ISSN 1725-2407

doi:10.3000/17252407.C_2010.128.ger

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 128

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

53. Jahrgang
18. Mai 2010


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

ENTSCHLIESSUNGEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

457. Plenartagung am 4./5. November 2009

2010/C 128/01

Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Klimawandel anlässlich der Klimakonferenz der Vereinten Nationen vom 7. bis 18. Dezember 2009 in Kopenhagen

1

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

457. Plenartagung am 4./5. November 2009

2010/C 128/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Lissabon-Strategie nach 2010(Sondierungsstellungnahme)

3

2010/C 128/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Soziale Eingliederung (Sondierungsstellungnahme)

10

2010/C 128/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Zukunftsperspektiven der Strategie für nachhaltige Entwicklung (Sondierungsstellungnahme)

18

2010/C 128/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Hin zu einer ökologisch effizienten Wirtschaft - die Wirtschaftskrise als Chance für den Beginn einer neuen Ära im Energiebereich begreifen (Sondierungsstellungnahme)

23

2010/C 128/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Hin zu einer ökologisch effizienten Wirtschaft - die Wirtschaftskrise als Chance für den Beginn einer neuen Ära im Energiebereich begreifen (Initiativstellungnahme)

29

2010/C 128/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Energie und Klimawandel als zentrale Aspekte der erneuerten Lissabon-Strategie (Initiativstellungnahme)

36

2010/C 128/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die externe Dimension der erneuerten Lissabon-Strategie (Initiativstellungnahme)

41

2010/C 128/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Universitäten für Europa (Initiativstellungnahme)

48

2010/C 128/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Auswirkungen der Tätigkeit von Beteiligungsfonds, Hedge-Fonds und Staatsfonds auf den industriellen Wandel in Europa (Initiativstellungnahme)

56

2010/C 128/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse: Wie sollte die Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten aussehen? (Initiativstellungnahme)

65

2010/C 128/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Auswirkungen von sozialen Netzwerken im Internet auf Bürger und Verbraucher (Initiativstellungnahme)

69

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

457. Plenartagung am 4./5. November 2009

2010/C 128/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen. Arbeitsmarkt- und Qualifikationserfordernisse antizipieren und miteinander in Einklang bringenKOM(2008) 868 endg.

74

2010/C 128/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat - Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der BürgerKOM(2009) 262 endg.

80

2010/C 128/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Empfehlung des Rates über rauchfreie ZonenKOM(2009) 328 endg. — 2009/0088 (CNS)

89

2010/C 128/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung (EG) Nr. …/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung in Bezug auf Wohnungsbauvorhaben für marginalisierte BevölkerungsgruppenKOM(2009) 382 — 2009/0105 (COD)

94

2010/C 128/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 hinsichtlich allgemeiner Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds im Hinblick auf die Vereinfachung bestimmter Anforderungen und im Hinblick auf bestimmte Bestimmungen bezüglich der finanziellen VerwaltungKOM(2009) 384 — 2009/0107 (AVC)

95

2010/C 128/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für VerbraucherKOM(2008) 794 endg.

97

2010/C 128/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Die Vorteile des Binnenmarkts durch engere Verwaltungszusammenarbeit erschließenKOM(2008) 703 endg.

103

2010/C 128/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Entwicklung einer kohärenten Strategie für eine europäische AgrarforschungsagendaKOM(2008) 862 endg.

107

2010/C 128/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Lebensmittelpreise in EuropaKOM(2008) 821 endg.

111

2010/C 128/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein umfassendes Klimaschutzübereinkommen als Ziel für KopenhagenKOM(2009) 39 endg.

116

2010/C 128/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Weißbuch Anpassung an den Klimawandel: Ein europäischer AktionsrahmenKOM(2009) 147 endg.

122

2010/C 128/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Mehr internationale Finanzmittel für den Klimaschutz: europäisches Konzept für die Kopenhagener VereinbarungKOM(2009) 475 endg.

127

2010/C 128/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Meldeformalitäten für Schiffe beim Einlaufen in oder Auslaufen aus Häfen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und zur Aufhebung der Richtlinie 2002/6/EGKOM(2009) 11 endg. — 2009/0005 (COD) und zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Mitteilung und Aktionsplan zur Errichtung eines europäischen Seeverkehrsraums ohne GrenzenKOM(2009) 10 endg.

131

2010/C 128/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Bericht der Kommission gemäß Artikel 3 der Richtlinie 2001/77/EG und Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 2003/30/EG sowie über die Umsetzung des EU-Aktionsplans für Biomasse (KOM(2005) 628)KOM(2009) 192 endg.

136

2010/C 128/27

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über LuftsicherheitsentgelteKOM(2009) 217 endg. — 2009/0063 (COD)

142

2010/C 128/28

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinschaftliche Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäischen VerkehrsnetzesKOM(2009) 391 endg. — 2009/0110 (COD)

147

2010/C 128/29

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie …/…/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom […] über einheitliche Verfahren für die Kontrolle von Gefahrguttransporten auf der StraßeKOM(2009) 446 endg. — 2009/0123 (COD)

148

2010/C 128/30

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Europäisches Freiwilligenjahr 2011 (Ergänzende Stellungnahme) KOM(2009) 254 endg. — 2009/0072 (CNS)

149

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

ENTSCHLIESSUNGEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

457. Plenartagung am 4./5. November 2009

18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/1


457. PLENARTAGUNG AM 4./5. NOVEMBER 2009

Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Klimawandel anlässlich der Klimakonferenz der Vereinten Nationen vom 7. bis 18. Dezember 2009 in Kopenhagen

(2010/C 128/01)

Auf seiner Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) verabschiedete der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss mit 156 gegen 2 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Entschließung:

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss billigt als institutioneller Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene die folgende Botschaft an die Regierungen, politischen Entscheidungsträger, Unterhändler und weiteren, an den Klimaschutzverhandlungen in Kopenhagen sowie an der Entwicklung und Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen beteiligten Parteien:

„Der Klimawandel hat bereits in vielen Teilen der Welt schädliche und möglicherweise unumkehrbare Auswirkungen verursacht. Diese Probleme werden in den kommenden Jahren im Zweifelsfalle nur schwerwiegender, wenn sich die Treibhausgase auch weiterhin im derzeitigen Tempo in der Atmosphäre anreichern. Aus den wissenschaftlichen Untersuchungen des Weltklimarates und weiteren einschlägigen Quellen geht sehr deutlich hervor, dass die Industrieländer ihre Treibhausgasemissionen bis 2050 um über 80 % verringern müssen, wenn der Temperaturanstieg in einem sicheren Bereich gehalten werden soll. Um der Welt eine realistische Möglichkeit für eine derartige Senkung des Treibhausgasausstoßes zu eröffnen, muss bis 2020 u.a. auch durch erhebliche Anstrengungen sowohl der Schwellen- als auch der Entwicklungsländer eine Verringerung um 25-40 % erzielt worden sein.

Die anstehende Konferenz in Kopenhagen ist entscheidend. Wird sie zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht, könnte dies eine weltweite Wende hin zu Emissionsverringerungen in den kommenden Jahren und die Stabilisierung des Temperaturanstiegs auf einem zu bewältigenden Niveau herbeiführen. Ihr Scheitern könnte die Welt auf einen zunehmend gefahrvollen Weg in Richtung eines beschleunigten Temperaturanstiegs und der hierdurch verursachten menschlichen und ökologischen Katastrophen führen.

1.   Zu diesem entscheidenden Zeitpunkt ruft der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss die Regierungen, politischen Entscheidungsträger und Unterhändler auf, ihre Bemühungen um eine universelle und verpflichtende Einigung zu intensivieren, um alle Staaten und ihre Bevölkerungen in einem gemeinsamen Bemühen um die Senkung des Emissionsniveaus in den kommenden Jahren zu vereinen und so unsere Umwelt, in der wir und künftige Generationen leben wollen, zu bewahren.

2.   Die Europäische Union hat angeboten, sich zu einer Verringerung um 30 % bis 2020 zu verpflichten, wenn andere Staaten ähnliche Anstrengungen unternehmen. Europa hat wiederholt Verpflichtungen in vergleichbarer Höhe von anderen Industrieländern gefordert, ebenso wie erhebliche Anstrengungen der Schwellenländer, die in Bezug auf den Treibhausgasausstoß die Industrieländer bald eingeholt bzw. sogar überholt haben werden. Wir fordern, dass diese Haltung entschieden beibehalten wird.

3.   Dass es in den Verhandlungen bislang nicht gelungen ist, den erforderlichen Durchbruch zu erzielen, ist für uns Anlass zu großer Besorgnis. Wie auch immer die Schlussphase der Verhandlungen aussehen wird: Wir fordern die Europäische Union auf, sich nicht dazu verleiten zu lassen, Abstriche bei ihren ehrgeizigen Plänen vorzunehmen oder ihre Verpflichtungen auf den in Kopenhagen evtl. zustande kommenden kleinsten gemeinsamen Nenner zurückzuschrauben, wenn sich nicht genügend Unterstützung von anderer Seite abzeichnet. Dies wäre weder gut für Europa noch für die gesamte Welt. Auch wenn bislang über die Höhe der europäischen Verpflichtungen für Kopenhagen noch kein allumfassender Konsens besteht, ersuchen wir die Union, das Niveau ihrer Verpflichtungen beizubehalten und sich zu bemühen, ein starkes Bündnis mit anderen Industrieländern und Schwellenländern zu schmieden, die bereit sind, sich in vergleichbarem Maße zu verpflichten und die zum Erreichen dieser Ziele erforderlichen Maßnahmen durchzuführen.

4.   Wir sollten die für das Erreichen der Verringerung um 30 % bis 2020 erforderlichen industriellen und sozialen Umstellungen weiter voranbringen, und zwar als Kernstück der Umstellung der europäischen Wirtschaft auf ein neues, ökoeffizientes, kohlenstoffarmes und nachhaltiges Wirtschaftsmodell. Wir benötigen Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen im Energiebereich in bislang unbekanntem Ausmaß, um den Bürgerinnen und Bürgern, den Unternehmen und dem öffentlichen Sektor überzeugende technische Alternativen anbieten zu können. Die ökologische Krise kann in Bezug auf Maßnahmen auf politischer Ebene nicht länger losgelöst von der sozialen Krise betrachtet werden. Dies sollte zur Aufstellung eines neuen Modells für Produktion und Verbrauch führen. Wir sollten diese Umstellung nicht als Belastung, sondern als Chance für den Anstoß einer neuen Welle technischer und sozialer Innovationen begreifen, die die beste Garantie für nachhaltige Arbeitsplätze, Wettbewerbsvorteile und das künftige soziale Wohlergehen bieten. Dieses Ziel sollte in den Mittelpunkt der neuen Strategie der Europäischen Union für 2020 gestellt werden, die die wesentlichen Ziele der bestehenden Strategien für nachhaltige Entwicklung, nachhaltiges Wachstum sowie für Klimaschutz und Energie in sich vereinen sollte.

5.   Weitere Entwicklungsländer und vor allem die am wenigsten entwickelten Länder geraten durch den fortschreitenden Klimawandel in eine schwierige Lage. Die ärmsten Entwicklungsländer sind in vielen Fällen am schwersten vom Klimawandel betroffen, ohne ihn verursacht zu haben. Um die Verhandlungen in Kopenhagen zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, müssen sich die Industrieländer zu festen Zusagen für neue und zusätzliche Finanzierungsquellen verpflichten, um den Entwicklungsländern bei der Bewältigung ihrer größten Anpassungsprobleme zu helfen und sie in die Lage zu versetzen, mit der Zeit selbst Eindämmungsmaßnahmen zu ergreifen.

Die Europäische Kommission hat vor kurzem bedeutende Vorschläge für die Höhe der Unterstützung vorgelegt, die Europa für diese Partnerschaft bereitstellen sollte, sowie auch für die Verwaltung dieser Mittel. Der Ausschuss fordert die Europäische Union auf, ihre diesbezüglichen Bemühungen rasch so weit weiterzuführen, dass diese Vorschläge als festes Verhandlungsangebot vorgelegt und als Hebel für die Vorlage vergleichbarer Angebote anderer Industrieländer eingesetzt werden können.

6.   Die gesamte Zivilgesellschaft ist vom Klimawandel betroffen. Die Wirtschaft, die Gewerkschaften und die anderen Organisationen der Zivilgesellschaft müssen allesamt in jegliche Bemühungen sowohl um die Eindämmung des Klimawandels als auch um die Anpassung an den Klimawandel einbezogen werden. Als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft wissen wir, dass das Bewusstsein für das Ausmaß der Herausforderung in ganz Europa zunimmt, ebenso wie die Bereitschaft, sich allen Veränderungen zu stellen, die an unseren Produktions- und Verbrauchsmustern und unserer Art zu Leben vorgenommen werden müssen. Wir ersuchen unsere politischen Entscheidungsträger und Unterhändler inständig, uns entschieden auf diesen Weg zu bringen und auf ihm zu halten. Es darf kein Zurück geben.“

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

457. Plenartagung am 4./5. November 2009

18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/3


457. PLENARTAGUNG AM 4./5. NOVEMBER 2009

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Lissabon-Strategie nach 2010“

(Sondierungsstellungnahme)

(2010/C 128/02)

Hauptberichterstatter: Wolfgang GREIF

In einem Schreiben vom 23. Juli 2009 ersuchte der spanische Staatssekretär für die Europäische Union des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Zusammenarbeit, Diego López Garrido, Mitglied der spanischen Regierung, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um eine Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema:

„Die Lissabon-Strategie nach 2010“.

Die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt (Beobachtungsstelle für die Lissabon-Strategie) wurde mit den Vorarbeiten zu dieser Stellungnahme beauftragt.

Angesichts der Natur der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 4. November 2009) Herrn GREIF zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 178 gegen 6 bei 15 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1.   In dieser Stellungnahme werden politische Empfehlungen präsentiert, denen aus Sicht des EWSA bei der Konzeption einer neuen Europäischen Strategie für die Zeit nach 2010 Priorität zukommt. Dabei müssen die tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Implikationen der aktuellen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise beachtet werden. Es sollen Eckpunkte jenes Politikwechsels identifiziert werden, der notwendig erscheint, um „aus der Krise heraus“ eine Dynamik für nachhaltiges Wachstum, Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten sowie sicherzustellen, dass sich Krisen, wie die aktuelle, nicht wiederholen können.

1.2.   Diese Stellungnahme wurde von der im EWSA eingerichteten Beobachtungsstelle für die Lissabon-Strategie unter aktiver Beteiligung der nationalen Wirtschafts- und Sozialräte (WSR) vorbereitet. Die vielfältigen auf den gemeinsamen Sitzungen eingebrachten Diskussionsbeiträge – oft auch kontroverser Art – unterstreichen die politische Qualität und die zivilgesellschaftliche Relevanz der jetzt unterbreiteten Empfehlungen.

1.3.   Der in dieser Stellungnahme dargelegten gesamteuropäischen Perspektive werden nationale Kapitel beigefügt, die auf Basis eines Fragenkatalogs hinsichtlich a) einer Analyse des aktuellen Lissabon-Zyklus (2008-2010); b) der Zukunft der Lissabon-Strategie nach 2010; unter Eigenregie der nationalen Delegationen (1) erarbeitet wurden. Das interaktive Netz, das der EWSA mit den nationalen WSR und anderen vergleichbaren Partnerorganisationen aufgebaut hat, legt somit erneut (2) einen Integrierten Bericht vor, der in die politische Entscheidungsfindung der Europäischen Institutionen im Hinblick auf den Frühjahrsgipfel des Europäischen Rates 2010 einfließen soll.

2.   Bewertung der Lissabon-Strategie

2.1.   Lissabon 2000 - ein ganzheitlicher Ansatz, der breite Unterstützung fand

2.1.1.   Im März 2000 legte der Europäische Rat ein ambitioniertes Reformprogramm für Europa vor. Ziel dieser Lissabon-Agenda war es, die Union bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen - einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.

2.1.2.   Ergänzt um die Dimension der nachhaltigen Entwicklung (Strategie von Göteborg) wurde damit eine breit angelegte Strategie entwickelt. In zahlreichen Politikbereichen wurden quantifizierbare Ziele formuliert, die mittels der Offenen Methode der Koordinierung (OMK) in den Mitgliedstaaten greifen sollten.

2.1.3.   Der EWSA hat diesen ganzheitlichen Politikansatz stets für den bemerkenswerten Vorzug der Lissabon-Strategie gehalten, vor einer verengten Auslegung gewarnt und auf ein ausgeglichenes Verhältnis der drei Pfeiler gedrungen.

2.2.   Relaunch 2005 - inhaltliche Fokussierung und Konzentration auf nationale Umsetzung

2.2.1.   In einigen Bereichen konnten mehrere EU-Länder ihre Performance verbessern. So stiegen etwa die Beschäftigungsquoten generell an. Auch beim Breitbandausbau, bei der Teilnahme an Weiterbildung, beim Bildungsstand Jugendlicher sowie in anderen Bereichen gab es Fortschritte (3). Trotzdem lagen viele Länder bereits „zur Halbzeit“ in nicht wenigen Bereichen deutlich hinter den gesetzten Ambitionen zurück.

2.2.2.   Vor diesem Hintergrund kam es 2005 zur Manöverkritik, die den Ansatz der Partnerschaft zwischen europäischen und nationalen Akteuren in den Mittelpunkt rückte. Konzentration wurde auf nationale Umsetzungsmaßnahmen gelegt, begleitet von einer inhaltlichen Fokussierung auf „Wachstum und Beschäftigung“. Teile des breiteren Zielkatalogs, z.B. der soziale Pfeiler, gerieten zugunsten leichterer Vermittelbarkeit und eines stringenteren wirtschaftlichen Ansatzes teilweise in den Hintergrund. Der Ansatz, den Mitgliedstaaten mehr Verantwortung bei der Formulierung länderspezifischer Pläne und Ziele aufzuerlegen und somit die Konzentration auf nationale Reformen zu legen, wurde jedoch nicht durch die Förderung eines angemessenen wirtschaftlichen und sozialen Rahmens auf europäischer Ebene begleitet.

2.2.3.   Trotz neuerlicher Fortschritte (4) blieben viele Staaten jedoch weiter hinter den gesetzten Ansprüchen zurück. In vielen Bereichen werden die Ziele bis 2010 bestenfalls im EU-Schnitt erreicht sein, nicht jedoch in allen Mitgliedstaaten. Das betrifft etwa das 3 %-Ziel bei Forschung und Entwicklung, wo die meisten EU-Länder, aber auch die EU als Ganzes kaum Fortschritt verzeichnen konnte, ebenso wie bei der Reduktion der Treibhausgasemission. Auch bei den Beschäftigungszielen konnten nur teilweise Fortschritte erzielt werden, etwa bei der Frauenbeschäftigung, da gleichzeitig Teilzeitarbeitsplätze, (z.T. nicht selbst gewählte) Zeitarbeit (5) sowie niedrig bezahlte Jobs, oft mit nicht standardisierten Arbeitsverträgen, signifikant zugenommen haben.

2.3.   Weiter wie bisher oder braucht Europa eine neue Agenda?

2.3.1.   Die mangelnde Erreichung der Lissabonner Ziele ist nach allgemeiner Meinung eine Folge des Fehlens, v.a. einer konsequenteren Politik der Mitgliedstaaten, um die gesetzten Ziele zu erreichen, und der zu geringen Anreize durch die OMK für nationales und gemeinschaftliches Engagement. Ebenso ursächlich ist das Fehlen eines europäischen Rahmens zur makroökonomischen Politik sowie zur Sozialpolitik, der es den EU-Ländern überhaupt erst ermöglicht, die richtigen Reformen in koordinierter Weise umzusetzen und die gesteckten Ziele zu erreichen sowie zu verhindern, dass die nationalen Reformen in Konkurrenz zueinander stehen. Darüber hinaus hat der EWSA mehrfach mangelnde gemeinsame Verantwortung festgestellt, die er nicht zuletzt auch in einer defizitären Einbindung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft begründet sieht.

2.3.2.   Der EWSA plädiert für die Fortführung einer globalen und ganzheitlichen Strategie nach 2010. Er ist aber auch der Auffassung, dass weder ein „Zurück zu Lissabon 2000“ noch „ein Mehr vom Selben ggf. etwas ökologischer“ die adäquate Antwort auf die aktuellen Herausforderungen ist. Das Gebot der Stunde lautet, nachhaltige Wege zu beschreiten, mit denen Wettbewerbsfähigkeit, FuE und Innovation mit dem innovativen Potenzial eines sozialen und nachhaltig wirtschaftenden Europas sowie dem Konzept der „guten Arbeit“ (6) verknüpft sind. Darüber hinaus stellt die aktuelle Krise in vieler Hinsicht einen Bruch dar und verlangt nach neuen Optionen, wie etwa einer effektiven Regulierung der Finanzmärkte, einer radikalen Neuausrichtung in Richtung Ressourcen schonender und CO2-armer Produktion und Konsumtion sowie Investitionen in die Innovation öffentlicher Dienste, um den Menschen Sicherheit zu geben und das Vertrauen in die EU wiederzugewinnen.

2.3.3.   Aktuelle Herausforderungen wie die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise sowie die resultierenden sozialen Probleme, die Globalisierung der Wirtschaft, die Verbesserung der Funktionsweise des Binnenmarktes, Energiepolitik und Klimawandel, demografische Tendenzen und Migration erfordern auf europäischer Ebene eine neue umfassende Strategie nach 2010, die a) diesen Herausforderungen begegnet, b) Defizite in der Umsetzung beseitigt, c) in gemeinsamer europäischer Verantwortung getragen wird und d) sämtliche EU-Strategien kohärent zu verknüpfen vermag (Recovery Strategy, Lissabon Strategie, Nachhaltige Entwicklung, Klimawandel). Der EWSA schlägt vor, diese strategische Neuausrichtung auch durch einen anderen Namen für diese neue europäische Strategie sichtbar zu machen.

3.   Politische Empfehlungen: Europäisch Denken und Handeln durch europäische Projekte

3.1.   Europäischen Rahmen für Erfolg versprechende Reformprogramme herstellen: Obgleich die EU-Länder die Hauptverantwortung für die Implementierung tragen, bedarf es eines adäquaten europäischen Rahmens, der es ermöglicht, die angestrengten Strukturreformen koordiniert und konsequent umzusetzen. Eine Evaluierung der nationalen Reformen auf europäischer Ebene und ihrer Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung, die Verteilung von Vermögen und Einkommen und den sozialen Zusammenhalt ist umgehend notwendig. In diesem Zusammenhang gilt es auch einige spezifische EuGH-Urteile (Vaxholm, Viking, Rüffert und Luxembourg) eingehend zu überprüfen und eventuell geeignete und konkrete Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer einzuführen, um klarzustellen, dass wirtschaftliche Freiheiten und Wettbewerbsregeln soziale Grundrechte nicht in Frage stellen.

Wachstumsfokus in der EU-Politik durch Schaffung eines adäquaten wirtschaftspolitischen Rahmens stärken: Das angestrebte und der Strategie immanent zugrundeliegende Wachstumsziel von jährlich 3 % wurde lediglich zweimal erreicht. Die Finanzkrise und die mangelhafte Schockresistenz der EU-Wirtschaft zeigen die Notwendigkeit einer wirtschaftspolitischen Neuausrichtung. Ein ausgewogener makro-ökonomischer Mix, der angebotsorientierte mit nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik in einer ausgeglichenen Art und Weise verknüpft, muss aus Sicht des EWSA zu einem integralen Bestandteil der Post-2010-Strategie werden. Auch die Qualität des angestrebten Wachstums ist wichtig. Das grundlegende Ziel ist das Wachstum des Wohlergehens. Das BIP an sich ist keine Messgröße für das Wohlergehen, daher muss ein besserer Indikator (bzw. ein Indikatorsatz) für das Wohlergehen herangezogen werden, um ein zufriedenstellenderes und kohärenteres Wachstumsziel für die neue Strategie aufzustellen und dann die Feinabstimmung vorzunehmen.

3.2.1.   Lösung der Finanzmarktkrise und soziale Herausforderungen: Die EU ist gefordert, bei den anstehenden Krisenlösungen und hier v.a. bei der Neuordnung des Finanzsystems koordiniert, geschlossen und in führender Rolle aufzutreten. Ein neu geordnetes globales Finanzsystem (v.a. effektive Regulierung des Bankensystems, aber auch von Hedgefonds und Private Equity Unternehmen) muss die Entwicklung und Bereitstellung solider Finanzinstrumente ermöglichen, welche die Realwirtschaft unterstützen und den Bürgern nutzen. Die gegenwärtige Krise ist aber nicht nur Resultat von Problemen am Finanzmarkt. Sie wurde v.a. in den USA auch durch eine Reihe wachsender makro- und mikroökonomischer Ungleichgewichte verursacht, wie vor allem die Einkommensungleichheiten. Daher muss der Weg aus der Krise lauten: Abkehr von einem teilweise auf „spekulativen Blasen“ basierenden Wachstum, zurück zu einem Wachstum, das auf Investitionen vor allem in innovativen Sektoren der Realwirtschaft, gerechter Verteilung, Schaffung hochwertiger und produktiver Beschäftigung sowie ökologischer Nachhaltigkeit basiert.

3.3.   Verbesserung des Funktionierens des Binnenmarktes durch besseres Gleichgewicht zwischen der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Dimension: Zur Erreichung dieses Zieles bedarf es einer korrekten Anwendung und eventuell Verbesserung des sozialen Binnenmarktacquis und „Better Regulation“, ebenso wie die Schaffung eines erfolgreichen mikroökonomischen Umfeldes und hinreichenden Spielraums für private Investitionen. Es sind aber auch Vorkehrungen dafür zu treffen, dass der Wettbewerb im gemeinsamen Markt innovationsorientiert und nicht in kontraproduktiver Konkurrenz zwischen den EU-Ländern auf Kosten des sozialen Zusammenhaltes und der ökologischen Nachhaltigkeit vor sich geht.

Sozialen Zusammenhalt als Faktor einer stabilen und dynamischen Wirtschaft fördern: Aus Sicht des EWSA trägt eine gut entwickelte Sozialpolitik inklusive einer umfassenden Politik zur Schaffung „guter Arbeit“, zu der auch ehrgeizige Ziele im Bereich der allgemeinen und beruflichen Aus- und Weiterbildung sowie im Bereich des lebenslangen Lernens gehören, wesentlich zu Wachstum und Steigerung der Produktivität bei. Der Weg aus der Krise muss von entsprechenden Investitionen unterstützt werden.

3.4.1.    Zunehmende Ungleichheiten und Armut europaweit bekämpfen : Bis 2010 wurde das Ziel aufgestellt, die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung Bedrohten erheblich zu senken, der Bericht der Kommission zur Sozialen Wirklichkeit (2007) zeigt jedoch, dass Europa in vielen Ländern und Regionen noch gravierende soziale Probleme hat. Daher muss die Post-2010-Strategie auf den sozialen Fortschritt, die Stärkung und Nachhaltigkeit der sozialen Sicherungssysteme und die Bekämpfung der Armut u.a. durch Verhinderung ungleicher Verteilung ausgerichtet werden. Das Europäische Jahr zum Kampf gegen Armut (2010) ist der ideale Anlass, effiziente Ziele inkl. zeitlicher Vorgaben im Bereich der Armutsbekämpfung zu schaffen (z.B. bei Mindesteinkommens- und Ersatzeinkommenssystemen (7)). Durch eine solche Initiative hin zur Sicherung der sozialen Kohäsion würde ein wichtiger Schritt getan, um das Vertrauen der Bürger in die europäische Integration wieder herzustellen.

Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes : Trotz Fortschritten werden die Beschäftigungsziele 2010 im EU-Schnitt nicht erreicht sein. Das muss angesichts der gegenwärtigen Krise – die zwar ihren Höhepunkt erreicht hat, aber noch nicht endgültig überwunden ist –, die Ungleichheiten vertieft und immer mehr Menschen vor existenzielle Probleme gestellt hat, Anlass zur Sorge geben. Die möglichst rasche Wiedererlangung von Wachstum zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes bedarf laut Europäischem Konjunkturprogramm  (8) einer Stärkung der Binnennachfrage, die durch strukturverbessernde Maßnahmen gestützt werden muss. Wichtig sind effiziente Konzepte zur Aus- und Weiterbildung, die Schaffung von Beschäftigung v.a. auch für jene, die u.a. aufgrund von Ausbildungsdefiziten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, sowie effektive Anstrengungen, Diskriminierungen im Zugang und beim Verbleib am Arbeitsmarkt zu beseitigen. Gerade die unterschiedlichen Formen der Sozialwirtschaft in den Mitgliedstaaten können bei der Bewältigung der Krise eine vorbildhafte Rolle einnehmen, vor allem, wenn es darum geht, Beschäftigung u.a. im Bereich der sozialen Dienstleistungen zu schaffen. Der EWSA ist der Ansicht, dass Beschäftigung und Arbeitsproduktivität parallel steigen müssen. Die EU muss dabei unter Einbeziehung und Achtung der Autonomie der nationalen und europäischen Sozialpartner auch die Schaffung adäquater Regelungen für nicht-standardisierte und sozial gering gesicherte Beschäftigung anstreben  (9).

3.4.2.1.   Solidarwirtschaftliche Unternehmen, die in allen Sektoren tätig sind und die wirtschaftliche Rentabilität mit dem Allgemeininteresse und sozialen Belangen verbinden, sind ein gutes Beispiel für spezifische Formen von unternehmerischer Initiative und Führung, die zur Verwirklichung der Ziele der überarbeiteten Lissabon-Strategie beitragen werden. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss fordert den Europäischen Rat, die Kommission und die Mitgliedstaaten dazu auf, Vorschläge zu prüfen, die auf die Umsetzung der vom Europäischen Parlament formulierten Empfehlungen (10) abzielen, um zu gewährleisten, dass solidarwirtschaftliche Unternehmen zu gleichen Wettbewerbsbedingungen mit anderen Unternehmen konkurrieren können.

3.4.3.    Flexicurity muss effektive Sicherheit im Wandel schaffen : Sich verändernde wirtschaftliche Rahmenbedingungen verlangen ein hohes Maß an innovativer Anpassungsfähigkeit auch auf den Arbeitsmärkten. Auf Strukturen, die sich rasch ändern, muss intelligent reagiert werden können. Im Sinne des Flexicurity-Konzepts muss dabei sichergestellt werden, dass die Arbeitnehmer für die neuen Herausforderungen in der Arbeitswelt gerüstet sind. Das Konzept der Flexicurity muss effektiveSicherheit im Wandelschaffen, wobei der Sicherheit am Arbeitsmarkt, stabilen Beschäftigungsverhältnissen und Arbeitsplätzen, der Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit, der sozialen Sicherheit und der Mobilität am Arbeitsmarkt in Richtung guter und produktiver Arbeitsplätze („make transition pay“) in der Praxis gleiche Priorität zukommen muss. Dabei muss v.a. auch die umfassende Umsetzung und Anwendung des sozialen Besitzstandes der Gemeinschaft gewährleistet und ausgebaut werden, um eventuellen unfairen Wettbewerb im Bereich der Arbeitsstandards zu verhindern.

3.4.4.    Bessere Koordinierung der Steuerpolitiken : In Einklang mit den EU-Verträgen ist eine stärkere EU-weite Koordinierung der Steuerpolitiken in den Mitgliedstaaten (u.a. harmonisierte Bemessungsgrundlagen sowie Mindestsätze) anzustreben, v.a. in jenen Bereichen, in denen die Steuerbasis international mobil und das Risiko zur Steuerflucht und zum Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten am größten ist. Das Ziel dieser europäischen Koordinierung muss die Sicherung öffentlicher Haushalte sowie die Förderung fairerer Steuersysteme (u.a. über Stärkung der Steueraufkommensbasis, mittels Schließung von Steueroasen wie auch durch Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung) sein.

3.4.5.    EZB muss ihrem gesamtwirtschaftlichen Mandat gerecht werden: In Hinblick auf die Post-2010-Strategie muss es gelingen, die Ziele Wachstum und Stabilität in ein für die künftigen Generationen angemessenes und zugleich nachhaltiges Gleichgewicht zu bringen. Die EZB, muss in Übereinstimmung mit den Verträgen ihre volle Verantwortung wahrnehmen und dabei neben der Priorität der Preisstabilität auch auf die Ziele hohes Beschäftigungsniveau, sozialer Schutz und nachhaltiges Wachstum achten.

3.4.6.    Budgetpolitischen Spielraum für Investitionen erhalten : Unter Beachtung und Nutzung der für krisenhafte Entwicklungen geschaffenen Flexibilitäten des Stabilitäts- und Wachstumspakts ist durch Umschichtungen in den Budgets der konjunkturpolitische Spielraum zu erhöhen, um Lissabon-relevante Investitionen der öffentlichen Hand (u.a. in leistungsfähige öffentliche Dienste, Forschung, Bildung, Innovation) und produktive Investitionen des privaten Sektors v.a. auch in CO2-arme Produktionen zu verstärken. In diesem Zusammenhang sollte auch die Idee der europäischen Anleihe eines europäischen Staatsfonds weiter entwickelt werden  (11).

3.5.   Industriepolitik und Unternehmergeist fördern sowie adäquate Rahmenbedingungen für KMU schaffen: Wirtschaftswachstum und ein Klima für Investitionen sind wesentliche Voraussetzungen für die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Erhaltung bestehender Beschäftigung; dazu tragen große Unternehmen, in hohem Maß aber auch die KMU bei. Gerade die KMU sind in der lokalen Wirtschaft verwurzelt und profitieren besonders von einer stabilen und wachsenden Inlandsnachfrage. Der EWSA hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, ein besonderes Augenmerk auf die Weiterentwicklung der europäischen Industriepolitik u.a. in Richtunggrüner Technologien“, Nanotechnologie und IKT, sowie auf die Stärkung eines sozial verantwortlichen Unternehmergeistes zu legen und die Förderung der Unternehmensgründung und der Unternehmensweiterführung voranzutreiben. Die Verringerung eines unverhältnismäßigen bürokratischen Aufwandes und administrativer Hürden sowie ein verbesserter Rahmen zur Unternehmensfinanzierung stellen für die Wirtschaft ein vorrangiges Anliegen dar und sind sowohl für die europäische Wettbewerbsfähigkeit als auch für ein günstiges Klima für produktive Investitionen entscheidend. Dabei dürfen berechtigte Schutzinteressen der Arbeitnehmer und Verbraucher nicht gefährdet werden. Da die Produktion, Innovation und Beschäftigungsquote zunehmend mehr von den KMU abhängt, sollte der Förderung unternehmerischer Initiative unter jungen Leuten ein wichtiger Platz eingeräumt werden.

3.6.    Dem demografischen Wandel begegnen und Lösungen zu Migrationsfragen anbieten : Wesentliche Ansatzpunkte für die Bewältigung der Herausforderungen einer älter werdenden Gesellschaft sind und bleiben Wachstum und Beschäftigung. Das gilt für die junge Generation ebenso wie für die ältere. Neben Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen muss – nicht zuletzt auch mit Blick auf die Geburtenraten – auch mehr für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie getan werden. Erfolgreiche Lösungen im Bereich der Migration und Integration, die Europas Potenzial für Wachstum fördern und zugleich den sozialen Zusammenhalt nicht gefährden, gehören zu den zentralen Herausforderungen für die Zeit nach 2010  (12).

Wissensdreieck (Bildung, Forschung, Innovation) weiter aufwerten: Europa muss weiter sein Potenzial an qualifizierten Menschen, an Wissenschaft, Forschung und Technologie und damit seine Innovationsfähigkeit als wesentliches Wettbewerbsmoment stärken. Das Wissensdreieck muss auf jeden Fall im Mittelpunkt der Post-2010-Strategie bleiben. In diesem Zusammenhang ist der Begriff „Innovation“ im Hinblick auf eine Stärkung des sozialen Kapitals, das sowohl für die Wettbewerbsfähigkeit als auch den sozialen Zusammenhalt von Bedeutung ist, weiter aufzufassen, so dass er auch „soziale Innovationen“ umfasst.

3.7.1.   Um die Grundlage für künftige Innovationen zu sichern, müssen Wissenschaft und Forschung sowie deren Anwendung in der wirtschaftlichen Praxis einen hohen Stellenwert haben. Das Bologna-Ziel zur Schaffung eines Raums zur höheren Bildung in Europa benötigt konkrete Umsetzungsschritte und mehr politischen Willen, Politikbereiche zu koordinieren. Unzureichende Investitionen in Innovation und Weiterbildung verschärfen wirtschaftliche Probleme und bleiben nicht ohne Wirkung auf die Arbeitsproduktivität. Universitäten und die Einrichtungen für die höhere Bildung müssen ihre Verantwortung übernehmen und in weit höherem Maß als bisher eine europäische Dimension entwickeln, da sie eine Schlüsselfunktion im Wissensdreieck von Bildung, Forschung und Innovation einnehmen. Im grenzüberschreitenden Bereich sind multilaterale Forschungskooperationen zu fördern. Europa mangelt es auch an Hochtechnologieunternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren. Unternehmen müssen Anreize vorfinden, noch mehr in Forschung und Entwicklung zu investieren und produktive Arbeitsplätze zu schaffen.

3.7.2.   Gut ausgebildete Beschäftigte vor allem auch im wissenschaftlich-technischen Bereichen und Innovationsfähigkeit sind wesentliche Wettbewerbsmomente und Voraussetzung für Prosperität. Sie müssen einhergehen mit der Schaffung produktiver, hoch qualifizierter und gut bezahlter Arbeitsplätze. Auch in der Krise muss jungen Absolventen ein entsprechend qualifizierter Berufseinstieg und perspektivenreiche berufliche Entwicklung ermöglicht werden.

Das Management des Klimawandels als Schlüsselelement der Post-2010-Strategie verlangt Wandel in vielen Bereichen: Die Förderung von Energieeffizienz und erneuerbarer Energie wird ebenso wie die Nutzung des Umweltsektors ein Schlüsselelement der Post-2010-Strategie sein. Die erneuerte Strategie muss einen Aktionsplan für eine kohlenstoffarme Wirtschaft enthalten. Die EU sollte sich jetzt, nachdem ein umfassender Rechtsrahmen für Energie und Klimaschutz aufgestellt worden ist, auf die praktische Umsetzung konzentrieren. Wirksame politische Maßnahmen sollten in die integrierten Leitlinien, in die länderspezifischen Empfehlungen und die nationalen Reformprogramme der künftigen Lissabon-Strategie einfließen.

3.8.1.    EU muss energie- und ressourceneffizientester Wirtschaftsraum werden : Klimapolitik, die Treibhausgasemissionen sowie die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und Energieimporten dauerhaft reduziert, muss im Sinne der Nachhaltigkeit ausgerichtet werden, also ökonomische, ökologische und soziale Ziele adäquat berücksichtigen. Darüber hinaus sind insbesondere auch alle Energiesparpotenziale auszuschöpfen, dabei ist auf lokale, erneuerbare und regionale Strukturen zu setzten. Die Verbesserung der Energie- und Ressourceneffizienz wird zu den zentralen Elementen einer neuen Strategie zählen. Ein zusätzliches strategisches Ziel der EU sollte es daher sein, „als Gemeinschaft zu einem der energie- und ressourceneffizientesten Wirtschaftsräume zu werden“. Zur Erreichung dieses Wandels muss Europa eine hohe Verantwortung im Bereich der CO2-Reduktion wahrnehmen. In den einzelnen Sektoren gilt es, in Kooperation mit den einzelnen Branchen konkrete Zielvorgaben und Zeitpläne aufzustellen.

3.8.2.   „ New Green Deal “: Im Rahmen eines „New Green Deal“ sollen das Potenzial des Umweltsektors als Motor für Wachstum, neue Beschäftigung und Innovation ausgeschöpft, Innovationsführerschaft bei grünen Technologien angestrengt und Kosten eingespart werden, ohne auf Wohlstand, Lebensqualität und globale Wettbewerbsfähigkeit zu verzichten. Dem Ausbau von Forschung und Technologie sowie deren Umsetzung in marktgängige neue Produkte und Dienstleistungen und somit der Schaffung von Beschäftigung wird wesentliche Bedeutung bei diesem notwendigen Innovationsprozess zukommen.

Finanzielle Basis der Lissabon-Strategie verbessern: Die Bewältigung künftiger Herausforderungen macht auch neue strategische Überlegungen zum künftigen EU-Budget notwendig.

3.9.1.    EU-Haushalt Lissabon-relevant reformieren: Generell muss eine „Lissabon-relevante“ Neugewichtung der Dotierung einzelner Politiken erfolgen: in Richtung Forschung und Wettbewerbsfähigkeit, Umwelt und Klima, Investitionen in nachhaltige Energienutzung; produktive öffentliche Ausgaben in den Wirtschaftsstandort, aktive Arbeitsmarktpolitik, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, soziale Kohäsion, Vermeidung von Armut und Schaffung von neuen und qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen. Eine entsprechend Lissabon-relevante Reformdiskussion zum EU-Haushalt sollte auch in den kommenden Finanzrahmen von 2014 bis 2020 eingehen  (13). Eine effiziente Umsetzung europäischer Zielvorgaben verlangt auch, dass die Stärkung der regionalen Dimension in die Diskussion zur Finanzierung der Struktur- und Kohäsionspolitik nach 2013 eingeht.

3.9.2.    Alternativen zur EU-Finanzierung prüfen : Es bestehen zahlreiche grenzüberschreitende Herausforderungen, die eine Stärkung der europäischen Dimension politischen Handelns erfordern. Für europäische Projekte sind alternative Finanzierungsmöglichkeiten und neben strukturellen Umschichtungen und Einsparmöglichkeiten auch Perspektiven eines erweiterten EU-Budgets zu diskutieren. Der EWSA regt an, in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeiten zur Einführung EU-weiter Finanzmechanismen (inklusive steuerlicher Möglichkeiten) zu prüfen. So könnten etwa durch die Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen Spekulationsgeschäfte eingedämmt werden. Auch die Möglichkeit einer Emissionssteuer (carbon tax) sollte auf den Prüfstand.

3.10.   Stärkung der externen Dimension: Europas Wohlstand basiert u.a. auf seiner Offenheit gegenüber der Welt. Als weltweit größte Wirtschaftsmacht, die den ersten Platz beim Export und Import von Gütern und Dienstleistungen und den zweiten Platz als Quelle bzw. Empfänger ausländischer Direktinvestitionen belegt sowie als weltweit größter Geber von Entwicklungshilfe ist für Europa die Stärkung seiner internationalen Agenda mit klaren und langfristigen Zielen von entscheidender Bedeutung. Angesichts des Erstarkens neuer globaler Wirtschaftsmächte und der Auswirkungen der internationalen Wirtschaftskrise ist es wichtiger denn je, dass sich die EU einen neuen einheitlicheren und durchsetzungskräftigeren Rahmen ihres auswärtigen Handelns gibt, damit eine adäquate, gerechte und nachhaltige Marktöffnung gewährleistet, die normativ wirkenden Standards auf Grundlage der Rechte angehoben, der Multilateralismus sowie der strukturierte Dialog mit privilegierten Partnern gefördert und ein für beide Seiten vorteilhafter Raum des Fortschritts geschaffen wird, der den Mittelmeerraum und Afrika mit umfasst. Unter dieser Voraussetzung wird Europa mit seinem Modell der sozialen Marktwirtschaft auch in Zukunft für den Rest der Welt Vorbildfunktion haben, sich auf internationaler Ebene v.a. im Hinblick auf den Zugang zu Märkten und Rohstoffen behaupten können und gleichzeitig sicherstellen, dass die internationalen Wettbewerbsbedingungen fair sind, eine nachhaltige Entwicklung Platz greifen kann und alle in den Genuss von Globalisierungsgewinnen kommen.

4.   Empfehlungen zu den Lissabon-Zielen

4.1.   Ziele beibehalten und mittelfristig anheben: Trotz neuer Herausforderungen und der Rückschläge, die mit der aktuellen Krise verbunden sind, darf die Post-2010-Agenda die bisherigen Ziele nicht außer Acht lassen. Der EWSA schlägt vor, die gemeinsamen Ziele der laufenden Strategie nicht aufzugeben, zugleich aber auch darüber hinausgehende ambitionierte Ziele zu formulieren, deren Umsetzung bis 2015 erfolgen sollte. So sollten etwa die Forschungsquote auf 3,5 % (ggf. ergänzt um ein breiter gefasstes Ziel für Investitionen in Innovation) und auch die Ziele für mehr und bessere Beschäftigung sowie zur Aus- und Weiterbildung weiter angehoben werden.

4.2.   Ausgangslage der einzelnen EU-Länder bei den nationalen Beiträgen einkalkulieren: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der EU-Länder ist äußerst unterschiedlich. Der EWSA schlägt vor, wie bei der ursprünglichen Festlegung der quantitativen Lissabon-Ziele die jeweilige Ausgangslage in den einzelnen Mitgliedstaaten einzukalkulieren und entsprechend ambitionierte nationale Beiträge zu den Strategie-Vorgaben auf Basis der EU-27 durchzurechnen und zu thematisieren.

4.3.   Auch qualitative Ziele wieder aufnehmen: Darüber hinaus sollte die zukünftige Agenda auch die Verfolgung jener qualitativen Ziele beinhalten, die im Zuge des Relaunches der Lissabon-Strategie in den letzten Jahren weitgehend verloren gegangen sind (z.B. sog. Laeken-Indikatoren zur Messung der Schaffung qualitativer Beschäftigung (14)).

4.4.   Neue Ziele setzen, v.a. wo Defizite auf der Hand liegen: Zusätzlich sollten im Rahmen der Integrierten Leitlinien insbesondere dort neue bzw. konkretere Ziele beschlossen werden, wo geringe Fortschritte zu verzeichnen waren bzw. Schattenseiten der vergangenen Reformpolitik zu Tage treten. Daher schlägt der EWSA eigene Leitlinien mit messbaren Zielen zur Geschlechtergleichstellung, beim Kampf gegen Arbeitsverhältnisse mit mangelnder sozialer Absicherung, beim Übergang in eine Co2-arme Wirtschaft, beim Kampf gegen Armut (auch der in Arbeit stehenden Personen) sowie zur Verhütung sozialer Ausgrenzung (z.B. angemessene Unterstützungen im Fall der Erwerbslosigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit sowie beim Zugang zu öffentlichen Diensten) vor.

5.   Empfehlungen zur Governance

5.1.   Stärkung der Rolle der europäischen Institutionen: Die neue Strategie braucht mehr Biss. Einer verstärkten Rolle der europäischen Institutionen kommt in der gegenwärtigen Krise besondere Bedeutung zu. Seit der Nachjustierung der Lissabon-Strategie im Jahr 2005 agiert die Kommission weit sichtbarer, vor allem im Bereich der Veröffentlichung und Verbreitung länderspezifischer Leitlinien sowie von best-practice-Beispielen. Die öffentliche Diskussion im Rat wurde gefordert, um den gesamten Prozess im Gang zu halten. In einer erneuerten Strategie sollte dies vertieft und erweitert werden. Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten durch den Einsatz elektronischer Kommunikationsmittel neue Schritte zur Verbesserung der Umsetzung sowie zur Förderung des grenzüberschreitenden Austausches bewährter Verfahren anstrengen. Diese Methoden leben aber davon, dass die Mitgliedstaaten dafür einen adäquaten europäischen Rahmen bekommen, in dem sie gemeinschaftliche Ziele erreichen können. Gegebenenfalls gilt es neue, innovative Instrumente zu prüfen.

5.2.   Wirksamkeit der OMK in den Mitgliedstaaten erhöhen: Die OMK als „methodisches Rückgrat“ der Lissabon-Strategie wird mit dem EU-Reformvertrag für weitere Bereiche festgeschrieben. Für den EWSA ist die Achillesferse der OMK neben der mangelnden Sichtbarkeit bei den Bürgern v.a. ihre mangelnde Wirksamkeit auf nationaler Ebene. Daher ist es entscheidend, dass die Zieldaten nicht wie bisher oft als „Fixpunkte des Wünschbaren“, sondern als konkrete politische Verpflichtungen angesehen werden. Hier sollten Wege und Instrumente gefunden werden, die Verbindlichkeit zu erhöhen und verstärkte Anreize für Mitgliedstaaten zu schaffen, eingegangene Zielverpflichtungen effektiver zu verfolgen. Um ein stärkeres Gleichgewicht zu gewährleisten, sollten bei der Umsetzung der neuen Strategie neben den Wirtschafts- und Finanzministern auch andere in erste Linie die Arbeits- und Sozialminister verstärkt beteiligt werden. Der EWSA empfiehlt darüber hinaus die Rolle und Sichtbarkeit der Europäischen Sozialpartner zu erhöhen, etwa durch die standardmäßige Beifügung der Resultate des Tripartiten Makroökonomischen Dialoges zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Gipfels.

5.3.   Monitoring der Lisabon-Ziele durch Wirtschafts- und Sozialräte in den Mitgliedstaaten: Im Rahmen der jeweiligen Konsultationsverfahren und der Kompetenzen der Sozialpartner in den einzelnen Mitgliedsstaaten sollte die besondere Rolle der nationalen WSR oder vergleichbarer Organisationen der Zivilgesellschaft weiter gestärkt werden (15). Die einschlägigen von den WSR zu erstellenden Berichte sollten Analysen der relevanten Lissabon-Umsetzung beinhalten, mit denen die Regierungen und die europäischen Institutionen befasst und zu entsprechenden Schlussfolgerungen angehalten werden. Die WSR und zivilgesellschaftlichen Organisationen könnten in diesem Zusammenhang Vertreter der Kommission einladen, um den nationalen Kontext zu debattieren. Des Weiteren sollten die nationalen WSR in die jährlichen Konsultationen der Kommission eingebunden werden. Die Aufrechterhaltung des Meinungs- und Erfahrungsaustausches zwischen EWSA und den nationalen WSR über die Nationalen Reformpläne und die Lissabon-Agenda ist hier von besonderer Bedeutung.

5.4.   Vermehrte Legitimation durch verbesserte zivilgesellschaftliche Einbindung und Stärkung der regionalen Dimension: Der EWSA hat stets darauf hingewiesen, dass eine bessere Umsetzung der Lissabon-Strategie nur gewährleistet werden kann, wenn neben der vollen Übernahme der Verantwortung durch die europäischen Institutionen, v.a. auch eine umfassende Einbindung aller gesellschaftlichen Interessen und eine engere Zusammenarbeit zwischen Regierung und Sozialpartnern sowie Zivilgesellschaft auf nationaler und europäischer Ebene, aber auch auf lokaler und regionaler Ebene in den Mitgliedstaaten erfolgt (16):

Die nationalen Lissabon-Koordinatoren sollten während der Erarbeitung, Umsetzung und Bewertung der Nationalen Reformprogramme systematisch mit allen Beteiligten zusammenarbeiten.

