung werden in der EU nicht wirksam genutzt.

Häufig fehlt es der Öffentlichkeit an Kenntnissen und an Verständnis im Zusammenhang mit Schlüsseltechnologien.

Es fehlt an gut ausgebildeten Arbeitskräften mit Kenntnissen, die auf den multidisziplinären Charakter der Schlüsseltechnologien zugeschnitten sind.

Das Volumen der für Schlüsseltechnologien verfügbaren Risikokapitalfinanzierungen und privaten Investitionen ist verhältnismäßig gering.

Die Fragmentierung der politischen Maßnahmen der EU wird häufig durch das Fehlen einer langfristigen Perspektive und Koordinierung verursacht.

In einigen Drittländern werden für Schlüsseltechnologien zuweilen staatliche Unterstützungen gewährt, die oftmals nicht transparent sind und daher genauer analysiert werden müssen.

4.   Die Vorschläge im Einzelnen

4.1   Für eine wirksame industrielle Nutzung von Schlüsseltechnologien gilt es, in zehn Politikbereichen tätig zu werden. Die kursiv gedruckten Textstellen in den nachfolgenden Absätzen entsprechen dem Vorschlag der Kommission:

4.2   Mehr Gewicht auf die Schlüsseltechnologien:

Ein zentrales Ziel der öffentlichen Förderung von FuE und Innovation […] sollte darin bestehen, den Innovationsfluss aufrechtzuerhalten und die Technologieübernahme zu erleichtern.

4.2.1   Der Ausschuss unterstützt voll und ganz den Vorschlag, öffentlich geförderte Programme zu verstärken, um den Auswirkungen der Krise auf die technologische Entwicklung zu begegnen. Der Druck auf die Unternehmensgewinne hält die Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten in Unternehmen zweifellos zurück. Die in den EU-Finanzierungsprogrammen vorgenommene Betonung der Zusammenarbeit ist häufig ein unüberwindliches Hindernis für Existenzgründungen im High-Tech-Bereich mit messianischem Sendungsbewusstsein. Öffentliche Gelder sollten ohne Bedingungen bereitgestellt werden, damit die Anschubfinanzierung gewährleistet ist, solange Innovatoren und Unternehmer am Konzeptnachweis arbeiten.

4.3   Mehr Gewicht auf Technologietransfer und EU-weite Lieferketten:

Das Verfahren des Technologietransfers zwischen den Forschungseinrichtungen und der Industrie muss stärker gefördert werden (2). Leichterer Zugang der KMU zu den in Europa entwickelten Schlüsseltechnologien sowie die Förderung regionaler Innovationscluster und -netzwerke sind grundlegende Bedingungen für die Etablierung und Aufrechterhaltung einer Innovationspolitik der Spitzenklasse.

4.3.1   Diese Maßnahme gilt den Beziehungen zwischen Forschungseinrichtungen und der Industrie, insbesondere den KMU. Hier geht es nicht um Industriecluster im Umkreis von Hochschulen und Forschungszentren. Es besteht ein großer Unterschied zwischen vorhandenen KMU in der industriellen Zuliefererkette, die Zugang zu den neuesten für sie relevanten Technologien benötigen, und kleinen neuen KMU, die gegründet werden, um neue wissenschaftliche oder technologische Entwicklungen aufzugreifen, die etwa aus einem wissenschaftlichen Institut, einer Hochschule oder der Forschungsabteilung eines Unternehmens hervorgegangen sind. Der Ausschuss unterstützt zwar den Vorschlag in der skizzierten Form, plädiert aber auch für entschiedenere Bemühungen zur Verbesserung von Wissenschaft und Technologie an den Hochschulen und der Förderung von Risikokapital für Risikokapitalcluster im Umkreis von Hochschulen.

4.3.2   Damit eine solche Politik Erfolg hat, ist ein Ausbau der Produktionstätigkeit in Europa erforderlich. Dazu muss ein Paradigmen-Wechsel vollzogen werden. Die Vorstellung, dass die Produktion an die Entwicklungsländer weitervergeben werden kann, ist nicht länger haltbar. Fertigungstechnik und Technologie sind ausschlaggebend für Innovation in Form von High-Tech-Erzeugnissen. Diese Grundlage für Wettbewerbsvorteile muss wieder nach Europa zurückgeholt werden. Dies ist auch eine Chance, um Arbeitsplätze zu schaffen. Expandierende Kleinunternehmen sollten Anreize erhalten, in Europa zu produzieren.

4.4   Mehr Gewicht auf gemeinsame strategische Planung und Demonstrationsprojekte:

Sowohl die Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten und Regionen sollten einen stärker strategisch ausgerichteten und koordinierten Ansatz verfolgen, um unnötige und wirtschaftlich nachteilige Doppelarbeit zu vermeiden und FuE-Ergebnisse im Zusammenhang mit Schlüsseltechnologien wirksamer zu nutzen.

Die in den Mitgliedstaaten geförderten Innovationsprogramme (sollten) stärkere Anreize für kooperative gemeinsame Programme der Mitgliedsländer schaffen. In diesem Rahmen könnten dann Größen- und Verbundvorteile ausgeschöpft und strategische Verbindungen zwischen den europäischen Unternehmen erleichtert werden.

Da die Kosten von Demonstrationsprojekten in manchen Fällen die Kosten vorgelagerter FuE-Maßnahmen um eine Größenordnung übersteigen, könnte eine intensivere, EU-weite Zusammenarbeit mit einer stärkeren Einbindung der Industrie und der Nutzer zu einer wirksamen und kostengünstigen Durchführung von Projekten beitragen.

4.4.1   Diese Maßnahme könnte eine Möglichkeit zur Schließung der Lücken im Spektrum der High-Tech-Unternehmen der EU bieten. Entwicklung und Demonstration von Produkten und Dienstleistungen für den Markt, die konkrete Marktbedürfnisse abdecken, könnten Vorgehensweisen sein, um aus kleineren High-Tech-Unternehmen größere zu machen. Der Ausschuss ist der Meinung, dass diese Maßnahme eher auf anwendungsorientierte Wissenschaft und Technologie als auf Grundlagenforschung anzuwenden wäre. Er würde es begrüßen, wenn die Finanzmittel der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten konzentriert würden, um das Marktpotenzial der Technologien zu erschließen, die in so vielen Strategiepapieren und Dokumenten für Zukunftsperspektiven beschworen werden. Es bedarf vereinter Anstrengungen, um die Gründung von Unternehmen und deren anschließenden Aufstieg zu Unternehmen von weltweiter Präsenz und Wettbewerbsfähigkeit zu fördern.

4.4.2   Zusätzliche Synergien könnten genutzt werden, wenn die Initiativen der Kommission zur gemeinsamen Programmplanung im Bereich der Forschung und zur makroregionalen Zusammenarbeit umgesetzt würden. Vor allem für die Zusammenarbeit bei Vorhaben im Bereich der Schlüsseltechnologien sollten besondere Anreize geboten werden.

4.5   Staatliche Beihilfepolitik:

Zielgerichtete staatliche Beihilfen, mit denen Marktdefizite korrigiert werden, stellen ein geeignetes Instrument zur Ankurbelung der FuE und zur Förderung der Innovation in der EU dar. Die Kommission will den 2006 beschlossenen Gemeinschaftsrahmen überprüfen, um die Notwendigkeit weiterer Änderungen zu beurteilen.

4.5.1   Selbstverständlich wollen Unternehmen in der EU nicht mit anderen EU-Unternehmen konkurrieren, die staatliche Hilfen erhalten. Aber aus Sicht des Ausschusses ist das größte Problem der Mangel an großen EU-Unternehmen im Bereich der Spitzentechnologien (wie in Ziffer 5 thematisiert). Der Ausschuss sieht Möglichkeiten für staatliche Maßnahmen in diesen Bereichen, um den Markt zu stimulieren.

4.5.2   Es wären vielleicht besondere politische Maßnahmen angemessen, um einigen Staaten in Ost- und Südeuropa dabei zu helfen, ihre High-Tech-Infrastruktur und ergänzend dazu ihre Infrastruktur für Hochschulforschung beschleunigt auszubauen. Denn möglicherweise kann Forschungspotenzial wegen mangelnder Finanzmittel nicht erschlossen werden.

4.5.3   Es müsste eine Priorität der Kommission sein, sich Klarheit darüber zu verschaffen, warum in der EU im Spektrum der High-Tech-Unternehmen Lücken bestehen und wie sie geschlossen werden könnten. In allen wichtigen Regionen der Welt entstehen High-Tech-Unternehmen aus dem Zusammenspiel von Marktkräften und öffentlichen Maßnahmen. Apple, Google, Microsoft und Dell sind reine Produkte der Marktkräfte. Die bedeutende Raumfahrtindustrie (ESA, EADS) in der EU ist ein Ergebnis staatlicher Maßnahmen. Die Marktkräfte in der EU haben Nokia hervorgebracht, aber ansonsten ist seit Bestehen der EU praktisch kein anderes vergleichbares Unternehmen entstanden. Die Expertengruppe muss Wege finden, wie sich die EU wieder ihren Platz in der globalen IKT-Industrie erobern kann. Wenn die EU im Bereich der erneuerbaren Energien erfolgreich sein will, dann muss sie zudem genau ermitteln, welche Unternehmen die Kapazitäten haben, um neue Kraftstoffe und Energieträger zu entwickeln und zu nutzen. Sie muss solche Unternehmen bei ihrer Expansion unterstützen.

4.6   Kombination des Einsatzes von Schlüsseltechnologien mit der Klimaschutzpolitik:

Die Kombination aus Förderung von Schlüsseltechnologien und Bekämpfung des Klimawandels würde wichtige wirtschaftliche und soziale Möglichkeiten bieten und die Finanzierung des europäischen Anteils der Verpflichtungen erleichtern, die sich aus den internationalen Vereinbarungen ergeben werden.

4.6.1   Nach Ansicht des Ausschusses sollte dabei der Entwicklung von alternativen Kraftstoffen und Technologien für Verkehr, Wärme und Licht Vorrang eingeräumt werden. Die beste Klimaschutzstrategie ist die Entwicklung neuer Energieoptionen (3).

4.7   Leitmärkte und öffentliches Auftragswesen:

Die EU benötigt günstige Rahmenbedingungen für eine wirksame Verwertung von Forschungsergebnissen im Bereich der Produktion. Die Nachfrage muss durch das öffentliche Auftragswesen sowie durch Ansätze wie die Leitmarktinitiative gefördert werden. Die Mitgliedstaaten könnten vorkommerzielle Auftragsvergabe und Auftragsvergabe für groß angelegte, marktnahe Innovationen als Anreiz für neu entstehende Märkte für Schlüsseltechnologien nutzen.

4.7.1   Der Ausschuss befürwortet diesen Vorschlag im Prinzip. Er erwartet von der hochrangigen Sachverständigengruppe die Festlegung vorrangiger Vorhaben, damit diese Maßnahmen den größtmöglichen Erfolg haben.

4.8   Internationaler Vergleich der politischen Maßnahmen im Bereich Spitzentechnologie und verstärkte internationale Zusammenarbeit:

Die Kommission wird einen internationalen Vergleich politischer Maßnahmen im Bereich der Spitzentechnologie in anderen führenden und aufstrebenden Ländern, wie USA, Japan, Russland, China und Indien, durchführen und die Möglichkeiten einer engeren Kooperation ausloten.

4.8.1   Der Ausschuss unterstützt ein umfassendes Programm für den internationalen Leistungsvergleich, um Grundlagen für die Maßnahmen zur Entwicklung der Schlüsseltechnologien zu erhalten (4). Internationale Kooperationen können für groß angelegte Entwicklungen, insbesondere auf dem Gebiet des Klimaschutzes, wertvoll sein, aber die Wettbewerbsfähigkeit muss an erster Stelle stehen. Die Kommission sollte Lehren aus den anderswo auf der Welt verfolgten Industriestrategien ziehen.

4.9   Handelspolitik:

Ein besonderes Augenmerk sollte darauf gelegt werden, günstige Handelsbedingungen für Schlüsseltechnologien mit Hilfe bilateraler und multilateraler Mittel sicherzustellen: Vermeidung von Verzerrungen des internationalen Marktes, leichterer Marktzugang und bessere Investitionsmöglichkeiten, Stärkung der Rechte an geistigem Eigentum und Reduzierung des Einsatzes von Subventionen sowie von tarifären und nichttarifären Hemmnissen auf globaler Ebene.

4.9.1   Nach Auffassung des Ausschusses muss die EU das bisherige Paradigma aufgeben, wonach zwischen entwickelten und in Entwicklung befindlichen Ländern unterschieden wurde, weshalb politische Entscheidungsträger einerseits Subventionen und andere Handelsverzerrungen in Drittstaaten hinnahmen und andererseits in jahrelangen Verhandlungen versuchten, deren Abschaffung zu erreichen. Bei vielen Technologien liegt die EU hinter Asien zurück. Deshalb hält es der Ausschuss für erforderlich, dass die EU nun dazu übergeht, solchen Subventionen und anderen Handelsverzerrungen ihrerseits mit Subventionen und Handelsverzerrungen zu begegnen. Selbstverständlich sollte die EU bereit sein, angemessene Verträge einzugehen, wenn die anderen Parteien ebenfalls bereit sind, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Derweil sollte die EU wirtschaftliche Maßnahmen ergreifen, um ihre Unternehmen und ihre technologische Führungsposition ausbauen.

4.10   Finanzierungsinstrument der EIB und Risikokapitalfinanzierung:

Die Kommission wird weiterhin verstärkte finanzielle Investitionen in Hochtechnologieunternehmen fördern und die Europäische Investitionsbank auffordern, der Hochtechnologieindustrie Priorität beizumessen, indem sie unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise neue Instrumente zur Investitionserleichterung konzipiert.

Es ist eine Stärkung der auf Investitionen in der Frühphase spezialisierten Risikokapitalfonds erforderlich. Die ausreichende Verfügbarkeit von Risikokapital kann mit Hilfe von öffentlich-privaten Partnerschaften sichergestellt werden, die bei der Gründung und Expansion von FuE-intensiven Unternehmen eine entscheidende Rolle spielen.

4.10.1   Geld ist die wichtigste Marktkraft. Mehr umfassendere Quellen der Entwicklungsfinanzierung sind eine Grundvoraussetzung für ein Schlüsseltechnologie-Programm.

4.10.2   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die bürokratischen Formalitäten der bestehenden EU-Investitions- und Finanzierungsverfahren nicht dazu führen dürfen, dass die für die Entwicklung der Schlüsseltechnologien nötigen Finanzmittel in eine andere Richtung gelenkt werden oder ganz ausbleiben.

4.10.3   Bei Investitionen in Spitzentechnologie kann sehr leicht viel Geld verloren gehen. Die Kommission muss weiter als nur auf Risiko- und Bankkapital gleich welcher Form blicken. Vermögende Privatpersonen müssen jeden Anreiz für risikoreiche Investitionen in High-Tech-Neugründungen in der Anlaufphase erhalten, noch bevor Risikokapital eine Rolle spielt. Für FuE im Bereich der Spitzentechnologie sollte es größtmögliche Steuererleichterungen geben, auch die Kapitalgewinne aus dem Verkauf von Neugründungen im High-Tech-Bereich sollten steuerlich begünstigt werden. Denn mit den Belohnungen für Erfolge müssen Verluste bei anderen Investitionen ausgeglichen werden. Die EU kommt Investoren und Unternehmern weniger entgegen als andere Regionen.

4.11   Qualifikationen, Hochschulbildung und Ausbildung:

Den Natur- und Ingenieurwissenschaften muss ein ihnen angemessener Platz in den Bildungssystemen eingeräumt werden. Der prozentuale Anteil der Hochschulabsolventen in diesem Bereich sollte erhöht werden, auch durch die Schaffung von Anreizen für internationale talentierte Wissenschaftler.

4.11.1   Der Umfang der asiatischen Investitionen in Bildung und Qualifikationen ist bekannt. Die Zahl der Universitätsabsolventen mit Doktortitel in Asien übersteigt diejenige in der EU. Die besten EU-Universitäten weisen einen großen Anteil an asiatischen Studenten auf. Da sich der Wohlstand der Nationen im 21. Jahrhundert in den Klassenräumen der Welt entscheidet, werden die meisten EU-Mitgliedstaaten bezüglich der Bildungsbilanz an Schulen oder Universitäten hinter die erforderlichen Standards zurückfallen. Dies zeigt sich an den Vergleichen der globalen Schulleistungen und internationalen Universitäts-Rankings.

4.11.2   Priorität muss also die Verbesserung der Unterrichtsnormen, vor allem in Mathematik und Naturwissenschaften, haben, indem Anreize für Schüler und Studierende geschaffen werden, diese Fächer zu belegen bzw. zu studieren, und für Hochschulabsolventen naturwissenschaftlicher Fächer, den Lehrberuf zu ergreifen. Ferner ist eine Gruppe von Exzellenzuniversitäten zu ermitteln, an denen weltweit konkurrenzfähige Lehr- und Forschungsnormen verwirklicht werden können, und es müssen universitätsnahe Infrastrukturen (Wissenschaftsparks) entwickelt werden, die die Ausgründung von KMU fördern und die erforderliche Anschubfinanzierung sicherstellen.

4.11.3   In vielen Mitgliedstaaten sind die Bildungsprobleme so groß und damit einhergehend das Versagen der Politiker bei der Behandlung dieser Probleme so offensichtlich, dass die Gesellschaft ihre Mittel wie zu einer Feldschlacht einsetzen muss, bis die erforderlichen Ergebnisse sichergestellt sind.

4.11.4   Des Weiteren müssen die Rahmenbedingungen für die Lehre sowie für Forschung und Entwicklung an Hochschulen und Forschungszentren verbessert und attraktiver gestaltet werden. Die EU muss die besten Köpfe aus anderen Regionen gewinnen. Gegenwärtig ist es umgekehrt. Viele der besten Wissenschaftler aus der EU wandern wegen besserer Konditionen in andere Regionen ab (5). Auch die Voraussetzungen für die internationale Mobilität (6) müssen verbessert werden, denn sie ist mittlerweile für eine erfolgreiche Karriere unabdingbar geworden.

4.11.5   Desgleichen ist eine ausgewogene Balance in der Förderung von angewandter Forschung und Grundlagenforschung erforderlich. Grundlagenforschung liefert das Saatgut, aus dem heraus langfristig und nachhaltig Innovationen und auch neue Schlüsseltechnologien erwachsen. Eine derartige ausgewogene Balance ist auch wichtig, um hoch qualifizierte Forscher zu gewinnen.

5.   High-Tech-Industrie

5.1   Der Wirtschafts- und Sozialausschuss ist über den Mangel an global aufgestellten europäischen High-Tech-Unternehmen sehr besorgt. Aus den Listen der Financial Times für 2010 mit den 500 größten Unternehmen (nach Marktwert) auf globaler bzw. regionaler Ebene wurden die beiden Tabellen A und B zusammengestellt, die Aufschluss über die Wirtschaftsbranchen geben, die am besten in der Lage sind, Schlüsseltechnologien einzusetzen.

5.2   Die erste Tabelle ist ein Auszug aus der Liste FT Global 500. Darin befindet sich kein High-Tech-Sektor, in dem Europa weltweit führend wäre, mit Ausnahme des Bereichs Chemie.

FT Global 500 - Technologiebranchen

Branche

Zahl der Unternehmen

 

 

Weltweit

USA

ASIEN

EUROPA

 

Pharmazeutische Industrie/Biotechnologie

20

10

3

6

Novartis*, Roche*, GSK, Aventis, AstraZeneca, Novo Nordisk

Hardware-Technologie

21

13

5

2

Nokia, Ericsson

Software und Computer-Dienste

12

6

5

1

SAP

Automobilindustrie

11

2

6

3

Daimler, VW, BMW

Chemie

13

4

1

5

Bayer, BASF, Air Liquide, Syngenta*, Linde

Medizinische Geräte

12

11

0

1

Fresenius

Allgemeine Technologie

13

4

6

2

Siemens, Thyssen-Krupp

Maschinen- und Anlagebau

11

3

4

4

ABB*, Volvo, Atlas Copco, Alstom

Luftfahrt und Verteidigung

10

7

0

3

BAE Systems, Rolls Royce, EADS

Öl und Gas (Ausrüstungen und Dienstleistungen)

7

4

0

1

Saipem

Freizeitgüter

4

0

3

1

Phillips Electrical

Elektronik und Elektrogeräte

6

2

3

1

Schneider Electric

Alternative Energieträger

1

1

0

0

 

Nicht in dieser Liste aufgeführt sind die Branchen Öl- und Gaserzeugung, industrielle Metalle und Bergbau, Baugewerbe/ Baustoffe, Nahrungsmittel, Getränke und Tabak.

Ebenfalls nicht aufgeführt sind die operativen Branchen wie Festnetz- und Mobilnetzkommunikation, Speditionsbranche, Strom-, Gas- und Wasserversorgung sowie Multi-Utilities (kombinierte Versorgungsdienste).

Für den Raum Asien ist Japan vorherrschend, aber es gibt auch Firmen aus Taiwan, Südkorea, Hongkong, China, Indien und Australien.

Der Raum Europa umfasst die EU und die EFTA. Mit Asterisk (*) versehene Firmen stammen aus der Schweiz.

5.3   Die zweite Tabelle ist ein Auszug aus der Liste der 500 größten Unternehmen in den USA, in Japan und in Europa. Ihr kann der Marktwert der einzelnen Branchen in den drei Regionen entnommen werden. Unter den 13 High-Tech-Branchen ist Europa führend in Chemie, Maschinen- und Anlagebau und alternative Energieträger; die letztere Branche befindet sich noch in der Anfangsphase. Eine beachtliche Position hat Europa auch in den Bereichen pharmazeutische Industrie und Biotechnologie. Japan führt in den Bereichen Automobilindustrie, Elektronik, Elektrogeräte und Freizeitgüter. Auch andere asiatische Länder sind in diesen Bereichen sehr stark vertreten. Die Vereinigten Staaten haben in folgenden Branchen eine führende und beherrschende Position inne: pharmazeutische Industrie und Biotechnologie, Hardware-Technologie, Software und Computerdienste, medizinische Geräte und Dienste, allgemeine Technologie, Luftfahrt und Verteidigung, Öl und Gas (Ausrüstungen und Dienstleistungen). Diese sind für den Einsatz der Schlüsseltechnologien die wichtigsten Branchen.

FT Regional 500 - Technologiebranchen

Branche

Zahl der Unternehmen (#) und ihr Marktwert (Mrd. US-$)

 

USA

JAPAN

EUROPA

 

#

$

#

$

#

$

Pharmazeutische Industrie/Biotechnologie

21

843

24

147

18

652

Hardware-Technologie

34

1 049

18

164

8

140

Software und Computer-Dienste

25

884

12

58

8

98

Automobilindustrie

5

81

37

398

9

186

Chemie

12

182

36

134

18

293

Medizinische Geräte

31

511

4

24

11

94

Allgemeine Technologie

9

344

8

38

6

127

Maschinen- und Anlagebau

11

165

36

185

18

210

Luftfahrt und Verteidigung

12

283

7

84

Öl und Gas (Ausrüstungen und Dienstleistungen)

17

271

9

62

Freizeitgüter

5

42

14

181

1

31

Elektronik und Elektrogeräte

10

124

29

159

6

54

Alternative Energieträger

1

10

2

16

Diese Tabelle ist ein Auszug aus der Liste der Financial Times der 500 Spitzenunternehmen in jedem der drei Großräume. Mischung und Verhältnis der Branchen unterscheiden sich zwischen den Regionen, aber der vergleichbare Marktwert jeder Branche in jeder Region ist eine sinnvolle Messgröße für die jeweilige relative Technologieintensität.

5.4   Aus dieser Übersicht muss der Schluss gezogen werden, dass die EU eine Wirtschaftsstrategie benötigt, mit der ihre Position im Bereich der Schlüsseltechnologien im Jahre 2020 und danach gesichert wird.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Telekommunikation, Medien und (Informations-)Technologie.

(2)  Siehe ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 8.

(3)  Siehe CESE 766/2010 vom 27.5.2010.

(4)  Siehe ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 13.

(5)  Siehe ABl. C 110 vom 30.4.2004, S. 3.

(6)  Siehe ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 100.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/120


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Grünbuch Verknüpfung von Unternehmensregistern“

KOM(2009) 614 endg.

2011/C 48/21

Berichterstatterin: Ana BONTEA

Die Europäische Kommission beschloss am 4. November 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Grünbuch Verknüpfung von Unternehmensregistern“

KOM(2009) 614 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Juli 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 16. September) mit 65 gegen 13 Stimmen bei 18 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss befürwortet den Ausbau und die Verstärkung der Zusammenarbeit von Unternehmensregistern in allen EU-Mitgliedstaaten; diese sollte von Grundsätzen wie Transparenz, Schnelligkeit, Kostensenkung, verwaltungstechnische Vereinfachung, angemessener Schutz von persönlichen Daten und Interoperabilität getragen sein. Im Zuge der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Unternehmensregistern müssen bessere und verlässlichere Registerauskünfte für Gläubiger, Geschäftspartner, Gesellschafter und Verbraucher gewährleistet werden. Das wird zu mehr Rechtssicherheit und einem reibungsloseren Funktionieren des Binnenmarktes beitragen.

1.2   Die Verknüpfung von Unternehmensregistern soll die Ziele zweier strategischer Dokumente widerspiegeln, nämlich der Europa-2020-Strategie (1) und des „Small Business Act“ (SBA) (2). Durch eine Verknüpfung von Unternehmensregistern sollen die Transparenz erhöht und die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen erleichtert, Hindernisse für eine grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit verringert und der Verwaltungsaufwand, insbesondere für KMU, reduziert werden. All dies ist für die Konsolidierung des Binnenmarktes und die Förderung eines ausgewogenen und dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts wichtig, wie die Kommission in ihrer Mitteilung „Vorfahrt für KMU in Europa: Der ‚Small Business Act‘ für Europa“ (KOM(2008) 394 endg.) hervorgehoben hat.

1.3   Der EWSA empfiehlt, den im Grünbuch genannten Zielsetzungen neue hinzuzufügen:

Schaffung eines obligatorischen Instruments der Zusammenarbeit, das die elektronische Vernetzung der einzelstaatlichen Zentralregister erleichtert und verstärkt, insbesondere mit dem Europäischen Justizportal, das dadurch zur wichtigsten Anlaufstelle für Rechtsinformationen in der EU würde, sodass eine wirksame Umsetzung der gesellschaftsrechtlichen Richtlinien ermöglicht würde,

Sicherstellung des Ausbaus der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Unternehmenszusammenschlüssen und Zweigniederlassungen in anderen Mitgliedstaaten und unter Nutzung der Vorteile des Binnenmarkt-Informationssystems (IMI).

1.4   Der Ausschuss begrüßt das Grünbuch grundsätzlich unter dem Vorbehalt, dass eine umfassende Folgenabschätzung erfolgt, und vorausgesetzt, dass den Unternehmen kein zusätzlicher Verwaltungsaufwand entsteht.

1.5   Der Ausschuss vertritt die Ansicht, dass die Verknüpfung von Unternehmensregistern nur dann einen wirklichen Mehrwert hat, wenn das Netzwerk nicht nur die Zentralregister, sondern auch die lokalen und regionalen Register aller 27 Mitgliedstaaten umfasst und die in dem Netzwerk übermittelten Informationen – unabhängig von dem Land ihrer Herkunft – auf dem neuesten Stand, sicher, standardisiert, über ein einfaches Verfahren leicht und in allen Amtssprachen der EU sowie vorzugsweise gebührenfrei (zumindest die grundlegenden Informationen) abzurufen sind.

1.6   Sofern eine Legislativmaßnahme auf EU-Ebene ergriffen wird, hebt der Ausschuss das Erfordernis hervor, die Gelegenheit zu einer Änderung der Offenlegungsbestimmungen zu nutzen, um den Verwaltungsaufwand für Unternehmen, insbesondere KMU, zu reduzieren, ohne dass hierunter die Transparenz leidet; denn es ist zu berücksichtigen, dass die Veröffentlichung von Informationen in nationalen Amtsblättern mit erheblichen zusätzlichen Kosten für die Unternehmen verbunden ist, die allerdings aufgrund der Verfügbarkeit dieser Informationen in Online-Registern keinen wirklichen Mehrwert bringen.

1.7   Eine Regulierungsvereinbarung könnte die Lösung zur Festlegung der technischen Einzelheiten einer Zusammenarbeit der Unternehmensregister sein.

1.8   Um die Ziele des Grünbuchs zu erreichen, empfiehlt der Ausschuss die Wahl einer Lösung, die alle bestehenden Kooperationsmechanismen und Initiativen einbezieht und auf diesen aufbaut, insbesondere auf dem EBR (3), dem BRITE-Projekt (4), dem Binnenmarkt-Informationssystem (IMI) und der E-Justiz-Initiative. Das EBR sollte ausgeweitet und – in Form einer IKT-Serviceplattform und eines wirksamen Prognoseinstruments, das Unternehmensregister in der gesamten EU verbindet und die Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen sowie die Bewertung ihrer Entwicklung fördert – zu einem leistungsfähigen, innovativen, interoperablen System ausgebaut werden, das in das europäische E-Justiz-Portal integriert ist.

1.9   Was die Verbindung des Netzwerks von Unternehmensregistern mit dem durch die Transparenzrichtlinie 2004/109/EG geschaffenen elektronischen Netzwerk betrifft, so ist der Ausschuss der Ansicht, dass nach der Verknüpfung aller Unternehmensregister eine Folgenabschätzung durchgeführt werden sollte.

1.10   In Bezug auf Zweigniederlassungen von Unternehmen in anderen Ländern befürwortet der Ausschuss die Einführung des IMI, da es sich dabei um ein Informationssystem handelt, das einen Rahmen für die Verwaltungszusammenarbeit bietet, mit dem sich die Umsetzung von Rechtsvorschriften zum Binnenmarkt unterstützen lässt.

1.11   Durch die Benennung des zuständigen Gremiums für die Übernahme, Ausweitung und Entwicklung des EBR – das obligatorisch und nicht freiwillig sein sollte – samt Sicherstellung einer angemessenen Finanzierung des Projekts aus EU-Mitteln werden der Aufbau eines die Unternehmensregister aller Mitgliedstaaten umfassenden Netzes für grenzübergreifende Zusammenarbeit beschleunigt und die Ziele auf kurz- und mittelfristige Sicht schneller erreicht werden.

1.12   Ein Netzwerk der Unternehmensregister sollte eine Reihe von Funktionen erfüllen und mehr Instrumente zur Erleichterung der Kommunikation umfassen.

1.13   Einer diesbezüglichen Zusammenarbeit zwischen den nationalen und europäischen Institutionen sowie den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft kommt besondere Bedeutung zu.

2.   Hintergrund

2.1   In der EU gibt es 27 national oder regional geführte Unternehmensregister. In ihnen werden Informationen über in dem betreffenden Land oder der Region gegründete Unternehmen eingetragen, untersucht und gespeichert, und zwar in Übereinstimmung mit den durch die europäischen Rechtsvorschriften geregelten Mindeststandards der Hauptdienste.

2.2   Während allerdings offizielle Informationen über ein Unternehmen problemlos in dem Land zugänglich sind, in dem das Unternehmen eingetragen ist (Unternehmensregister werden seit dem 1. Januar 2007 in fast allen Mitgliedstaaten elektronisch erstellt und sind online verfügbar), kann ein Zugriff auf dieselben Informationen aus einem anderen Mitgliedstaat durch technische (verschiedene Suchbedingungen und Strukturen) oder sprachliche Barrieren behindert werden.

2.3   Es besteht zunehmender Bedarf an einem grenzübergreifenden Zugang zu Unternehmensinformationen entweder für gewerbliche Zwecke oder für einen besseren Rechtsschutz, da Unternehmen die Chancen des Binnenmarkts nützen und verstärkt über die Landesgrenzen hinweg tätig werden. Darüber hinaus betrifft eine Vielzahl von Fusionen und Spaltungen Unternehmen aus verschiedenen Mitgliedstaaten der EU, insbesondere seit der Richtlinie 2005/56/EG, in der die Zusammenarbeit zwischen Unternehmensregistern gefordert wird, und es ist möglich, sich in einem Mitgliedstaat eintragen zu lassen und die Geschäftstätigkeit ganz oder teilweise in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben.

2.4   Eine grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit erfordert die tägliche Zusammenarbeit von nationalen, regionalen oder lokalen Behörden und/oder Unternehmensregistern, und es sind viele Instrumente und Initiativen vorhanden, um die freiwillige Zusammenarbeit zu erleichtern.

3.   Zusammenfassung des Grünbuchs

3.1   In dem Grünbuch „Verknüpfung von Unternehmensregistern“ werden der bestehende Rahmen beschrieben und mögliche Methoden für einen besseren Zugang zu Informationen über Unternehmen in der EU und die Sicherstellung einer wirksameren Anwendung der Gesellschaftsrechtsrichtlinien geprüft.

3.2   Laut Grünbuch hat die Verknüpfung von Unternehmensregistern zwei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Ziele:

Erleichterung des grenzübergreifenden Zugangs zu amtlichen, verlässlichen Informationen über Unternehmen zur Erhöhung der Transparenz im Binnenmarkt und zur Verbesserung des Schutzes von Gesellschaftern und Dritten;

Verstärkung der Zusammenarbeit von Unternehmensregistern im Fall von grenzüberschreitenden Vorgängen, wie grenzüberschreitenden Fusionen, Verlegungen des Firmensitzes oder Insolvenzverfahren, wie in der Richtlinie über grenzüberschreitende Verschmelzungen sowie durch das Statut der Europäischen Gesellschaft und der Europäischen Genossenschaft ausdrücklich vorgeschrieben ist.

3.3   In dem Grünbuch wird eine Übersicht über folgende bestehende Kooperationsmechanismen und -initiativen gegeben:

—   EBR: Ein freiwilliges Projekt, das von Unternehmensregistern aus 18 Mitgliedstaaten und sechs Drittstaaten mit Unterstützung der Europäischen Kommission durchgeführt wurde. Es handelt sich um ein Netz von Unternehmensregistern, dessen Ziel es ist, verlässliche Informationen über Unternehmen anzubieten. Es hat aber auch gewisse Grenzen, wenn es um seine inhaltliche Reichweite und die Zusammenarbeit bei grenzüberschreitenden Vorgängen geht.

—   BRITE: Eine im März 2009 abgeschlossene Forschungsinitiative, die von einigen Partnern des EBR gestartet worden war und großteils von der Europäischen Kommission finanziert wurde. Die Ziele dieses Projekts waren die Entwicklung und Umsetzung eines fortschrittlichen, innovativen Interoperabilitätsmodells, einer IKT-Serviceplattform und eines Verwaltungsinstruments für Unternehmensregister, die in der ganzen EU zusammenwirken, mit einem besonderen Schwerpunkt auf grenzüberschreitende Verlegungen des Firmensitzes, Fusionen und einer besseren Kontrolle der in einem anderen Mitgliedstaat eingetragenen Zweigniederlassungen.

—   Das Binnenmarkt-Informationssystem (IMI): Eine sichere, von der Kommission geleitete, webgestützte Anwendung, die im März 2006 eingerichtet wurde. Dieses geschlossene Netzwerk bietet den zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten ein einfaches Instrument, um die entsprechende Partnerbehörde in den anderen Mitgliedstaaten zu finden und mit dieser schnell und einfach zu kommunizieren. Es wird für die Umsetzung der Richtlinie über Berufsqualifikationen und der Dienstleistungsrichtlinie verwendet.

—   E-Justiz: Eine im Juni 2007 eingeleitete Initiative, mit der die Arbeit der Justizbehörden und Juristen unterstützt und der Zugang der Öffentlichkeit zu gerichtlichen und rechtlichen Informationen erleichtert werden soll. Zu den greifbaren Ergebnissen der Initiative gehört das europäische E-Justiz-Portal, das der Hauptzugangspunkt zu rechtlichen Informationen, rechtlichen und administrativen Institutionen, Registern, Datenbanken und anderen Diensten sein wird. Der Aktionsplan 2009-2013 für die europäische E-Justiz behandelt Fragen der stufenweisen Integration des EBR in das Portal (als Link in der ersten Stufe, wodurch sich dann die Möglichkeit einer teilweisen Integration des EBR ergibt).

3.4   In dem Grünbuch werden drei Optionen einer Weiterentwicklung der bestehenden Kooperationsmechanismen zwischen Unternehmensregistern vorgeschlagen:

Die erste Option sieht die Verwendung der Ergebnisse des BRITE-Projekts und die Benennung oder Errichtung einer Stelle vor, die für die Beibehaltung der erforderlichen, auf alle Mitgliedstaaten ausgeweiteten Dienste verantwortlich ist.

Die zweite Option sieht die Verwendung des IMI-Systems vor, das bereits funktionsfähig ist und in den kommenden Jahren auf neue Bereiche des EU-Rechts ausgeweitet werden kann.

Die dritte Option wäre eine Kombination dieser beiden Optionen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss befürwortet den Ausbau und die Verstärkung der Zusammenarbeit von Unternehmensregistern in allen EU-Mitgliedstaaten, um den Zugang zu amtlichen, verlässlichen Informationen über Unternehmen und Gesellschaften zu erleichtern, die Transparenz im Binnenmarkt sicherzustellen sowie den Schutz von Gesellschaftern und Dritten (z.B. Gläubigern, Geschäftspartnern und Verbrauchern) zu verbessern, insbesondere im Fall von grenzüberschreitenden Vorgängen (wie grenzüberschreitenden Fusionen, Verlegungen des Firmensitzes oder Insolvenzverfahren).

4.2   Eine Prüfung möglicher Methoden für einen besseren Zugang zu Informationen über Unternehmen in der EU und die Sicherstellung einer wirksameren Anwendung der Gesellschaftsrechtsrichtlinien ist eine beachtenswerte Initiative der Kommission. In der Tat begrüßt der Ausschuss das Grünbuch grundsätzlich, wobei zu erwarten ist, dass eine umfassende Folgenabschätzung erfolgen muss, und vorausgesetzt, dass den Unternehmen kein zusätzlicher Verwaltungsaufwand entsteht.

4.3   Die Verknüpfung von Unternehmensregistern sollte die Ziele der beiden strategischen Dokumente widerspiegeln, der EU-2020-Strategie (in der für eine umfangreiche grenzüberschreitende Zusammenarbeit plädiert wird) und des Small Business Act (mit dem beabsichtigt wird, „Kosten und Aufwand für die Unternehmen so gering wie möglich zu halten“, um „wesentlich zu Erfolg und Wachstum von kleineren Unternehmen“ beizutragen, indem „den KMU Zeit und Geld [gespart wird], so dass Ressourcen für Innovationen und die Schaffung von Arbeitsplätzen frei werden“. Dies muss mit einer sorgfältigen Bewertung der Auswirkungen geplanter Rechtsvorschriften und Verwaltungsmaßnahmen einhergehen).

4.4   Durch eine Verknüpfung von Unternehmensregistern sollen die Transparenz erhöht und der Zugang zu offiziellen Informationen über die Unternehmen und die Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen verbessert werden, was für die Konsolidierung des Binnenmarktes und die Förderung eines ausgewogenen und dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts wichtig ist.

5.   Antworten auf die im Grünbuch aufgeworfenen Fragen

5.1   Erfordernis eines verbesserten Netzwerks der Unternehmensregister der Mitgliedstaaten

5.1.1   In der gegenwärtigen Situation befürwortet der Ausschuss den Ausbau und die Verstärkung der Zusammenarbeit von Unternehmensregistern in allen EU-Mitgliedstaaten; diese sollte von Grundsätzen wie Transparenz, Schnelligkeit, Kostensenkung, verwaltungstechnische Vereinfachung, angemessener Schutz von persönlichen Daten und Interoperabilität (automatische Kommunikation mit lokalen und regionalen Registern) getragen sein.

5.1.2   Der Ausschuss vertritt die Ansicht, dass ein Netzwerk der Unternehmensregister nur dann einen wirklichen Mehrwert hat, wenn es die lokalen und regionalen Register aller 27 Mitgliedstaaten umfasst und wenn die innerhalb dieses Netzwerks übermittelten Informationen – unabhängig von dem Land ihrer Herkunft – auf dem neuesten Stand, sicher, standardisiert, über ein einfaches Verfahren leicht und in allen Amtssprachen der EU sowie vorzugsweise gebührenfrei (zumindest für die grundlegenden Informationen) abzurufen sind.

5.2   Zur Festlegung von Einzelheiten der Zusammenarbeit durch eine „Regulierungsvereinbarung“ zwischen den Vertretern der Mitgliedstaaten und der Unternehmensregister

5.2.1   Vorbehaltlich einer Kosten-Nutzen-Analyse als Teil einer umfassenden Folgenabschätzung betont der Ausschuss das Erfordernis, die derzeitige Zusammenarbeit von Unternehmensregistern auszuweiten und zu stärken, und weist darauf hin, dass hierfür alle Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung zum Ausbau ihrer Partnerschaft in diesem Bereich nachkommen müssen, indem sie sich aktiv an der Ausweitung der Zusammenarbeit beteiligen und die grundlegenden Bedingungen regeln.

5.2.2   Sollte sich nach der Folgenabschätzung eine Legislativmaßnahme auf EU-Ebene als erforderlich erweisen, um eine rechtliche Anforderung für eine Zusammenarbeit zwischen den Unternehmensregistern festzulegen, so hebt der Ausschuss das Erfordernis hervor, die Gelegenheit zu einer Änderung der Bestimmungen über die Offenlegung in Registern zu nutzen, um den Verwaltungsaufwand für Unternehmen, insbesondere für KMU, zu verringern, ohne dass die Transparenz hierunter leidet; denn es ist zu berücksichtigen, dass die Offenlegung von Informationen gegenüber nationalen Registeranzeigern mit erheblichen zusätzlichen Kosten für die Unternehmen verbunden ist, die wiederum aufgrund der Verfügbarkeit dieser Informationen in Online-Registern keinen wirklichen Mehrwert bringen.

5.2.3   Es könnte sinnvoll sein, für einige Netzwerkfunktionen eine solidere Rechtsgrundlage zu schaffen. Die Einzelheiten der Zusammenarbeit sollten allerdings durch eine Vereinbarung zur Regulierung des elektronischen Netzes der Unternehmensregister festgelegt werden. Eine solche Vereinbarung sollte zumindest Themen wie die Bedingungen für einen Beitritt zum Netzwerk, die Benennung einer Verwaltungsstelle für das Netzwerk sowie Fragen zu Verantwortungsbereich, Finanzierung und Beilegung von Streitigkeiten, Angelegenheiten wie die Wartung des zentralen Servers sowie die Sicherstellung eines Zugangs der Öffentlichkeit in allen Amtssprachen der EU und auch eine Definition der Mindestsicherheits- und Datenschutzstandards umfassen.

5.3   Ergibt sich durch die Verbindung des Netzwerks von Unternehmensregistern mit dem durch die Transparenzrichtlinie (2004/109/EG) geschaffenen elektronischen Netzwerk langfristig ein Mehrwert?

5.3.1   In Bezug auf die Verbindung des Netzwerks von Unternehmensregistern mit dem durch die Transparenzrichtlinie (2004/109/EG) geschaffenen elektronischen Netzwerk zur Speicherung vorgeschriebener Informationen über notierte Unternehmen ist der Ausschuss der Ansicht, dass dieses Ziel im Anschluss an die umfassende Verknüpfung aller Unternehmensregister verfolgt werden sollte und dass eine Folgenabschätzung hinsichtlich der damit verbundenen technischen Schwierigkeiten, der Wirksamkeit einer derartigen Maßnahme und ihres tatsächlichen Mehrwerts sowie der diesbezüglichen Kosten durchgeführt werden sollte. Vielleicht wäre es angemessener, die Richtlinie 2003/58/EG anzuwenden, durch die elektronische Unternehmensregister eingeführt wurden.

5.3.2   Eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Unternehmensregistern wird auch für mögliche Synergien bei der Offenlegung von Unternehmensinformationen durch andere Stellen vorteilhaft sein (bezüglich einer besseren Transparenz der Finanzmärkte und Verfügbarkeit von finanziellen Informationen über notierte Unternehmen in ganz Europa sowie der Gewährleistung wirksamer grenzüberschreitender Insolvenzverfahren).

5.4   Die beste Lösung für die Erleichterung der Kommunikation zwischen Unternehmensregistern bei grenzüberschreitenden Fusionen und Verlegungen des Firmensitzes

5.4.1   Um die Ziele des Grünbuchs zu erreichen, empfiehlt der Ausschuss die Wahl einer Lösung, die alle bestehenden Kooperationsmechanismen und Initiativen einbezieht und auf diesen aufbaut, insbesondere auf das Europäische Unternehmensregister (EBR), das Binnenmarkt-Informationssystem (IMI), das BRITE-Projekt und die E-Justiz-Initiative. Das EBR sollte auf alle Mitgliedstaaten ausgeweitet und – in Form einer IKT-Serviceplattform und eines wirksamen Prognoseinstruments, das Unternehmensregister in der gesamten EU verbindet und die Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen sowie die Bewertung ihrer Entwicklung fördert – zu einem leistungsfähigen, innovativen, interoperablen System ausgebaut werden, das in das europäische E-Justiz-Portal integriert ist.

5.4.2   Die vom Ausschuss empfohlene Lösung, das EBR auf alle Mitgliedstaaten auszuweiten, seine Funktionalität gestützt auf die Ergebnisse des BRITE-Projekts und die mögliche Verwendung des IMI zu erhöhen und das Netz gleichzeitig in das E-Justiz-Portal zu integrieren, hätte folgende Auswirkungen: Sicherstellung der Kontinuität bereits bestehender Erfahrungen mit der Lenkung und Verwaltung dieser IT-Plattformen und Aufrechterhaltung ihrer Akzeptanz; Vermeidung von Verwirrung, die möglicherweise bei der Einführung eines neuen Instruments entstehen könnte, das ähnliche oder gar identische Informationen wie das EBR bereitstellt, sowie bessere Ausnutzung bereits, auch mit EU-Mitteln, getätigter Investitionen und somit geringere Umsetzungskosten, insbesondere im Fall der Verwendung des IMI oder der Integration des Netzes in das E-Justiz-Portal.

5.5   Lösung für Zweigniederlassungen

5.5.1   Die Informationspflichten für ausländische Zweigniederlassungen nach der Richtlinie 89/666/EWG haben zur Folge, dass die Zusammenarbeit der Unternehmensregister in der Praxis unerlässlich ist, um sicherzustellen, dass Angaben und Urkunden über eine errichtete Zweigniederlassung offengelegt werden. Der Ausschuss befürwortet ein Aufbauen auf den Ergebnissen des BRITE-Projekts und deren Weiterentwicklung sowie eine automatische Bekanntgabe unter den Registern, um zu überprüfen, ob die jeweiligen Daten korrekt und aktuell sind, und so auch die Interessen von Gläubigern und Verbrauchern zu schützen, die in Verbindung mit der Zweigniederlassung stehen.

6.   Besondere Bemerkungen

6.1   Damit die Unternehmensregister uneingeschränkt interoperabel sind, müssen die besten Lösungen für die Beseitigung der derzeitigen technischen (verschiedene Suchbedingungen und Strukturen) und sprachlichen Barrieren erarbeitet werden (mit dem EBR wäre es möglich, dass die Abfrage in allen Sprachen erfolgen kann und die gewünschten Informationen in der Sprache ihrer Abfrage bereitgestellt würden).

6.2   Durch die Benennung des zuständigen Gremiums für die Übernahme, Ausweitung und Entwicklung des EBR samt Sicherstellung einer angemessenen Finanzierung des Projekts aus EU-Mitteln werden der Aufbau eines alle Mitgliedstaaten umfassenden Netzes beschleunigt und die Ziele auf kurz- und mittelfristige Sicht schneller erreicht werden. Künftig sollten alle Einschränkungen in Form hoher Gebühren für die Erfassung in der EBR-Software und deren Nutzung oder für Abonnements überwunden und auf nationaler Ebene bestehende Hindernisse einer Beteiligung abgeschafft werden.

6.3   Die Verknüpfung von Unternehmensregistern sollte nicht auf die Unterhaltung, Entwicklung, Verwaltung und Aktualisierung des Netzwerks und der Software begrenzt sein. Die verknüpften Register sollten ebenso die Beziehungen zwischen den Beteiligten erfolgreich pflegen, das System ausreichend unter den Bürgern und Unternehmen publik machen, an von der EU finanzierten Programmen teilnehmen, die Dienste auf neue Länder ausweiten und sogar gewerbliche Dienste zur Ertragserwirtschaftung erbringen, denn all dies würde dem Aufbau des Netzwerkes zugute kommen.

6.4   Die Verknüpfung der Unternehmensregister sollte mehr Instrumente zur Erleichterung der Kommunikation umfassen: Suchkriterien, von allen Mitgliedstaaten vereinbarte transparente Methoden für den Empfang von Abfragen und die Weiterleitung von Antworten, die Möglichkeit der Ausstellung elektronischer Urkunden und Zertifikate, Instrumente zur Verwaltung von Abfragen/Antworten und Fortschrittsüberwachung, Verfahren zur Einreichung und Beilegung von Klagen/Beschwerden, mehrsprachige Suchoptionen, festgelegte aber bearbeitbare Fragen und Antworten, ein leitender Verantwortlicher mit Kontaktangaben usw.

6.5   Die Initiative der Verknüpfung von Unternehmensregistern sollte so beschaffen sein, dass alle Informationen, deren Offenlegung vorgeschrieben ist, enthalten sind, der Zugang zu diesen Informationen aus den Datenbanken der nationalen Register gewährt wird, der Verwaltungsaufwand für Unternehmen reduziert wird und keine zusätzlichen Gebühren entstehen, insbesondere nicht für KMU. Das IMI erweist sich als ein geeignetes Mittel für eine Erleichterung der Kommunikation zwischen den Unternehmensregistern in den verschiedenen Mitgliedstaaten.

6.6   Bei der Folgenabschätzung sollten folgende Aspekte berücksichtigt werden:

ein einziges Zugangsportal für das Netzwerk der Register;

ein einziger Identifikator für ein Unternehmen auf europäischer Ebene;

ein einheitliches System der Rechnungslegung;

ein europäisches Zertifikat in Form eines innerhalb der EU standardisierten Auszugs aus dem Unternehmensregister;

eine Reihe von Mindestangaben, die auf EU-Ebene harmonisiert sein und angewendet werden sollten, die auch gleichwertige Informationsdienste in allen Mitgliedstaaten umfassen.

6.7   Einer diesbezüglichen Zusammenarbeit zwischen den nationalen und europäischen Institutionen sowie den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft kommt besondere Bedeutung zu.

Brüssel, den 16. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Mitteilung der Kommission: Europa 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, KOM(2010) 2020 endg.

(2)  Mitteilung der Kommission: Vorfahrt für KMU in Europa – Der „Small Business Act“ für Europa, KOM(2008) 394 endg.

(3)  Europäisches Unternehmensregister.

(4)  Business Register Interoperability Throughout Europe (Forschungsinitiative zur Förderung der Verknüpfung der Register).


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgender abgelehnter Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen (Artikel 54 Absatz 3 der Geschäftsordnung):

Ziffer 2.1

Wie folgt ändern:

In der EU gibt es 27 national oder regional geführte Unternehmensregister. In ihnen in Übereinstimmung mit den europäischen Rechtsvorschriften .

Begründung

Erfolgt mündlich.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

22

Nein-Stimmen

:

24

Stimmenthaltungen

:

2

Die folgenden Textstellen der Fachgruppenstellungnahme wurden zugunsten von im Plenum angenommenen Änderungsanträgen abgelehnt, hatten jedoch jeweils mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt:

Ziffer 2.2

Während allerdings offizielle Informationen über ein Unternehmen problemlos in dem Land zugänglich sind, in dem das Unternehmen eingetragen ist (Unternehmensregister werden seit dem 1. Januar 2007 in allen Mitgliedstaaten elektronisch erstellt und sind online verfügbar), kann ein Zugriff auf dieselben Informationen aus einem anderen Mitgliedstaat durch technische (verschiedene Suchbedingungen und Strukturen) oder sprachliche Barrieren behindert werden.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

44

Nein-Stimmen

:

29

Stimmenthaltungen

:

2

Ziffer 4.1

Text hinzufügen:

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss befürwortet den Ausbau und die Verstärkung der Zusammenarbeit von Unternehmensregistern in allen EU-Mitgliedstaaten, um den Zugang zu amtlichen, verlässlichen Informationen über Unternehmen zu erleichtern, die Transparenz im Binnenmarkt sicherzustellen sowie den Schutz von Gesellschaftern und Dritten (z.B. Gläubigern, Geschäftspartnern und Verbrauchern) zu verbessern, insbesondere im Fall von grenzüberschreitenden Vorgängen (wie grenzüberschreitenden Fusionen, Verlegungen des Firmensitzes oder Insolvenzverfahren).

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

49

Nein-Stimmen

:

29

Stimmenthaltungen

:

5

Ziffer 4.4

Durch eine Verknüpfung von Unternehmensregistern sollen die Transparenz und die Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen erhöht, Hindernisse für eine grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit beseitigt und der Verwaltungsaufwand reduziert werden. All dies ist für die Konsolidierung des Binnenmarktes und die Förderung eines ausgewogenen und dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts wichtig.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

50

Nein-Stimmen

:

40

Stimmenthaltungen

:

6

Ziffer 4.5

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die beiden im Grünbuch vorgegebenen Zielsetzungen nicht weit genug gehen, und empfiehlt, zwei weitere Ziele hinzuzufügen. Das Hauptziel bei der Verknüpfung von Unternehmensregistern sollte die Schaffung eines Prognoseinstruments als Managementwerkzeug zur Bewertung der Entwicklung und Leistung der europäischen Unternehmen sein, das als Grundlage für die Erarbeitung der entsprechenden Strategien und Politiken auf allen Ebenen (der europäischen, regionalen und lokalen) dient. Die Verknüpfung von Unternehmensregistern sollte außerdem die Entwicklung der Zusammenarbeit der Unternehmen in der EU untereinander sichern.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

54

Nein-Stimmen

:

44

Stimmenthaltungen

:

7

Ziffer 5.3.1

In Bezug auf die Verbindung des Netzwerks von Unternehmensregistern mit dem durch die Transparenzrichtlinie (2004/109/EG) geschaffenen elektronischen Netzwerk zur Speicherung vorgeschriebener Informationen über notierte Unternehmen ist der Ausschuss der Ansicht, dass dieses Ziel im Anschluss an die umfassende Verknüpfung aller Unternehmensregister verfolgt werden sollte und dass eine Folgenabschätzung hinsichtlich der damit verbundenen technischen Schwierigkeiten, der Wirksamkeit einer derartigen Maßnahme und ihres tatsächlichen Mehrwerts sowie der diesbezüglichen Kosten durchgeführt werden sollte.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

61

Nein-Stimmen

:

31

Stimmenthaltungen

:

8

Ziffer 5.4.1

Um die Ziele des Grünbuchs zu erreichen, empfiehlt der Ausschuss die Wahl einer Lösung, die alle bestehenden Kooperationsmechanismen und Initiativen einbezieht und auf diesen aufbaut, insbesondere auf das Europäische Unternehmensregister (EBR), das BRITE-Projekt und die E-Justiz-Initiative. Das EBR sollte auf alle Mitgliedstaaten ausgeweitet und - in Form einer IKT-Serviceplattform und eines wirksamen Prognoseinstruments, das Unternehmensregister in der gesamten EU verbindet und die Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen sowie die Bewertung ihrer Entwicklung fördert - zu einem leistungsfähigen, innovativen, interoperablen System ausgebaut werden, das in das europäische E-Justiz-Portal integriert ist.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

51

Nein-Stimmen

:

37

Stimmenthaltungen

:

7

Ziffer 5.4.2

Die vom Ausschuss empfohlene Lösung, das EBR auf alle Mitgliedstaaten auszuweiten, seine Funktionalität gestützt auf die Ergebnisse des BRITE-Projekts zu erhöhen und das Netz gleichzeitig in das E-Justiz-Portal zu integrieren, hätte folgende Auswirkungen: Sicherstellung der Kontinuität bereits bestehender Erfahrungen mit der Lenkung und Verwaltung dieser IT-Plattformen und Aufrechterhaltung ihrer Akzeptanz; Vermeidung von Verwirrung, die möglicherweise bei der Einführung eines neuen Instruments entstehen könnte, das ähnliche oder gar identische Informationen wie das EBR bereitstellt, sowie bessere Ausnutzung bereits, auch mit EU-Mitteln, getätigter Investitionen und somit geringere Umsetzungskosten.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

55

Nein-Stimmen

:

33

Stimmenthaltungen

:

7

Ziffer 6.5

Bei der Entscheidung für eine endgültige Lösung müssen die rechtlichen Aspekte hinsichtlich Urheberrecht, Datenübertragung und Schutz persönlicher Daten im Einklang mit dem nationalen und dem EU-Recht gebührend berücksichtigt werden.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

53

Nein-Stimmen

:

42

Stimmenthaltungen

:

3

Ziffer 6.6

Die Initiative der Verknüpfung von Unternehmensregistern sollte darauf gerichtet sein, dass alle offenzulegenden Informationen enthalten sind, der Zugang zu diesen Informationen aus den Datenbanken der nationalen Unternehmensregister gewährt wird, der Verwaltungsaufwand für Unternehmen reduziert wird und keine zusätzlichen Gebühren entstehen, insbesondere nicht für KMU.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

56

Nein-Stimmen

:

33

Stimmenthaltungen

:

3

Ziffer 6.7

Unternehmen, die Dienste anbieten, die denen des neuen Netzwerks der Unternehmensregister ähneln, sollten zur Zusammenarbeit und Partnerschaft angeregt werden.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

53

Nein-Stimmen

:

40

Stimmenthaltungen

:

1

Ziffer 1.3

Der EWSA empfiehlt, den im Grünbuch genannten Zielsetzungen zwei weitere hinzuzufügen:

Schaffung eines Prognoseinstruments zur Bewertung der Entwicklung und Leistung der europäischen Unternehmen, das bei der Erarbeitung der diesbezüglichen Strategien und Politiken auf allen Ebenen eingesetzt wird,

Sicherstellung des Ausbaus der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

54

Nein-Stimmen

:

38

Stimmenthaltungen

:

1

Ziffer 1.8

Um die Ziele des Grünbuchs zu erreichen, empfiehlt der Ausschuss die Wahl einer Lösung, die alle bestehenden Kooperationsmechanismen und Initiativen einbezieht und auf diesen aufbaut, insbesondere auf dem EBR (1), dem BRITE-Projekt (2) und der E-Justiz-Initiative. Das EBR sollte ausgeweitet und – in Form einer IKT-Serviceplattform und eines wirksamen Prognoseinstruments, das Unternehmensregister in der gesamten EU verbindet und die Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen sowie die Bewertung ihrer Entwicklung fördert – zu einem leistungsfähigen, innovativen, interoperablen System ausgebaut werden, das in das europäische E-Justiz-Portal integriert ist.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

51

Nein-Stimmen

:

37

Stimmenthaltungen

:

7

Ziffer 1.10

In Bezug auf Zweigniederlassungen von Unternehmen in anderen Ländern befürwortet der Ausschuss ein Aufbauen auf die Ergebnisse des BRITE-Projekts und deren Weiterentwicklung sowie eine automatische Bekanntgabe unter den Registern.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

56

Nein-Stimmen

:

33

Stimmenthaltungen

:

3

Ziffer 1.11

Durch die Benennung des zuständigen Gremiums für die Übernahme, Ausweitung und Entwicklung des EBR samt Sicherstellung einer angemessenen Finanzierung des Projekts aus EU-Mitteln werden der Aufbau eines die Unternehmensregister aller Mitgliedstaaten umfassenden Netzes beschleunigt und die Ziele auf kurz- und mittelfristige Sicht schneller erreicht werden.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

54

Nein-Stimmen

:

38

Stimmenthaltungen

:

1


(1)  Europäisches Unternehmensregister.

(2)  Business Register Interoperability Throughout Europe (Forschungsinitiative zur Förderung der Verknüpfung der Register).“


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/129


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Vereinfachung der Durchführung von Forschungsrahmenprogrammen“

KOM(2010) 187 endg.

2011/C 48/22

Berichterstatter: Gerd WOLF

Die Europäische Kommission beschloss am 29. April 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Vereinfachung der Durchführung von Forschungsrahmenprogrammen

KOM(2010) 187 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 1. September 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 114 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1   Die Effizienz und Attraktivität der EU-Forschungsrahmenprogramme muss verbessert werden. Dazu ist es erforderlich, ihre Durchführung zu vereinfachen.

1.2   Dementsprechend begrüßt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss die Mitteilung der Kommission und stimmt den dort unterbreiteten Vorschlägen grundsätzlich zu.

1.3   Des Weiteren begrüßt der Ausschuss die Schlussfolgerungen des Rates für Wettbewerbsfähigkeit vom 26. Mai 2010 zur gleichen Thematik.

1.4   Die zunehmende Diversifikation der verschiedenen Teilprogramme und deren Instrumente mit ihren zum Teil sehr unterschiedlichen Regeln und Verfahren haben sich zu einem zentralen Problem der EU-Forschungsförderung entwickelt. Dies führte für Antragsteller und Zuwendungsempfänger zu einer kaum überschaubaren Komplexität, die noch verstärkt wird durch die unterschiedlichen Regelwerke der verschiedenen Mitgliedstaaten und deren Zuwendungsgeber.

1.5   Der Ausschuss empfiehlt daher eine schrittweise Harmonisierung der betreffenden Regeln und Verfahren, als ersten Schritt für die Forschungsförderung der EU, langfristig aber auch zwischen den Mitgliedstaaten untereinander und mit der Kommission. Dann erst wäre der Europäische Forschungsraum vollendet.

1.6   Die Forschungsförderung der EU benötigt eine verbesserte Balance zwischen Freiraum und Kontrolle. Dies betrifft sowohl die Ausgestaltung der Regeln als auch deren Anwendung in der Praxis. Der Ausschuss empfiehlt, einen vertrauensbasierten Ansatz zu verfolgen und in den Mittelpunkt der europäischen Forschungsförderung zu stellen. In diesem Zusammenhang unterstützt der Ausschuss den Vorschlag der Kommission, das tolerierbare Fehlerrisiko für den Forschungsbereich zu erhöhen (1).

1.7   Als weitere konkrete Schritte empfiehlt der Ausschuss weitgehend im Sinne der Mitteilung der Kommission:

Anerkennung der nach den jeweils geltenden nationalen Regeln erfolgten Abrechnungsverfahren der Zuwendungsempfänger;

angemessene und effiziente Anwendung der Regeln in der Praxis;

Pauschalbeträge als Wahloption, aber nicht als Feigenblatt für reduzierte Förderung; tatsächliche Kosten als Grundlage der Berechnung;

größtmögliche Kohärenz und Transparenz der Verfahren;

größtmögliche Kontinuität und Beständigkeit der Rechtsvorschriften und der Verfahren;

erfahrene, international anerkannte Fachexperten als koordinierende Beamte mit ausreichendem Entscheidungsspielraum;

kohärente und durch klare Verfahren bestimmte Audit-Strategie;

Weiterentwicklung der Software-Werkzeuge;

Erstattungsfähigkeit der Mehrwertsteuer;

Vereinfachungen speziell für KMU;

verlässliche, klare und rechtzeitig verfügbare Leitfäden (Gebrauchsanweisungen) für Förderprogramme und Instrumente.

1.8   Dem weiterführenden Vorschlag der Kommission, für das kommende Rahmenprogramm eine „ergebnisorientierte Förderung“ als alternative Fördermethode in Betracht zu ziehen, steht der Ausschuss grundsätzlich skeptisch gegenüber, solange er nicht anhand einer ausführlichen und klärenden Darlegung der Kommission objektiv beurteilen kann, was darunter im prozeduralen Ablauf etc. verstanden werden sollte oder könnte. Davon unbeschadet sollte es selbstverständlich die primäre Aufgabe und Geisteshaltung jeglicher Forschungsförderung sein, wichtige und neuartige Erkenntnisse zu gewinnen, dafür den besten und effizientesten Weg zu wählen sowie die Regelwerke und deren Anwendung diesem Ziel unterzuordnen.

1.9   Neben einer Vereinfachung der rechtlich-administrativen und finanziellen Regeln und Prozeduren ist es aber genauso wichtig, auch die wissenschaftlichen und thematischen Antrags-, Begutachtungs- und Monitoringverfahren zu vereinfachen, um die überbordende Überregulierung und die Vielfalt europäischer, nationaler, regionaler und institutioneller Berichtspflichten, Antragsverfahren, Begutachtungs- bzw. Evaluations- und Genehmigungsprozeduren zu reduzieren und zu harmonisieren.

2.   Die Mitteilung der Kommission

2.1   Die Mitteilung der Kommission gilt dem Ziel, die Durchführung des Europäischen Forschungsrahmenprogramms weiter zu vereinfachen. Die Mitteilung befasst sich primär mit Finanzierungsfragen.

2.2   Die in der Mitteilung dargelegten Möglichkeiten für weitere Vereinfachungen liegen auf drei Ebenen:

—   Ebene 1: Straffung der Vorschlags- und Finanzhilfeverwaltung im Rahmen der bestehenden Regeln

—   Ebene 2: Anpassung der Regeln innerhalb des bestehenden kostenorientierten Systems

—   Ebene 3: Übergang von kostenorientierter zu ergebnisorientierter Förderung.

2.3   Auf der ersten Ebene werden praktische Verbesserungen von Verfahren und Instrumenten vorgestellt, deren Verwirklichung die Kommission bereits eingeleitet hat.

2.3.1   Auf der zweiten Ebene würden die bestehenden Regeln derart geändert, dass gängige Rechnungslegungsverfahren (z.B. durchschnittliche Personalkosten) in größerem Umfang akzeptiert, die Bestimmungen für unterschiedliche Arten von Tätigkeiten und Teilnehmern reduziert, eine Bestimmung für KMU mit geschäftsführenden Eigentümern vorgesehen und eine Änderung des Auswahlverfahrens für Finanzhilfen ermöglicht werden. Die meisten Vorschläge auf dieser Ebene sind an die Gestaltung zukünftiger Rahmenprogramme adressiert.