Weitere Schritte sind notwendig, um im Rahmen der jeweiligen Konsultationsverfahren und der Kompetenzen der Sozialpartner den bestehenden Dialog in den Mitgliedstaaten zu fördern, ein Dialog, der auch die nationalen WSR beteiligt, und zu dem gegebenenfalls andere zivilgesellschaftliche Interessenträger (NGO, Organisationen der Sozialwirtschaft u.a.m.) sowie Vertreter von Hochschulen oder „Denkfabriken“ hinzugezogen werden.

Jeder Lissabon-Zyklus könnte mit einer Konferenz abgeschlossen werden, an der die maßgeblichen Interessenträger und zivilgesellschaftlichen Organisationen teilnehmen, um eine Bestandaufnahme der Erfolge und Mängel vorzunehmen.

Strukturelle Hindernisse, die einer effizienten Einbindung der nationalen Parlamente und einem echten Dialog mit den Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Organisationen entgegenstehen, sind zu beseitigen. Dazu zählen etwa die Vermeidung des bereits zur Regel gewordenen knappen Fristenlaufs bei der Erstellung der Nationalen Reformprogramme in den Sommermonaten ebenso wie die Bestellung von Lissabon-Verantwortlichen, die in vielen EU-Ländern wenig mit sozialem Dialog anfangen können.

Die Regierungen der Mitgliedsstaaten sollten verstärkt über die Ergebnisse des zivilen und sozialen Dialoges in Bezug auf die Lissabon-Ziele informieren.

Um einen ganzheitlichen Ansatz zur territorialen, sozialen und wirtschaftlichen Kohäsion zu gewährleisten, sind die partnerschaftlichen Prinzipien der Strukturfonds in den EU-Staaten voll zu implementieren und die Instrumente der OMK auch in diesem Bereich verstärkt zu nutzen.

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Hinsichtlich des institutionellen Rahmens der zivilgesellschaftlichen Einbindung in die nationale Politikgestaltung bestehen erhebliche Unterschiede: In vielen EU-Ländern gibt es einen WSR, in den meisten neuen Mitgliedstaaten sogenannte Dreierausschüsse (Sozialpartner plus Regierungsvertreter), andere Länder haben keinen WSR, einige jedoch alternative Formen der Einbindung zivilgesellschaftlicher Interessen. Der EWSA ist bemüht, Beiträge möglichst vieler dieser Vertretungsgremien zusammenzutragen.

(2)  Vgl. CESE 1468/2005 rev., „Umsetzung der Lissabon-Strategie – Synthesebericht für den Europäischen Rat“, 23.-24. März 2006; CESE 40/2008 „Erneuerte Lissabon-Strategie 2008-2010: Die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft“, Synthesebericht für den Europäischen Rat, 13.-14. März 2008.

(3)  Zu den relativen Erfolgen und Defiziten in der Erreichung der „Lissabon-Ziele“ vgl. einen Überblick in: M.J. Rodrigues, Europe, Globalisation and the Lisbon Agenda (2009), S. 16.

(4)  Vgl. Fußnote 2 und EWSA-Stellungnahme „Effiziente Governance der erneuerten Lissabon-Strategie“, ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 13.

(5)  Vgl. http://www.eurofound.europa.eu/ewco/reports/TN0403TR01/TN0403TR01_3.htm, Part-time work in Europe, Dublin-Foundation, 2004.

(6)  Vgl. das vom Rat in Laeken 2001 verabschiedete Set an Indikatoren zur Qualität der Arbeit: KOM(2001) 313 endg., „Beschäftigungspolitik und Sozialpolitik: ein Konzept für Investitionen in Qualität“.

(7)  Siehe auch Entschließung des Europäischen Parlaments, PT_TA(2008)0467 vom 9.10.2008.

(8)  Mitteilung der Kommission an den Europäischen Rat, „Europäisches Konjunkturprogramm“, KOM(2008) 800 endg., 16. November 2008.

(9)  Überblick zu entsprechenden europäischen Sozialpartnervereinbarungen http://europa.eu/legislation_summaries/employment_and_social_policy/social_dialogue/c10132_de.htm.

(10)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Februar 2009 zu der Sozialwirtschaft (2008/2250(INI)).

(11)  Vgl. EWSA-Stellungnahme zum Thema „Europäisches Konjunkturprogramm“, ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 71, Ziffer 5.4.

(12)  In diesem Zusammenhang ist v.a. auch die Einrichtung des Europäischen Integrationsforums, das unter Schirmherrschaft des EWSA EU-Institutionen, Stakeholder und NGO zusammenbringt, zu begrüßen.

(13)  Vgl. EWSA-Stellungnahme zum Thema „Der EU-Haushalt und seine künftige Finanzierung“ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 113.

(14)  Siehe KOM(2001) 313 endgültig „Beschäftigungspolitik und Sozialpolitik: ein Konzept für Investitionen in Qualität“.

(15)  Der EWSA merkt an, dass er sich in keiner Weise in die bestehenden Konsultationsverfahren, Zuständigkeiten und Legitimationen der Sozialpartner in den einzelnen Mitgliedstaaten einmischt.

(16)  Vgl. EWSA-Stellungnahme „Effiziente Governance der erneuerten Lissabon-Strategie“, ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 13.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/10


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Soziale Eingliederung“

(Sondierungsstellungnahme)

(2010/C 128/03)

Berichterstatterin: Brenda KING

Mit Schreiben vom 18. Dezember 2008 ersuchte Cecilia Malmström, Ministerin für europäische Angelegenheiten Schwedens, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu dem Thema:

„Soziale Eingliederung“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 15. Oktober 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 4. November) mit 130 Stimmen ohne Gegenstimme bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Die Strategie der Europäischen Union für Wachstum und Beschäftigung muss in Zukunft mehr Gewicht auf den sozialen Zusammenhalt legen, so ein neuer Bericht zu diesem Thema, der am 29. September 2009 von der Europäischen Kommission vorgestellt wurde. Der Ausschuss für Sozialschutz stellt darin fest, dass Sozialschutz alleine nicht ausreicht, um Armut und Ausgrenzung vorzubeugen, und ruft daher dazu auf, den Schwerpunkt verstärkt auf Ziele wie die Bekämpfung von Kinderarmut und die Förderung von Maßnahmen zur aktiven Eingliederung zu legen.

In der Regel trifft Ausgrenzung in erster Linie Arme und Geringqualifizierte, MigrantInnen und Angehörige ethnokultureller Minderheiten, Menschen mit Behinderungen, die, die am Rande der Gesellschaft oder in prekären Wohnverhältnissen leben, sowie Obdachlose.

Selbst wenn eine Beschäftigung keine Garantie gegen Ausgrenzung und Armut bietet, ist ein Arbeitsplatz nach wie vor das beste Mittel der sozialen Eingliederung.

1.2.   Der schwedische EU-Ratsvorsitz beabsichtigt, den negativen Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf das Wachstum und die Beschäftigung sowohl auf der Ebene der EU als auch der einzelnen Mitgliedstaaten entgegenzuwirken. Des Weiteren will er Prioritäten für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen festlegen, mit denen die Arbeitslosigkeit eingedämmt, die Zahl der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Menschen gesenkt und von Entlassungen der jüngsten Zeit Betroffene wieder in Beschäftigung gebracht werden sollen. Zudem sollen die Grundlagen für die Entstehung neuer dauerhafter und nachhaltiger Arbeitsplätze geschaffen werden.

1.3.   In den Schlussfolgerungen des jüngsten G20-Gipfels wird darauf hingewiesen, dass es den Mitgliedstaaten, darunter jenen aus der EU, gelungen sei, dieses Jahr neue Arbeitsplätze zu schaffen sowie bereits vorhandene Arbeitsplätze zu erhalten und somit die Auswirkungen der Krise auf viele Bürgerinnen und Bürger einzudämmen. Bei ihren diesbezüglichen Bemühungen zielten die Mitgliedstaaten insbesondere auf den Erhalt von Arbeitsplätzen und die Sicherung des Einkommens der Privathaushalte ab.

1.4.   Nichtsdestoweniger steht die EU vor dem Problem, dass zahlreiche Menschen im erwerbsfähigen Alter selbst im jüngsten Konjunkturhoch keinen Zugang zu Beschäftigung hatten. Darüber hinaus erzielen manche mit ihrer Erwerbsarbeit kein ausreichendes Einkommen, um sich aus der Armut zu befreien. Daraus folgert, dass die Zahl der vom Arbeitsmarkt Ausgegrenzten trotz der entschlossenen Bemühungen zur Bewältigung der Krise in den letzten 18 Monaten gestiegen ist, wobei die sozialen Auswirkungen der Rezession noch nicht gänzlich absehbar sind.

1.5.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss vertritt die Auffassung, dass es verstärkter Bemühungen zur Umsetzung der vom Rat im Dezember 2008 angenommenen gemeinsamen Grundsätze für eine aktive Eingliederung bedarf, wobei der Schwerpunkt auf die besonders arbeitsmarktfernen Menschen gelegt werden sollte, also die Geringqualifizierten, die einen schlechteren Zugang zu lebenslangem Lernen und Fortbildung haben, Menschen mit Betreuungspflichten (größtenteils Frauen), FrührentnerInnen, Menschen mit Behinderungen, Angehörige von Minderheiten, MigrantInnen und junge Menschen.

1.6.   Der EWSA empfiehlt, zur Ermittlung der besten Vorgehensweisen zur Gewährleistung des Übergangs von Bildung/beruflicher Bildung zu Beschäftigung und von Haushaltsarbeit bzw. einer Freiwilligentätigkeit zu bezahlter Arbeit sowie zur Beseitigung struktureller Barrieren, die dem Zugang zum Arbeitsmarkt und der sozialen Integration entgegenstehen, die offene Koordinierungsmethode zu nutzen.

1.7.   Der Ausschuss ist sich bewusst, dass Sozialleistungen und Sozialschutz weitgehend aus öffentlichen Geldern finanziert werden und eine Reihe von EU-Mitgliedstaaten aufgrund der derzeitigen Krise Kürzungen bei den Staatsausgaben anstrebt. Er lehnt daher Schritte ab, die zu einer Bedrohung der Solidarität führen würden, auf der der Sozialschutz beruht und die für Europa so nützlich ist; gefragt sind dazu Maßnahmen, die sowohl Schutz bieten als auch den Übergang zu Beschäftigung und den Erhalt von Arbeitsplätzen unterstützen.

1.8.   Der EWSA erkennt die Bedeutung des lebenslangen Lernens und der Fortbildung für die Stärkung der Beschäftigungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger an und weist in diesem Zusammenhang auf die paradoxe Situation hin, dass die Menschen mit der geringsten Qualifikation den schlechtesten Zugang zu lebenslangem Lernen haben. Er empfiehlt daher nachdrücklich, dafür zu sorgen, dass alle tatsächlich Anspruch und Zugang zu Weiterbildung haben.

1.9.   Der Ausschuss stimmt mit der Europäischen Kommission überein, dass der Koordinierung und Zusammenarbeit auf der nationalen und lokalen Ebene unter Einbindung der einzelstaatlichen Behörden, der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft sowohl im Beschäftigungsbereich als auch im Wohnungswesen, im Gesundheitsbereich und bei der territorialen Integration große Bedeutung zukommt.

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1.   Die europäischen Volkswirtschaften und Gesellschaften sehen sich gegenwärtig einer Reihe von Herausforderungen gegenüber, etwa dem Klimawandel, dem technischen Fortschritt, der Globalisierung und der Bevölkerungsalterung. Die in den letzten Jahrzehnten gestiegene Einbindung in den Arbeitsmarkt ist zwar grundsätzlich positiv zu bewerten, gleichzeitig ist jedoch die Zahl der von Armut Betroffenen, darunter auch erwerbstätige Arme, unverändert hoch geblieben, die Arbeitsmärkte sind weiterhin stark segmentiert und die Zahl der arbeitslosen Haushalte ist nur geringfügig gesunken. Da ein guter Arbeitsplatz noch immer der beste Schutz vor Armut und Ausgrenzung ist, konzentriert sich der EWSA in der vorliegenden Stellungnahme vor allem auf die Zusammenhänge zwischen Beschäftigung und sozialer Eingliederung.

2.2.   Die jüngste Herausforderung, die globale Finanzkrise, hat auf die Realwirtschaft durchgeschlagen, wobei sich die Arbeitsmarktsituation infolge der geringeren Nachfrage und der ungünstigeren Finanzierungsmöglichkeiten drastisch verschlechtert hat (1). Die saisonal bereinigte Arbeitslosenquote betrug in der EU-27 im März 2009 8,3 % im Vergleich zu 6,7 % im März 2008. Dies ist eine Trendumkehr bei der Beschäftigung, da die Arbeitslosigkeit in der EU-25 in den letzten Jahren gesunken ist, und zwar von 8,9 % im März 2005 auf 8,4 % im März 2006 und 7,3 % im März 2007. Obwohl sich die Lage in den einzelnen Ländern unterschiedlich darstellt, sind alle EU-Mitgliedstaaten sowie die meisten Branchen von dem schweren Wirtschaftsabschwung betroffen. Am stärksten betroffen sind Spanien, Irland und die baltischen Länder, wobei sich die Arbeitslosigkeit dort verdoppelt bzw. im Baltikum sogar fast verdreifacht hat. Dieser Aufwärtstrend wird voraussichtlich weiter anhalten.

2.3.   In fast allen Mitgliedstaaten wurden Programme zur Bekämpfung dieser jüngsten Krise auf den Weg gebracht, die durch eine Entspannung der Finanzsituation und steuerliche Anreize in einem ersten Schritt das Finanzsystem stabilisieren, die negativen sozialen Folgen abfedern und anschließend den Konjunkturmotor wieder zum Laufen bringen sollen. Die einzelnen Mitgliedstaaten setzen bei ihren Maßnahmen zwar ganz unterschiedliche Schwerpunkte, besonderes Augenmerk wird aber in der Regel auf Maßnahmen gelegt, die darauf abzielen, die Menschen in Beschäftigung zu halten, die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu fördern, das Einkommen der Privathaushalte zu stützen, Hypothekennehmer vor Zwangsvollstreckung zu schützen, den Zugang zu Krediten und Darlehen zu verbessern und Investitionen in die Sozial- und Gesundheitsinfrastruktur zu fördern, jeweils im Hinblick auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze und einen besseren Zugang zu Dienstleistungen (2). Nichtsdestoweniger ist der schwedische Ratsvorsitz der Auffassung, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise Hand in Hand mit den zur Bewältigung der übrigen Probleme der EU (z.B. demografischer Wandel, Globalisierung) erforderlichen Strukturreformen gehen müssen, da bereits vor der Krise zu viele EU-Bürgerinnen und –Bürger, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung hätten stehen können, trotz der relativ günstigen Wirtschaftslage keinen Zugang zu Beschäftigung hatten.

2.4.   Der schwedische EU-Ratsvorsitz will folgende Prioritäten setzen:

2.4.1.   gemeinsame Anstrengungen der Mitgliedstaaten zur Bewältigung der Auswirkungen eines raschen Anstiegs der Arbeitslosigkeit infolge der Wirtschaftskrise;

2.4.2.   wirksame Reformen zur Stärkung der Mobilität auf dem Arbeitsmarkt, einschließlich Maßnahmen zur Erleichterung der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt.

Ziel ist es, die kurzfristigen Auswirkungen der Krise einzudämmen und durch gezielte Maßnahmen zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten das langfristige Ziel einer hohen Beschäftigungsquote mittels einer neuen EU-Strategie für Wachstum und Beschäftigung erreichen.

3.   Beschäftigung und soziale Eingliederung

3.1.   Förderung sicherer Übergänge

3.1.1.   Wechsel und soziale Mobilität sind in Europa seit jeher Teil des Lebens. Die durch die Globalisierung ausgelösten Veränderungen verdeutlichen die Notwendigkeit wirtschaftlicher und sozialer Steuerungssysteme, die Wechsel und soziale Mobilität aktiv unterstützen. Politisches Ziel sollte es sein, Aktivierungs- und Rehabilitationsmaßnahmen sowie Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt unter Gewährleistung des erforderlichen Sozialschutzes miteinander zu verknüpfen. Die Fachliteratur spricht von mindestens fünf Übergängen (3): zwischen Bildung/Ausbildung und Beschäftigung; zwischen unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen einschließlich selbständiger Erwerbstätigkeit; zwischen bezahlter Arbeit und Arbeit im Haushalt bzw. einer Freiwilligentätigkeit; zwischen Beschäftigung und Arbeitsunfähigkeit; zwischen Beschäftigung und Ruhestand. Das Ziel muss darin bestehen, die Menschen davon zu überzeugen, dass sich Übergänge lohnen, und sie zu ermuntern, sich selbst um einen Arbeitsplatz zu kümmern, und die ihnen dabei gleichzeitig die erforderliche Unterstützung bieten und sie vor einer materiellen Notlage bewahren.

3.1.2.   Besonderes Augenmerk ist dem Übergang zwischen Bildung/Ausbildung und Beschäftigung zu widmen, da viele junge Menschen in Wachstumszeiten überdurchschnittlich aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt waren und nun besonders stark von den Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise betroffen sind (4). Obwohl junge Menschen heutzutage über ein höheres Qualifikationsniveau als frühere Generationen verfügen, steigen sie später ins Berufsleben ein, genießen weniger Beschäftigungssicherheit und sind stärker von der Segmentierung der Arbeitsmärkte und von Arbeitslosigkeit betroffen. Der EWSA nimmt mit Zufriedenheit den Schwerpunkt „Sofortige Unterstützung für junge Menschen“ zur Kenntnis, den die Kommission in ihrer Mitteilung „Ein gemeinsames Engagement für Beschäftigung (5) setzt, zeigt sich jedoch skeptisch, ob mit der für die Bewertung und Überarbeitung der hochwertigen Weiterbildungsprogramme und Lehrausbildungen vorgeschlagenen Vorgehensweise tatsächlich gewährleistet werden kann, dass diese jeweils auf dem neuesten Stand sind. In seiner Stellungnahme zum Thema „Beschäftigung für vorrangige Bevölkerungsgruppen“ (6) hat der EWSA Empfehlungen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vorgelegt. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass MigrantInnen, Angehörige ethnischer Minderheiten, AlleinerzieherInnen und Geringqualifizierte besonders stark von Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt und sozialer Ausgrenzung bedroht sind.

3.1.3.   Frauen bekommen die Auswirkungen, die Übergänge zwischen Beschäftigung und Haushaltsarbeit bzw. einer Freiwilligentätigkeit hinsichtlich der Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Formen von Arbeitsverträgen bzw. hinsichtlich des Zeitraums haben, während dessen sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, besonders stark zu spüren. Der EWSA empfiehlt daher, verstärkt Maßnahmen zur Sicherstellung der Geschlechtergleichstellung zu ergreifen.

3.2.   Konzipierung und Umsetzung integrierter Politiken, maßgeschneiderte Maßnahmen und Verbesserung der Governance

3.2.1.   Mit der wachsenden Erfahrung mit Maßnahmen zur Gewährleistung reibungsloser Übergänge kristallisieren sich zunehmend Merkmale „guter Übergangsmaßnahmen“ heraus. Anreizen und Unterstützung kommt entscheidende Bedeutung zu. Begleitend zu den Maßnahmen zur Gewährleistung von Übergängen auf den Arbeitsmärkten müssen insbesondere dann, wenn damit Menschen erreicht werden sollen, die besonders weit weg vom Arbeitsmarkt sind und für die es systematisch weiterer Bemühungen bedarf, Eingliederungsmaßnahmen vorgesehen werden. Der EWSA vertritt die Auffassung (7), dass die Umsetzung umfassender Strategien zur aktiven Eingliederung, also einer ausgewogenen Kombination von Maßnahmen, die auf die Schaffung integrativer Arbeitsmärkte, eines Zugangs zu hochwertigen Dienstleistungen sowie die Sicherung eines angemessenen Mindesteinkommens abzielen, angesichts der derzeitigen Krise noch dringender und notwendiger sind.

3.2.2.   Angesichts des erheblichen Prozentsatzes an Menschen im erwerbsfähigen Alter, die einen Zugang zur Beschäftigung finden müssen, begrüßt der EWSA die Empfehlung der Europäischen Kommission (8) für eine stärkere Einbindung und bessere Abstimmung auf der nationalen Ebene. Er ist jedoch auch der Auffassung, dass Maßnahmen auf die Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnitten werden müssen. Dies ist deshalb wichtig, weil eine bürgernahe Beratung vor Ort, die wenn schon nicht für Einzelne, so doch zumindest für Gruppen maßgeschneiderte Lösungsvorschläge anbieten kann, eine essentielle Rolle für das Gelingen von Reformen spielt. Solidarwirtschaftlichen Projekten und Organisationen kommt bei Ansätzen zur Förderung von Unterstützungsmaßnahmen, durch die besonders arbeitsmarktferne Menschen wieder in Beschäftigung gebracht und neue Arbeitsplätze für diese geschaffen werden, oftmals eine Vorreiterrolle zu.

3.2.3.   Der EWSA empfiehlt in diesem Zusammenhang zudem, den sozialen Dialog durch den zivilen Dialog zu ergänzen. In einigen Mitgliedstaaten gibt es bereits eine solche Form des Dialogs. Auf diese Weise könnten die Organisationen der Zivilgesellschaft ihre Erfahrung und ihr Wissen sowie ihre oftmals engen Beziehungen zu besonders schutzbedürftigen Gruppen wie von Armut betroffenen Menschen, Kindern, jungen Menschen, Familien in prekären Lebenssituationen, Migranten und Angehörigen ethnischer Minderheiten, Menschen mit Behinderungen sowie älteren Menschen als wichtige Komponenten in die Gestaltung der Maßnahmen zur Stärkung der sozialen Eingliederung in Europa einbringen. Untersuchungen haben ergeben, dass die Qualität und die Professionalität sowie das Wissen und die im Umgang mit benachteiligten Bevölkerungsgruppen erforderlichen Fertigkeiten, über die die in diesen Bereichen tätigen Dienstleister und ihre Institutionen verfügen, maßgebliche Elemente beispielhafter Vorgehensweisen sind.

3.2.4.   Der EWSA schließt sich der von der Kommission in ihrer Mitteilung ausgesprochenen Empfehlung (9) an, dass es dringend nötig ist, die Zusammenarbeit von Behörden, öffentlichen und privaten Arbeitsvermittlungen, Sozialdiensten, Einrichtungen für Erwachsenenbildung, Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft zu stärken, um die Chancen benachteiligter Gruppen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Überdies vertritt er die Auffassung, dass die einzelnen angebotenen Dienstleistungen, etwa in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Wohnungswesen, zusammengeführt und miteinander verknüpft werden sollten, da sich dies als ein Schlüsselelement beispielhafter Vorgehensweisen erwiesen hat.

3.3.   Lissabon-Strategie

3.3.1.   Mit der Lissabon-Strategie schenkt die EU der sozialen Eingliederung in Europa vermehrtes Augenmerk. Die Notwendigkeit, eine integrativere Wirtschaft zu verwirklichen, in der sich Effizienz und Schaffung neuer und besserer Arbeitsplätze unter Gewährleistung eines hohen Sozialschutzniveaus sowie eines stärkeren wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts miteinander vereinbaren lassen, wurde darin als allgemeines Ziel festgeschrieben. Dies ist das Fundament des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells. Im Rahmen ihrer Strategie für den Zeitraum nach 2010 wird die EU ein klares Konzept zur Bewältigung der wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen einschließlich neuer Instrumente für die Bereiche Beschäftigung und Soziales erarbeiten müssen. Der EWSA erarbeitet derzeit eine Stellungnahme zu der Strategie für den Zeitraum nach Auslaufen der Lissabon-Strategie.

3.3.2.   In der Lissabon-Strategie wurde hervorgehoben, wie sehr die Schaffung neuer Arbeitsplätze von aktiven beschäftigungspolitischen Maßnahmen, einem förderlichen makroökonomischen Rahmen, Investitionen in Kompetenzen, Forschung und Infrastruktur, einem besseren Regelungsumfeld sowie der Förderung von Unternehmertum und Innovation abhängt. Angesichts der weiteren Verschlechterung der Arbeitsmarktlage in Folge des Wirtschaftsabschwungs und im Hinblick darauf, dass es die Bevölkerung ist, die die Rezession am stärksten zu spüren bekommt, bedarf es jedoch zusätzlicher Maßnahmen. Die Krise wird zu tiefgreifenden Veränderungen der europäischen Arbeitsmärkte führen. Den Arbeitnehmern und Unternehmen müssen daher die notwendigen Mittel an die Hand gegeben werden, damit sie sich erfolgreich den veränderten Gegebenheiten anpassen können, um Arbeitsplätze zu erhalten, die Kompetenzen auf allen Ebenen sowie insbesondere jene von Geringqualifizierten auszubauen, die Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen und die für die Schaffung neuer Arbeitsplätze notwendigen Voraussetzungen zu gewährleisten.

3.4.   Konzept des Umgangs mit der Flexicurity in Krisenzeiten (10)

„Flexicurity“ ist eine umfassende Strategie zur Förderung der Flexibilität wie auch der Arbeitsmarktsicherheit sowie zur Unterstützung jener, die sich vorübergehend außerhalb des Arbeitsmarkts befinden; der EWSA vertritt in diesem Zusammenhang folgende Auffassung:

3.4.1.   Der „Flexicurity“ kommt in der derzeitigen schwierigen wirtschaftlichen Situation, die von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Armut, einer Segmentierung sowie der dringenden Notwendigkeit geprägt ist, Wachstumsimpulse zu setzen, neue und bessere Arbeitsplätze zu schaffen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken, noch größere Bedeutung als bislang zu.

3.4.2.   Für die Umsetzung der „Flexicurity“ bedarf es einerseits unterstützender Sozialschutzmaßnahmen und andererseits klarer Beschäftigungsanreize mit einem offenen und qualifizierenden Arbeitsmarkt zur Stützung der übrigen Maßnahmen sowie Maßnahmen zur Beseitigung der strukturellen Hindernisse und zur Förderung der Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen einschließlich hochwertiger Arbeitsplätze. Auf diese Weise wird zur Verringerung der sozialen Ausgrenzung und des Armutsrisikos beigetragen, indem gewährleistet wird, dass alle Bürgerinnen und Bürger sowie insbesondere die besonders schutzbedürftigen Gesellschaftsgruppen Zugang zum Arbeitsmarkt haben.

3.4.3.   Die im Hinblick auf die Umsetzung der Europäischen Beschäftigungsstrategie festgelegten gemeinsamen Grundsätze der „Flexicurity“ bilden gemeinsam mit umfassenden Strategien zur aktiven Eingliederung der Arbeitsmarktfernsten eine umfassende politische Strategie, mittels derer die Bemühungen zur Bewältigung der beschäftigungsrelevanten Auswirkungen und der sozialen Folgen der Krise sowie die Vorbereitungen auf den Wirtschaftsaufschwung koordiniert werden können.

3.4.4.   Der EWSA begrüßt den Beschluss der europäischen Sozialpartner, die Umsetzung der gemeinsamen Grundsätze der „Flexicurity“ zu überwachen und die sich daraus ergebenden Schlüsse zu berücksichtigen. Mit der Erarbeitung einer Stellungnahme zum Thema „Flexicurity“ (11) wird er einen eigenen Beitrag zu diesem Vorhaben leisten. Zudem fordert er die Mitgliedstaaten dazu auf, sich verstärkt um die Umsetzung der gemeinsamen Grundsätze für eine aktive Eingliederung zu bemühen, wobei die diesbezüglichen Fortschritte in regelmäßigen Abständen von der Kommission bewertet werden sollten.

4.   Maßnahmen zur Gewährleistung des Sozialschutzes und der sozialen Eingliederung

4.1.   Soziale Sicherungssysteme tragen pozentiell zur Stärkung der sozialen Eingliederung bei, da sie einer Nichtteilhabe am Arbeitsmarkt Rechnung tragen, Fördermaßnahmen der öffentlichen Hand vorsehen und durch kollektive Solidarität zur Beseitigung der Faktoren beitragen, die die Fähigkeit von Einzelnen und von „benachteiligten“ Gruppen beeinträchtigen, ein würdiges Leben zu führen. Der Erfolg des europäischen Wohlfahrtsstaates ist insbesondere im Hinblick auf die Bekämpfung von Ungleichheiten gut belegt und spiegelt den zentralen europäischen Wert der in der Grundrechtecharta anerkannten Solidarität wider. Nach Auffassung des Ausschusses besteht die wichtigste Herausforderung im Bereich des Sozialschutzes derzeit darin sicherzustellen, dass die universellen Grundbedürfnisse gedeckt sind, und zwar unabhängig von den Unterschieden, die von Land zu Land in der Praxis bestehen mögen. Zudem müssen sie, wie bereits erläutert, reibungslose Übergänge gewährleisten. Es sollte darauf hingewirkt werden, dass sich Übergänge bezahlt machen und der Zugang zu Beschäftigung für spezifische Problemgruppen am Arbeitsmarkt durch eine Senkung der nicht lohnbezogenen Kosten von Arbeitgebern bei der Personaleinstellung mittels Verringerung des Verwaltungsaufwands bei gleichzeitiger Beibehaltung des Niveaus der nationalen Haushaltseinnahmen erleichtert wird, die Möglichkeiten zur Schaffung neuer Arbeitsplätze insbesondere für Geringqualifizierte ausgelotet werden, Negativanreize für die Aufnahme einer Beschäftigung beseitigt werden, das Steuer- und Sozialleistungssystem einschließlich der Besteuerung von Zweitverdienern verbessert wird, so dass sich Arbeit lohnt, und Arbeitslose dazu ermuntert werden, ein eigenes Unternehmen zu gründen (etwa über Unternehmerschulungen und die Vergabe von Mikrokrediten), wobei der Zugang zu den für die Eingliederung erforderlichen Dienstleistungen sichergestellt werden muss. Für Arbeitsunfähige muss eine entsprechende Einkommensunterstützung gewährleistet sein.

4.2.   Der Ausschuss weist nachdrücklich darauf hin, dass es angesichts des gestiegenen Wettbewerbsdrucks infolge der Globalisierung und der Auswirkungen der Wirtschaftskrise nun wichtiger denn je ist, einen ausreichenden sozialen Schutz gegen soziale Risiken einschließlich Arbeitslosigkeit zu gewährleisten, und deutlicher denn je hervorgehoben werden muss, dass der Sozialschutz als soziale Investition zu betrachten ist, die sowohl der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft als auch der sozialen Eingliederung zugute kommt. Reformen dürfen nicht zur Infragestellung des dem Sozialschutz zu Grunde liegenden Leitmotivs der Solidarität führen, mit dem Europa bislang gut gefahren ist. Auf der anderen Seite ist der Wandel wichtig, und soziale Sicherungssysteme dürfen ihm gegenüber nicht starr sein, sondern müssen einer sorgfältig geplanten, langfristigen und gut abgestimmten Sozialreformpolitik folgen, die den erforderlichen Schutz gewährleistet und auf kurze wie auf lange Sicht Übergänge unterstützt.

Aus diesem Grund sollte überlegt werden, wie die einzelnen Bereiche des Sozialschutzes wirksamer für die soziale und wirtschaftliche Eingliederung genutzt werden können. Zu diesem Thema hat der EWSA die nachstehenden Bemerkungen anzubringen:

4.3.1.   Berücksichtigung des demografischen Ungleichgewichts und des Wandels der Familien

4.3.1.1.   Die in den meisten europäischen Ländern zu erwartende Bevölkerungsalterung wirft eine Reihe von Fragen im Hinblick auf die soziale Eingliederung auf. In vielen Ländern wurden diesbezüglich bereits erste Maßnahmen ergriffen. Das augenscheinlichste Problem, das aber nicht immer effizient gehandhabt wird, ist neben dem Anstieg der Bevölkerung im Rentenalter der wachsende Bedarf an Gesundheits- und Sozialdienstleistungen. Der EWSA begrüßt die Empfehlung der Kommission (9), die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer zu fördern und die Nachfrage und das Arbeitsplatzangebot im Pflegebereich durch die Einführung von Steuerpausen oder anderer Anreize zu stimulieren. Der EWSA ist der Auffassung, dass der Kommissionsvorschlag zum Abbau der Vorruhestandsregelungen einer intensiven Diskussion über Rahmenbedingungen, Reichweite, politische Flankierung etc. bedarf, um nicht erst recht wieder soziale Probleme im Alter zu schaffen. Der EWSA hat hierzu bereits wichtige Beiträge geliefert.

4.3.1.2.   Für die demografische Entwicklung bedeutsam ist zudem, dass zahlreiche Maßnahmen, insbesondere die familienpolitischen, nicht wirksam genug sind, um den Menschen die Erfüllung ihres Kinderwunschs zu erlauben (12). In diesem Zusammenhang verweist der Ausschuss die politisch Verantwortlichen insbesondere auf seine Stellungnahme zum Thema Familie und demografische Entwicklung (13). Jedes Land braucht eine Familienpolitik, die die Wünsche der BürgerInnen (einschließlich der Kinder) berücksichtigt, das Familienleben aufwertet, Lösungsansätze für die gravierenden Auswirkungen bietet, die das Auseinanderbrechen der Familie, Gewalt, Armut und soziale Ausgrenzung (insbesondere auf Kinder) haben und dabei der von den BürgerInnen tagtäglich gelebten Realität und ihren Anliegen Rechnung trägt. In jedem europäischen Land sollte daher einer umfassenden Familienpolitik eine hohe Priorität eingeräumt werden, indem Fragen im Zusammenhang mit dem Einkommen, dem Kinderbetreuungsangebot, dem Zugang von Eltern zu hochwertiger Vollzeitbeschäftigung, der Geschlechtergleichstellung, der Bildung, dem Sozial- und Kulturangebot, der Beschäftigung und der Bereitstellung und Planung von Infrastruktur aufeinander abgestimmt werden.

4.3.2.   Optimierung der Arbeitslosenversicherung und Förderung der Eingliederung

4.3.2.1.   Die Arbeitslosenversicherung ist insbesondere in Zeiten, in denen die Wirtschaftskrise und der Wettbewerbsdruck zu laufenden Umstrukturierungen führen, eine wichtige Sozialleistung, die freigesetzten oder arbeitslos gewordenen Arbeitnehmern Sicherheit bietet. Je nach Höhe können die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung sogar zur Fluidität der Wirtschaft beitragen und die Arbeitsmobilität fördern. In manchen Ländern ist sie jedoch nicht mehr als eine passive Verteilung von Leistungen, die nicht durch ein System zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt (d.h. zur Unterstützung des Übergangs von Arbeitslosigkeit zu Beschäftigung) oder ein auf die Erlangung einer nachhaltigen Beschäftigung ausgerichtetes Weiterbildungsangebot ergänzt werden. Generell gilt, dass Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung eine aktivere Seite erhalten sollten. Zu diesem Zweck könnten sie, wie dies bereits in einer Reihe von Ländern der Fall ist, auf der Grundlage individuell erarbeiteter Pläne für den beruflichen Wiedereinstieg gewährt werden, die Voraussetzung für den Bezug solcher Leistungen wären. Aufgabe der Behörden wäre es dabei, das erforderliche Unterstützungs-, Integrations- und Weiterbildungsangebot bereitzustellen und den Zugang zu weiteren, die Eigenständigkeit fördernden Dienstleistungen zu gewährleisten. Auch der Prävention kommt eine wichtige Rolle zu. In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, so früh wie möglich anzusetzen und den Schwerpunkt auf die Bekämpfung von Kinderarmut sowie auf wirksame Maßnahmen für lebensbegleitendes Lernen zu legen, das verpflichtend wird und bei dem im Verlauf des Berufslebens unter Umständen auch Umschulungen vorzusehen sind.

4.3.2.2.   Übergangs- und Integrationsmaßnahmen sind auch für andere Gruppen wichtig, etwa für Unfallopfer oder krankheitsbedingt Arbeitsunfähige (Übergang von Beschäftigung zu Beschäftigungslosigkeit aufgrund einer Behinderung). In diesem Zusammenhang stellt sich erstens die Frage nach einem Ersatzeinkommen und zweitens nach einem beruflichen Wiedereinstieg bzw. dem Zugang zum Arbeitsmarkt. Über ein Einkommen zu verfügen, ist zwar eine notwendige, aber nicht unbedingt eine hinreichende Grundvoraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Häufig wird der Integration der Betroffenen in das Arbeitsleben trotz diesbezüglicher Rechtsvorschriften nach wie vor zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In der Praxis ist die Beratung und Begleitung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. bei der Wiederaufnahme der Berufstätigkeit oftmals kompliziert und unangemessen. Weder die Bezugsvoraussetzungen noch die Höhe der Entschädigungen dürfen die Betroffenen davon abhalten, funktionale bzw. berufliche Rehabilitationsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen oder wieder ihre Berufstätigkeit aufzunehmen. Vielmehr sollten sie den Menschen einen Anreiz geben, dies zu tun. Nichtsdestoweniger sollten bei Reformen, die den Schwerpunkt von passiven hin zu aktiven Maßnahmen verlagern, die in der Europäischen Ordnung der sozialen Sicherheit und den dazugehörigen Protokollen festgelegten Ziele nicht aus den Augen verloren werden. Durch das Konzept der angemessenen Beschäftigung sollte gewährleistet werden, dass Arbeitslose auf Stellen vermittelt werden, bei denen sie ihre Fertigkeiten und Qualifikationen möglichst produktiv und wirksam zum Wohle der gesamten Gesellschaft einsetzen können. Dabei muss gewährleistet sein, dass Menschen, für die Erwerbsarbeit nicht in Frage kommt, eine Einkommensunterstützung erhalten, die ihnen ein Leben in Würde ermöglicht.

5.   Förderung des lebenslangen Lernens

5.1.   In den einzelnen Mitgliedstaaten gibt es höchst unterschiedliche Systeme und Ebenen für die berufliche und allgemeine Bildung der Erwerbsbevölkerung. Die Tatsache, dass es unter den Unionsbürgern erhebliche Ungleichheiten hinsichtlich der allgemeinen und beruflichen Bildung gibt, wobei Menschen mit einem höheren Bildungsgrad im Verlauf ihres Berufslebens deutlich mehr Weiterbildungsmaßnahmen in Anspruch nehmen als jene mit geringerer Bildung, gehört angesichts der Globalisierung und des gegenwärtigen Wirtschaftsabschwungs zu den zentralen politischen Herausforderungen. Davon ausgehend, dass Arbeitnehmer mit geringerem Bildungsstand stärker von Stellenumschichtungen bzw. von Arbeitslosigkeit bedroht sind, besteht eine der Hauptaufgaben der Politik darin, Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau einen besseren Zugang zu beruflicher und allgemeiner Bildung sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass diese in größerem Ausmaß daran teilnehmen. Der EWSA fordert daher, sämtlichen Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere den am stärksten von Ausgrenzung betroffenen Gesellschaftsgruppen, die ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern wollen, einen Anspruch auf Weiterbildung zu geben.

5.2.   Die Tatsache, dass der Wandel des sozialen, wirtschaftlichen, politischen und technischen Umfelds die fortwährende Neujustierung der Fertigkeiten bedingt, bedeutet auch, dass die im Rahmen der allgemeinen Bildungssysteme vermittelten Inhalte überprüft werden müssen, und zwar vor allem dann, wenn die berufliche und allgemeine Bildung besser auf die Arbeitsmarkterfordernisse abgestimmt werden sollen. Besonders wichtig ist es daher 1.) allen jungen Menschen eine solide Grundbildung zu vermitteln und 2.) den gegenwärtigen und künftigen Bedarf an Fertigkeiten auf lokaler und/oder nationaler Ebene zu ermitteln, damit den diesbezüglich zwischen und in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Unterschieden Rechnung getragen wird. Der EWSA nimmt die Initiative „Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen“ (14) der Kommission zur Kenntnis und wird dazu detailliert Stellung nehmen.

5.3.   Der EWSA schließt sich der Auffassung der Kommission an, wonach es nicht sein darf, dass der Einstieg ins Arbeitsleben mit der Erfahrung von Arbeitslosigkeit beginnt. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, jedem arbeitswilligen und -fähigen Schulabgänger eine Weiterbildung bzw. einen betrieblichen Ausbildungsplatz anzubieten und ihn nachdrücklich dazu anzuhalten, dieses Angebot auch in Anspruch zu nehmen. Weitere Einzelheiten zu den Lösungsvorschlägen des EWSA können in seiner Stellungnahme zum Thema „Beschäftigung für vorrangige Bevölkerungsgruppen“ (15) nachgelesen werden.

6.   Wohnungspolitik als Faktor der sozialen Eingliederung

6.1.   Obdachlosigkeit ist eine der schlimmsten Formen von Ausgrenzung. Zahlreiche EU-Mitgliedstaaten haben internationale Verträge und Übereinkommen ratifiziert, in denen das Recht auf eine angemessene Unterkunft anerkannt und geschützt wird: die Allgemeine Menschenrechtserklärung (Artikel 25), den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Artikel 11), das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Artikel 27), das Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen (Artikel 14 und 15), die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Artikel 8), die Europäische Sozialcharta (Artikel 15, 16, 19, 23, 30 und 31) sowie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Artikel 34 Absatz 3).

6.2.   In Europa sind 70 Millionen Menschen von der Wohnraumkrise betroffen und leben unter unangemessenen Wohnbedingungen; davon sind etwa 18 Mio. von Zwangsräumung bedroht und 3 Mio. obdachlos. In Folge der globalen Finanzkrise, aufgrund derer ca. 2 Mio. Familien in Europa ihr Zuhause verlieren werden, weil sie ihr Wohndarlehen nicht mehr zurückzahlen können, wird diese Zahl weiter ansteigen (16). Die Mitgliedstaaten müssen diese Frage prioritär behandeln, um die Auswirkungen auf die Bürgerinnen und Bürger und vor allem die besonders Schutzbedürftigen so gering wie möglich zu halten.

6.3.   Der Verlust des Zuhauses führt zu einer der sozialen Eingliederung gegenläufigen Entwicklung einschließlich eines absehbaren Anstiegs der Nachfrage nach leistbarem angemessenem Wohnraum, einer Verschlechterung des Kündigungsschutzes bei Mietverträgen, eines größeren Risikos der Zwangsvollstreckung von Hypotheken sowie einer Zunahme drohender Zwangsräumungen. Betroffen sind junge und ältere Menschen, Arme und MigrantInnen ebenso wie Familien mit einem Durchschnittseinkommen. Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, in Wohnungsfragen insbesondere im Hinblick auf die einzelnen sozial schwachen Gruppen für Gleichstellung Sorge zu tragen und ein System zur Vermeidung von Zwangsräumungen zu schaffen.

Der Ausschuss begrüßt zudem, dass die offene Koordinierungsmethode als Rahmen für den Austausch beispielhafter Vorgehensweisen angewandt wird und die Themen Obdachlosigkeit und Ausgrenzung vom Wohnungsmarkt als Schwerpunkte für die offene Methode der Koordinierung in den Bereichen Sozialschutz und soziale Eingliederung (OKM Soziales) für 2009 festgelegt wurde. Er empfiehlt, diese Vorgehensweise durch eine Stärkung der vorhandenen EU-Finanzinstrumente auf folgende Bereiche auszuweiten:

6.4.1.   Programme zur Bereitstellung leistbaren und angemessenen Wohnraums;

6.4.2.   Programme zur Unterstützung von alternativen Wohnmodellen und Pilotprojekten für neue Formen des sozialen Wohnbaus, bei denen die Aspekte der Solidarität zwischen den Generationen, der Multikulturalität und der sozialen Ausgrenzung berücksichtigt und die in Zusammenarbeit mit den lokalen Gebietskörperschaften, der Zivilgesellschaft und den Sozialträgern durchgeführt werden.

6.5.   Der EWSA schließt sich der Auffassung des Rates und der Kommission (17) an, wonach der Zugang zu Finanzdienstleistungen eine Grundvoraussetzung für die Gewährleistung eines nachhaltigen Zugangs zum Wohnungsmarkt ist und Personen, die von Zwangsräumung bzw. Zwangsvollstreckung bedroht sind, entsprechende Unterstützung und Beratung gewährt werden muss.

7.   Territoriale Maßnahmen als Faktoren der sozialen Eingliederung

7.1.   Maßnahmen zur Bereitstellung von Wohnraum müssen auf Maßnahmen für territoriale Einheiten oder geografische Gebiete abgestimmt und durch diese ergänzt werden. Bei sämtlichen auf soziale Eingliederung abzielenden Maßnahmen wird deutlich, dass es benachteiligte Regionen bzw. Gegenden gibt. Vielfach sind diese Benachteiligungen auf die mangelnde Infrastruktur zurückzuführen, was dazu führt, dass nur eine geringe Zahl von Dienstleistungen, eine bescheidene öffentliche Infrastruktur und andere Einrichtungen und wenig Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, was zu einer Verschlechterung des ökologischen und sozialen Umfelds führen kann. In neueren Untersuchungen wird der lokalen Ebene ein hoher Stellenwert eingeräumt und aufgezeigt, wie Probleme und Unzulänglichkeiten einander überlagern, so dass Gegenden entstehen, deren Bevölkerung sich aus sozial Schwachen zusammensetzt und die zugleich selbst aus den vorgenannten und weiteren Gründen als schwach zu bezeichnen sind. Mangelnde Investitionen der lokalen bzw. nationalen Ebene oder aus dem Ausland in diese Gebiete verschlimmern die Lage zusätzlich.

7.2.   Ein politisches Ziel muss demnach darin bestehen, Ungleichheiten zwischen den einzelnen Gebieten bzw. Regionen auszugleichen und sicherzustellen, dass besonders benachteiligte Gebiete ausreichend versorgt werden. In dieser Hinsicht kommt lokalen Initiativen eine entscheidende Rolle zu, etwa jenen, die sich um die soziale Aufwertung heruntergekommener und verarmter Örtlichkeiten und Wohngebiete kümmern. Dabei geht es nicht nur um Infrastrukturinvestitionen, sondern auch um intensive Bemühungen zum Wiederaufbau der sozialen Infrastruktur für die einzelnen Gesellschaftsgruppen und des sozialen Kapitals dieser Gebiete.

7.3.   Beschäftigung spielt eine besonders wichtige Rolle für die Überwindung gebietsbezogener Nachteile. Das Arbeitsplatzangebot vor Ort trägt zu einer Verringerung der Armut und zur Stärkung der sozialen Eingliederung bei und gibt denen, die am Rande der Gesellschaft leben, ihre Selbstachtung, ihr Selbstvertrauen und die Ressourcen für ein selbstbestimmtes Leben zurück. Darüber hinaus trägt es zur Vergrößerung der auf lokaler Ebene verfügbaren finanziellen und anderen Mittel bei. Der Zugang zu Dienstleistungen ist wiederum eine Grundvoraussetzung für die Schaffung von Arbeitsplätzen vor Ort. Die Beteiligung der örtlichen Bevölkerung an diesen und ähnlichen Initiativen — wie z.B. an der Gründung von Mikrounternehmen, die von der örtlichen Bevölkerung betrieben werden — ist sehr wichtig.

7.4.   Der EWSA ist davon überzeugt, dass neben diesen klassischen Bereichen der sozialen Eingliederungspolitik auch in einem weiteren, neuen Politikbereich oder Aufgabenfeld Maßnahmen ergriffen werden müssen. Dieser Bereich muss auf die Schaffung einer aktiven, integrativen Gesellschaft abzielen. Teilweise bestehen erhebliche Überschneidungen mit den Strukturen für bestimmte Politikfelder (z.B. Bereitstellung von Wohnraum, Unterstützung für Geringqualifizierte), doch ist dies auch eine Aufgabe, die speziell darauf zugeschnittener Maßnahmen bedarf, die also eine eigene Politik verlangt.

7.5.   Des Weiteren begrüßt der EWSA den Vorschlag der Kommission (18), die Bereitstellung von Finanzmitteln durch Nutzung des neuen EU-Mikrofinanzierungsinstruments für Beschäftigung zu gewährleisten und zu beschleunigen, um die Entwicklung von Kleinstunternehmen und der Solidarwirtschaft zu unterstützen. Er ist der Auffassung, dass territorialen Maßnahmen unter Einbeziehung der Mitgliedstaaten, der Sozialpartner, der zuständigen lokalen Behörden und lokaler Gruppen einschließlich der Solidarwirtschaft Priorität eingeräumt werden sollte.

8.   Umgang mit der Vielfalt und Integration von Zuwanderern

8.1.   Kulturelle Vielfalt gilt allgemein als kennzeichnendes Merkmal Europas, wobei jedoch die Leitungsebene in den europäischen Gesellschaften nicht immer multikulturell ist. Nach Auffassung des EWSA muss der Umgang der europäischen Gesellschaften mit Minderheiten (z.B. den Roma (19)) und MigrantInnen ebenfalls Aufgabe einer Politik der sozialen Eingliederung sein. Es gibt mehrere Möglichkeiten, dies zu untersuchen und in diesem Bereich Verbesserungen zu erzielen.

8.2.   Der Ausschuss ist der Ansicht, dass es eine Verbindung aus „Pluralismus“ und „Gleichheit“ als Voraussetzungen für die soziale Eingliederung zu prüfen gilt. Für die Aufnahmegesellschaft, die Angehörigen von Minderheiten und MigrantInnen kann es schwer sein, die Kultur und Werte des anderen kennen- und schätzenzulernen. Der EWSA empfiehlt eine Reihe grundlegender Maßnahmen: Seitens des Aufnahmelandes muss herausgearbeitet werden, welchen Beitrag die MigrantInnen leisten und welche Faktoren zu Diskriminierung, Benachteiligung und Marginalisierung führen. Die Angehörigen von Minderheiten und MigrantInnen müssen Bereitschaft zur Anpassung an die Normen und Traditionen des Aufnahmelandes zeigen, ohne dabei ihre Identität und kulturellen Wurzeln zu verleugnen. Weitere Ausführungen dazu macht der EWSA in seiner Stellungnahme zum Thema „Beschäftigung für vorrangige Bevölkerungsgruppen“ (15).

8.3.   Die Rolle des interkulturellen Dialogs muss ebenfalls hervorgehoben werden, und zwar entweder als Teil des zivilen Dialogs oder als eigenständiger Bereich. Politische Zielsetzungen dieser Art von Aktivitäten sind u.a.:

Entwicklung von Vorgehensweisen für die Stärkung des Vertrauens in eine gemeinsame Zukunft und in die zivilen Werte, wie Fairness, Toleranz, Respekt von Freiheit und Demokratie, Geschlechtergleichstellung, Solidarität und soziale Verantwortung, wodurch ein Gefühl der Zugehörigkeit und der wechselseitigen Anerkennung geweckt wird;

Stärkung der sozialen Eingliederung durch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Integration von MigrantInnen;

Überprüfung sämtlicher politischer Maßnahmen auf „ihre Angemessenheit hinsichtlich ihrer kulturellen Dimension“, einschließlich Stigmatisierung und Diskriminierung.

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe Ziffer 2.1 der EWSA-Stellungnahme vom 11.6.2009 zu den „Ergebnissen des Beschäftigungsgipfels“, Berichterstatter: Wolfgang Greif (ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 70).

(2)  „Updated joint assessment by the Social Protection Committee and the European Comission of the social impact of the economic crisis and of policy responses“ http://ec.europa.eu/social/keyDocuments.jsp?type=3&policyArea=750&subCategory=758&country=0&year=0&advSearchKey=&mode=advancedSubmit&langId=en (Anm.d. Übers.: liegt nur auf Englisch vor). Eine komplett überarbeitete Fassung wird im November 2009 veröffentlicht.

(3)  Schmid, G.: Wege in eine neue Vollbeschäftigung. Übergangsarbeitsmärkte und aktivierende Arbeitsmarktpolitik; Campus Verlag, Frankfurt, 2002.

(4)  http://ec.europa.eu/youth/news/news1389_en.htm.

(5)  Siehe „Ein gemeinsames Engagement für Beschäftigung“, KOM(2009) 257 endg., S.8.

(6)  Siehe Ziffer 5 der EWSA-Stellungnahme vom 12.7.2007 zum Thema „Beschäftigung für vorrangige Bevölkerungsgruppen (Lissabon-Strategie)“, Berichterstatter: Wolfgang Greif (ABl. C 256 vom 27.10.2007).

(7)  Siehe: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri= OJ:L:2008:307:0011:0014:DE:PDF.

(8)  Siehe „Ein gemeinsames Engagement für Beschäftigung“, KOM(2009) 257 endg., Seite 13.

(9)  Siehe „Ein gemeinsames Engagement für Beschäftigung“, KOM(2009) 257 endg., Seite 9.

(10)  Siehe Entwurf der Schlussfolgerungen des Rates „Flexicurity in Krisenzeiten“, SOC 374 ECOFIN 407, 10388/09.

(11)  Siehe EWSA-Stellungnahme vom 1.10.2009 zu den „Einsatzmöglichkeiten der Flexicurity für die Umstrukturierung im Zuge der globalen Entwicklung“, Berichterstatter: Valerio Salvatore, Ko-Berichterstatter: Enrique Calvet Chambon (ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 1).

(12)  Siehe EWSA-Stellungnahme vom 30.9.2009 zum Thema „Arbeit und Armut: die Notwendigkeit eines umfassenden Ansatzes“, Berichterstatterin: Nicole Prud'homme (ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 52).

(13)  Siehe die EWSA-Stellungnahme vom 14.3.2007 zum Thema „Die Familie und die demografische Entwicklung“, Berichterstatter: Stéphane Buffetaut (ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 66).

(14)  „Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen - Arbeitsmarkt- und Qualifikationserfordernisse antizipieren und miteinander in Einklang bringen“ (KOM(2008) 868 endg.).

(15)  Siehe Fußnote 6.

(16)  Siehe http://www.habitants.org/noticias/inhabitants_of_europe/european_platform_on_the_right_to_housing_2009.

(17)  Siehe den Gemeinsamen Bericht der Kommission und des Rates über Sozialschutz und soziale Eingliederung 2009, 7309/09, Ziffer 2 Absatz 8.

(18)  Siehe die Mitteilung der Kommission „Ein gemeinsames Engagement für Beschäftigung“, KOM(2009) 257 endg., S. 11.

(19)  Siehe die EWSA-Stellungnahme zum Thema „Integration von Minderheiten - Roma“, Berichterstatterin Anne-Marie Sigmund, Mitberichterstatterin Madi Sharma (ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 88).


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/18


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Zukunftsperspektiven der Strategie für nachhaltige Entwicklung“

(Sondierungsstellungnahme)

(2010/C 128/04)

Berichterstatter: Ernst Erik EHNMARK

Die Europäische Kommission beschloss am 18. März 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

„Zukunftsperspektiven der Strategie für nachhaltige Entwicklung“

(Sondierungsstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 13. Oktober 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) mit 178 gegen 21 Stimmen bei 18 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den zweijährlichen Bericht der Kommission über die EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung (1). Der Bericht der Kommission bietet eine Grundlage für die weitere Debatte über die Umsetzung der Strategie für nachhaltige Entwicklung durch die EU.

1.2.   Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission, bei Maßnahmen im Rahmen der Strategie im nächsten Zeitraum folgenden vier Hauptthemen Vorrang einzuräumen: kohlenstoffarme Wirtschaft, Schutz der biologischen Vielfalt, des Wassers und sonstiger natürlicher Ressourcen, Förderung der sozialen Integration und Stärkung der internationalen Dimension der nachhaltigen Entwicklung. Der Ausschuss bedauert gleichwohl, dass die Kommission die Analyse nicht weiter vertieft und keine konkreten Vorschläge in Bezug auf Ziele, Zeitpläne und Maßnahmen in diesen Bereichen vorgelegt hat.

1.3.   Trotz einiger weniger positiver Trends ist es eindeutig, dass die EU-Nachhaltigkeitsstrategie (EU SDS) in ihrer aktuellen Form ihre Ziele verfehlt.

1.4.   Die EU SDS benötigt, um effektiv zu sein, eine gänzlich neue Governancestruktur, wozu eine angemessene Ausstattung an Personal, Budget gehört, genauso wie Mechanismen, mit denen die Umsetzung der Strategie kontrolliert werden kann.

1.5.   Der EWSA würde auch eine intensivere Koordinierung innerhalb der Kommission begrüßen, wofür ein für Koordinierung zuständiges Kommissionsmitglied einen Beitrag leisten könnte. Der Ausschuss empfiehlt ferner die Einrichtung eines unabhängigen hochrangigen Ausschusses mit der Aufgabe, regelmäßig den bezüglich nachhaltiger Entwicklung erzielten Fortschritt zu überwachen und öffentlich Empfehlungen an die Institutionen abzugeben.

1.6.   Der Ausschuss fordert Rat und Kommission auf, die EU SDS zur Meta-Strategie für alle EU-Politiken zu machen. Sämtliche anderen EU-Strategien mit kürzerem Zeithorizont müssen zum Erreichen der Ziele einer zukünftigen EU SDS beitragen. Viele heute beschlossene Politiken haben Auswirkungen für die nächsten Jahrzehnte. Kurzfristig wirkende Maßnahmen dürfen nicht die Entwicklungschancen zukünftiger Generationen verschlechtern.

1.7.   Der EWSA geht in seiner Stellungnahme auf die Notwendigkeit einer besseren Abstimmung zwischen der Lissabon-Strategie und der Strategie für nachhaltige Entwicklung ein. Bei der Erarbeitung der neuen Lissabon- oder 2020-Strategie sollte die Kommission dazu angehalten werden, explizit darzulegen, wie die neuen, in dieser Strategie vorgeschlagenen Maßnahmen den langfristigen Übergang zu einem nachhaltigeren Entwicklungskonzept unterstützen. Für die künftige finanzielle Vorausschau, die Strukturfonds, die GAP, die FuE-Rahmenprogramme sowie für alle wichtigeren Strategien und Programme auf europäischer Ebene sollte ebenso verlangt werden, dass sie belegen, wie sie den Zielen und Vorgaben der Strategie für nachhaltige Entwicklung förderlich sind.

1.8.   Das BIP in seiner jetzigen Form darf nicht weiter ein entscheidender Maßstab für die Politikgestaltung sein. Fortschritt und menschliches Wohlbefinden sollten anders als bislang gemessen werden. Der EWSA unterstützt mit Nachdruck die Weiterentwicklung und Anwendung von Fortschrittsindikatoren jenseits des BIP. In diesem Zusammenhang muss auch eine Diskussion über die Werte, die die EU fördern möchte, geführt werden.

1.9.   Nachhaltige Entwicklung setzt Engagement und Einsatz an der Basis voraus. Die Entwicklung eines derartigen Engagements macht die aktive Mitwirkung sowohl der Sozialpartner als auch der gesamten organisierten Zivilgesellschaft erforderlich.

1.10.   Für eine erfolgreiche Umsetzung der Strategie für nachhaltige Entwicklung muss auch die Politik eindeutig Verantwortung übernehmen - sowohl auf europäischer und nationaler als auch auf lokaler Ebene, womit auch dem Europäischen Parlament eine eindeutige Rolle zukommt. Der Ausschuss empfiehlt die Einführung eines Mechanismus zur Bestandsaufnahme der von den Mitgliedstaaten erzielten Fortschritte durch die Kommission mittels vereinbarter Indikatoren, aus der landesspezifische Orientierungshilfen zu zentralen, Aufmerksamkeit erfordernden Fragen hervorgehen. Dabei könnte man sich an dem erfolgreichen Mechanismus zur Überwachung der Fortschritte bezüglich der Lissabon-Agenda orientieren.

1.11.   Der EWSA bedauert, dass die Kommission für ihren Bericht vor der Erarbeitung ihrer Vorschläge weder den EWSA noch andere Organisationen konsultiert hat, wozu der Rat in seinen Schlussfolgerungen aus dem Jahr 2006 aufgefordert hatte. Ebenso wichtig wäre es gewesen, Standpunkte von Organisationen der Zivilgesellschaft einzuholen. Der Ausschuss hat seine Fähigkeit zur Beteiligung im Bereich der nachhaltigen Entwicklung durch die Einrichtung seiner Beobachtungsstelle für nachhaltige Entwicklung vor drei Jahren gestärkt. Dieses Gremium hat seinerseits regelmäßige Beratungen mit den nationalen Räten für nachhaltige Entwicklung aufgenommen. Der Ausschuss empfiehlt, diesen Mechanismus systematischer zu nutzen, um einen kreativen Beitrag der Zivilgesellschaft zur Aktualisierung und Überwachung der Fortschritte bei der nachhaltigen Entwicklung in Europa zu gewährleisten.

1.12.   Es ist besonders wichtig dafür zu sorgen, dass dieser Mechanismus rechtzeitig vor dem nächsten Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung 2012 in Rio reibungslos funktioniert.

2.   Die Mitteilung der Kommission

Die Mitteilung der Europäischen Kommission (KOM(2009) 400 endg. vom 24.7.2009) über die weitere Entwicklung der Strategie für nachhaltige Entwicklung ist leider nur ein bescheidener Fortschritt. Zwar unterstreicht sie auf der einen Seite die Mängel bei der Implementierung der Ziele der EU SDS, sie schlägt aber keine schlagkräftigen Maßnahmen für die Beseitigung dieser Mängel in der Zukunft vor.

2.1.1.   Der EWSA erinnert in diesen Zusammenhang daran, dass sich die Frage deutlicher politischer Signale als eine Art Leitmotiv durch den Dialog mit Kommission, Rat und Parlament gezogen hat.

2.1.2.   Beschlüsse über politische Signale erfordern eine gute Vorarbeit. Der EWSA bedauert, dass die Kommission nicht mehr als nur marginale Ressourcen für die Entwicklung der Grundlage für die diesjährige politische Bewertung der nachhaltigen Entwicklung abstellen konnte.

2.2.   Das Kommissionsdokument enthält eine Reihe von „Momentaufnahmen“ der Entwicklung innerhalb der sieben vorrangigen Bereiche und der Querschnittsthemen. Dieses Vorgehen ist sehr zu begrüßen, da auf diese Weise herausgestellt wird, wo die Priorität vertieft werden muss und wo eine eingehendere Analyse erforderlich ist.

2.3.   Aus dem Dokument geht hervor, dass die verzeichneten Entwicklungen fast ausschließlich negativ sind. In den vergangenen Jahren ist zwar viel an Klima- und Energiefragen gearbeitet worden, doch sind die Folgen zum größten Teil immer noch negativ. Der Verkehr ist ein weiterer Bereich, in dem es der Politik nicht gelungen ist, eine Trendwende in Richtung einer Emissionsverringerung herbeizuführen. Überhaupt lassen sich positive Beispiele nur in Form einzelner Maßnahmen aufzählen - ein vielversprechender Gesetzentwurf hier oder eine innovative Initiative da; ein durchgängiger Trend und eine Wende hin zu einer positiven Entwicklung sind jedoch nicht zu erkennen.

2.4.   Der EWSA möchte die von der Kommission vorgenommene schematische Bewertung der einzelnen Politikbereiche nicht kommentieren, sondern nur anmerken, dass die Überprüfung keine erbauliche Lektüre ist. Das Ergebnis unterstreicht, dass ein ernsthafteres politisches Engagement für die nachhaltige Entwicklung notwendig ist.

2.5.   Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch genießt seit einigen Jahren hohe Priorität. Ein Beispiel ist der Einsatz von Rohstoffen in der Fertigung: Aus Statistiken geht hervor, dass die EU und die USA doppelt so viele Rohstoffe pro Fertigungseinheit verbrauchen wie etwa Japan. Hier könnten erhebliche Rationalisierungsgewinne erzielt werden.

2.6.   Die Kommission hat den Bemühungen um die Integration der sozialen Dimension und der sozialen Probleme sowohl in die Strategie für nachhaltige Entwicklung als auch in andere aktuelle EU-Entwicklungsstrategien (Lissabon-Strategie usw.) besondere Priorität eingeräumt. Die Bedeutung dieser Bemühungen wird anhand der Tatsache illustriert, dass mehr als 70 Mio. Europäerinnen und Europäer in Armut leben (laut der u.a. auch vom Statistischen Amt der EU angewandten Definition). Der Zusammenhang zwischen Migration und der Entwicklung der Zahl der in Armut lebenden Menschen ist eine wichtige Frage.

3.   Eine Strategie in der Krise?

3.1.   Die nachhaltige Entwicklung wurde vor bald 20 Jahren auf der Rio-Konferenz ins Spiel gebracht. Die Botschaft dieser Konferenz war eindeutig und überzeugend: Die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigen, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können. Die Schlussfolgerungen des Gipfels von Johannesburg (UN-Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung, der 2002 in Johannesburg stattfand) zehn Jahre später stießen auf starke Resonanz: hier wurde endlich ein umfassendes Paket mit Vorschlägen für eine weltweit gerechte gesellschaftliche Entwicklung geschnürt.

3.2.   Als Teil der Vorbereitungen für den Gipfel von Johannesburg nahm die EU ihre erste europäische Strategie für nachhaltige Entwicklung an (KOM(2001) 264 endg., „Nachhaltige Entwicklung in Europa für eine bessere Welt: Strategie der Europäischen Union für die nachhaltige Entwicklung“).

3.3.   Die EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung wurde im Frühjahr 2001 in einer euphorischen Aufbruchstimmung angenommen. Erst einige Jahre später wurde die Lage allmählich kompliziert.

3.4.   An der Strategie an sich war kaum etwas auszusetzen. Ihr fehlte es auch nicht an enthusiastischen Fürsprechern in der Zivilgesellschaft sowie unter Politikern und Meinungsbildnern.

3.5.   Das Problem lag eher im Mangel an echter Bereitschaft (oder Fähigkeit), die Umsetzung der Visionen in konkrete Aktionsprogramme anzugehen.

3.6.   2006 wurde die Nachhaltigkeitsstrategie durch den Beschluss „Überprüfung der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung - Die erneuerte Strategie“ überarbeitet. Die Überprüfung brachte keine neuen Erkenntnisse bezüglich der Frage der Prioritätensetzung und der Verfahren für die Umsetzung. Parallel entwickelte die EU neue Programme, die u.a. auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigung ausgerichtet waren.

3.7.   In den letzten Jahren ist das Spannungsverhältnis zwischen den Vorstellungen für eine nachhaltige Entwicklung und den Programmen für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit immer offenkundiger geworden. Was sie unterscheidet, ist zum Beispiel ihr Zeithorizont: Während die Lissabon-Strategie mittelfristig ausgerichtet ist, ist die Strategie für nachhaltige Entwicklung langfristig angelegt. Dies kann dazu führen, dass im Rahmen der Lissabon-Strategie kurzfristig wirkenden Maßnahmen der Vorzug gegeben wird, die den Langzeitzielen der Nachhaltigkeit widersprechen.

3.8.   Zunehmend werden Stimmen laut, die eine Überprüfung der Aufgabenverteilung zwischen den beiden Strategien fordern. Eine Zusammenlegung der Strategien wäre eine mögliche Maßnahme, um die zur Verfügung stehenden Ressourcen effizienter zu nutzen.

3.9.   Mit dieser Stellungnahme soll jedoch die Notwendigkeit aufgezeigt werden, dass der Strategie für nachhaltige Entwicklung neuer Schwung verliehen werden muss, was den Weg sowohl für die weiteren europäischen als auch die globalen Bemühungen weisen könnte.

4.   Was haben wir gelernt?

4.1.   Der EWSA hat in den letzten Jahren mehr als zehn Stellungnahmen zu den verschiedenen Aspekten der Strategie verabschiedet und daneben auch noch Übersichten darüber vorgelegt, wie die Strategie weiterentwickelt werden könnte. Der gemeinsame Tenor war, dass die nachhaltige Entwicklung und die Lissabon-Strategie Hand in Hand vorangetrieben werden müssen, auch wenn sie verschiedenen Rubriken zugeordnet sind (2).

4.2.   Der Ausschuss konnte drei Faktoren herausarbeiten, die zusammengenommen erklären, warum beide Strategien unterschiedliche Wirkungen entfaltet haben:

Eine Erklärung ist das der beiden Strategien. Mit der Lissabon-Strategie wird der Versuch unternommen, Antworten auf drängende politische Fragen zu geben, während es bei der nachhaltigen Entwicklung um Antworten auf die Frage nach den langfristigen Prioritäten geht. Der Unterschied lässt sich bereits an Personalien festmachen: Hinter Lissabon stehen die Regierungschefs, während die nachhaltige Entwicklung häufig in das Ressort der Umweltminister fällt. Diese unterschiedliche Gewichtung spiegelt sich auch in der Zuteilung von Ressourcen wider: sowohl in der Kommission als auch in den Mitgliedstaaten arbeitet wesentlich weniger Personal an der Nachhaltigkeits- als an der Lissabon-Strategie.

Die beiden Strategien sind auf ein sehr gestoßen: Die Lissabon-Strategie ist, wenn schon nicht bekannt, so jedoch zumindest in breiten Kreisen an der Schwelle zur Bekanntheit. Die nachhaltige Entwicklung wird als etwas Theoretisches aufgefasst, das schwer an die praktische Politik zu knüpfen ist.

: Für die Lissabon-Strategie gibt es ein engmaschiges System für die Planung und Weiterverfolgung nach gemeinsamen Normen und Zeitfristen. Für die nachhaltige Entwicklung gibt es ein weniger bindendes System zur Annahme gemeinsamer Prioritäten und für die gemeinsame Bewertung. Demzufolge kann durch die Lissabon-Strategie ein stärkerer Druck auf die Mitgliedstaaten ausgeübt werden, während es bei der nachhaltigen Entwicklung eher bei allgemeinen Absichten bleibt.

4.3.   Die letzte umfassende Bewertung wurde vor der Überarbeitung der Strategie 2006 durchgeführt. Der Rat hob in den überarbeiteten Leitlinien für die Strategie hervor, dass es von grundlegender Bedeutung sei, die Zusammenarbeit und die Koordinierung zwischen den nationalen und den europäischen Bemühungen um eine nachhaltige Entwicklung zu stärken. Für besonders wichtig wurde die Ausarbeitung deutlicher Prioritäten bei den Bemühungen um eine nachhaltige Entwicklung gehalten. In einer Bewertung im Vorfeld des zweijährlichen Berichts der Kommission 2008 wurde ferner die Schlussfolgerung gezogen, dass beim Lebenszyklusansatz für Produkte und bei der Abfallvermeidung sowie bei einer Vielzahl von Initiativen auf dem Gebiet des Umweltschutzes Fortschritte zu verzeichnen seien (Progress on EU Sustainable Development Strategy, Schlussbericht, ECORYS).

4.4.   Wesentlich ist die Anmerkung, dass die Strukturfonds und die Strategie für nachhaltige Entwicklung nur ungenügend aufeinander abgestimmt sind. Gerade in den Bereichen, in denen die EU umfangreiche finanzielle Leistungen erbringt, muss die Nachhaltigkeit der Investitionen oberste Priorität haben.

5.   Neuer Schwung für die Strategie für nachhaltige Entwicklung: einige Ausgangspunkte

5.1.   Die EU hat eine tragende Rolle bei der Entwicklung globaler Ansätze für die nachhaltige Entwicklung gespielt. Viele Länder und Ländergruppen betrachten die EU als Vorreiter in der Nachhaltigkeitsfrage. Wenn die EU auch bei der Neubelebung der Strategie für nachhaltige Entwicklung eine wegweisende Rolle übernehmen kann, ist viel gewonnen.

5.2.   Eine der vielen Schwierigkeiten in Bezug auf die derzeitige Ausgestaltung der Strategie liegt darin, dass sie so viele Prioritäten hat: sieben Hauptgebiete und vier Querschnittsthemen. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine Strategie mit markanteren Prioritäten größere Durchschlagskraft hat. Für eine größere Durchschlagskraft ist es auch entscheidend, dass eine EU SDS klare und quantifizierbare Ziele enthält.

5.3.   Darüber hinaus darf nicht weiterhin verschwiegen werden, dass, obwohl nachhaltige Entwicklung auf drei Säulen beruht, nicht alle Maßnahmen immer gleichzeitig sowohl der Umwelt als auch dem Sozialen und der Wirtschaft förderlich sein können. Es kann nicht nur „win-win-win“-Situationen gegeben. Vielmehr müssen - häufig schmerzhafte - Prioritäten gesetzt werden. In der Vergangenheit sind zu oft die Prioritäten zugunsten kurzfristiger wirtschaftlicher Interessen gesetzt worden. Leider scheint sich dies nun auch in der aktuellen Wirtschaftskrise bei den Restrukturierungsprogrammen zu wiederholen.

5.4.   Der öffentliche Sektor muss bei der Förderung der Nachhaltigkeit eine wichtige Führungsrolle übernehmen. Entscheidungsträger können durch Gesetzgebung, steuerliche Anreize und Subventionen (und durch die Abschaffung schädlicher Subventionen) sowie durch öffentliches Beschaffungswesen wesentliche Impulse in Richtung von mehr Nachhaltigkeit geben.

5.5.   Die neue finanzielle Vorausschau ab 2014 muss sich an den Zielen der künftigen Nachhaltigkeitsstrategie ausrichten.

5.6.   Die EU SDS muss das Problem schädlicher Subventionen angehen. Der EWSA fordert die Kommission auf, endlich die Roadmap für die Reform schädlicher Subventionen vorzulegen, die bereits seit 2008 überfällig ist.

5.7.   Eine Neubelebung der Nachhaltigkeitsstrategie darf nicht zu einer Zunahme der zentralen Kontrolle führen. Nachhaltige Entwicklung muss mit neuen Ansätzen in der Delegierung und bürgernahen Beschlussfassung einhergehen.

5.8.   Nachhaltige Entwicklung basiert auf dem Engagement und dem Einsatz basisnaher Handlungsebenen. Während der gesamten 1990er Jahre waren Freiwilligenorganisationen und die Sozialpartner maßgeblich daran beteiligt, dem Handeln der EU in Sachen nachhaltige Entwicklung ein dynamisches Profil zu verleihen. In einer neu ausgerichteten nachhaltigen Entwicklung muss den Freiwilligenorganisationen eine sehr wichtige Rolle zukommen.

5.9.   Ein weiterer wichtiger Akteur in der künftigen Arbeit sind die regionalen und vor allem auch die kommunalen Institutionen.

5.10.   Oft ist zu hören, dass sich die Wirtschaft stärker engagieren sollte. In einer überarbeiteten Strategie für nachhaltige Entwicklung fällt den Unternehmen eine selbstverständliche und klare Rolle zu. In der Wirtschaft ist eindeutig stärkeres Interesse an Fragen im Zusammenhang mit dem Klima und der nachhaltigen Entwicklung festzustellen.

6.   Argumente für eine Neubelebung der Strategie der nachhaltigen Entwicklung

6.1.   Ist es wichtig, dass der Strategie für nachhaltige Entwicklung neuer Schwung verliehen wird? Die Frage mag bizarr anmuten. Angesichts der alltäglichen Informationsflut zu Themen wie Klima, Energie, Landwirtschaft und Artenvielfalt usw. ist die Grundlage für die konkrete Arbeit mit Nachhaltigkeitsfragen beinahe beliebig breit.

6.2.   Die konkrete Problematik der Klimaerwärmung hat große öffentliche Aufmerksamkeit erhalten und zahllose alarmierende Berichte ausgelöst. Darüber hinaus hat für den Bereich der Ökosysteme das TEEB-Projekt (The Economics of Ecosystems and Biodiversity) die Gefahren hervorgehoben, die bestehen, wenn wir damit fortfahren, die biologische Vielfalt zu reduzieren und die Ökosysteme überzustrapazieren.

6.3.   Die Landwirtschaft im weiteren Sinne wird infolge der steigenden Temperaturen vor neuen Problemen stehen. Die Frage, wie die Landwirtschaft ihre Produktion unter neuen Voraussetzungen umstellen muss, bleibt eine Kernfrage in der weiteren agrarpolitischen Arbeit.

6.4.   Die Liste könnte beliebig verlängert werden. Die allermeisten Fragen sind aus der allgemeinen Debatte bereits bekannt. Weniger berücksichtigt wird, dass die Auswirkungen auf unseren Alltag früher erkennbar sein werden, als bislang angenommen wurde.

6.5.   Der Ausschuss fordert die Kommission auf, die EU SDS zur Meta-Strategie für alle anderen EU-Politiken zu machen. Alle anderen EU-Strategien müssen zum Erreichen der Ziele einer zukünftigen EU SDS beitragen und die Nachhaltigkeit stärken.

6.6.   Der EWSA unterstützt mit Nachdruck die Weiterentwicklung und Anwendung von Fortschrittsindikatoren jenseits des BIP. Der jüngst veröffentlichte Report der Stiglitz-Kommission hat noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass das BIP nicht dazu in der Lage ist, Leitlinien zu geben für die weitreichenden Entscheidungen, die wir jetzt zu treffen haben. Im Gegenteil: es führt uns in die Irre, indem es die wahren Probleme nicht aufzeigt und somit in die Zukunft verschiebt. Der EWSA verabschiedete vor kurzem eine Stellungnahme, in der auf die Folgen eines neuen Ansatzes in Bezug auf das BIP eingegangen wird (3). Die Debatte muss allerdings über die Diskussion von Messindikatoren hinausgehen. Das Hauptanliegen muss sein, wie wir nachhaltig Wohlstand und Wohlbefinden in unserer Gesellschaft erreichen und zu einer low-input/high-output-Wirtschaft werden wollen.

6.7.   Die EU muss auch in Fragen im Zusammenhang mit der nachhaltigen Entwicklung ihre Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern verbessern.

7.   Die politische Verantwortung und der Bedarf an Führung

7.1.   Der EWSA hat in einer Reihe von Stellungnahmen zur nachhaltigen Entwicklung unterstrichen, dass die nachhaltige Entwicklung politische Führung und den Willen erfordert, in der Entwicklungsarbeit eine treibende Kraft zu sein. Dies ist nicht mit einem Ruf nach Zentralismus gleichzusetzen. Es geht eher darum, die Initiative zu übernehmen, Netzwerke zu schaffen und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.

7.2.   Der EWSA wiederholt seine bereits in früheren Stellungnahmen geäußerte Auffassung, wonach ein erfolgreiches Engagement für die nachhaltige Entwicklung neben der aktiven Übernahme politischer Verantwortung auch den aktiven Einsatz auf lokaler und regionaler Ebene erfordert. Der EWSA unterstreicht ferner, dass die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft im weiteren Sinne die Möglichkeit erhalten müssen, sich aktiv an der Planung und Umsetzung zu beteiligen.

7.3.   In dieser Perspektive sollte der Bedarf an Zusammenarbeit zwischen den zwei zentralen Strategien für Entwicklung - also zwischen der Lissabon-Strategie und der Strategie für nachhaltige Entwicklung - hervorgehoben werden. Wann diese beiden Strategien eventuell zusammengeführt werden, ist weniger interessant als der Umstand, dass sie eng aufeinander abgestimmt werden. Allerdings muss klar sein, dass Maßnahmen unter der Lissabon-Agenda zu den Zielen der umfassenderen EU SDS beitragen.

7.4.   Eine stärkere Governancestruktur ist zur erfolgreichen Umsetzung der EU SDS unerlässlich. Der EWSA fordert den Rat dazu auf, einen ähnlichen Governancezyklus für die EU SDS wie für Lissabon einzurichten, mit jährlichem Reporting, Benchmarking und der offenen Methode der Koordinierung, sodass die Mitgliedstaaten besser verglichen werden können und ein Wettbewerb in Richtung von mehr Nachhaltigkeit entsteht. Darüber hinaus müssen sowohl in den Mitgliedstaaten als auch in der Kommission mehr Ressourcen zur Umsetzung der EU SDS zur Verfügung gestellt werden.

8.   Wissen und Verhalten

8.1.   Die Kommission widmet dem Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung viel Aufmerksamkeit und fasst die einzelnen EU-Programme zusammen. Die Kommission verabsäumt es jedoch, die Frage der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Wissens in eine weiter gefasste demokratische Perspektive einzuordnen. Eine nachhaltige Entwicklung wird ebenso wie die Klimaschutzpolitik Entscheidungen erfordern, die nicht immer von allen Seiten begrüßt werden. Die nachhaltige Entwicklung muss ebenso wie die Klimaschutz- und Energiepolitik lokal verankert werden.

8.2.   Wie können Verankerung vor Ort und Unterstützung gesichert werden? Ein Schlüssel hierzu liegt in der allgemeinen und beruflichen Bildung - und zwar im Sinne beispielsweise der Volkshochschulen nordischer Länder, bei denen die demokratische Dimension einen hohen Stellenwert in der Bildung hat. Bildung aus der sozialen Perspektive leistet auch einen tatkräftigen Beitrag zum Aufbau demokratischer Strukturen. Nicht umsonst haben die Volkshochschulen in den nordischen Ländern eine wesentliche Rolle bei der Rekrutierung für alle Arten von Organisationen der Zivilgesellschaft gespielt.

8.3.   Dies soll jedoch nicht heißen, dass der Schule und der allgemeinen und beruflichen Bildung junger Menschen eine weniger wichtige Rolle zukommt. Hier geht es darum, sowohl die Erwachsenenbildung als auch die schulische Bildung zu stärken und neue Lehrmethoden zu finden.

8.4.   Der EWSA empfiehlt, die Strategie für nachhaltige Entwicklung im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung umfassender zu gestalten.

9.   Forschung und langfristige Entwicklung

9.1.   Die Bedeutung der Forschung wurde schon zu Beginn der ersten Nachhaltigkeitsbeschlüsse hervorgehoben. Es wurden mehrere spezifische Beschlüsse für den langfristigen Ausbau der Forschung und der Ausbildung von Forschern gefasst. Zu den wichtigsten gehört der in Barcelona gefasste Beschluss, mit dem das Ziel aufgestellt wurde, den Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung der EU-Mitgliedstaaten innerhalb eines überschaubaren Zeitraums bzw. bis 2010 auf 3 % des BIP anzuheben.

9.2.   Der EWSA weist darauf hin, dass sich alle Mitgliedstaaten bemühen müssen, das in Barcelona aufgestellte Ziel zu erreichen - und somit auch die Forschungsförderung deutlich aufstocken müssen.

9.3.   Die Forschungspolitik und die Lissabon-Strategie müssten auch deutlicher miteinander verknüpft werden, um so Synergieeffekte zwischen der nachhaltigen Entwicklung und der Lissabon-Strategie zu erzielen.

9.4.   Die Zusammenarbeit zwischen Forschungseinrichtungen bei Klimafragen ist weit fortgeschritten. Die auf wirklich lange Sicht ausgelegte Forschung kann es jedoch schwer haben, sich im Wettbewerb um die Forschungsmittel zu behaupten. Der EWSA regt deshalb an, dass die Kommission im Rahmen des Forschungsrahmenprogramms der EU eine Studie über den aktuellen Forschungsbedarf in Bezug auf das Klima, Energiefragen und die nachhaltige Entwicklung durchführen sollte.

10.   Bessere Organisation der Vorbereitung

10.1.   Der EWSA hat in unterschiedlichen Zusammenhängen das Erfordernis politischer Führung in Bezug auf die Vorbereitung von Maßnahmen im Bereich der nachhaltigen Entwicklung bzw. der Klima- und Energiepolitik hervorgehoben. Der Ausschuss hat mehrfach den früheren französischen Premierminister Michel Rocard zitiert, der auf einer großen Konferenz des EWSA sagte, dass die nachhaltige Entwicklung zweifellos Entscheidungen erforderlich machen werde, die nicht immer leicht fielen oder populär seien. Der luxemburgische Premierminister äußerte sich vor einigen Jahren in ähnlicher Richtung, als er sagte, dass im Rat genau bekannt sei, welche Maßnahmen erforderlich seien. Das Problem liege nur darin, dass man nicht wisse, wie man nach der Durchführung dieser Maßnahmen wieder ins Parlament gewählt werden könne.

10.2.   Die Lösung besteht darin, frühzeitig und systematisch das Gespräch und den Dialog zu suchen. Vor allem muss hier auf der lokalen Ebene angefangen und von unten nach oben vorgegangen werden. Ein Schlüsselbegriff ist hier die Teilhabe, die jedoch durch Solidarität ergänzt werden muss.

10.3.   Der EWSA hat mehrfach auf das Erfordernis einer effektiveren Kooperationsstruktur innerhalb der Kommission hingewiesen. Auf die heutige Lage übertragen könnte dies die Form eines speziellen Kommissionsmitglieds - im Range eines Vizepräsidenten - annehmen, das für die Förderung der Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den großen aktuellen Strategien zuständig wäre, also für Nachhaltigkeit, Klima und Energie und die Lissabon-Strategie.

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  KOM(2009) 400 endg.

(2)  Siehe z.B. ABl. C 195 vom 18.8.2006, S. 29 und ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 76.

(3)  ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 53.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/23


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Hin zu einer ökologisch effizienten Wirtschaft - die Wirtschaftskrise als Chance für den Beginn einer neuen Ära im Energiebereich begreifen“

(Sondierungsstellungnahme)

(2010/C 128/05)

Berichterstatter: Frederic OSBORN

Am 3. Juni 2009 ersuchte der künftige schwedische Vorsitz des Rates der Europäischen Union den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum Thema

„Hin zu einer ökologisch effizienten Wirtschaft - die Wirtschaftskrise als Chance für den Beginn einer neuen Ära im Energiebereich begreifen“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 12. Oktober 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) mit 164 gegen 2 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Die größten Industrieländer der Welt haben die Notwendigkeit erkannt, dass sie ihren Treibhausgasausstoß bis 2050 als Teil des weltweit erforderlichen Handelns, um die durch den Klimawandel bedingten Gefahren in einem zu bewältigenden Ausmaß zu halten, um mindestens 80 % senken müssen. Daher müssen unverzüglich erhebliche Umstellungen in Bezug auf die Energiegrundlage der Industrieländer vorgenommen werden.

1.2.   Die EU hat sich mit dem umfangreichen Klima- und Energieprogramm, dem Rat und Parlament dieses Jahr zugestimmt haben, an die Arbeit gemacht, seine Emissionen bis 2020 um 20-30 % zu verringern. Allerdings muss dieses Programm erst noch umgesetzt werden, und bald schon werden weitere Maßnahmen zum Erreichen des für 2050 gesteckten Ziels erforderlich sein.

1.3.   Die aktuelle Wirtschaftskrise stellt eine Bedrohung dar, bietet aber gleichzeitig auch eine Chance. Die Bedrohung besteht darin, dass die Bewältigung der anhaltenden Wirtschaftsprobleme alle verfügbare politische Aufmerksamkeit und alle verfügbaren Ressourcen beanspruchen wird und dass sich die Maßnahmen auf die Wiederherstellung des „Business as usual“ mit wie bisher zunehmenden Emissionen konzentrieren werden. Als Chance tut sich ein großer Spielraum für die Aufstellung einer innovativen Ökoeffizienz-Strategie auf, von der alle profitieren und die dazu beiträgt, die Konjunktur wieder anzukurbeln, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu stärken, neue Arbeitsplätze zu schaffen und gleichzeitig die Energiegrundlage umzustellen und die Emissionen deutlich zu senken.

1.4.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt und ermutigt alle bereits ergriffenen und für die Zukunft geplanten Maßnahmen zur Förderung der Ökoeffizienz, einschließlich weiterer Schritte in folgende Richtungen:

Verstärkung der Energieeffizienzmaßnahmen im Wege eines neuen Aktionsplans für Energieeffizienz

Verstärkung der Maßnahmen im Bereich erneuerbare Energieträger im Wege eines neuen Aktionsplans für erneuerbare Energieträger

Festschreibung von Ökoeffizienz-Vorgaben in allen öffentlichen Ausgabenprogrammen

Förderung und Anregung einer ökologisch orientierten Steuerreform

Förderung einer umweltfreundlichen Beschaffungspolitik in allen Behörden

1.5.   Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission und die Institutionen auch neue Bemühungen in Bezug auf eine begrenzte Zahl spezifischer, mit der Umstellung verbundener Herausforderungen entfalten sollten, um Handeln und Unterstützung im großen Maßstab zu mobilisieren und Europas internationale wirtschaftliche Führungsposition zu wahren. Seines Erachtens könnten vor allem drei Umstellungen in Form großer europäischer Initiativen und Programme das Interesse und die Unterstützung der Öffentlichkeit erlangen:

der Ausbau der Solarenergie und weiterer erneuerbarer Energieträger,

die Entwicklung des Vollelektroautos,

die Entwicklung des Nullemissionshauses.

Selbstredend muss eine allgemeine Einführung von Elektroautos mit weiteren Schritten hin zur Erhöhung des Anteils der Stromerzeugung aus solchen Quellen einhergehen, die keine nennenswert hohen Netto-CO2-Emissionen verursachen, um so zu vermeiden, dass CO2-Emissionen einfach vom Auto auf das Kraftwerk verlagert werden.

1.6.   Der EWSA schlägt vor, leistungsfähige öffentlich-private Partnerschaften aufzubauen, um diese Umstellungen zu gestalten und zu steuern und eine möglichst breite Unterstützung durch die Wirtschaft, weitere einschlägige Institutionen und die Öffentlichkeit zu gewinnen. Ferner schlägt er vor, als zusätzliche Finanzierung einiger dieser Umstellungen eine neue Art „grüner“ Eurobonds einzuführen.

1.7.   Der EWSA hält es für dringend erforderlich, eine neue Initiative für Ökoeffizienz im Sinne dieser Stellungnahme als Kernkonzept der neuen Lissabon-Strategie zu verankern, um die Richtung hin zu einer nachhaltigeren Zukunft vorzugeben.

2.   Kontext

2.1.   Die allgemeinen Motivationsgründe für Bemühungen um einen raschen Übergang zu einer ökologisch effizienteren Wirtschaft sind wohlbekannt. Der durch Treibhausgasemissionen verursachte Klimawandel führt bereits in vielen Teilen der Welt zu ernsthaften Problemen - und diese Probleme werden in Zukunft ziemlich sicher wachsen.

2.2.   Neben dem Klimawandel wird auch die Aussicht auf eine Erschöpfung der weltweiten Erdöl- und Erdgasvorräte, die zu künftigen Versorgungseinbrüchen sowie steigenden und stärker schwankenden Preisen führen wird, zu einer immer ernsthafteren Bedrohung. Regionen wie Europa, die bei ihrer Versorgung zu einem Großteil von Importen abhängig sind, müssen ihre Anfälligkeit verringern und ihre Sicherheit stärken, indem sie ihre Gesamtenergienachfrage drosseln und ihren Energiebedarf stärker über einheimische und erneuerbare Energieträger decken.

2.3.   Zusammengenommen bedeuten diese beiden langfristigen strategischen Herausforderungen, dass fast überall auf der Erde der Treibhausgasausstoß erheblich reduziert und ein tiefgreifender Wandel hin zu einer ökologisch effizienten Wirtschaft vollzogen werden muss. Die G-8-Führer haben sich grundsätzlich darauf geeinigt, dass die Industrieländer ihre Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80 % senken müssen. Einige der dafür erforderlichen Veränderungen der Energiegrundlage der Wirtschaft sind bereits eingeleitet worden, doch muss das Tempo noch erheblich gesteigert werden, wenn das Ziel erreicht werden soll.

2.4.   Vieles von dem, was zu tun ist, ist bereits bekannt und könnte über bewährte Techniken umgesetzt werden. Laut Schätzungen im „World Energy Outlook“ 2008 (WEO 2008) der Internationalen Energie-Agentur (IEA) können über 50 % der Maßnahmen zur Verringerung der CO2-Konzentration unter 450 ppm (Teile pro Million) im Jahr 2030 durch die Einführung bereits vorhandener energieeffizienter Technologien erzielt werden. Sowohl auf der Nachfrageseite (Gebäude, Industrie, Verkehr) als auch auf der Angebotsseite (z.B. Kraft-Wärme-Kopplung und Fernwärme) existieren einsatzfähige kostenwirksame Maßnahmen. Mehr Handeln ist jedoch erforderlich, um die Marktakteure bei ihrer rascheren Anwendung zu unterstützen.

2.5.   Über vorhandene Technologien hinaus müssen in den nächsten Jahrzehnten neue Energieeffizienztechnologien und emissionsarme Energietechnologien für einen umfassenden Markteinsatz zur Verfügung stehen, um die erforderliche weitere Senkung der CO2-Emissionen zu erreichen. In den Analysen der „Energy Technology Perspectives 2008“ der IEA wird hervorgehoben, dass frühzeitiges Handeln erforderlich ist, um private FuE zu mobilisieren und das Lernen in der gesamten Kette vom Anbieter zum Technologiebetreiber und -anwender zu fördern, damit die neuen Technologien die Lernkurve herunterlaufen und von vielversprechenden, überteuerten Demonstrationsprojekten zu zuverlässigen und preisgünstigen Produkten für den täglichen Gebrauch werden. Neue Technologien werden gebraucht, um sowohl die Energieeffizienz weiter zu steigern (z.B. Nullemissionsgebäude, emissionsarme Beleuchtung und Herstellungsverfahren) als auch die CO2-Emissionen aus der Energieversorgung zu verringern (z.B. Solarstrom, CO2-Abscheidung und -Speicherung, nicht fossile Kraftstoffe).

2.6.   All diese Veränderungen sind technisch machbar. Allerdings muss das Tempo des Wandels deutlich angezogen werden. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen ebenso wie weitere große Volkswirtschaften noch mehr tun als bislang, um Innovationsstrategien und umfangreiche Umstellungsprogramme in den betroffenen Kernbereichen zu entwickeln.

2.7.   Markteinführungsprogrammen sind von entscheidender Bedeutung. Sie können Anreize zur Ausschöpfung des Potenzials vorhandener Energieeffizienzmaßnahmen bieten oder die Umsetzung einer neuen Technologie in marktfähige Produkte so weit voranbringen, dass private FuE angeregt wird und der Lernprozess beginnen kann. Derartige Programme verfügen über das größte Potenzial für eine doppelte Dividende - nämlich die Schaffung von Arbeitsplätzen und Unterstützung bei der Umstellung auf ökologisch effiziente Energiesysteme im Heute bei gleichzeitigen Lerninvestitionen im Hinblick auf effizientere und preiswertere Technologien im Morgen. Die Aufgabe besteht darin, Markteinführungsprogramme zu entwickeln, die den Wettbewerb und Investitionen in FuE im Privatsektor anregen sowie das Lernen in der Kette vom Hersteller bis zum Nutzer fördern.

2.8.   Schon jetzt gibt es mehrere Beispiele für erfolgreiche europäische Bemühungen um die Effizienzsteigerung und die Markteinführung emissionsarmer Technologien. Durch das Energiekennzeichnungssystem der EU ist der Markt für Kältetechnik erheblich energieeffizienter geworden. Durch nationale Programme für die Nachrüstung bestehender Gebäude wurde die Heizeffizienz gesteigert. Über nationale Markteinführungsprogramme für Windenergie wurden die Ausbreitung dieser Technik enorm gefördert und die Kosten verringert - und in den Ländern mit solchen Programmen entstanden Branchen mit einem Umsatz in Höhe von mehreren Milliarden Euro.

2.9.   Die künftigen Anforderungen an Effizienz und neue emissionsarme Technologien bleiben jedoch enorm. Die aus diesen Bemühungen gewonnenen Erfahrungen müssen gesammelt und übertragen werden - und dann für neue und koordinierte Bemühungen um die europaweite Einführung und Verbreitung der nächsten Generation emissionsarmer Technologien genutzt werden.

2.10.   Für einige der notwendigen Umstellungen sind eventuell grundlegend neue konzeptuelle Herangehensweisen erforderlich; diese sind besonders zu berücksichtigen. Drei Beispiele eröffnen wohl ein besonderes Potenzial an Möglichkeiten, die von der europäischen Öffentlichkeit gut aufgenommen werden und entscheidende Verbesserungen im Bereich Ökoeffizienz herbeiführen könnten:

Im Bereich der Stromerzeugung muss die Wende in Richtung erneuerbare Energieträger weiter beschleunigt werden. Solarstrom ist noch immer kostspielig und eine Nischenangelegenheit, doch sinken die Kosten beständig; jetzt ist ein weiterer Anstoß nötig, um die Solarenergie sowohl in kleinen lokalen Anlagen als auch in größeren Stromerzeugungsanlagen umfassender einzusetzen. Die Windkraft wird nun endlich relativ flächendeckend genutzt, doch müssen die Kosten noch weiter nach unten getrieben werden. Mit Erdwärmepumpen werden bereits sehr gute Ergebnisse erzielt; ihre Weiterentwicklung sollte rasch so weit vorangetrieben werden, dass sie zur Norm für alle Neubauten (Wohn- und Geschäftsgebäude) werden können. Das Netz, die dazugehörende Infrastruktur und die Energiespeichersysteme müssen neu durchdacht und strukturiert werden, um über intelligentes Design und eine intelligente Bewirtschaftung einen erheblich stärkeren Einsatz der erneuerbaren Energieträger zu ermöglichen.

Das Null-Emissions-Auto. Dem Grad der Verbesserung der CO2-Leistung von Verbrennungsmotoren sind grundlegende physische Grenzen gesetzt. Ab einem bestimmten Punkt wird es eine Umstellung auf das Vollelektro- oder Brennstoffzellenauto geben, das mit Strom aufgeladen bzw. mit Brennstoff betrieben wird, der aus Energieträgern mit geringen oder gar keinen Netto-Treibhausgas-Emissionen gewonnen wird. Der Ausschuss hält die Zeit für gekommen, um eindeutige Ziele und Zeitpläne für diese Umstellung aufzustellen und die erforderliche Infrastruktur und Unterstützung aufzubauen.

Im Baubereich zeichnet sich die reale Möglichkeit eines echten Netto-Nullemissionsgebäudes ab. Jetzt sind umfassende Anstrengungen erforderlich, um den Übergang vom Stadium einiger weniger interessanter Prototypen zu einer breiten Anwendung in neuen und bestehenden Wohn- und anderen Gebäuden zu bewerkstelligen. Zu diesem Zweck sollten in allen Regionen der EU Modell-Energiesparhäuser errichtet werden, bei deren Konzipierung die klimatischen und geografischen Gegebenheiten der Region berücksichtigt werden. Solche Gebäude würden als Vorbild dienen.

2.11.   Ähnliche Maßnahmen wären evtl. wünschenswert für eine weitere Förderung der Entwicklung und des Einsatzes von Kohlenstoffabscheidungstechnologien sowie für den Ausbau der Möglichkeiten, mit Informationstechnologie und intelligenten Systemen die Ökoeffizienz voranzutreiben.

3.   Die Rolle der Staaten und der Europäischen Union

3.1.   Die EU spielt aufgrund des Umfangs und der Bandbreite einiger der erforderlichen Maßnahmen eine besonders wichtige Rolle. Umstellungen im erforderlichen Maßstab und Tempo können nur durch konzertierte Bemühungen in einer EU-weiten - und in einigen Fällen sogar weltweiten - Zusammenarbeit von Partnern des öffentlichen und privaten Sektors herbeigeführt werden. Die EU hat bereits eine ganze Reihe von Programmen aufgelegt und Pakete geschnürt, um die Energieeffizienz, erneuerbare Energieträger und den Übergang zu einer emissionsarmen Wirtschaft zu fördern. Diese Bemühungen müssen jedoch noch weiter verstärkt und beschleunigt werden. In den folgenden Abschnitten werden einige der Schlüsselbereiche, in denen neues Handeln auf europäischer Ebene erforderlich ist, erörtert.

3.2.   Forschung und Entwicklung. Die FuE in Europa stagniert seit einigen Jahren bei ca. 1,84 % des BIP - also ziemlich weit unter dem vereinbarten Ziel von 3 %. Erhebliche Anstrengungen sind erforderlich, um hier auf das Ziel von 3 % zu kommen; außerdem muss die FuE verstärkt auf den Übergang hin zu einer emissionsarmen Wirtschaft ausgerichtet werden. Unter den Technologien, für die eine stärkere staatliche FuE-Finanzierung benötigt wird, befinden sich einige der umwälzenderen neuen emissionsarmen Technologien, wie etwa die CO2-Abscheidung und -Speicherung, Dünnschicht-Photovoltaik, Offshore-Tiefsee-Windparks und Biokraftstoffe der 2. Generation.

3.3.   Programme für die Markteinführung sollten auf die Nutzung von Nischenmärkten für die neuen Technologien ausgerichtet sein und Anreize für Lerninvestitionen der Marktakteure bieten. Synergieeffekte mit der Steuer- und Industriepolitik sollten genutzt werden. Die EU sollte sich insbesondere auf die größten Umstellungen konzentrieren, wie etwa die Umstellung auf das Elektroauto oder das Nullemissionshaus, für die auf breiter Front technologische Unterstützung, umfangreiche Investitionen, eine umfassende infrastrukturelle Unterstützung sowie eine weit reichende Mobilisierung des öffentlichen Interesses und des Verbraucherinteresses sowie Unterstützung und Anreize erforderlich sein werden. Die Erfahrung mit den Energietechnologieplattformen muss ausgebaut und zu proaktiven Markteinführungsprogrammen für die erforderlichen wesentlichen Umstellungen weiterentwickelt werden.

3.4.   Aufstellung von Normen. Regelungsstandards für Mindestanforderungen an die Energieeffizienz von Produkten und Dienstleistungen kommt bei der Herbeiführung von Fortschritten eine wesentliche Rolle zu. Die EU hat bereits Mindestenergieeffizienzstandards für einige wesentliche Produkte aufgestellt und Fristen für weitere, künftig verpflichtende Verbesserungen festgelegt. Diese Programme müssen jedoch noch umfassender angelegt und mit ehrgeizigeren kurz- und langfristigen Zielen versehen werden.

3.5.   Natürlich müssen die Grenzen des Machbaren beim Tempo des Fortschritts beachtet werden. Es ist jedoch auch wichtig, den Druck auf die europäische Industrie aufrecht zu erhalten, weiterhin zu den weltweiten Spitzenreitern bei Effizienzstandards zu zählen und damit eine starke Wettbewerbsposition einzunehmen, wenn auf dem gesamten Weltmarkt ein Wandel in Richtung Ökoeffizienz vollzogen wird.