2.3.2   Auf der dritten Ebene werden Optionen für einen Übergang von kostenorientierter zu ergebnisorientierter Förderung präsentiert. Hierdurch soll eine erhebliche Verschiebung des Berichtswesens und der Kontrollmaßnahmen vom finanziellen zum wissenschaftlich-technischen Bereich erreicht werden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Bedeutung, Effizienz und Attraktivität des FuE-Rahmenprogramms. Das FuE-Rahmenprogramm ist eines der wichtigsten gemeinschaftlichen Instrumente, um die Wettbewerbsfähigkeit und den Wohlstand Europas zu sichern und zu stärken, der neuen Strategie „Europa 2020“ zu genügen und den Europäischen Forschungsraum zu gestalten. Darum ist es notwendig, das Forschungsrahmenprogramm möglichst effizient umzusetzen. Es muss für die besten Wissenschaftler und Institute, aber auch für Industrie und KMU attraktiv sein, sich am Rahmenprogramm zu beteiligen: Daran mitzuwirken muss sich lohnen und als Auszeichnung gelten. Hierfür sind attraktive und effiziente administrative und finanzielle Rahmenbedingungen für die Zuwendungsempfänger unerlässlich.

3.2   Benötigte Vereinfachung. Insgesamt bestand und besteht ein deutlicher Bedarf an wesentlichen Verbesserungen und Vereinfachungen der Verfahren und Regeln. Darum hatte der Ausschuss schon mehrfach angemahnt, die mit der Nutzung des Forschungsrahmenprogramms verbundenen Prozeduren zu vereinfachen, und er hat auch mit Befriedigung festgestellt, dass erste Maßnahmen dazu bereits im 7. FuE-Rahmenprogramm umgesetzt werden.

3.3   Schlussfolgerungen des Rates. Dementsprechend begrüßt der Ausschuss auch die Schlussfolgerungen des Rates vom 28. Mai 2010 (2). Die weiteren Ausführungen und Empfehlungen des Ausschusses sollen auch dazu dienen, die dort angesprochenen Gesichtspunkte zu vertiefen und zu unterstützen.

3.4   Grundsätzliche Zustimmung. Grundsätzlich begrüßt und unterstützt der Ausschuss demzufolge die Initiative der Kommission und die in der Mitteilung aufgezeigten Absichten und Optionen. Zahlreiche vorgeschlagene Maßnahmen sind geeignet, deutliche Verbesserungen herbeizuführen, und werden dementsprechend vom Ausschuss voll unterstützt. Dies gilt z.B. für die Straffung der Vorschlags- und Finanzhilfeverwaltung im Rahmen der bestehenden Regeln oder die breitere Akzeptanz der national anerkannten üblichen Buchführungs- und Rechnungslegungsverfahren der Zuwendungsempfänger. Damit werden jedoch zentrale Ursachen für die bestehende Komplexität noch nicht beseitigt, sondern lediglich abgemildert. Längerfristige Bemühungen sollten daher darauf abzielen, im Sinne des gemeinsamen Binnenmarktes und des Europäischen Forschungsraums auch die zentralen Ursachen der Problematik zu beseitigen.

3.5   Wesentliche Ursache der bestehenden Komplexität. Ein zentrales Problem der EU-Forschungsförderung ist die zunehmende Diversifikation der EU-Programme und -Instrumente. Die gewachsenen Förderinstrumente und -programme haben zum Teil eigene, sehr unterschiedliche Förderregularien und -verfahren (wie JTI nach Art. 187, Initiativen nach Art. 185, EIT, ERA-Nets, PPP etc.). Dies führt zu einer steigenden Komplexität für die Zuwendungsempfänger. Hierdurch wird nicht nur die Effizienz der eingesetzten Mittel behindert, sondern auch die Attraktivität des Rahmenprogramms für die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Dies beeinträchtigt den Erfolg des Rahmenprogramms.

3.5.1   Unterschiedliche Regelwerke der Mitgliedstaaten. Diese Komplexität wird noch verstärkt durch die zum Teil höchst unterschiedlichen Regelwerke der einzelnen Mitgliedstaaten und deren jeweilige nationale Zuwendungsgeber, die ja in den Förderprojekten eine wesentliche, häufig entscheidende Rolle spielen. Um die volle Bedeutung der Problematik zu erfassen, sei daran erinnert, dass bei nahezu allen von der Kommission geförderten Projekten (Ausnahme jene des Europäischen Forschungsrates ERC) eine Beteiligung von Forschern und Zuwendungsgebern aus mindestens drei Mitgliedstaaten (!) vorausgesetzt wird.

3.6   Harmonisierung der Regelwerke. Der Ausschuss empfiehlt daher allen für den Aufbau des Europäischen Forschungsraums verantwortlichen Akteuren, diese Verschiedenheit und Vielfalt an rechtlich-administrativen und finanziellen Regeln im FuE-Rahmenprogramm zu reduzieren: Wir benötigen eine Harmonisierung/Vereinheitlichung und Reduzierung der die FuE-Rahmenprogramme betreffenden Regelwerke. Bewährte Förderinstrumente des Rahmenprogramms müssen identifiziert und kongruent fortgeführt werden. Für alle europäischen FuE-Fördermaßnahmen in Rahmenprogrammen muss ein einheitlicher Rechtsrahmen zur Anwendung kommen.

3.7   Weiterführendes Ziel. Weiterführendes Ziel wäre allerdings, eine Vereinheitlichung der Förderinstrumente und Abrechnungsverfahren (siehe dazu auch Ziffer 4.1) nicht nur innerhalb des FuE-Rahmenprogramms selbst, sondern auch zwischen den Mitgliedstaaten untereinander und mit der Kommission anzustreben. Damit könnten auch einige der bekannten Hindernisse für mehr zwischenstaatliche Mobilität von Wissenschaftlern beseitigt werden. Insgesamt wäre dies ein wesentlicher Schritt, um den Europäischen Forschungsraum zu vollenden. Wenngleich gerade dieses wichtige Ziel heute noch als utopisch angesehen werden könnte, sollte es dennoch mit Geduld und Hartnäckigkeit, vielleicht auch nur schrittweise, angestrebt werden. Denn gerade dies zu erreichen wäre der wesentliche Schritt, um den Europäischen Forschungsraum zu vollenden.

3.7.1   Pluralismus in der Forschung. Derartige Vereinheitlichungen dürfen allerdings keinesfalls dazu führen, den vom Ausschuss als notwendig erachteten Pluralismus von Methoden, Ansätzen und Themenwahl im Bereich der Forschung (3) einzuschränken. Pluralismus (in der Forschung) ist keine Verschwendung, sondern notwendiges Mittel zur Optimierung und Evolution bei der Suche nach neuem Wissen und Können sowie eine Conditio sine qua non für wissenschaftlichen Fortschritt.

3.8   Balance zwischen Freiraum und Kontrolle. Grundsätzlich wird ein angemessenes Verhältnis zwischen Freiraum und Kontrolle benötigt. Dies betrifft sowohl die Ausgestaltung der Regeln selbst als auch deren Anwendung in der Praxis. Solange die Vereinfachung auf der Ebene der Regeln nicht erreicht ist, wird eine flexiblere und pragmatische Anwendung der Regeln in der Praxis umso dringlicher. Bei Anwendung und Auslegung der Regeln muss eine effiziente Projektabwicklung und Verwendung der Mittel gegenüber der Vermeidung jedes Fehlerrisikos Vorrang genießen. Die abstrakt formulierten Normen der Beteiligungsregeln und der Haushaltsordnung räumen dazu Ermessensspielräume ein. Diese sollten konsequent im Sinne einer optimalen Forschungsförderung und effizienten Mittelverwaltung genutzt werden. Der Ausschuss erinnert daher an seine früheren Empfehlungen, grundsätzlich mehr Entscheidungsspielraum der einzelnen Entscheidungsträger innerhalb der Kommission zuzulassen und damit verbunden auch eine höhere Toleranz gegenüber Fehlerrisiken zu gewähren. Die Furcht vor Fehlern oder Fehlverhalten Einzelner darf nicht zur Überregulierung und Lähmung Aller führen. Dies gilt gleichermaßen für die Arbeitsweise von Förderorganisationen und von Forschern.

3.9   Vertrauensbasierter Ansatz. Festgestellte Fehler oder Irrtümer in der Abrechnung der Kosten sind meistens auf die Komplexität der Förderkriterien zurückzuführen und dienen in aller Regel keinem betrügerischen Zweck. Darum sollte deutlicher zwischen Fehlern, Irrtümern und Betrug unterschieden werden. Der Ausschuss empfiehlt daher dem Rat, dem Parlament und der Kommission, einen vertrauensbasierten Ansatz zu verfolgen und in den Mittelpunkt der europäischen Forschungsförderung zu stellen. In diesem Zusammenhang unterstützt der Ausschuss den Vorschlag der Kommission, das tolerierbare Fehlerrisiko für den Forschungsbereich zu erhöhen (4).

3.10   Fachkundige und engagierte Beamte. Die Kommission benötigt für ihre Aufgaben bei der Durchführung des FuE-Rahmenprogramms fachkundige Beamte, deren jeweilige wissenschaftliche Fachkompetenz von der internationalen Wissenschafts-Gemeinschaft anerkannt wird (5). Deren Engagement für optimale Ergebnisse und eine effiziente Programmausführung darf darum nicht über Gebühr durch die angesichts der verwirrenden Komplexität durchaus nachvollziehbare Besorgnis vor möglichen Verfahrensfehlern und deren Folgen beeinträchtigt werden. Dies bedeutet aber auch, für entstandene Fehler nicht im Übermaß haften zu müssen. Auch aus diesem Grund sind Vereinfachung, Flexibilität und mehr Klarheit erforderlich.

3.11   Transparenz als zusätzlicher Kontrollmechanismus. Der seitens des Ausschusses empfohlene und der Effizienz dienliche größere Entscheidungsspielraum der Entscheidungsträger innerhalb der Kommission birgt unvermeidlich auch das Potenzial für zusätzliche Irrtümer oder Begünstigungen. Da der Ausschuss jedoch immer darauf hingewiesen hat, dass auch in der Forschungsförderung vollständige Offenheit und Transparenz erforderlich sind, ergibt sich durch die informierte Nutzergemeinde und deren Reaktionen ein zusätzliches Korrektiv gegen potenzielle Fehlentwicklungen.

3.12   Bedeutung von Kontinuität und Beständigkeit. Der Umgang mit derart komplexen Systemen erfordert einen schwierigen Lernprozess und den Erwerb von Routine; dies gilt sowohl für die Beamten der Kommission als auch für die potenziellen Zuwendungsempfänger, insbesondere auch für KMU, die es sich nicht leisten können, allein für diese Fragen eigene Rechtsabteilungen einzurichten. Verlässliche Kontinuität des Vorgehens erhöht daher nicht nur die Rechtssicherheit, sondern vereinfacht bereits inhärent den weiteren Umgang mit dem System. Also müssen alle beabsichtigten Änderungen, auch wenn sie der Vereinfachung dienen sollen, gegenüber dem Verlust an Kontinuität und Beständigkeit abgewogen werden: die beabsichtigte Vereinfachung muss einen deutlichen Mehrwert gegenüber dem Verlust an Kontinuität und Beständigkeit erbringen.

3.13   Vereinfachung der wissenschaftlichen Antrags- und Begutachtungsprozeduren. Neben einer Vereinfachung der rechtlich-administrativen und finanziellen Regeln und Prozeduren (Ziffern 3.6 und 3.7) ist es aber genauso wichtig, auch die wissenschaftlichen und thematischen Antrags-, Begutachtungs- und Monitoringverfahren zu vereinfachen, um die überbordende Überregulierung und Vielfalt europäischer, nationaler, regionaler und institutioneller Berichtspflichten, Antragsverfahren, Begutachtungs- bzw. Evaluations- und Genehmigungsprozeduren etc. zu vereinfachen, ggf. zusammenzufassen und auf das unbedingt Notwendige zu reduzieren. Der Ausschuss bedauert, dass dieser Aspekt in der Mitteilung der Kommission überhaupt nicht erwähnt wird. Darum empfiehlt der Ausschuss erneut, die Kommission möge sich im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten und deren Repräsentanten darum bemühen, die vielfältigen, einander häufig auch noch überschneidenden Antrags-, Monitoring- und Evaluierungsprozeduren auf institutioneller, nationaler und europäischer Ebene zu harmonisieren und zusammenzufassen. Damit würde einem unnötigen Verschleiß an hochqualifizierten Forschern - generell an „Human Capital“ - entgegengewirkt. Während hierzu im Rahmen des 7. Rahmenprogramms bereits Fortschritte erzielt wurden, ist der größere Teil dieser Aufgabe noch ungelöst. In möglichen Lösungsansätzen ist darauf zu achten, dass eine angemessene Beteiligung der Mitgliedstaaten im Rahmen von Gremien und Ausschüssen am Förderentscheidungsprozess gewahrt bleibt.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Abrechnungsverfahren der Mitgliedstaaten. Die von der Kommission vorgeschlagene „ breitere Akzeptanz gängiger Rechnungslegungsverfahren “ würde nach Meinung des Ausschusses tatsächlich zu einer deutlichen Vereinfachung führen. Dies gilt allerdings nur, falls damit tatsächlich gemeint sein sollte und vom Europäischen Rechnungshof auch anerkannt würde, dass in jedem Mitgliedstaat nach den dort für Forschungsförderung gültigen nationalen Förderregeln auch in den FuE-Rahmenprogrammen verfahren und abgerechnet werden kann. Der Ausschuss ist sich zwar bewusst, dass dies zu gewissen Ungleichbehandlungen führen kann, doch sollten diese zu Gunsten der gewonnenen Vereinfachung in Kauf genommen werden. Der Ausschuss empfiehlt daher mit Nachdruck, diesen Vorschlag der Kommission tatsächlich, effizient und uneingeschränkt für alle Kostenkategorien im Sinne der hier dargelegten Klarstellung umzusetzen.

4.1.1   Erstattungsfähigkeit der Mehrwertsteuer. Bei bestimmten Forschungsvorhaben gehört auch die Mehrwertsteuer zu den anfallenden Kosten. Die Europäische Haushaltsordnung lässt zu, dass Mehrwertsteuer unter bestimmten Voraussetzungen als förderfähig anerkannt werden kann. In den meisten europäischen Förderprogrammen wird diese Regelung auch bereits umgesetzt. Der Ausschuss empfiehlt daher, zukünftig auch in den FuE-Rahmenprogrammen die Mehrwertsteuer als erstattungsfähige Kosten anzuerkennen.

4.2   Begrenzung der Regelvielfalt. Eine Begrenzung der Regelvielfalt in den unterschiedlichen Programmen und Instrumenten erscheint dringend geboten (siehe auch Ziffer 3.6). Dennoch ist eine einzige Lösung für alle Zuwendungsempfänger nicht anzustreben, da ein solcher Ansatz den Belangen der verschiedensten Teilnehmenden an den FuE-Rahmenprogrammen auch unter Vereinfachungsaspekten nicht gerecht werden kann. Daher sollte zumindest die bestehende Unterscheidung der Organisationen erhalten bleiben. Der Ausschuss empfiehlt daher, den von der Kommission unter diesem Titel vorgeschlagenen einheitlichen Finanzierungssatz für alle Organisations- und Tätigkeitsarten nicht einzuführen.

4.3   Versuchsballons zulassen. Die Begrenzung der Regelvielfalt und die Forderung nach Kontinuität und Beständigkeit der Regelwerke (siehe auch Ziffer 3.12) dürfen dennoch nicht zur Erstarrung des Systems führen. Neue Instrumente sollten aber zunächst als Versuchsballon zugelassen und erprobt werden, bevor darüber entschieden wird, sie ins reguläre Regelwerk zu überführen.

4.4   Eindeutige Definitionen und Leitfäden - eine Gebrauchsanweisung. Gerade in komplexen Systemen ist eine klare und eindeutige Definition der Begriffe, Regelwerke, Verfahren und Prozesse entscheidend, um den Akteuren ein effizientes Vorgehen zu ermöglichen. Dies gilt auch für die rechtzeitige Verfügbarkeit verlässlicher von der Kommission erstellter Leitfäden und „Gebrauchsanweisungen“. Zum einen müssen die Leitfäden ausreichend Spielraum gewähren, um unterschiedliche Rahmenbedingungen der Zuwendungsempfänger angemessen zu berücksichtigen. Zum anderen müssen die Zuwendungsempfänger sich auf deren Aussagen verlassen können. Diese Forderung steht nicht in Widerspruch zur nötigen Flexibilität, sondern erlaubt es erst, sie voll zu nutzen. Gerade hier sieht der Ausschuss aber besondere Probleme mit dem letzten und geradezu revolutionären Teil der Vorschläge der Kommission (siehe Ziffer 4.8 weiter unten).

4.5   Kohärente Audit-Strategie. Die zukünftige Audit-Strategie der Kommission ist ein wesentliches Element des Vereinfachungsprozesses (siehe auch Ziffer 3.9 und 4.1). Der Ausschuss empfiehlt daher, die Audit-Strategie mit dem Ziel einer Effizienzsteigerung des FuE-Rahmenprogramms und der Vereinfachung der administrativen Prozeduren neu zu definieren. An dieser Stelle müssten auch die Bedingungen klar dargelegt werden, nach denen die bestehenden Rechnungslegungsverfahren der Mitgliedstaaten inklusive der möglichen Abrechnung von Personalkosten-Durchschnittssätzen überprüft werden sollen.

4.6   Mehr Pauschalbeträge im bestehenden kostenorientierten Konzept. Diesem Vorschlag der Kommission, der durchaus unterschiedliche Kostenarten betreffen kann, stimmt der Ausschuss grundsätzlich zu. Die Kommission sieht darin auch eine Möglichkeit, die Teilnahmebedingungen für KMU zu verbessern. Die Zustimmung des Ausschusses gilt allerdings mit der Einschränkung, dass Pauschalen die tatsächlichen Aufwendungen abdecken müssen, kein Feigenblatt für verminderten Förderumfang sein dürfen und immer nur optional angeboten werden.

4.6.1   Tatsächliche Kosten als Grundlage der Berechnung der Pauschalbeträge. Grundsätzlich muss sich die Höhe der finanziellen Zuwendung - also auch der angebotenen Pauschalbeträge - an den tatsächlichen Kosten der Zuwendungsempfänger orientieren. Nur wenn die Förderung durch das FuE-Rahmenprogramm eine angemessene Höhe erreicht, ist es auch für die leistungsfähigsten Organisationen attraktiv, sich trotz des zu investierenden administrativen und sonstigen Aufwands an den europäischen Forschungsprogrammen zu beteiligen. Und nur dann können die in Wettbewerbsfähigkeit und Innovationsfähigkeit gesetzten Ziele voll erreicht werden.

4.7   Robuste Software-Werkzeuge für das Projektmanagement. Der Einsatz von Web-basierten Systemen für den gesamten Ablauf eines Projekts von Antragsstellung bis Projektabschluss bietet ein großes Potenzial, um den administrativen Aufwand sowohl auf Seiten der Kommission als auch auf Seiten der Antragsteller spürbar zu verringern. Insoweit werden die Bemühungen der Kommission in diese Richtung nachdrücklich begrüßt. Allerdings müssen die von der Kommission erstellten und von den Antragstellern zu nutzenden Werkzeuge fehlerfrei zusammenarbeiten. Aber selbst wenn die im 7. Rahmenprogramm neu entwickelten Software-Werkzeuge die Abläufe innerhalb der Kommission erleichtern, darf dies nicht zu Lasten der Antragsteller gehen. Denn unausgereifte Software (z.B. NEF) und inkonsistente Dokumentenstrukturen (z.B. zwischen den Projektschritten) erzeugen bei allen Antragstellern zusätzlichen und überflüssigen Aufwand. Der Ausschuss empfiehlt, diesen Gesichtspunkt auf allen Projektschritten und Ebenen zu berücksichtigen und für die Zukunft noch mehr Ressourcen in die Weiterentwicklung der Software-Werkzeuge zu investieren.

4.8   Übergang von kostenorientierter zu ergebnisorientierter Förderung. Die Kommission schlägt vor, als besonders neuartige Vereinfachung und alternatives Förderkonzept bereits im kommenden 8. Forschungsrahmenprogramm den Übergang von kostenorientierter zu ergebnisorientierter Förderung in Betracht zu ziehen. Da es primäre Aufgabe und Geisteshaltung jeglicher Forschungsförderung sein muss, neuartige Erkenntnisse zu gewinnen und Ergebnisse zu erzielen und dafür den besten und effizientesten Weg zu wählen, erscheint dieser Vorschlag auf den ersten Blick zunächst besonders attraktiv. Denn selbstverständlich sollten die Regelwerke und deren Anwendung genau dieser Aufgabe dienen und ihr untergeordnet werden.

4.8.1   Vorerst Skepsis. Allerdings erscheint eine A-priori-Vereinbarung von konkreten Ergebnissen in einem Forschungsprojekt problematisch; sie weist Charakterzüge von Auftragsforschung auf. Damit sind nicht nur vergabe- und steuerrechtliche Probleme verbunden, sondern auch Fragen nach dem Verständnis von Forschung selbst. Was ist das Ergebnis von Grundlagenforschung? Darum steht der Ausschuss diesem Vorschlag solange skeptisch gegenüber, bis er anhand einer ausführlichen und klärenden Darlegung der Kommission objektiv beurteilen kann, was unter ergebnisorientierter Förderung konkret zu verstehen ist und welche Instrumente zur Anwendung kommen sollen. Der Ausschuss sieht sich in seiner Skepsis durch die vorsichtige Haltung der Kommission selbst bestätigt, die dazu ausführt: Ergebnisorientierte Konzepte erfordern eine sorgfältige Definition der Resultate auf Einzelprojektebene sowie eine eingehende Analyse zur Festlegung der Pauschalbeträge …. Der Ausschuss empfiehlt darum eine sehr sorgfältige und durchdachte Diskussion unter allen potenziellen Beteiligten, aus der zunächst auch eine klare weitere Mitteilung zur ergebnisorientierten Forschungsförderung hervorgehen sollte, bevor hierzu weitere konkrete Schritte eingeleitet werden.

4.8.2   Machbarkeitsstudie und Definitionen. Aus den dargestellten Gründen würde der Ausschuss eine Machbarkeitsstudie (siehe auch Ziffer 4.3) zur ergebnisorientierten Förderung begrüßen, um deren konkrete Chancen, Risiken, Probleme und möglichen Vereinfachungspotenziale objektiv beurteilen zu können. Statt ergebnisorientierter Forschungsförderung wären vielleicht Begriffe wie „forschungsorientierte Projektförderung (6) (TRANS E science-based funding)“ oder „programmorientierte Forschungsförderung“ besser geeignet.

4.8.3   Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von KMU. Die Kopplung der Zuwendung an später zu erreichende, ungewisse Projektergebnisse könnte insbesondere für KMU problematisch sein. Sollte die Förderungszusage der Kommission mit einer erheblichen Unsicherheit belastet sein, könnte z.B. eine benötigte ergänzende Finanzierung schwer zu erlangen sein.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe dazu auch KOM(2010) 261 endg.

(2)  Rat der Europäischen Union 28. Mai 2010 - Schlussfolgerungen des Rates zu vereinfachten und effizienteren Programmen zur Unterstützung der europäischen Forschung und Innovation 10268/10.

(3)  ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 1., Ziffern 1.10 und 3.14.1.

(4)  Siehe dazu auch KOM(2010) 261 endg.

(5)  Der Ausschuss verweist auf ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 1., wo unter Ziffer 1.12 bereits empfohlen wurde: „Der Ausschuss hält es für notwendig, dass in den Förderorganisationen, insbesondere auch in der Kommission, wissenschaftlich hervorragend ausgewiesene sachkundige Beamte mitwirken, die mit dem jeweils betreffenden Fachgebiet, dessen Besonderheiten und seiner speziellen ‚Community‘ bestens und längerfristig vertraut sind und bleiben (regelmäßige Job-Rotation ist dazu kontraproduktiv!)“.

(6)  Vorschlag der informellen Arbeitsgruppe ‚Implementation FP7‘ unter dem Vorsitz von Herbert Reul (MEP).


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/134


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 97/68/EG hinsichtlich der Vorschriften für gemäß dem Flexibilitätssystem in Verkehr gebrachte Motoren“

KOM(2010) 362 endg. — 2010/0195 (COD)

2011/C 48/23

Alleinberichterstatter: Antonello PEZZINI

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 7. September 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 (AEUV) um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 97/68/EG hinsichtlich der Vorschriften für gemäß dem Flexibilitätssystem in Verkehr gebrachte Motoren

KOM(2010) 362 endg. - 2010/0195 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 1. September 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 16. September) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Ausschuss ist überzeugt, dass es unumgänglich ist, ein Inverkehrbringen zunehmend umweltfreundlicher Motoren für mobile Maschinen und Geräte mit immer geringeren Emissionen an Kohlenstoffmonoxid, Stickstoffoxid, Kohlenwasserstoffen und Partikeln  (1) auf dem europäischen Markt anzustreben, und dies den Zielen der Reduzierung gesundheitsgefährdender und klimaverändernder Emissionen entspricht, die sich die EU bis 2020 gesetzt hat.

1.2   Ebenso ist der Ausschuss überzeugt, dass - vor allem in einer Zeit der weltweiten Finanz-, Wirtschafts- und Beschäftigungskrise - der europäischen Industrie, die Motoren für mobile Maschinen und Geräte herstellt, Folgendes garantiert werden muss:

eine angemessene Wettbewerbsfähigkeit;

Möglichkeiten und Zeit für die Forschung und die technische Entwicklung;

eine angemessene Flexibilität für innovative Anwendungen im Produktionsbereich und die bei den Anlagen (2) erforderlichen Änderungen, durch die eine Erreichung und Einhaltung der vorgesehenen Emissionsgrenzwerte ermöglicht wird, ohne Arbeitsplätze zu gefährden.

1.3   Der Ausschuss befürwortet den Vorschlag der Kommission, in den bereits gemäß der Richtlinie über Motoren für mobile Maschinen und Geräte (3) unter das Flexibilitätssystem fallenden Sektoren den prozentualen Anteil der Motoren, die im Rahmen des Flexibilitätssystems in Verkehr gebracht werden dürfen, von 20 % auf 50 % zu erhöhen, die Gesamtzahl der Motoren, die in den Verkehr gebracht werden dürfen, entsprechend anzupassen und das Flexibilitätssystem auf Triebwagen und Lokomotiven zu erweitern und für sie einen Prozentsatz von 20 % vorzusehen.

1.4   In einer früheren Stellungnahme (4) hat der Ausschuss bereits Folgendes betont: „Durch die Verwendung von Bezugskraftstoff bei der Erteilung der Typgenehmigung für Motoren wird zwar sichergestellt, dass bei ihrem Betrieb die Grenzwerte der Stufe III B eingehalten werden, aber die tatsächliche Einhaltung der neuen Emissionsgrenzwerte ist in der Praxis nur dann möglich, wenn die entsprechenden Kraftstoffe auch wirklich auf dem Markt erhältlich sind.“

1.4.1   Angesichts der Technologie, die für die Erreichung der für Stufe III B (5) für Partikel- und NOx-Emissionen (6) vorgegebenen Grenzwerte erforderlich ist, muss der Schwefelgehalt in zahlreichen Mitgliedstaaten unter das heutige Niveau gesenkt werden und erscheint es notwendig, die Merkmale des Bezugskraftstoffs festzulegen.

1.5   Zur Verwirklichung der Ziele hält der Ausschuss nicht nur die Festlegung strenger Grenzwerte für erforderlich, sondern auch praxisnahe Prüfverfahren, wobei nur in begrenztem Maße auf theoretische Ergebnisse liefernde Laborprüfungen und widersprüchliche Methoden zur Emissionskontrolle zurückgegriffen werden sollte. Darüber hinaus muss das Abgasverhalten der mobilen Maschinen und Geräte im Echtbetrieb genau untersucht werden, nicht nur das Verhalten und die Emissionen der Motoren auf dem Prüfstand.

1.6   Der Ausschuss äußert Bedenken hinsichtlich der Einhaltung der Fristen, die für die Einführung der Stufen III B und IV und der entsprechenden Typgenehmigungsverfahren gesetzt werden, und fragt sich, ob die Umsetzung der Stufe III B nicht um zwei Jahre und die der Stufe IV um drei Jahre verschoben werden sollte, um sicherzustellen, dass die jeweiligen Vorgaben in der Praxis und in vollem Umfang erfüllt werden.

1.7   Nach Ansicht des Ausschuss sind das Flexibilitätssystem, mit dem die Anpassung erleichtert werden soll, und die Umsetzungsfristen für den Übergang von einer zur nächsten Stufe für die KMU besonders belastend und aufwändig, da die für die Anpassung der Geräte und Motoren voraussichtlich anfallenden Kosten und vor allem die FTE-Kosten sowie die für die Konformitätsbewertung anfallenden Kosten für kleinere Unternehmen natürlich eine deutlich größere Belastung darstellen als für große Industrieunternehmen.

1.8   Da „der mechanische Verschleiß mobiler Maschinen und Geräte vermutlich erheblich schneller voranschreitet als der ihrer Motoren“ (7) erachtet es der Ausschuss als wichtig, den während der gesamten Nutzlebensdauer der Motoren abgegebenen Emissionen Rechnung zu tragen, auch nach dem Austauschen mechanischer Teile der Maschinen und Geräte, und allgemein anerkannte technische Nachhaltigkeitsanforderungen zu erlassen, mit denen eine Verschlechterung der Emissionswerte im Zeitverlauf vermieden werden kann.

1.9   Nach Ansicht des Ausschusses sollten die in Anhang I vorgesehenen Typgenehmigungsbögen nicht nur ein Muster der Aufkleber enthalten, die auf den einzelnen mobilen Maschinen und Geräten anzubringen sind, die mit einem im Rahmen des Flexibilitätssystems in Verkehr gebrachten Motor ausgerüstet werden sollen, sowie ein Muster der ergänzenden Kennzeichnung, sondern auch eine ausführliche Beschreibung der Vorrichtungen, die für die Einhaltung der Grenzwerte der Vorschriften, auf deren Grundlage die Typgenehmigung erteilt wurde, verbindlich vorgeschrieben sind.

1.10   Nach Meinung des Ausschusses ist die Förderung gemeinsamer Bemühungen auf europäischer und internationaler Ebene zur Ausarbeitung einheitlicher und allgemein anerkannter technischer Standards wichtig um weltweit den Handel in diesem Sektor voranzutreiben und die in der EU geltenden Emissionsgrenzwerte immer stärker mit den in Drittstaaten angewandten oder vorgesehenen Grenzwerten in Einklang zu bringen.

1.11   Der EWSA empfiehlt die Ausarbeitung aktualisierter Umsetzungsleitlinien, um nicht nur den Motorenherstellern, sondern auch vor allem den Geräteherstellern die Anwendung der für die unterschiedlichen Stufen geltenden Bestimmungen zu erleichtern, sowie eine partizipative Vorausschau bezüglich der Perspektiven für den Umweltschutz im Bereich Motoren für mobile Maschinen und Geräte und die Möglichkeiten zur Schaffung von Anreizen für die Anwendung von Umweltzeichen in diesem Sektor.

1.11.1   Es bedarf einer Informationskampagne, die nicht nur den Herstellern von mobilen Maschinen und Geräten und von Maschinen und Geräten, in die die geänderten Motoren eingebaut werden sollen, sondern auch den Endverbrauchern die Notwendigkeit der Einhaltung der Vorschriften vermittelt, und zwar von den verschiedenen Phasen der Entwicklung emissionsärmerer Tätigkeiten an. Dabei sind mit Hilfe der Sozialpartner und Behörden neue „grüne“ Berufs- und Nutzungsprofile zu entwickeln und zudem ein europäisches System zur Zertifizierung der neuen Kompetenzen sowie geeignete Unterstützungsmechanismen vorzusehen.

2.   Einleitung

2.1   Die Richtlinie 97/68/EG (mobile Maschinen und Geräte) gilt für Motoren mit Kompressionszündung und einer Leistung von 18 kW bis 560 kW. Darin werden die Grenzwerte für Kohlenstoffmonoxid-, Stickstoffoxid-, Kohlenwasserstoff- und Partikelemissionen festgelegt. Es werden nach einem Stufenplan mit bestimmten Fristen immer strengere zulässige Höchstgrenzen vorgesehen, und zwar für Abgasemissionen aus:

Dieselmotoren in Baumaschinen;

land– und forstwirtschaftlichen Maschinen;

Triebwagen und Lokomotiven;

Binnenschiffen;

Motoren mit konstanter Drehzahl;

kleinen Ottomotoren, die in verschiedenen Typen von Maschinen und Geräten zum Einsatz kommen.

2.2   Die Vorschriften für mobile Maschinen und Geräte, zu denen sich der Ausschuss bereits mehrfach geäußert hat (8), wurden im Laufe der Zeit mehrmals geändert, und zwar durch die Richtlinien 2001/63/EG, 2002/88/EG und 2004/26/EG. Mit der letzten Richtlinie wurde ein Flexibilitätssystem eingeführt, um den Übergang zwischen den verschiedenen zugelassenen Emissionsgrenzwerten zu erleichtern.

2.3   In jüngster Zeit wurden mit der Richtlinie 2010/26/EU der Kommission vom 31. März 2010 für Ottomotoren, die in bestimmte kleine handgehaltene Geräte eingebaut sind, der Zeitraum für Ausnahmeregelungen bis zum 31. Juli 2013 verlängert und außerdem gewisse technische Anforderungen für die Typgenehmigung geklärt, die für die Erreichung der Emissionsgrenzwertstufe III B erfüllt sein müssen. Des Weiteren wurde mit dieser Richtlinie das Verwaltungsverfahren für Anwendungen des Flexibilitätssystems vereinfacht.