3.6.   Öffentliches Auftragswesen. Programme für das öffentliche Auftragswesen können Standardverbesserungen in Schlüsselbereichen der Industrie erheblich vorantreiben, wenn in Leistungsbeschreibungen und Vertragsdokumente entsprechende Vorgaben aufgenommen werden. Die EU sollte auch weiterhin den Weg vorgeben und striktere Energieeffizienzstandards als Standardanforderungen bei allen öffentlichen Ausschreibungen für Güter, Dienstleistungen und Gebäude verbindlich vorgeben. Öko-Effizienz-Kriterien sollten in alle Projektbewertungsverfahren aufgenommen werden.

3.7.   Einige lokale und regionale Gebietskörperschaften in Europa zählen zu den Vorreitern bei der Ausrichtung all ihrer Tätigkeiten auf Ökoeffizienz. Viele allerdings auch nicht. Über eine europäische Initiative könnten einerseits bewährte Verfahren herausgestellt und ihre Nachahmung angeregt werden und andererseits könnten systematische und harmonisierte Anforderungen für die Gebietskörperschaften im Hinblick auf Ökoeffizienzstandards gefördert werden.

3.8.   Anreize für den Privatsektor. Hier ist eine angemessene Bepreisung des CO2-Ausstoßes ausschlaggebend; der Ausschuss erhofft für die Ausweitung des Emissionshandelssystems auf geeignete Sektoren und die Anregung des weiteren Ausbaus einer CO2-orientierten Besteuerung in anderen Bereichen Maßnahmen der Kommission. Auch spezifischere Anreize wie etwa die Nutzung von Einspeisetarifen zur Förderung von Investitionen in erneuerbare Energieträger sollten weiter verfolgt werden. In einigen Fällen wird eventuell auch eine Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor erforderlich sein, um die erforderliche Infrastruktur für wesentliche neue Technologien zu schaffen, z.B. für eine dezentrale Stromerzeugung und ein intelligentes Stromnetz.

3.9.   Verbraucherverhalten. Noch sind die Kauf- bzw. Alltagsentscheidungen der Verbraucher nur unzureichend von einem Interesse an mehr Energieeffizienz geprägt. Umgekehrt sind sich die Gesetzgeber noch kaum über die Beweggründe des Verbraucherverhaltens und die besten Wege zur Förderung der Nachfrage nach ökoeffizienten Gütern und Dienstleistungen im Klaren. Die Förderung von Bildungsmaßnahmen, Sensibilisierungskampagnen und Veranstaltungen vor Ort muss verstärkt werden. Die Kennzeichnung von Gütern und Produkten mit Informationen über die Energieleistung muss ausgeweitet und verbessert werden.

3.10.   Berufliche Aus-, Fort- und Weiterbildung. Es bedarf sehr viel größerer Anstrengungen, um im Rahmen der beruflichen Bildung, der gewerblich-technischen Ausbildung und der Berufsumschulung ein besseres Verständnis der Notwendigkeit und des Potenzials von energieeffizienten Erzeugung und Nachhaltigkeit zu vermitteln.

4.   Chancen und Risiken der derzeitigen Wirtschaftskrise

4.1.   Durch die aktuellen weltweiten wirtschaftlichen Probleme könnten rasche Fortschritte in Richtung Ökoeffizienz u.U. beeinträchtigt werden. Mittel für neue Investitionen sind sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor rar und werden zumeist kurzfristigen Prioritäten vorbehalten.

4.2.   Die allmähliche Erholung der Weltwirtschaft könnte jedoch auch neue Möglichkeiten eröffnen, um die europäische Wirtschaft (und andere große Volkswirtschaften) in eine nachhaltigere Richtung zu steuern. Europa muss diese Möglichkeiten ergreifen und nutzen, wenn es im sich abzeichnenden künftigen globalen Wettbewerb um Ökoeffizienz und Nachhaltigkeit brillieren will.

Einige spezielle Bereiche, die vor allem in das Ressort der Finanz-, Wirtschafts- und Industrieministerien fallen, sollten angesichts der aktuellen Wirtschaftslage besonders eingehend betrachtet werden:

4.3.1.   . Die Wirtschaftskrise hat erneut die Schwachpunkte des BIP als Messfaktor für den Gesamtfortschritt sowie das Erfordernis eines weiter gefassten Wohlfahrtskonzepts, das neben sozialen und Umweltfaktoren auch der Leistungsfähigkeit der Geldwirtschaft Rechnung trägt, ins Blickfeld gerückt. Die Kommission sollte bei ihren einschlägigen Arbeiten den jüngst im Auftrag der französischen Regierung vorgelegten Stiglitz-Bericht berücksichtigen.

4.3.2.   . Mehrere Staaten und die Kommission haben umfangreiche Konjunkturpakete geschnürt, um Impulse für ihre Wirtschaft zu geben und das Abgleiten in eine Depression zu verhindern. Das von der Kommission geförderte Europäische Konjunkturprogramm war ein gutes Beispiel dafür, wie wirtschaftliche Anreize mit der Förderung einer Umstellung auf eine umweltfreundlichere Wirtschaft verknüpft werden können, doch waren ihm aufgrund seiner verhältnismäßig geringen finanziellen Ausstattung unvermeidlich Grenzen gesetzt. Weitere Konjunkturprogramme sind zwar mittlerweile wohl kaum noch erforderlich, doch müssen alle öffentlichen Ausgabenprogramme einer ökoeffizienz-kritischen Bewertung unterzogen werden, um zweifachen Nutzen daraus ziehen zu können. In den Haushaltsverfahren der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten sollten systematische Nachhaltigkeitsbewertungen von öffentlichen Ausgabenprogrammen zur Norm werden.

4.3.3.   . Alle öffentlichen Ausgabenprogramme werden in den nächsten Jahren intensiv überprüft werden, da die öffentliche Hand ihre Finanzen durch Einsparungen sanieren möchte. Bei der Suche nach Einsparungsmöglichkeiten sollte der Schwerpunkt insbesondere auf Ausgabenprogramme, die einem hohen Energieverbrauch förderlich sind bzw. der Ökoeffizienz entgegenwirken, gelegt werden. Widersinnige Subventionen, die die Erzeugung oder den Verbrauch fossiler Brennstoffe (wie etwa Kohlesubventionen oder subventionierte Kraftstoffpreise für bestimmte Gruppen) unterstützen und somit auf doppelte Weise Nachteile schaffen (andere, sinnvollere öffentliche Investitionen werden verhindert, die Ausgangsbedingungen für förderwürdige für erneuerbare Energie-Technologien usw. werden verschlechtert), sollten in diesem Zusammenhang gezielt überprüft werden. Die seit langem erwartete Mitteilung der Kommission zur Beihilfenreform könnte dazu beitragen, hier europäisches Handeln in Gang zu setzen.

4.3.4.   . Die aktuellen Haushaltsdefizite in vielen europäischen Ländern werden wahrscheinlich Anpassungen bei Steuerhöhe und -gleichgewicht erfordern. Dabei sollte der ökologischen Dimension Rechnung getragen werden. Insbesondere sollten höhere Steuern auf Energie (aus fossilen Brennstoffen) einer höheren Besteuerung der Arbeit in der derzeitigen Lage vorgezogen werden, wobei jedoch geeignete Vorkehrungsmaßnahmen zu treffen sind, um die Ärmsten und Schwächsten zu schützen. Die Kommission könnte mit den Mitgliedstaaten eine neue Studie einleiten, um konzertierte Maßnahmen für eine Neuausrichtung der finanzpolitischen Strategien in diese Richtung anzuregen.

4.3.5.   . Die derzeitige Wirtschaftskrise hat bereits erhebliche staatliche Eingriffe zur Unterstützung oder Umstrukturierung von Schlüsselbranchen hervorgerufen. Bei solchen Eingriffen sollte die Förderung der Ressourceneffizienz immer als wesentliches Ziel im Auge behalten werden. Einige in dieser Stellungnahme genannte spezifische Umstellungsherausforderungen (Elektroauto, Nullemissionshaus und Solarstrom) könnten ganz besonders staatliche Eingriffe und Unterstützung benötigen, damit sie ein Dreh- und Angelpunkt der neuen Wirtschaft werden, um den herum neue Investitionen, neue Unternehmen und neue Arbeitsplätze entstehen.

4.3.6.   Eine neue Innovationsstrategie. Die Europäische Union könnte im Rahmen einer neuen Innovationsstrategie für Europa als neue Aufgabe die Entstehung europäischer Exzellenz von Weltformat in den Schlüsselbereichen emissionsarme Technologien fördern. Der EWSA schlägt insbesondere vor, Taskforces unter Einbindung von Akteuren des öffentlichen und des privaten Sektors einzurichten, um Fortschritte auf EU-Ebene in Bezug auf das Elektroauto, das Nullemissionshaus und Solarstrom zu lenken. Auf jeden Fall müssten sich die Maßnahmen auf die Arbeit der vorhandenen FuE-Plattformen für Energietechnologien stützen und auch auf die großmaßstäbliche Marktentwicklung und -einführung ausgerichtet sein.

4.3.7.   Die Taskforces sollten in jedem Einzelfall versuchen, Wege für einen Wandel zu finden und die jeweils angesagte Rolle öffentlicher und privater FuE und Investitionen zu ermitteln. Sie sollten untersuchen, welche Infrastrukturen erforderlich sein könnten (z.B. ein Netzwerk von Ladestationen zur Unterstützung einer umfassenden Einführung von E-Autos oder ein kommunales Förderprogramm für Energieeffizienzverbesserungen von Wohnhäusern). Auch könnte untersucht werden, wie solche Umstellungen den Entwicklungsländern zugänglich gemacht werden könnten (z.B. Solarstrom für Afrika), um sie dabei zu unterstützen, ihren Part beim Übergang zu einer emissionsarmen Wirtschaft zu übernehmen.

4.3.8.   Neue Finanzierungsformen - ein „grüner“ Eurobond? Im aktuellen Wirtschaftsklima werden öffentliche Ausgaben (und möglicherweise auch die Höhe privater Investitionen) in der gesamten EU wahrscheinlich für die nächsten Jahre erheblichen Einschränkungen ausgesetzt sein. Der Ausschuss schlägt vor, innovative Finanzierungsformen einzuführen, um die für den Ausbau neuer ökoeffizienter Technologien erforderlichen Investitionen zu unterstützen. Die Einrichtung eines „grünen“ Eurobonds sollte erwogen werden. Dieser könnte mit bescheidener, aber sicherer Rendite vermarktet werden und als Finanzierung für die Entwicklung und Markteinführung einiger der wichtigen neuen Technologien wie Nullemissionsauto und Nullemissionshaus genutzt werden. Dies käme dem weit verbreiteten Wunsch nach einer sicheren Anlageform in Verbindung mit einem Beitrag zu einer besseren Zukunft entgegen.

5.   Ein neuer Impuls auf europäischer Ebene

5.1.   Die Europäische Union hat bereits einen guten Anfang gemacht, indem sie Schritte in Richtung einer ökoeffizienteren Wirtschaft angeregt hat, und zwar über die von ihr selbst gesteckten Ziele und die von ihr ergriffenen Maßnahmen. Doch kann dies wirklich nur als erster Schritt gelten. Die anhaltenden Probleme der Weltwirtschaft machen die auch weiterhin bestehende Notwendigkeit einer aktiven Steuerung deutlich, um so eine Rückkehr zu ineffizienten und schädlichen Wachstums- und Entwicklungsmustern zu vermeiden. Die Wahl eines neuen Europäischen Parlaments bzw. die Ernennung einer neuen Kommission ist eine gute Gelegenheit für die Europäische Union, das Tempo anzuziehen und der Ökoeffizienz und der nachhaltigen Entwicklung in Europa einen neuen Impuls zu geben.

5.2.   Auf kurze Sicht fordert der EWSA die Kommission und den schwedischen Ratsvorsitz (sowie die künftigen Ratsvorsitze) auf, rechtzeitig folgende Chancen zu nutzen:

die Überarbeitung und Erneuerung der Lissabon-Strategie und der Strategie für eine nachhaltige Entwicklung,

die Gestaltung der neuen Finanziellen Vorausschau,

die Neufassung der Richtlinie 2002/91/EG über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden,

den Follow-up zu der Mitteilung der Kommission zur Überwindung der Hindernisse für erneuerbare Energien in der EU,

die Förderung einer Initiative zur Finanzierung einer nachhaltigen Energiewirtschaft als gemeinsames Projekt der Kommission und der Europäischen Investitionsbank,

die Annahme einer neuen Energiepolitik für Europa im Jahr 2010, mit einer Agenda für 2030 und einer langfristigen Perspektive für 2050.

5.3.   Der EWSA erkennt das Potenzial der nationalen Aktionspläne für Energieeffizienz und der nationalen Aktionspläne für erneuerbare Energieträger. Im Anschluss an die Bewertung der ersten Generation dieser Pläne müssen diese rasch verbreitet und Feedback an die EU-Mitgliedstaaten gegeben werden, ebenso ist ein energisches Follow-up durch die Kommission und die Institutionen erforderlich.

5.4.   Für die Zukunft hält der EWSA es auch weiterhin für erforderlich, dass die ökologische Effizienz in allen folgenden Bereichen heutiger und möglicher künftiger Tätigkeiten der Europäischen Union, die in dieser Stellungnahme untersucht wurden, eine immer wichtigere Rolle spielt:

Förderung von Forschung und Entwicklung,

Einführung eines verpflichtenden Ökoeffizienzansatzes im Bereich der Konstruktion in beruflichen Weiterbildungsprogrammen im Ingenieur- und Bauwesen sowie in weiteren Schlüsselbereichen;

Aufnahme von Ökoeffizienz-Anforderungen in alle einschlägigen Rechnungslegungsgrundsätze, die Regulierungspraxis und Bewertungsvorschriften für Finanzministerien,

vorrangige Berücksichtigung der Ökoeffizienz in allen Förderprogrammen der EU und der Mitgliedstaaten sowie im Beschaffungswesen.

Förderung der Umweltfreundlichkeit bei allen Programmen für öffentliche Ausgaben auf EU-Ebene und auf Ebene der Mitgliedstaaten unter systematischer Zuhilfenahme von Nachhaltigkeitsbewertungen als wesentliches Instrument,

Schaffung neuer Finanzierungsformen für große Umstellungsprogramme,

Förderung einer ökologisch effizienten Steuerreform,

Abschaffung umweltschädlicher Beihilfen,

Förderung einer neuen Innovationsstrategie mit Taskforces für bestimmte wesentliche Umstellungen,

Förderung bewährter Verfahren für Verbraucherbildung und Maßnahmen vor Ort.

5.5.   Den Volkswirtschaften, denen eine Ökoeffizienz-Wende am raschesten gelingt, dürften erhebliche Wettbewerbsvorteile entstehen - während für die anderen ernsthafte Wettbewerbsnachteile zu erwarten sind. Daher sollte das Ziel, einer der ökoeffizientesten Wirtschaftsräume der Welt zu werden, im Zentrum der erneuerten Lissabon-Strategie für die Zukunft der europäischen Wirtschaft stehen und im Sinne dieser Stellungnahme in alle europäischen Politiken und Programme aufgenommen werden.

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/29


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Hin zu einer ökologisch effizienten Wirtschaft - die Wirtschaftskrise als Chance für den Beginn einer neuen Ära im Energiebereich begreifen“

(Initiativstellungnahme)

(2010/C 128/06)

Berichterstatter: Luis Miguel PARIZA CASTAÑOS

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 26. Februar 2009 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die Einhaltung der Menschenrechte in der europäischen Einwanderungspolitik und in ihren Rechtsvorschriften“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 15. Oktober 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 4. November) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Einführung und Hintergrund

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat beschlossen, eine Initiativstellungnahme zu erarbeiten und darin vorzuschlagen, dass hinsichtlich der Maßnahmen und Rechtsvorschriften im Bereich der Einwanderungs- und Grenzpolitik der EU die Menschenrechte gebührend berücksichtigt und die Freiheit und die Sicherheit aller Menschen in den Mittelpunkt gestellt werden.

1.2.   Derzeit arbeitet die EU - mit großen politischen Schwierigkeiten im Rat - an einem gemeinsamen Rechtsrahmen im Bereich der Einwanderung, der supranationale Rechte und Garantien bietet, die über die wechselhaften (und mitunter restriktiven) Gesetze der Mitgliedstaaten hinausgehen. Der EWSA begrüßt die bisherigen Fortschritte: Die Erarbeitung gemeinsamer Rechtsvorschriften durch 27 Mitgliedstaaten ist keine einfache Aufgabe - vor allem nicht in einem Bereich, der derart heikel ist.

1.3.   Allerdings hemmt der minimalistische Charakter der Harmonisierung vieler dieser Rechtsakte die Festschreibung umfassender und angemessener Garantien zum Schutz der Menschenrechte. Darüber hinaus verläuft die Umsetzung der europäischen Richtlinien in nationales Recht in einigen Mitgliedstaaten hinsichtlich des Schutzes der Grundrechte nicht ordnungsgemäß.

1.4.   In den letzten Jahren hat der EWSA mehrere Stellungnahmen erarbeitet, um die gemeinsame Einwanderungspolitik auf eine ganzheitliche konzeptuelle Grundlage zu stellen, die nicht nur den Erfordernissen der EU-Mitgliedstaaten und der Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern Rechnung trägt, sondern auch der Achtung der Menschenrechte der Einwanderer.

1.5.   Der Europäische Rat billigte am 16. Oktober 2008 den Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl, in dem die klare politische Verpflichtung der EU zur Weiterentwicklung der gemeinsamen Einwanderungspolitik zum Ausdruck kommt. Während des schwedischen Ratsvorsitzes wird die EU das Stockholmer Programm annehmen (1).

1.6.   Auch ist das Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags vorgesehen, der neue Impulse zur Entwicklung einwanderungspolitischer Maßnahmen, die im üblichen Rechtsetzungsverfahren verabschiedet werden, liefern und der Grundrechtecharta einen rechtlich verbindlichen Charakter verleihen wird.

1.7.   In diesen Jahren hat der EWSA auch seine Zusammenarbeit mit den Organisationen der Zivilgesellschaft verstärkt und mit dem Europäischen Integrationsforum eine solide Beteiligungsstruktur geschaffen (2). Der Ausschuss hat sich nachdrücklich dafür eingesetzt, dass die Zivilgesellschaft an der Entwicklung der Integrationspolitik beteiligt wird.

1.8.   Der Ausschuss beobachtet mit Sorge, dass in Europa Intoleranz, Rassismus und Xenophobie gegenüber Einwanderern - den „Anderen“ - zunehmen, und befürchtet, dass diese Phänomene durch die sozialen Folgen der Finanzkrise noch verstärkt werden. Die Entscheidungsträger in Politik, Gesellschaft und Medien müssen äußerst verantwortungsvoll vorgehen und eine wichtige politische und soziale Vorbildfunktion übernehmen, um solchen Einstellungen vorzubeugen. In den Lehrplänen für die Primar- und Sekundarstufe müssen menschliche Werte, Grundrechte, Gleichheit und Nichtdiskriminierung eine größere Rolle spielen.

2.   Menschenrechte und Einwanderungspolitik

2.1.   Unter den verschiedenen internationalen Instrumenten ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hervorzuheben, in der die Universalität eines gemeinsamen Prinzipien- und Wertesystems proklamiert wird.

2.2.   Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die von allen Mitgliedstaaten des Europarates unterzeichnet wurde, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sind Grundlage und Garantie für die Wahrung der Menschenrechte im gesamten Unionsgebiet.

2.3.   Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat festgestellt, dass die EMRK und die Urteile des EGMR Teil der gemeinschaftlichen Rechtsordnung und ihrer allgemeinen Grundsätze sind.

2.4.   Unterstrichen wird dies durch Artikel 6 des EU-Vertrags, mit dem die Garantie der Grundrechte im europäischen Rechtssystem bekräftigt wird, und durch die Tatsache, dass es dem EuGH obliegt, diese Rechte beim Handeln der europäischen Institutionen und der Mitgliedstaaten im Rahmen des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen.

2.5.   Obwohl die Mitgliedstaaten das souveräne Recht auf die Kontrolle der Einreisen und die Ausstellung der Aufenthaltstitel für Drittstaatenangehörige haben, erinnert der EWSA daran, dass die Staaten ihren Verpflichtungen im Rahmen internationaler Instrumente und Übereinkommen über grundlegende Menschenrechte und deren Auslegung (und Ausgestaltung) durch die zuständigen Gerichte nachkommen müssen.

2.6.   Die Charta der Menschenrechte der EU umfasst neue, in der EMRK noch nicht enthaltene Rechte (3). Ein Großteil dieser Rechte hängt im Übrigen nicht von der Staatsangehörigkeit einer Person ab. Nach der Ratifizierung des Lissabon-Vertrags wird die Charta verbindlich sein und zur Rechtssicherheit des Schutzes der Grundrechte jedes Menschen beitragen. Die Charta wird für die europäischen Institutionen und die Mitgliedstaaten insbesondere bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts verbindlich sein und die Einhaltung der Grundrechte bei Migrationsfragen stärken.

2.7.   Mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags wird die EU die Möglichkeit haben, sich der EMRK anzuschließen, was ihr Engagement für die Menschenrechte in ihrem Hoheitsgebiet verstärken wird.

2.8.   Der Ausschuss hat auch die Einrichtung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte befürwortet (4). 2008 verabschiedete der Rat das mehrjährige Rahmenprogramm der Agentur, das neun Themenbereiche vorsieht, darunter Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung, Asyl, Einwanderung und Integration, Visa und Grenzkontrollen. Der EWSA möchte an der Agentur mitwirken, um die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft bei deren Tätigkeiten zu stärken.

2.9.   Trotz dieser gemeinschaftlichen Instrumente und Strukturen haben viele Organisationen der Zivilgesellschaft sowie unabhängige Forscher und Wissenschaftler nachgewiesen, dass bei einigen nationalen und europäischen Maßnahmen und Vorschriften die Grundrechte nicht angemessen eingehalten werden.

2.10.   In Bezug auf Maßnahmen der Gemeinschaft wird auch häufig über Verletzungen der Menschenrechte der Einwanderer in verschiedenen Mitgliedstaaten berichtet. Gelegentlich legitimieren die europäischen Politiken die Fortsetzung bestimmter nationaler Praktiken, die mit den Menschenrechten und dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar sind.

2.11.   Der EWSA hat in einer vor kurzem verabschiedeten Stellungnahme (5) gefordert, „dass in der Einwanderungspolitik und in den Einwanderungsbestimmungen die individuellen Menschenrechte, die Gleichbehandlung und die Nichtdiskriminierung in vollem Umfang geachtet werden müssen“. Um dieses Ziel zu untermauern, schlägt der EWSA vor, zwei neue gemeinsame Grundsätze für die künftige europäische Einwanderungspolitik aufzunehmen, so wie sie im Stockholmer Programm festgeschrieben sind: Grundrechte sowie Rechtsstaatlichkeit und Grundfreiheiten.

2.12.   Die Grundrechte sind allen Menschen zuzuerkennen - und nicht nur den Unionsbürgern. Asylbewerber und Einwanderer stehen unter dem Schutz der EMRK und der Grundrechtscharta der EU. Die europäischen Einwanderungs- und Grenzbestimmungen und die Urteile des EuGH sehen ein Bündel von Garantien und Rechten vor, die über den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten hinausgehen.

2.13.   Der EWSA hat ferner vorgeschlagen (6), dass die EU im Bereich der Außenpolitik einen internationalen Rechtsrahmen für die Migration anregt, der auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte und dem Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte gründet. Dieser internationale Rechtsrahmen muss die wichtigsten ILO-Konventionen und die Internationale Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen umfassen, die von den EU-Mitgliedstaaten noch nicht ratifiziert worden ist, obwohl der EWSA in einer Initiativstellungnahme (7) die Ratifizierung vorgeschlagen hat.

2.14.   In seinem „Programm für Europa“ (8) schlägt der EWSA auch vor, die Achtung der Grundrechte und der Menschenrechte in allen Politikbereichen der EU - und insbesondere im Bereich Einwanderung und Asyl - zu gewährleisten.

2.15.   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Werte und Grundsätze der Union sowie der Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten mit Hilfe einer sichtbaren und handlungsfähigen politischen Autorität auf europäischer Ebene gestärkt werden müssen; deshalb unterstützt er den Vorschlag von Kommissionspräsident Barroso, das Amt eines Europäischen Kommissars für Justiz, Grundrechte und bürgerliche Freiheiten einzurichten. Der Ausschuss hofft, dass diesem Amt die politischen Instrumente und organisatorischen und finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden, die für die Wahrnehmung einer solch verantwortungsvollen Aufgabe erforderlich sind.

2.16.   Doch bedauert der Ausschuss, dass die Themen Einwanderung und Asyl nicht in jenen Aufgabenbereich, sondern in das Ressort Innere Sicherheit unter der Zuständigkeit eines anderen Kommissionsmitglieds fallen sollen. Das Thema Zuwanderung mit demjenigen der Sicherheit zu vermengen und es vom Schutz der Menschenrechte zu trennen, ist ein falsches politisches Zeichen.

3.   Universalität der Menschenrechte

3.1.   In Europa gibt es gegenwärtig eine große Herausforderung, nämlich jeder Person die Menschenrechte im Rahmen der Rechtsordnungen der EU und der Mitgliedstaaten zu garantieren, die auf dem traditionellen Bürgerschaftsbegriff (dem zufolge einige dieser Rechte den „Nichtbürgern“ vorenthalten werden) und auf der rechtlichen Unterscheidung zwischen „Bürgern“ und „Ausländern“ sowie „legalen Einwanderern“ und „irregulären Einwanderern“ fußen.

3.2.   Die europäischen Einwanderungsbestimmungen gewährleisten nicht hinreichend den Status eines Einwanderers als Rechts- und Schutzsubjekt. Die strikte rechtliche Verknüpfung von Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zeigt, dass ein Einwanderer nicht als Person, sondern als Arbeitskraft betrachtet wird, d.h. als Instrument im Dienste des Arbeitsmarkts, der, wenn er nicht mehr benötigt wird, die Möglichkeit des legalen Aufenthalts und - im Zuge der Änderung seines Verwaltungsstatus - viele Rechte verliert: Er gilt dann als Person „ohne Papiere“.

3.3.   Die Menschenrechte sind universal und unveräußerbar und schützen alle Menschen unabhängig von ihrer Lage und ihrer Rechtsstellung.

4.   Menschenrechte und Einwanderungspolitik: Zehn operative Prioritäten für ein Europa als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

4.1.   Das Europa der Rechte

4.1.1.   In den letzten Jahren haben der Schutz und die Förderung der Menschenrechte auf der Agenda der EU an Bedeutung verloren. Zur politischen Priorität wurde die Sicherheit der Staaten erhoben - ganz so, als wäre sie mit der Entwicklung der Freiheit und des Schutzes der Grundrechte unvereinbar.

4.1.2.   Mit sicherheitspolitischen Maßnahmen müssen die Werte Freiheit und Rechtsstaatlichkeit geschützt werden. Nach Auffassung des Ausschusses müssen diese Maßnahmen auf dem Schutz der in der EMRK und der Grundrechtscharta verankerten fundamentalen Rechte beruhen.

4.1.3.   Eine Erhöhung der Sicherheit darf nicht die Grundwerte (Menschenrechte und Grundfreiheiten) sowie die in der gesamten Union geltenden demokratischen Prinzipien (Rechtsstaatlichkeit) beeinträchtigen. Die persönliche Freiheit darf nicht hinter das Ziel der Sicherheit von Gesellschaft und Staat zurücktreten. In einigen Politikvorschlägen wird derselbe Fehler begangen wie bereits in früheren Zeiten, nämlich die Freiheit zu opfern, um die Sicherheit zu verbessern.

4.1.4.   Deshalb begrüßt der EWSA die Mitteilung der Kommission „Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger“ vom Juni 2009, in der dem Schutz der Grundrechte der Unionsbürger Vorrang eingeräumt wird.

4.1.5.   Der EWSA unterstützt die Initiative der Kommission zur Förderung einer „Kultur der Grundrechte“ bereits in den ersten Phasen des Rechtsetzungsprozesses, auch für die Einwanderungspolitik. Die Wahrung der Grundrechte muss ein gemeinsames Ziel aller Gemeinschaftsorgane sein (9). Dies sollte flankiert werden durch ein gemeinsames europäisches System für die regelmäßige (Ex-Post-)Evaluierung der Umsetzung der auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene beschlossenen europäischen Maßnahmen hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit den Grundrechten und ihrer Wirksamkeit (10). Der EWSA und die organisierte Zivilgesellschaft müssen bei dieser Evaluierung ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen.

4.2.   Zulassungsbestimmungen

4.2.1.   Der EWSA hat bereits gefordert, dass die EU über eine gemeinsame Einwanderungspolitik sowie harmonisierte Rechtsvorschriften verfügen sollte. Die EU und die Mitgliedstaaten benötigen flexible Rechtsvorschriften, die die Einwanderung von Arbeitnehmern - sowohl von hoch qualifizierten Personen als auch solchen, die einfachen Beschäftigungen nachgehen - auf legalen und transparenten Wegen ermöglichen. Dadurch werden die Rechte der Einwanderer angemessen geschützt.

4.2.2.   Der Ausschuss hat horizontale Rechtsvorschriften vorgeschlagen; die Mitgliedstaaten, die Kommission und der Rat haben sich jedoch für die Erarbeitung spezifischer, auf bestimmte Einwanderergruppen ausgerichtete Richtlinien entschieden, was zu Diskriminierungen führen kann.

4.2.3.   In seinen Stellungnahmen, die er zu den unterschiedlichen Legislativvorschlägen der Kommission erarbeitet, versucht der EWSA, eine allgemeine Kohärenz sicherzustellen und den Schutz der Grundrechte wie Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung zu gewährleisten (und zwar ungeachtet der Berufsgruppe, der ein Arbeitsmigrant angehört).

4.3.   Rechte von Arbeitsmigranten und ihren Familien

4.3.1.   Das Prinzip der Nichtdiskriminierung muss als Grundlage dienen (Artikel 21 der Charta). Der Arbeitsmigrant muss unabhängig von der Dauer seiner Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in wirtschaftlicher, arbeitsrechtlicher und sozialer Hinsicht die gleichen Rechte haben wie die übrigen Arbeitnehmer. Dies steht auch in Einklang mit Artikel 15 Absatz 3 der Charta: „Die Staatsangehörigen dritter Länder, die im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten arbeiten dürfen, haben Anspruch auf Arbeitsbedingungen, die denen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger entsprechen.“

4.3.2.   Gleichbehandlung bei der Arbeit bezieht sich auf Arbeitsbedingungen, Lohn, Entlassung, Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie Versammlungs- und Streikrecht.

4.3.3.   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Gleichbehandlung auch die Gleichheit bei anderen sozialen Grundrechten voraussetzt, wie er bereits in einer früheren Stellungnahme gefordert hat: „Der Ausschuss schlägt folgende besonderen Rechte vor, die Drittstaatsangehörigen, die auf legaler Basis vorübergehend in der EU erwerbstätig oder aufhältig sind, gewährt werden sollten“ (11):

Anspruch auf Sozialschutz einschließlich medizinischer Betreuung

Zugang zu Waren und Dienstleistungen einschließlich Wohnraum (Artikel 34 und 35 der Charta)

Zugang zu allgemeiner und beruflicher Bildung (Artikel 14 der Charta)

Anerkennung von Zeugnissen, Diplomen und Abschlüssen im Rahmen der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts

Anerkennung der Arbeits- und Sozialrechte von in der EU entsandten Arbeitsmigranten (12);

Recht auf Schulbildung für Kinder einschließlich Studienbeihilfen und Stipendien

Recht auf unentgeltlichen rechtlichen Beistand im Bedarfsfall (Artikel 47 der Charta)

Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen öffentlichen Arbeitsvermittlungsdienst

Recht auf Unterricht der Sprache der Aufnahmegemeinschaft

Achtung der kulturellen, religiösen und sprachlichen Vielfalt (Artikel 22 der Charta)

Freizügigkeit und Aufenthaltsrecht innerhalb des Mitgliedstaates.

4.3.4.   Die Ausübung der Grundrechte setzt voraus, dass es öffentliche Dienste gibt, die (dank entsprechender Mittel oder Mitarbeiterschulungen) in der Lage sind, diese Recht zu achten, und deren Vertreter gesetzlich dazu verpflichtet sind, sich gegenüber den Betroffenen objektiv und neutral zu verhalten. Darüber hinaus hat der EWSA in diesen Krisenzeiten Bedenken hinsichtlich der Haushaltsmittel, über die die Mitgliedstaaten der EU verfügen, sowie der Höhe der Mittel, die die Staaten bereit sind, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene zu mobilisieren, um einen effektiven Schutz der Menschenrechte - insbesondere der Einwanderer - zu ermöglichen.

4.3.5.   Der Ausschuss wendet sich gegen die im Rahmenrichtlinienvorschlag vorgesehene Möglichkeit der Mitgliedstaaten, das Recht auf Gleichbehandlung in Bezug auf bestimmte Arbeitsbedingungen (Arbeitsentgelt und Entlassung, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, Sozialschutz) und die Versammlungs-, Vereinigungs- und Streikfreiheit (13) auf solche Personen einzuschränken, die einen Arbeitsplatz haben. Diese Einschränkungen können auch gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung und Artikel 12 der Charta verstoßen.

4.3.6.   Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission zur Vorlage eines europäischen Einwanderungskodex, in dem die Grundrechte und Garantien für alle Einwanderer in die EU behandelt werden.

4.4.   Familienzusammenführung

4.4.1.   Das Recht auf Familienleben ist eines der Menschenrechte, die die EU und die Mitgliedstaaten in ihrer Einwanderungspolitik und -gesetzgebung schützen und sicherstellen müssen (14).

4.4.2.   Die Richtlinie 2003/86 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung sieht nur Mindestvorschriften vor und ermöglicht damit, dass in einigen nationalen Gesetzgebungen das Recht auf Familienzusammenführung für Drittstaatsangehörige nicht gänzlich gewährleistet ist. Bekräftigt wurde dies im Bericht der Kommission über die Anwendung der Richtlinie (15), in dem an der Vereinbarkeit der Umsetzung der Integrationsmaßnahmen als Voraussetzung für die Einreise in das Hoheitsgebiet mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens (Artikel 7 der Charta) Zweifel geäußert werden.

4.4.3.   Der EWSA ist der Auffassung, dass in der Richtlinie zur „Blue Card“ ein weniger restriktiver Ansatz in Bezug auf die Familienzusammenführung verfolgt wird als in der Richtlinie 2003/86. Dieser Ansatz muss auf alle Gruppen von Einwanderern - ganz gleich ob sie „hoch“ oder „gering“ qualifiziert sind - ausgeweitet werden.

4.4.4.   Folglich empfiehlt der Ausschuss der Kommission, im Jahr 2010 einen Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2003/86 zu erarbeiten.

4.5.   Grenzen und irreguläre Einwanderung

4.5.1.   Der EWSA fordert, bei den Grenzkontrollen das Grundrecht auf Asyl (Artikel 18 der Charta) und das Prinzip der Nichtzurückweisung (non-refoulement) zu beachten, das verbietet, jemanden in ein Land zurückzuschicken, in dem sein Leben oder seine Freiheit in Gefahr sind. Viele Personen, die des internationalen Schutzes bedürfen, überqueren die Außengrenzen auf illegalem Wege. Die Behörden müssen sicherstellen, dass diese Personen Anträge auf Schutz stellen können, die dann ausnahmslos entsprechend den internationalen und europäischen Übereinkommen sowie den gemeinschaftlichen und nationalen Rechtsvorschriften geprüft werden.

4.5.2.   Der EWSA schlägt vor, vor dem Ausbau der operativen Befugnisse der Agentur FRONTEX eine unabhängige Evaluierung der Achtung der Grundrechte bei den gemeinsamen Grenzüberwachungsmaßnahmen durchzuführen und die europäische und die nationale parlamentarische Kontrolle zu verstärken. Darüber hinaus muss die Vereinbarkeit mit den Garantien im Schengener Grenzkodex (insbesondere Artikel 6 und 13) bewertet werden.

4.5.3.   Die Maßnahmen der EU zur Kontrolle und Überwachung der irregulären Einwanderung werden auch geografisch ausgeweitet, und zwar über die Außengrenzen der EU hinaus; es handelt sich dabei um gemeinsame Maßnahmen auf dem Gebiet afrikanischer Länder. Der UNHCR und verschiedene Nichtregierungsorganisationen haben darauf aufmerksam gemacht, dass im Zusammenhang mit der Durchführung der Grenzkontrollen außerhalb des Unionsgebiets Garantien bezüglich der Achtung der Menschenrechte fehlen.

4.5.4.   Die europäische Grenzkontrollstrategie beruht auf einem intensiven Einsatz von Sicherheitstechnologien; allerdings ermöglicht die Schaffung von Datenbanken, die große Mengen personenbezogener Informationen speichern (Schengener Informationssystem [SIS II], Visa-Informationssystem [VIS] usw.), die Erstellung ethnischer und kulturell-religiöser Profile, was gegen die Nichtdiskriminierungsverpflichtungen in Artikel 21 der Grundrechtscharta verstößt.

4.5.5.   Das von der Kommission 2008 vorgelegte „Grenzpaket“ (16) lässt im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Angemessenheit, die ja für jeden neuen Rechtsakt der EU von wesentlicher Bedeutung sind, Zweifel aufkommen; darüber hinaus wird ernsthaft bezweifelt, ob der Schutz personenbezogener Daten (Artikel 8 der Charta) und der in Artikel 13 des EG-Vertrags wieder aufgegriffene Grundsatz der Nichtdiskriminierung beim Einsatz einiger neuer Technologien (z.B. automatisierte Grenzkontrollverfahren) voll und ganz sichergestellt sind.

4.5.6.   Um die Achtung der Grundrechte zu gewährleisten, muss nach Auffassung des Ausschusses die Solidarität der EU mit den Mitgliedstaaten verbessert werden, die aufgrund ihrer geografischen Lage mit einer großen Zahl von Personen konfrontiert sind, die auf irreguläre Weise einreisen und Opfer von kriminellen Schleusernetzen sind. Der EWSA ruft dazu auf, endlich das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen zu eröffnen.

4.5.7.   Die EU muss auch die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern ausbauen, um die Achtung der Menschenrechte zu verbessern, der irregulären Einwanderung vorzubeugen, die legale Einwanderung zu fördern und die kriminellen Menschenschmuggler-Netzwerke zu bekämpfen.

4.6.   Rückkehr und Rückübernahme

4.6.1.   Die Rückkehrrichtlinie (17) wird einen europäischen Rahmen für Rechts- und Verfahrensgarantien für den Schutz (18) bieten, der vom EWSA begrüßt wird, z.B. für das verbriefte Recht, vor einem Gericht, einer Verwaltungsbehörde oder einer unabhängigen zuständigen Stelle gegen Rückführungsentscheidungen zu klagen oder auch kostenlos einen Rechtsbeistand und eine Rechtsvertretung in Anspruch zu nehmen, für bestimmte Garantien bis zur Rückkehr, Bedingungen der Ingewahrsamnahme usw.

4.6.2.   Dennoch teilt der EWSA die Ansicht von zahlreichen Organisationen der Zivilgesellschaft und unabhängiger Experten des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen (19), dass zwischen dem durch die Richtlinie eingeführten gemeinsamen System und den Grundrechten von Einwanderern Diskrepanzen bestehen. In der Phase der Umsetzung auf nationaler Ebene wäre eine genaue Überwachung im Hinblick auf die wirksame Vollstreckung von Abschiebemaßnahmen sowie auf Inhaftierung, Rechtsbehelfe und die Behandlung der schutzbedürftigen Personen notwendig.

4.6.3.   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass mit einer europäischen Rückkehrpolitik die Freiwilligkeit und die genaueste Einhaltung der humanitären Werte vorangetrieben werden muss. Davon hängen die Rechtsförmigkeit der europäischen Einwanderungspolitik und ihre Glaubwürdigkeit im Ausland ab. Die Ausnahmen, die z.B. in Artikel 7 Absatz 4 der Richtlinie (Begriff der „Fluchtgefahr“) vorgesehen sind, können die Freiwilligkeit der Rückkehr aufgrund des den Mitgliedstaaten zugestandenen Ermessensspielraums hinsichtlich ihrer Auslegung und Umsetzung unterminieren. Darüber hinaus gewährleistet die Richtlinie keinen angemessenen Schutz für Personen, deren Abschiebung gerade geprüft wird und die sich deshalb in einem juristischen „Schwebezustand“ befinden, oder in Bezug auf die Bedingungen, die eine Ingewahrsamnahme (20) mit einer Höchstdauer von sechs Monaten (und in Ausnahmefällen weiteren 12 Monaten) rechtfertigen (21).

4.6.4.   In Artikel 19 der Charta werden Kollektivabschiebungen ausdrücklich untersagt und gewährleistet, dass niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden darf, in dem für die betreffende Person das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht - das ist das Prinzip der Nichtzurückweisung (non-refoulement) (Artikel 4 und 19 der Charta). Die Richtlinie stärkt die Achtung der Grundrechte. Trotzdem haben der UNHCR und andere NRO bereits mehrfach Kollektivabschiebungen sowie Abschiebungen von irregulären Einwanderern und Asylbewerbern in Länder angeprangert, in denen die Menschenrechte verletzt werden.

4.6.5.   Der EWSA erinnert daran, dass Artikel 3, 5, 6, 8 und 13 der EMRK und Artikel 3, 4, 19, 24 und 47 der Charta Bestimmungen enthalten, die auf eine europäische Politik im Bereich der irregulären Einwanderung (insbesondere hinsichtlich des Schutzes im Falle der Rückführung, Abschiebung und Auslieferung) anwendbar sind. Viele irreguläre Einwanderer befinden sich in einer humanitär schwierigen Situation, weshalb die Vorschriften und Verfahren unter Einhaltung strenger Menschenrechtskriterien und gemäß den moralischen Grundsätzen der Solidarität erarbeitet und umgesetzt werden müssen.

4.6.6.   Der Rechtsstaat schützt das Grundrecht aller Menschen auf einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Artikel 47 und 48 der Charta. Darüber hinaus sieht Artikel 6 Absatz 2 des Schengener Grenzkodex vor, dass die Grenzschutzbeamten nicht nach Geschlecht, Rasse, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Ausrichtung diskriminieren dürfen. Ebenso haben Drittstaatsangehörige, denen die Einreise verweigert wird, gemäß Artikel 13 das Recht, gegen diese Entscheidung zu klagen und eine Begründung für die Verweigerung zu verlangen (22).

4.6.7.   Menschen mit einer schweren körperlichen oder geistigen Krankheit dürfen weder inhaftiert noch abgeschoben werden; vielmehr benötigen sie entsprechende medizinische oder psychologische Betreuung. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgelegt (23). Minderjährige bedürfen ebenfalls besonderer Aufmerksamkeit und besonderen Schutzes. Der EWSA unterstützt die Initiative der Kommission bezüglich der Situation unbegleiteter Minderjähriger.

4.6.8.   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Achtung der Menschenrechte eine unabdingbare Voraussetzung für die Unterzeichnung von Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten ist, und wendet sich dagegen, dass die EU oder die Mitgliedstaaten Repatriierungs- oder Grenzkontrollabkommen mit Ländern schließen, die nicht die wichtigsten internationalen Rechtsinstrumente zum Schutz des Menschenrechte unterzeichnet oder die Menschenrechte nachweislich missachtet haben. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Schutz des Grundrechts von Asylbewerbern auf einen wirksamen Rechtsbehelf (24).

4.7.   Gewahrsamseinrichtungen

4.7.1.   Der EWSA bekräftigt seine Ablehnung der Unterbringung von Asylbewerbern und irregulären Einwanderern unter Haftbedingungen; ihre Einweisung in Gewahrsamseinrichtungen muss eine außerordentliche Maßnahme bleiben (25).

4.7.2.   Gegenwärtig kommt es in einigen Mitgliedstaaten zu Ingewahrsamnahmen von längerer Dauer, die hinsichtlich der Umstände und Bedingungen inakzeptabel sind und unter dem Aspekt der Grundrechte, einschließlich der ordnungsgemäßen Verwaltung im Sinne von Artikel 41 der Charta, eingehend untersucht werden sollten.

4.7.3.   Der EWSA fordert mehr Transparenz hinsichtlich der Gewahrsamseinrichtungen innerhalb und außerhalb der EU, die Unterrichtung des UNHCR über die Situation der internierten Personen sowie die Möglichkeit der angemessenen Unterstützung der Betroffenen durch Nichtregierungsorganisationen.

4.7.4.   Der EWSA ist der Auffassung, dass Schwangere und Minderjährige des besonderen Schutzes bedürfen und nicht in solchen Einrichtungen festgehalten werden dürfen.

4.8.   Personen „ohne Papiere“

4.8.1.   Der Ausschuss vertritt die Ansicht, dass Personen „ohne Papiere“ nicht mit Personen „ohne Rechte“ gleichzusetzen sind, weshalb die EU und die Mitgliedstaaten ihre Grundrechte schützen müssen.

4.8.2.   Der Terminus „illegale Einwanderung“ bedarf, wenn er sich auf emigrierte Personen bezieht, einer gewissen Präzisierung. Obwohl es nicht legal ist, in einen Staat ohne Papiere und Genehmigungen einzureisen, handelt es sich in diesen Fällen nicht um Straftäter. Die Verbindung von irregulärer Einwanderung und Kriminalität, so wie sie in zahlreichen Medienbeiträgen und einigen politischen Reden hergestellt wird, entspricht nicht der Realität und leistet der Ängstlichkeit und Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung des Aufnahmelands Vorschub.

4.8.3.   Nach dem Dafürhalten des Ausschusses müssen einige Mitgliedstaaten den Schutz der Grundrechte der Einwanderer ohne Papiere verbessern, und die Gemeinschaft sollte sie als eine besonders schutzwürdige Gruppe betrachten, indem sie deren Arbeitsausbeutung unterbindet und den Zugang zu Gesundheits- und anderen Sozialdiensten sowie zum Schulunterricht für Minderjährige sicherstellt.

4.8.4.   Die Bekämpfung des Menschenhandels (von Kindern, Frauen und Männern) zum Zweck ihrer sexuellen Ausbeutung oder der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft muss gemäß Artikel 5 Absatz 3 der Charta verstärkt werden. Die Mitgliedstaaten müssen die Opfer wirksam schützen, indem sie ihre Regularisierung und die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden vereinfachen.

4.9.   Regularisierungsmaßnahmen

4.9.1.   Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass das Handeln der Regierungen von Heuchelei zeugt. Die Rückkehrpolitik ist nicht die einzige Antwort auf Situationen der Irregularität. Zahlreiche Mitgliedstaaten haben Verfahren zur Regularisierung betroffener Einwanderer entwickelt in der Annahme, dass zur Gewährleistung der Grundrechte und zur Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Erfordernisse eine Regularisierung unter genau definierten Bedingungen erfolgen muss.

4.9.2.   Der EWSA teilt die Auffassung, dass es notwendig ist, den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Regularisierungen zu verbessern und eine Reihe europäischer Leitlinien für ihre Umsetzung auf der Grundlage der Verpflichtung zu erarbeiten, die der Rat im Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl eingegangen ist (26), nämlich Regularisierungen im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften aus humanitären und wirtschaftlichen Gründen vorzunehmen.

4.9.3.   Die auf einer Abschiebungsanordnung beruhende Rückführung von Personen, deren Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen ist, sollte nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Zuvor muss festgestellt werden, ob diese Personen beabsichtigen, ihren Aufenthalt zu verlängern.

4.9.4.   Der EWSA vertritt die Ansicht, dass in einer demokratischen Gesellschaft im Sinne der Urteile des EGMR (27) eine Bewertung der Notwendigkeit von Abschiebungen vorgenommen werden muss (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). Er empfiehlt den Mitgliedstaaten, die Möglichkeit zur Regularisierung der Situation dieser Personen zu nutzen, wie sie in Artikel 6 Absatz 4 der Rückkehrrichtlinie vorgesehen ist.

4.9.5.   Des Weiteren gilt es, die Wirkung (und die Umsetzbarkeit) der Abschiebung hinsichtlich des Grundrechts auf Privat- und Familienleben gemäß Artikel 7 der Charta zu berücksichtigen.

4.10.   Integrationsmaßnahmen

4.10.1.   Der EWSA hat mehrere Initiativstellungnahmen erarbeitet, um in der EU proaktive Integrationsmaßnahmen anzuregen, die eine doppelte Ausrichtung haben: auf die Aufnahmegesellschaft und auf die Einwanderer. Integration ist ein wechselseitiger sozialer Prozess, der sich in der Gesellschaft selbst abspielt, zwischen den Einwanderern und der aufnehmenden Gesellschaft und zwischen dieser und den Einwanderern.

4.10.2.   Der EWSA befürwortet ein europäisches Integrationskonzept angesichts der Tatsache, dass jeder Mitgliedstaat über sein eigenes Rechtswesen und seine sozialen Einrichtungen sowie über unterschiedliche kulturelle Systeme und Modelle verfügt.

4.10.3.   Ein gemeinsames europäisches Konzept erbringt für die Integrationsmaßnahmen und -verfahren einen sehr großen Mehrwert, der in ihrer Verzahnung mit den übrigen Politikbereichen der EU besteht, z.B. mit der Lissabon-Strategie, der Beschäftigungspolitik, der Sozialagenda und der Kohäsionspolitik. Außerdem stärkt es die Querverbindungen zwischen der Integration und den Werten und Grundsätzen der EU, so wie sie in der Charta und der EMRK verankert sind.

4.10.4.   Der Ausschuss hat 2008 an den Aktivitäten anlässlich des Europäischen Jahres des interkulturellen Dialogs teilgenommen, damit dieser Dialog angesichts der Vielfalt der europäischen Gesellschaften die Integration im Allgemeinen und eine integrativere Unionsbürgerschaft im Besonderen fördert. Dazu hat der EWSA die Zusammenstellung von Handbüchern vorgeschlagen (28).

4.10.5.   Der EWSA schlägt ein positives Integrationskonzept vor. Gleichwohl wird der Integrationsbegriff von einigen Regierenden negativ besetzt, nämlich als ein neues Diskriminierungsinstrument, als ein neues Hindernis für die Gleichheit und den Zugang zu den Grundrechten. Der EWSA ist der Ansicht, dass eine solche Vorgehensweise im Widerspruch zu Artikel 21 (Recht auf Nichtdiskriminierung) und Artikel 22 (Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen) der Charta steht.

4.10.6.   Ein nachahmenswertes Beispiel ist die Einrichtung von Foren und Beratungsplattformen, an denen sich die Zivilgesellschaft auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene beteiligt, weshalb der Ausschuss die Mitgliedstaaten ermuntert, diesem Beispiel zu folgen. Das vor Kurzem gemeinsam von der Europäischen Kommission und dem EWSA geschaffene Europäische Integrationsforum ist ein äußerst wichtiges Instrument zur Stärkung der Integration mit einem europäischen Fokus.

5.   Eine integrativere Unionsbürgerschaft

5.1.   Einige politische Entscheidungsträger definieren die nationale Identität und die europäische Identität vom Standpunkt eines „ausschließenden Nationalismus“ aus, indem sie die gegenwärtige Vielfalt der europäischen Gesellschaften und die Unterschiedlichkeit der Menschen in ethnischer, nationaler, religiöser oder kultureller Hinsicht einfach ausklammern.

5.2.   Unsere demokratischen Gesellschaften sind pluralistisch und reich an Unterschieden. Jeder europäische Bürger und jede europäische Bürgerin ist gleichsam ein Schmelztiegel mehrer Identitäten. Die europäischen Demokratien sind freie und offene Gesellschaften und müssen auf der Integration aller Bürger beruhen - ungeachtet ihrer persönlichen Identitätsmerkmale.

5.3.   Die Qualität der Demokratie kann leiden, wenn die Bürgerrechte auf eine kurzsichtige, Identitätsunterschiede ausblendende Weise eingeschränkt werden. Integrationsmaßnahmen und Einwanderungsbestimmungen dürfen nicht als politische Alibis mit dem Ziel dienen, Einwanderer und Angehörige von Minderheiten von den Bürgerrechten auszuschließen.

5.4.   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Grundlage für unsere Demokratien verbreitert werden sollte, indem neue Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten aufgenommen werden. Die Rechte der nationalen und europäischen Bürger müssen der gesamten Vielfalt unterschiedslos (29) Rechnung tragen.

5.5.   Der EWSA verabschiedete eine Initiativstellungnahme (30) für den Konvent, der den (gescheiterten) Verfassungsvertrag erarbeitete, um zu erreichen, dass die Unionsbürgerschaft auch langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen zugänglich gemacht wird. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission und das Europäische Parlament diesen Vorschlag in die Zielsetzungen für die neue Legislaturperiode aufnehmen sollten.

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  KOM(2009) 262 endg. vom 10.6.2009.

(2)  Europäisches Integrationsforum und EU-Website zum Thema Integration.

(3)  ABl. C 303 vom 14.12.2007, S. 1.

(4)  Stellungnahme des EWSA im ABl. C 88 vom 11.4.2006, S. 37.

(5)  Stellungnahme des EWSA im ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 78.

(6)  Stellungnahme des EWSA im ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 91.

(7)  Stellungnahme des EWSA im ABl. C 302 vom 7.12.2004, S. 49.

(8)  „Ein Programm für Europa“ unter: http://www.eesc.europa.eu/documents/publications/pdf/booklets/EESC-2009-10-DE.pdf.

(9)  Bericht der Europäischen Kommission über die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (KOM(2009) 205 endg. vom 29.4.2009).

(10)  Dies stünde in Einklang mit Artikel 60 des Lissabon-Vertrags.

(11)  Stellungnahme des EWSA im ABl. C 286 vom 17.11.2005, S. 20.

(12)  Im Rahmen des Richtlinienvorschlags, den die Kommission in den nächsten Monaten vorlegen wird.

(13)  KOM(2007) 638 endg. Artikel 12 Absatz 2 Buchstaben b) und c). Nach dem Vorschlag können die Mitgliedstaaten die Gewährung von Studienbeihilfen und den Zugang zu öffentlichem Wohnraum auf solche Personen beschränken, die ein Aufenthaltsrecht von mindestens drei Jahren haben.

(14)  Dies wurde durch das Urteil des EuGH in der Rechtssache Europäisches Parlament gegen Rat C-540/03 bestätigt.

(15)  KOM(2008) 610 endg. vom 8.10.2008.

(16)  KOM(2008) 69 endg. vom 13.2.2008.

(17)  Richtlinie 2008/115/EG.

(18)  Z.B. Artikel 12 Absatz 1 und 2, 13 Absatz 1 und 2, 13 Absatz 3 und 4, 14 Absatz 1 und 2 der Richtlinie.

(19)  Pressemitteilung „United Nations experts express concern about the proposed European Union Return Directive“ [UN-Experten äußern sich besorgt über den Vorschlag für eine EU-Rückkehrrichtlinie] vom 18.7.2008.

(20)  Artikel 15 Absatz 1.

(21)  Artikel 15 Absatz 5 und 6.

(22)  Verordnung (EWG) Nr. 562/2006 (Schengener Grenzkodex), ABl. L 105 vom 13.4.2006.

(23)  Artikel 19 der Grundrechtscharta stützt sich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg und insbesondere auf das Urteil vom 17.12.1996 in der Rechtssache Ahmed gegen Österreich, Sgl. 1996, VI-2006 und auf das Urteil in der Rechtssache Soering vom 7.7.1989.

(24)  Darauf hat das EuGH in seinem Urteil zur Rechtssache Europäisches Parlament vs. Rat (C-133/06) hingewiesen.

(25)  Siehe die Stellungnahme des EWSA vom 16.7.2009 zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (Neufassung)“, Berichterstatterin: An LE NOUAIL-MARLIÈRE (ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 110).

(26)  Rat der EU, 13440/08, 24.9.2008.

(27)  Z.B. Boultif gegen Schweiz (Nr. 5473/00, §§ 39, 41 und 46, 2.11.2001, ECHR 2001-IX) und Üner gegen die Niederlande [GC] (Nr. 46410/99, 18.10.2006, § 58).

(28)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 185 vom 8.8.2006, S. 42.

(29)  Artikel 13 EG-Vertrag.

(30)  Stellungnahme des EWSA im ABl. C 208 vom 3.9.2003, S. 76.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/36


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Energie und Klimawandel als zentrale Aspekte der erneuerten Lissabon-Strategie“

(Initiativstellungnahme)

(2010/C 128/07)

Hauptberichterstatterin: Ulla SIRKEINEN

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Juni 2008, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Energie und Klimawandel als zentrale Aspekte der erneuerten Lissabon-Strategie“ (Initiativstellungnahme).

Das Präsidium beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt (Beobachtungsstelle für die Lissabon-Strategie) mit der Vorbereitung der Arbeiten.

In Anbetracht der Arbeiten beschloss der Ausschuss auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 4. November), Ulla SIRKEINEN zur Hauptberichterstatterin zu bestellen, und verabschiedete mit 164 gegen 6 Stimmen bei 12 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Klimawandel und die Sicherung der Energieversorgung sind zwei der größten Herausforderungen dieses Jahrhunderts. Produktions- und Verbrauchsmuster müssen sich in Richtung eines geringeren Treibhausgasausstoßes und eines geringeren Energieverbrauchs verändern. Einige Produktionen werden verschwinden, andere aufblühen und gedeihen. Vorhandene Arbeitsplätze werden abgebaut werden und neue entstehen; Unterstützungsmaßnahmen sind erforderlich. Der Bedarf an Kompetenzen und Wissen wird sich ändern. Forschung und umfangreiche Investitionen werden gebraucht.

1.2.   Statt politischer Absichtserklärungen sind nun dringend praktische Maßnahmen gefragt, was jedoch nicht leicht sein wird. Unsere politischen Entscheidungsträger müssen den Bürgerinnen und Bürgern diese Herausforderungen und die hieraus resultierenden Folgen klar vor Augen führen und die erforderlichen Maßnahmen sorgfältig planen. Ohne die Unterstützung durch die Bürger und die Zivilgesellschaft kann kein Wandel vollzogen werden. Viele Fragen bezüglich der Auswirkungen politischer Beschlüsse der EU bleiben offen und bedürfen weiterer Untersuchungen und Informationen seitens der Kommission.

1.3.   Konkrete Schritte hin zu einer kohlenstoffarmen Gesellschaft dürfen auch vor dem Hintergrund der aktuellen Konjunkturabschwächung - und sei sie noch so ernsthaft - nicht aufgeschoben werden. Die Krise könnte und sollte als Chance für einen Neustart mit einem anderen Ansatz in Bezug auf Wachstum gesehen werden. Der EWSA unterstreicht insbesondere die Bedeutung eines internationalen Übereinkommens in Kopenhagen.

1.4.   In die erneuerte Lissabon-Strategie muss ein Aktionsplan für eine kohlenstoffarme Wirtschaft aufgenommen werden. In diesem Rahmen muss den drei Pfeilern der nachhaltigen Entwicklung Rechnung getragen werden: Wirtschaft, Umwelt und Soziales; daneben dürfen auch die Gesamtziele Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung nicht außer Acht gelassen werden. Ein wettbewerbsfähiger Wirtschaftsrahmen ist eine grundlegende Voraussetzung für das Erreichen der klima- und energiepolitischen Ziele; zudem können energie- und klimapolitische Maßnahmen unter der Voraussetzung eines geeigneten Ansatzes zur Schaffung von Wachstum und Beschäftigung beitragen.

1.5.   Schwerpunktbereiche für Maßnahmen sind die technologische Entwicklung und Investitionen, Bewusstsein und Verhalten, Gesellschaft und Schulungs- und Bildungsbedarf sowie die internationale Dimension. Die Erzielung realer und nachhaltiger Ergebnisse erfordert sowohl Zeit als auch Ressourcen.

1.6.   Der EWSA empfiehlt Folgendes:

Die EU sollte sich jetzt, nachdem ein umfassender Rechtsrahmen für Energie und Klimaschutz aufgestellt worden ist, auf die praktische Umsetzung konzentrieren.

Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz und für Energieeinsparungen, Investitionen in eine ausreichende Energieerzeugungs- und -versorgungsinfrastruktur, einschließlich intelligenter Stromnetze, ein liberalisierter Energiebinnenmarkt und eine starke Position der EU auf der internationalen Bühne sind für die Sicherung der Energieversorgung erforderlich und fördern dabei auch die Klimaschutzziele.

Wirksame politische Maßnahmen sollten in die integrierten Leitlinien, in die länderspezifischen Empfehlungen und die nationalen Reformprogramme der künftigen Lissabon-Strategie einfließen.

Die EU und die Mitgliedstaaten müssen sich auf die technologische Entwicklung konzentrieren und im scharfen internationalen Wettbewerb mehr in Forschung, Entwicklung und Innovation für umweltfreundliche Technologien investieren und dazu eventuell Mittel aus dem Gemeinschaftshaushalt umverteilen.

Es muss für günstige Rahmenbedingungen für die Markteinführung von und Investitionen in neue Technologien gesorgt werden.

Um Verbraucher zu Verhaltensänderungen anzuregen, müssen die Kommission und andere einschlägige Akteure für verlässliche und zutreffende Informationen, eine Auflistung bewährter Verfahren und zielführende Unterstützungsmaßnahmen sorgen.

Bildungs- und Schulungsmöglichkeiten, insbesondere das lebenslange Lernen, müssen allen offen stehen, damit Anpassungen an die Änderungen in Produktions- und Verhaltensmustern möglich sind.

Die Auswirkungen von Maßnahmen auf die Energiepreise müssen im Auge behalten werden, um das Risiko der Energiearmut und eine mögliche Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit sowie verheerende Auswirkungen von Förderregelungen für erneuerbare Energieträger zu vermeiden.

Die EU muss alle erdenklichen Bemühungen entfalten, um zu einem internationalen Klimaschutzübereinkommen zu gelangen, das weltweit für alle die gleichen Ausgangsbedingungen schafft, einschließlich eines internationalen Handelssystems oder kompatibler Systeme.

Die Zivilgesellschaft und die Sozialpartner müssen aktiv in die gewaltige Anstrengung der Umgestaltung unserer Volkswirtschaften eingebunden werden. Der EWSA ist bereit, seinen Teil der Verantwortung zu übernehmen.

Begründung

2.   Einleitung: Sachstand

Energiepolitik

2.1.   Die Energiepolitik der EU verfolgt drei parallele Ziele: Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Umweltschutz einschließlich Eindämmung des Klimawandels. Ggf. ist der Versorgungssicherheit Priorität einzuräumen. Eine unzureichende Energieversorgung oder auch Energieerzeugung wird zu einer immer realeren Bedrohung, vor allem wenn die wirtschaftliche Erholung einsetzt.

2.2.   Die Umwelt- und Klimaauswirkungen der Erzeugung und großmaßstäblichen Nutzung von Energie sind Gegenstand von EU-Rechtsvorschriften. Die EU hat in ihrem Emissionshandelssystem neue Obergrenzen für den Schadstoffausstoß in der Energieerzeugung, den energieintensiven Wirtschaftszweigen und dem Luftverkehr beschlossen. Die praktischen Auswirkungen dieser Vorschläge sind trotz Folgenabschätzungen auf aggregierter Ebene noch nicht bekannt.

2.3.   Energieeffizienz und Energieeinsparung in allen Bereichen der Energienutzung sowie in der Energieerzeugung ist der wesentliche und potenzialträchtige Baustein für Energiesicherheit und geringere Emissionen. Die EU hat hier schon für verschiedene Maßnahmen gesorgt, weitere politische Maßnahmen sind in Vorbereitung. Praktische Maßnahmen in den Mitgliedstaaten sind jedoch noch ein rares Gut.

2.4.   Die Energiequellen und Energieversorgungswege müssen diversifiziert werden, und der Energiemix sollte auf kohlenstoff- und emissionsarme Alternativen - wie erneuerbare Energien und Kernkraft - ausgerichtet werden, um den Umwelt- und Klimaanforderungen gerecht zu werden. Für Beschlüsse über den Energiemix und seine Optimierung sind die Mitgliedstaaten zuständig, doch können EU-Politiken für erneuerbare Energien und auch Umwelt- und Klimaschutzvorschriften eine Richtung für die Entscheidung vorgeben.

2.5.   Europa muss in internationalen Energiebeziehungen und auf den internationalen Energiemärkten als stärkerer Akteur auftreten. Die 2009 erneut aufgetretenen Probleme im Zusammenhang mit Gaslieferungen könnten den letzten Anstoß für die schon lange überfällige Entschlossenheit zur Zusammenarbeit geben.

Klimaschutzmaßnahmen

2.6.   Das Energie- und Klimaschutzpaket aus dem Jahr 2008 enthält Maßnahmen in allen Bereichen, um die hinlänglich bekannten „20-20-20“-Ziele bis 2020 zu erreichen. Das Hauptziel bei den Treibhausgasemissionen würde im Rahmen eines ausreichend ehrgeizigen und umfassenden internationalen Übereinkommens auf 30 % erhöht werden.

2.7.   Für einen großen Teil der Maßnahmen zur Emissionsverringerung sind die Mitgliedstaaten zuständig. Über viele Einzelheiten der Rechtsvorschriften, insbesondere in Bezug auf das Emissionshandelssystem und das Problem des „carbon leakage“, d.h. der Verlagerung von CO2-Emissionen in Drittländer, muss noch auf EU-Ebene entschieden werden.

2.8.   Noch ist nicht sicher, wie das ganze System in der Praxis funktionieren wird. Wichtige Fragen sind z.B. die Bepreisung von CO2, steigende Energiepreise aufgrund von Fördermaßnahmen für erneuerbare Energieträger und die Kosten für Haushalte aufgrund von Maßnahmen in Bereichen, die nicht unter das EU-ETS fallen. Die Kommission muss mehr Untersuchungen durchführen und Informationen bereitstellen.

2.9.   Der Abschluss der Verhandlungen über ein internationales Klimaschutzübereinkommen wird für Dezember 2009 in Kopenhagen erwartet. Der EWSA hat seine diesbezüglichen Ansichten in einer gesonderten Stellungnahme dargelegt. Der Europäische Rat hat sich auf die Grundzüge für die Vorbereitung des Treffens in Kopenhagen verständigt, einschließlich der Vorbereitung einer Lastenaufteilung zwischen den Mitgliedstaaten, um die ärmsten Länder zu unterstützen.

3.   Themen, die in der erneuerten Lissabon-Strategie und in der Klimapolitik aufgegriffen werden müssen

3.1.   Eine kohlenstoffarme Wirtschaft erfordert einen umfassenden industriellen Wandel. Die Emissionen müssen verringert werden, und die Nutzung von Energie und natürlichen Ressourcen muss vom Wirtschaftswachstum abgekoppelt werden. Produktions- und Verbrauchsmuster müssen sich ändern. Einige Produktionen werden verschwinden, andere aufblühen und gedeihen, vorhandene Arbeitsplätze werden abgebaut werden und neue entstehen. Der Bedarf an Kompetenzen und Wissen wird sich ändern. Umfangreiche Investitionen sind erforderlich, ebenso wie auch die entsprechenden sozialen Unterstützungsmaßnahmen.

3.2.   Unsere politischen Entscheidungsträger müssen dies und die hiermit verbundenen Folgen für unseren Alltag deutlich machen. Die Regierungen müssen deutlich machen, was nötig ist, wie etwa die Frage, wie viel fossile Energie substituiert werden muss und wodurch, oder wie viel Energie jeder von uns einsparen muss. Ohne die Unterstützung und das aktive Handeln der Bürgerinnen und Bürger ist kein Wandel möglich. Die Zivilgesellschaft spielt eine zentrale Rolle.

3.3.   Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Sicherung von Europas Energieversorgung dürfen auch vor dem Hintergrund der aktuellen Wirtschaftskrise nicht aufgeschoben werden. Maßnahmen zur Abschwächung der Wirtschaftskrisen sollten die Ziele einer kohlenstoffarmen Wirtschaft unterstützen und umgekehrt. Die Krise könnte und sollte als Chance für einen Neustart mit einem anderen Ansatz in Bezug auf Wachstum gesehen werden.

3.4.   Der Großteil der politischen Maßnahmen und Rechtsvorschriften im Energie- und Klimabereich für die kommenden Jahre besteht bereits - mit der großen und wesentlichen Ausnahme eines internationalen Übereinkommens. Auf nationaler Ebene ist nun intensives Aktivwerden angesagt, und noch ist nicht bekannt, wie all dies funktionieren wird. Änderungen bei den Zielen oder den Rechtsvorschriften müssen nun vermieden werden, um allen Akteuren die Möglichkeit zu geben, ihre Maßnahmen vorzubereiten und durchzuführen, und das mit größtmöglicher und langfristiger Planungssicherheit. Die Bemühungen müssen sich nun auf die praktische Umsetzung richten.

3.5.   In die erneuerte Lissabon-Strategie muss ein Aktionsplan für eine kohlenstoffarme Wirtschaft aufgenommen werden. In diesem Rahmen muss den drei Pfeilern der nachhaltigen Entwicklung Rechnung getragen werden: Wirtschaft, Umwelt und Soziales; daneben dürfen auch die Gesamtziele Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung nicht außer Acht gelassen werden.

3.6.   Sorgfältig geplante und auf ihre Wirtschaftlichkeit und Machbarkeit geprüfte geeignete Maßnahmen sollten in die Strukturpolitik im Rahmen der integrierten Leitlinien, der länderspezifischen Empfehlungen und nationalen Reformprogramme einfließen. Die Kommission sollte ihre Kontrolle der Umsetzung durchsetzen. Zusätzlich zum BIP müssen weitere Indikatoren eingesetzt werden, um die Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit verfolgen zu können.

3.7.   Der Wandel wird einerseits von der technischen Entwicklung und andererseits von Mentalitäts- und Verhaltensänderungen angetrieben. Beides braucht Zeit, um reale und dauerhafte Ergebnisse zu erzielen. Weitere wichtige Fragen sind Investitionen, gesellschaftliche und bildungsbezogene Aspekte und die internationale Dimension.

Technologie

3.8.   Der weltweite Technologie-Wettbewerb ist intensiv. Die USA haben erhebliche Ressourcen für die Erforschung und Entwicklung von Technologien zur Eindämmung des Klimawandels bereitgestellt. Ähnliche Tendenzen sind in anderen Industrieländern und zunehmend auch in großen, sich rasch entwickelnden Entwicklungsländern zu beobachten.

3.9.   Europa muss sein Potenzial ausschöpfen und sich als Vorreiter bei „sauberen“ Technologien in den Bereichen erneuerbare Energien und Klimaschutz etablieren. Dies ist eine sehr anspruchsvolle und drängende Aufgabe, da z.B. Japan beim Hybridauto und dem E-Auto vorne liegt und China die EU bei Windtechnologien und die USA bei der Photovoltaik bald überflügeln könnte. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Bepreisung von Kohlendioxid allein als Anreiz für einen technologischen Wandel ausreicht.

3.10.   Die Kommission hat verschiedene Initiativen zur Förderung sauberer/erneuerbarer Energie- und Klimatechnologien vorgelegt. Für diese Zwecke sollten mehr Mittel aus dem EU-Haushalt zur Verfügung gestellt werden.

3.11.   Die effizientesten Technologien werden nur aus Vielfalt und einem gesunden Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Ansätzen, Innovationen und Verfahren hervorgehen. Das bedeutet, dass jedwede nutzbringende Technologie, wie etwa Kernenergiesysteme der Generation IV und Kernfusion, keinesfalls vorzeitig verworfen, sondern konsequent weiterentwickelt werden sollte.

3.12.   Das umfangreiche Entwicklungs- und Verbreitungspotenzial der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sollte genutzt werden.

3.13.   Erneuerbare Energietechnologien, die sich noch weit von der Wirtschaftlichkeit befinden, sollten nicht mittels hoher Förderkosten (oder erzwungener Abnahmepreise) verfrüht in den Markt gedrängt werden. Diese Mittel sollten stattdessen solange in die Erforschung und Entwicklung nachhaltiger und CO2-vermeidender Techniken investiert werden, bis sich deren Rentabilität abzeichnet.

3.14.   Der Anteil der EU an der Finanzierung von FuE und Innovation ist im Vergleich zu den von den Mitgliedstaaten bereitgestellten Mitteln gering. Derzeit fallen die Anteile in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich aus. Die Aufstockung der insbesondere für FuE für saubere Technologien vorgesehenen Ressourcen, einschließlich der Einnahmen aus der Versteigerung von Emissionsrechten im Rahmen des ETS ist von wesentlicher Bedeutung; durch eine effiziente Zusammenarbeit sollten eine kritische Masse und Exzellenz von Weltniveau angestrebt werden. Diese Maßnahmen müssen spürbar in die Leitlinien und nationalen Aktionspläne der erneuerten Lissabon-Strategie einfließen.

Investitionen

3.15.   Neue Technologien und Innovationen kommen durch Investitionen in Haushalten, Unternehmen und im öffentlichen Sektor zum Einsatz. Investitionen sind sowohl für die wirtschaftliche Entwicklung und die Beschäftigung als auch für das Erreichen der klima- und energiepolitischen Ziele erforderlich.

3.16.   Der Investitionsbedarf in die Energieerzeugungs- und -versorgungsinfrastruktur ist enorm und dringend. Z.B. werden im nächsten Jahrzehnt ca. 1 000 Mrd. EUR benötigt, um überalterte Stromerzeugungskapazitäten zu ersetzen, auch wenn die Nachfrage nicht zunimmt. Insbesondere grenzüberschreitende Versorgungsnetze und die Möglichkeiten für die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energieträgern in die Stromnetze müssen erheblich verbessert werden. Der Investitionsstillstand in der Rezession und seine möglichen längerfristigen Folgen geben Anlass zu ernsthafter Besorgnis.

3.17.   Investitionen erfordern gewisse Rahmenbedingungen. Dies umfasst einen gesunden Wirtschaftsrahmen, Marktnachfrage und Marktzugang. Der Rechtsrahmen muss solide und verlässlich sein, um administrative und finanzielle Belastungen von Unternehmen zu vermeiden. Nur rentable Unternehmen können in die technologische Entwicklung und die Übernahme neuer Technologien investieren.

3.18.   Ein wettbewerbsfähiger Wirtschaftsrahmen ist daher eine grundlegende Voraussetzung für das Erreichen der klima- und energiepolitischen Ziele. Zudem können diese Ziele unter der Voraussetzung eines geeigneten politischen Ansatzes Wachstum und Beschäftigung schaffen.

3.19.   Die finanziellen Mittel werden unter Druck geraten, wenn FuE und Investitionserfordernisse innerhalb der EU mit der notwendigen Finanzierung der Eindämmung des Klimawandels und der Anpassung an seine Auswirkungen in den Entwicklungsländern konkurrieren müssen. Den Mitgliedstaaten werden Einkünfte aus der Versteigerung von Emissionsrechten zur Verfügung stehen, doch können diese nicht den gesamten Bedarf decken. Die Entscheidungsträger müssen eine Zunahme der Belastung für Unternehmen (wodurch ihre Investitionen in neue Technologien gefährdet würden) sorgfältig abwägen.

Bewusstsein und Verhalten

3.20.   Um ihr Verhalten ändern zu können, müssen die Menschen wissen, worum es geht und was geändert werden muss. Sie müssen stärker für das sensibilisiert werden, was sie selbst tun können, und es muss die notwendige Bildungsarbeit geleistet werden. Diese Aufgabe obliegt sowohl den Regierungen als auch den Organisationen der Zivilgesellschaft. Ein hilfreiches Instrument wäre eine von der Kommission bereitgestellte Auflistung bewährter Verfahren.

3.21.   Es ist zwar sehr positiv hervorzuheben, dass der Energieverbrauch und die Treibhausgasemissionen heute beim Marketing und bei Ratschlägen für die Verbraucher nach ganz oben gerückt sind, doch bedauerlicherweise gibt es auch irreführende Informationen. Hiergegen müssen die einschlägigen Akteure vorgehen.

3.22.   Die EU stützt sich in ihrer Klimapolitik zu Recht weitgehend auf Marktinstrumente. Preissignale dürften das Verhalten von Verbrauchern und Unternehmen verändern. Dies allein wird jedoch nicht ausreichen, um alle notwendigen Veränderungen herbeizuführen. In einigen Fällen, wie etwa im Bausektor, sind Rechtsvorschriften erforderlich, in einigen anderen Fällen wird positive Unterstützung gebraucht.

3.23.   Eine bessere Energieeffizienz ist normalerweise auch mit finanziellen Einsparungen verbunden. Starke Anreize sind insbesondere in den Fällen mit einer relativ langen Amortisationsdauer nötig, bzw. dann, wenn derjenige, der die Kosten trägt, nicht auch den Nutzen hat. Der Ausschuss hat der Kommission bereits bei früherer Gelegenheit vorgeschlagen, die Machbarkeit sektorspezifischer Ziele für die Energieeffizienz zu prüfen, vor allem bei binnenmarktrelevanten Sektoren.

3.24.   Zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen auf dem Binnenmarkt handhabt die EU verpflichtende gemeinsame Regeln für staatliche Beihilfen.

Gesellschaftliche und Bildungsaspekte

3.25.   Verbrauchsmuster ändern sich im Laufe der Zeit, daher ändert sich auch die Produktion. Einer Studie von EGB und SDA (1) zufolge ist der Netto-Beschäftigungseffekt von Maßnahmen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen um ca. 40 % bis 2030 leicht positiv. Dieses Ergebnis und dieser Ansatz werden hingegen von anderer Seite als zu optimistisch betrachtet (2). Die Studie kommt zu dem Schluss, dass jedoch erhebliche Veränderungen bei den Tätigkeitsstrukturen und den Qualifikationsanforderungen stattfinden werden. Die Veränderungen innerhalb der Sektoren werden umfassender sein als zwischen den Sektoren. Beispielsweise wird eine Beschäftigungsverlagerung von der Stromerzeugung zu mit Energieeffizienz verbundenen Tätigkeiten bzw. vom Straßentransport auf Schiene und Wasser erwartet.

3.26.   Es herrscht ein großer Bedarf an allgemeiner und beruflicher Bildung, um die Unternehmen, die Dienste des öffentlichen Sektors und die Beschäftigten in die Lage zu versetzen, mit den Veränderungen zurecht zu kommen. Dieser Bedarf, einschließlich des lebenslangen Lernens, war das Hauptthema einer früheren EWSA-Stellungnahme zum Thema Klimawandel und Lissabon-Strategie.

3.27.   Die Kommission hat vor kurzem Vorschläge für eine bessere Antizipation von Qualifikationserfordernissen vorgelegt, die für eine zeitgerechte Reaktion in Bezug auf die allgemeine und berufliche Bildung unerlässlich ist. Eine bessere Antizipation, eine bessere Abstimmung von Angebot und Nachfrage von Qualifikationen sowie verbesserte Maßnahmen für lebenslanges Lernen sind selbstverständliche Bestandteile der erneuerten Lissabon-Strategie.

3.28.   Da fast jeder auf dem Arbeitsmarkt von diesen Veränderungen betroffen sein wird, muss allen die Möglichkeit gegeben werden, sich fortzubilden, um eine Anpassung an die veränderten Anforderungen zu ermöglichen. Für diejenigen, die auch dann noch Probleme haben, müssen umfassende Netze der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten aufrechterhalten werden.

3.29.   Auch sich verändernde Kostenstrukturen aufgrund von energie- und klimapolitischen Maßnahmen wirken sich auf die Menschen aus. Eine besonders intensive Überwachung ist bei den Auswirkungen sich verändernder Energiepreise erforderlich. Energiepreise unterliegen aus verschiedenen Gründen starken Schwankungen; ein Ziel der Energiepolitik der EU besteht in der weitest möglichen Eindämmung dieser Preisschwankungen.

3.30.   Umwelt- und vor allem klimapolitische Maßnahmen treiben die Energiepreise nach oben, mit dem Ziel einer Senkung des Energieverbrauchs. Der Nachteil dieses politischen Ansatzes besteht jedoch darin, dass hierdurch die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie beeinträchtigt wird und die Bürger der Gefahr der Energiearmut ausgesetzt werden. Energieeinsparungen als Reaktion auf höhere Preise erfordern in der Regel Investitionen in neue Geräte, was Zeit brauchen kann. Ein sehr ausgewogener Ansatz bezüglich der Energiepreise, bei dem diese Zeitspannen berücksichtigt werden, ist nötig, damit gute, dauerhafte Ergebnisse erzielt und keine wirtschaftlichen und sozialen Probleme geschaffen werden.

Die internationale Dimension

3.31.   Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels, die nur in Europa ergriffen werden, haben keinen großen Einfluss, da Europas Treibhausgasausstoß einen Anteil von 14 % des weltweiten Ausstoßes ausmacht und dieser Anteil sinkt. Ohne Maßnahmen aller großen Volkswirtschaften können die Emissionen nicht so weit reduziert werden, dass die Erderwärmung auf 2 Grad Celsius begrenzt werden kann, und Europa wird seine Wettbewerbsfähigkeit einbüßen und dadurch das Wohlergehen seiner Bürger gefährden. Eine Einigung in Kopenhagen ist daher dringend erforderlich, und die EU muss auch weiterhin die Führung übernehmen.

3.32.   Das Ziel in Kopenhagen muss im Sinne der Kommission in Folgendem bestehen: „ein umfassendes internationales Klimaschutzabkommen, das vergleichbare Zusagen der anderen Industriestaaten und angemessene Aktionen der Entwicklungsländer verbindlich festlegt“. Ein wichtiges Element ist ein internationales Handelssystem, oder zumindest kompatible Systeme, um sowohl tatsächliche Emissionsverringerungen als auch gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle zu gewährleisten.

3.33.   Es liegt auf der Hand, dass arme Entwicklungsländer ohne wirtschaftliche Unterstützung weder die Eindämmung des Klimawandels noch die Anpassung an seine Auswirkungen werden bewältigen können. Die Entwicklung eines Technologietransfers mit eindeutigen Regeln, einschließlich des Schutzes der Rechte des geistigen Eigentums, und des Clean Development Mechanism sind wichtige Elemente.

3.34.   Das internationale Übereinkommen wird auch gebraucht, damit Europa zu einem echten Vorreiter für bessere Klimaschutz- und Energietechnologien wird. Ansonsten wäre die Nachfrage nach diesen Technologien viel schwächer.

3.35.   Die EU muss ihre Position und ihre Aktivitäten auf internationaler Ebene ausbauen, um Europas Energieversorgung zu sichern. Eine umfassende Energieaußenpolitik, wie sie die Union anstrebt, wäre sehr hilfreich. Wie der EWSA in früheren Stellungnahmen zum Ausdruck brachte, muss die EU auch eine Vorreiterrolle im Hinblick auf eine verantwortungsbewusste und nachhaltige globale Energiestrategie einnehmen.

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Die von der Europäischen Kommission, GD Umwelt, in Auftrag gegebene Studie zum Thema Klimawandel und Beschäftigung wurde von einem Konsortium unter Leitung des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB) und der Social Development Agency (SDA) durchgeführt, zu dem auch Syndex, das Wuppertal Institut und ISTAS zählen. Die Studie ist unter folgender Adresse abrufbar: http://www.etuc.org/a/3676.

(2)  Hans-Werner Sinn: „Das grüne Paradoxon“, Econ-Verlag, ISBN 978-3-430-20062-2.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/41


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die externe Dimension der erneuerten Lissabon-Strategie“

(Initiativstellungnahme)

(2010/C 128/08)

Hauptberichterstatter: Luca JAHIER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 26. Februar 2009 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die externe Dimension der erneuerten Lissabon-Strategie“.

Die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt (Beobachtungsstelle für die Lissabon-Strategie) wurde mit den Vorarbeiten zu dieser Stellungnahme beauftragt.

Aufgrund der Dringlichkeit bestellte der Ausschuss auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 Herrn JAHIER zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 177 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Die Lissabon-Agenda für Wachstum und Beschäftigung ist Gegenstand einer umfassenden Überarbeitung für das nächste Jahrzehnt, die auch Überlegungen zu ihrer externen Dimension umfasst.

1.2.   Europa verdankt seinen Wohlstand vor allem seiner Offenheit gegenüber dem Rest der Welt. Hierbei handelt es sich um wirtschaftliche Vorteile ebenso wie um den Kultur- und Wissensaustausch und die weltweite Anerkennung der europäischen Werte. Die EU ist der wichtigste Exporteur und Importeur von Gütern und Dienstleistungen, belegt den zweiten Platz als Quelle bzw. Empfänger ausländischer Direktinvestitionen, ist der weltweit größte Geber von Hilfsgeldern und verfügt über die zweitwichtigste Währung der Welt. Deshalb liegt es in ihrem geostrategischen Interesse, ihre außenpolitische Agenda voranzutreiben - eine Agenda, die der Förderung und der Wahrung der Interessen ihrer 500 Millionen Einwohner dient, aber auch ihrer Mitverantwortung für die Bewältigung der globalen Probleme und die Festlegung hoher Standards für die Global Governance gerecht wird.

1.3.   Die Suche nach einem ehrgeizigen, ausgewogenen und gerechten multilateralen Abkommen für eine weitergehende Liberalisierung des Handels und die schrittweise Öffnung der Märkte innerhalb eines reglementierten Rahmens waren im vergangenen Jahrzehnt eine wichtige Priorität. Vor allem die Initiative „Global Europe“ aus dem Jahr 2007 wurde ausdrücklich mit der erneuerten Lissabon-Strategie verknüpft.

1.4.   Die Herausforderungen durch die neuen globalen Wirtschaftsmächte und die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise machen den neuen geopolitischen Charakter der Globalisierung und somit auch die Notwendigkeit einer erneuerten, schlüssigeren und wirksameren externen Gesamtstrategie der EU noch deutlicher. Europa braucht eine neue Vision seiner globalen Rolle, die einerseits der geostrategischen Realität seiner historisch und geografisch bedingten Position, der Versorgungssicherheit in Bezug auf Rohstoffe und Energie und der Entwicklung neuer, heute noch nicht kaufkräftiger Märkte gerecht wird und andererseits seiner Fähigkeit Rechnung trägt, die globalen Probleme wie Sicherheit, Klimawandel, Armut und internationale Migration anzugehen und zu ihrer Lösung beizutragen, indem die zum Erfolg führenden Werte seiner eigenen sozialen Marktwirtschaft weiterentwickelt werden, die im Übrigen in der ganzen Welt auf großes Interesse stoßen.

1.5.   Ein angemessener Aktionsplan der EU muss darauf abzielen, den Raum und die Rolle Europas vor dem neuen Hintergrund der Globalisierung auf- und auszubauen:

Ausbau der außenpolitischen Tätigkeiten der EU und der externen Aspekte der anderen Politiken der Union nach strukturellen Gesichtspunkten durch Stärkung ihrer Gesamtkohärenz und Verbesserung der Einheitlichkeit der Maßnahmen der Mitgliedstaaten;

Gewährleistung einer ausgewogenen Öffnung der Märkte durch den Abschluss der Doha-Runde und durch einen strukturierten Dialog mit den wichtigsten Partnern;

Ausbau der eigenen Rolle als internationale Regulierungsmacht und in diesem Sinne Weiterverfolgung einer internationalen Politik zur Förderung der Rechte;

Stärkung der internationalen Verwendung des Euro;

Schaffung eines weiten Raumes für Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum, der „Europa-Afrika, ein Bündnis für beiderseitigen Fortschritt“ heißen könnte und der eine rasche Vollendung der Erweiterung der Union, die Nachbarschaftspolitik und die Mittelmeerunion sowie eine stärkere Partnerschaft mit Afrika umfasst.

1.6.   Dieser Aktionsplan der EU würde an Profil und Kohärenz gewinnen, wenn er - wie von der Union anvisiert - schrittweise in einem größeren außenpolitischen Rahmen ausgebaut würde.

1.7.   Im Interesse einer optimalen Entwicklung und zur Gewährleistung eines weit reichenden politischen Konsenses über eine derart anspruchsvolle und optimistische Perspektive für ihre externe Agenda muss die EU die Rolle der Sozialpartner und der zivilgesellschaftlichen Organisationen sowohl in der europäischen Gesellschaft als auch in den Drittländern entschieden ausbauen.

1.8.   Der EWSA verfügt über alle Instrumente, um eine immer bedeutendere Rolle bei der Konsolidierung und Entwicklung gemeinsamer Mechanismen des Monitoring und der aktiven Beteiligung der Zivilgesellschaft in fast allen Erdteilen zu spielen. Hierbei handelt es sich im Übrigen um ein Unterscheidungsmerkmal des europäischen Sozialmodells, das weltweit geschätzt wird.

2.   Einleitung

2.1.   Europa ist heute mit einem 500 Millionen Verbraucher umfassenden Binnenmarkt die bedeutendste Wirtschaftsmacht der Welt und mit dem Euro, der weltweit zweitwichtigsten Währung, eine einzigartige Handelsmacht. Bei der Schaffung einer win-win-Situation in den internationalen Beziehungen der EU geht es nicht nur darum, die Aufgaben, die sich aus ihrem Gewicht ergeben, wahrzunehmen, sondern auch darum, die Förderung ihrer externen ökonomischen und geostrategischen Interessen sicherzustellen, die entscheidend sind für den Erfolg ihres Modells, das die größte Offenheit und die höchsten Sozial- und Umweltstandards der Welt aufweist.

2.2.   Zur Sicherung der Ziele der Strategie von Lissabon, nämlich dauerhaftes Wachstum, qualifizierte Arbeitsplätze und nachhaltige Entwicklung, wird es immer wichtiger, dass die EU ihre externe Agenda ausbaut.

2.3.   Nach der Agenda von Lissabon aus dem Jahr 2000 und ihrer Überarbeitung im Jahr 2005 wurde erst 2007 der Aspekt der externen Dimension eingeführt. In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Frühjahr 2008 heißt es: „Die EU sollte deshalb weiterhin danach streben, durch Stärkung der externen Dimension der erneuerten Lissabon-Strategie die Globalisierung mitzugestalten (1).

2.4.   In diesen Schlussfolgerungen werden auch folgende vorrangige Bereiche hervorgehoben:

den freien Handel und die Öffnung zu fördern und in diesem Bereich weiterhin eine führende Rolle wahrzunehmen;

das multilaterale Handelssystem zu verbessern, indem sie weiterhin danach strebt, bei den Doha-Verhandlungen ein ehrgeiziges, ausgewogenes und umfassendes Übereinkommen zu erreichen;

ehrgeizige bilaterale Abkommen mit wichtigen Handelspartnern zu schließen und die Bemühungen um eine Integration mit den Nachbarstaaten und den Bewerberstaaten durch die Entwicklung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums weiter zu verstärken;

den verlässlichen Zugang zu Energie und strategischen Rohstoffen zu sichern;

bestehende Wirtschaftsbeziehungen auszubauen und für beide Seiten förderliche strategische Partnerschaften mit den aufstrebenden Wirtschaftsmächten unter fairen Wettbewerbsbedingungen aufzubauen;

die Zusammenarbeit in Regelungsfragen, die Konvergenz der Normen und die Gleichwertigkeit der Vorschriften zu fördern und die Wirksamkeit des Systems zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums zum Schutz gegen Nachahmung zu verbessern.

2.5.   Nach der kürzlichen Diskussion über die Instrumente für das auswärtige Handeln der EU ist Folgendes vorgesehen (2):

ein weiter gefasstes Konzept des auswärtigen Handelns der EU, das die Tätigkeit in den Bereichen GASP, Handel und Zusammenarbeit mit der Stärkung der Außenwirkung der internen Politikbereiche der EU verbindet (3);

eine neue Generation europäischer Kooperations- und Entwicklungsprogramme, die auf dem „Europäischen Konsens“ (4) und der Partnerschaft EU-Afrika vom November 2007 (5) beruhen;

ein neuer Ansatz im Bereich der Handelspolitik, der auch auf die Bedeutung bilateraler und regionaler Verhandlungen abstellt.

3.   Es gibt bereits eine externe Dimension der Lissabon-Strategie …

3.1.   Prioritäten der vergangenen zehn Jahre waren das Streben nach einem ehrgeizigen, ausgewogenen und gerechten multilateralen Abkommen, das eine weitergehende Liberalisierung des Handels ermöglicht, und die schrittweise Öffnung der Märkte, um den europäischen Unternehmen mehr Raum für Wettbewerb zu geben und auf diese Weise neue Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen.

3.2.   Die WTO wurde als Dreh- und Angelpunkt für eine Ausdehnung des Handels im Rahmen eines reglementierten und multilateralen Systems anerkannt. Die Doha-Entwicklungsagenda stellte für die Kommission eine herausragende Priorität dar.

3.3.   Die Schwierigkeiten bei den Verhandlungen von Doha und insbesondere der Stillstand im Juli 2006 bewogen die EU zu einer grundlegenden Überprüfung, die dazu führte, dass der Europäische Rat im April 2007 die Mitteilung der Kommission „Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt - Ein Beitrag zur EU-Strategie für Wachstum und Beschäftigung“ (6) gebilligt hat.

3.4.   Die vorgeschlagene Strategie, die in Verbindung mit der erneuerten Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2005 zu sehen ist, bekräftigt und untermauert das Gesamtziel einer zunehmend globaleren und integrierten Außenhandelspolitik, mit der sowohl neue Investitionen angelockt und Partnerschaften gefördert als auch weltweit immer offenere Märkte gewährleistet werden sollen. Sie sieht neben dem klassischen und vorrangigen Instrument der multilateralen Verhandlungen eine neue Generation von bilateralen und regionalen Vereinbarungen (7) vor, mit denen der Abbau der nichttarifären und rechtlichen Handelshemmnisse und eine schrittweise und substanzielle Konvergenz der Vorschriften angestrebt werden soll.

3.5.   In ihrer Mitteilung über die außenpolitische Dimension der Lissabon-Strategie vom Dezember 2008 (8) hat die Kommission das Ziel weiterentwickelt, die multilateralen Handelsabkommen abzuschließen, die Zusammenarbeit im Regulierungsbereich weiter zu verfolgen und die Marktzugangspartnerschaft zu vertiefen.

3.6.   Der EWSA hat sich in zwei Stellungnahmen zu diesem Thema (9) geäußert und darin betont, dass:

die strategische Priorität auch weiterhin der Abschluss der Doha-Runde bleiben muss, in deren Rahmen die bilateralen Abkommen einen zusätzlichen Mehrwert liefern können;

den Folgen der Marktöffnung für bestimmte Regionen und Bevölkerungsgruppen unbedingt mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss und somit die soziale Gerechtigkeit und die Förderung menschenwürdiger Arbeit einen höheren Stellenwert erhalten müssen;

auch in die bilateralen Verhandlungen andere, zunehmend wichtige Aspekte des Weltgeschehens, wie Umwelt, Energie, Kultur, Migration und globale Governance aufgenommen werden müssen.

4.   … die aber längst nicht mehr ausreicht

4.1.   Neue Herausforderungen

4.1.1.   Die EU steht neuen Herausforderungen gegenüber:

die wachsende Konkurrenz der Schwellenländer und der Boom der asiatischen Wirtschaftsmächte;

Klimawandel und Energie;

die Folgen der Erweiterung auf 27 Mitgliedstaaten für die Union und ihre Nachbarn;

das Wiederaufflammen der Ernährungskrise;

das Bewusstsein für den wachsenden geopolitischen Charakter der Globalisierung, der mittlerweile nicht mehr nur wirtschaftlicher Prägung ist;

und schließlich der Ausbruch der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise.

4.1.2.   Diese Herausforderungen machen bewusst, dass eine schlüssigere externe Strategie mit schärferen Konturen entwickelt werden muss, um die wachsende Kluft zwischen der wirtschaftlichen Macht der Europäischen Union und ihrem weiterhin allzu schwachen Einfluss auf die komplexe, alles erfassende Entwicklung der Globalisierung zu schließen; gleichzeitig muss sie die eigenen Interessen und den Raum, in dem ihre eigenen Werte hochgehalten werden, verteidigen.

4.1.3.   Die Folgen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise werden sich zweifellos auch nach 2010 bemerkbar machen. Die internationale Frage und die Form des Beitrags zu ihrer Neuorientierung werden für jede künftige Wachstums- und Beschäftigungsstrategie überall in der Welt von entscheidendem Gewicht sein. Ebenso wichtig für die Zukunft der einzelnen Regionen und die Zukunft des Ganzen wird die Art und Weise sein, wie sich jede Region in diesem Prozess positioniert. Dies berührt vor allem Europa, den weltweit offensten, d.h. am stärksten von Ein- und Ausfuhren abhängigen Wirtschaftsraum.

4.1.4.   Diese Krise macht das Postulat einer internationalen Arbeitsteilung definitiv obsolet, wonach den wichtigsten Schwellenländern das Anbieten der Grundstoffe und Verarbeitungserzeugnisse und der auf den Arbeitskosten beruhende Wettbewerb überlassen bleibt, während allein den europäischen Staaten und den übrigen wichtigsten Industrienationen Tätigkeiten mit hoher Wertschöpfung vorbehalten bleiben, die sich vor allem auf Forschung, Innovation, Dienstleistungen und qualifizierte Arbeitskräfte stützen.

4.1.5.   Die neue wirtschaftliche Dynamik der BRIC-Staaten (Brasilien-Russland-Indien-China), wie sie sich in der Zunahme der Patentanmeldungen, der Bedeutung der ausländischen Direktinvestitionen aus Europa, der Zunahme der ausländischen Direktinvestitionen aus den Schwellenländern in der EU oder der Etablierung der Staatsfonds aus Ländern, die nicht der OECD angehören, zeigt, ist ein Zeichen für rasche Veränderungen der globalen Wirtschaftsstruktur, auf die Europa in geeigneter Weise reagieren muss.

4.1.6.   Die jüngste Entwicklung von Plattformen in anderen Erdteilen, die ebenfalls eine Strategie der Innovation und des Wissens verfolgen, zeigt, dass die Auswege aus der Wirtschaftskrise zu einem Zukunftsszenario hinführen könnten, das viel stärker nach neuen, hochgradig integrierten und stärker miteinander konkurrierenden regionalen Blöcken aufgegliedert ist und auf ihnen beruht und dass sich innerhalb dieser Blöcke neue Formen der Arbeitsteilung und eines wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichts herausbilden könnten.

4.2.   Eine innovative und ehrgeizige Herausforderung

4.2.1.   Die EU hat mehrfach bewiesen, dass sie mit friedlichen Mitteln und im Wege der Konsensfindung in der Lage ist, auf internationaler Ebene Einfluss zu nehmen, wo andere, immer unterschiedlichere Akteure auftreten, und auf diese Weise zuweilen einen maßgeblichen Beitrag zum Wohlstand in wichtigen Regionen in der Welt zu leisten (Beispiele: die 30-jährige Zusammenarbeit mit den AKP-Ländern und die Erweiterungspolitik der Europäischen Union).

4.2.2.   Die EU hat außerdem zum Aufbau eines äußerst komplexen Gefüges aus regionalen, sektoralen und allgemeinen Kooperationsabkommen beigetragen: In der Vergangenheit war dies der WTO-Verhandlungsrahmen und gegenwärtig ist es der neue, laufende G8/14- und G-20-Prozess zur Neuformulierung eines stringenteren Rahmens an Regeln und Kontrollmechanismen für das internationale Finanzwesen, einschließlich der Rolle des IWF und der Weltbank.

4.2.3.   Der Diskussionsrahmen für die Auseinandersetzung mit der externen Dimension, die sich anfangs nur auf die Handelspolitik und später auch auf die Herausforderungen im Bereich Energie und Klima bezogen hat, ist mittlerweile deutlich erweitert und erstreckt sich auf immer mehr Bereiche, wie etwa die Migrationspolitiken und die Dimension der Globalisierung im sozialen (Anpassungsfonds und Grundrechte und -freiheiten der Arbeitnehmer), ökologischen (Kyoto, aber auch nachhaltige Wirtschaft), industriellen (geistiges Eigentum, aber auch Staatsfonds), politischen (Erweiterung der Union und Nachbarschaftspolitiken) und im diplomatischen Bereich. Man denke auch an die Rolle des Euro, die Auswirkungen der GASP und der ESVP auf die wachsende internationale Bedeutung der EU sowie die etwaige Aufnahme der Frage der für Europa strategisch wichtigen Güter und Wirtschaftsinteressen in die europäische Sicherheitsstrategie - nach dem Vorbild anderer Wirtschaftsmächte.

4.2.4.   Aus dem oben Gesagten wird deutlich, dass es immer weniger möglich ist, alle diese Dimensionen in die Lissabon-Strategie aufzunehmen, wenn sie nicht völlig zweckentfremdet werden soll.

4.2.5.   Gleichwohl erweisen sich diese Dimensionen als zunehmend unverzichtbar für die Erreichung eben jenes Ziels, für das die Strategie ins Leben gerufen wurde, nämlich die Erarbeitung einer europäischen Antwort auf die Prozesse der Globalisierung.

4.2.6.   Andererseits beruht der Großteil der außenpolitischen Tätigkeiten der EU im Wesentlichen auf bewährten Verfahren mit hoher Integrationsdichte; dies gilt für die Gemeinschaftspolitiken ebenso wie für die politischen Maßnahmen, für welche die EU und die Mitgliedstaaten in gleichem Maße verantwortlich sind. Vielleicht sind sie untereinander noch nicht ausreichend koordiniert oder lassen eine vollendete strategische Gesamtvision vermissen, aber sie sind gleichwohl entwicklungsfähig und haben einen nicht unerheblichen Wirkungsgrad, der in jedem Fall größer ist, als wenn die Mitgliedstaaten im Alleingang tätig würden, und größer als der Wirkungsgrad zahlreicher anderer interner Politiken der Union.