2.4   Vergleichbare Vorschriften gibt es in den USA und in geringerem Maße in Japan, während andere wichtige Wirtschaftsräume wie China, Indien, Russland oder Brasilien keine einschlägigen Vorschriften haben.

2.5   Das eingeführte Flexibilitätssystem entspricht dem Erfordernis, den Unternehmen eine Anpassung an die neuen Standards zu ermöglichen, da die Mehrzahl der technischen Lösungen, dank derer die Motoren die Grenzwerte von Stufe III B einhalten können, noch nicht ausgereift sind und weiterer Bedarf an Forschung und Entwicklung durch die Gerätehersteller besteht, um zu gewährleisten, dass die mit der Stufe III B konformen Motoren innerhalb der festgelegten Fristen in Verkehr gebracht werden können (9).

2.6   Andererseits wurde die mobile Maschinen und Geräte herstellende europäische Industrie im Herbst 2008 hart von den Auswirkungen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise getroffen, vor allem der Bereich Bau- (10) und landwirtschaftliche Maschinen.

2.6.1   Um die Entwicklung der Industrie vor dem Hintergrund des Umweltschutzes zu sichern, muss Folgendes gewährleistet sein:

Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der Hersteller von mobilen Maschinen und Geräten in Europa und Abmilderung der unmittelbaren Belastungen durch die Wirtschaftskrise;

Befähigung der Industrie, die Finanzierung von FTE im Verlauf der Stufe III B für alle Produkttypen fortzusetzen;

Begrenzung der Emissionen durch Ersetzen alter Motoren mobiler Maschinen und Geräte durch sauberere Motoren.

2.7   Die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Maßnahmen zur Bekämpfung der Emission von gasförmigen Schadstoffen und luftverunreinigenden Partikeln aus Verbrennungsmotoren für mobile Maschinen und Geräte wird durch Gemeinschaftsvorschriften geregelt, die eine gewisse Flexibilität gewähren, indem für die bereits vorgesehenen Anpassungsfristen immer niedrigere Emissionsgrenzwerte festgelegt werden.

2.8   Die Kommission hat sich zum Ziel gesetzt, angesichts der Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der Notwendigkeit, die im Bereich Forschung und technische Entwicklung, innovative Lösungen und technische Normierung erforderlichen Anstrengungen zu verstärken, die starren Vorschriften der Regelung so weit wie möglich abzumildern.

3.   Der Vorschlag zur Änderung der Richtlinie

3.1   Folgende Änderungen an der Richtlinie 97/68/EG werden vorgeschlagen:

3.1.1

während des Übergangs von Emissionsstufe III A zu Emissionsstufe III B: Erhöhung des prozentualen Anteils der Motoren zur Verwendung in landgestützten Geräten und Maschinen, die im Rahmen des Flexibilitätssystems in Verkehr gebracht werden, in jeder Motorenkategorie von 20 % auf 50 % des Jahresabsatzes an Geräten durch den Originalgerätehersteller (Original Equipment Manufacturers, OEM) und, als Alternative, Anpassung der Höchstzahl der Motoren, die im Rahmen des Flexibilitätssystems in Verkehr gebracht werden können;

3.1.2

Möglichkeit, Motoren für Triebwagen und Lokomotiven im Flexibilitätssystem zu berücksichtigen. Dadurch können OEM eine gewisse Anzahl von solchen Motoren im Rahmen des Flexibilitätssystems in Verkehr bringen.

3.1.3

Diese Maßnahmen laufen am 31. Dezember 2013 aus.

3.2   Es wird dementsprechend vorgeschlagen, das bestehende Flexibilitätssystem verstärkt anzuwenden und auf bislang nicht einbezogene Sektoren auszuweiten. Dies wird als beste Lösung erachtet, denn dadurch wird eine Balance zwischen den Umweltauswirkungen einerseits und dem wirtschaftlichen Nutzen durch die Einsparung von Konformitätskosten für die Anpassung des Marktes an die neuen Emissionsgrenzwerte andererseits erzielt.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) stimmt dem Ansatz der Kommission zu, der auf eine größere Flexibilität bei der Einführung der verschiedenen höchstzulässigen Grenzwerte mobiler Maschinen und Geräte im Hinblick auf Kohlenmonoxid-, Stickstoffoxid-, Kohlenwasserstoff- und Partikelemissionen abzielt.

4.2   Der EWSA befürwortet das Anliegen der Kommission, die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsplätze der mobile Maschinen und Geräte herstellenden europäischen Industrie vor dem Hintergrund der Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise zu erhalten, zugleich aber ein hohes Umweltschutzniveau und eine hohe Lebensqualität der EU-Bürger anzustreben.

4.3   Wie er bereits in früheren Stellungnahmen zu den von der Kommission vorgeschlagenen Legislativvorschlägen zur Emissionsreduzierung erklärt hat, befürwortet der EWSA jedwede Gemeinschaftsinitiativen, die auf die Erreichung konkreter Ziele bei der Reduzierung der Treibhausgasemissionen abheben, was er als zentralen Aspekt bei der Eindämmung des Klimawandels sowie beim Umwelt- und Gesundheitsschutz betrachtet.

4.4   Der Ausschuss befürwortet denn auch den Vorschlag der Kommission, bei den gemäß der Richtlinie über mobile Maschinen und Geräte und den anschließenden Änderungen bereits unter das Flexibilitätssystem fallenden Sektoren den prozentualen Anteil der Motoren, die im Rahmen des Flexibilitätssystems in Verkehr gebracht werden, auf 50 % zu erhöhen und außerdem das Flexibilitätssystem auf Triebwagen und Lokomotiven auszuweiten und für sie einen Prozentsatz von 20 % des Jahresabsatzes an mit Motoren der vorgesehenen Kategorie ausgerüsteten Geräten vorzusehen.

4.5   Der EWSA bekräftigt erneut (11), dass die Emissionsvorgaben nur dann erfüllt werden können, wenn die entsprechenden Kraftstoffe auch wirklich auf dem Markt erhältlich sind und weist darauf hin, dass angesichts der Technologie, die für die Erreichung der für Stufe III B und IV für die Partikel- und NOx-Emissionen vorgegebenen Grenzwerte erforderlich ist, in zahlreichen Mitgliedstaaten der Schwefelgehalt unter das heutige Niveau gesenkt werden muss und es notwendig erscheint, einen einzigen Bezugskraftstoff festzulegen, der tatsächlichen Gegebenheiten des Kraftstoffmarkts entspricht (12).

4.6   Der Ausschuss unterstreicht ferner, wie komplex und heikel diese Überprüfung ist. Einerseits sollte damit aus gerechtfertigten Gründen auf eine weitere Reduzierung der Kohlenmonoxid-, Stickstoffoxid-, Kohlenwasserstoff- und Partikelemissionen abgestellt werden und andererseits darf dadurch nicht die Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Sektoren beeinträchtigt werden, die auf einem äußerst hart umkämpften Weltmarkt tätig sind und sich derzeit in einer gewaltigen Krise befinden.

4.7   In diesem Zusammenhang hält der Ausschuss die Förderung gemeinsamer Bemühungen auf europäischer und internationaler Ebene zur Ausarbeitung einheitlicher und allgemein anerkannter technischer Standards für grundlegend wichtig, um den weltweiten Handel voranzutreiben und die in der EU geltenden Emissionsgrenzwerte mit den in Drittstaaten angewandten oder vorgesehenen Grenzwerten in Einklang zu bringen.

4.8   Der EWSA teilt die von einigen Seiten geäußerte Besorgnis, dass die Maßnahmen zu stark auf die Herstellungskosten, die FTE-Kosten und die für die Bewertung der Konformität der mobilen Maschinen und Geräte anfallenden Kosten durchschlagen könnten. Wenn sie nicht eingeplant und über einen längeren Zeitraum verteilt werden, könnten diese Kosten die Beschäftigungslage in den betreffenden Sektoren gefährden.

4.9   Nach Auffassung des EWSA müssen zur Verwirklichung der Ziele nicht nur strengere Grenzwerte festgelegt werden, sondern auch praxisnahe Prüfverfahren. Hierbei sollte verhindert werden, dass nur anhand von Laborprüfungen erzielte Ergebnisse herangezogen und bei der Emissionskontrolle widersprüchliche Strategien angewandt werden. Gleichzeitig sollte genau und eindeutig festgestellt werden, wie sich die Abgase der mobilen Maschinen und Geräte im Echtbetrieb verhalten, und nicht nur ihre Leistung auf dem Prüfstand untersucht werden (13).

4.10   Besonderes Augenmerk sollte auf die in diesem Sektor tätigen KMU gerichtet werden. Der Ausschuss ist der Ansicht, dass aufgrund der Kosten für die Anpassung der Geräte und der Motoren, die für kleinere Unternehmen immer eine deutlich größere Belastung darstellen als für große Industrieunternehmen, das Flexibilitätssystem, das die Anpassung erleichtern soll, die Umsetzungsfristen und die für den Übergang von einer zur nächsten Stufe vorgesehenen Fristen für die KMU besonders belastend sind.

4.10.1   Der EWSA empfiehlt die Ausarbeitung aktualisierter Umsetzungsleitlinien, um nicht nur den Originalmotorenherstellern, sondern auch vor allem den Herstellern der Geräte, in die diese Motoren eingebaut werden sollen, die Anwendung der für die unterschiedlichen Umsetzungsstufen geltenden Bestimmungen zu erleichtern. Begleitend dazu sollten Leitfäden mit bewährten Verfahren erstellt werden und eine partizipative Vorausschau bezüglich der Perspektiven für den Umweltschutz im Bereich Motoren für mobile Maschinen und Geräte und die Möglichkeiten zur Schaffung von Anreizen für die Anwendung von Umweltzeichen in diesem Sektor erfolgen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1   Der Ausschuss äußert Bedenken hinsichtlich der Einhaltung der für die Einführung der Stufen III B und IV und der entsprechenden Typgenehmigungsverfahren vorgesehenen Fristen.

5.1.1   Der EWSA fragt sich, ob die Frist für die Umsetzung der Stufe III B nicht um zwei Jahre und die der Stufe IV um drei Jahre verlängert werden sollte, um sicherzustellen, dass die jeweiligen Vorgaben in der Praxis und in vollem Umfang erfüllt werden.

5.2   Was ANHANG I anbelangt, sollten nach Auffassung des Ausschusses die vorgesehenen Typgenehmigungsbögen nicht nur ein Muster der Aufkleber enthalten, die auf den einzelnen mobilen Maschinen und Geräten anzubringen sind, die mit einem im Rahmen des Flexibilitätssystems in Verkehr gebrachten Motor ausgerüstet werden sollen, sowie ein Muster der ergänzenden Kennzeichnung, sondern auch eine ausführliche Beschreibung der Vorrichtungen, die für die Einhaltung der Grenzwerte der Vorschriften, auf deren Grundlage die Typgenehmigung erteilt wurde, verbindlich vorgeschrieben sind.

5.3   Schließlich hält es der Ausschuss für erforderlich, dass die Kommission dem Europäischen Parlament, dem Rat und dem Ausschuss selbst einen auf der Grundlage der von den Herstellerunternehmen, Nutzern und Mitgliedstaaten bereitgestellten Daten erarbeiteten Bericht über den Stand der Umsetzung der vorgeschlagenen Richtlinie und über die Wirkung vorlegt, die mit diesem Regelwerk sowohl in Bezug auf ihre Relevanz für den Arbeitsmarkt als auch auf eine konkrete Emissionsreduzierung und den Beitrag der mobilen Maschinen und Geräte zum Umweltschutz und zur Verwirklichung der „20-20-20“-Ziele der EU erzielt werden konnte.

Brüssel, den 16. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  CO, Nox, HC, PM

(2)  Die Hersteller müssen die Konstruktion ihrer Maschinen und Geräte vollständig an die neuen Motoren, die darin eingebaut werden sollen, anpassen.

(3)  Richtlinie 97/68/EG.

(4)  ABl. C 220 vom 16.9.2003, S. 16.

(5)  Ab dem 1.1.2011.

(6)  Siehe Fußnote 1.

(7)  Siehe Fußnote 4.

(8)  ABl. C 407 vom 28.12.1998, ABl. C 260 vom 17.9.2001, S. 1, ABl. C 220 vom 16.9.2003, S. 16.

(9)  SEK(2010) 828 vom 7.7.2010, Begleitpapier zu dem Vorschlag KOM(2010) 362 endg.

(10)  http://ec.europa.eu/enterprise/sectors/mechanical/non-road-mobile-machinery/publications-studies/index_en.htm

(11)  Siehe Fußnote 4.

(12)  Siehe Richtlinie 2003/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. März 2003 über die Qualität von Otto- und Dieselkraftstoffen.

(13)  Siehe insbesondere die Arbeiten der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen in Bezug auf „Exhaust emissions test protocol of non-road mobile machinery (NRMM) – Draft global technical regulation concerning the test procedure for compression-ignition (C.I.) engines to be installed in agricultural and forestry tractors and in non-road mobile machinery with regard to the emissions of pollutants by the engine“.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/138


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates“

KOM(2010) 94 endg. — 2010/0064 (COD)

2011/C 48/24

Berichterstatterin: Madi SHARMA

Der Europäische Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 22. Juli 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates

KOM(2010) 94 endg. – 2010/0064 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 2. September 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 110 Ja-Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA verurteilt aufs Schärfste sexuellen Missbrauch und sexuelle Ausbeutung von Kindern und lobt die Kommission für die Intensivierung des europäischen Engagements zur Bekämpfung des Kindesmissbrauchs, indem sie den Rahmenbeschluss 2004/68/JI durch eine neue, sachgerechtere Richtlinie ersetzen will. Die Schwere der Verbrechen, das Ausmaß der Schäden und der Grad der Gefahr und Verletzbarkeit von Kindern überall auf der Welt darf niemals unterschätzt werden. Kinderschutz muss auf allen Ebenen eine Priorität sein, und Opfern wie Straftätern muss maximaler Beistand zur Rehabilitation gewährt werden, um den künftigen Schutz der Gesellschaft zu fördern.

1.2

Der EWSA wiederholt seine Forderung an die Mitgliedstaaten, die noch nicht tätig geworden sind, und an die Europäische Union, im Rahmen des neuen Vertrags von Lissabon dringend das Übereinkommen des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch und das Fakultativprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie zu unterzeichnen und zu ratifizieren, damit die Union imstande ist, ihren Umgang mit europäischen Bürgern, die Kinder missbrauchen, effektiv zu überarbeiten (1). Die Europäische Union kann über bilaterale Abkommen auf andere Staaten (z.B. Russland, Bosnien und Herzegowina) Einfluss nehmen, damit auch sie der Konvention beitreten. Wirksamer als die einzelstaatlichen Ratifizierungen wird eine Übernahme von Bestimmungen der Übereinkommen in EU-Recht sein, um eine rasche Übernahme nationaler Maßnahmen zu erleichtern und eine bessere Überwachung der Durchführung zu gewährleisten.

1.3

Ein Rechtsrahmen ist wichtig, um die Verfolgung und Verurteilung von Sexualstraftätern handhaben zu können. Doch von größter Bedeutung sind Präventionsmaßnahmen in ganz Europa, die mit den Rechtsvorschriften einhergehen müssen. Sie werden zwar in der Richtlinie als Ziel betont, aber nur unzureichend behandelt. Der EWSA könnte eine Stellungnahme zur Überprüfung der Präventionsmaßnahmen abgeben und die dabei bewährtesten Verfahren der Zivilgesellschaft und der staatlichen Stellen weltweit herausarbeiten.

1.4

Der EWSA empfiehlt die Schaffung einer Plattform für den Austausch von bewährten Verfahren zur Bekämpfung dieser Straftaten mit legislativen und nichtlegislativen Maßnahmen und zur Entwicklung von methodischen Instrumenten und Ausbildungsmaßnahmen. Sie sollte mit einer engeren Zusammenarbeit zwischen den zivilgesellschaftlichen Organisationen, den Sozialpartnern und den NRO einhergehen, um die Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung auf der lokalen Ebene zu unterstützen.

1.5

Der EWSA fordert die EU-Organe (Europäische Kommission, Rat und Parlament) auf, mittels ihrer einflussreichen und privilegierten Position gemeinsam Druck auf Drittstaaten auszuüben, insbesondere in den wohlhabenden Staaten der Welt (z.B. USA, Kanada, Japan, Australien und Russland), um die Entfernung von Internetseiten zu verlangen, auf denen pornografisches Material mit Kindern gespeichert ist. Die EU muss auch nachdrücklicher auf ein verantwortungsvolles Handeln seitens der ICANN dringen (2).

1.6

Der EWSA möchte, dass die Entfernung von Internetseiten mit Kinderpornografie prioritär behandelt wird; nur falls dies nicht möglich ist, sollten sie gesperrt werden. In diesem Zusammenhang könnte der EWSA nach Konsultierung der mit diesem Thema befassten Fachleute und der Zivilgesellschaft eine Stellungnahme zu den Vor- und Nachteilen einer Entfernung bzw. Sperrung abgeben.

1.7

Der EWSA möchte die Mitgliedstaaten ermuntern, bei Gelegenheit dieser neuen Richtlinie eine Debatte über die Festlegung eines europaweiten Mindestalters der sexuellen Mündigkeit zu eröffnen. Vor dem Hintergrund der Mobilität, der Einwanderung und des Wandels der gesellschaftlichen Werte in Europa müssen Erörterungen und Konsultationen darüber stattfinden, welchen Einfluss „Traditionen“ diesbezüglich haben.

1.8

Der EWSA empfiehlt der Kommission, eindeutige Begriffsbestimmungen für bestimmte Termini vorzunehmen, die andernfalls bei der Übernahme in nationale Gesetze zu Unklarheiten führen könnten.

1.9

Der EWSA fordert, dass die Richtlinie für alle Mitgliedstaaten einheitliche Fristen festsetzt. Wo sinnvoll, möchte der EWSA noch weiter gehen und auch empfehlen, dass die Verjährungsfrist erst beginnt, wenn das Opfer 18 Jahre alt geworden ist.

1.10

Der EWSA wurde in seiner Arbeit von vielen NRO und Fachleuten im Bereich des Kinderschutzes unterstützt, auf deren Webseiten Empfehlungen zur neuen Richtlinie zu finden sind (3). Der EWSA würdigt die lobenswerte Arbeit aller NRO, die überall in der Welt zum Schutz der Kinder tätig sind, und zollt den europäischen Institutionen, dem Europarat und den Vereinten Nationen Anerkennung dafür, dass sie die rechtliche Handhabe für den Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung bereitstellen.

2.   Gründe für die Richtlinie und ihre Zielsetzung

2.1

Die Union anerkennt die in Artikel 3 (EUV) des Vertrags über die Europäische Union und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, vor allem in Artikel 24, verankerten Rechte des Kindes und seine Rechtsgrundlage, in der die konkrete Verpflichtung festgeschrieben ist, den notwendigen Schutz der Kinder sicherzustellen, was in Einklang mit der UN-Konvention über die Rechte des Kindes steht und erfordert, dass bei allen Maßnahmen für Kinder die Sorge für deren Wohl an erster Stelle stehen muss. Dies führte zu gezielten Maßnahmen der Förderung, Sicherung und Durchsetzung der Kinderrechte und der EU-Strategie für die Jugend in allen internen und externen Politikbereichen der EU.

2.2

Die neue Richtlinie steht im Einklang mit Vorschlägen zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Opferschutz sowie mit dem Programm zur Förderung der sicheren Nutzung des Internet und greift sachbezogenere verfahrensrechtliche und strafrechtliche Vorschriften zum Kinderschutz aus den Mitgliedstaaten auf. Damit wird die Wirksamkeit der Präventionsmaßnahmen in der EU insgesamt verbessert, indem etwa verhindert wird, dass Straftäter in einen Mitgliedstaat mit weniger strengen Vorschriften umziehen, um dort ihre Straftaten zu begehen. Gemeinsame Begriffsbestimmungen würden den Austausch von sachdienlichen gemeinsamen Daten ermöglichen, deren Vergleichbarkeit verbessern und die internationale Zusammenarbeit erleichtern.

2.3

Durch die neue Richtlinie werden erfasst:

neue Straftaten mittels Informationstechnologie einschließlich der neuen Straftat des „Grooming“;

Bestimmungen zur Erleichterung der Strafermittlung und Anklageerhebung;

Verfolgung von im Ausland begangenen Straftaten von Straftätern mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats oder mit gewöhnlichem Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, auch dann, wenn die Straftat außerhalb der EU begangen wird;

neue Opferschutzbestimmungen, die gewährleisten, dass die Opfer leichten Zugang zu Rechtsbehelfen haben und ihre Teilnahme an Strafverfahren ihnen nicht zum Nachteil gerät;

Prävention von Straftaten durch Maßnahmen, die sich auf frühere Straftäter konzentrieren, um Wiederholungstaten zu verhindern, und die den Zugang zu Kinderpornografie im Internet beschränken.

3.   Allgemeine Bemerkungen zu der Begründung

3.1

In Erwägung, dass „bei allen Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Straftaten in Einklang mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der UN-Konvention über die Rechte des Kindes das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss“, unterstützt der EWSA die Entscheidung, das Subsidiaritätsprinzip einzuhalten, aber gleichzeitig die nationalen Rechtsvorschriften zu aktualisieren, auszuweiten und zu verschärfen. Die Mitgliedstaaten müssen in der Lage sein können, bei der Festlegung der extraterritorialen gerichtlichen Zuständigkeit für Straftatbestände vom Erfordernis der „doppelten Strafbarkeit“ abzusehen. Das heißt, den Mitgliedstaaten muss gestattet werden, alle Formen sexueller Ausbeutung von Kindern zu verfolgen.

3.2

Die vorhandenen und die neuen Rechtsvorschriften müssen besser durchgesetzt werden und erfordern eine Überwachung durch die Kommission mit Unterstützung von Europol und der Strafverfolgungsbehörden, um zu gewährleisten, dass für den Schutz der Kinder tatsächlich Vorrang besteht. Es müssen gemeinsame Grundsätze und Kriterien für die Festlegung der Schwere der Straftaten sexueller Missbrauch und sexuelle Ausbeutung festgelegt werden. Dazu empfiehlt der EWSA, eine Plattform zu gründen, um bewährte Verfahrensweisen zur Bekämpfung solcher Straftaten mit legislativen und nichtlegislativen Maßnahmen und zur Entwicklung von methodischen Instrumenten und Ausbildungsmaßnahmen auszutauschen. Dies könnte unter größerer Zusammenarbeit mit den Organisationen der Zivilgesellschaft, den Sozialpartnern und den NRO geschehen, um die Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung auf lokaler Ebene zu unterstützen.

3.3

Fälle mit großer öffentlicher Resonanz, besonders solche mit mutmaßlichen politischen oder religiösen Implikationen oder aber Wiederholungstaten müssen völlig transparent auf EU-Ebene überwacht werden, um Rückfälle zu vermeiden (4).

3.4

Um die Präventionsstrukturen zu erweitern und die Gefährdung der Opfer zu verringern, sollte die Richtlinie auch mit anderen EU-Politikbereichen, zum Beispiel soziale Sicherheit, Bildung, Familie, Beschäftigung und „digitale Agenda“ in Einklang gebracht werden. Zu besonders gefährdeten Gruppen gehören Kinder von Immigranten und Asylsuchenden, unbegleitete Minderjährige, sozial benachteiligte, ausgegrenzte oder behinderte Kinder, solche in Kinderheimen oder Pflegefamilien oder solche, die in Familien leben, in denen Gewalt und Missbrauch herrschen.

3.5

Die Strafaufklärung in den USA und in Europa zeigt eine enge Korrelation zwischen dem Herunterladen von Seiten, die sexuellen Missbrauch von Kindern und Babys zum Inhalt haben, und konkretem sexuellen Vergehen an Kindern. Eine Einstufung des Strafmaßes lediglich auf der Grundlage von konkreten Kontakten dürfte also mehr Kinder (insbesondere Babys) schwerwiegendem Missbrauch aussetzen.

3.6

92 % der Internetseiten mit Kindermissbrauchsinhalten befinden sich auf Servern in Nordamerika, Europa und Russland (5). Der EWSA ist der Ansicht, dass die Europäische Kommission, der Rat und das Europäische Parlament eine einflussreiche und privilegierte Position haben, die gestattet, auf Drittstaaten, insbesondere die wohlhabenden Staaten der Welt, Druck auszuüben, um die Entfernung von Internetseiten zu verlangen, die Kindermissbrauchsmaterial enthalten.

3.7

Es bedarf einer intensiveren Werbung bei den Bürgern für Sicherheit im Internet und für die europäische digitale Agenda (6). Wegen des zunehmenden Peer-to-Peer-Austauschs von Bildern, die Kindesmissbrauch zum Inhalt haben (7), und der immer häufigeren Kontaktaufnahme zu Kindern zum Zwecke des sexuellen Missbrauchs (Grooming) in sozialen Netzen im Internet müssen umgehend Maßnahmen zur Ermittlung und Verfolgung der Straftäter selbst, derjenigen, die sich solche Internetseiten oder Bilder anschauen und der Diensteanbieter, die solche Seiten speichern, getroffen werden. Die Techniken zur Identifizierung aller Beteiligten in dieser Missbrauchskette bestehen bereits, und die EU muss nur mit größerem Nachdruck bei der ICANN auf verantwortungsvolles Handeln dringen (8).

3.8

Im Mittelpunkt des Richtlinienvorschlags stehen das „Wohl des Kindes“ und der „Schutz von Kindern“. Insgesamt aber mangelt es der Richtlinie an Einzelheiten darüber, welche Vorsorgemaßnahmen durchzuführen wären. Vorsorgemaßnahmen müssen in ganz Europa von allererster Bedeutung sein und Hand in Hand mit gesetzgeberischen Maßnahmen einhergehen. Bei Präventionsmaßnahmen hat die EU-Kommission nur wenig Zuständigkeiten, aber sie sollte in der Richtlinie Strukturen fördern und vorschlagen, mit denen solche Maßnahmen von Dritten eingeführt werden könnten.

3.9

Im Zusammenhang mit Präventionsmaßnahmen könnten weitere Finanzmittel gefordert werden, um die Kommissionsprogramme (z.B. DAPHNE und das Rahmenprogramm) auszuweiten und neue Programme zu entwickeln, die von Partnern aus der Zivilgesellschaft ausgeführt würden. Der EWSA ist der Meinung, dass öffentliche Aufklärung über das Vorhandensein von besonderen Gesetzen zur Bestrafung bestimmter Verhaltensweisen, die Kindern schaden, eine wirksame Vorbeugung sein könnte.

3.10

Interventionsprogramme sind von großer Bedeutung für die Verhütung von Kindesmissbrauch und müssen zusammen mit rechtlichen Sanktionen durchgeführt werden. Deshalb regt der EWSA Folgendes an: In dem Abschnitt „Gründe für den Vorschlag und Zielsetzung“ heißt es: „Die spezifischen Ziele würden die wirksame Strafverfolgung umfassen, den Schutz der Rechte der Opfer und die Prävention der sexuellen Ausbeutung und des sexuellen Missbrauchs von Kindern“. Der Wortlaut sollte wie folgt ergänzt werden: „ durch eine rasche Identifizierung der kindlichen Opfer durch eigens dafür ausgebildetes Personal und durch kinderorientierte Interventionen, die auf Kinder und Straftäter ausgerichtet sind “.

3.11

Es wäre auch zu prüfen, welche Präventionsmaßnahmen und Strafverfolgungen beim „Peer-to-Peer“-Missbrauch und -Bilderhandel zu wählen wären. Wegen der Zunahme des Austauschs von Dateien und der Kontaktaufnahme („Grooming“) in sozialen Netzen müssen unverzüglich Maßnahmen zur Feststellung und Verfolgung der Sexualstraftäter selbst, derjenigen, die sich solche Internetseiten ansehen und der Diensteanbieter, die solche Seiten speichern, getroffen werden.

3.12

In dem Richtlinienvorschlag wird (im Abschnitt „Gründe und Zielsetzung“) darauf hingewiesen, „dass eine nicht unerhebliche Minderheit von Kindern in Europa während ihrer Kindheit sexuellen Übergriffen ausgesetzt ist“. Aber auch die Gefahr für die Kinder außerhalb Europas muss bedacht werden: Ein Kind ist ein Kind – überall in der Welt, und es braucht Schutz vor reisenden Sexualstraftätern aus Europa, die andere europäische oder nichteuropäische Kinder missbrauchen.

3.13

Der Ausdruck „Kinderpornografie“ (im Titel, unter den Begriffsbestimmungen und im Text) sollte durch den Ausdruck „ Bilder oder sonstiges Material zum sexuellen Missbrauch von Kindern “ ersetzt werden. Der Ausdruck „Pornografie“ wird mit Erotika assoziiert.

3.14

„Tourismus“: Im Richtlinienvorschlag (Erwägungsgrund 9) wird der Ausdruck „Sextourismus“ benutzt. Der nunmehr bei Fachleuten und NRO verwendete Begriff lautet hingegen „reisende Sexualstraftäter (9). „Tourismus“ wird mit Ferien und Spaß assoziiert, worauf bereits in der früheren EWSA-Stellungnahme zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (10) hingewiesen wurde.

3.15

Traditionen“ (Erwägungsgrund 7): „Die Richtlinie soll nicht die Maßnahmen der Mitgliedstaaten hinsichtlich sexueller Handlungen regeln, die (…) der normalen Entdeckung der Sexualität im Laufe der menschlichen Entwicklung zugeordnet werden können; in diesem Zusammenhang wird auch den unterschiedlichen kulturellen und rechtlichen Traditionen (…) Rechnung getragen“. Der EWSA empfiehlt im Kontext von Mobilität, Immigration und veränderten gesellschaftlichen Werten in ganz Europa, darüber Erörterungen und Konsultationen zu führen, welche Auswirkungen „Traditionen“ in diesem Zusammenhang haben. In diesen Konsultationen und den rechtlichen Konsequenzen sollten auch Kulturpraktiken behandelt werden wie z.B. Genitalverstümmelung, die als sexueller Missbrauch von Kindern angesehen werden können.

3.16

Öffentlich zugänglich“ (Erwägungsgrund 13): „Kinderpornografie (…) [kann nicht] als freie Meinungsäußerung gelten. Zur Bekämpfung der Kinderpornografie muss die Verbreitung von Kindermissbrauchsmaterial eingeschränkt werden, indem Straftätern das Laden derartiger Inhalte auf das öffentlich zugängliche Internet erschwert wird.Die Richtlinie muss Kindermissbrauchsmaterial in jedem Kommunikationsmedium  (11) und in jeder Form verhindern. Der Ausdruck „Darstellungen“ umfasst nicht alles Material, aber die Richtlinie muss sich auch auf nicht bildhaftes Kindermissbrauchsmaterial erstrecken. Ferner müssen in der Richtlinie die Begriffe „künstlerische Freiheit“ und „Meinungsfreiheit“ behandelt werden, und es ist sicherzustellen, dass sie im Zusammenhang mit Kindermissbrauchsmaterial nicht falsch interpretiert werden können. Deshalb sollte der Wortlaut von Artikel 2 Buchstabe b) mit der Begriffsbestimmung für „Kinderpornografie“ wie folgt geändert werden (12): „(i) jegliches Material mit Darstellungen eines Kindes, das (…)“ ; „(ii) jegliche Darstellung der Geschlechtsorgane (…)“; „ (iii) jegliches Material mit Darstellungen einer Person mit kindlichem Erscheinungsbild“ .

3.17

Im Zusammenhang damit, dass „Internetanbieter (…) angeregt oder dabei unterstützt werden [können], auf freiwilliger Basis Verhaltenkodizes und Leitlinien für die Sperrung des Zugangs zu derartigen Internetseiten zu entwickeln“ (Erwägungsgrund 13) möchte der EWSA betonen, dass es vorrangig darum gehen muss, die Inhalte bereits an der Quelle zu entfernen, und nur wenn dies nicht möglich ist (z.B. weil diese außerhalb der EU liegen), den Zugang zu solchen Seiten zu sperren. Dies sollte innerhalb der EU zu einer gesetzlichen Vorschrift gemacht werden, wenn die Wirtschaft, die Internetdiensteanbieter, die Wirtschafts- und Finanzakteure wie etwa die Kreditkartenunternehmen es wirklich ernst mit ihrem Kampf gegen diese Form von Missbrauch meinen.

4.   Besondere Bemerkungen zu den Artikeln der Richtlinie

4.1

Artikel 1 („Gegenstand“) sollte wie folgt ergänzt werden: „Strafen auf dem Gebiet des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Darstellung von Kindermissbrauchsmaterial “.

4.2

Artikel 2 Buchstabe b) (iv) sollte wie folgt ergänzt werden: „realistische Darstellung oder Abbildung eines Kindes …“.

4.3

Artikel 2 Buchstabe b): Der Ausdruck „primär“ sollte durchweg gestrichen werden, da er vom Schwerpunkt „für sexuelle Zwecke“ ablenkt.

4.4

Artikel 2 Buchstabe e): Streichung des Satzteils „… mit Ausnahme von Staaten oder sonstigen Körperschaften des öffentlichen Rechts in der Ausübung ihrer hoheitlichen Rechte und von öffentlich-rechtlichen internationalen Organisationen“, da es auch bei juristischen Personen keine Straflosigkeit wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern geben darf.