4.3.   Eine erneuerte externe Strategie der Europäischen Union

4.3.1.   Somit könnte man eigentlich von einer „externen Komponente einer europäischen Strategie für die Globalisierung nach 2010“ sprechen, die eng koordiniert und verzahnt ist mit der internen Komponente, nämlich der Weiterentwicklung der gegenwärtigen Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung, aber mehr Autonomie und eine neue und überzeugendere strategische Ausrichtung bekommt  (10).

4.3.2.   Europa braucht eine neue Vision seiner Rolle in der Welt und einen entsprechenden Aktionsplan, der den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist, auf dem Wertegerüst der EU fußt und den Unionsbürgern und wichtigsten Stakeholdern vermittelt und verständlich gemacht sowie mit den wichtigsten globalen Gegenspielern diskutiert und in internationalen Foren vertreten werden kann.

4.3.3.   Diese an Fortschritt und guter Beschäftigung orientierte Vision, die in der Lage ist, eine nachhaltige Entwicklung, eine inklusive Gesellschaft, offene Volkswirtschaften und friedvolle zwischenmenschliche Beziehungen zu fördern, muss sich aber auch an eine langfristige globale Logik halten. Die EU muss die geostrategische Realität ihrer eigenen historisch-geografischen Position, der notwendigen Versorgungssicherheit in Bezug auf Rohstoffe und Energie  (11) und der unerlässlichen Entwicklung neuer, heute noch nicht kaufkräftiger Märkte besser wahrnehmen.

4.3.4.   Einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer solchen Vision leistet auch das kurze, aber überzeugende Dokument, das die Kommission für das Gipfeltreffen in Hampton Court im Oktober 2007 unter dem Titel „Das europäische Interesse: Erfolg im Zeitalter der Globalisierung (12) erstellt hat. Im selben Jahr hat auch der EWSA in dieser Richtung Stellung genommen (13).

4.3.5.   Die erneuerte Lissabon-Strategie nach 2010 sollte mit einer neuen und strategischeren Konzeption der außenpolitischen Tätigkeiten der Union einhergehen, die darauf abzielt, den Raum und die Rolle Europas in dem neuen Globalisierungsszenario auf- und auszubauen.

4.3.6.   Zu diesem Zweck muss die bereits in den Schlussfolgerungen des Rates vom März 2008 erkennbare Handlungslinie verstärkt und ausgebaut werden und ein konkreter Aktionsplan auf vier synergetischen und untereinander verzahnten Ebenen entwickelt werden:

Gewährleistung einer ausgewogenen Öffnung der Märkte und Entwicklung des weltweiten Handels mit Gütern und Dienstleistungen bei gleichzeitiger Sicherstellung eines stabilen Zugangs Europas zu den strategisch notwendigen Ressourcen;

Intensivierung des wirtschaftlichen Dialogs mit allen wichtigen Partnern im Rahmen eines multilateralen Ansatzes und weitere Stärkung der internationalen Rolle des Euro;

Profilierung der EU als „internationale Regulierungsmacht“, die sich für die Durchsetzung der industriellen, ökologischen, sozialen Standards ebenso einsetzt wie für jene, die für menschenwürdige Arbeitsbedingungen, das öffentliche Auftragswesen und das geistige Eigentum gelten, indem sie zur Festlegung neuer Regeln für die Finanzmärkte und die Governance der Weltwirtschaft auf multilateraler und regionaler Ebene beiträgt;

Neubelebung der drei wichtigsten Politiken zur Förderung der externen Entwicklung der EU: Vollendung der Erweiterung, Nachbarschaftspolitik und Mittelmeerunion, neue Partnerschaft mit Afrika im Rahmen der AKP - das heißt, Engagement für die Schaffung eines großen, für allseitiges Wirtschaftswachstum günstigen Entwicklungsraums, der bereits Eurafrika genannt wird  (14) und in dem die EU eine führende geostrategische Rolle spielen sollte.

4.3.7.   Die der externen Dimension zuzuweisende Bedeutung signalisiert, dass die EU beabsichtigt, in eine neue politische Phase ihres Integrationsprozesses zu treten, die auf die Entwicklung ihres Beziehungsgeflechts zum Rest der Welt ausgerichtet ist, woraus sie neue Energien und Ressourcen ziehen wird, um die optimale Ausgestaltung des europäischen Modells der sozialen Marktwirtschaft und im Zuge dessen ihren Bürgern eine fortschrittsorientierte Zukunft in Frieden gewährleisten zu können. Es handelt sich um eine Art Erfüllung der Prämissen, die dem Gründungsprozess der Europäischen Union zugrunde lagen, wo - von der Schuman-Erklärung bis zur Präambel der Römischen Verträge - die beiden Aspekte des europäischen Projekts, nämlich der interne und externe, eng miteinander verflochten waren und sich gegenseitig beeinflusst haben.

5.   Einige spezifische Vorschläge

5.1.   Mehr Kohärenz und Proaktivität der allgemeinen politischen Maßnahmen

Die Maßnahmen der EU zur Reform des multilateralen Systems und zur Verbesserung der für die Globalisierung grundlegenden Standards erfordern einen zweigleisigen Prozess: Kohärenz zwischen den internen und externen Politikbereichen und sehr viel stärkere Koordinierung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten.

Die Förderung sozialrechtlicher Regelungen, die Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern und die universellen Sozialschutzsysteme müssen einen Schwerpunkt der Entwicklungspolitiken und der Verhandlungsmandate der Europäischen Union bilden.

In sämtliche externe Maßnahmen der Europäischen Union müssten die Entwicklung der Bildungs- und Ausbildungssysteme, die Grundrechte der Arbeitnehmer, die Entwicklung des Sozialschutzes, die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen und die Integration benachteiligter Gesellschaftsgruppen (Menschen mit Behinderungen, ethnische Minderheiten, u.a.) als Prioritäten aufgenommen werden.

Die EU sollte sich durch die Erfüllung der von ihr selbst eingegangenen Verpflichtungen hervortun. Dies gilt insbesondere für das Ziel, 0,7 % des BIP für die Entwicklungshilfe aufzuwenden, und für die von ihr immer wieder bekräftigte Berufung, den anderen Nationen und Regionen die Ergebnisse und Instrumente des eigenen Fortschritts zugute kommen zu lassen. Ein besonderes Engagement zur Wiederbelebung der Partnerschaft Afrika-Europäische Union ist dabei von entscheidender Bedeutung.

Eine spürbare Aufstockung der Mittel und Investitionen für die Entwicklungsländer im Rahmen des für Dezember 2009 anstehenden Kopenhagener Abkommens wäre eine einmalige Chance für Entwicklung und beiderseitigen Fortschritt. Die neue Lissabon-Strategie bietet sich somit als Rahmen für die Forschungs-, Innovations-, Investitions- und Wissensoptionen an, mit denen eine neuesgrünes Wachstumweltweit gefördert werden kann.

Notwendig sind ein höheres Maß an Monitoring und Transparenz in den Verhandlungen sowie eine stärkere Einbeziehung der Zivilgesellschaft in dieses System der internationalen Beziehungen und Verhandlungen.

Die EU muss die regionale Integration fördern und weiterhin ein Vorbild für andere sein. Es wird immer mehr und besser strukturierte Makro-Regionen geben, und Europa kann und muss auch in der Entwicklung der intraregionalen Zusammenarbeit eine wichtige Rolle spielen, die neben der Liberalisierung des Handels auch die Entwicklungszusammenarbeit, den politischen Dialog und die kulturelle Zusammenarbeit umfassen muss.

Unter Berücksichtigung der Herausforderung, die das Ziel der Ernährungssicherheit darstellt, ist es im Hinblick auf die uneingeschränkte Durchsetzung des grundlegenden Menschenrechts auf eine gesunde, sichere, angemessene und nachhaltige Ernährung (15) sinnvoll, eine Überarbeitung der geltenden Verhandlungsmandate vorzunehmen. Dabei sollten die Besonderheit der Agrarerzeugnisse anerkannt und entsprechende Maßnahmen zum Schutz der asymmetrischen Produktionsbedingungen und entsprechenden Märkte anvisiert werden, um den Abschluss der wichtigsten Handelsabkommen in den anderen Bereichen auf der Grundlage der EPA energisch voranzutreiben.

Unter Berücksichtigung des Kriteriums des „Handelspotenzials“, das die Wachstumsrate des jeweiligen Gebiets mit der Größe der jeweiligen Märkte in Verbindung bringt, sollten flankierend zu den Regionalabkommen mit den AKP-Staaten bilaterale und regionale Abkommen mit der Vereinigung Südostasiatischer Nationen (ASEAN), Korea, Indien, Russland, Mercosur und den Ländern des Golfkooperationsrates weiterverfolgt bzw. wieder aufgenommen werden.

Für China muss eine besondere Priorität definiert werden, und zwar sowohl deshalb, weil die EU dort wichtige offensive und defensive Interessen verfolgt, die bedeutende Verhandlungsspielräume bieten, als auch aufgrund der beträchtlichen Zunahme der wechselseitigen Interaktionen und der geopolitischen Gesamtlogik.

Größere Bedeutung muss auch den bilateralen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten, Japan und Kanada als erster bzw. dritter und achter Handelsmacht weltweit zukommen. Die transatlantischen Beziehungen müssen wieder aufgenommen werden, um die Reibungsflächen zu verringern und die Synergieeffekte durch zunehmende Übereinstimmung der institutionellen Strukturen und der politischen Maßnahmen zu optimieren (16).

Angesichts der voraussichtlichen Ausweitung der WWU-Zone in den kommenden Jahren könnte der Euro noch mehr Bedeutung als starke Währung und weltweite Bezugsgröße gewinnen, was unausweichlich eine einheitlichere Vertretung in den internationalen Wirtschafts- und Finanzorganen erfordern würde.

5.2.   Mehr Governance-Instrumente für die sektoralen Politiken

Im Rahmen eines umfassenderen und einheitlicheren Konzepts des auswärtigen Handelns der EU muss auch die externe Dimension auch in Politikbereiche wie Forschung, Umwelt, Bildung und Beschäftigung integriert werden.

In der gegenwärtigen Situation sollte eindeutiger festgelegt werden, dass eine kleine Gruppe von EU-Kommissionsmitgliedern mit dem klaren Auftrag eingesetzt wird, sämtliche externe Politiken der EU zu steuern (Handel, Entwicklung, Migration, externe Aspekte der Wettbewerbspolitik und des Binnenmarktes, Energiediplomatie, u.a.). Diese Gruppe kann dann außerhalb der EU und in den wichtigsten internationalen Gremien auf sichtbarere Weise für ein einigeres Gesamtbild der EU sorgen. Ein rasches Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags und die neue Rolle des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik könnten für die Zukunft eine positive Entwicklung gewährleisten.

Bis zu einer einheitlichen Vertretung der EU in den wichtigsten internationalen Gremien (Bretton Woods, G8/14 und G20) sollten die EU-Staaten kohärentere und somit einflussreichere Gruppierungen in den einzelnen Institutionen oder bei den Gipfeltreffen bilden, um die jeweiligen Positionen systematisch zu koordinieren und weitgehend mit einer Stimme zu sprechen.

Es ist vordringlich, dass sich die EU nach außen mit gemeinsamen Handelsmissionen präsentiert, die in der Lage sind, die gesamte strategische Präsenz Europas zu stärken, und zwar vor allem in den Beziehungen zu den wichtigsten Handelspartnern der EU.

Die EU muss ihre Unterstützung für die Internationalisierung der eigenen Unternehmen verstärken, insbesondere hinsichtlich ihrer Fähigkeit, Niederlassungen zu gründen und sich an die Situation und Dynamik der verschiedenen Märkte anzupassen.

Die EU muss sich dafür einsetzen, dass die WTO die Rechte der Arbeitnehmer, die industrielle Entwicklung, die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze und die Umweltdimension in die eigenen Zielvorgaben aufnimmt. Dementsprechend müssen auch die internationalen Finanzinstitute der Förderung menschenwürdiger Arbeit und der nachhaltigen Entwicklung Vorrang einräumen.

Die europäischen Konzerne müssen Anreize erhalten, damit sie gemäß dem europäischen Konzept der sozialen Unternehmensverantwortung in den verschiedenen Ländern, in denen sie tätig sind, den sozialen Dialog in den Unternehmen und den Branchen fördern. Stärker zur Geltung gebracht werden müssen die bewährten Verfahren, die in vielen europäischen Unternehmen bereits auf der Grundlage der von der OECD beschlossenen und auf den IAO-Sozialstandards basierenden „Leitgrundsätze“ angewandt werden, ebenso wie alle sonstigen Initiativen, die von einer großen Gruppe von Akteuren des nichtstaatlichen Sektors und der Sozialwirtschaft in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Förderung besserer Lebens- und Arbeitsbedingungen umgesetzt werden.

Die EU muss proaktive und globale Migrationspolitiken konzipieren, welche die gemeinsame Entwicklung von Herkunftsländern und Aufnahmeländern der Migranten erleichtern, mit besonderem Schwerpunkt auf der Bekämpfung von Menschenhandel, dem Braindrain und den Geldsendungen der Migranten, die mittlerweile einen wichtigen Stellenwert unter den Finanzströmen haben (17).

Die wachsende Bedeutung der Staatsfonds in der Weltwirtschaft und somit das große Gewicht der Staaten, die diese Fonds gegründet haben, in den Volkswirtschaften der aufstrebenden Länder ist zweifellos eine große Chance für die wichtigsten entwickelten Volkswirtschaften und auch für den Aufschwung der Weltwirtschaft. Aber sie ist auch ein geopolitisches Risiko wegen des möglichen Verlusts an Hoheitsrechten in Bezug auf für die EU strategische Sektoren und Technologien. Die EU muss hier unbedingt eine eigene koordinierte Position einnehmen, die den Verbindlichkeiten und Bestimmungen der geltenden Verträge Rechnung trägt, aber auch einer präziseren und von allen mitgetragenen Position zur Verteidigung des „nationalen Interesses“, das in zunehmendem Maße ein „europäisches Interesse“ ist.

Die spezifischen Zuständigkeiten des Europäischen Technologieinstituts in den jeweiligen Partnerschaften müssen stärker zur Geltung gebracht werden, insbesondere was die mögliche Ausdehnung der verschiedenen Kooperationsregionen im Rahmen der „Wissens- und Innovationsgemeinschaften“ auf außereuropäische Länder betrifft (Exzellenznetze zwischen Hochschuleinrichtungen, Forschungsinstituten, Unternehmen und sonstigen interessierten Akteuren).

5.3.   Stärkere Einbeziehung der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft

Die Forschung und die Konzeption gemeinsamer Strategien der europäischen Zivilgesellschaft müssen in jeder möglichen Weise gefördert werden, um die Herausforderungen und Chancen der Globalisierung im Dialog mit den wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Partnern der EU anzugehen. Eine stärkere Aufwertung der nationalen Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbarer Organisationen, ebenso wie der wichtigsten europäischen Netze und Organisationen der Sozialpartner, der organisierten Zivilgesellschaft und der Sozialwirtschaft kann einen umfassenderen Prozess der Bürgerbeteiligung und die Erschließung bewährter Verfahren begünstigen.

Die EU muss eine möglichst umfassende Einbeziehung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaften in Drittländern und den Dialog mit diesen fördern, um die Sichtbarkeit und Kohärenz der EU-Politiken in den Bereichen Handel, Entwicklung und Außenbeziehungen im Allgemeinen zu stärken. Es gilt insbesondere, strukturierte und dauerhafte Dialogformen mit den Organisationen aufzubauen, die sich für die regionale und weltweite Integration engagieren, und dabei ferner die beratenden Vertretungsgremien der organisierten Zivilgesellschaft im Bereich der Handels- und Assoziierungsabkommen stärker anzuerkennen.

Die vor vielen Jahren von der GD Handel mit Erfolg eingesetzte Kontaktgruppe der Zivilgesellschaft ist ein nachahmenswertes Verfahren.

Der EWSA hat schrittweise ein strukturiertes Beziehungssystem aufgebaut  (18) , das im Rahmen des interinstitutionellen Dialogs ein wichtiges Fundament für die ständige Weiterentwicklung einer aktiven Beteiligung der Zivilgesellschaft in fast allen Erdteilen darstellt. Beim Monitoring kann der EWSA eine aktive Rolle spielen, wie er es bereits in einigen Fällen getan hat: etwa die in dem Cotonou-Abkommen mit den AKP-Staaten vorgesehenen institutionellen Aufgaben, die mit verschiedenen Beitrittskandidatenländern eingerichteten Gemischten Beratenden Ausschüsse, die Arbeit im Rahmen von Euromed und Mercosur. Die Papiere, Stellungnahmen und Schlusserklärungen, die jedes Jahr auf den vom EWSA in diesem Rahmen organisierten zahlreichen Treffen erarbeitet werden, sind eine wichtige Fundgrube für Analysen und Vorschläge, die die Vertreter der partizipativen Demokratie in Bezug auf das gesamte Panorama der EU-Außenbeziehungen vorzubringen haben.

Der EWSA könnte darüber hinaus spezifische Seminare oder sonstige regelmäßige Treffen planen, um die wirtschaftlichen und sozialen Interessengruppen in den betroffenen Ländern und Regionen zu konsultieren. Dies könnte bei Bedarf im Rahmen der bestehenden Diskussionsforen und sonstigen regelmäßigen Treffen geschehen und würde es ermöglichen, die unterschiedlichen Strategien, die in den einzelnen Gebieten und Regionen der Welt verfolgt werden, zu vergleichen und bewährte Verfahren miteinander auszutauschen, wodurch ein Beitrag zu einer besseren Festlegung der außenpolitischen Tätigkeiten der Europäischen Union wie auch zur künftigen Entwicklung der Lissabon-Strategie nach 2010 und der Entwicklung der Strategien der jeweiligen Partner geleistet werden könnte.

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Ziffer 12 der Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes (13./14. März 2008).

(2)  Maria João Rodrigues, Europe, Globalisation and the Lisbon Agenda, Institute for Strategic and International Studies, 2009.

(3)  KOM(2006) 278 endg. und KOM(2007) 581 endg.

(4)  KOM(2005) 311 endg.

(5)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 148.

(6)  KOM(2006) 567 endg.

(7)  Diese waren schon im Cotonou-Abkommen mit den AKP-Staaten vorgesehen, um sechs regionale Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) zu verwirklichen.

(8)  KOM(2008) 874 endg.

(9)  ABl. C 175 vom 27.7.2007, S. 57 und ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 82.

(10)  Vgl. die Schlussfolgerungen der Sachverständigengruppe unter Leitung von Laurent Cohen-Tanugi, die den Vorbereitungsbericht für den französischen Ratsvorsitz im 2. Halbjahr 2008 (www.euromonde2015.eu) erstellt hat.

(11)  ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 82, ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 92 und Stellungnahme des EWSA zum Thema „Energie und Klimawandel als zentrale Aspekte der erneuerten Lissabon-Strategie“ (s. Seite 36 dieses Amtsblattes).

(12)  KOM(2007) 581 endg.

(13)  ABl. C 175 vom 27.7.2007, S. 57.

(14)  Zuletzt A. Riccardi, Rede anlässlich der Verleihung des Karlspreises, Aachen, 21. Mai 2009.

(15)  Vgl. den Bericht zum Recht auf Nahrung des UN-Sonderberichterstatters Olivier De Schutter, „Die Doha-Runde wird eine neue Nahrungsmittelkrise nicht verhindern“, vom 9. März 2009.

(16)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 32.

(17)  ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 82 und ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 91.

(18)  Vergleiche hierzu das Arbeitsprogramm der Fachgruppe Außenbeziehungen des EWSA http://eesc.europa.eu/sections/rex/overview/A_F_ces1545-2009_tcd_de.doc.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/48


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Universitäten für Europa“

(Initiativstellungnahme)

(2010/C 128/09)

Hauptberichterstatter: Joost VAN IERSEL

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 5. März 2009, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Universitäten für Europa“

Die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt (Beobachtungsstelle für die Lissabon-Strategie) wurde mit der Vorbereitung der diesbezüglichen Arbeiten des Ausschusses beauftragt worden.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 4. November) Joost Van Iersel zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 158 Stimmen gegen 8 Stimmen bei 12 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Auffassung, dass Universitäten im Wissensdreieck „Bildung, Forschung Innovation“ eine wichtige Rolle spielen. Sie müssen als maßgebliche Faktoren für nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklungen in Europa betrachtet werden. Im derzeitigen nicht optimalen Hochschulwesen wird das große Potenzial der Hochschulen nicht genügend ausgeschöpft. Die Verbesserung der diesbezüglichen Situation sollte in der Lissabon-Strategie nach 2010 einen festen Platz einnehmen.

1.2.   Seit der Konferenz von Bologna im Jahr 1999 und der späteren Lissabon-Strategie wurde den Hochschulen auf EU-Ebene zunehmend mehr Gewicht eingeräumt. Auch wenn die Mitgliedstaaten und die Universitäten neue Ziele festgelegt haben, wächst in Hochschulkreisen und in der Gesellschaft die Besorgnis über die Zersplitterung des europäischen Hochschulwesens und das langsame Tempo dringend erforderlicher Reformen.

1.3.   Der EWSA ist der Auffassung, dass die europäischen Universitäten reformiert werden müssen, da die weltweiten Entwicklungen in Wirtschaft, Technik und Bildung und die derzeitige Krise ein günstigeres Preis-Leistungs-Verhältnis sowie bessere Bedingungen und mehr Chancen für Studierende, Dozenten und Forscher erforderlich machen.

1.4.   Zu den notwendigen Anpassungen gehören mehr Autonomie und Verantwortung der Universitäten bei der Erfüllung ihres Auftrags gegenüber der Gesellschaft, mehr (d.h. zureichende) Finanzierungsmöglichkeiten, mehr Transparenz und Offenheit, Partnerschaften mit Unternehmen, die Förderung der Exzellenz in Lehre und Forschung (auf Weltniveau) und angemessenes Personalmanagement.

1.5.   Der EWSA unterstreicht, dass es einer europaweiten Methodik bedarf, um Leistungen zu beurteilen und vergleichbare Daten zu erheben. Eine europäische Beurteilung sollte auf einer eingehenden Untersuchung durch unabhängige Fachleute beruhen und weit über bloße Literaturrecherchen und die eindimensionale „Shanghai-Liste“ hinausgehen und eine breite Palette multidimensionaler Indikatoren umfassen (1).

1.6.   Neben einer breiten Grundlage, die multidisziplinäre Entwicklungen und neue Kombinationen erleichtert, sollten aktuelle und vergleichbare Standards für Bildung und Forschung zu Vielfalt und Spezialisierung unter den Hochschulen beitragen und eine Abkehr von Einheitlichkeit und Gleichförmigkeit bewirken.

1.7.   Der EWSA plädiert für eine kohärente Einbeziehung der Universitäten in die überarbeitete Lissabon-Strategie im Rahmen des europäischen Hochschulraums (EHR) und des europäischen Forschungsraums (EFR) (2).

1.8.   Studierende und Dozenten sollten mehr Möglichkeiten erhalten, in Europa eine multidisziplinäre Karriere zu verfolgen. Das impliziert u.a. ein offenes Einstellungsverfahren und eine Charta der Forscher, was im Zusammenhang mit der Einführung einer „fünften Freiheit“, d.h. der Freiheit der Verbreitung des Wissens, steht; gleichzeitig sollten die Vielfalt der Ansätze und der Wettbewerb aufrechterhalten werden, um beste Ergebnisse zu erzielen.

1.9.   Es sollte ein europaweites offenes Konzept für Hochschuldozenten, Forscher und Studierende aus Drittstaaten und für Spitzenuniversitäten erarbeitet werden.

1.10.   Der EWSA plädiert für beratende Bildungsplattformen auf EU- und nationaler Ebene, an denen auch Vertreter der Zivilgesellschaft teilnehmen. Sowohl globale als auch regionale Exzellenzzentren sollten sich um ihr jeweiliges gesellschaftliches und geografisches Umfeld bemühen. Das kann zudem sowohl der Förderung des Unternehmergeistes an Universitäten als auch den Wirtschafts- und Wissensclustern dienen.

1.11.   Durch eine unabhängige Rolle und Position, wie sie die Universitäten lange Zeit innehatten, könnten sie wieder als geistige Triebkräfte für Europa Ansporn und Bestärkung erfahren. Europäische Konzepte für Bildung und Dozentur, Wissenschaft und Spitzenforschung sowie Spezialisierung sollten sich nicht nur auf die Ausweitung und Vertiefung von FuE und Innovation in Europa beschränken. Vielmehr müssen sie auch auf andere Kompetenz- und Fachbereiche ausgeweitet werden, z.B. die medizinische Forschung und Praxis, die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und die Geisteswissenschaften.

1.12.   Die Kommission sollte hier weiterhin Unterstützung bieten und eine sichtbare und aktive Rolle in diesem Prozess spielen.

1.13.   Der EWSA hält eine Intensivierung der Beziehungen zwischen Hochschulwesen und EU für keine rein technische Angelegenheit. Sie dürfen sich auch nicht allein auf die Wirtschaft beschränken, wenngleich sie besonders wichtig ist. Es geht darum, den Blick zu öffnen, um die allgemeine Bedeutung von Hochschulen für das lebenslange Lernen, die Bildung, das intellektuelle Leben, die Gesellschaft und die Zivilisation zu erkennen.

1.14.   Die Gründerväter und ihre Nachfahren wussten, warum sie den Bildungsbereich aus den Römischen Verträgen herausgehalten haben; aber die Zeiten haben sich geändert. Nationale Souveränität und Vielfalt sollten Hand in Hand gehen mit der Erkenntnis, dass die EU ein gleichberechtigter Partner und Konkurrent auf globaler Ebene sein muss. Hochschulen sind dafür entscheidende Partner.

1.15.   Anders gesagt: Die Hochschulen sollten nicht länger Statisten, sondern Protagonisten der europäischen Integration sein. Der Rat sollte diesbezüglich einen deutlichen und zukunftorientierten Standpunkt vertreten.

2.   Einleitung

2.1.   Seit jeher haben Universitäten bei der Entwicklung der europäischen Gesellschaft eine herausragende Rolle gespielt. Sie waren der Mittelpunkt des intellektuellen Lebens und sind bis heute in vielerlei Hinsicht die Triebkräfte des Fortschritts.

2.2.   Dozenten und Wissenschaftler gingen von einer selbst verwalteten Universität in Europa zur anderen und hatten großen Einfluss auf die Sichtweisen in Bezug auf alle gesellschaftlichen Phänomene und die Wissenschaften. Sie konnten Generationen von Kreisen und Persönlichkeiten formen, die Europa politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich in entscheidender Wiese prägten.

2.3.   Als ab dem 18. Jahrhundert nach und nach die Nationalstaaten entstanden, wurden die Universitäten überwiegend zu Institutionen, die als nationale Bildungseinrichtungen im Dienst der staatlichen Interessen in den Bereichen Wissenschaft und Forschung standen. Diese Entwicklung hat tiefe Spuren hinterlassen. Ungeachtet zunehmender Internationalisierung auch im Wissenschaftsbereich sind die Hochschulbildung und sogar die Wissenschaft und Technologie in den Universitäten weiterhin zu einem gewissen Maße einzelstaatlich motiviert.

2.4.   Eingriffe der Politik wurden zunehmend zur Normalität. Die Organisation der Bildungssysteme aller Ebenen richtet sich jetzt nach politischen Entscheidungen auf nationaler Ebene. Die Hochschulbildung ist überall stark einzelstaatlich geprägt. Sie weist zahlreiche und komplizierte institutionelle Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten auf, die aber oft mit gleichförmigen Bildungsinhalten einhergehen.

2.5.   Wichtige Elemente dieser europäischen Situation sind unterschiedliche institutionelle Rahmen, finanzielle Modalitäten, Lenkungsformen, Grade an Selbstverwaltung sowie Einstellungsverfahren und Laufbahnen von Professoren und Wissenschaftlern.

2.6.   Da Wissenschaft keine Grenzen kennt, wurden die Wissenschaftler und Forscher zunehmend selbst Bestandteil europäischer und weltweiter Netzwerke. Dementsprechend werden auch Forschungsprogramme zunehmend internationalisiert, wenngleich in geringerem Umfang. Als bemerkenswerte Ausnahme ist hingegen die private Hochschulbildung, insbesondere die der Wirtschaftshochschulen, von Vornherein internationaler ausgerichtet, und zwar sowohl hinsichtlich des Studienangebots als auch ihrer Konzepte.

2.7.   In den Römischen Verträgen und den Folgeverträgen gibt es kein Kapitel zum Bildungswesen. Damals wurde kein Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Integration und Bildung gesehen. Bildung blieb eine Angelegenheit der Einzelstaaten und fiel vollständig unter das Subsidiaritätsprinzip. Jede Entscheidung bezüglich Bildung auf europäischer Ebene wird in einem zwischenstaatlichen Rahmen getroffen.

2.8.   Gleichwohl können Teile des Bildungssektors nicht mehr länger vom Integrationsprozess losgelöst betrachtet werden. Mit ausdrücklicher Unterstützung der Sozialpartner begann dies mit den Bildungsaspekten, die am unmittelbarsten mit der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt verknüpft sind, nämlich der Verbesserung der beruflichen Qualifikationen und der beruflichen Bildung.

2.9.   Seit 1986 trägt das Austauschprogramm für Hochschulstudenten „Erasmus“ zur Internationalisierung der Lebensläufe von Studierenden bei. 2009 wurde dieses Programm um „Erasmus Mundus“ ergänzt. Zu erwähnen wären außerdem spezielle Programme wie Comett, ein Austauschprogramm zwischen Universitäten und Unternehmen im Technologiebereich, Marie Curie, ein Austauschprogramm für Forscher, sowie Sokrates, ein Programm für lebenslanges Lernen.

2.10.   Für die Universitäten ging es 1999 einen großen Schritt vorwärts, als die Bildungsminister aus 29 Ländern die Bologna-Erklärung verabschiedeten.

2.11.   Am Bologna-Prozess beteiligen sich jetzt 46 europäische Länder. Übergeordnetes Ziel ist die Schaffung eines europäischen Hochschulraums. Während des letzten Jahrzehnts wurde das Spektrum der Diskussionsthemen erheblich erweitert (3). Die Prioritäten des Bologna-Prozesses lauten: Einführung eines dreigliedrigen Studiensystems (Bachelor-, Master-, Promotionsstudiengang) mit stärkerer Gewichtung der Bestandteile Promotionsstudiengänge und Forschung, Qualitätssicherung, Anerkennung von Qualifikationen und Abschlüssen, Studienzeiten, „European Credit Transfer System“ (ECTS), lebenslanges Lernen, soziale Dimension der Hochschulbildung, Mobilität von Hochschulstudenten und -dozenten sowie Erkundung der externen Dimensionen des EHR.

2.12.   In der Lissabon-Strategie wird die Verbindung zwischen Wissen und Wettbewerbsfähigkeit besonders hervorgehoben. Damit wurden Impulse gegeben, um die Universitäten im Denkansatz der Gemeinschaft aus dem Rand in den Mittelpunkt zu rücken. Eine steigende Zahl von Forschungs- und Innovationsprojekten, die von der Kommission geplant wurden, führten zu einer breiteren internationalen Zusammenarbeit innerhalb Europas.

2.13.   Zum selben Zweck setzte die Kommission in mehreren Mitteilungen Diskussionen über die Reform und die Modernisierung der Universitäten auf die Tagesordnung (4).

2.14.   Die Reformen des Hochschulwesens verlaufen in den einzelnen europäischen Ländern mit unterschiedlicher Geschwindigkeit.

2.15.   2005 stieß die erneuerte Lissabon-Strategie ebenfalls neue Initiativen zur Mobilisierung der Universitäten an. Am wichtigsten sind die Beschlüsse des Rates über die Einrichtung des Europäischen Forschungsrates (ERC, 2007) und des Europäischen Innovations- und Technologieinstituts (EIT, 2008). In die gleiche Richtung zielt das Grünbuch „Der Europäische Forschungsraum - Neue Perspektiven“ (5).

2.16.   Ein Sonderfall ist die Europäische Charta für Forscher und der Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern (2005) (6). Die Charta und der Kodex wurden von über 800 Hochschuleinrichtungen unterzeichnet. In der Praxis werden sie aber von vielen Einrichtungen nicht angewandt. Zuweilen setzen sich spezifische und erfolgreiche Traditionen durch.

2.17.   Die Kommission arbeitet gegenwärtig an einer europäischen Kennzeichnung, um die Umsetzung der Charta und des Kodex anzuspornen, mit denen eine gewisse Vielfalt von Ansätzen gewahrt bleiben soll.

2.18.   Eine wirksame Beteiligung europäischer Universitäten an der europäischen Integration ist ein langwieriger Prozess. Dozenten, Wissenschaftler, Forscher und Studierende beteiligen sich zunehmend mehr an den internationalen Programmen; aber die Universitäten als Institutionen werden noch oft von Traditionen und einzelstaatlichen Regelungen gehemmt. Die Weiterentwicklung wird auch dadurch verlangsamt, dass die Bildung in den europäischen Verträgen weiterhin nicht thematisiert wird.

2.19.   Die weltweite Vernetzung von Wissenschaftlern und Forschern nimmt aufgrund der Interaktionen zwischen Universitäten, Forschungsinstituten und multinationalen Unternehmen zu. Diese Tendenz spiegelt sich auch in den Gemeinschaftsprogrammen wider.

2.20.   Diese Stellungnahme konzentriert sich auf neue Tendenzen und Rahmenbedingungen, um die Universitäten effizienter und augenfälliger in die europäische Integration einzubeziehen. Die Universitäten sollten im Einklang mit ihrer historisch gewachsenen Bestimmung nicht nur von der Lissabon-Agenda angestoßen werden, sondern selbst als wesentliche Impulsgeber des Prozesses fungieren.

3.   Allgemeine Anmerkungen

3.1.   In den letzten Jahrzehnten wurden immer mehr Initiativen und Programme zur Förderung der Internationalisierung der Hochschulbildung in Europa aufgelegt.

3.2.   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Universitäten am neuen Programmzyklus der Lissabon-Strategie konkret beteiligt werden sollten, um ihnen neue Impulse zu verleihen.

3.3.   Internationale Analysen belegen allerdings einstimmig, dass die europäische Wissenschaft angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich die Technologie und Innovation entwickelt und der Wettbewerb zunimmt, im Großen und Ganzen unzureichend auf die Zukunft vorbereitet ist und relativ gesehen sogar an Boden verliert (7).

3.4.   Ziele müssen die optimale Talententfaltung und der gleichberechtigte Zugang in ganz Europa - einschließlich des Übergangs zwischen verschiedenen Ebenen der Hochschulbildung und des lebenslangen Lernens - unter Vermeidung jeder Form der Diskriminierung sein. Ein besonderes Problem ist die hohe Zahl der Studienabbrecher. Es sind effizientere Methoden der Betreuung zu entwickeln. Der öffentliche Auftrag der Hochschulen in Europa muss erhalten bleiben; er stellt kein Hindernis für die Gewährleistung von Qualität und Spitzenleistungen dar (8).

Trotz aller Unterschiede, zu denen auch noch erhebliche Qualitätsunterschiede bei Forschung und Lehre hinzukommen können, sollten die europäischen Gemeinsamkeiten untersucht werden. Im Rahmen dieser Stellungnahme lohnt es sich, folgende Punkte hervorzuheben:

3.5.1.   Grad an Autonomie. Die Situation ist äußerst komplex. Denn wenngleich die Tendenz besteht, den Universitäten mehr Autonomie zu gewähren, bleibt die Einmischung durch staatliche Behörden gemeinhin vorherrschend (9). Mit dem Mangel an Eigenständigkeit und Eigenverantwortung gehen in der Regel tradierte Sichtweisen und eine Überregulierung einher. Staatliche Strukturen, die durch Mitwirkung staatlicher Behörden getragen werden, dürfen die Autonomie nicht hemmen (10). Ziele sollten eine bessere Vorbereitung der Studierenden auf den Arbeitsmarkt und eine stärker praxisbezogene Einstellung gegenüber Forschung und Innovation sein.

3.5.2.   Art der Finanzierung. Auch hier ist die Situation sehr uneinheitlich; im Großen und Ganzen spielen jedoch öffentliche Mittel eine entscheidende Rolle (11). Dadurch werden die Hochschulen und Forschungseinrichtungen grundsätzlich in sehr hohem Maße abhängig von u.a. politischen Prioritäten, was oft zu Unterfinanzierung führt. Darüber hinaus gibt es zu wenige Anreize für die Diversifizierung der Finanzierungsquellen, wie z.B. die Finanzierung durch Stiftungen und Firmen, und für die Einführung von Studiengebühren (neben Stipendien und Darlehen) (12).

3.5.3.   Mangel an Transparenz. Mangels verlässlicher Vergleichsdaten können weder Studierende noch Forscher relevante Fachschwerpunkte und Fachstudiengänge in Europa ausfindig machen. Als Transparenzinstrument wäre eine europäische Klassifizierungsmethodik von entscheidender Bedeutung. Sie würde den Austausch und die Zusammenarbeit im Rahmen der verfügbaren Hochschul- und Forschungsprogramme in Europa sowie ein angemessenes Informations- und Qualitätsniveau fördern. Dies könnte auch der allgemeinen Mobilität der Studierenden und Forscher dienen.

3.6.   Da für die Bildung und Hochschulbildung ausschließlich die Mitgliedstaaten zuständig sind, wird in Universitäten nicht zwangsläufig dazu angeregt, über den eigenen Horizont und die nationalen Grenzen hinauszublicken. Das Ergebnis ist ein zersplittertes System von Hochschuleinrichtungen, das häufig von der Außenwelt und ihrer Dynamik mehr oder weniger abgeschottet ist.

3.7.   Aufrechterhalten wird diese Fragmentierung darüber hinaus von unterschiedlichen Qualitätsanforderungen (auch bei der Umsetzung des Bachelor/Master-Modells), wenig attraktiven Arbeitsbedingungen, oftmals schlechter finanzieller Ausstattung, wodurch Offenheit, gemeinsame wissenschaftliche Werte und grenzüberschreitende Mobilität nur für eine privilegierte Minderheit zugänglich sind.

3.8.   Ein geringes Maß an Selbstbestimmung führt tendenziell zu Gleichförmigkeit und Homogenität der Universitäten. In einigen Ländern fördert dies „allgemeine“ Studiengänge und Forschungseinrichtungen anstelle von Heterogenität und qualifizierter Spezialisierung.

3.9.   Forschungs- und Innovationsprogramme, die vielfach auf einzelstaatlichen Innovationsplattformen definiert werden, sind überwiegend einzelstaatlich orientiert und generell nicht Bestandteil eines umfassenderen Konzepts. Überlappungen und unterschiedliche Zeitpläne und Inhalte verstärken die Zersplitterung und verhindern somit eine Spezialisierung.

3.10.   Dies ist kein fruchtbarer Boden, um ausländische Forscher und Koryphäen anzuziehen, weder aus anderen Mitgliedstaaten noch aus der übrigen Welt. Des Weiteren gibt die Abwanderung von Fachkräften in die USA fortwährend Anlass zu Besorgnis. Währenddessen werben die Chinesen mit ihren eigenen hoch spezialisierten Spitzenuniversitäten. Indien wird diesbezüglich nachziehen.

3.11.   Mehrere europäische Hochschulzusammenschlüsse koordinieren zunehmend ihre Bemühungen um bessere Bedingungen für FuE und um das Qualifizierungspotential in den Bereichen Wissen und Innovationen (13). Gemeinsame Forschungsprogramme sind ein viel versprechendes Instrument der Zusammenarbeit und zur Überwindung der Fragmentierung (14).

3.12.   Der Bologna-Erklärung von 1999, die auf die Schaffung eines europäischen Hochschulraums bis 2010 und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit dieses Raums durch Reformen abzielte, folgte 2006 ein erneuter Appell der Kommission (15), die darin zu Recht zu dem Schluss gelangte: „Dieser entscheidende wirtschaftliche und gesellschaftliche Bereich bedarf jedoch dringend einer grundlegenden Neuorientierung und Modernisierung, um zu vermeiden, dass Europa im weltweiten Wettbewerb in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation unterliegt“ (16).

3.13.   Anpassungen finden zwar statt, aber nicht schnell genug. Darüber hinaus bestehen zwischen den Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede in der nationalen Politik zur Regelung des Hochschulwesens.

3.14.   Die derzeit in akademischen Kreisen geführten Diskussionen zeigen leider, dass auch die Schritte auf dem Weg zum Europäischen Hochschulraum zu zögerlich sind.

3.15.   Das Fehlen europäischer Maßnahmen könnte immense Kosten zur Folge haben. Vor diesem Hintergrund empfiehlt der EWSA, dass der neue Zyklus der Lissabon-Strategie 2010 auch eine zielgerichtete Modernisierung und Zusammenarbeit der Hochschulen, eine bessere europäische Koordinierung und eine wirkliche Transparenz mittels Klassifizierungen umfassen sollte.

4.   Notwendigkeit neuer Perspektiven

4.1.   Die Lissabon-Strategie ist der Versuch, ein Gleichgewicht zwischen Konvergenz und Koordinierung auf EU-Ebene und der Wahrung einzelstaatlicher Zuständigkeiten zu erreichen, indem gemeinsame Ziele festgelegt und vergleichbare Programme und Maßnahmen in ganz Europa gefördert werden. Nach Auffassung des EWSA können und sollten die Hochschulen als Schlüsselakteure für Bildung, Forschung und Innovation eine genau definierte Rolle in der Lissabon-Agenda erhalten.

4.2.   Gerade jetzt - in der derzeitigen Krise - erscheint es wünschenswert, das Gewicht zunehmend auf Bildung und Innovation (im weitesten Sinne) zu legen, was neue Wege und Chancen eröffnen dürfte. Die laufenden Programme für FuE und für angewandte Technologien sollten fortgesetzt und die Mobilität (17) von Hochschulstudenten und -dozenten muss in ganz Europa sichergestellt werden.

4.3.   Vor diesem Hintergrund unterstreicht der EWSA, dass im Interesse größerer Transparenz vergleichbare Daten (18) und eine europaweit zuverlässige Methodik für die Bewertung und den Vergleich der Leistungen von Hochschulen in verschiedenen Bereichen, z.B. Bildung, Forschung und Innovation, dringend erforderlich sind. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass es im Hinblick auf die erwünschte Heterogenität, Spezialisierung und Diversität kein einfaches Verfahren für die Sammlung solcher Daten geben kann. Aber durch die Anwendung unterschiedlicher Verfahren kann die Methodik und die Festlegung von Kriterien verbessert werden. Wünschenswert ist auch die Zusammenarbeit mit der OECD.

4.4.   Mit den in Kapitel 2 erwähnten Programmen wird der grenzüberschreitende Austausch substanziell unterstützt. Die Einrichtung eines Europäischen Forschungsrates (ERC) ist ein großer Schritt nach vorn. Als Impulsgeber für Forschungsprojekte muss der Europäische Forschungsrat die Internationalisierung der Universitäten fördern. Forschungsfinanzierung und Forschungstätigkeit müssen zwei streng voneinander getrennte Bereiche bleiben.

4.5.   Der ERC bringt durch die Einführung der sog. „fünften Freiheit“, die eng mit der Charta für Forscher und dem Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern zusammenhängt, eine größere grenzüberschreitende Mobilität von Forschern mit sich (19). Im Hinblick auf das gewünschte Ergebnis werden an Hochschulen entsprechend angepasste Strukturen und bessere administrative und steuerliche Rahmenbedingungen dringend benötigt.

4.6.   Die Einrichtung eines Europäischen Technologieinstituts (ETI) ist ein weiterer großer Fortschritt. Das ETI hat die Aufgabe, Kontakte und Partnerschaften zu fördern. Gleichzeitig sollte die europäische Koordinierung von Hochschulprogrammen verbessert werden. Der neue Vorschlag der Kommission zur Schaffung eines EU-Forums für den Dialog zwischen Hochschule und Wirtschaft ist der nächste wichtige Schritt.

4.7.   Bisher sind die Hochschul- und Forschungseinrichtungen nicht Teil der vom Rat festgelegten fünf Partnerschaftsinitiativen zur Entwicklung des europäischen Forschungsraums. Tatsächlich werden im Rahmen der im Grünbuch zur Entwicklung dieses Raums (20) genannten sechs Schwerpunkte ausgerechnet die Universitäten (und im Allgemeinen die Forschungseinrichtungen) nicht zur Vertiefung der Zusammenarbeit herangezogen. Das entspricht nicht der Auffassung des EWSA, dass auch Universitäten in die Lissabon-Strategie einbezogen werden müssen (21).

4.8.   Analog dazu sollten in Europa die Bedingungen für große Forschungsanlagen (CERN) und andere gemeinsame Forschungszentren im Rahmen von Hochschulzusammenschlüssen verbessert werden. Eine umfangreiche Infrastruktur erfordert eine kritische Masse und zieht viele engagierte Forscher an, die wiederum zusätzliche Finanzmittel mobilisieren können.

4.9.   Der EWSA ist der Auffassung, dass die gegenwärtige Krise ein neuer Ausgangspunkt sein und kohärente und nachhaltige Perspektiven eröffnen sollte, damit Europa auch weiterhin ein ernstzunehmender Wettbewerber und Partner in Wissenschaft und Technik bleibt.

5.   Reaktionen auf aktuelle Entwicklungen

5.1.   Engagement der Mitgliedstaaten und Universitäten

5.1.1.   Die drei Säulen Bildung, Wissenschaft und Innovation erfordern ein deutliches Engagement der Mitgliedstaaten. Notwendig ist zudem eine umfassende eigenständige Beteiligung der Hochschulen. Schließlich sollte damit auch die Mitwirkung der Privatwirtschaft einhergehen. Die besten Ergebnisse werden durch einen flexiblen Top-down- und Bottom-up-Prozess mit vielen Interessenträgern erreicht.

5.1.2.   Zu berücksichtigen ist, dass die globale Netzwerkbildung, die Entwicklung in Forschung und Technologie, die gezielte Spezialisierung und die Ungebundenheit von Nachwuchstalenten ein neues Betätigungsfeld für (nationale) Universitäten schaffen und ihnen neue Horizonte eröffnen (22).

5.1.3.   Das sollte nicht zulasten der kulturellen Vielfalt gehen - im Gegenteil. Die nationale und regionale Vielfalt machen Europas Reichtum aus. Es liegt aber auf der Hand, dass angesichts der Vielfältigkeit der Hochschullandschaft und ihrer Ausläufer eine die gemeinsame Analyse und vereinbarte Ziele umfassende Gesamtstrategie zur Aufhebung noch bestehender Hindernisse und zur Förderung von Qualität und nicht zuletzt von Spezialisierung besser geeignet ist.

5.1.4.   In erster Linie bedarf es einer gemeinsamen Ausrichtung und einer gemeinsamen Haltung aller Hochschuleinrichtungen, z.B. gemeinsame akademische Werte, kulturelle und akademische Offenheit, weniger Bürokratie, grenzüberschreitende Kanäle, Transparenz bei Berufsqualifikationen und -abschlüssen, grenzübergreifende Technologieprojekte, grenzüberschreitende Mobilität. All dies kann unter Beibehaltung der kulturellen Vielfalt verwirklicht werden.

5.1.5.   Mehr Autonomie und Selbstbestimmung, Flexibilität in Finanzierungsfragen und Transparenz fördern die von den Hochschulen selbst ergriffenen Modernisierungsinitiativen. Sie führen zu einem Bottom-up-Prozess für höhere Standards, bessere Qualität und Spezialisierung.

5.1.6.   Auch die demographische Entwicklung in Europa dürfte ein starker Anreiz sein, das Hochschulwesen sowohl für die Studenten aus Europa als auch für begabte Drittstaatsangehörige anzupassen. Ohne Anpassung wird es künftig substanzielle Defizite geben. Europa braucht eine größere Zahl hochqualifizierter Personen, um die Produktivität durch Forschung, Wissensverbreitung und Innovationsfähigkeit zu stärken.

5.1.7.   Es sollte nicht vergessen werden, dass sogar die USA nur deshalb ihre Führungsposition in einer Reihe von Bereichen halten können, weil ihre Universitäten für Ausländer so attraktiv sind.

5.2.   Transparenter Wettbewerb und Qualitätsbewertung

5.2.1.   Die in der Lissabon-Strategie skizzierte wissensbasierte Gesellschaft erfordert ein höheres Maß an fach- und sektorübergreifender Bildung und Forschung und die Abkehr von einer monodisziplinären Ausrichtung.

5.2.2.   Die Förderung eines transparenten Wettbewerbs zwischen den Hochschulen wird nicht zu Uniformität, sondern zu Differenzierung und Spezialisierung führen. Letzteres hat auch, sofern erwünscht, Kofinanzierungen durch den Privatsektor zur Folge (23).

5.2.3.   Vor diesem Hintergrund begrüßt der EWSA nachdrücklich die jüngste Initiative der Kommission, ein europäisches Hochschul-Ranking zu erstellen.

5.2.4.   Ein europäisches Ranking sollte das Ergebnis eines gründlichen Bewertungsverfahrens durch ausgewählte Sachverständige sein und neben den wissenschaftlichen Veröffentlichungen auch die Qualität der Bildung und Lehre, Forschung, Innovation, Kontakte, Bestandsaufnahme der Fachgebiete, interdisziplinäre Kompetenzen, institutionelle Beziehungen zwischen Hochschulen und unabhängigen Forschungseinrichtungen (24) sowie Logistikdienstleistungen für Studierende berücksichtigen. Zur Bewertung der Leistung von Universitäten bedarf es mehrdimensionaler europäischer Bewertungsmethoden.

5.2.5.   Das „Mapping“ dürfte wahrscheinlich einer gezielten grenzüberschreitenden Mobilität von Studenten, Dozenten, Professoren und Forschern Vorschub leisten. Es trägt der zunehmenden Tendenz Rechnung, dass die junge Generation der Studierenden dorthin geht, wo sie die für ihr Fachgebiet besten Studienangebote findet, und fördert folglich das Potenzial an Talenten.

5.2.6.   Darüber hinaus wird das „Mapping“ durch die Schaffung von Netzwerken und Kooperations- und Wettbewerbsstrukturen in ganz Europa zur Anhebung des mittelmäßigen Forschungsniveaus beitragen. Diese Netzwerke und neuen Partnerschaften zwischen einer zunehmenden Zahl von Exzellenzzentren werden zu einem Beziehungsgeflecht auf hoher Ebene und grenzüberschreitenden interdisziplinären Forschung führen und den Weg für neue Lösungen bereiten.

5.3.   Externe Einflüsse und Querverbindungen

5.3.1.   In der gegenwärtigen Situation lastet auf den öffentlichen Ausgaben überall großer Druck. Der EWSA drängt darauf, dass die Haushaltsmittel für Bildung und Hochschulen nicht gekürzt, die Wissensinfrastruktur aufrechterhalten und die laufenden Reformprogramme weitergeführt werden.