4.5

Artikel 3 Absatz 3 und Artikel 8 zum Begriff „sexuelle Mündigkeit“. In Bezug auf den Satz „Wer sexuelle Handlungen an einem Kind vornimmt, das nach den einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts das Alter der sexuellen Mündigkeit noch nicht erreicht hat“ sei darauf hingewiesen, dass nach der UN-Kinderrechtskonvention und der europäischen Definition ein Kind eine Person unter 18 Jahren ist; dazu steht die Begriffsbestimmung des Artikels 3 in Widerspruch, der in Artikel 8 allerdings teilweise wieder behoben wird („Auf gegenseitigem Einverständnis beruhende sexuelle Handlungen Gleichaltriger“). Zudem werden in Artikel 3, 4, 5 und 8 keine auf gegenseitigem Einverständnis beruhende sexuelle Handlungen im oder über dem Alter der sexuellen Mündigkeit geregelt. Nach Ansicht des EWSA müsste dieser Punkt noch weiter erörtert und geklärt werden. Der Ausschuss fordert die Mitgliedstaaten dazu auf, diese Richtlinie zum Anlass zu nehmen, europaweit ein einheitliches Mindestalter für sexuelle Mündigkeit festzulegen. Eine weitere Klärung ist auch für den Begriff „vergleichbares Alter“ erforderlich.

Artikel 3 Absatz 4 (i): Angesichts der hohen Zahl von Fällen, die in der Familie geschehen, sollte die „Elternverantwortung“ als eine Vertrauensstellung spezifiziert werden. Dies stünde in Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention. Zudem sollte der Ausdruck „anerkannt“ in der Bezugnahme auf eine „Stellung des Vertrauens, der Autorität oder des Einflusses auf das Kind“ gestrichen werden. Dies ist von Belang in Zusammenhang mit Veranstaltungen in Europa nicht nur in pädophilen Kreisen, sondern auch in Familien und in religiösen, erzieherischen oder sonstigen Betreuungseinrichtungen. Es ist unerlässlich, dass absolut niemand, gleichgültig, ob er/sie eine Vertrauensstellung in der politischen oder in der religiösen Welt hat, Immunität gegen strafrechtliche Verfolgung, Verhör oder Datenzugriffe erhält.

4.6

Artikel 3 Absatz 5: In das Verzeichnis der Straftaten im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch sollte auch „Exhibitionismus“ gemäß der akzeptablen Begriffsbestimmung der EU-Kommission (13) aufgenommen werden.

4.7

Artikel 4 Absatz 2 bis 5 regeln „pornografische Darbietungen“ bei unmittelbarer Beteiligung konkreter Kinder. Dies könnte mit Artikel 5 verwechselt werden, in dem „Straftaten im Zusammenhang mit Kinderpornografie“ geregelt werden. Zur Beseitigung dieser Verwechslungsgefahr wäre eine Anmerkung sinnvoll.

4.8

Artikel 4 bis 8: Bezüglich der Ausdrücke „wissentlich“ und „vorsätzlich“ muss in der Richtlinie eine eindeutige Begriffsbestimmung dieser Ausdrücke erfolgen.

4.9

Artikel 4 Absatz 1: Der Ausdruck „vorsätzlich“ sollte gestrichen werden, da er Straftätern gestatten würde, zu ihrer Verteidigung vorzubringen, dass sie das Alter ihrer Opfer nicht kannten (14).

4.10

Artikel 4 Absatz 8: Die Bestimmung „Wer sexuelle Handlungen (…) vornimmt“ sollte ergänzt werden mit: „ oder es zulässt “ und eine Strafverfolgung ermöglichen, „ unabhängig davon, ob die sexuelle Handlung ausgeführt wurde “.

4.11

Artikel 6 („Kontaktaufnahme zu Kindern für sexuelle Zwecke“) sollte auf verschiedene andere Formen der Kontaktaufnahme ausgeweitet werden, z.B. auch solche durch Personen, die für den Schutz von Kindern verantwortlich sind, und solche außerhalb des Internets.

4.12

Artikel 7 und 9: Diese Artikel sollten entsprechend den übrigen Teilen der Richtlinie das Strafmaß für die betreffenden Straftaten nennen.

4.13

Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe b): Ein Teil der reisenden Sexualstraftäter sind Gelegenheitstäter, die eine sich bietende Gelegenheit für sexuellen Missbrauch nutzen. Deshalb empfiehlt der EWSA, auch „ die Organisation von Reisen und/oder sonstigen Reisearrangements im Zusammenhang mit der Begehung einer Straftat nach den Artikeln 3 bis 7 “ unter Strafe zu stellen.

4.14

Artikel 8: Die Feststellung „sofern die sexuellen Handlungen keinen Missbrauch implizieren“ sollte ersetzt werden durch den Wortlaut „ sofern die sexuellen Handlungen keinen Zwang implizieren “.

4.15

Artikel 9 („Erschwerende Umstände“) sollte wie folgt ergänzt werden: „(i) Die Straftat wurde unter Anwendung schwerer Gewalt oder Drohung begangen, oder die Straftat hat dem Kind schweren Schaden zugefügt oder war geeignet, ihm schweren Schaden zuzufügen “.

4.16

Angesichts der Schäden bei Kindern, die solche Straftaten selbst noch im Erwachsenenalter bewirken können, empfiehlt der EWSA, für sie keine Verjährung gelten zu lassen bzw. eine Mindestlaufzeit festzusetzen.

4.17

Artikel 10 und 12 berücksichtigen nicht, dass Straftäter ihren Wohnsitz wechseln können, und gehen nicht weit genug, um sie am Reisen zu hindern. In der früheren Stellungnahme (15), die der EWSA gemeinsam mit der Kinderschutzorganisation ECPAT (16) ausgearbeitet hat, wurde empfohlen:

Beaufsichtigung und Verbot;

bilaterale Kooperationsabkommen;

Abkommen zur Rückführung von überführten Straftätern;

Ausstellung von Foreign Travel Orders (FTO) (Verhängung von Ausreisebeschränkungen).

4.18

Artikel 11 („Verantwortlichkeit juristischer Personen“): Juristische Personen, die das Verhalten von Straftätern ermöglichen, sind ebenfalls verantwortlich zu machen, unabhängig davon, ob sie davon profitieren oder nicht. Deshalb ist der Passus „die zu ihren Gunsten von einer Person begangen wurde“ zu streichen.

4.19

Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe b) („Sanktionen gegen juristische Personen“): Dieser Passus sollte in dem Sinne geändert werden, dass nicht nur ein Verbot der Ausübung einer Handelstätigkeit ausgesprochen wird, sondern „jeglicher Tätigkeit“, die den Kontakt zu Kindern ermöglicht.

4.20

Artikel 13 („Verzicht auf Strafverfolgung“) muss „ sicherstellen “ und nicht nur „die Möglichkeit vorsehen“, dass Kinder, die Opfer von Straftaten geworden sind, wegen ihrer Beteiligung an rechtswidrigen Handlungen nicht strafrechtlich verfolgt oder bestraft werden.

4.21

Artikel 14 („Ermittlung und Strafverfolgung“): Damit Ermittlung und Strafverfolgung praktikabel und effizient sein können, müssen Vorkehrungen für den Zugang zu angemessenen Finanzmitteln für die Ausbildung, Beratung und Erforschung neuer Techniken getroffen werden. Ermittlungsverfahren müssen vollständig transparent sein. In diesem Artikel sollte ferner festgelegt werden, dass für bestimmte Straftaten keine Verjährungsfrist gilt.

4.22

Artikel 14 Absatz 2 („während eines hinlänglich langen Zeitraums“): Die Mitgliedstaaten müssen bei der Festlegung der Verjährungsfristen flexibel sein, damit sie dem Ausmaß der Folgen auf das Leben und/oder das Wohl des Opfers Rechnung tragen können.

4.23

Der EWSA empfiehlt, in der Richtlinie zu spezifizieren, dass die in den Mitgliedstaaten geltenden Verjährungsfristen erst mit der Volljährigkeit des Opfers beginnen. Ferner fordert er die Kommission auf, auf eine Harmonisierung der nationalen Verjährungsfristen hinzuarbeiten, um Unklarheiten oder Fehler zu vermeiden, wenn die Strafverfolgungsbehörden Ermittlungen über Landesgrenzen hinweg durchführen.

4.24

In Artikel 14 Absatz 3 („über wirksame Ermittlungsinstrumente verfügen“) muss unbedingt gewährleistet werden, dass neben diesen Ermittlungsinstrumenten auch voll ausgebildetes Personal vorhanden ist, das sie anwenden kann.

4.25

In Artikel 15 werden „Meldungen“ unterstützt, aber keine Verfahrensweisen und Finanzierungsregelungen genannt, mit denen ein rasches Eingreifen durch Angehörige der Berufsgruppen unterstützt wird, die mit Kindern arbeiten. In Erwägung, dass Straftaten gegen Kinder eher selten gemeldet werden, sollten in allen Mitgliedstaaten effiziente und einfache Meldeverfahren eingeführt werden.

4.26

Um rechtzeitige Meldungen über Verdächtige oder konkrete Fällen sexuellen Missbrauchs und sexueller Ausbeutung zu fördern, muss sichergestellt werden, dass die Personen, die in gutem Glauben Meldung erstatten, vor straf- oder zivilrechtlichen Verfahren, Beschwerden vor Ethikausschüssen oder vor Verfolgung wegen Verletzung der Vertraulichkeitsbestimmungen geschützt werden.

4.27

Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe d) („Gerichtliche Zuständigkeit und Koordinierung der Strafverfolgung“) schweigt vollständig über alle Aspekte der Auslieferung von Straftatverdächtigen. Dieser Punkt wird in Artikel 5 des Fakultativprotokolls zur UN-Kinderrechtskonvention behandelt und sollte auch in der Richtlinie der Kommission ein Thema sein. Im selben Absatz sollte der Ausdruck „zugunsten einer im Hoheitsgebiet (…) niedergelassenen juristischen Person“ ergänzt werden durch „(…) niedergelassenen oder operierenden “.

4.28

Artikel 16 Absatz 2: Der EWSA empfiehlt, in dem Satz „dass eine Straftat (…) nach den Artikeln 3 und 7 (…)“ die Artikel 3, 4, 5, 6 und 7 aufzuführen.

4.29

Artikel 16 Absatz 3: Wenn es die Mitgliedstaaten wirklich ernst meinen mit dem allgemeinen Schutz der Kinder, darf es keine Ausnahmen geben. Deshalb sollte die Ausnahmebestimmung „Ein Mitgliedstaat kann beschließen, dass er die Gerichtsbarkeitsbestimmungen (…) nicht oder nur in bestimmten Fällen oder unter bestimmten Umständen anwendet, wenn die Straftat außerhalb seines Hoheitsgebiets begangen wurde“ gestrichen werden.

4.30

Artikel 17 Absatz 1: Zum Satz „erhalten Unterstützung, (…)“ empfiehlt der EWSA jedem Mitgliedstaat, Kindern, die Opfer einer Straftat nach den Artikeln 3 bis 7 sind, angemessene und fachgerechte Unterstützung zu gewähren, darunter auch Unterkunft an einem sicheren Ort, medizinische und psychosoziale Betreuung sowie Ausbildung. Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass diese Dienste von ausgebildetem Fachpersonal und unter Berücksichtigung der kulturellen Identität/Herkunft des Kindes, seines Geschlechts und seines Alters geleistet werden (17). Mit solchen Maßnahmen kann die Gefährdung verringert und somit die Vorbeugung verbessert werden.

4.31

Artikel 19: Die Aspekte der „Strafermittlungen“ werden in Artikel 8 des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes behandelt und sollten auch in der Richtlinie der Kommission berücksichtigt werden.

4.32

Auch empfiehlt der EWSA, auf die Resolution 2005/20 des UN-Wirtschafts- und Sozialrats zu Leitlinien für den Schutz kindlicher Opfer und Zeugen von Straftaten in Justizverfahren Bezug zu nehmen (18).

4.33

Viele Kinder, die missbraucht wurden, sei es von ihren Eltern, die sie verkauft haben, von Menschenhändlern oder von Erwachsenen, die mit der Prostitution zu tun haben, haben das Vertrauen in die Erwachsenen verloren; das heißt, erst muss wieder die Grundlage für Vertrauen geschaffen werden, bevor Ermittlungen stattfinden können. Die Mitgliedstaaten müssen also mit der Vollstreckung der Gesetze zur Verfolgung solcher Straftaten auch die Opfer identifizieren und dann das Leben der Kinder wieder herstellen, etwa durch Unterbringung in Unterkünften, Betreuung, Schutz und spezielle psychologische Unterstützung.

4.34

Artikel 19 Absatz 3 Buchstabe e) sollte wie folgt ergänzt werden: „Es sollten möglichst wenige Vernehmungen durchgeführt werden; zudem sollten Vernehmungen nur dann durchgeführt werden, wenn sie für das Strafverfahren oder die Sicherheit und das Wohl des Kindes unabdingbar sind“.

4.35

Artikel 21 („Sperrung des Zugangs zu Webseiten“) sollte neu gefasst werden (19). Dabei sollte einer Entfernung der Webseiten der Vorrang vor ihrer Sperrung gegeben werden, die nur eine sekundäre Maßnahme sein sollte, sofern eine Löschung nicht möglich ist. Eine Sperrung könnte eine kurzfristige taktische Maßnahme parallel zur Beseitigung sein, um den Zugang zu blockieren und unbeteiligte Nutzer vor Bildern mit Kindermissbrauchsinhalten zu schützen (20). In diesem Artikel sollte ferner von den Mitgliedstaaten verlangt werden, unverzüglich zu handeln und entsprechende Webseiten abzuschalten.

4.36

Ist die Entfernung nicht unverzüglich möglich, sollten die Bemühungen dahin gehen, die Bewegungen und Aktivitäten auf Webseiten, die mit der Verbreitung von Kindermissbrauchsinhalten im Zusammenhang stehen, zu verfolgen, um die zuständigen internationalen Stellen für die Strafverfolgung mit Informationen zu versorgen und zu veranlassen, solche Inhalte später zu entfernen und die Verteiler zu ermitteln. Der EWSA empfiehlt:

vereinte internationale Bemühungen der Registrierstellen für Internet-Domain-Namen und der einschlägigen Behörden zur Löschung von Domain-Namen mit Kindermissbrauchsinhalten;

größere Anstrengungen zur Ermittlung des Datenaustauschs, einschließlich des Peer-to-Peer-Austauschs.

4.37

Artikel 21 Absatz 2: Auch sollte darauf hingearbeitet werden, dass Finanzeinrichtungen die Finanztransaktionen verfolgen und unterbrechen, die mit Hilfe ihrer Dienste den Zugang zu Kindermissbrauchsinhalten erleichtern.

5.   Weitere Elemente, deren Aufnahme in die Richtlinie erwogen werden sollte

5.1

Der Datenschutz kommt in der Richtlinie nicht zur Sprache: Der Schutz der Kinder sollte unter den in der Europäischen Menschenrechtskonvention präzise festgelegten Voraussetzungen Vorrang vor Datenschutz und Meinungsfreiheit haben.

5.2

Auf EU-Ebene sind zu installieren eine stärkere Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden, nationale und internationale Managementsysteme für Straftäter und ein Warnsystem für vermisste Kinder.

5.3

Ebenfalls nicht thematisiert wurde der Missbrauch von Kindern durch andere Kinder. Dies muss als Sonderfall betrachtet werden und könnte unter Artikel 9 fallen. Es wird nur kurz in Artikel 20 in einer Bemerkung zu Interventionsprogrammen erwähnt (21).

5.4

Zwar soll das Subsidiaritätsprinzip ohne Abstriche gelten, aber der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, mit besonderen Maßnahmen sicherzustellen, dass die erforderliche Supervision und psychologische Betreuung für Personen vorhanden ist, die im Bereich Opferschutz tätig sind, um seelische Belastungen zu vermeiden. Unter dem Gesichtspunkt der Humanressourcen sollte dies keine freiwillige Option, sondern eine Vorschrift sein.

5.5

Der EWSA anerkennt, dass die Kommission stärkeren Bedarf an einem „Austausch von Informationen und Erfahrungen auf dem Gebiet der Strafverfolgung, des Opferschutzes oder der Prävention (…), Maßnahmen zur Bewusstseinsschärfung, (…), Kooperation mit dem privaten Sektor, (…) Förderung der Selbstregulierung“ sieht. In diesem Zusammenhang möchte der EWSA darauf hinweisen, dass auch der Arbeitsplatz zu beachten ist. Dies würde es Arbeitgebern und Arbeitnehmern gestatten, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden und ungesetzliche Handlungen zu melden, die zuerst am Arbeitsplatz ans Licht kommen oder durch Kunden/Lieferanten bekannt werden (22).

5.6

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass durch die Einführung der neuen Richtlinie keine zusätzlichen Kosten anfallen. Dennoch sind mehr Mittel, etwa für Ermittlungen, Öffentlichkeitsarbeit, Ausbildungen, Beratung und Rechtsbeistand erforderlich, um sicherzustellen, dass diese Formen des Missbrauchs so bald wie möglich ausgemerzt werden.

5.7

Schließlich plädiert der EWSA für die Schaffung einer internationalen Strafverfolgungsagentur, die Kindesmissbrauchsfälle in der ganzen Welt ermittelt, die Verteiler entsprechender Inhalte identifiziert und verfolgt und Kinder aus Zwangslagen befreit. Es gibt zahlreiche Vorgehensweisen (23), mit denen der Zugang zu Inhalten minimiert werden kann und die, falls sie weltweit angewandt würden, eine effizientere, raschere und abschreckendere Antwort auf solche Straftaten gewährleisten könnten.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe Hinweis in der Stellungnahme des EWSA (ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 43 (FN 5): „Übereinkommen des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch“, 25.10.2007, siehe: http://conventions.coe.int/Treaty/EN/treaties/Html/201.htm Folgende EU-Mitgliedstaaten haben das Übereinkommen nicht unterzeichnet: Tschechische Republik, Ungarn, Lettland und Malta.

(http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=201&CM=&DF=&CL=ENG).

„Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie“, Verabschiedung: Mai 2000, Inkrafttreten: Januar 2002. Siehe:

http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Themen/Menschenrechte/Download/Fakultativprotokoll__Kinderhandel.pdf Folgende EU-Mitgliedstaaten haben das Fakultativprotokoll nicht ratifiziert: Tschechische Republik, Finnland, Irland, Luxemburg und Malta (http://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-11-c&chapter=4&lang=en).

(2)  ICANN - Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (Zentralstelle für die Vergabe von Internet-Namen und -Adressen).

(3)  IWF (www.iwf.org.uk); ECPAT International (http://www.ecpat.com); Save the Children (www.savethechildren.org); Missing Children Europe (www.missingchildreneurope.eu); Amnesty International (www.amnesty.org).

(4)  An den vielen kürzlich berichteten Fälle von Missbrauch, von denen einige durch staatliches Vorgehen aufgedeckt wurden, zeigt sich das große Ausmaß an systematischem Missbrauch in religiösen Einrichtungen, pädophilen Kreisen und Schulen und Waisenhäusern, von denen viele über Jahrzehnte hinweg gedeckt wurden, um das Image oder Ansehen von Einzelpersonen oder Institutionen zu schützen.

(5)  http://www.iwf.org.uk/documents/20100511_iwf_2009_annual_and_charity_report.pdf.

(6)  http://ec.europa.eu/information_society/digital-agenda/index_de.htm.

(7)  Aus dem Projekt „ISIS: Protecting children in online social networks“ geht hervor, dass in Peer-to-Peer-Netzen jede Minute Tausende von Dateien ausgetauscht werden, die Kindesmissbrauch zum Inhalt haben. Siehe auch: „Supporting Law Enforcement in Digital Communities through Natural Language Analysis“, International Workshop on Computational Forensics, Springer Lecture Notes in Computer Science 5158 (2008), S. 122-134.

(8)  ICANN - Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (Zentralstelle für die Vergabe von Internet-Namen und –Adressen).

(9)  CEOP - Child Exploitation and Online Centre.

(10)  Siehe Fußnote 1.

(11)  ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 61.

(12)  Anm. d. Übers.: Die Änderung bezieht sich auf das englischsprachige Original (Ersetzung von „depict“ durch „present“).

(13)  Dieses Thema wurde kürzlich in einer Rechtssache in Portugal betont.

(14)  Die Kinderschutzorganisation ECPAT empfiehlt die Einführung einer besonderen Regelung, wonach die Beweislast zum Alter von Personen, die auf dem Bildmaterial über den sexuellen Missbrauch von Kindern zu sehen sind, den Personen zufällt, die dieses Material herstellen, vertreiben oder besitzen. In den Niederlanden gilt diese Regelung bereits.

(15)  Siehe Fußnote 1.

(16)  ECPAT steht für „End Child Prostitution, Child Pornography and the Trafficking of Children for Sexual Purposes“ und verfügt über einen besonderen Beraterstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC).

(17)  Rio de Janeiro Declaration and Call for Action to Prevent and Stop Sexual Exploitation of Children and Adolescents (Erklärung von Rio de Janeiro und Aktionsaufruf zur Vorbeugung und Beendigung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen).

(18)  Siehe: http://www.un.org/docs/ecosoc/documents/2005/resolutions/Resolution%202005-20.pdf.

(19)  Siehe Internet Watch Foundation, Bericht über Blockierung und Entfernung von Webseiten.

(20)  http://www.iwf.org.uk/public/page.148.htm.

(21)  Schätzungsweise ein Drittel der Straftäter im Bereich sexueller Missbrauch von Kindern ist jünger als 18 Jahre (May-Chahal und Herzog, 2003).

(22)  Der EWSA hat eine unionsweite Initiative „Europa gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern - WIR SAGEN NEIN!“ vorgeschlagen. Siehe Hinweis auf Stellungnahme in FN 1.

(23)  Siehe Bericht der Internet Watch Foundation.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/145


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette in Europa verbessern“

KOM(2009) 591 endg.

2011/C 48/25

Berichterstatter: Pedro NARRO

Mitberichterstatter: József KAPUVÁRI

Die Europäische Kommission beschloss am 28. Oktober 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette in Europa verbessern

KOM(2009) 591 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 31. August 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 121 Ja-Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Berichte und Mitteilungen der Europäischen Kommission in den letzten Jahren geben eine aufschlussreiche Analyse der Unzulänglichkeiten und Dysfunktionen der Wertschöpfungskette wieder: Preisvolatilität, Spekulation, Preisdumping, mangelnde Transparenz, allgemeine Verbreitung unlauterer und wettbewerbsschädlicher Praktiken und Ungleichgewichte hinsichtlich der Verhandlungsmacht der Beteiligten sind Probleme, die die Zukunft der gesamten Agrar- und Lebensmittelbranche belasten und Fortbestand des sogenannten „europäischen Agrarmodells“ bedrohen.

1.2   In ihrer Mitteilung „Die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette in Europa verbessern“ benennt die Kommission völlig zu Recht vorrangige Aktionsbereiche. Der EWSA bedauert jedoch, dass die Annahme der Vorschläge nur langsam vonstatten geht, und fordert die Kommission auf, die Beschlussfassung in einem Bereich, in dem Bedarf an dringlichen, konkreten und greifbaren Maßnahmen besteht, zu beschleunigen. Die erneuerte Hochrangige Gruppe für die Wettbewerbsfähigkeit der Lebensmittelindustrie sollte ihre Arbeiten schnellstmöglich wiederaufnehmen und zu einem Stützpfeiler für die neue und noch im Entstehen begriffene Politik im Bereich der Lebensmittelversorgung werden.

1.3   Der Erfolg wird in hohem Maße vom Grad der Einbindung der Europäischen Kommission, der Mitgliedstaaten und sämtlicher Akteure der Kette abhängen. In einem Bereich, in dem die Unterschiede zwischen den einzelnen nationalen Märkten und den verschiedenen Produkten erheblich sind, ist ein gemeinsames, koordiniertes Vorgehen unerlässlich. Die Europäische Union muss die diesbezüglichen Anstrengungen entschieden anführen und sowohl zur Anpassung der verfügbaren Instrumente als auch zur Ergreifung neuer Maßnahmen anregen, die eine ausgewogenere Entwicklung der Kette und größere Wettbewerbsfähigkeit ermöglichen.

1.4   Die Untersuchung der bislang im Bereich der Lebensmittelversorgungskette eingeleiteten Initiativen offenbart die geringe Wirksamkeit der Selbstregulierung und freiwilliger Vereinbarungen. Der EWSA befürwortet die Entwicklung freiwilliger Mechanismen, merkt jedoch an, dass es ohne wirksame Kontrollgremien und Strafen nicht möglich sein wird, den systematischen Verstößen der stärksten Glieder der Kette gegen diese Vereinbarungen ein Ende zu setzen.

1.5   Verhaltensänderungen der Wirtschaftsakteure müssen mit einer Markregulierung einhergehen, die die Grundlage für eine neue Ausrichtung der Agrar- und Lebensmittelbranche schafft. Zur Förderung der Transparenz des Systems ist es erforderlich, die Vertragsabschlüsse zu verbessern und sektorspezifisch die Möglichkeit zu prüfen, verbindliche Klauseln oder die obligatorische Festlegung schriftlicher Verträge einzuführen. Viele der von der Kommission in ihrer Mitteilung genannten Ziele werden sich nur durch geeignete und verhältnismäßige Rechtssetzungsmaßnahmen erreichen lassen.

1.6   In Bezug auf Verhaltenskodizes muss sich die EU an einzelstaatlichen Initiativen orientieren und durch die Einsetzung eines europäischen Ombudsmanns einen wirksamen Kontroll- und Sanktionsmechanismus schaffen. Neben den Elementen, die in die Verhaltenskodizes einfließen müssen, ist es vor allem wichtig, dass ihre Wirksamkeit und ihre Einhaltung sichergestellt werden.

1.7   Das einzelstaatliche oder europäische Wettbewerbsrecht muss in wesentlichen Teilen angepasst werden, um eine zuverlässige Organisation der Branche zu ermöglichen, die flexible Funktionsweise der Versorgungsketten zu gewährleisten und den Akteuren Rechtssicherheit zu geben, die den Verbrauchern zugute kommt. Die Schlussfolgerungen der hochrangige Expertengruppe „Milch“ (1) und die Schlussfolgerungen des spanischen EU-Ratsvorsitzes (2) bezüglich der Mitteilung über die Lebensmittelversorgungskette stimmen mit dem Anliegen des EWSA überein, die Anwendung des Wettbewerbsrechts unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Agrarsektors zu flexibilisieren.

1.8   Der EWSA stellt - insbesondere im Supermarktsegment - eine starke Nachfragekonzentration fest, die mit der Angebotszersplitterung kollidiert und das reibungslose Funktionieren der Wertkette beeinträchtigt. Die Entwicklung und Stärkung der Rolle der Branchenorganisationen kann dazu beitragen, den geringen Organisationsgrad der Erzeuger aufzufangen. Angesichts dieser Herausforderungen muss eine eingehende Reflexion in Gang gesetzt werden, und zwar nicht über die Größe der Erzeugerorganisationen, sondern über die Art und Weise, in der diese in wirksame Vermarktungsinstrumenten für die Landwirte umgewandelt werden können. Die Erzeugerorganisationen dürfen nicht das einzige wirksame Instrument zur Verbesserung der wirtschaftlichen Organisation des Angebots an Agrarerzeugnissen bleiben.

1.9   Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, nicht nur Überlegungen zur Konzentration des Angebots anzustellen, sondern auch auf der Nachfrageseite entschieden tätig zu werden, um den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen und bestimmte unlautere und wettbewerbswidrige Praktiken aufzudecken, die sich häufig einer wirksamen Kontrolle durch nationale und gemeinschaftliche Behörden entziehen.

1.10   Die europäischen Verbraucher benötigen angemessene, vorhersehbare und stabile Preise und Preisstrukturen. Die in der Mitteilung vorgeschlagenen Maßnahmen könnten effizienter sein, wenn sie eine breite Anwendung fänden und die Auswahl für die Verbraucher nicht verzerrt würde. Die Preisbeobachtungsstellen wären nur dann nützliche Instrumente, wenn sie sich nicht nur darauf beschränkten, Preise festzustellen, sondern bei eventuellen Verzerrungen in der Preisentwicklung auch schnell reagieren könnten.

2.   Zusammenfassung der Empfehlungen der Kommission

2.1   Die Kommission erkennt die wichtige Rolle an, die die Lebensmittelversorgungskette - der Agrarsektor, die Industrie und der Einzelhandel - in der europäischen Wirtschaft spielen (3). Die Überwachung der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette ist in der Tat zu einer politischen Priorität auf der europäischen Agenda geworden. Die Veröffentlichung der Mitteilung „Die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette in Europa verbessern“ ist ein Ausdruck dieser berechtigten Sorge des europäischen Gesetzgebers. Ihr Ziel ist die Ergreifung konkreter Maßnahmen auf einzelstaatlicher und europäischer Ebene, die zur Verbesserung der Situation der Lebensmittelversorgungskette beitragen können.

2.2   In der Mitteilung wird ein Bündel an konkreten Vorschlägen zu jeder der drei beschriebenen Herausforderungen für die Lebensmittelversorgungskette formuliert. Zur Förderung nachhaltiger Beziehungen beabsichtigt die Kommission, unlautere Geschäftspraktiken zu bekämpfen und wettbewerbsbezogene Fragen im Auge zu behalten. Eine Frage von ständiger Priorität wie die Erhöhung der Transparenz entlang der Versorgungskette soll über die Bekämpfung der Spekulation und die Einführung eines europäischen Instruments zur Überwachung der Lebensmittelpreise angegangen werden. Zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit schließlich will die Kommission die Etikettierung und die Umweltstandards überprüfen, gegen die Praxis regionaler Angebotsbeschränkungen vorgehen und die Verhandlungsposition der Landwirte über Instrumente wie die Erzeugerorganisationen stärken.

2.3   Die Kommission dürfte im November 2010 einen Follow-up-Bericht zur Umsetzung der wichtigsten vorgeschlagenen Maßnahmen veröffentlichen, ergänzt durch eine neue Mitteilung über die Überprüfung des Einzelhandelsmarktes. Die Kommission hat ferner beschlossen, das Mandat der Hochrangigen Gruppe für die Wettbewerbsfähigkeit der Lebensmittelindustrie in erweiterter Zusammensetzung zu verlängern und sie in ein echtes Diskussionsforum über die Lebensmittelversorgungskette umzuwandeln.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Die EU hat mit dieser Mitteilung und anderen Initiativen in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass die Situation der Lebensmittelversorgungskette zu einer der vorrangigen Fragen ihrer politischen Agenda geworden ist. Die Preisvolatilität und das Kräfteungleichgewicht entlang der Versorgungskette haben sich für Verbraucher wie Erzeuger negativ ausgewirkt. Trotz der zahlreichen Analysen und Vorschläge der letzten Jahre ist die Situation nach wie vor durch zahlreiche Verzerrungen geprägt, die die angestrebte Nachhaltigkeit des europäischen Lebensmittel- und Agrarmodells ernsthaft in Frage stellen.

3.2   Neben der Sicherstellung einer angemessenen Lebensmittelversorgung ist auch die Qualität eine Frage von strategischer Bedeutung; deshalb muss die Produktion durch Qualitätszeichen angemessen geschützt werden. Effizienzprobleme in der Lebensmittelversorgungskette können zu einer reduzierten Auswahl von Produkten im Binnenmarkt führen, was eine Bedrohung für das europäische Agrarmodell darstellen würde. Obgleich die Kommission in zahlreichen Dokumenten auf die Widersprüche bei der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette in der Europäischen Union hingewiesen hat, findet dies in der Mitteilung keinen Widerhall.

3.3   Die Ungleichgewichte in der europäischen Lebensmittelversorgungskette stellen auch eine schwerwiegende Bedrohung der Interessen der europäischen Bürger dar. Die Unterschiede zwischen Rohstoff- und Verbrauchsgüterpreisen haben zu wenig realistischen Preisstrukturen geführt, die die langfristigen Perspektiven aller Glieder der Wertschöpfungskette und der gesamten wirtschaftlichen und sozialen Ordnung der EU bedrohen. Der Einzelhandel ist äußerst stark konzentriert und gut organisiert und hält die Lebensmittelpreise unter konstantem Druck. Die großen Lebensmittelketten können sich dies erlauben, da ihre Gewinnspannen aufgrund bestimmter Handelspraktiken nicht nur von den Verbrauchern, sondern auch den Lieferanten kommen, wie dies die Explosion der Agrarpreise 2007 und 2008 gezeigt hat. Die auf der Technik der „doppelten Gewinnspanne“ beruhenden Handelspraktiken verursachen Verbrauchern wie Lieferanten ernste Probleme.

3.4   Die zunehmend angespannten Beziehungen zwischen den Akteuren der Lebensmittelversorgungskette führen zu einer wirtschaftlichen Dynamik, die sich bei einem Agrarsektor, der vor dem Hintergrund einer tief greifenden allgemeinen Wirtschaftskrise eine noch nie da gewesene Krise durchläuft, besonders negativ auswirken.

3.5   Zwischen dem EWSA und der Kommission herrscht einmal mehr Einigkeit darüber, welche Handlungsbereiche vorrangig sind und dass dringend neue Maßnahmen und konkrete Instrumente zur Verbesserung der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette in Europa ergriffen werden müssen. Es sind grundlegende Veränderungen vonnöten, die eine Neuorientierung ermöglichen. Um die wichtigsten Herausforderungen in der Agrar- und Lebensmittelbranche erfolgreich angehen zu können, setzt der EWSA auf die weitere Diversifizierung der Produktion, die Verringerung der Kosten durch eine Erhöhung der Betriebsgröße und die Verbesserung der Vermarktungsstrategien.

3.6   Der EWSA schließt sich im Einklang mit seinen jüngsten Arbeiten im Agrarbereich den wichtigsten Schlussfolgerungen der Hochrangigen Gruppe für die Wettbewerbsfähigkeit der Lebensmittelindustrie an (4):

Die entscheidende Frage, wer welchen Anteil an der Wertschöpfungskette bekommt, regelt derzeit - ganz im marktliberalen Sinn - allein der Markt. Dies ist alles andere als befriedigend, besonders für jene Bauern, die bei oft höheren Stückkosten häufig auf immer weiter sinkende Erzeugerpreise blicken; und darauf oft mit Maßnahmen reagieren müssen, die den Zielen des Europäischen Agrarmodells zuwiderlaufen. Da in der EU-27 nur 15 Handelsketten bereits 77 % des Lebensmittelmarktes kontrollieren, tritt der EWSA dafür ein, dass ähnlich wie derzeit in den USA geprüft wird, ob das Wettbewerbsrecht ausreicht, um marktbeherrschende Strukturen und bedenkliche Vertragspraktiken zu verhindern. Wichtig ist, dass sämtliche betroffenen Gruppen in die Überprüfung eingebunden werden.

3.7   Der Erfolg all dieser Initiativen wird in hohem Maße vom Grad der Einbindung der Europäischen Kommission, der Mitgliedstaaten und der Gesamtheit aller Akteure der Lebensmittelversorgungskette abhängen. Ein koordiniertes Vorgehen der verschiedenen Instanzen und eine Überarbeitung der Anwendung des Wettbewerbsrechts sind unabdingbar. Die meisten der von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen sind zuvor auf einzelstaatlicher Ebene angewandt worden (5). Daher sollte untersucht werden, wie ein und dieselbe Problematik von verschiedenen einzelstaatlichen Blickwinkeln aus angegangen wurde und welches - häufig unerhebliche - Endergebnis viele der von den Mitgliedstaaten umgesetzten Initiativen erzielt haben, wie beispielsweise die Einrichtung von Preisbeobachtungsstellen oder die Einführung von Verhaltenskodizes, die den Missbrauch mangels effektiver Kontroll- und Durchsetzungsinstrumente nicht zu begrenzen vermochten.

3.8   Auf einige Aspekte der Lebensmittelversorgungskette, die auf einzelstaatlicher oder branchenspezifischer Ebene bereits eingehend analysiert wurden, wird in der Mitteilung ganz allgemein eingegangen. Die Anstrengungen Frankreichs zur Wiederherstellung des Gleichgewichts der Lebensmittelversorgungskette haben den anderen EU-Mitgliedstaaten als Beispiel gedient. Das französische Gesetz zur Modernisierung der Landwirtschaft geht über die Mitteilung hinaus, indem es einen verpflichtenden Vertragsrahmen für Mengen und Preise definiert, die Aufnahme obligatorischer Klauseln zur Auflage macht, die Aufgaben der Branchenorganisationen ausweitet und ein System der Mediation und Sanktionen zur Lösung etwaiger Konflikte einführt.

3.9   Auf Branchenebene ist die Milchindustrie von der Kommission als „Fall mit dringendem Handlungsbedarf“ anerkannt worden. Daher ist die im Oktober 2009 geschaffene hochrangige Expertengruppe „Milch“ bei ihren Überlegungen inhaltlich über die Mitteilung hinausgegangen und hat sich auf die Festlegung eines Rahmenvertragmodells, die Möglichkeiten der Weiterentwicklung der Branchen- und Erzeugerorganisationen und die Umsetzung des Terminmarktes in der Milchbranche konzentriert. Angesichts eines solchen Konvoluts an Initiativen auf Ebene der EU, der Mitgliedstaaten und der Branchen unterstreicht der EWSA - im Bewusstsein der Komplexität und Tragweite dieser Fragen - die Notwendigkeit der Schaffung eines soliden europäischen Basisrahmens, propagiert den Austausch von Erfahrungen und ersucht die zuständigen Behören um stärkere Koordinierung.

3.10   Der EWSA hat bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass die Rechtsvorschriften an die derzeitige Situation der Lebensmittelversorgungskette angepasst werden müssen. Die tief greifenden Veränderungen, die es an den einzelstaatlichen und europäischen Rechtsvorschriften vorzunehmen gilt, müssen von der Schaffung eines neuen Rahmens für die Beziehungen innerhalb der Versorgungskette begleitet sein, der die Zusammenarbeit, die Transparenz und eine gerechte Gewinnverteilung über die gesamte Wertkette begünstigt. Die Förderung der Selbstregulierung der Branche muss mit der Einführung verbindlicher Instrumente einhergehen. Die wirksame Anwendung des Systems setzt entschiedene Transparenzbestrebungen mit entsprechenden Kontrollmechanismen voraus, um sicherzustellen, dass die zwischen den verschiedenen Gliedern der Versorgungskette ggf. getroffenen Vereinbarungen eingehalten werden.

3.11   Die Kommission legt in dem Text der Mitteilung und den ihr beiliegenden Arbeitsdokumenten eine Analyse der Preisvolatilität vor. Es wäre jedoch erforderlich, die letzten Veränderungen der GAP im Rahmen des „Gesundheitschecks“ kritisch daraufhin zu prüfen, inwieweit sie sich auf das Gleichgewicht in der Lebensmittelversorgungskette ausgewirkt haben. Die Abschaffung der Instrumente zur Regulierung der Agrarmärkte (Quoten, Intervention, Lagerung) hat negative Auswirkungen auf die Preisvolatilität und die Verwaltung des Marktes gezeitigt, die in der Analyse der EU-Exekutive berücksichtigt werden sollten.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Förderung nachhaltiger marktbasierter Beziehungen

4.1.1   Die Kommission stellt bei ihrer Analyse eine „Asymmetrie“ zwischen den verschiedenen Gliedern der Versorgungskette fest. Diese Ungleichgewichte äußern sich in unlauteren und wettbewerbswidrigen Handelspraktiken. Bei verderblichen Lebensmitteln mit einer geringeren Verhandlungsmarge nehmen die Ungleichgewichte noch weiter zu. Der EWSA unterschreibt den in der Mitteilung dargelegten Ansatz, die Verträge ausgehend von gemeinsamen, auf europäischer Ebene definierten Regeln zu verstärken. Obgleich die Entwicklung der Verträge freiwillig erfolgen kann, sollten einige Fälle geprüft werden, in denen rechtlich die Verpflichtung zur Vorlage eines Vertrags und bestimmter Vertragsklauseln festgelegt werden könnte.

4.1.2   Die Kommission sollte unbedingt verhindern, dass die Handelstransaktionen von Agrarerzeugnissen ohne Belege über die getätigten Geschäfte durchgeführt werden, um ebenso gängige wie schädliche Praktiken wie den „endergebnisorientierten“ Verkauf auszumerzen, bei dem der Einkaufspreis für den Landwirt im Nachhinein in Abhängigkeit des vom Zwischenhändler erzielten Verkaufspreises festgesetzt wird. Außerhalb der vertraglichen Basis hält es der EWSA für erforderlich, einen Verhaltenskodex (6) zu schaffen sowie einen Begleitausschuss einzusetzen, der dessen Einhaltung überprüft. Dieser Verhaltenskodex für Handelsbeziehungen sollte die Qualität der Verhandlungen zwischen allen Gliedern der Wertschöpfungskette zugunsten des Verbrauchers gewährleisten. Der europäische Gesetzgeber muss dem Preisdumping als übliche Strategie zur Anlockung der Verbraucher ein Ende setzen und die Auswirkungen der Ausweitung der Einzelhandelsmarken auf den Wettbewerb, die Auswahl des Verbrauchers und die Wertschätzung der in der EU hergestellten Qualitätsprodukte eingehend untersuchen.

4.1.3   Hinsichtlich der Durchsetzung der Wettbewerbsstandards gibt es auf einzelstaatlicher Ebene große Unterschiede. Ein und dieselbe Maßnahme einer Branchenorganisation wird unterschiedlich gehandhabt, je nachdem, welche zuständige einzelstaatliche Behörde die Frage in einem bestimmten Staat untersucht. In vielen Ländern werden tendenziell jeder Initiative der Erzeuger, die darauf abzielt, die Angebotssteuerung zu verbessern, Steine in den Weg gelegt. Die Situation ist nicht neu; trotz der Bemühungen um eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit dem Europäischen Wettbewerbsnetz ist es nicht gelungen, die Maßnahmen der zuständigen Behörden effizient zu koordinieren.

4.1.4   Der EWSA plädiert für ein neues Modell für die Beziehung zwischen Verbrauchern und Erzeugern, das die lokalen Märkte bevorzugt (Möglichkeit der Einführung obligatorischer Mindestquoten) und durch kurze Kreisläufe oder sogenannte „Null-Kilometer-Produkte“ die Zwischenhändler abschafft. Die Europäische Kommission muss Anreize für Erzeugerinitiativen schaffen, die auf eine Annäherung an den Verbraucher abzielen, um einen größeren Mehrwert für ihre Produktion sowie die Wahrung der kulturellen Komponente und der regionalen Identität der Lebensmittel zu erreichen.

4.1.5   Die Revision der Richtlinie über Zahlungsverzug hat auf europäischer Ebene eine interessante Debatte darüber ausgelöst, ob es zweckmäßig ist, die Zahlungsfrist für Agrarlebensmittel zu verkürzen. Im Falle leicht verderblicher Waren wäre es zu befürworten, eine 30-Tage-Frist ab der Lieferung der Waren an den Kunden - und nicht ab dem Datum der Rechnungsstellung - festzulegen. Neben einer besseren Kontrolle des Zahlungsverzugs müssen auch eine eindeutige Definition der missbräuchlichen Praktiken und Klauseln sowie wirksame Instrumente zu deren Eliminierung aus den Geschäftsbeziehungen aufgenommen werden.

4.2   Transparenz entlang der Lebensmittelversorgungskette

4.2.1   Nach Ansicht des EWSA besteht großer Bedarf an Preistransparenz (7). Die Schaffung eines neuen europäischen Instruments zur Überwachung der Lebensmittelpreise muss mit neuen Zuständigkeiten in Sachen Kontrolle und Sanktion einhergehen. Der EWSA ist der Meinung, dass von der Überwachung zum Handeln übergegangen werden muss, damit die entsprechenden Instanzen angesichts der Verzerrungen bei der Preisentwicklung rasch und effizient reagieren können.

4.2.2   Der EWSA teilt nicht die Auffassung, dass sich allein durch eine bessere Vergleichbarkeit der Verbraucherpreise an sich schon mehr Transparenz in der Lebensmittelversorgungskette einstellen wird: Größere Transparenz und Vorhersehbarkeit der Preise ist nur einer der vielen Faktoren, die die Preisbildungstendenzen und -prozesse beeinflussen.

4.2.3   Die lobenswerten Bemühungen der Europäischen Kommission um Harmonisierung und Koordinierung der diversen einzelstaatlichen Instrumente zur Preisüberwachung sind zum Scheitern verurteilt, wenn keine Vereinheitlichung der Referenzgrundlagen bei der Preisweitergabe erfolgt. Wird bei der Sammlung der Daten dieselbe Referenzbasis verwendet? Gibt es gemeinsame Muster für die Einrichtung und die Funktionsweise der Preisbeobachtungsstellen? Verfügt die EU über entsprechende Instanzen, die einschreiten können, wenn Gleichgewichtsverschiebungen, Anomalien oder ungerechtfertigte Schwankungen beim Preisverhalten auftreten? Häufig entsprechen die Daten, die die Mitgliedstaaten der Europäischen Kommission mitteilen, nicht denselben Kriterien. So wurde zum Beispiel bei den Zitrusfrüchten festgestellt, dass die von der Kommission als Erzeugerpreise veröffentlichten Daten in Wirklichkeit die Endverbraucherpreise sind, in denen die Vermarktungskosten nicht enthalten sind. Durch dieses unterschiedliche Datenmaterial kann ein verzerrtes Bild der Situation entstehen, das die Erreichung des Transparenzziels erschwert.

4.2.4   Die in der Mitteilung vorgeschlagenen Maßnahmen werden nur dann greifen, wenn sie eine angemessene Verbreitung finden. Angesichts der Notwendigkeit, den Verbrauchern präzise Informationen zu liefern, ist dieser Sachverhalt von grundlegender Bedeutung. Wegen der zunehmenden Konzentration der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft und der Vertriebsbranche ist der gute Ruf einer Marke heute zudem verletzlicher - mit allen Risiken, die dies für die Unternehmen birgt.

4.3   Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und der Integration der Lebensmittelversorgungskette

4.3.1   Die Kommission unternimmt derzeit umfangreiche Anstrengungen, um einen einheitlichen Markt für Lebensmittel zu schaffen. Die großen Preisunterschiede zwischen den einzelnen Ländern stehen jedoch in unmittelbarem Zusammenhang mit den unterschiedlichen Kaufkraftniveaus. So haben die neuen Mitgliedstaaten (EU-12) das Niveau der übrigen Staaten nicht nur nicht erreicht; die Kluft weitet sich sogar noch aus. Deshalb muss die Europäische Kommission die neuen Mitgliedstaaten mit dem Ziel unterstützen, die Unterschiede zu verringern und das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten. Wenn sich diese Tendenz nicht umkehrt, werden die aus der EU-15 stammenden Produkte in den neuen Mitgliedstaaten allmählich Marktanteile einbüßen.

4.3.2   Die Lebensmittelversorgungskette ist durch eine starke Zersplitterung der Erzeugerseite und eine hohe Konzentration großer Einzelhandelsunternehmen gekennzeichnet, was große Ungleichgewichte in ihren Beziehungen mit sich bringt. Der EWSA ist der Ansicht, dass viele der Probleme, die das reibungslose Funktionieren der Lebensmittelversorgungskette gefährden, eine Folge der sehr raschen, konstanten und konzentrierten Entwicklung der Unternehmen am Ende der Kette sind. Im Bewusstsein dieser Problematik beabsichtigt die Europäische Kommission, die Erzeugerorganisationen (in Anlehnung an die GMO für Obst und Gemüse) weiterzuentwickeln, um die Angebotszersplitterung zu verringern. Der EWSA unterstreicht jedoch, dass es nicht darauf ankommt, mehr und größere Erzeugerorganisationen zu schaffen, sondern ihre Verwaltung und ihre Vermarktungskapazität zu verbessern, damit sie zu einem nützlichen Instrument für die Landwirte werden. Der EWSA fordert die Europäische Kommission nachdrücklich auf, neue Krisenbekämpfungs- und Stabilisierungsmaßnahmen einzuführen, wie z.B. ein Instrument zur Einkommenssicherung. Die positiven Erfahrungen, die auf diesem Gebiet in Kanada und den USA gemacht wurden, sprechen für die Anwendung einer solchen Maßnahme, deren Legitimität durch die WTO ausgebremst wurde.

4.3.3   Die Branchenorganisationen müssen gefördert und über einen gemeinsamen Handlungsrahmen mit einer stärkeren Dynamik ausgestattet werden. Hierfür erforderlich sind EU-Rechtsvorschriften, die die Branchenorganisationen in den einzelnen Mitgliedstaaten nach den gleichen Bestimmungen einheitlich so regeln, dass diese nicht nur als lose Branchenverbände zur allgemeinen Förderung des Sektors fungieren. Die die Rechtssicherheit der Branchenorganisationen bei ihrer Aufgabe der Marktstabilisierung untergrabenden regulierungstechnischen Hemmnisse müssen unbedingt beseitigt werden, wobei den Branchenorganisationen mehr Rechte zur brachenweiten Beschlussfassung eingeräumt werden sollten, damit sie nicht willkürlichen Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden unterliegen.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Schlussfolgerungen der hochrangigen Expertengruppe „Milch“, die am 15. Juni 2010 angenommen wurden.

(2)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes, die im Rat „Landwirtschaft“ am 29. März 2010 mehrheitlich angenommen wurden.

(3)  Der Agrarsektor macht 7 % der Beschäftigung in der EU und 5 % ihres Mehrwerts aus.

(4)  „Die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik 2013“, ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 35.

(5)  Vorreiter war hier Spanien mit der Schaffung der Beobachtungsstelle für Lebensmittelpreise. Frankreich hat die Reflexion über Pflichtverträge vertieft, und Großbritannien hat einen Ombudsmann eingesetzt, um die Erfüllung der Verhaltenskodizes zu kontrollieren.

(6)  ABl. C 175 vom 28.7.2009.

(7)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 111.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/150


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Optionen für ein Biodiversitätskonzept und Biodiversitätsziel der EU für die Zeit nach 2010“

KOM(2010) 4 endg.

2011/C 48/26

Berichterstatter: Lutz RIBBE

Die Europäische Kommission beschloss am 19. Januar 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Optionen für ein Biodiversitätskonzept und Biodiversitätsziel der EU für die Zeit nach 2010

KOM(2010) 4 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 7. Juli 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 112 gegen 11 Stimmen bei 11 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Ausschuss hätte sich gewünscht, dass eine Mitteilung mit diesem Inhalt nicht hätte geschrieben werden müssen, sondern dass die Politik ihr 2001 abgegebenes Versprechen, den Biodiversitätsverlust bis 2010 zu stoppen und für die Wiederherstellung verlorener Habitate zu sorgen, umgesetzt hätte. Dieses Ziel wurde jedoch verfehlt.

1.2

Der EWSA sieht zwei große Defizite. Zum einen ist Biodiversitätserhaltung bislang nicht im Zentrum politischen Handelns angekommen, zum anderen ist festzustellen, dass die Gesellschaft zwar eine positive Grundstimmung zur Naturerhaltung hat, gleichzeitig aber extreme Wissenslücken über ökologische Zusammenhänge bestehen. Beide Defizite korrelieren miteinander, sie müssen durch das neue Biodiversitätskonzept gelöst werden.

1.3

Es ist zu hinterfragen, ob die Wortwahl, derer sich sowohl die Fachpolitik als auch die Verbände bedienen, von den Menschen verstanden wird. „Biodiversität“, „Spezies“ oder „Ökosystemdienstleistungen“ sind Begriffe, die nur wenige direkt ansprechen und faszinieren.

1.4

Der EWSA unterstützt die auch vom Umweltministerrat und dem Europäischen Rat angenommenen, in Option 4 der Kommissionsmitteilung zum Ausdruck gebrachten ehrgeizigen Ziele. Um künftig erfolgreich zu sein, sind vermehrte Anstrengungen notwendig, und es ist im Vorhinein festzustellen, welche Finanzmittel hierfür erforderlich sind (1).

1.5

Er fordert deshalb die Kommission und den Europäischen Rat auf, nicht alte Zielvorgaben lediglich mit neuen Daten zu versehen, sondern endlich ein verbindliches, zeitlich klar abgestecktes und mit Zwischenzielen versehenes, finanziell ausreichend ausgestattetes Handlungskonzept für alle Kommissionsdienststellen zu erarbeiten sowie Hinweise zu geben, was sich auf Ebene der Mitgliedstaaten ändern müsste.

1.6

Die Erhaltung der biologischen Vielfalt ist keine Aufgabe, die nur allein in den Bereich der Umweltpolitik fällt. Sie ist auch Langzeitökonomie, weshalb sich endlich auch die Wirtschafts- und Finanzminister dieses Themas annehmen sollten.

1.7

Angesichts der erschreckenden Wissenslücken in unserer Gesellschaft über ökologische Zusammenhänge sind auch politische Maßnahmen notwendig, die die Erziehung zu mehr Umweltbewusstsein fördern.

1.8

Die Budgetreform sowie die Neuausrichtung der Gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik, der Strukturfonds sowie anderer relevanter Politikbereiche werden ein entsprechender Test für die Ernsthaftigkeit der EU-Politik zum Schutz der Biodiversität sein.

1.9

Die bisherigen Inhalte der neuen EU-2020-Strategie werden den Herausforderungen der Biodiversitätserhaltung nicht gerecht. Das neue Biodiversitätskonzept muss diese Lücken füllen und später integraler Bestandteil dieser Strategie werden.

1.10

Der EWSA sieht auf EU-Ebene folgende Handlungsfelder als besonders wichtig an:

Änderungen in Agrar- und Fischereipolitik,

Sicherung und Entwicklung des Natura 2000-Netzwerks,

Auf- und Ausbau einer „grünen Infrastruktur“ mittels eines TEN-Biodiversitätsnetzes,

Integration der Biodiversität in alle anderen Politikbereich der EU,

Bildungsoffensive auf EU-Ebene.

1.11

Es ist notwendig, Wege zu finden, wie Landwirtschaft und Artenerhaltung wieder besser miteinander verbunden werden; in einigen Mitgliedstaaten gibt es positive Ansätze, die auszuwerten und massiv auszubauen sind. Den Landwirten müssen Anreize zur Bereitstellung entsprechender Leistungen geboten werden.

1.12

Der EWSA erwartet, dass die EU gut vorbereitet in die 10. Konferenz der Vertragsparteien des Übereinkommens über die biologische Vielfalt geht und einen entscheidenden Beitrag zu einer neuen globalen Strategie bezüglich des Schutzes der Biodiversität nach 2010 leistet.

2.   Die Mitteilung der EU-Kommission

2.1

Die Mitteilung der Kommission musste in dieser Form geschrieben werden, weil die EU eines der zentralen umweltpolitischen Ziele der letzten Dekade nicht erreicht hat: Im Jahr 2001 hatte der Europäische Rat - im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie - in Göteborg das Ziel formuliert, den Verlust an biologischer Vielfalt in der EU bis 2010 zu stoppen und zudem für die Wiederherstellung verlorener Habitate zu sorgen. Doch trotz des 2006 angenommenen „Aktionsplans der EU zur Erhaltung der biologischen Vielfalt“ und trotz unbestreitbarer Erfolge bei der Etablierung des NATURA 2000-Netzes wurde dieses Ziel verfehlt.

2.2

Die hier zu bewertende Kommissionsmitteilung ist als erster Schritt zur Verwirklichung dieses Ziels zu verstehen. In der Mitteilung werden Optionen für die Entwicklung des Konzepts und der Ziele für die Zeit nach 2010 beschrieben.

2.3

Ausführlich werden die Argumente für den Schutz der biologischen Vielfalt beschrieben, betont und gewürdigt. Besonders werden dabei die volkswirtschaftlichen Kosten/Verluste angesprochen, die sich mit dem Verlust der biologischen Vielfalt - und daraus resultierend der Ökosystemdienstleistungen - global ergeben werden: sie werden im TEEB-Report (The Economics of Ecosystems and Biodiversity) auf jährlich rund 50 Mrd. EUR (!) beziffert, die kumulierten Wohlstandsverluste dürften danach im Jahr 2050 bei 7 % des BSP (!) liegen.

2.4

Die Kommission stellt klar, dass es sich beim Schutz der Biodiversität, ebenso wie beim Klimaschutz, um eine Langzeitaufgabe handelt. Deshalb soll das zu entwickelnde Biodiversitätskonzept langfristig angelegt sein (Zeithorizont: 2050), wobei sich die EU für das Jahr 2020 - analog zur internationalen Ebene - ein eigenes (Zwischen-)Ziel setzen sollte.

2.5

Für das „2020-Ziel“ werden den politisch Verantwortlichen 4 Optionen mit unterschiedlichem Ambitionsniveau angeboten, nämlich:

—   Option 1: Spürbare Senkung der Verlustrate (Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen) in der EU bis 2020;

—   Option 2: Eindämmung des Verlusts an Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen in der EU bis 2020;

—   Option 3: Eindämmung des Verlusts an Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen in der EU bis 2020 und Wiedernutzbarmachung im Rahmen des Möglichen;

—   Option 4: Eindämmung des Verlusts an Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen in der EU bis 2020 und Wiedernutzbarmachung im Rahmen des Möglichen sowie Verbesserung des Beitrags der EU zur Vermeidung globaler Biodiversitätsverluste.

3.   Allgemeine Anmerkungen zur bisherigen Biodiversitätspolitik der EU

3.1

Eine Bewertung der bisherigen EU-Biodiversitätspolitik fällt ernüchternd aus.

3.2

Vor rund 10 Jahren wurde das Versprechen abgegeben, den Verlust der Biodiversität innerhalb einer Dekade zum Stoppen zu bringen und für die Wiederherstellung von Habitaten und natürlichen Systemen zu sorgen.

3.3

Nahezu im Jahresrhythmus wurde entweder von Dienststellen der Kommission, von Kommissaren oder der Europäischen Umweltagentur darauf hingewiesen, dass über die bislang eingeleiteten Maßnahmen hinaus mehr Anstrengungen nötig seien, um das gesetzte Ziel zu erreichen; doch diese Anstrengungen wurden nicht unternommen.

3.4

Letztes Jahr kam das Eingeständnis, dass das gesteckte Ziel nicht erreicht wird - für den EWSA nicht unerwartet. Er hatte bereits in verschiedenen Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass seines Erachtens die eingeleiteten politischen Maßnahmen absolut unzureichend sind (2).

3.5

Die Tatsache, dass die EU ihre Zielsetzung im Bereich der Biodiversität nicht erreicht hat, liegt nicht daran, dass man nicht wüsste, was zu tun wäre bzw. dass die Zivilgesellschaft nicht bereit wäre, die notwendigen Schritte mitzugehen. Im Kern liegt es daran, dass die Politik kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen höhere Priorität einräumt als den langfristigen Wirkungen der Ökosystemleistungen. Dass unser Wirtschaftssystem nicht nachhaltig ist, sondern auf einer Übernutzung der natürlichen Ressourcen beruht, zeigt sich auch bei der Biodiversität.

3.6

Der EWSA begrüßt deshalb, dass die Kommission ausführlich auf den TEEB-Report eingeht und so wichtige Argumente zur wirtschaftlichen Bedeutung der biologischen Vielfalt liefert. Der Ausschuss möchte jedoch davor warnen, das Hauptaugenmerk auf die Frage der Inwertsetzung der biologischen Vielfalt zu legen. Denn

es gibt viele wichtige Gründe für die Erhaltung der biologischen Vielfalt, die man nicht monetarisieren kann oder sollte, wie das „Eigenrecht der Natur“, der Schöpfungsgedanke, die kulturelle Bedeutung der Vielfalt oder die schlichte Identifikation mit der Natur,

es darf keinesfalls zu einer Situation kommen, in der man die Notwendigkeit der Erhaltung einer einzelnen Art von deren berechneten ökonomischen Wert abhängig macht.

3.7

Der EWSA befürchtet zudem, dass dem TEEB-Report ein ähnliches Schicksal drohen kann wie dem Stern-Report beim Klimaschutz, dessen Warnungen vor den ökonomischen Langzeitfolgen des Klimawandels politisch ebenfalls verpufft sind. Es ist bezeichnend, dass sich die Finanz- und Wirtschaftsminister bisher auch nicht im Ansatz mit dem TEEB-Report befasst haben.

3.8

Der EWSA meint, dass es in dieser Situation nicht darum gehen kann, alte Zielsetzungen von 2001 zu recyceln, also das eigentlich für 2010 anvisierte Ziel nun auf 2020 zu verlegen und neue Visionen für 2050 zu beschreiben - so wichtig langfristige Visionen auch sein mögen. Es geht vielmehr darum, die bisherigen Politiken und Instrumentarien zu evaluieren und endlich bessere und in der Fläche wirksamere Maßnahmen zu erarbeiten und umzusetzen. Die neue EU-Biodiversitätstrategie 2020 muss deshalb nicht nur konkrete, quantifizierte Ziele und Zwischenziele beinhalten, sondern ganz besonders auch eine konkrete und bindende Umsetzungsplanung aufweisen und klare Verantwortlichkeiten benennen. Für eine ausreichende Finanzierung ist zu sorgen.

4.   Allgemeine Anmerkungen zur Mitteilung

4.1

Der EWSA versteht die Kommissionsmitteilung dahingehend, dass damit eine neue Debatte unter den politisch Verantwortlichen der EU ausgelöst werden soll, die mit einem deutlichen Signal an die Gesellschaft und einem klaren Arbeitsauftrag an die zuständigen Dienststellen enden soll. Er kann diesem Ansatz folgen.

4.2

Er begrüßt die Entschließung des EU-Umweltministerrates vom 15.3.2010, der sich im Kern der Option 4 angeschlossen hat. Er warnt aber davor, nun - wie schon im Jahr 2001 - zur Tagesordnung überzugehen, ohne wirkliche Konsequenzen zu ziehen. Denn dann droht auch dieser neuen Zielsetzung das gleiche Schicksal wie der aus 2001.

4.3

Der Ausschuss hält es nicht für ausreichend, dass sich „nur“ der Umweltrat mit dieser Thematik befasst und fordert eine Befassung in den übrigen betroffenen Ratsformationen. In der Kommissionsmitteilung wird sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es neben der ökologischen und ethischen auch eine wirtschaftliche Dimension des Biodiversitätsverlusts gibt. Deshalb erwartet der EWSA, dass sich auch vor allem die Wirtschafts- und Finanzminister mit der Problematik auseinander setzen, dass errechnet wird, welche Finanzmittel in den kommenden Jahren in Haushaltspläne einzustellen sind und welche sonstigen Veränderungen in Wirtschaft und Politik damit einhergehen müssen.

4.4

Er ist besonders enttäuscht darüber, dass vom Europäischen Rat, anders noch als im Jahr 2001, keine wirklichen Signale ausgesendet werden. In der neuen EU-Strategie 2020, die angeblich zum Ziel hat, ein „grünes Europa“ voranzubringen, finden sich die Begriffe „Biodiversität“, „Habitate“, „Naturschutz“ oder „Artenschutz“ sowie Schutz der Vielfalt genetischer Ressourcen nicht ein einziges Mal. „Artenvielfalt“ wird lediglich zweimal, und dies nur in Halbsätzen unter dem Thema „Ressourceneffizienz“, erwähnt. Auch in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom März 2010 ist diesem zentralen Thema kein eigenes Kapitel gewidmet. Lediglich der Beschluss des Umweltrates vom 15.3. wird im Rahmen klimapolitischer Fragen bestätigt.

4.5

Es wird deutlich, dass die Bedeutung der Erhaltung der biologischen Vielfalt nicht im Zentrum politischen Denkens und Handelns angekommen ist. Dies ist ein fatales und nicht hinnehmbares Signal, das bei der europäischen Öffentlichkeit ankommt, bei der selbst erhebliche Wissens- und Handelsdefizite zu erkennen sind.

4.6

Das neue Biodiversitätskonzept muss die Verantwortlichkeiten klarer benennen, z.B. das Verhältnis zwischen EU, Mitgliedstaaten, Regionen und Kommunen, zwischen Wirtschaft, Verbänden und Gesellschaft, aber auch innerhalb der Kommissionsdienststellen selbst.

4.7

Der EWSA teilt die Einschätzung der Kommission, dass Biodiversität eine ressortübergreifende Querschnittsaufgabe ist. Genau deshalb muss die neu zu erarbeitende Biodiversitätsstrategie 1.) zwingend in die „EU-Strategie 2020“ integriert und 2.) von allen Kommissionsdienststellen diskutiert, ernst genommen und mit Nachdruck verfolgt werden, z.B. auch vom Agrar-, dem Energie- und Verkehrsressort. Mit der Annahme der „EU-2020-Strategie“ einschl. eines integrierten Biodiversitätskonzepts müssen sich alle Kommissionsdienststellen verpflichten, an der Umsetzung mitzuarbeiten. Dazu gehört auch, an der Untersuchung der Naturschutzkonformität ihrer Förderprogramme und Verordnungen mitzuwirken und diese entsprechend anzupassen.

4.8

Der EWSA erwartet deshalb von der Kommission, dass im Herbst 2010 eine detaillierte Auflistung veröffentlicht wird, aus der hervorgeht, in welchen Politikbereichen es konkret die in der Mitteilung nur höchst vage angesprochenen Defizite bei der Integration der Biodiversitätsziele gibt. Dabei sollte auch herausgearbeitet werden, warum die Biodiversitätsstrategie von 2006, die immerhin ca. 160 verschiedene Maßnahmen umfasste, nicht ausreichend war, um erfolgreich zu wirken.

4.9

Das zu entwickelnde neue Biodiversitätskonzept muss darstellen, mit welchen Instrumenten und politischen Veränderungen man diese analysierten Defizite abzustellen gedenkt.

4.10

Die anstehende Budgetreform und die Neuausrichtung der Agrar- und Fischereipolitik und der Strukturfonds als zentrale Politikbereiche der EU werden so gewissermaßen auch zum Test für die Biodiversitätspolitik der EU, und zwar sowohl bezüglich der seit Jahren geforderten Integration in andere Politikbereiche als auch hinsichtlich der benötigten Finanzmittel. (Die EU-Ausgaben zur Erhaltung der Biodiversität betragen 0,1 % des Haushalts. Auf der anderen Seite gibt es viele Ausgaben, die negative Folgen für die biologische Vielfalt haben.)

4.11

In diesem Zusammenhang weist der EWSA auf die entscheidende Rolle der Landwirtschaft bei der Erhaltung der biologischen Vielfalt hin. Ein Großteil der Artenvielfalt ist im Rahmen traditioneller landwirtschaftlicher Nutzungsformen entstanden, die heute allerdings – zumeist aus ökonomischen Gründen – keine Basis mehr haben.

4.12

Es ist deshalb notwendig, Wege zu finden, wie Landwirtschaft und Artenerhaltung wieder besser miteinander verbunden werden; in einigen Mitgliedstaaten gibt es positive Ansätze, die auszuwerten und massiv auszubauen sind. Den Landwirten müssen Anreize zur Bereitstellung entsprechender Leistungen geboten werden (3).