5.3.2.   Aktuelle Entwicklungen in Forschung und Technologie unterstreichen die Notwendigkeit von Modernisierungsmaßnahmen und neuen Lösungen. Neben den erforderlichen Anpassungen der Universitäten selbst muss auch auf öffentlich-öffentliche bzw. öffentlich-private Partnerschaften hingewirkt werden. Private Finanzierungen können den Trend zu problemorientierter Forschung beschleunigen - eine Methode, die in den USA zunehmend Erfolg hat.

5.3.3.   Eine europäische Koordinierung der einzelstaatlichen Innovationsprogramme, an denen die Hochschulen teilnehmen, kann vorteilhaft und produktiv sein. Noch beruhen diese Programme, die vielfach von nationalen Innovationsplattformen festgelegt werden, auf einzelstaatlichen Fachgebieten und Schwerpunktsetzungen. Sie tragen folglich normalerweise zu wenig der allgemeinen europäischen Agenda bzw. Terminplanung Rechnung und lassen Überschneidungen oder wünschenswerte Spill-over-Effekte im europäischen Kontext außer Acht.

Darüber hinaus sind in bestimmten Fällen grenzüberschreitende und europaweite Ansätze und Projekte ausgesprochen wünschenswert.

5.3.4.   Sicherlich können auch die Gemeinsamen Technologieinitiativen - auf europäischer Ebene festgelegte und kofinanzierte öffentlich-private Projekte - in dieser Hinsicht förderlich sein.

5.3.5.   Ein erfolgreiches einzelstaatliches Programm, das als anschauliches Beispiel für europäische Anwendungen und die Verbesserung der europaweiten wissenschaftlichen Errungenschaften dienen kann, ist die Deutsche Exzellenzinitiative 2005 (25).

5.3.6.   Eine Lissabon-Agenda für Hochschulen wird - neben bereits bestehenden europäischen Programmen mit eigenen Anreizen - die Wettbewerbsfähigkeit im Hochschulbereich in größerem Umfang stärken und Spitzenleistungen zur Folge haben.

5.3.7.   Nach Auffassung des EWSA kann die Einführung von beratenden Bildungsplattformen auf europäischer Ebene (26) - in Analogie zu den Technologieplattformen - nützlich sein, um Bildungsprogramme und die Bildungsagenda für Europa zu erörtern, z.B. die Erfordernisse des europäischen Arbeitsmarktes, wünschenswerte Kompetenzen, Akkreditierungssysteme, praktische Aspekte des lebenslangen Lernens, Qualifikationen und Berufsbilder, moderne Unterrichtsmethoden usw.

5.3.8.   Diese beratenden Bildungsplattformen sollten über akademische Kreise hinaus auf nichtstaatliche Akteure - Sozialpartner und Zivilgesellschaft - ausgeweitet werden.

5.4.   Erleichterung der Mobilität

5.4.1.   Junge Menschen betrachten Europa tatsächlich als Einheit. Europaweite, zuverlässige und transparente Informationen über die besten Studiengänge in den einzelnen Fachgebieten sowie über die Spezialisierung der Universitäten und Fakultäten kommen den Erwartungen vieler Jugendlicher entgegen und fördern den grenzüberschreitenden Austausch. Studierende und Dozenten sollten mehr Möglichkeiten für eine grenzüberschreitende Laufbahn in Europa erhalten. Ein verstärkter Austausch von Forschern - auch zwischen öffentlichen Institutionen und dem Privatsektor - wäre zweifellos vorteilhaft.

5.4.2.   Die Hindernisse für Spezialisierungen - einem fruchtbaren Boden für den Austausch junger begabter Forscher - müssen auf europäischer Ebene eingehend untersucht werden. Durch Informationsarbeit und die Schaffung europäischer Zentren für Spitzenleistungen in Forschung und Bildung wird ein konstruktiver Wettbewerb zwischen europäischen Hochschulen angeregt.

5.4.3.   Ein zukunftsorientiertes europaweites Konzept für Forscher und Studierende aus Drittstaaten wäre sehr wünschenswert. Einige Länder haben bereits Schritte in diese Richtung unternommen (27).

5.4.4.   An sich sind unterschiedliche Arbeitsverträge nicht besonders problematisch. Divergierende sekundäre Arbeitsbedingungen können jedoch ein Hindernis darstellen, z.B. spezifische einzelstaatliche Sozialversicherungsregelungen. Sehr zu begrüßen ist die derzeitige Prüfung der Möglichkeiten für einen gesamteuropäischen Pensionsfonds für Forscher. Die in der Mitteilung der Kommission „Bessere Karrieremöglichkeiten und mehr Mobilität: eine europäische Partnerschaft für die Forscher“ festgelegten Grundsätze sollten gefördert werden (28).

5.4.5.   Ein Sonderfall sind Finanzierungsprogramme und –projekte. Da die Zuständigkeiten und Verwaltungsverfahren von Land zu Land unterschiedlich sind, sollten diese sorgfältig geprüft werden, um die Internationalisierung zu erleichtern.

5.4.6.   Eine erleichterte Mobilität wird ihrerseits die Attraktivität der bestehenden sowie der neuen Wissenszentren und -cluster in Europa erhöhen. Diese werden interdisziplinäre Tätigkeiten begünstigen und die dringend erforderlichen Querverbindungen zwischen Wissenschaft und Privatsektor stärken, wie die Kommission betont.

5.5.   Die regionale Dimension

5.5.1.   Wirtschaftscluster, Hochschulen, Forschungseinrichtungen und den privaten Sektor miteinander zu verbinden, sind gemeinhin schlagkräftige regionale Waffen. Cluster können auch die regionale Weiterentwicklung fördern. Regionen und Hochschulen sollten dazu angehalten werden, effizienter zusammenzuarbeiten.

5.5.2.   Die Erfahrung zeigt, dass durch eine Ausweitung von Exzellenzzentren mit herausragender Forschung und Lehre die Zusammenarbeit mit Unternehmen in Regionen und Ballungsräumen vertieft wird (29). Eine deutlichere Einbettung der Hochschulen und ihrer Fachinstitute in ihr natürliches Umfeld fördert das Wachstum und die Beschäftigung in Ballungszentren.

5.5.3.   Spezialisierungen und Vielfalt eröffnen unterschiedliche Wege zu Spitzenleistungen. Einige Universitäten konkurrieren und kooperieren auf globaler Ebene miteinander, andere sind regionale Exzellenzzentren.

5.5.4.   Alle Hochschulen müssen darin bestärkt werden, sich in der sie umgebenden Gesellschaft zu engagieren. Neben ihren Kernaufgaben Bildung und Erziehung müssen sie auch Tertiäraktivitäten entwickeln, z.B. Wissens- und Innovationsvermittlung, Einsatz auf kommunaler Ebene, lebenslanges Lernen und Förderung der regionalen und lokalen Entwicklung.

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe unter Ziffer 5.2.4 eine ausführliche Liste der wünschenswerten Indikatoren.

(2)  Siehe auch die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Auf dem Weg zur europäischen Wissensgesellschaft - Der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zur Lissabon-Strategie“ (ABl. C 65 vom 17. März 2006, S. 94), in der die „Errichtung eines gemeinsamen europäischen Wissensraums (…), der auf einer intensiveren Zusammenarbeit in den Bereichen Lernen, Innovation und Forschung basiert“ nachdrücklich gefordert wird.

(3)  Unterschiedliche akademische Strukturen und Traditionen geben Anlass zu einer umfassenden Debatte über den Bologna-Prozess und seine Durchführung. Siehe etwa für Deutschland die Veröffentlichungen des „Deutschen Hochschulverbands“.

(4)  Das intellektuelle Potenzial Europas wecken: So können die Universitäten ihren vollen Beitrag zur Lissabonner Strategie leisten (KOM(2005) 152 endg.); Das Modernisierungsprogramm für Universitäten umsetzen: Bildung, Forschung und Innovation (KOM(2006) 208 endg.); Eine neue Partnerschaft zur Modernisierung der Hochschulen: EU-Forum für den Dialog zwischen Hochschule und Wirtschaft (KOM(2009) 158 endg.).

(5)  Im Mittelpunkt des Grünbuchs vom April 2007 stehen sechs Bereiche, in denen der europäische Forschungsraum entwickelt werden soll: Forscher, internationale Zusammenarbeit, gemeinsame Forschungsprogramme, Forschungsinfrastruktur, Wissenstransfer und geistiges Eigentum. Siehe auch Stellungnahme des EWSA, ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 1.

(6)  Empfehlung der Kommission vom 11. März 2005, vom Rat angenommen …

(7)  Siehe u.a. The future of European Universities, Renaissance or Decay von Richard Lambert und Nick Butler, Centre for European Reform, Juni 2006, sowie High Aspirations, Agenda for reforming Universities, Breugel, August 2008. Hier begründen die Autoren ihre Standpunkte zur Hochschulbildung und die Formulierung einer ehrgeizigen Agenda auf Seite VII mit der Überzeugung, dass die Modernisierung der Universitäten ein wichtiger Hebel für die Wachstumsleistung Europas ist. Vor diesem Hintergrund begrüßt der EWSA die vor Kurzem vom europäischen Hochschulverband verabschiedete Erklärung von Prag, in der nicht nur eine klare Botschaft an die politischen Entscheidungsträger gerichtet wird, sondern auch zehn maßgebliche Faktoren für den Erfolg der europäischen Universitäten im nächsten Jahrzehnt aufgezeigt werden.

(8)  In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die Universität Berkeley, die den dritten Platz im US-Ranking einnimmt, eine öffentliche Einrichtung ist.

(9)  Manchmal kommt es sogar zu Rückschritten. Ein anschauliches Beispiel ist das Hochschulgesetz von 2003 in Dänemark, mit dem der politische Einfluss vergrößert und die Freiheit der Forscher und der Universitäten erheblich eingeschränkt wurde.

(10)  Nicht nur die „Autonomie“ der Universitäten, sondern auch ihre „Selbstverwaltung“ muss berücksichtigt werden.

(11)  Ein unerwünschter Nebeneffekt besteht darin, dass nur wenige Hochschulen über genaue Gesamtkostenberechnungen verfügen.

(12)  Der EWSA bezieht sich hier auf die Kommission: Studiengebühren können herangezogen werden unter der Voraussetzung, dass sie von Stipendien und Darlehen flankiert werden, um einen gleichberechtigten Zugang zu gewährleisten.

(13)  Liga Europäischer Forschungsuniversitäten, Coimbra-Gruppe, IDEA League, RISE.

(14)  Eine solche grenzüberschreitende Zusammenarbeit wird auch für die Grundlagenforschung, die im Rahmen umfassender EU-Vorhaben betrieben wird, fruchtbar sein.

(15)  Mitteilung „Das Modernisierungsprogramm für Universitäten umsetzen: Bildung, Forschung und Innovation“, Mai 2006, (KOM(2006) 208 endg.). Siehe auch die Mitteilung „So können die Universitäten ihren vollen Beitrag zur Lissabonner Strategie leisten“, April 2005, KOM(2005) 152 endg.

(16)  KOM(2006) 208 endg., S. 11.

(17)  Bezüglich der großen Bedeutung der Mobilität von Studierenden siehe Erklärung des Rates vom April 2009 zum Bologna-Prozess: Bis 2020 sollten mindestens 20 % der Graduierten ein Studium oder eine Ausbildung im Ausland absolviert haben.

(18)  Hinsichtlich dieser Daten müssen die verschiedenen Finanzierungs-/Förderungsverfahren und –stellen für FuE sowie die Bedeutung der Mitarbeit und Beteiligung von hochschulexternen Forschungsorganisationen und Industrieunternehmen berücksichtigt werden.

(19)  Siehe Fußnote 4.

(20)  Siehe Fußnote 2.

(21)  Zu den Standpunkten der Mitgliedstaaten und dem Ansatz des EWSA siehe die Ergebnisse der öffentlichen Anhörung zum Grünbuch vom April 2008, S. 20 ff.

(22)  Siehe u.a. „The Third Generation Universities“ von Prof. Wissema, eine Beschreibung der gegenwärtigen Herausforderungen und Chancen für die Hochschulen, die an konkreten Beispielen veranschaulicht werden (Universität Cambridge, Universität Löwen usw.).

(23)  Das Beispiel der USA zeigt, dass aufgrund von Transparenz, Differenzierung und Spezialisierung jeder Forscher und Wissenschaftler die für das jeweilige Fachgebiet am besten ausgestattete US-amerikanische Universität kennt. Diese Grundbedingungen begünstigen auch Kofinanzierungen durch den Privatsektor und durch Stiftungen.

(24)  In manchen europäischen Staaten wie Frankreich und Deutschland wird ein Großteil der Forschung in Forschungseinrichtungen durchgeführt, die enge Kontakte zu Hochschulen haben; dies sollte weiter gefördert werden.

(25)  Ziel der Exzellenzinitiative 2005 war es, die Attraktivität des Forschungsstandorts Deutschland zu erhöhen, ihn wettbewerbsfähiger zu machen und die Aufmerksamkeit auf die herausragenden Leistungen der deutschen Hochschulen und der deutschen Wissenschaftsgemeinde zu lenken. Das mit 1,9 Mrd. EUR für 2006-2011 ausgestattete Programm unterstützt die Spitzenforschung.

(26)  Die „Bildungsplattformen“ wurden von Herrn van Vught, ehemaliger Vorsitzender des Rektorats der Universität Twente, auf dem EU-Forum für den Dialog zwischen Hochschule und Wirtschaft am 6. Februar 2009 vorgeschlagen. Interessant ist, dass es in Finnland nur wenige Rechtsvorschriften zu Hochschulen gibt, während die drittelparitätische Überwachung von maßgeblicher Bedeutung ist.

(27)  Zu diesen Ländern gehören die Niederlande, wo es rund 10 000 Doktoranden gibt, von denen 30 % aus dem Ausland stammen.

(28)  Bessere Karrieremöglichkeiten und mehr Mobilität: Eine europäische Partnerschaft für die Forscher, KOM(2008) 317 endg.

(29)  Unter den zahlreichen Beispielen seien Cambridge, Eindhoven, Stuttgart und die Öresund-Region hervorgehoben. Siehe auch die laufenden OECD-Projekte und Veröffentlichungen zur Hochschulbildung in der Regional- und Stadtentwicklung (http://www.oecd.org/document/16/0,3343,en_35961291_34406608_1_1_1_1,00.html).


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/56


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Auswirkungen der Tätigkeit von Beteiligungsfonds, Hedge-Fonds und Staatsfonds auf den industriellen Wandel in Europa“

(Initiativstellungnahme)

(2010/C 128/10)

Berichterstatter: Peter MORGAN

Ko-Berichterstatter: Ion POP

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 26. Februar 2009 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Auswirkungen der Tätigkeit von Beteiligungsfonds, Hedge-Fonds und Staatsfonds auf den industriellen Wandel in Europa.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 10. September 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) mit 167 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Ziel dieser Stellungnahme ist es, die Auswirkungen von Staatsfonds (SWF) und alternativen Investmentfonds (AIF) auf den industriellen Wandel zu untersuchen. Zu den AIF gehören Beteiligungsfonds (Private-Equity-Fonds - PE) und Hedge-Fonds (HF). Der EWSA hat die Gesellschaft „Wilke Maack und Partner“ (WMP) als Berater beauftragt, die daraufhin einen 87-seitigen Bericht erstellte. Die Leser dieser Stellungnahme werden auf diesen Bericht verwiesen, der eine umfassende Analyse zum Thema enthält. Ein völlig anderes Licht auf AIF und Staatsfonds wirft der Bericht „The New Power Brokers“, der auf der Internetseite des McKinsey Global Institute veröffentlicht wurde.

1.2.   Die in dieser Stellungnahme untersuchten Fonds wirken sich unterschiedlich auf den industriellen Wandel (bzw. den Unternehmenswandel) aus. Staatsfonds sind herkömmliche Anleger, die auf dem Markt als Käufer und Verkäufer auftreten. Hedge-Fonds kaufen und verkaufen Aktien überwiegend als Händler, obgleich einige auch als aktive Investoren auftreten. Die im außerbörslichen Bereich tätigen Beteiligungsfonds verfolgen eine Strategie der Einflussnahme auf die Unternehmensführung (hands on). Die drei Investitionsarten lassen sich nicht in einen Topf werfen, da sie sich erheblich voneinander unterscheiden. Jeweils am Ende der Abschnitte 3, 4 und 5 wird eine von WMP durchgeführte SWOT-Analyse (Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken) aufgeführt.

1.3.   Aus der Erfahrung und Forschung geht ein einziger Aspekt übereinstimmend und sehr deutlich hervor: Bezüglich aller sozialer Konsequenzen und auch industrieller Veränderungen wäre eine bessere Bereitstellung und Verbreitung von Informationen und insbesondere eine stärkere Transparenz von großem Vorteil. Der Ausschuss unterstützt in jedem Fall mit Nachdruck, dass diese drei Aspekte verbessert werden.

1.4.   Außerbörsliches Beteiligungskapital ist unter drei wichtigen Aspekten zu betrachten. Es hat positive Auswirkungen, wenn es als Risikokapital und bei der Finanzierung einer Sanierung und Reorganisation von Unternehmen sowie für das Wachstum von Familienunternehmen eingesetzt wird. Andererseits kann die aggressive Finanzierungstechnik, die in letzter Zeit im Zusammenhang mit größeren fremdfinanzierten Unternehmensübernahmen (LBO - leveraged buyout) angewandt wird, zur Insolvenz oder Beinahe-Insolvenz vieler Unternehmen mit möglicherweise leidvollen Konsequenzen für alle Beteiligten, darunter auch für die Arbeitnehmer, führen. Außerdem gibt es eine beachtliche soziale Dimension, die sowohl eine Verbesserung als auch eine Verschlechterung von Beschäftigungsquoten, Einkommensniveau und sozialen Rechten beinhalten kann. Aufgrund von Schwierigkeiten bei der Datenerhebung empfiehlt WMP, äußerst vorsichtig mit Schlussfolgerungen dahingehend zu sein, dass mit außerbörslichem Beteiligungskapital finanzierte Unternehmen vor dem Hintergrund der allgemeinen Beschleunigung des industriellen Wandels und der Umstrukturierungen in den letzten zwei Jahrzehnten schlechter gestellt oder stärkeren Zwängen ausgesetzt seien. In ganz Europa gibt es auch zahlreiche Beispiele für Verschlechterungen von Arbeitsbedingungen und arbeitsrechtlichen Beziehungen, bei denen Beteiligungsfonds keinerlei Rolle spielen.

1.5.   Im Allgemeinen wirkt sich die Tätigkeit von Hedge-Fonds nicht auf den industriellen Wandel aus, aber es gibt wesentliche Ausnahmen. Hedge-Fonds kaufen in beträchtlichem Umfang ausfallgefährdete Unternehmenskredite auf. Sie sind dabei Käufer der letzten Instanz und können so eine wichtige Rolle bei der Rettung und Sanierung in Not geratener Unternehmen spielen. Außerdem sind sie bei Fusionen und Übernahmen in beide Seiten eingebunden. Dies trägt zur Wertsteigerung bei, allerdings sind die Auswirkungen auf den industriellen Wandel nicht immer positiv. Die Orientierung auf kurzfristige Renditen wird als potenziell negativer Aspekt gesehen. Andere Besorgnisse beziehen sich auf die mangelnde Transparenz und das potenzielle Systemrisiko, das sich durch die Fremdfinanzierung zuspitzt.

1.6.   Die Tätigkeit der Staatsfonds ist unter zwei wesentlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Positive Aspekte der Staatsfonds sind ihre in der Regel längerfristige Beteiligung sowie ihre Bereitschaft, als Käufer der letzten Instanz zu agieren. Zu den negativen Aspekten gehören mangelnde Transparenz und die mögliche Nutzung ihrer Anteile für strategisch-politische Zwecke.

1.7.   Die Internationalisierung der Kapitalmärkte ist von großer Bedeutung gewesen. Institutionelle Anleger sind in den Besitz weltweiter Aktienportefeuilles gelangt und haben internationale Fusionen und Übernahmen gefördert. Unternehmen und Regulierungsbehörden wurden dazu gedrängt, Stimmrechte von der Geschäftsführung auf die Aktionäre zu übertragen. Die sich abzeichnende Möglichkeit von Fusionen und Übernahmen sowie der Aufbau von Drohkulissen durch gesteigerte Aktionärsaktivität (Shareholder Activism) haben Unternehmensleitungen in der EU weithin veranlasst, einen Unternehmenswandel einzuleiten. Dies hat in gewissem Maße die Beziehungen zwischen Geschäftsführungen und betroffenen Akteuren beeinträchtigt und die Zeithorizonte für das Handeln der Unternehmensleitungen insgesamt verkürzt. Dies ist der Hintergrund der Tätigkeit von alternativen Investmentfonds und Staatsfonds.

1.8.   Die Verwalter herkömmlicher institutioneller Fonds (CIFM), die für Pensions- und Versicherungsfonds sowie offene Investmentfonds zuständig sind, haben ständig mit Verwaltern alternativer Investmentfonds (AIFM) zu tun. Sie gelten als Hauptinvestoren für alternative Investmentfonds, sie verkaufen ihre Anteile an Beteiligungsfonds für fremdfinanzierte Unternehmensübernahmen, sie kaufen Portfoliogesellschaften, wenn das außerbörsliche Beteiligungskapital aussteigt, ihre Anteile sind im Spiel, wenn HF bei Fusionen und Übernahmen als aktive Investoren auftreten, und sie leihen als Anteilseigner den Hedge-Fonds Aktien, so dass Letztere diese für Leerverkauf-Geschäfte einsetzen. Letzten Endes stehen sie hinter jeder Umwelt-, Sozial- und Unternehmensführungs-Maßnahme, die AIF umsetzen. Verwalter herkömmlicher institutioneller Fonds sind das Pendant zu Verwaltern alternativer Investmentfonds.

1.9.   Gestützt auf die Überlegungen des WMP-Berichts und andere Sichtweisen, die in diese Stellungnahme einfließen, gliedern sich die Empfehlungen des EWSA in drei Kategorien: Regulierung und Transparenz, Änderungen bestehender sozialrechtlicher Regelungen sowie die Verantwortung von Verwaltern herkömmlicher institutioneller Fonds.

1.10.   Regulierungs- und Aufsichtsmaßnahmen für die Verwalter alternativer Investmentfonds sind Gegenstand eines EU-Richtlinien-Vorschlags, zu dem der EWSA eine Stellungnahme erarbeiten wird. Aus Sicht des EWSA ist es wichtig darauf zu verweisen, dass die alternativen Investmentfonds die Krise nicht verursacht haben, sondern vielmehr stark von dieser betroffen sind. Es gibt nach wie vor eine Reihe von Ungewissheiten bezüglich der Rolle dieser Fonds und es ist deutlich mehr Transparenz durch eine angemessene Regulierung erforderlich.

1.11.   Der EWSA befürwortet die sechs übergreifenden Grundsätze für die Regulierung von Hedge-Fonds, die die Internationale Organisation der Wertpapieraufsichtsbehörden (IOSCO) im Juni 2009 vorgeschlagen hat und die in Abschnitt 4 umrissen werden. Der EWSA empfiehlt der Kommission, sich in dem Richtlinienvorschlag auf diese Grundsätze zu stützen und sie für die Regulierung von Verwaltern alternativer Investmentfonds in verstärkter Form anzuwenden. Die IOSCO hat zwar umfassend analysiert, welche Risiken für das Finanzsystem von außerbörslichem Beteiligungskapital ausgehen, jedoch noch keine Rechtsetzungsvorschläge vorgelegt. Der EWSA empfiehlt der Kommission, die für die Hedge-Fonds festgelegten IOSCO-Prinzipien an die Besonderheiten des außerbörslichen Beteiligungskapitals anzupassen.

1.12.   Wie in Abschnitt 5 erörtert, bieten die von den Staatsfonds vereinbarten Santiago-Prinzipien die erforderliche Grundlage für eine bessere Transparenz und Verwaltung der Staatsfonds. Es besteht aber noch weitaus mehr Handlungsbedarf. Der EWSA fordert die Kommission auf, die internationale Arbeitsgruppe der Staatsfonds (IWG) weiterhin dazu zu drängen, die erforderliche Entwicklung voranzubringen.

1.13.   In einigen Rechtssystemen werden Hedge-Fonds und Beteiligungsfonds, die Unternehmen besitzen und kontrollieren, nicht als Arbeitgeber angesehen und sind daher von den gesetzlichen Verpflichtungen der Arbeitgeber ausgenommen. Die europäische Richtlinie über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer, die deren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Fall von Übernahmen schützt, wird bei Übernahmen durch AIF nicht generell angewendet, da sie lediglich die Anteile übernehmen, sodass sich die Identität des Arbeitgebers nicht ändert. Der EWSA empfiehlt, die Richtlinie 2001/23/EG (1) über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer für den Fall einer Übernahme durch einen Hedge-Fonds oder Beteiligungsfonds mit folgender Zielsetzung zu verbessern:

Wahrung der Rechte der betroffenen Arbeitnehmer, einschließlich des Rechts auf Unterrichtung und Anhörung;

Gewährleistung, dass Unternehmensübergänge durch Aktienverkauf nicht von der Richtlinie ausgeschlossen werden;

Sicherstellen, dass diese Maßnahmen den einzelstaatlichen und europäischen Rechtsvorschriften entsprechen.

1.14.   Zwecks Berücksichtigung der Lage, die durch Hedge-Fonds und außerbörsliches Beteiligungskapital entsteht, empfiehlt der EWSA, dass die Richtlinie 94/45/EG (2) des Rates über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats und die Richtlinie 2002/14/EG (3) zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft geändert werden, um ein wirksameres Anhörungsrecht, das der Position aller Parteien gerecht wird, vor Abschluss von Vereinbarungen mit Beteiligungsfonds, bei Umstrukturierungsprozessen jeder Art und vor dem Ausstieg zu gewährleisten.

1.15.   Immer mehr Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften haben Anteile an Hedge-Fonds und Beteiligungsfonds, deren Insolvenz sich negativ auf Ansprüche der Mitglieder von Rentensystemen auswirken könnte. Der EWSA ersucht die Kommission, die Richtlinie 2003/41/EG (4) über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung zu überprüfen, um zu gewährleisten, dass

Arbeitnehmer und Gewerkschaftsvertreter zu den Geldanlagen zur Altersversorgung und den damit verbundenen Risiken angehört und ihre Standpunkte respektiert werden;

die Mitgliedstaaten bewährte Verfahrensweisen anwenden, damit die von Arbeitnehmern erworbenen Betriebsrenten und Betriebsrentenansprüche vor dem Insolvenzfall geschützt werden.

1.16.   Der EWSA fordert die Kommission auf, in der nächsten Richtlinie eindeutige und unmissverständliche Vorschriften aufzustellen, die - auch mittels direkter Beteiligung der Vertreter der Arbeitnehmer und der Unternehmen - eine transparente Verwendung der Fonds sicherstellen.

1.17.   Der EWSA ruft die Verwalter herkömmlicher institutioneller Fonds auf, bei all ihren Geschäften mit Verwaltern alternativer Investmentfonds die Grundsätze für verantwortungsbewusstes Investment (PRI) einzuhalten. Die PRI-Grundsätze, die Umwelt-, Sozial- und Unternehmensführungs-Themen (ESG) einbeziehen, sind auf Initiative einer Gruppe institutioneller Anleger in Zusammenarbeit mit der Finanzinitiative des UN-Umweltprogramms und dem UN-Projekt Global Compact entwickelt worden. Der EWSA empfiehlt, dass die Staatsfonds dem Beispiel des Staatlichen Pensionsfonds Norwegens (Statens pensjonsfond) folgen und die Grundsätze für verantwortungsbewusstes Investment ebenfalls unterzeichnen.

1.18.   Darüber hinaus befürwortet der EWSA die vom Vorstand der PRI-Initiative veröffentlichten Grundsätze für „Verantwortungsbewusstes Investment in private Beteiligungen“ („Responsible Investment in Private Equity“). Die Grundsätze wurden erarbeitet, um Verwaltern herkömmlicher institutioneller Fonds, die in außerbörsliche Beteiligungen investieren, behilflich zu sein, gegenüber den Portfoliogesellschaften, in die sie investieren, ihrer Verantwortung bezüglich einer ESG-bezogenen Verwaltung nachzukommen. Der EWSA würde die Erarbeitung ähnlicher Grundsätze für Hedge-Fonds begrüßen.

2.   Inhaber, Verwalter und Investoren

2.1.   Die meisten Unternehmen in den EU-Mitgliedstaaten sind Privatunternehmen in Familienbesitz. Wenn die Familien die Kontrolle abtreten, kann das Unternehmen von einem anderen Unternehmen übernommen werden (Veräußerung des Unternehmens), an eine Beteiligungsgesellschaft verkauft (Buy out) oder in eine Publikumsgesellschaft durch einen Börsengang (erste öffentliche Zeichnungsaufforderung - IPO) umgewandelt werden. Familienunternehmen sind in ihrer Gesinnung normalerweise auf Langfristigkeit ausgerichtet, die mit einer Eigentümerverantwortung für die anderen beteiligten Akteure, insbesondere die Beschäftigten, verknüpft ist.

2.2.   Einige Unternehmer suchen außerbörsliches Beteiligungskapital zur Unterstützung der Anfangsphase der Unternehmensentwicklung. Gründungskapital (Seed-Kapital) wird zur Finanzierung der Untersuchung, Lagebeurteilung und Entwicklung eines Unternehmenskonzepts für ein Produkt oder eine Dienstleistung bereitgestellt. Start-up-Kapital ist die zur Verfügung gestellte Gründungsfinanzierung zur Produktentwicklung und für die ersten Schritte zur Vermarktung. Für die Einbringung seines spekulativen Kapitals ist der Unternehmer gewöhnlich auf die Familie und Freunde angewiesen, aber auch Business Angel und Risikokapitalgesellschaften können sich für Investitionen entscheiden. Eine Wachstumsfinanzierung dient dem Ausbau eines Unternehmens. In diesem Stadium ist das Einbringen von Risikokapital nicht ungewöhnlich.

2.3.   Außerbörsliches Beteiligungskapital kommt in privat gehaltenen Unternehmen bei deren Übernahme (Buy-Out) zum Einsatz. Dies kann mit dem Ausscheiden einer Gründerfamilie verbunden sein oder es kann voraussetzen, dass ein Unternehmen von der Börse genommen und in eine Personengesellschaft umgewandelt wird. Bei einem Management-Buy-out wird ein Unternehmen durch das eigene Firmenmanagement übernommen, üblicherweise mit finanzieller Unterstützung durch Private Equity. Auch Arbeitnehmer-Buy-outs werden durch Beteiligungsfonds finanziert. Replacement Capital (Ersatzfinanzierung) bezeichnet den Erwerb von Beteiligungen an einer bestehenden Personengesellschaft von einem anderen Beteiligungsfonds. Durch diese Form von Geschäften kann der erste Fonds rechtzeitig Werte abziehen, haben die meisten Beteiligungsfonds doch eine begrenzte Laufzeit.

2.4.   Fusionen und Übernahmen sind ein wichtiger Faktor im Leben eines Unternehmens. Wachsende Unternehmen führen Übernahmen durch, die sie gewöhnlich durch Schuldenaufnahme oder Eigenkapital finanzieren. Bei der Übernahme von Unternehmen spielt häufig eine Rolle, dass sie erhebliche Vermögenswerte haben, die die amtierende Geschäftsführung nicht optimal ausnutzt.

2.5.   Sind bei Unternehmen erste Anzeichen von Scheitern und Misserfolg zu verzeichnen, können sie noch gerettet werden, doch unter Umständen sind drastische Maßnahmen zur Beschleunigung der überfälligen Anpassungen an den industriellen Wandel erforderlich, die Auswirkungen auf die sozialen und wirtschaftlichen Interessen von Anteilseignern, Arbeitnehmern und anderen Stakeholdern haben. Am Ende kann ein Umschwung durch ein neues Management, eine Rettung durch Übernahme, ein Einstieg eines Fonds für außerbörsliche Beteiligungen oder gar eine Sanierung nach Insolvenz stehen.

2.6.   Die meisten Beteiligungsinvestitionen erfolgen in Aktienkapital - als Beteiligung an börsennotierten Unternehmen. Die Internationalisierung der Aktienmärkte ist von enormer Bedeutung gewesen. Aktienanleger beeinflussen den industriellen Wandel (bzw. den Unternehmenswandel) über das Börsengeschehen, indem sie den Erwartungen entsprechende Aktien kaufen und wenig versprechende Aktien verkaufen. Aktieninhaber herkömmlicher institutioneller Fonds beteiligen sich nicht an der Unternehmensführung. Sie teilen der Geschäftsführung ihre Ansichten mit und können den Aufsichtsrat zum Auswechseln des Vorstands auffordern, letztlich beeinflussen sie aber den Unternehmenswandel durch ihren Einstieg und Ausstieg aus einem Unternehmen sowie ihre Unterstützung oder Ablehnung von Fusionen und Übernahmen und Geschäften alternativer Investmentfonds.

2.7.   Investitionen in Unternehmensanteile sind in der Palette der Investmentmöglichkeiten eine Option, die mit einem gewissen Risiko behaftet ist. Anleger kaufen Aktien in der Erwartung, dass deren Wert steigt. Während der durchschnittliche Wert von Portfolios im Zeitablauf steigt, pflegen die Märkte und einzelnen Aktien zu steigen und zu fallen. Die Verwalter herkömmlicher institutioneller Fonds spekulieren entsprechend den Marktzyklen und versuchen, den Wert ihrer Anteile zu optimieren, aber ihre Fonds sind weiterhin den Schwankungen der Börse ausgesetzt.

2.8.   Die Verwalter herkömmlicher institutioneller Fonds verwalten Pensions- und Versicherungsfonds sowie offene Investmentfonds. Außerdem legen vermögende Privatkunden (High Net Worth Individuals - HNWI), die über ein umfangreiches Vermögen verfügen, etwa ein Drittel in anderen, nachstehend aufgeführten Fonds an. Alle herkömmlichen Investoren versuchen die Schattenseite des Börsenrisikos zu mindern. Hierzu wenden sie sich unter anderem an Verwalter alternativer Investmentfonds. Durch die Einlagen vermögender Privatkunden wurde die enorme Expansion der Hedge-Fonds finanziert.

2.9.   Für die Einschätzung der Bedeutung der Fonds sind die Daten, die der Finanzdienstleister „International Financial Services London“ (IFSL) erhoben hat, dienlich. Das weltweit verwaltete Vermögen wurde 2007 in Billionen USD wie folgt geschätzt:

Pensionsfonds

28,2

Staatsfonds

3,3

Versicherungsfonds

19,9

 

 

Offene Investmentfonds

26,2

Hedge-Fonds

2,3

Vermögende Privatkunden (HNWI)

40,0

Beteiligungsfonds

2,0

Die relative Bedeutung von Hedge-Fonds und außerbörslichem Beteiligungskapital ist sowohl durch Konzentration als auch durch Hebelwirkung gestiegen. Staatsfonds haben in groben Zügen dieselben Ziele wie Verwalter herkömmlicher institutioneller Fonds, und sie investieren ebenfalls in Private Equity und Hedge-Fonds. Die absolute Mehrheit des weltweit von Hedge-Fonds verwalteten Vermögens wird heute von institutionellen Anlegern eingebracht, während ein Drittel dieses Vermögens aus Pensionsfonds stammt.

2.10.   Die Renditen von Verwaltern alternativer Investmentfonds übertreffen grundsätzlich diejenigen des herkömmlichen Börseninvestments. Sie sind allgemein erfolgreich bei der Ausführung der Strategie „Höheres Risiko - höhere Rendite“. Zum Beispiel praktizieren Hedge-Fonds-Verwalter durchweg Leerverkäufe. Der Hedge-Fonds leiht sich Aktien der Zielgesellschaft. Diese erhält er von einem Aktieneigentümer mithilfe eines Mittlers, der dafür eine Gebühr kassiert. Anschließend verkauft der Hedge-Fonds die Aktien in der Hoffnung auf Kursverluste. Zu gegebener Zeit muss der HF die Aktien zurückkaufen, um sie dem Besitzer wiederzugeben. Fällt der Aktienkurs, so erzielt der Fonds einen Gewinn, der aber auf 100 % des Einsatzes begrenzt ist. Steigt der Aktienkurs dagegen, ist der potenzielle Verlust unbegrenzt. Leerverkäufe sind somit äußerst risikobehaftet.

2.11.   Hedge-Fonds eröffnen auch Positionen bei Fusions- und Übernahmegeschäften, indem sie gewöhnlich Aktien der Zielgesellschaft kaufen und die Aktien des Käuferunternehmens verkaufen. Da die Gefahr besteht, dass das Geschäft blockiert wird, können HF auch aktiv eingreifen, um dieses Risiko zu mindern. Wie sie in Fusions- und Übernahmegeschäfte eingreifen, so können HF auch Aktienpositionen an Unternehmen aufbauen, um eine Transaktion zu provozieren. Dies ist ein hohes Risiko.

2.12.   Geraten Unternehmen in Schwierigkeiten, verkaufen Verwalter herkömmlicher institutioneller Fonds ihre Anteile. Alternative Investmentfonds sind besonders an ausfallgefährdeten Unternehmenskrediten (Distressed Debt) interessiert, die in der Regel weit unter Wert gehandelt werden. Hierdurch erlangen sie die erforderliche Hebellänge, um bei den anschließenden Verhandlungen den Ton angeben zu können. Im Fall einer Liquidierung kann ein Fonds häufig sein eingesetztes Geld zurückerlangen - und mehr. Während einer Sanierung kann der Fonds dem Unternehmen seine Schulden gegen eine Beteiligung erlassen, die sich möglicherweise auszahlt, wenn sich die Aktien erholen. Eine Sanierung ist für die betroffenen Akteure des Unternehmens von Vorteil, da dadurch die Geschäfte weiter geführt werden können. Anlagen in das Eigen- und Fremdkapital insolvenzgefährdeter Unternehmen (Distressed-Debt-Investitionen) sind mit deutlichen Risiken verbunden. Sie können sich für die Fonds auszahlen, da sie bereit sind sich zu beteiligen, wenn alle anderen aussteigen.

2.13.   Eine fremdfinanzierte Übernahme - (Leveraged Buy-out - LBO) ist eine äußerst risikobehaftete Einbringung von Private Equity. Der Investmentfonds übernimmt ein Unternehmen, ohne selbst viel von dem für das Geschäft erforderlichen Kapital bereitzustellen. Die Transaktion wird in der Regel durch einen Bankkredit und Junk-Bonds finanziert, wobei das Vermögen des Zielunternehmens als Sicherheit dient und die Annahme zugrunde gelegt wird, dass die Zins- und Tilgungszahlungen aus dem Cashflow des Zielunternehmens gedeckt werden. In der derzeitigen Krise haben sich viele solcher Geschäfte als Fehler erwiesen.

2.14.   In diesem Abschnitt wurden die Hintergründe für die Funktionsweise der alternativen Investmentfonds beleuchtet. Wenn im folgenden Kapitel die typischen Tätigkeiten von Verwaltern alternativer Investmentfonds und Staatsfonds beschrieben werden, bedeutet dies nicht, dass die Fonds immer genau in diese Kategorien passen müssen. So können Beteiligungsfonds im Bereich der Hedge-Fonds tätig sein und umgekehrt. Staatsfonds investieren in beide Bereiche.

3.   Außerbörsliches Beteiligungskapital (Private Equity)

3.1.   Beteiligungsfonds sind Pools privat verwalteten Kapitals, die zum Zweck der Investition in personenbezogene Kapitalgesellschaften gebildet werden. Normalerweise sind sie als Kommanditgesellschaften aufgebaut. Der Investitionsfokus von Beteiligungsfonds liegt auf Risikokapital, Ersatzfinanzierungen, ausfallgefährdeten Wertpapieren (Distressed Securities) und Unternehmensübernahmen (Buy-outs). Ein Beteiligungsfonds hat einen 7- bis 10 jährigen Lebenszyklus. Er ist bestrebt, zum Zeitpunkt seiner Schließung einen Gewinn auszuweisen. Die Laufzeit einer typischen Investition beträgt 3-5 Jahre, kann sich aber auf bis zu 10 Jahre ausdehnen. Durch Ersatzfinanzierungen kann ein Fonds seine Laufzeit auch schon beenden, noch bevor all seine Geldanlagen fällig werden.

3.2.   Da die Fonds für außerbörsliche Beteiligungen stark auf die Bereitstellung von Gründungs- und Risikokapital sowie auf die Übernahme ausfallgefährdeter Wertpapiere und Finanzierung von Unternehmensübernahmen ausgerichtet sind, spielen sie eine wichtige Rolle als Triebkraft des industriellen Wandels. Der EWSA hat die große Bedeutung von Risikokapital in einer unlängst verabschiedeten Stellungnahme bekräftigt (5). Der drastische Anstieg der Mittelbeschaffung seitens dieser Fonds zwischen 2004 und 2007 hatte auch erheblichen Einfluss auf den industriellen Wandel in Europa, da insbesondere Kapital für fremdfinanzierte Übernahmen (LOB), die Finanzierung von Fusionen und Übernahmen sowie den Kauf ausfallgefährdeter Wertpapiere bereitgestellt wurde.

3.3.   Übernehmensübernahmen sind der Haupteinsatzbereich des außerbörslichen Beteiligungskapitals. Bei der Einschätzung der entsprechenden Auswirkungen auf den industriellen Wandel (bzw. den Unternehmenswandel) gibt es aber zahlreiche methodologische Probleme. Zu Recht hat WMP auf die „kontrafaktischen Fragen“ verwiesen. Was wäre mit dem betreffenden Unternehmen ohne die Einbringung des Beteiligungskapitals geschehen? Liegen Daten zur Leistung des Unternehmens vor, und nach welchem Kriterium sollten sie gemessen werden? Wie berücksichtigen wir die Tatsache, dass von Beteiligungsfonds übernommene Unternehmen bei weitem keine Zufallsprobe sind?

3.4.   Die Auswirkungen einer Übernahme durch einen Beteiligungsfonds mit einer Vergleichsgruppe von Unternehmen zu vergleichen, die nicht übernommen wurden, ist eine konventionelle Verfahrensweise. Stichhaltige Vergleichsergebnisse würden allerdings mit einer Verleichsgruppe von Unternehmen erzielt, die Gegenstand einer Übernahme durch andere Unternehmen waren. Es wäre überraschend, wenn eine Übernahme durch ein anderes Unternehmen zu einem weniger radikalen Wandel führen würde als eine Übernahme durch einen Beteiligungsfonds, da das übernehmende Unternehmen immer die Absicht verfolgt, höhere Erträge zu erzielen. In ähnlicher Weise ist ein radikaler Unternehmenswandel auch bei einer herkömmlichen Sanierung nach Einsetzen einer neuen Geschäftsführung zu erwarten.

3.5.   2005 bis 2007 boomten fremdfinanzierte Mega-Übernahmen (Mega-LBO). Die Banken vergaben Kredite unter sehr nachsichtigen Bedingungen. Traditionell liegt der Fremdfinanzierungsanteil bei LBO zwischen 60 % und 90 %. Diese Schulden wurden in den Bilanzen der Portfoliogesellschaften und nicht der Beteiligungsfonds selbst verbucht. So ist die Fremdverschuldung breit gestreut und kein Systemrisiko an sich. Die IOSCO hat jedoch festgestellt, dass bei vielen stark fremdfinanzierten Private-Equity-Portfoliogesellschaften eine Wahrscheinlichkeit des Scheiterns besteht, was sich auf Kreditgeber, Käufer von Schuldtiteln und auch auf die Partner der Beteiligungsfonds, wie z.B. Pensionsfonds, auswirkt. Unter dem Gesichtspunkt des industriellen Wandels sind die Stakeholder in den betroffenen Unternehmen am meisten gefährdet. Die Neuordnung und Sanierung dieser Unternehmen sollte mit dem Einverständnis der Stakeholder durchgeführt werden.

3.6.   WMP hat Material in Bezug auf fünf Aspekte der Auswirkungen außerbörslichen Beteiligungskapitals auf den industriellen Wandel auf Unternehmensebene untersucht. Aufgrund methodologischer Probleme und anderer Grenzen der Analyse ist die Beratergesellschaft zu keinem definitiven Schluss gekommen.

3.7.   Hinsichtlich der Unternehmensleistung, Gewinn- und Werteerzeugung ist eindeutig ein positives Ergebnis zu verzeichnen. Eine wichtige Schlussfolgerung aus den Ergebnissen der Erhebung über die Auswirkungen außerbörslicher Beteiligungen auf den durchschnittlichen Mehrwert für die Zielunternehmen ist aber, dass die Ergebnisse nicht erklären, in welchem Maße die beobachtete Werterzeugung auf echte Wertschöpfung und nicht nur auf die Aneignung von Werten zurückzuführen ist.

3.8.   Im Hinblick auf die Beschäftigung ist festzustellen, dass die Auswirkung auf den Personalbestand in den Zielunternehmen zu den umstrittensten Themen der derzeitigen Debatte über Private Equity gehört. Es gibt eine Vielzahl sich widersprechender Studien aus Sicht der Beteiligungsfonds und der Gewerkschaften. Eine Untersuchung von Harvard für das Weltwirtschaftsforum, die von WMP zitiert wird, kommt zu dem Schluss, dass Private-Equity-Anlagen mit größeren Arbeitsplatzverlusten verbunden waren als in der Vergleichsgruppe. Da Beteiligungsfonds aber häufig schwächere Unternehmen übernehmen, deren vorherige Beschäftigungssituation wahrscheinlich nicht haltbar war, wären Umstrukturierungen und Entlassungen möglicherweise in jedem Fall erforderlich gewesen.

3.9.   In der Harvard-Studie wird auch die Ansicht vertreten, dass von Beteiligungsfonds kontrollierte Unternehmen zu einer „kreativen Destruktivität“ neigen: Die Zahl der Übernahmen, Verkäufe, Neuunternehmungen und Schließungen war doppelt zu hoch wie in anderen Unternehmen. In den zwei Jahren nach einer Übernahme durch einen Beteiligungsfonds sind in der Regel 24 % der Beschäftigten von den Folgen betroffen. Dies ist nicht überraschend, wo Sanierung und Reorganisation eine Rolle spielen.

3.10.   Auch in Bezug auf die Entwicklung von Gehältern und Arbeitsbedingungen sind die Auswirkungen der außerbörslichen Beteiligungen äußerst umstritten. Es gibt Anhaltspunkte für beide gegenteilige Standpunkte; WMP ist jedoch zu keinem definitiven Schluss gekommen, da es an einer systematischen Datenerhebung mangelt.

3.11.   In Bezug auf sozialen Dialog, Unterrichtung und Anhörung auf Unternehmensebene wurden bisher kaum aussagekräftige Untersuchungen durchgeführt. Empirische Befunde zeigen, dass bestehende Vereinbarungen und Beziehungen zu den Gewerkschaften in einigen Fällen respektiert werden und in anderen wiederum nicht. Ein Hauptproblem besteht darin, dass die einschlägigen EU-Sozialrichtlinien bei Übernahmen durch Beteiligungsfonds nicht immer angewendet werden.

3.12.   Im Hinblick auf die Unternehmensführung, Unternehmenskultur und Governance wird wieder ein Beitrag aus Harvard zugrunde gelegt. WMP schließt aus diesem, dass der Haupteffekt der außerbörslichen Beteiligungen darin besteht, die Leistungsfähigkeit verstärkt zu überwachen sowie sich von Arbeitnehmern und Standorten zu trennen, die die Leistungskriterien nicht erfüllen. WMP zitiert auch das Europäische Gewerkschaftsinstitut, und zwar dahingehend, dass Fonds für außerbörsliche Beteiligungen mit ihrer auf operative Ziele eingegrenzten Ausrichtung an Themen wie Tarifverhandlungen und Arbeitnehmerbeteiligung weder ideologisch noch mit irgendwelchen Gefühlen herangehen.

3.13.   Im Folgenden wird eine vom Berichterstatter mit Anmerkungen versehene SWOT-Analyse zum außerbörslichen Beteiligungskapital angeführt:

Mikroebene

Stärken

Gründungskapital, Risikokapital allgemein

Sachverstand/Vernetzungs-Know-how

Verwaltungsstruktur

Finanzielle Mittel für Fusionen und Übernahmen sowie Wachstumsstrategien

Schwächen

Häufig überzogene Gewinnerwartungen aber dem Risiko angemessen

Finanzielle Kosten / äußere Faktoren

für fremdfinanzierte Unternehmensübernahmen (LBO)

Nur Orientierung auf mittelfristige Laufzeiten

Starke Orientierung auf Finanzen / Anteilseigner

Häufig Strategie des hohen Risikos

Es handelt sich um ein Risiko, das im Verhältnis zum erwarteten Gewinn steht.

Weiter gefasste Dimension

Chancen

Werterzeugung

Wachsende Wettbewerbsfähigkeit

Wachstum und Schaffung von Arbeitsplätzen

Zunehmende Anpassungsfähigkeit

Risiken

Hebelstrategie - für fremdfinanzierte Mega-Übernahmen

Finanzierungsneugestaltung - dito

Gefahr für stabile Entwicklung - dito

Beschäftigung und Arbeitsbedingungen

Es sei an die kontrafaktischen Fragen erinnert

keine langfristige Orientierung

Insolvenz - für fremdfinanzierte Mega-Übernahmen

4.   Hedge-Fonds

4.1.   Hedge-Fonds haben die Rechtsform von Kommanditgesellschaften. Das Portfolio verwaltet ein Anlageverwalter, andere Tätigkeiten sind an Prime-Broker (PB) und den Administrator delegiert. Viele Fonds haben sich in Offshore-Finanzzentren wie zum Beispiel den Kaimaninseln niedergelassen, sodass der Wertzuwachs der Fonds steuerfrei ist. Die Gewinne der Investoren werden in den Heimatländern besteuert. Anlageverwalter, die ihren Sitz meistens in den USA oder in London haben, zahlen Steuern auf ihre beträchtlichen Gebühren in dem Land ihres Sitzes.

4.2.   In einem Artikel des Wirtschaftsberichts der Sveriges Riksbank, Band 1, 2009 (ERSV) wird das Wachstum des Hedge-Fonds-Marktes seit 1996 beschrieben, als 2 000 Fonds weltweit ein Vermögen von ungefähr 135 Mrd. USD verwalteten, während Ende 2007 bereits 10 000 Fonds 2 000 Mrd. USD Vermögen verwalteten.

4.3.   Prime-Brokertum ist die allgemeine Bezeichnung für Dienstleistungen, die Investmentbanken und Wertpapierhäuser anbieten und ohne die ein Hedge-Fonds nicht agieren könnte. Es umfasst die allgemeine Verwahrung des Fondsvermögens, Beleihung von Wertpapieren für den Leerverkauf, Finanzierung zur Ermöglichung des Hebeleffekts sowie technologische Leistungen. Aufgrund der zentralen Rolle der Prime-Broker auf dem Hedge-Fonds-Markt sind viele Beobachter der Ansicht, dass die für die Überwachung des Systemrisikos erforderlichen Daten besser von der begrenzten Anzahl der Prime-Broker als von jedem einzelnen Hedge-Fonds eingeholt werden sollten.