4.13

Besondere Bedeutung kommt dem Schutz der marinen Artenvielfalt zu. Kenntnisse der Meeresökologie sind in den Gesellschaften der meisten Mitgliedstaaten nicht sonderlich ausgeprägt, und der Druck auf die Regierungen und die für den Schutz des Meeres verantwortlichen Institutionen ist verhältnismäßig schwach. Die Wirksamkeit der geltenden Meeresschutzmaßnahmen sollte überprüft werden, und es sollten Anstrengungen unternommen werden, diesen Schutzmaßnahmen größeres Gewicht in Bildungsprogrammen und im wirtschaftlichen Bereich einzuräumen.

4.14

Der EWSA erwartet, dass die EU gut vorbereitet in die 10. Konferenz der Vertragsparteien des Übereinkommens über die biologische Vielfalt geht und einen entscheidenden Beitrag zu einer neuen globalen Strategie bezüglich des Schutzes der Biodiversität nach 2010 leistet.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Die bestehenden Gesetze, Regelungen und Maßnahmen reichen ganz offensichtlich nicht aus, die biologische Vielfalt zu sichern, oder anders ausgedrückt: der Verlust an biologischer Vielfalt geschieht nicht durch permanente Verstöße gegen bestehende Gesetze, sondern – weitgehend – in deren Rahmen. Naturschutzverträgliches Handeln erweist sich so vielfach als wirtschaftlicher Wettbewerbsnachteil. Auf der anderen Seite wird die ökonomische Relevanz der Biodiversität in Fachkreisen zwar mehr und mehr diskutiert, sie ist aber in ihrer Bedeutung noch nicht wirklich akzeptiert oder anerkannt. Der EWSA erwartet, dass sich Kommission und Rat ganz besonders mit diesen Umständen auseinandersetzen und eine Konzeption erstellen, wie diesen zu begegnen ist. Die Internalisierung externer Kosten, vielfach eingefordert, aber nur ansatzweise realisiert, könnte hier Abhilfe schaffen.

5.2

Speziell in der GAP muss der Erhalt der Biodiversität eine größere Rolle spielen. Mit der Agrarreform nach 2013 müssen Kriterien zum Erhalt der Biodiversität wichtiger Bestandteil der GAP werden, um den derzeitigen Konflikt zwischen wirtschaftlichem Produzieren und Naturerhaltung lösen zu können.

5.3

Der in der Kommissionsmitteilung geäußerte Gedanke einer „grünen Infrastruktur“ sollte mit Hochdruck fortentwickelt werden. Zur Erreichung der Biodiversitätsziele bedarf es nicht nur eines flächenhaften Schutzgebietssystems, wie es derzeit mit dem NATURA 2000-Netz im Aufbau ist, es bedarf auch eines europäischen linienförmigen Biotopverbundsystems, oder, um in der europäischen Sprachregelung zu bleiben: eines Transeuropäischen Netzes „Natur“. Dazu könnten gehören:

Wanderkorridore terrestrisch wandernder Tierarten wie Wolf, Luchs, Bär, Wildkatze, das z.B. aus linearen Strukturen für waldgebundene Arten besteht,

eine Verbindung von Gewässerrändern und Feuchtbiotopen im Rahmen der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie (WRRL), was für Arten, die an Feuchtland und Gewässerränder gebunden sind, hilfreich wäre (Offenlandstruktur), aber auch

Ackerraine, Ackerrandstreifen, Feldgehölze, artenreiches Gründland (Flachland Gründwiesen), Alleen für Offenlandarten (Verknüpfung mit der Agrarförderung).

5.4

Ein solches TEN-„Natur“-Netz würde der Vernetzung der Natura 2000-Gebiete und der Umsetzung der WRRL dienen und wäre auch partiell eine Reaktion auf den Klimawandel. Es gäbe den terrestrischen Tierarten die Möglichkeit, durch Wanderbewegungen auf den Klimawandel zu reagieren. Mindestens ebenso wichtig ist aber, dass ein solches Netzwerk den Austausch bisher isolierter Populationen einer Art ermöglicht, was eine wesentliche Grundlage zur Sicherung des Überlebens ist.

5.5

Zur Sicherung und Weiterentwicklung der Natura 2000-Gebiete, dem bisherigen Herzstück der EU-Biodiversitätspolitik, muss die EU endlich eine ausreichende Fördermöglichkeit zur Entwicklung und Sicherung der Gebiete schaffen.

5.6

Es ist richtig, dass die Kommission auf die unterschiedliche Verteilung von „Biodiversität“ hinweist. Es gibt Regionen, in denen noch eine hohe Biodiversität vorhanden ist, andere, in denen speziell durch menschliche Eingriffe die Vielfalt massiv reduziert wurde. Daraus darf aber kein falscher Schluss gezogen werden: politische Maßnahmen, inkl. Geldflüsse, dürfen sich nicht nur auf die Hot Spots der Biodiversität konzentrieren. Auch und gerade in Regionen mit geringer Biodiversität ist ein breit gefächertes politisches Instrumentarium erforderlich, um die Ökosystemleistungen zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Auf der anderen Seite dürfen nicht jene Mitgliedstaaten, die noch über ein hohes Schutzniveau bzw. -potenzial verfügen, „bestraft“, sondern müssten belohnt werden.

5.7

Biodiversitätserhaltung muss nicht nur einen flächendeckenden Ansatz verfolgen. Das neue Biodiversitätskonzept der EU sollte auch die positive Kopplung zwischen Klima- und Artenschutz hervorheben und deshalb besonders die Erhaltung und Entwicklung von Moor-, Feucht- und Grünlandstandorten sowie nachhaltigen Waldökosystemen verbessern. Die Politik der Nutzung von Biomasse zu Energiezwecken darf diesem Ansatz nicht zuwider laufen. Um dies zu verhindern sind Nachhaltigkeitskritierien einzuführen, die auch in anderen Bereichen (wie z.B. Futtermittel) anzuwenden sind.

5.8

Der EWSA betont abermals, wie wichtig es sein wird, ein wirkliches Problembewusstsein in Gesellschaft und Wirtschaft für die Belange der Erhaltung der biologischen Vielfalt zu schaffen. Davon sind wir weit entfernt, trotz aller vorhandenen Programme und trotz der Arbeit von Umweltverbänden.

5.9

Schon die Wortwahl, derer sich die Fachpolitik bedient, muss hinterfragt werden: Was stellt sich der normale Bürger unter „Biodiversität“ vor, kann er mit Begriffen wie „Spezies“ oder „Ökosystemdienstleistung“ etwas anfangen? Viele Umfragen zeigen eine erschreckende Unkenntnis über ökologische Zusammenhänge. Auch daraus wird deutlich: Naturerhaltung ist nicht nur eine Aufgabe der Umweltminister, auch die Bildungspolitik ist gefordert, um das nötige Grundwissen zu vermitteln.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Zum Problem der Finanzierung globaler Programme siehe Stellungnahme des EWSA NAT/424 betreffend „Globale Entwaldung“, Ziffern 1.4 und 1.5.

(2)  ABl. C 195 vom 18.8.2006, S. 88 und S. 96, ABl. C 161 vom 13.9.2007, S. 53, ABl C 97 vom 28.4.2007, S. 6-11, Ziffer 1.3.

(3)  ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 35.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/155


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Grünbuch — Waldschutz und Waldinformation: Vorbereitung der Wälder auf den Klimawandel“

KOM(2010) 66 endg.

2011/C 48/27

Berichterstatter: Seppo KALLIO

Mitberichterstatter: Brendan BURNS

Die Europäische Kommission beschloss am 17. Mai 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Grünbuch - Waldschutz und Waldinformation: Vorbereitung der Wälder auf den Klimawandel

KOM(2010) 66 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 31. August 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 121 gegen 2 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stellt Folgendes fest:

Die Bedeutung der Wälder als erneuerbare Naturressource, als Erbringer von Ökosystemdienstleistungen und als Voraussetzung für das Wohlergehen der Menschen dürfte in den kommenden Jahrzehnten tendenziell zunehmen.

Es wird davon ausgegangen, dass es infolge des Klimawandels auch zu Auswirkungen auf das grundlegende Funktionieren der Ökosysteme kommen wird und somit auch auf die von den Wäldern angebotenen Ökosystemdienstleistungen.

Es ist damit zu rechnen, dass infolge des Klimawandels mehr Unsicherheit und grenzüberschreitende Phänomene und Gefahren mit Auswirkungen für die Umwelt wie Schadinsekten, Krankheiten, Dürre, Hochwasser, Stürme, Waldbrände auftreten werden.

Die Bedeutung aktueller Forstinformationen für eine sich anpassende Forstwirtschaft und die Bedeutung der Forschung in Bezug auf die einschlägige Beschlussfassung wachsen stetig.

1.2

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss unterstreicht Folgendes:

Die verschiedenen Funktionen der Wälder sollen mittels eines ausgewogenen Ansatzes berücksichtigt werden, bei dem nicht nur der Schutz der Wälder berücksichtigt wird.

Die Pflege und Bewirtschaftung der Ökosysteme und der von ihnen erbrachten Ökosystemdienstleistungen und der sonstigen Kollektivgüter erfordern die Bereitstellung von wirtschaftlichen Anreizen und Wissen für die Waldbesitzer und sonstigen Akteure, darunter Forstunternehmer und Holznutzer, die in der Praxis für forstrelevante Beschlüsse verantwortlich sind.

Die Folge- und Multiplikatorwirkungen des Klimawandels können durch Gefahrenverhütung und Vorbereitung auf Krisensituationen gelindert werden.

Die Zusammenarbeit zwischen den Staaten und den Akteuren ist ein wichtiges Mittel zur Bewältigung grenzüberschreitender Phänomene und der wirkungsvolleren Generierung von Waldinformationen.

1.3

Der EWSA spricht sich dafür aus, dass die besondere Bedeutung der Wälder und des Forstsektors in einer ökologischen Wirtschaft im Einklang mit der EU-2020-Strategie in den verschiedenen Politikfeldern der EU wie folgt beachtet wird:

Die forstbezogenen Politiken der EU, darunter die Forststrategie und der Forstaktionsplan, unterstützen die aktive Pflege und Nutzung der Wälder sowie eine wettbewerbsfähige, nachhaltige und umweltfreundliche Verwendung von Holz und holzbasierten Produkten.

Bei der Koordinierung forstpolitischer Belange mit anderen Sektoren und den entsprechenden Politiken sollte unter anderem die Rolle des Ständigen Forstausschusses und der sonstigen forstpolitischen Beratungsgremien und -ausschüsse (1) in der Beschlussfassung im Bereich EU-Forstpolitik aufgewertet werden.

Der preislichen Bewertung der verschiedenen Ökosystemdienstleistungen und Kollektivgüter sollte in der EU-Politik für die ländlichen Gebiete Rechnung getragen werden.

1.4

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss empfiehlt der Kommission:

gegenüber den Mitgliedstaaten bei der Koordinierung forstpolitischer Belange mit anderen Sektoren und Bereichen, den entsprechenden Politiken, den Nachbarstaaten sowie gegenüber den sonstigen Akteuren bei der frühzeitigen Erkennung und beim Krisenmanagement mit gutem Beispiel voranzugehen;

die Generierung objektiver Informationen über die Forstwirtschaft zu unterstützen. Dies könnte zum Beispiel im Rahmen des internationalen Jahres der Wälder 2011 geschehen, um die Akzeptanz der Forstwirtschaft bei Waldbesitzern, Verbrauchern und Bürgern zu verbessern;

die Produktion von Wissen hinsichtlich der Eigenschaften von Holz und holzbasierter Produkte - z.B. über ihren Nutzen für den Klimaschutz zu unterstützen, um so Nachhaltigkeit in Verbrauch und Produktion zu stärken;

eine Studie über die Beteiligung der einzelnen Akteure an der Zusammentragung von Forstwissen in der EU und über die dabei erfassten Daten in Auftrag zu geben;

in Zusammenarbeit mit der Technologieplattform des Forstsektors, den Forschungseinrichtungen, den nationalen Organisationen und den diversen Akteuren des forstbasierten Sektors forstliche Wissens- und Planungssysteme sowie darauf beruhende bewährte Verfahrensweisen zu entwickeln. Diese sollen bei der Lokalisierung und Abhilfemaßnahmen bei plötzlichen Veränderungen wie etwa Katastrophen helfen;

die Mitgliedstaaten und die sonstigen Akteure bei der Umsetzung und Überwachung der nachhaltigen Forstwirtschaft sowie bei der dafür erforderlichen Wissensgenerierung und bei deren Vereinheitlichung stärker zu unterstützen.

2.   Ausgangssituation und Aufgabenstellung

2.1

Das Grünbuch soll den Auftakt zu einer EU-weiten öffentlichen Debatte geben, um Meinungen über die Zukunft des Waldschutzes und die Waldinformationspolitik in Erfahrung zu bringen und Argumente für eine etwaige Einbeziehung von Klimaaspekten in eine überarbeitete EU-Forststrategie zu liefern. Die Fragestellungen im Grünbuch knüpfen an das vorausgegangene Weißbuch der Europäischen Kommission „Anpassung an den Klimawandel: Ein europäischer Aktionsrahmen“ (2) an.

2.2

Im Grünbuch erfolgt eine Betrachtung der allgemeinen Lage der Wälder und ihrer Bedeutung. Die besonderen Merkmale und Funktionen der Wälder in der EU sowie die größten Herausforderungen und die Bedrohung durch den Klimawandel werden erläutert, und es werden die zur Verfügung stehenden Waldschutzinstrumente und Forstinformationssysteme vorgestellt.

2.3

Forstpolitische Maßnahmen fallen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip in erster Linie in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die Rolle der EU ist im Wesentlichen darauf ausgerichtet, die forstpolitischen Maßnahmen und Programme der Mitgliedstaaten zu bereichern, und zwar durch Sensibilisierung der Mitgliedstaaten für neue Herausforderungen sowie durch Vorschläge für frühzeitiges Handeln auf EU-Ebene.

2.4

Im Mittelpunkt der in dieser Stellungnahme angestellten Überlegungen stehen die Fragen, wie der Klimawandel die Forstwirtschaft und den Waldschutz in Europa verändert und in welche Richtung sich die politischen Maßnahmen der EU entwickeln sollen, um forstpolitische Initiativen der Mitgliedstaaten frühzeitiger zu fördern, was die EU tun kann, um die kommenden Herausforderungen zu bewältigen und ob zusätzlicher Informationsbedarf besteht. Die Waldschutzmaßnahmen der EU sollen so ausgelegt werden, dass die Wälder auch in Zukunft ihre produktiven, sozioökonomischen und ökologischen Funktionen erfüllen.

3.   Erhaltung, ausgewogene Gestaltung und Stärkung der Waldfunktionen (Frage 1)

3.1

In den Übereinkommen der Vereinten Nationen wird die Bedeutung des Waldes für die Eindämmung des Klimawandels (3) und die Erhaltung der biologischen Vielfalt (4) gewürdigt. Auf gesamteuropäischer Ebene sowie im Einklang mit der EU-Forststrategie haben sich die Mitgliedstaaten der EU zur ausgewogenen Gestaltung der verschiedenen Funktionen mittels eines Ansatzes verpflichtet, bei dem die nachhaltige Forstbewirtschaftung und die Multifunktionalität die Grundlage bilden (5). Auf EU-Ebene werden die verschiedenen Funktionen der Wälder durch die EU-Forststrategie und den Forstaktionsplan (FAP) sowie die Kommissionsmitteilung über die forstbasierte Industrie in der EU berücksichtigt (6). Auf nationaler und regionaler Ebene werden die verschiedenen Aufgaben der Wälder unter anderem durch die Forstprogramme gesteuert. Somit verfügt die Forstwirtschaft über einen politischen Rahmen zur wirksamen Erhaltung, ausgewogenen Gestaltung und Stärkung der einzelnen Waldfunktionen. Hingegen sind zusätzliche Anstrengungen bei der Koordinierung forstpolitischer Belange mit anderen Sektoren und Bereichen und den entsprechenden Politiken erforderlich. Dafür bieten beispielsweise der Ständige Forstausschuss, die sonstigen beratenden forstpolitisch relevanten Gremien und Ausschüsse sowie die dienststellenübergreifende Gruppe für Forstwirtschaft der Kommission Möglichkeiten (7). Die Rolle des Ständigen Forstausschusses bei der Beschlussfassung über forstbezogene Angelegenheiten sollte gestärkt werden. Auch auf nationaler Ebene sollte eine intensivere branchenübergreifende Koordinierung forstpolitischer Belange erfolgen. Durch vorbeugendes und interdisziplinäres Vorgehen kann die Kommission gegenüber den nationalen Akteuren eine Beispielfunktion einnehmen.

3.2

Die Bedeutung der Wälder als erneuerbare Naturressource, als Erbringer von Ökosystemdienstleistungen und als Voraussetzung für das Wohlergehen der Menschen dürfte in den kommenden Jahrzehnten tendenziell zunehmen. So bilden beispielsweise in vielen europäischen Ländern die verantwortungsbewussten Verbraucher (8) ein beachtliches Marktsegment. Die vielfältige und nachhaltige Nutzung der Wälder, der aus ihnen gewonnenen Produkte und der mit ihnen verbundenen Dienstleistungen sowie eine Forstbewirtschaftung, die dies unterstützt, sorgen auf verschiedenen Ebenen und in vielen Bereichen für Beschäftigung, Einkommen und Wohlstand. Die Forst- und forstbasierten Gewerbe sowie die Holzerzeugung, Nichtholzprodukte des Waldes und der Waldtourismus sind für die Gemeinschaften vor Ort besonders wichtig. Bei den Maßnahmen im Rahmen der EU-2020-Strategie kommt es darauf an, dass für Waldbesitzer, Unternehmer und Holzverarbeitungsindustrie sichere Rahmenbedingungen gewährleistet werden, da der Wettbewerb um forstwirtschaftlich nutzbare Flächen, um den für die Weiterverarbeitung erforderlichen Rohstoff Holz und um Energieholz immer schärfer wird. Auch die Bedeutung informationsbezogener Kompetenten nimmt immer mehr zu. Das internationale Jahr der Wälder 2011 bietet die Möglichkeit zu einer Verbesserung der Akzeptanz der Forstwirtschaft bei Verbrauchern und Bürgern sowie zur Förderung des nachhaltigen Verbrauchs und der nachhaltigen Erzeugung. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass die Vorteile von Holz und Holzprodukten bei der Bremsung des Klimawandels aufgrund Kohlenstoffspeicherung, guter Energiebilanz und Wärmeeffizienz im Vergleich zu anderen Materialien herausgestrichen werden.

3.3

Die Maßnahmen zum Schutz der Wälder werden traditionell durch strategische Ziele und auf ihre Umsetzung abzielende Vorschriften, Leitlinien und Empfehlungen gewährleistet. In den letzten Jahren hat sich die Verantwortung für Ökosystemdienstleistungen und sonstige Kollektivgüter immer mehr zu den Waldbesitzern und den Unternehmen hin verlagert. Um dem Umweltschutz zu entsprechen, benötigen die Akteure neue Kompetenzen und aktuelles Wissen über verschiedene Handlungsalternativen, z.B. gemeinsame Projekte, die die Kosteneffizienz verbessern, sowie wirtschaftliche Anreize. Zu den Herausforderungen zählen unter anderem die wirtschaftliche Bewertung des Schutzes der biologischen Vielfalt und der Wassereinzugsgebiete, des Erholungswerts und der Kohlenstoffbindung.

3.4

Wälder, Holz und holzbasierte Produkte spielen eine bedeutende Rolle bei der Klimaregulierung. Als besonders wichtig wird die Fähigkeit der Wälder und der Holzprodukte zur Kohlenstoffbindung angesehen. Holzbasierte Produkte können Produkte ersetzten, die aus anderen Materialien, die den Klimawandel weniger bremsen, hergestellt sind. So agiert das in Bauten, Einrichtungen und Möbeln verwendete Holz als relativ langfristiges Kohlenstofflager. Außerdem kann holzbasierte Bioenergie in gewissem Umfang fossile Energieträger ersetzen. Die Nutzung klimafreundlicher Materialien wie Holzprodukte im Rahmen des Klimaschutzes kann durch politische Ziele und Mittel unterstützt werden.

3.5

Die umfassenden Sturmschäden und die Waldbrände der letzten Jahre haben ferner vermehrt Diskussion darüber ausgelöst, inwieweit sich der Klimawandel auch auf die Waldökosysteme und darüber hinaus auch auf die forstbezogenen Aktivitäten auswirkt. Die Bedeutung der Wälder für die örtliche und regionale Klimaregulierung sowie für den Bodenschutz ist von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich. Das Bewusstsein dafür hat in den letzten Jahren immer stärker zugenommen, weil mehr Erkenntnisse über den Wasserkreislauf und mehr Erfahrungen mit den Problemen der Trockenheit vorliegen.

4.   Auswirkungen des Klimawandels auf die Wälder und die Forstwirtschaft (Frage 2)

4.1

Es wird davon ausgegangen, dass infolge des Klimawandels mehr Unsicherheit und Risiken durch Umweltfolgen (wie Schadinsekten, Krankheiten, Dürre, Hochwasser, Stürme, Waldbrände) auftreten. Eine zusätzliche Herausforderung ist die Globalisierung, denn durch sie werden Holzprodukte und forstliches Vermehrungsgut verstärkt transportiert. Dies wiederum begünstigt unter anderem die schnelle Ausbreitung von Schädlingen außerhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebiets. Treten die ökologischen Risiken für die Wälder und den Forstsektor ein, wird das zahlreiche soziale und wirtschaftliche Folgen haben. Die wirtschaftlichen Folgen können auf die Änderung des Wertes der Aktiva und der geschäftlichen Rahmenbedingungen der Unternehmen zurückzuführen sein. Die sozialen Folgen können groß sein - wie die Änderung der Lebensumgebung als Folge der Waldvernichtung - oder indirekt sein - wie gesellschaftliche Nachwirkungen durch Veränderung der wirtschaftlichen Situation der Akteure im betroffenen Gebiet. Das plötzliche Eintreten von Umweltrisiken verursacht besondere Herausforderungen, u.a. für die Märkte und die Logistik. Mehr Wissen über die möglichen Gründe und Auswirkungen wird benötigt, um die Unsicherheit und Risiken in Zeiten des Klimawandels zu mindern und zu steuern.

4.2

Waldreichtum und eine gute Waldbewirtschaftung gewährleisten die Anpassungsfähigkeit der europäischen Wälder an die verschiedenen Veränderungen. Dennoch gibt es innerhalb Europas große regionale Unterschiede, die den unterschiedlichen natürlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten geschuldet sind. So wird zum Beispiel für die trockenen Gebiete des Mittelmeers aufgrund des Zusammenwirkens von Klimawandel und menschlichem Handeln eine starke Zunahme des Waldbrandrisikos prognostiziert. Wenn Dürreperioden auch in anderen Teilen Europas immer öfter vorkommen, können beispielsweise die Regionen, in denen es vornehmlich Nadelwald gibt, leiden. Milde Winter ohne Bodenfrost dürfte die Logistik der Holzernte zunehmend vor eine Herausforderung stellen. Auch das Risiko von Pilz- und Schädlingsbefall nimmt zu. In Gebieten, in denen die Einschlagmöglichkeiten nur wenig genutzt wurden, können Sturmschäden und in der Folge Schädlingsbefall auftreten. Für die Waldbesitzer und die Wirtschaft vor Ort kann dies gravierende wirtschaftliche Konsequenzen haben. Die biologische Vielfalt der Wälder könnte Schaden nehmen. Die sich wandelnden Rahmenbedingungen können auch eine Verlagerung relativer regionaler Standortvorteile verursachen, was wiederum die Beschäftigungsverteilung zwischen den Regionen und die jeweiligen sozialen Bedingungen beeinflusst.

4.3

Den schädlichen Folgeerscheinungen des Klimawandels kann begegnet werden, indem man sich auf sie vorbereitet. Die systematische Früherkennung ist sinnvoll, sowohl um unerwünschten Auswirkungen vorzubeugen, als auch um sich auf plötzlich eintretende Änderungen und Naturkatastrophen vorzubereiten. Die auf Vorhersagen basierende Planung von Anpassungs- und Gegenmaßnahmen auf verschiedenen Ebenen wird immer wichtiger. Weiterhin ist wichtig, dass die forstbezogenen Politiken und Gremien in der EU wie die Forsttechnologieplattform die aktive Forstpflege und -nutzung und die stärkere Nutzung von Holz unterstützen, die stärkere Verwendung klimafreundlicher Materialien fördern und die Wettbewerbsfähigkeit einer nachhaltigen Nutzung von Holz verbessern.

4.4

Folge- und Multiplikatorwirkungen können durch Vorbereitung auf Krisensituationen gelindert werden, unter anderem durch die Entwicklung von Reaktionsmechanismen wie Krisenpläne, Ausrüstung, und bewährte Vorgehensweisen. In Umbruch- und Krisenzeiten verdienen besonders die Sicherheitsaspekte, und darunter gerade die Sicherheit am Arbeitsplatz, besondere Aufmerksamkeit.

5.   Verfügbare Instrumente zum Schutz der Wälder (Frage 3)

5.1

Für den Waldschutz ist sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene eine solide Rechtsgrundlage und Instrumentenpalette vorhanden. Neben dem traditionellen Schutz von Waldgebieten werden Einschränkungen der Bewirtschaftung oder der Genehmigungspflichten eingesetzt. Für die Forstwirtschaft problematisch sind derzeit die Fragmentierung der Bestimmungen und Instrumente und die dadurch bedingten Dopplungen und möglichen Widersprüche.

5.2

Freiwillige Schutzmaßnahmen haben sich insbesondere für Kleinwaldbesitzer als rentabel erwiesen. Ihre Umsetzung setzt jedoch voraus, dass den Waldbesitzern Können und Wissen vermittelt werden und die Kosten und der Einkommensausfall aufgrund der freiwilligen Maßnahmen in vollem Umfang erstattet werden.

5.3

Die größte Unsicherheit besteht derzeit bezüglich der Biodiversität von Wäldern außerhalb der Schutzgebiete, denn über sie ist zu wenig bekannt. Darüber hinaus können Zielvorgaben zur vermehrten Nutzung von Biomasse als erneuerbarer Energieträger auch Auswirkungen auf die Forstbewirtschaftung und den Holzeinschlag und somit auch auf die Artenvielfalt haben.

6.   Forstbewirtschaftung und -nutzung (Frage 4)

6.1

Für die europäische Forstwirtschaft sind die langen Umtriebszeiten der Wälder typisch. So wird man beispielsweise erst in Jahrzehnten wissen, welche Folgewirkungen die neuen Forstbewirtschaftungsmethoden haben. Die sich wandelnden sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten erfordern in zunehmendem Maße neue Anbau- und Ernteverfahren in Wirtschaftswäldern, darunter Energieholz mit kurzer Umtriebszeit, oder die Durchforstung reifer Wälder an Stelle des Verjüngungshiebs. Das ökologische Handlungsumfeld, darunter das sich wandelnde Klima, kann seinerseits die ökologischen Folgewirkungen neuer Forstbewirtschaftungsmethoden verstärken. In einer sich anpassenden Forstwirtschaft werden Zustand und Veränderungen der Wälder kontinuierlich verfolgt, so dass die Waldbewirtschaftung bei Bedarf besser auf die Ziele abgestimmt kann. Über die Waldpflege und -nutzung entscheiden die Waldbesitzer, die für ihre Entscheidungen Wissen über verfügbare Bewirtschaftungsmethoden und deren mögliche Folgen benötigen. Eine an den Waldbesitzern ausgerichtete Forstplanung ist eine mögliche Lösung.

6.2

Die genetische Vielfalt des forstlichen Vermehrungsguts und die Anpassung an den Klimawandel kann beispielsweise unterstützt werden, indem das System der Kriterien und Indikatoren für die nachhaltige Forstwirtschaft dementsprechend maßgeschneidert wird.

7.   Hinlänglichkeit und Qualität von Forstinformationen (Frage 5)

7.1

Forstwirtschaftliches Wissen wird in Europa dezentral und schwerpunktmäßig an drei Orten generiert:

in der Kommission und in den von ihr finanzierten Forschungseinrichtungen und –vorhaben,

bei den nationale Forschungs- und Statistikinstituten und

bei den gewerblichen und forstwirtschaftlichen Akteuren.

7.2

Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip tragen die Mitgliedstaaten bei eigenen Angelegenheiten die hauptsächliche Zuständigkeit, während die EU durch gemeinsames Handeln Mehrwert bringen soll. Die nationalen Forschungs- und Statistikorganisationen, darunter die staatlichen Forstinventare und Statistikzentren, gewährleisten die Planung der nationalen Forstpolitik und die für die Umsetzung erforderlichen Forstinformationen. Zum forstlichen Wissen der EU zählen derzeit unter anderem Kenntnisse über den Zustand der Wälder, darunter Waldbrände, sowie sonstige Statistiken über wald- und holzbasierte Produkte sowie deren Produktion und Verwendung. Zusätzlich sind die nationalen Organisationen auch noch in gewissem Umfang dazu verpflichtet, zu den internationalen Statistiken beizutragen. Eurostat ist für die Statistiken über die europäischen Forstressourcen und die Holzerzeugung in der EU sowie Europas Beitrag zu den globalen Statistiken (9) verantwortlich und betreut die Sammlung und Vereinheitlichung nationaler Daten. Mit Blick auf ihre internationalen Verpflichtungen unterstützt die Kommission auch die nationalen Organisationen bei der Harmonisierung der Daten (10). Bei der Harmonisierung wurden sowohl die Notwendigkeit einheitlicher Statistiken als auch die nationalen und regionalen Unterschiede in Bezug auf den Inhalt der Daten (z.B. bei den Indikatoren für Biodiversität) berücksichtigt. Die Kommission hat unter anderem Systeme zur Überwachung grenzübergreifender Phänomene, wozu die Waldgesundheit (11), Waldbrände (12) sowie europaweite Informations- und Kommunikationssysteme (13) gehören, geschaffen.

7.3

Die Waldbesitzer und die sonstigen forstwirtschaftlichen Akteure erhalten einschlägige Informationen im Allgemeinen entweder über nationale Forschungs- oder Statistikeinrichtungen oder von den gewerblichen Akteuren. Auch Waldbesitzer und andere forstwirtschaftliche Akteure produzieren und lagern Daten in ihren eigenen Datensystemen in Echtzeit. Die Bedeutung aktueller Forstinformationen in einem sich wandelnden Umfeld und einer sich anpassenden Forstwirtschaft wächst stetig.

7.4

Umfang, Genauigkeit und Aktualität der Forstinformationen schwanken von Land zu Land. Die meisten Länder können auf nationaler Ebene beinahe jährlich über den Holzbestand in ihren Wäldern berichten. Eine Reihe nationaler Organisationen sind im Stande, jährlich detaillierte und verlässliche Berichte über den Gesundheitszustand und die Situation der Wälder im eigenen Land zu erstellen, die überdies Aufschluss über deren Produktionskapazität, Waldschutzmaßnahmen, Kohlenstoffbilanz, Dienstleistungen, und die wirtschaftliche Lebensfähigkeit (14) geben. In einigen EU-Ländern gibt es immer noch einen Mangel in Bezug auf den Inhalt der Daten, ihre Genauigkeit und die Aktualität. Zur Vereinheitlichung der internationalen Statistiken finanziert die Kommission Forschungs- und Entwicklungsvorhaben und Kooperationsnetze (15). Die größten Defizite im forstlichen Wissen unter dem Aspekt Schutz und des Klimaschutz liegen bei der Artenvielfalt der Wälder außerhalb der Schutzgebiete, der nachhaltigen Nutzung der Bioenergieressourcen, der Kohlenstoffspeicherung und Kohlenstoffsenken, einschließlich holzbasierter Produkte, sowie der schnellen Lokalisierung von Schadensgebieten. Die Unterstützung für die Zusammentragung und Vereinheitlichung von Wissen durch nationale Akteure muss verbessert werden.

7.5

Eine Herausforderung bei der Erstellung einheitlicher Waldinformationen auf EU-Ebene ist die große Anzahl der Beteiligten, die zur Sammlung dieser Daten beitragen. Daher sollte eine umfassende Untersuchung durchgeführt werden, in der die Akteure und die jeweils von ihnen erfassten Daten ermittelt werden.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Beratungsgruppe Forstwirtschaft und Kork, Beratender Ausschuss für die Holzwirtschaftspolitik der Gemeinschaft; Beschluss der Kommission 97/837/EG vom 9. Dezember 1997 zur Änderung des Beschlusses 83/247/EWG zur Einsetzung eines Beratenden Ausschusses für die Holzwirtschaftspolitik der Gemeinschaft, ABl. L 346 vom 17.12.1997, S. 95.

(2)  KOM(2009) 147 endg.

(3)  Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC).

(4)  Übereinkommen über die biologische Vielfalt (CBD).

(5)  „Forest Europe“, ehemals Ministerkonferenz zum Schutz der Wälder in Europa (MCPFE).

(6)  KOM(2008) 113 endg.

(7)  Siehe Fußnote 1.

(8)  „Lifestyles of Health and Sustainability“ (LOHAS).

(9)  Zum Beispiel das „Joint Forest Sector Questionnaire“ (JFSQ), das in inoffizieller Zusammenarbeit mit der FAO, ITTO und UNECE erarbeitet wurde.

(10)  U.a. COSTE 43 „Harmonisation of National Forest Inventories in Europe: Techniques for Common Reporting“.

(11)  Forest Focus-Gemeinschaftssystem 2003-2006/7.

(12)  EFFIS-Warnsystem für Waldbrände.

(13)  Europäisches Zentrum für Forstdaten (EFDAC) und Europäischen Waldinformations- und -kommunikationsforum (EFICP).

(14)  „Forest Europe“ oder regionaler Beitrag zur globalen Bewertung der forstlichen Ressourcen (GFRA- global forest resource assessment).

(15)  „FutMon“ (Further Development and Implementation of an EU-level Forest Monitoring System), kofinanziert durch Life+; JRC- Rahmenvertrag für e-Forest; COST-Netz „Improving Data and Information on the Potential Supply of Wood Resources: A European Approach from Multisource National Forest Inventories USEWOOD“.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/160


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung (EURATOM) des Rates zur Festlegung von Höchstwerten an Radioaktivität in Nahrungsmitteln und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation (Neufassung)“

KOM(2010) 184 endg. — 2010/0098 (CNS)

2011/C 48/28

Berichterstatterin: Pirkko RAUNEMAA

Die Europäische Kommission beschloss am 27. April 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 31 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung (EURATOM) des Rates zur Festlegung von Höchstwerten an Radioaktivität in Nahrungsmitteln und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation (Neufassung)

KOM(2010) 184 endg. - 2010/0098 (CNS).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 31. August 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465, Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 127 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Radioaktiver Niederschlag (Fallout) ist fast immer ein grenzüberschreitendes Phänomen. Er verursacht die Freisetzung radioaktiver Materialien über einen langen Zeitraum, große Entfernungen und weite Flächen hinweg. Ereignet sich ein Unfall dieser Art, droht eine Katastrophe internationalen Ausmaßes.

1.2   Es besteht ein tatsächlicher Bedarf an klaren und aktualisierten Rechtsvorschriften, die beim Auftreten von radioaktivem Niederschlag von den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten leicht angewendet werden können. Daher ist eine Überarbeitung der Rechtsvorschriften sowohl angemessen als auch notwendig.

1.3   Seit dem Atomunfall von Tschernobyl im Jahre 1986 hat die Gemeinschaft Standards mit Grenzwerten für die Kontaminierung von Nahrungs- und Futtermitteln nach einem Nuklearunfall (1) entwickelt. Zusätzlich wurden Vorkehrungen für einen frühzeitigen Austausch von Informationen im Falle einer radiologischen Notsituation getroffen (2). Die Gültigkeit der zulässigen Werte wurde zuletzt von einer Sachverständigengruppe nach Artikel 31 Euratom im Jahre 1995 überprüft. Daher sollten die zulässigen Werte erneut einer Prüfung unterzogen werden.

1.4   Die Europäische Union hat mit der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) ein effektives und international anerkanntes Gremium zur Bewertung von Risiken geschaffen (Verordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28. Januar 2002). Der Auftrag der EFSA sollte auf die Bewertung gesundheitlicher Risiken ausgedehnt werden, die von radioaktiven Rückständen in Nahrungs- und Futtermitteln ausgehen; die Kommission sollte die bestehenden und in einigen Fällen jahrzehntealten Verfahren überprüfen.

1.5   Um ein hohes Kontrollniveau in Bezug auf die Radioaktivität in Nahrungs- und Futtermitteln zu gewährleisten, sollten die nationalen Lebensmittelbehörden die entsprechende rechtliche Handhabe erhalten, um gemeinsam mit den nationalen Strahlenschutzbehörden die Höchstwerte überwachen und bei deren Überschreitung die Einfuhr von Nahrungs- und Futtermitteln kontrollieren zu können, ohne dafür die Zustimmung der Strahlenschutzbehörde einholen zu müssen.

1.6   Die Kommission sollte ferner darauf hinarbeiten, dass im Rahmen der Normen und Leitlinien des Codex Alimentarius der Kommission internationale Bestimmungen über das Vorhandensein von radioaktivem Niederschlag und dessen Auswirkungen auf Nahrungs- und Futtermitteln erarbeitet werden. Überdies soll festgelegt werden, welche Behörden bei einem Unfall für die Grenzkontrollen von Ein- und Ausfuhren in der EU vordringlich verantwortlich sind.

1.7   Da Wasser ein Grundbestandteil von Nahrungsmitteln und Futtermitteln ist, sollte es in den Anhängen der Verordnung aufgeführt werden. Ferner sollten die Bestimmungen für alle Arten von Trinkwasser gelten, nicht nur für Wasser in Nahrungs- und Futtermitteln.

1.8   Im Unglücksfall ist es wichtig, Einfluss auf das Verhalten der Bevölkerung nehmen und sie zur Wahl von Nahrungsmitteln und Getränken bewegen zu können, die sicher oder weniger gefährlich sind. Die nationalen Behörden und Branchenverbände haben hier die Aufgabe, Leitlinien vorzugeben und das Bewusstsein der Bürger zu schärfen.

2.   Einleitung

2.1   Hintergrund

2.1.1   Nach dem Unfall im Kernkraftwerk von Tschernobyl am 26. April 1986 haben sich beträchtliche Mengen radioaktiver Stoffe in der Atmosphäre verbreitet, die in mehreren europäischen Ländern zu einer vom gesundheitlichen Standpunkt aus bedeutenden Kontamination von Nahrungsmitteln und Futtermitteln geführt haben.

2.1.2   Erstmalig wurden auf Gemeinschaftsebene Maßnahmen für den Umgang mit derartigen Nuklearunfällen erlassen, bei denen radioaktive Stoffe freigesetzt werden, die sich über weite Strecken ausbreiten und einen potenziell großflächigen Effekt haben.

2.1.3   Der Ausschuss hat sich in der Vergangenheit erst einmal zum Thema Strahlenbelastung von Nahrungs- und Futtermitteln infolge von Nuklearunfällen oder sonstigen radiologischen Notstandssituationen geäußert (3). Diese Stellungnahme war jedoch nur eine Anfangsbetrachtung, da die Vorschläge der Kommission für zulässige Strahlungshöchstwerte noch ausstanden. Somit bietet diese Befassung dem Ausschuss die Gelegenheit zur Vorlage einer aktuelleren Stellungnahme zu diesem Thema.

2.2   Rechtsrahmen

2.2.1   In Verordnung (Euratom) Nr. 3954/87 des Rates vom 22. Dezember 1987 wird das Verfahren zur Festlegung von Höchstwerten an Radioaktivität in Nahrungsmitteln und Futtermitteln im Falle eines Nuklearunfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation geregelt. Im Laufe der Jahre wurden inhaltliche Änderungen daran vorgenommen (4). Die höchstzulässigen Referenzwerte wurden bei der zweiten Überarbeitung der Verordnung in gesonderten Anhängen aufgeführt.

2.2.2   Erhält die Kommission eine offizielle Benachrichtigung über einen Unfall oder eine sonstige radiologische Notstandssituation, aus der sich ergibt, dass die Höchstwerte im Sinne der Verordnungen erreicht werden könnten oder erreicht worden sind, so erlässt sie unverzüglich eine Verordnung zur Anwendung dieser Höchstwerte. Die Geltungsdauer einer solchen Verordnung soll so kurz wie möglich sein und darf drei Monate nicht überschreiten.

2.2.3   Die Kommission unterbreitet dem Rat innerhalb eines Monats nach Erlass der Verordnung einen Vorschlag für eine weitere Verordnung zur Anpassung oder Bestätigung der ersteren Verordnung. Dafür ist die vorherige Konsultation einer Sachverständigengruppe nach Artikel 31 des Euratom-Vertrags erforderlich. Die Gültigkeitsdauer dieser zweiten Verordnung ist ebenfalls beschränkt. Langfristig - das heißt nach einem Nuklearunfall oder nach einer radiologischen Notstandssituation - könnte ein anderes Rechtsinstrument oder eine andere Rechtsgrundlage zur Kontrolle der auf den Markt gebrachten Nahrungs- oder Futtermittel gewählt werden.

2.2.4   Die zulässigen Höchstwerte im Anhang der Verordnung können im Licht eines Sachverständigengutachtens auf Grundlage von Artikel 31 geändert oder ergänzt werden. Die Gültigkeit der vorgeschriebenen Höchstwerte war zuletzt 1995 von einer Sachverständigengruppe nach Artikel 31 im Lichte der Bestimmungen von Richtlinie 96/29/Euratom des Rates überprüft worden, demzufolge die Mitgliedstaaten im Hinblick auf etwaige Unfälle Interventionsschwellen vorsehen müssen (5).

2.2.5   Hinsichtlich der Einfuhren hat die EU Maßnahmen beschlossen, mit denen sichergestellt werden soll, dass landwirtschaftliche Erzeugnisse nur nach gemeinsamen Modalitäten in die Union verbracht werden, die die Gesundheit der Bevölkerung schützen und gleichzeitig die Einheit des Marktes erhalten und Verkehrsverlagerungen verhindern.

2.2.6   Bei Eintreten einer radiologischen Notstandssituation müssen die Mitgliedstaaten über das „Ecurie“-System einen Informationsaustausch durchführen (6). Im Rahmen dieses Systems müssen die Mitgliedstaaten die Kommission und die betroffenen oder potenziell betroffenen Mitgliedstaaten benachrichtigen und informieren, wenn ein Mitgliedstaat umfassende Maßnahmen zum Schutz der Öffentlichkeit vor einer radiologischen Notstandssituation durchführt. Diese Informationen müssen enthalten: Art des Ereignisses, Zeitpunkt und genaue Ortsangabe sowie die betroffene Anlage oder Tätigkeit, Angaben zur Ursache, zur voraussichtlichen Entwicklung und zu den ergriffenen oder geplanten Schutzmaßnahmen sowie die von den Überwachungseinrichtungen in Nahrungs- und Futtermitteln, im Trinkwasser sowie in der Umwelt gemessenen Radioaktivitätswerte.

2.3   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsdokuments

2.3.1   Die Kommission hat die Kodifizierung der Verordnung Nr. 3954/87 des Rates und ihrer nachfolgenden Änderungen eingeleitet.

2.3.2   Während des gesetzgebenden Verfahrens wurde jedoch erkannt, dass eine Bestimmung im Vorschlag des kodifizierten Textes einen Vorbehalt des Rates vorsah, Durchführungsbefugnisse selbst auszuüben, wobei dieser Vorbehalt in den Erwägungsgründen der Verordnung (Euratom) Nr. 3954/87 nicht begründet worden war.

2.3.3   Da die Einfügung eines solchen Erwägungsgrundes eine inhaltliche Änderung bedeuten und daher über eine reine Kodifizierung hinausgehen würde, erschien es notwendig, anstatt einer Kodifizierung eine Neufassung vorzunehmen, um die notwendige Änderung einzufügen.

2.3.4   Im neuen Erwägungsgrund 15 des Vorschlags ist die Möglichkeit vorgesehen, dass der Rat in bestimmten Situationen anstelle der Kommission unmittelbar angepasste Maßnahmen erlassen kann, um sehr kurzfristig die im Voraus festgelegten Höchstwerte für radioaktive Kontamination in Anwendung zu bringen.

3.   Bewertung

3.1   Es besteht ein tatsächlicher Bedarf an klaren und aktualisierten Rechtsvorschriften, die beim Auftreten von radioaktivem Niederschlag von den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten leicht angewendet werden können. Daher ist eine Überarbeitung der Rechtsvorschriften sowohl angemessen als auch notwendig. Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls in einem Kernkraftwerk oder einer anderen Form radioaktiven Niederschlags nimmt möglicherweise auch in der EU zu. Dies liegt unter anderem daran, dass die bestehenden Kernkraftwerke altern, zahlreiche neue Kernkraftwerke gebaut werden und das Risiko sonstiger unvorhersehbarer Unfälle besteht.

3.2   Radioaktiver Niederschlag verbreitet sich fast immer über große Flächen hinweg. Seine Intensität nimmt außerdem bei der Verbreitung über große Entfernungen nicht unbedingt ab. Daher muss hier von einer potenziellen internationalen Gesundheits- und Umweltkatastrophe ausgegangen werden.

3.3   Verglichen mit 1986 verfügt die Europäische Union mit der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) nunmehr über ein effektives und international anerkanntes Gremium zur Bewertung von Risiken (Verordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28. Januar 2002). Radioaktive Rückstände in Nahrungs- und Futtermitteln sind als Lebensmittelkontaminanten zu betrachten. Es wäre daher zu erwarten gewesen, dass die EFSA mit einer gesundheitlichen Beurteilung dieser Rückstände beauftragt worden wäre. In ihrem Vorschlag hält die Kommission jedoch ohne weitere Überlegungen oder Begründung an den bestehenden und in einigen Fällen Jahrzehnte alten Verfahren fest.

3.4   Im Unglücksfall ist es wichtig, Einfluss auf das Verhalten der Bevölkerung nehmen und sie zur Wahl von Nahrungsmitteln und Getränken bewegen zu können, die sicher oder weniger gefährlich sind. Außerdem benötigen landwirtschaftliche Erzeuger in Krisensituationen unbedingt Informationen über das Niveau der radioaktiven Kontaminierung von Futtermitteln und für die Fütterung. Hierbei kommt den nationalen Behörden und den Branchenverbänden die Aufgabe zu, Leitlinien vorzugeben und das Bewusstsein der Bürger zu schärfen.

3.5   Die Bestimmungen über den radioaktiven Niederschlag und die Strahlungswerte sollten nun unbedingt so gefasst werden, dass ihre Umsetzung auf Ebene der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten einfacher und klarer wird.

3.6   Die zulässigen Höchstwerte für Radioaktivität müssen auf die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen zugeschnitten sein. Für Kindernahrung sollten daher strengere Regelungen gelten als für Nahrungsmittel, die für die Allgemeinheit bestimmt sind.

3.7   Radioaktive Stoffe können auch in Verbindung mit Kernwaffentests, der Nutzung der Kernenergie oder der Verwendung radioaktiven Materials in Gesundheitswesen, Industrie oder Forschung in Oberflächengewässer gelangen. Zwar handelt es sich dabei unter normalen Umständen nur um unbedeutende Mengen, jedoch kann sich die Situation bei einem Nuklearunfall anders darstellen. Da Wasser ein Grundbestandteil von Nahrungs- und Futtermitteln ist, hätte es in den Anhängen der Verordnung aufgeführt werden müssen.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Verordnung (Euratom) Nr. 3954/87 des Rates vom 22. Dezember 1987 (geänderte Fassung).

(2)  Entscheidung (Euratom) 87/600 des Rates vom 14. Dezember 1987.

(3)  CES 480/1987, ABl. C 180 vom 8. Juli 1987, S. 20-25.

(4)  Verordnung (Euratom) Nr. 944/89 der Kommission zur Änderung der Verordnung (Euratom) Nr. 770/90 der Kommission.

(5)  Artikel 50 Absatz 2 der Richtlinie 96/29/Euratom des Rates vom 13. Mai 1996 zur Festlegung der grundlegenden Sicherheitsnormen für den Schutz der Gesundheit der Arbeitskräfte und der Bevölkerung gegen die Gefahren durch ionisierende Strahlungen.

(6)  Siehe Fußnote 2.


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/163


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung (EU) Nr. xxxx/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom xxxx zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates (Verordnung über die einheitliche GMO) hinsichtlich der im Rahmen des deutschen Branntweinmonopols gewährten Beihilfe“

KOM(2010) 336 endg. — 2010/0183 (COD)

2011/C 48/29

Berichterstatter: Adalbert KIENLE

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 7. Juli 2010 bzw. am 8. Juli 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung (EU) Nr. xxxx/2010 des europäischen Parlaments und des Rates vom xxxx zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates (Verordnung über die einheitliche GMO) hinsichtlich der im Rahmen des deutschen Branntweinmonopols gewährten Beihilfe

KOM(2010) 336 endg. – 2010/0183 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 31. August 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 114 gegen 2 Stimmen bei 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagenen Maßnahmen zur befristeten Verlängerung der Beihilfenregelung im Rahmen des deutschen Branntweinmonopols mit der Festlegung eines endgültigen Auslaufens bis spätestens Ende 2017, zumal keine Störung des Marktes bekannt ist und der Vorschlag keine Auswirkungen für den Gemeinschaftshaushalt hat.

1.2

Der EWSA empfiehlt, die Übergangszeit zu nutzen, um den Familien in der traditionellen landwirtschaftlichen Brennereiwirtschaft eine sozialverträgliche neue Betriebsausrichtung zu erleichtern und insbesondere auch die ökologisch wertvollen Obstgärten zu bewahren.

2.   Einleitung

2.1

Die Europäische Kommission schlägt vor, dass es das seit 1918 bestehende deutsche Branntweinmonopol für Ethylalkohol landwirtschaftlichen Ursprungs ab dem 1. Januar 2018 nicht mehr gibt. Die nationale Behörde vergibt bisher Brennrechte und setzt einen Übernahmepreis fest, der die Selbstkosten der Brennereien decken soll.

2.2

Die Erzeugung/Verkäufe des Monopols werden bis dahin schrittweise verringert:

die landwirtschaftlichen Verschlussbrennereien, die hauptsächlich Getreide und Kartoffeln verarbeiten, müssen Ende 2013 aus dem Monopol ausscheiden und ihre Erzeugung bis dahin in drei Jahren schrittweise um je ein Drittel verringern (von insgesamt 540 000 hl im Jahr 2011 auf letztmalig 180 000 hl 2013);

die lokal ausgerichteten und sehr kleine Mengen Obstalkohol erzeugenden Abfindungsbrennereien, Stoffbesitzer und Obstgemeinschaftsbrennereien dürfen noch bis Ende 2017 insgesamt bis zu 60 000 hl jährlich produzieren.

2.3

Der Vorschlag hat keine Auswirkungen auf den Gemeinschaftshaushalt.

3.   Bemerkungen

3.1

Der EWSA begrüßt das vorgeschlagene Ausstiegsszenarium aus dem deutschen Branntweinmonopol mit einer zeitlich begrenzten Ausnahmeregelung und einer differenzierten Verringerung der erlaubten Erzeugung von Ethylalkohol landwirtschaftlichen Ursprungs.

3.2

In den 27 Mitgliedstaaten der EU wurden im Jahr 2008 rund 40,5 Mio. hl landwirtschaftlicher Ethylalkohol erzeugt, insbesondere aus Getreide, Zuckerrüben/Melasse, Wein, Kartoffeln, Obst und sonstigen Erzeugnissen. EU-Haupterzeuger von Agraralkohol sind Frankreich (15,4 Mio. hl), Deutschland (5,9 Mio. hl), Spanien (5,4 Mio. hl) und Polen (1,9 Mio. hl). Die EU-Mitgliedstaaten führten im gleichen Jahr etwa 13 Mio. hl Ethylalkohol aus Drittländern ein. Ethylalkohol landwirtschaftlichen Ursprungs wird für den menschlichen Verzehr (in Getränken und als Essig), im Bio-Kraftstoff-Sektor und in weiteren industriellen Anwendungen genutzt. Einen starken Anstieg gab es zuletzt bei der Nutzung im Kraftstoffsektor.

3.3

Doch lediglich etwa 10 Prozent des in Deutschland landwirtschaftlich erzeugten Alkohols werden im Rahmen des deutschen Branntweinmonopols gewonnen und mit einer nationalen Beihilfe unterstützt. Zuletzt haben 674 landwirtschaftliche Brennereien mit einem durchschnittlichen Produktionsvolumen von 800 hl an das Monopol abgeliefert. Die rund 28 000 kleinen Abfindungsbrennereien - von denen jedes Jahr etwa 20 000 in Betrieb sind - dürfen im Rahmen des Monopols pro Jahr nur höchstens 300 Liter Alkohol erzeugen.

3.4

Das Branntweinmonopol hat bis heute diese traditionelle und äußerst dezentrale Erzeugung in kleinen und kleinsten landwirtschaftlichen Brennereibetrieben ermöglicht. Diese hat aber regional eine durchaus hohe Bedeutung, etwa am Rande von Mittelgebirgen wie dem Schwarzwald. Die umweltfreundliche Kreislaufwirtschaft der landwirtschaftlichen Brennereien und der Beitrag der Klein- und Obstbrennereien zur Einkommensstabilisierung und für die Pflege der Kulturlandschaften und den Erhalt der biologischen Vielfalt finden allgemein eine hohe politische und gesellschaftliche Anerkennung.

3.5

Der EWSA geht davon aus, dass nach dem Auslaufen des Branntweinmonopols und der Liberalisierung des Agraralkoholmarktes eine industrielle Alkoholgewinnung keine Alternative für die traditionellen landwirtschaftlichen (Klein-)Brennereien darstellt. Im Übergangszeitraum sollten daher die Möglichkeiten gesucht werden, um zum einen diesen landwirtschaftlichen Familien eine zukunftsträchtige und sozialverträgliche Betriebsausrichtung zu erleichtern und zum anderen die ökologisch höchst wertvollen Streuobstwiesen und Obstgärten zu bewahren.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/165


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 663/2009 über ein Programm zur Konjunkturbelebung durch eine finanzielle Unterstützung der Gemeinschaft zugunsten von Vorhaben im Energiebereich“

KOM(2010) 283 endg. — 2010/0150 (COD)

2011/C 48/30

Berichterstatter: Stéphane BUFFETAUT

Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union beschlossen am 15. bzw. 23. Juni 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 194 Absatz 1 Buchstabe c und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 663/2009 über ein Programm zur Konjunkturbelebung durch eine finanzielle Unterstützung der Gemeinschaft zugunsten von Vorhaben im Energiebereich

KOM(2010) 283 endg. – 2010/0150 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 6. September 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 133 gegen 2 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss befürwortet die grundlegenden wirtschaftlichen Aspekte des Vorschlags und die von der Europäischen Kommission verfolgten Ziele. Er befürwortet insbesondere die Idee, die EU-Finanzhilfen als Hebel mit Multiplikatorwirkung einzusetzen, um das Tempo der Investitionen in Energieeffizienz und erneuerbare Energieträger zu erhöhen. Nach Ansicht des EWSA sollte die Aufteilung der finanziellen Unterstützung auf technische Hilfe, zinsgünstige Darlehen und Bankgarantien der Finanzinstitutionen besser begründet werden. Außerdem sollte deutlicher dargelegt werden, was die technische Unterstützung genau umfasst.

1.2   Der Ausschuss bringt seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die von der Europäischen Kommission dargelegten Modalitäten auch wirklich durchgesetzt werden, d.h. dass alle interessierten Finanzintermediäre zur Verwaltung der Finanzfazilität befugt sein sollten, wobei die Auswahl der Projekte durch die Mittelverwalter unter Aufsicht der Europäischen Kommission erfolgt. Nach Ansicht des EWSA sollten die Modalitäten für die Verwaltung und den Zugang zu den Mitteln geklärt und in einer klaren Anleitung für die Finanzintermediäre und Projektträger festgehalten werden.

1.3   Der Ausschuss erachtet es jedoch als erforderlich bzw. zweckdienlich, einige Klarstellungen zu folgenden Punkten vorzunehmen:

1.3.1   Es gilt, so schnell wie möglich – und zwar noch vor Ende 2010 – den genauen Gesamtbetrag (oder zumindest eine Schätzung) der über die angekündigten 114 Mio. EUR hinaus zur Verfügung stehenden Mittel zu bestimmen, da diese 114 Mio. EUR nach Aufteilung auf die 27 Mitgliedstaaten letztlich nur eine relativ begrenzte Unterstützung bieten. Es muss jedoch auch die Hebelwirkung berücksichtigt werden, die dank zusätzlicher privater Investitionen und der von den eigentlichen Projekten und Investitionen ausgehenden Impulse erzielt werden kann, wenn im Rahmen der technischen Hilfe eine entsprechende Unterstützung erfolgt.

1.3.2   Bestimmung des Begriffs „bankfähige Projekte“: Die für die Energieeffizienz sehr nutzbringende Isolierung von Gebäuden ist in energiewirtschaftlicher Hinsicht langfristig bankfähig, insbesondere bei Altbauten. Unter dem Begriff „bankfähige Projekte“ sind finanzierbare Vorhaben zu verstehen, die ohne europäische Unterstützung aber nicht realisierbar wären. Dieser Begriff könnte in der Verordnung durch die Formulierung „Projekt, das seine Rentabilität dank der Unterstützung der europäischen Finanzinstrumente erreicht“ definiert werden.

1.3.3   Förderkriterien:

Der Ausschuss versteht – und akzeptiert übrigens auch –, dass die verschiedenen betroffenen Sektoren gleich behandelt und als Kriterien der Investitionsumfang und die Einhaltung der europäischen Ziele in den Bereichen Energieeffizienz und erneuerbare Energieträger angelegt werden. So werden insbesondere Projekte im Rahmen von Energieeffizienzverträgen sowie Projekte, die bereits EU-Mittel erhalten, förderfähig sein. Der EWSA betont, dass dieses Instrument Synergien mit den Strukturfonds und dem Kohäsionsfonds begünstigen soll.

Da keine Vorauswahl der Projekte (wie im Rahmen der Verordnung (EG) Nr. 663/2009) erfolgt, wird der Ausschuss die Mittelaufteilung zwischen Projektfinanzierung und technischer Hilfe aufmerksam verfolgen, da diese Mittel seiner Meinung nach größtenteils für Investitionen oder konkrete Projekte bereitgestellt werden sollten.

Der Ausschuss stellt fest, dass die Verordnung selbst keine Liste vorausgewählter Vorhaben enthalten wird und die Vorhaben im Rahmen des Fonds anhand in der Verordnung vorgesehener Kriterien ausgewählt werden. Über die finanzierten Vorhaben wird Bericht erstattet.

Der EWSA legt Wert auf die Feststellung, dass diese finanzielle Unterstützung für Investitionsvorhaben dem Grundsatz der Gleichbehandlung von privaten und öffentlichen Beteiligten Genüge tun muss, so dass diese Vorhaben im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften verwirklicht werden können.

Ganz allgemein betont der Ausschuss, dass als Förderkriterien in erster Linie die technische Zuverlässigkeit, die sichere Projektfinanzierung und die prognostizierten konkreten Ergebnisse in Bezug auf Energieeffizienz und erneuerbare Energieträger herangezogen werden sollten.

Nach Ansicht des Ausschusses sollte das Förderkriterium in Bezug auf Maßnahmen mit einem „unmittelbaren, messbaren und spürbaren Nutzen“ verdeutlicht werden.

1.4   Der Ausschuss versteht zwar den Wunsch der Europäischen Kommission, dass die betroffenen lokalen Gebietskörperschaften „sich politisch verpflichtet (haben), die Klimaänderung zu bekämpfen, und genaue Ziele festgelegt (haben)“, warnt jedoch vor einem zu großen Vertrauen in ein Engagement, das wohl eher einer politischen Korrektheit in Theorie und Worten denn konkreten Taten in der Praxis entspricht, die auf soliden und innovativen Technologien bzw. effizienten und erprobten Verwaltungssystemen in den Bereichen Energieeffizienz, Fernwärmenetze und erneuerbare Energieträger beruht.

2.   Hintergrund und Grundsätze der Verordnung über ein Programm zur Konjunkturbelebung durch eine finanzielle Unterstützung der Gemeinschaft zugunsten von Vorhaben im Energiebereich

2.1   Das Programm zur Konjunkturbelebung für Europa (EEPR) wurde mit 3,98 Mrd. EUR ausgestattet, die 2010 quasi vollständig gebunden sein sollten. Letztlich wird jedoch ein Betrag von 114 Mio. EUR der im Rahmen der EEPR-Verordnung verfügbaren Mittel ungebunden bleiben; dieser Betrag könnte allerdings noch höher ausfallen, falls Projekte die rechtlichen, finanziellen oder technischen Anforderungen nicht erfüllen.

2.2   Die ungebundenen Mittel unter Kapitel II der EEPR-Verordnung werden für die Einrichtung eines speziellen Finanzinstruments zur Unterstützung von Initiativen für Energieeffizienz und erneuerbare Energieträger im Rahmen des Vorschlags zur Finanzierung einer nachhaltigen Energiewirtschaft eingesetzt.

3.   Allgemeine Grundsätze

3.1   Dieses Finanzinstrument soll die Entwicklung BANKFÄHIGER Projekte in den Bereichen Energieeffizienz und erneuerbare Energieträger unterstützen und die Finanzierung von Investitionen in ebendiese Bereiche, vor allem im städtischen Kontext, erleichtern.

3.2   Um zu einer großen Zahl dezentraler Investitionen zu gelangen, sollen kommunale, lokale und regionale Behörden die Begünstigten sein, u.a. auch im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften.

3.3   Die zu finanzierenden Projekte im Bereich nachhaltige Energie umfassen öffentliche und private Gebäude, hoch-energieeffiziente Kraft-Wärme-Kopplungssysteme (KWK) und Fernwärme- und Fernkühlungsnetze, dezentrale erneuerbare Energiequellen im lokalen Kontext, saubere städtische Verkehrsmittel und lokale Infrastrukturen wie intelligente Netze, effiziente Straßenbeleuchtung und intelligente Messsysteme.

4.   Auswahl- und Förderkriterien

4.1   Die für eine derartige Finanzhilfe in Frage kommenden Maßnahmen müssen einen unmittelbaren, messbaren und spürbaren Nutzen für die Konjunkturbelebung in der EU, die Steigerung der Energieversorgungssicherheit und die Verringerung der Treibhausgasemissionen haben.

4.2   Mit dieser EU-Finanzhilfe soll auf der Grundlage genauer Kriterien für die Maßnahmen der Gebietskörperschaften sowie für die technischen und finanziellen Projekteigenschaften eine Hebelwirkung auf die sonstigen Fördermittel der betreffenden Gebietskörperschaften bzw. Unternehmen erzielt werden.

4.3   Die Bestimmungen für die Gebietskörperschaften betreffen ihr Engagement zur Bekämpfung des Klimawandels, die Festlegung genauer Ziele, die Art der von ihnen entwickelten Strategien sowie die Verfolgung und Veröffentlichung ihrer Umsetzung und Ergebnisse.

4.4   Mit den technischen und finanziellen Bestimmungen sollen folgende Aspekte sichergestellt werden: Fundiertheit und technische Angemessenheit des Konzepts, Solidität des Finanzierungspakets, Ausmaß, in dem die EEPR-Unterstützung die öffentliche und private Finanzierung ankurbelt, sozioökonomische Auswirkungen und Auswirkungen auf die Umwelt, geografische Ausgewogenheit der Projekte und Ausgereiftheit des Vorhabens, d.h., es muss so bald wie möglich das Investitionsstadium erreicht haben.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/167


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2008/9/EG zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige“

KOM(2010) 381 endg. — 2010/0205 (CNS)

2011/C 48/31

Am 4. August 2010 beschloss der Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 113 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2008/9/EG zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige

KOM(2010) 381 endg. - 2010/0205 (CNS).

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/168


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2187/2005 des Rates hinsichtlich des Verbots der Fangaufwertung und der Beschränkungen des Flunder- und Steinbuttfangs in der Ostsee, den Belten und dem Öresund“

KOM(2010) 325 endg. — 2010/0175 (COD)

2011/C 48/32

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 6. bzw. 8. Juli 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2187/2005 des Rates hinsichtlich des Verbots der Fangaufwertung und der Beschränkungen des Flunder- und Steinbuttfangs in der Ostsee, den Belten und dem Öresund

KOM(2010) 325 endg. - 2010/0175 (COD).

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September), eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/169


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Verkehr mit vegetativem Vermehrungsgut von Reben“

KOM(2010) 359 endg. — 2010/0194 (COD)

2011/C 48/33

Am 8. Juli 2010 beschloss das Europäische Parlament und am 7. September 2010 der Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Verkehr mit vegetativem Vermehrungsgut von Reben“ (Neufassung)

KOM(2010) 359 endg. — 2010/0194 (COD).

Da der Ausschuss dem Inhalt dieses Vorschlags zustimmt und sich bereits in seinen Stellungnahmen CES 807/2000 vom 13. Juli 2000 (1) und CESE 1360/2002 vom 11. Dezember 2002 (2) dazu geäußert hat, beschloss er auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme abzugeben und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in den oben genannten Stellungnahmen vertreten hat.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Stellungnahme des WSA zu dem „Entwurf einer Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 68/193/EWG über den Verkehr mit vegetativem Vermehrungsgut von Reben“, ABl. C 268 vom 19.9.2000, S. 42.

(2)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinien 66/401/EWG über den Verkehr mit Futterpflanzensaatgut, 66/402/EWG über den Verkehr mit Getreidesaatgut, 68/193/EWG über den Verkehr mit vegetativem Vermehrungsgut von Reben, 92/33/EWG über das Inverkehrbringen von Gemüsepflanzgut und Gemüsevermehrungsmaterial mit Ausnahme von Saatgut, 92/34/EWG über das Inverkehrbringen von Vermehrungsmaterial und Pflanzen von Obstarten zur Fruchterzeugung, 98/56/EG über das Inverkehrbringen von Vermehrungsmaterial von Zierpflanzen, 2002/54/EG über den Verkehr mit Betarübensaatgut, 2002/55/EG über den Verkehr mit Gemüsesaatgut, 2002/56/EG über den Verkehr mit Pflanzkartoffeln und 2002/57/EG über den Verkehr mit Saatgut von Öl- und Faserpflanzen hinsichtlich gemeinschaftlicher Vergleichsprüfungen“, ABl. C 85 vom 8.4.2003, S. 43-44.