4.4.   Ungefähr zwanzig Prime-Broker decken 90 % der weltweiten Hedge-Fonds-Tätigkeit ab. 30-40 % der weltweiten Prime-Brokerage-Dienste sind in London konzentriert. Hedge-Fonds befinden sich zu 60 % in den USA, 20 % in London und 20 % in der restlichen Welt. London ist der Sitz für 80 bis 90 % der in der EU angesiedelten Hedge-Fonds. Die Verwalter alternativer Investmentfonds unterliegen in London den Regelungen der britischen Finanzaufsichtsbehörde FSA.

4.5.   Hedge-Fonds bieten absolute Investitionsrenditen mit einer relativ geringen Volatilität unabhängig davon, ob ein bestimmter Investmentmarkt steigt oder fällt. Dies erreichen sie durch Absicherung. Sie setzen ihre Strategien durch Derivate-Verträge um und erhöhen ihre Renditen in der Regel dadurch, dass sie sich zusätzliche Mittel für Investitionen leihen.

4.6.   Sie verfügen über eine breite Palette von Fähigkeiten und Strategien, angefangen von den weniger spektakulären bis hin zu den riskantesten. Sie nutzen eine Mischung aus Strategien zur Einnahme globaler Positionen hinsichtlich der Entwicklung von Märkten, Währungen, Grundstoffen, Zinssätzen usw. Diese Fonds schaffen ein großes Austauschvolumen, ohne unmittelbare Auswirkungen auf den industriellen Wandel zu haben. Einige setzen exzellente Fähigkeiten bei der Marktuntersuchung und Aktienauswahl ein, um die besten Wertpapiere zu kaufen und wenig versprechende Aktien leer zu verkaufen. Andere setzen EDV-Systeme zur Bestimmung des „eigentlichen“ Werts eines Wertpapiers im Vergleich zu einem anderen ein, um dann das eine leer zu verkaufen und das andere zu kaufen.

4.7.   Leerverkäufe sind von grundlegender Bedeutung für die Geschäfte von Hedge-Fonds. Die britische Finanzaufsichtsbehörde FSA bemerkte im September 2008, Leerverkäufe seien „eine legitime Investmenttechnik unter normalen Marktbedingungen“. Leerverkäufer sind Wirtschaftsteilnehmer. Sie enthüllen oft eine unangenehme Wahrheit über die finanzielle Lage der Unternehmen, deren Aktien sie verkaufen, und zwar, dass deren Wert geringer ist als angenommen wird. In dieser Hinsicht sind sie in der Finanzwelt dem Jungen gleichzusetzen, der es gewagt hat, die Nacktheit des Kaisers beim Namen zu nennen. Unter bestimmten Umständen können Leerverkäufe Situationen verschärfen, die gesunde Unternehmen sonst nur vorübergehend in Schwierigkeiten bringen würden, und deshalb das betroffene Unternehmen zu industriellen Umstrukturierungen veranlassen. Sie können auch zu einer Verschärfung von Börsenkrisen mit systemischen Folgen aufgrund der Auswirkungen der Marktbewertungsregel führen. Die Behörden haben für die Dauer der Krise den Leerverkauf von Bankaktien verboten. Das Verhängen eines Verbots bleibt eine politische Option für Regulierungsbehörden, wenn sie die Marktbedingungen als außergewöhnlich einschätzen.

4.8.   Mit ereignisorientierten Strategien können Hedge-Fonds einen bedeutenden Einfluss auf den industriellen Wandel (bzw. den Unternehmenswandel) haben und üben ihn auch aus. Hedge-Fonds suchen nach Investitionsmöglichkeiten im Zusammenhang mit Unternehmensereignissen. Die Beteiligungszeit in solchen Situationen beträgt normalerweise 1 bis 3 Jahre. Ein Beispiel ist das Arbitrieren von Aktien fusionierender Unternehmen. Manchmal handeln Hedge-Fonds vorausschauend und übernehmen einen kleinen spekulativen Anteil, um ein Ereignis zu provozieren, wie dies bei ABN AMRO der Fall war. Dort, wo die Investition relativ groß ist und der Fonds als aktiver Investor auftritt, führt dies zwangsläufig zu einer Beschleunigung des industriellen Wandels. Während es hinreichend Anhaltspunkte dafür gibt, dass durch das Hedge-Fonds-Investment der Wert des Zielunternehmens steigt, sind die beschäftigungsbezogenen und sozialen Auswirkungen kaum oder gar nicht erforscht. Hedge-Fonds sind die bedeutendsten Käufer ausfallgefährdeter Wertpapiere, was als weitere ereignisorientierte Möglichkeit gilt.

4.9.   Nach der Rettung des LTCM-Hedge-Fonds im Jahr 1998 aus dem Grund, dass dieser Fonds „zu groß sei um zu scheitern“, wurden Hedge-Fonds als potenzielles Systemrisiko angesehen, auch wenn - rückblickend - die Rettung durch die Fed als unklug angesehen wird. Seitdem sind sich die Prime-Broker der Risiken bezüglich ihrer Beziehungen zu Hedge-Fonds bewusst, und im vorliegenden Fall war es die Insolvenz von Lehman Brothers, einer der Aufsicht unterliegenden Bank, die den Zusammenbruch verursachte. Die Hedge-Fonds waren bei weitem nicht so stark fremdfinanziert wie die der Aufsicht unterliegenden Banken.

4.10.   In dem Artikel des Wirtschaftsberichts der Sveriges Riksbank (siehe oben) wird die Rolle der Hedge-Fonds in der Finanzkrise und insbesondere die Meinung untersucht, sie agierten gemeinsam, um Wellen zu schlagen. Weder während der europäischen Währungskrise (1992) noch während der Asienkrise (1997) oder der IT-Blase (2002) konnten jedoch Nachweise für ein solches Verhalten gefunden werden. Was die derzeitige Krise angeht, so hat diese sich in einem größeren Maß auf die Fonds ausgewirkt als umgekehrt.

4.11.   In dieser Analyse wird auch der Frage nachgegangen, ob ein Hedge-Fonds die finanzielle Stabilität mehr gefährdet als andere Investoren. Es wird die Meinung vertreten, dass einzelne Fonds nur einen begrenzten Einfluss auf den gesamten Markt haben, nicht zuletzt auch, weil das Vermögen von Hedge-Fonds auf 10 000 Fonds verteilt ist. Wahrscheinlich ist aber, dass sie zusammen mit allen anderen institutionellen Anlegern zur Entstehung der Krise beigetragen haben.

4.12.   Obwohl die Auswirkungen von Hedge-Fonds auf den industriellen Wandel weniger ausgeprägt sind als die von Private-Equity-Fonds, gibt es weiterhin Befürchtungen bezüglich ihrer potenziellen Auswirkungen, unter anderem auch wegen der fehlenden Transparenz bezüglich ihrer Strategien, ihrer Investitionen und ihres Sitzes. Dementsprechend befürwortet der EWSA die sechs übergreifenden Grundsätze aus dem jüngsten Bericht der Internationalen Organisation der Wertpapieraufsichtsbehörden (IOSCO) vom Juni 2009 über die Beaufsichtigung von Hedge-Fonds, der zur Unterstützung der G-20-Initiative erarbeitet wurde. Diese Grundsätze sind folgende:

obligatorische Registrierung von Hedge-Fonds-Verwaltern/-Beratern,

rechtlich geregelte Anforderungen hinsichtlich organisatorischer Normen, Interessenkonflikte, Offenlegung und Beaufsichtigung,

obligatorische Registrierung, Regulierung und Überwachung von Prime-Brokern,

Bereitstellung der für die Einschätzung des Systemrisikos wichtigen Informationen durch Hedge-Fonds und Prime-Broker,

Orientierung auf bewährte Praktiken durch die Regulierungsbehörden,

internationale Zusammenarbeit zwischen den Regulierungsbehörden.

Der Vorteil einer internationalen Vereinbarung ist, dass sie die Möglichkeiten für das Ausnutzen aufsichtsrechtlicher Unterschiede verringert.

4.13.   Im Folgenden wird eine SWOT-Analyse von WMP zu den Hedge-Fonds angeführt, die der Berichterstatter mit Anmerkungen versehen hat:

Mikroebene

Stärken

Wertzuwachs börsennotierter Unternehmen

Orientierung hin zu effizienten Märkten

Käufer der letzten Instanz

Kauf von Risikoaktiva / ausfallgefährdeten Wertpapieren

Schwächen

Kurzfristige Ausrichtung

sie übernehmen keine langfristige Rolle

„Herdengesinnung“ / „Herdenverhalten“

nicht erwiesen, nicht festgestellt

Risikotransparenz

äußere Faktoren

Weiter gefasste Dimension

Chancen

Liquidität an den Finanzmärkten

Überwinden von Marktversagen (im Fall von aktiven Investoren)

Finanzinnovationen

Risiken

Fremdfinanzierung/Systemrisiko

nicht erwiesen

Marktmanipulationen

überhaupt nicht

Das Abziehen finanzieller Reserven

mehr auf außerbörsliche Beteiligungen zutreffende Befürchtung

Konzentration auf Finanzierungstechnik

Strategie des hohen Risikos - mit hohem Auszahlungseffekt

5.   Staatsfonds

5.1.   Staatsfonds gehören nicht zu den alternativen Investmentfonds. Es handelt sich um Kapital im Eigentum des Staates, das in ein Portefeuille von Finanzanlagen investiert wird. Hauptaufgabe ist die Stabilisierung der Volkswirtschaft des Landes durch Diversifizierung und die Erzeugung von Wohlstand für künftige Generationen. Es gibt inzwischen 20 bedeutende Fonds mit einem geschätzten Gesamtvermögen von 3 Billionen Dollar. Staatsfonds werden im Allgemeinen entweder aus Gewinnen aus dem Rohstoffverkauf, wie Öl und Gas im Nahen Osten, oder aus Leistungsbilanzüberschüssen, wie im Fall von China, alimentiert. Aus makroökonomischer Sicht auf globaler Ebene nehmen Staatsfonds zwei wichtige Rollen wahr: Sie transferieren Mittel zurück zu den OECD-Volkswirtschaften und korrigieren so globale Ungleichgewichte, und sie verringern durch Anlegen ihrer Überschüsse außerhalb der Binnenwirtschaft die Gefahr einer Inflation im eigenen Land.

5.2.   Folgende Staatsfonds sind nach WPM die bedeutendsten:

Land

Fonds

Vermögen in Mrd. US $

Abu Dhabi

Abu Dhabi Investment Authority

627

Saudi-Arabien

SAMA Foreign Holdings

431

China

SAFE Investment Company

347

Norwegen

Gov’t Pension Fund Global

326

Singapur

Gov’t Investment Corporation

248

Russland

National Welfare Fund

220

Kuweit

Kuwait Investment Authority

203

5.3.   Ihre Investitionen erfolgen langfristig und meistens ohne den Einsatz von Fremdmitteln. In der Regel verfügen sie über eine höhere Risikotoleranz und erwarten höhere Renditen als bei den traditionellen amtlichen Währungsreserven, die von den Währungsbehörden verwaltet werden. Im Allgemeinen sind sie passive Investoren, die aber durchaus einflussreich sein können. Zum Beispiel lässt sich der Staatliche Pensionsfonds Norwegens (Statens pensjonsfond) bei seinen Investitionen von ethischen Gesichtspunkten gemäß den Grundsätzen verantwortungsbewussten Investments leiten.

5.4.   Das Wachsen der Staatsfonds ist Ausdruck einer größeren Veränderung in der Struktur der globalen Finanzwirtschaft. Prognosen des Internationalen Währungsfonds zufolge wird das Gesamtvermögen der Staatsfonds in den nächsten fünf Jahren 6-10 Billionen USD erreichen. Staatsfonds haben während der Krise eine Reihe bedeutender Investitionen in notleidende Finanzinstitutionen getätigt. Das Aufkommen dieser Fonds hat einen zentralen Einfluss auf das internationale Investmentgeschehen. Wenn die regulatorischen Fragen gelöst sind, werden sie eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung der Weltwirtschaft spielen.

5.5.   Viele OECD-Staaten haben betont, wie wichtig die Überwachung und möglicherweise auch Regulierung von Staatsfonds ist. Es wird befürchtet, dass Staatsfonds-Investments eine Gefahr für die nationale Sicherheit sind, wobei ihre mangelnde Transparenz Nährboden für diese strittige Frage ist. Dies wiederum löst Protektionismus und wirtschaftlichen Nationalismus in den Ländern, in denen sie investieren, aus. Ein weiterer Grund zur Besorgnis ergibt sich aus der mangelnden Rechenschaftspflicht, die dazu führen könnte, dass Staatsfonds die Finanzmärkte verzerren oder destabilisieren. Diese Befürchtungen könnten durch Offenlegung bezüglich der Verwaltung entkräftet werden. Durch Festlegung einer transparenten, glaubwürdigen und verlässlichen Offenlegungsmethode würden die meisten der Befürchtungen verringert.

5.6.   Es gibt keine substanziellen Anhaltspunkte dafür, dass Staatsfonds Investitionen aus politischen oder strategischen Beweggründen vornehmen.

Strategische Aktionen einiger Entwicklungsländer scheinen eher von ihren Staatsunternehmen als von Staatsfonds unternommen worden zu sein. Ein typisches Beispiel hierfür sind die Übernahmen durch Gazprom oder die gescheiterten Versuche von Chinalco, bei Rio Tinto einzusteigen. China unternimmt Anstrengungen, sich weltweit Energiereserven zu sichern, indem es den entsprechenden Regierungen über seine zwei politisch gesteuerten Banken Kredite anbietet - die Chinesische Entwicklungsbank und die Export-Import-Bank Chinas.

5.7.   Seit 2008 ist eine internationale Doppelinitiative zur Normalisierung der Beziehungen zwischen den Fonds und den OECD-Staaten durchgeführt worden. Die OECD hat Leitlinien für Empfängerländer erarbeitet, während der Internationale Währungsfonds in Zusammenarbeit mit der internationalen Arbeitsgruppe der Staatsfonds (IWG) die Santiago-Prinzipien ausgearbeitet hat, die sich beziehen auf:

den rechtlichen Rahmen und die Ziele der Fonds,

den institutionellen Rahmen und die Verwaltungsstruktur,

den Rahmen für Investment und Risikomanagement.

5.8.   Damit Staatsfonds ihre Rolle in OECD-Volkswirtschaften voll entfalten können, müssen sie ihre Transparenz und Kommunikation verstärken, insbesondere in Bezug auf Verwaltung, Strategie und Investmentziele. Sie werden ihr Engagement für die Marktwirtschaft bekräftigen müssen, die ihnen die Freiheit zum Investieren lässt. Die Regierungen werden bereit sein müssen, im Gegenzug Investitionen aus OECD-Volkswirtschaften zu akzeptieren.

5.9.   Während der Sitzung der IWG in Kuwait im April 2009 setzten die Staatsfonds ein ständiges Vertreterforum zur Weiterführung der Tätigkeit der Arbeitsgruppe ein. Wenngleich die Grundsätze einen wichtigen Fortschritt markieren, besteht noch erheblicher Handlungsbedarf in Bezug auf:

Beziehungen zum Empfängerland,

Offenlegungspflichten und -normen

Compliance-Auflagen, Bewertungen und Sanktionen.

Ohne diese größere Transparenz könnten Staatsfonds auf makroökonomischer Ebene destabilisierend wirken.

5.10.   Auf der Unternehmensebene wirken sich Staatsfonds nicht unmittelbar auf den industriellen Wandel aus, obgleich sie indirekt wichtige Investoren für alternative Investmentfonds sind. Durch ihre zunehmende wirtschaftliche Stärke werden sie aber zu bedeutenden Anteilseignern führender Unternehmen. Dementsprechend würde der EWSA es begrüßen, wenn die Staatsfonds dem Beispiel des Staatlichen Pensionsfonds Norwegens folgen und die Grundsätze verantwortungsbewussten Investments unterzeichnen würden.

5.11.   Die SWOT-Analyse von WMP zu den Staatsfonds, mit Anmerkungen des Berichterstatters versehen, sieht folgendermaßen aus:

Mikroebene

Stärken

Langfristige Ausrichtung

Käufer der letzten Instanz

Anstieg der finanziellen Mittel

Stärkung der Verbindung zu den Industriemärkten

Schwächen

Fehlende Autonomie nationaler Stakeholder

Mangelnde Transparenz

Beide Fragen müssen ausgehend von den Santiago-Prinzipien angegangen werden.

Weiter gefasste Dimension

Chancen

Orientierung an den Stakeholdern

solide Finanzierungstechnik

Zugang zu neuen Märkten

potenzieller Einfluss auf alternative Investmentfonds

Risiken

Fokus auf politische Ziele - langfristige Intentionen sind ungewiss

Konzentration von Vermögen außerhalb der demokratischen Kontrolle

teilweise in den Santiago-Prinzipien berücksichtigt

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. L 82 vom 22.3.2001, S. 16.

(2)  ABl. L 10 vom 16.1.1998, S. 22.

(3)  ABl. L 80 vom 23.3.2002, S. 29.

(4)  ABl. L 235 vom 23.9.2003, S. 10.

(5)  ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 15; Stellungnahme des EWSA zu der Mitteilung „Abbau von Hindernissen für grenzüberschreitende Investitionen von Risikokapitalfonds“, KOM(2007) 853 endg.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/65


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse: Wie sollte die Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten aussehen?“

(Initiativstellungnahme)

(2010/C 128/11)

Berichterstatter: Raymond HENCKS

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 26. Februar 2009, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse: Wie sollte die Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten aussehen?“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 8. September 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November (Sitzung vom 4. November) mit 155 gegen 1 Stimme bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Gegenstand der Initiativstellungnahme

1.1.   In seinem Aktionsplan „Ein Programm für Europa: die Vorschläge der Zivilgesellschaft“ (CESE 593/2009) hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Bedeutung der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse hervorgehoben, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert und in dem einschlägigen Protokoll zum Vertrag von Lissabon definiert sind.

1.2.   Das vorgenannte Protokoll über Dienste von allgemeinem Interesse ist eine wichtige Neuerung durch den Vertrag von Lissabon, insofern als es alle Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (DAI) abdeckt und zum ersten Mal in einem Vertrag den Begriff „nichtwirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ (NDAI) im Gegensatz zu „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ (DAWI) einführt.

1.3.   Das Protokoll ist keine bloße Erklärung zur Auslegung der Verträge und der gemeinsamen Werte der Union hinsichtlich der DAI, sondern ist eine an die Union und die Mitgliedstaaten gerichtete Handlungsanleitung. Der Nutzer, die Befriedigung seiner Bedürfnisse, seine Präferenzen und seine Rechte werden in den Mittelpunkt der Bestimmungen gestellt, und es werden gemeinsame Prinzipien für ein hohes Niveau in Bezug auf Qualität, Sicherheit und Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung und Förderung des universellen Zugangs festgelegt.

1.4.   In seinem „Programm für Europa“ schlägt der EWSA die Ausarbeitung einer gemeinschaftlichen Initiative vor, um eine echte Debatte zur Festlegung von Leitlinien für die DAI in Gang zu bringen, die im Kontext der Globalisierung von Bedeutung für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt sind und dem im Lissabon-Vertrag festgelegten Ziel dienen müssen, die Rechte der Nutzer und deren universellen Zugang zu diesen Dienstleistungen zu fördern.

1.5.   Durch den Vertrag von Lissabon wird zum ersten Mal - mit Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) - für den Gemeinschaftsgesetzgeber eine auf die DAWI allgemein anwendbare Rechtsgrundlage eingeführt, die sich unterscheidet von der binnenmarktbezogenen Rechtsgrundlage, auf der die branchenspezifischen Richtlinien zur Liberalisierung der Netzdienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (elektronische Kommunikation, Strom, Gas, öffentlicher Verkehr, Post) fußen.

1.6.   Der Schwerpunkt von Artikel 14 liegt auf den wirtschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen, die für die Erfüllung der besonderen Aufgaben der DAWI erforderlich sind. Der Rat und das Europäische Parlament sind aufgefordert, über Verordnungen die entsprechenden Rechtsvorschriften zu schaffen.

1.7.   Entsprechend den in seinem „Programm für Europa“ formulierten Gedanken geht es dem EWSA in dieser Initiativstellungnahme um die Umsetzung von Artikel 14 des Vertrags von Lissabon; er möchte den möglichen Mehrwert und Inhalt von Rechtsetzungsinitiativen der EU-Organe untersuchen, um folgende Fragen zu klären:

Wer definiert die DAI, ihre Ziele, Aufgaben und die damit einhergehenden Zuständigkeiten?

Welche Formen kann diese Definition annehmen?

In welchen Bereichen könnten gemeinschaftlich definierte DAI zur Erreichung der Ziele der Union nötig sein?

2.   Definition, Ziele und Aufgaben der DAI sowie Zuständigkeiten

2.1.   Im Protokoll zum Vertrag von Lissabon wird zum ersten Mal der Begriff „nichtwirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ (NDAI) eingeführt, während bis dahin in den Verträgen nur von „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ (DAWI) die Rede war.

2.2.   Das dem Vertrag von Lissabon beigefügte Protokoll über die DAI bestätigt einerseits die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die NDAI (allerdings vorbehaltlich der Wahrung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts) und andererseits „die wichtige Rolle und den weiten Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden in der Frage, wie Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse auf eine den Bedürfnissen der Nutzer so gut wie möglich entsprechende Weise zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren sind“.

2.3.   Seit dem Vertrag von Amsterdam (1997) ist im EG-Vertrag (Artikel 16) eindeutig eine zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit und Verantwortung für DAWI festgelegt, insofern als „die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse im Anwendungsbereich dieses Vertrags dafür Sorge [tragen], dass die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können“.

2.4.   Diese geteilte Zuständigkeit ist jedoch derzeit längst nicht geklärt, was für alle betroffenen Akteure (Behörden, Dienstleister, Regulierungsagenturen, Nutzer, Zivilgesellschaft) zu Unsicherheiten und damit zu zahlreichen Fragen zur Vorabentscheidung und Rechtsstreitigkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof führt. Da der EuGH auf der Grundlage des bestehenden Rechts, das für die DAI bzw. DAWI wenig entwickelt ist, sowie auf der Grundlage seiner bisherigen Rechtsprechung von Fall zu Fall entscheidet, unterliegen die Behörden und lokalen Gebietskörperschaften offensichtlich mehr und mehr dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft, insbesondere wenn die öffentlichen Dienstleistungen zusammen mit anderen Partnern erbracht werden.

2.5.   Die angeführten „Bedürfnisse der Nutzer“, Privatpersonen wie Unternehmen sind jedoch als Schlüsselelement zu werten, das es zu beachten gilt, denn die Einführung von DAWI ist nur insoweit gerechtfertigt, als sie die Erfüllung von Gemeinwohlaufgaben zugunsten derjenigen ermöglicht, die davon in erster Linie profitieren.

2.6.   Die Festlegung von Art und Tragweite der Aufgabe einer DAWI in bestimmten Handlungsbereichen, die entweder nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen oder auf einer begrenzten bzw. geteilten Zuständigkeit gründen, obliegt grundsätzlich den Mitgliedstaaten.

2.7.   Die Gemeinschaftsinstitutionen und insbesondere die Europäische Kommission werden in dem Protokoll aufgefordert, „die Vielfalt“ der DAWI sowie „die Unterschiede bei den Bedürfnissen und Präferenzen der Nutzer, die aus unterschiedlichen geografischen, sozialen oder kulturellen Gegebenheiten folgen können“, zu berücksichtigen.

2.8.   Bei der von der Kommission durchgeführten Kontrolle, ob durch den von den Mitgliedstaaten festgelegten Definitionsbereich der DAWI die Vertragsbestimmungen eingehalten wurden, wird sie die Einzigartigkeit der Denkweise der Öffentlichkeit und der demokratischen Entscheidungen der einzelnen Mitgliedstaaten künftig verstärkt berücksichtigen müssen. Grenzen, Inhalt und Durchführungsmodalitäten der Beurteilung „offenkundiger Fehler“ durch die Kommission sind entsprechend anzupassen, um Konflikten und Rechtsstreitigkeiten soweit möglich vorzubeugen.

2.9.   Es besteht derzeit für alle DAI und DAWI in zwei Punkten Unklarheit, was für die Erfüllung ihrer Aufgaben von Nachteil ist:

welche Kompetenzen und Zuständigkeiten Union, Mitgliedstaaten und lokale Gebietskörperschaften jeweils haben;

wann eine Dienstleistung wirtschaftlich und wann sie nichtwirtschaftlich ist, wovon abhängt, welchen Rechtsnormen sie unterliegt.

2.10.   Deshalb ist es, wie in Artikel 14 des Vertrags von Lissabon gefordert, wichtig, dass eine oder mehrere Rechtsetzungsinitiativen für die nötige Klarheit und die erforderlichen Garantien sorgen. Gleichzeitig sind jedoch Art und Besonderheiten der verschiedenen DAWI (wie Sozialdienstleistungen, Maßnahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt, Unterstützung von benachteiligten Personen und von Menschen mit Behinderungen, Bereitstellung von Sozialwohnungen) zu berücksichtigen. Es geht nicht darum, die DAWI in der gesamten Union einheitlich zu gestalten, sondern Einheit und Vielfalt zu kombinieren: Einheit durch einige gemeinsame Bestimmungen in grundlegenden Bereichen sowie sektorale und nationale Vielfalt.

3.   Die Definitionsformen

3.1.   Der große Ermessensspielraum, über den die Mitgliedstaaten verfügen, wenn es darum geht, zu bestimmen, was sie als DAWI ansehen, entbindet sie, wenn sie sich auf das Vorliegen einer Aufgabe von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und die Erforderlichkeit ihres Schutzes berufen, nicht von der Pflicht, dafür zu sorgen, dass diese bestimmte Mindestkriterien erfüllt, die für alle Aufgaben von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne des Vertrags gelten und in der Rechtssprechung präzisiert sind, und nachzuweisen, dass diese Kriterien im vorliegenden Fall eingehalten werdend.

3.2.   Es geht insbesondere darum, dass die Aufgabe von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse den betreffenden Wirtschaftsteilnehmern durch eine staatliche Verfügung übertragen worden sein muss, sowie um die Tragweite und das Wesen dieser Aufgabe. Diese Verfügung des zuständigen Organs muss laut Recht des betreffenden Staates bindend sein: z.B. ein Gesetz, eine Verordnung, ein Vertrag oder eine Vereinbarung.

3.3.   Der Mitgliedstaat muss auf der Grundlage der Gemeinschaftsbestimmungen angeben, weshalb er der Auffassung ist, dass die betreffende Dienstleistung es aufgrund ihres besonderen Charakters verdient, als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse eingestuft und von anderen Wirtschaftsaktivitäten auf dem freien Markt unterschieden zu werden.

3.4.   Wenn der Mitgliedstaat nicht den Nachweis erbracht hat, dass diese Kriterien erfüllt sind, oder sie nicht einhält, kann dies einen offenkundigen Fehler begründen, den die Kommission beanstanden muss.

3.5.   Ein Mitgliedstaat kann eine Aufgabe von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse von mehreren Wirtschaftsteilnehmern einer Branche ausführen lassen, ohne diese jedem einzeln durch Rechtsakt oder einen individuellen Auftrag übertragen zu müssen.

3.6.   Alle diese Bestimmungen gehen aus der Rechtssprechung des EuGH hervor, sind jedoch nicht eindeutig durch Sekundärrecht festgelegt und konsolidiert, was bei den verschiedenen Beteiligten zu Rechtsunsicherheit führt oder zumindest von einem Großteil so empfunden wird.

3.7.   In der Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt werden bei den Sozialdienstleistungen die vom Staat beauftragten Dienstleister und die karitativen Verbände, die vom Staat als solche anerkannt sind, von denjenigen Dienstleistern unterschieden, die nicht offiziell beauftragt wurden bzw. anerkannt sind.

3.8.   Laut ihrem Arbeitsdokument SEK(2007) 1516 (das nur auf Englisch vorliegt), ist die Kommission der Auffassung, dass der Auftrag der offizielle Rechtsakt ist, der das Unternehmen mit der Erbringung einer DAWI betraut und die Aufgabe von allgemeinem Interesse, die das betreffende Unternehmen auszuführen hat, sowie den Umfang der DAWI und die allgemeinen Bedingungen für ihre Funktionsweise festlegt.

3.9.   Der Auftrag beinhaltet nach Auslegung der Kommission eine maßgebende Verpflichtung, die Dienstleistung zu erbringen bzw. zur Verfügung zu stellen, ungeachtet der Besonderheit der Dienstleistung. Laut Kommission gilt diese Leistungsverpflichtung nicht für staatlich anerkannte Wohltätigkeitsorganisationen, ohne dass jedoch die für eine solche Anerkennung erforderlichen Bedingungen sowie die dafür notwendige Form präzisiert wären.

3.10.   Hinzu kommt, dass eine einem Dienstleister von einer Behörde erteilte „Genehmigung“, die es ihm erlaubt, bestimmte Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, laut Kommission nicht einem Auftrag entspricht und den Wirtschaftsteilnehmer nicht verpflichtet, die entsprechenden Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Aber auch der Begriff „Genehmigung“ findet sich weder im Primär- noch im Sekundärrecht.

3.11.   Auch hier lässt sich nicht auf die fallweise Klärung je nach auftretenden Rechtsstreitigkeiten und Schiedssprüchen setzen; vielmehr kann eine im Einvernehmen mit den betroffenen Parteien ergriffene Rechtsetzungsinitiative Klarheit und Rechtssicherheit schaffen.

3.12.   Bei einer solchen von den betroffenen Parteien geforderten Klärung müssten die in den Mitgliedstaaten bestehende Situation, die auf Geschichte, Traditionen und Art und Weise der sozialen Organisation zurückzuführen ist, berücksichtigt und ihr Fortbestehen gesichert werden, sofern diese Situation durch Ziele von allgemeinem Interesse sowie die Qualität der Dienstleistungen gerechtfertigt ist.

4.   Gemeinschaftsdienstleistungen von allgemeinem Interesse

4.1.   In zwei seiner jüngsten Stellungnahmen (Stellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Soziale Auswirkungen der Entwicklung im Gesamtbereich Verkehr und Energie“ (CESE 1293/2008), und zu dem „Grünbuch - Hin zu einem sicheren, nachhaltigen und wettbewerbsfähigen europäischen Energienetz“, CESE 1029/2009, Berichterstatterin für beide Stellungnahmen: Laure BATUT) äußert der EWSA die Ansicht, dass Studien darüber durchgeführt werden sollten, ob die Energieversorgung als europäische DAI, die in den Dienst der gemeinsamen Energiepolitik gestellt werden könnte, machbar ist.

4.2.   In ihrem Grünbuch „Hin zu einem sicheren, nachhaltigen und wettbewerbsfähigen europäischen Energienetz“ plädiert die Kommission für einen europäischen Fernleitungsnetzbetreiber durch den schrittweisen Aufbau eines unabhängigen Unternehmens, das das Management eines einheitlichen EU-weiten Gastransportnetzes übernimmt.

4.3.   Es ist jedoch festzustellen, dass es den Gemeinschaftsinstitutionen und einzelstaatlichen Regierungen bzw. den Mitgliedstaaten im Spannungsfeld zwischen nationalen Unterschieden und gemeinsamen Erfordernissen im Hinblick auf die Vollendung des Binnenmarktes schwer fällt, sich an den Gedanken einer Gemeinschaftsdienstleistung von allgemeinem Interesse — sei es nun eine DAWI oder eine NDAI — zu gewöhnen. So wurde der Gedanke, europäische Energiedienstleistungen einzuführen, von den politischen Entscheidungsträgern bisher nicht aufgegriffen.

4.4.   Dennoch sind Gemeinschaftsdienstleistungen von allgemeinem Interesse notwendig, um den europäischen Integrationsprozess gemeinsam voranzutreiben. Solche Dienstleistungen werden bei der Bewältigung der Herausforderungen, die sich der Union in grundlegenden multinationalen bzw. transnationalen Bereichen wie Energieversorgungssicherheit, Sicherung der Wasserressourcen, Wahrung der Artenvielfalt, Erhaltung der Luftqualität oder innere und äußere Sicherheit stellen, Ausdruck der europäischen Solidarität sein. Es handelt sich hierbei um Dienstleistungen, die nicht von Organisationen auf nationaler oder lokaler Ebene bewältigt werden können. Hingegen fallen personenbezogene Dienstleistungen, wie z.B. Sozialdienste, oder ausschließlich lokale, regionale oder nationale Dienstleistungen von allgemeinem Interesse selbstverständlich nicht in diese Kategorie.

4.5.   In diesem Zusammenhang spricht sich der EWSA für öffentlich- (Union und Mitgliedstaaten) private Partnerschaften aus, um die Energieversorgungssicherheit zu erhöhen und eine integrierte Steuerung der Energieverbundnetze (Gas, Strom, Erdöl) sowie den Ausbau des Offshore-Windpark-Netzes und die Anbindung der Windparks an das Landnetz zu erreichen, wodurch die Betriebs- und Investitionskosten erheblich gesenkt und verstärkte Anreize gegeben sein könnten, in neue Netzprojekte zu investieren.

4.6.   Im Rahmen der Zuständigkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten, z.B. für den Energiemix, weisen die sozialen und gesellschaftlichen Fragen, die mit der Handhabung und Nutzung von natürlichen Ressourcen und Kernkraft, mit der Bewältigung des Klimawandels, mit nachhaltiger Bewirtschaftung und Sicherheit verbunden sind, über die traditionellen Staatsgrenzen hinaus und werden nur in einer europäischen Konzeption des Allgemeininteresses und der entsprechenden Dienstleistungen eine befriedigende Antwort finden.

4.7.   Die Tatsache, dass die Staaten grundsätzlich für die Definition von DAWI zuständig sind, schmälert die Kompetenzen der EU, ihrerseits DA(W)I zu definieren, in keiner Weise, wenn das zur Verwirklichung der Ziele der Union nötig erscheint und zu diesen Zielen im Verhältnis steht. Sowohl das Primärrecht als auch das Sekundärrecht und die Rechtsprechung ermöglichen es der Union als Inhaberin öffentlicher Gewalt in den Bereichen, in denen eindeutige oder sogar nur begrenzte bzw. geteilte Zuständigkeit besteht, diese Dienstleistungen unter denselben Bedingungen und nach denselben Regeln wie die Mitgliedstaaten zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben, zu organisieren und zu finanzieren.

4.8.   In Artikel 16 EG-Vertrag wird eindeutig eine zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit und Verantwortung festgelegt, indem es heißt, dass die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse im Anwendungsbereich der Verträge dafür Sorge tragen, dass die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren der DAWI so gestaltet sind, dass diese ihren Aufgaben nachkommen können.

4.9.   Die DAWI gehören zu einer Reihe von Zielen der Europäischen Union (Wahrung der Grundrechte, Förderung des Wohls der Bürger, soziale Gerechtigkeit, sozialer Zusammenhalt usw.), die für die Gesellschaft unerlässlich sind. Die Union, die für die Förderung des Lebensstandards und der Lebensqualität europaweit mitverantwortlich ist, trägt auch eine gewisse Verantwortung für die Instrumente zur Wahrnehmung der Grundrechte und zur Erreichung des sozialen Zusammenhalts.

4.10.   In den Verträgen sind die Befugnisse der EU klar festgelegt, zu denen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip z.B. auch die Entwicklung von Dienstleistungen und die Einrichtung von Organismen, Agenturen o.Ä. auf Gemeinschaftsebene zählen kann (Verkehrspolitik, transeuropäische Netze, Umweltschutz, Verbraucherschutz, wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt der Union, innere und äußere Sicherheit, Bekämpfung des Klimawandels, Energieversorgungssicherheit usw.).

4.11.   Selbst wenn bestimmte Dienste wie die Gemeinschaftsagenturen, z.B. für Sicherheit des Seeverkehrs, Lebensmittelsicherheit, Eisenbahnverkehr und operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, oder auch Dienste wie der „Einheitliche europäische Luftraum“ und „Galileo“ rechtlich nicht als DAI und DAWI ausgewiesen wurden, entsprechen sie aufgrund ihrer Natur einem allgemeinen europäischen Interesse.

4.12.   Die Gemeinschaftsinstitutionen sollten also nicht defensiv vorgehen, sondern vielmehr — ohne den Status der jeweiligen Erbringer schon im Vorfeld festzulegen — das Vorhandensein und die Notwendigkeit von Gemeinschaftsdienstleistungen von allgemeinem Interesse in den Bereichen anerkennen, in denen die EU ihre Ziele durch eigenes Handeln effizienter erreichen kann, als wenn die Mitgliedstaaten jeweils einzeln vorgehen.

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/69


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Auswirkungen von sozialen Netzwerken im Internet auf Bürger und Verbraucher“

(Initiativstellungnahme)

(2010/C 128/12)

Berichterstatter: Jorge PEGADO LIZ

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 26. Februar 2009, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die Auswirkungen von sozialen Netzwerken im Internet auf Bürger und Verbraucher“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 12. Oktober 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 4. November) mit 108 gegen 2 Stimmen bei 10 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) anerkennt die kulturelle, politische und gesellschaftliche Bedeutung sozialer Netzwerke im Internet als Instrument der zwischenmenschlichen Kommunikation und Interaktion im Rahmen der Ausübung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung.

1.2.   Der Ausschuss weist zugleich auf das mit der Entwicklung dieser sozialen Netzwerke verbundene wirtschaftliche Interesse und insbesondere auf die potenzielle Nutzung für kommerzielle Kommunikations- und Marketingzwecke unterschiedlicher Art hin.

1.3.   Er stellt die positiven Aspekte der Entwicklung der sozialen Netzwerke heraus und verweist namentlich darauf, dass diese zur Gewährleistung und Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in bestimmten politischen Situationen, zur Bildung und zum Zusammenschluss von Online-Gemeinschaften, zum (Wieder)Auffinden von Freunden und Familienangehörigen, zur Verhütung von Gefahrensituationen für Minderjährige und als Kanal für hilfesuchende Minderjährige sowie zum Informationsaustausch in Gesundheitsfragen beitragen.

1.4.   Gleichzeitig schließt sich der EWSA jedoch den warnenden Stimmen von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Verbänden, Familien und einzelnen Bürgern an, die zu Recht über die vom Missbrauch der sozialen Netzwerke ausgehenden Gefahren besorgt sind, durch die bestimmte Grundrechte missachtet werden.

1.5.   Der Ausschuss warnt insbesondere vor den Gefahren der Teilnahme Minderjähriger und anderer schutzbedürftiger Gruppen an sozialen Netzwerken, was vor allem für Menschen mit eingeschränkter digitaler Kompetenz gilt, die oft Opfer von illegalen Praktiken werden, bei denen ihre persönliche Würde verletzt und ihre körperliche oder geistige Unversehrtheit oder gar ihr Leben gefährdet wird.

1.6.   Der EWSA begrüßt die jüngsten von der Kommission, namentlich von ihren Generaldirektionen Informationsgesellschaft und Medien sowie Justiz, ergriffenen Initiativen zur Verpflichtung der Betreiber dieser Netze auf Verhaltenskodexe bzw. Verhaltensregeln.

1.7.   Der EWSA hält es jedoch für erforderlich, dass die EU und die Mitgliedstaaten stärker tätig werden, um die Bürger besser über die mit der Nutzung von sozialen Netzwerken verbundenen Risiken und über die empfohlenen Vorgehensweisen zu informieren.

1.8.   Nach Ansicht des EWSA sind zudem zusätzliche Anstrengungen erforderlich, die folgende Bereiche betreffen: bessere Bildung und Erziehung von den ersten Schuljahren an; stärkere Unterstützung der Familien, da die Internetnutzung durch Kinder und Jugendliche der elterlichen Kontrolle und Beobachtung unterliegen muss, Entwicklung technischer Hilfsmittel in Form von Zugangssperren und –filtern, bessere Risikoprävention und wirksameres Vorgehen gegen illegale oder schädliche Praktiken in diesem Bereich.

1.9.   Der EWSA vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass die jungen Menschen bei der Festlegung der Anwendungsmodelle für diese Netze und - im Falle von Streitigkeiten und Problemen - bei der Vermittlung und Beilegung direkt einbezogen werden müssen, da sie wahrscheinlich am besten in der Lage sind, auftretende Problemsituationen schnell und sicher zu erfassen und angemessene Lösungen vorzuschlagen.

1.10.   Der EWSA ruft die Kommission auf, die eingehende Untersuchung des Phänomens der sozialen Netzwerke im Internet weiterzuführen, um diese Realität umfassend zu ergründen, was insbesondere für ihre kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen sowie für ihren potentiellen Einsatz zur Förderung einer breiter angelegten Debatte zu so wichtigen Themen wie Klimawandel oder die Initiative „Europa vermitteln“ gilt.

1.11.   Der EWSA empfiehlt der Kommission, ergänzend zur Selbstverpflichtung auf Verhaltenskodexe die mögliche Einführung von Ko-Regulierungsmechanismen zu erwägen, die eine wirksame Kontrolle der Verpflichtungen zu Verhaltensregeln ermöglichen und die Prävention von Abweichungen, das Vorgehen gegen Verstöße und die wirksame Bestrafung von Regelverletzern gewährleisten. Im Hinblick auf strafrechtlich relevante Verstöße, die mittels Informationstechnologie in allen Mitgliedstaaten gleichzeitig begangen werden, könnte die EU bereits jetzt auf ein harmonisiertes und koordiniertes System der Verfolgung und Ahndung solcher Verstöße durch die zuständigen nationalen Behörden hinarbeiten.

1.12.   In diesem Kontext empfiehlt der EWSA der Kommission, in Anknüpfung an die im Juli 2008 durchgeführte öffentliche Konsultation ein Grünbuch über soziale Netzwerke im Internet zu erarbeiten, in dem die möglichen Hauptrichtungen für die künftige Untersuchung über die Auswirkungen dieser Netze festgelegt werden, wobei die einschlägigen Interessenträger - zivilgesellschaftliche Organisationen und Verbände - dazu gehört werden müssen.

1.13.   Der EWSA empfiehlt, die Möglichkeit der Einsetzung eines EU-Beauftragten (Ombudsman) für alle Fragen des Schutzes der Menschenwürde und Privatsphäre sowie des Datenschutzes im Bereich der elektronischen Kommunikation und im audiovisuellen Sektor mit dem spezifischen Aufgabengebiet soziale Netzwerke zu prüfen, wobei dazu Zuständigkeiten der einschlägigen Gemeinschaftsinstitutionen bzw. –einrichtungen ausgedehnt und zusammengefasst werden könnten.

1.14.   Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, ihre jeweiligen Maßnahmen auf diesem Gebiet stärker zu koordinieren, um einen in sich stimmigen, einheitlichen Rechtsrahmen für diese Fragen zu schaffen, wobei entsprechende, von den bestehenden nationalen Regulierungsbehörden in abgestimmter Weise auszuübende Zuständigkeiten zu übertragen oder geeignete Regulierungsmechanismen zu schaffen sind.

1.15.   Der EWSA ruft insbesondere die Mitglieder des Europäischen Parlaments auf, diese neuen Realitäten ganz oben in ihre politische Agenda aufzunehmen und damit der wachsenden Besorgnis der Zivilgesellschaft Rechnung zu tragen.

2.   Einleitung

2.1.   Gegenstand der vorliegenden Initiativstellungnahme sind die Auswirkungen sozialer Netzwerke im Internet auf Bürger und Verbraucher. Kennzeichnend für diese Onlinedienste ist im Wesentlichen die Bildung und Ausweitung von Netzgemeinschaften für Personen mit gemeinsamen Aktivitäten bzw. Interessen oder schlicht und einfach für Menschen, die sich für die Vorlieben und Aktivitäten anderer interessieren, und auf dieser Grundlage die vom Funktionsumfang dieser Netzwerke ermöglichte Interaktion zwischen den einzelnen Benutzern (http://www.saferinternet.org/ww/en/pub/insafe/safety_issues/faqs/social_networking.htm).

2.2.   Soziale Netzwerke verzeichnen eine rasche Ausbreitung (211 Mio. Menschen, d.h. ungefähr drei Viertel aller Internetbenutzer - geschätzte Gesamtzahl 282,7 Mio. Personen - sollen diese Onlinedienste regelmäßig in Anspruch nehmen), wobei es sich bei den Benutzern im Wesentlichen um junge Menschen ab 16 handelt und bei einigen Diensten die Benutzertreue nicht sehr hoch ist. Die Kommission (1) schätzt, dass in Europa ca. 40 Mio. Menschen regelmäßig über soziale Netze im Internet kommunizieren, wobei die Nutzung im letzten Jahr um 35 % zugenommen hat und sich voraussichtlich bis 2012 mit 107,4 Mio. Nutzern mehr als verdoppeln wird.

2.3.   Zugleich sind auch die multinationalen Marken auf den Zug aufgesprungen und werben in diesem neuen Medium - mitunter unlauter - für ihre Produkte und Dienstleistungen. Und seit Obamas Wahlkampagne haben sich auch die Parteiapparate zur Nutzung dieser neuen Dienste entschlossen, wie sich bei den diesjährigen Wahlen zum Europäischen Parlament zeigte. Selbst der Vatikan ist jetzt in Facebook zu finden (Pope2you.net).

2.4.   Die Hauptmerkmale sozialer Netzwerke lassen sich kurz wie folgt zusammenfassen: von wenigen Ausnahmen abgesehen kostenlose Benutzung, schneller und exponentieller Anstieg der Benutzerzahlen, außerordentlich hoher ökonomischer Wert, Benutzerfreundlichkeit und ein Funktionsumfang, der eine Interaktion zwischen den einzelnen Benutzern des Dienstes ermöglicht.

2.5.   In der vorliegenden Stellungnahme werden die jüngsten Gemeinschaftsinitiativen aufgelistet, der bestehende Rechtsrahmen dargestellt, die mit der Benutzung von sozialen Netzwerken einhergehenden Chancen und Risiken angesprochen und Empfehlungen und Vorschläge für Maßnahmen formuliert, mit denen die Sicherheit und das Vertrauen bei den Benutzern dieser Medien gestärkt werden sollen.

3.   Auswirkungen und Risiken sozialer Netzwerke im Internet

3.1.   Soziale Netze im Internet sind ein relativ neues gesellschaftliches Phänomen, das sich auf technologischer Ebene ständig weiterentwickelt und anerkanntermaßen die Art und Weise verändert, in der die Menschen über Internet miteinander Umgang pflegen und interagieren.

3.2.   Um das volle Ausmaß des Phänomens deutlich zu machen, sei auf eine Untersuchung von ComScore verwiesen, wonach allein das soziale Netz Facebook, Rang 6 der am meisten besuchten Websites der Welt, monatlich ungefähr 275 Millionen Mal aufgerufen wird. In Europa verzeichnete Facebook in Februar 2009 ca. 100 Millionen Besucher, wobei von jeweils 100 Minuten Internetbenutzung ungefähr vier Minuten auf diese Website entfielen, was mehr als 30 % der insgesamt auf allen Websites zur sozialen Vernetzung verbrachten Zeit darstellt (im Vorjahr waren es gerade 12 %).

3.3.   Unbestritten sind die positiven Aspekte der Entwicklung dieser sozialen Netzwerke und insbesondere ihr Beitrag zu folgenden Punkten:

(i)

Gewährleistung und Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in bestimmten gesellschaftlichen und politischen Situationen;

(ii)

Bildung und Entwicklung von Netzgemeinschaften;

(iii)

(Wieder)Auffinden von Freunden und Familienangehörigen und Schaffung einer Möglichkeit der Kommunikation mit ihnen;

(iv)

Verhütung von Gefahrensituationen für Minderjährige und Artikulationsmöglichkeiten für hilfesuchende Minderjährige;

(v)

Werbung für Güter und Dienstleistungen und Zunahme des elektronischen Handels.

3.4.   Ungeachtet der vorgenannten positiven Aspekte dürfen jedoch nicht die Risiken übersehen werden, die von der Benutzung von sozialen Netzwerken für illegale oder schädliche Zwecke ausgehen und insbesondere die Entwicklung von Minderjährigen (2) beinträchtigen können. Dazu zählen u.a.:

i)

psychologische Traumata aufgrund von Beschimpfungen über dieses Medium;

ii)

sexuelle Belästigung von Kindern und Jugendlichen;

iii)

Verbreitung von Fotos oder Videos, in denen sich Jugendliche selbst oder andere Jugendliche nackt oder halbnackt zeigen;

iv)

explizite Werbung für Prostitution und „Begleitdienste“ (Escort);

v)

wiederholte Verletzung der Privatsphäre sowie der persönlichen Ehre und Würde;

vi)

Angriffe auf die körperliche oder geistige Gesundheit der Benutzer dieser Dienste;

vii)

Aufrufe zu Gewalt, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit;

viii)

Verbreitung von totalitären faschistischen Ideologien oder Verherrlichung des Nazismus;

ix)

Selbstmord von Jugendlichen, vermutlich als Folge einer öffentlichen Verbreitung bestimmter intimer Details über diese Netze.

3.5.   Zu berücksichtigen gilt es auch die neue Generation von Technologien, welche in diesen sozialen Netzen zum Einsatz kommen. Dies gilt insbesondere für Anwendungen, welche eine geografische Zuordnung der Herkunft der Benutzer dieser Netze ermöglichen, Anwendungen mit Technologien zur Gesichtserkennung, über die eine Person einem bestimmten Benutzerkonto zugeordnet werden kann, und neue Möglichkeiten der Interaktion mit Mobiltelefonen der neuesten Generation.

3.6.   Hinzukommt die Tatsache, dass diese Art von Netzen sehr leicht zur Verbreitung von Viren verwendet werden kann. So wurde z.B. Twitter am Wochenende des 11./12. April 2009 von einem Virus befallen, der automatisch mehr als 100 000 Mitteilungen versandte und eine unbekannte Zahl von Benutzerkonten beeinträchtigte.

3.7.   Im Rahmen des Forums für ein sichereres Internet 2008 (3) legte die Kommission einen Fragebogen vor, um die Thematik „soziale Netzwerke“ einer öffentlichen Konsultation (4) zu unterziehen. In den eingegangenen Antworten (5) wurden Cyber-Mobbing, das Eindringen in die Privatsphäre und Grooming als häufigste Gefahren für Minderjährige bei der Benutzung sozialer Netze genannt.

3.8.   Im Hinblick auf das Cyber-Mobbing (6) wurde festgestellt, dass 54 % der europäischen Eltern sich Sorgen machen, dass ihre Kinder Opfer solcher Praktiken werden könnten. Mehr als 80 % der Eltern in Frankreich, Griechenland und Portugal befürchten, dass ihre Kinder bei der Benutzung von Internet oder Mobiltelefonen Ziel von Cyber-Mobbing werden könnten. In bestimmten Ländern mit einem traditionell starken Schutz der Kinderrechte und großen Traditionen in Erziehung und Bildung wie Dänemark, Schweden und Finnland zeigen die Eltern ein größeres Vertrauen in die Sicherheit ihrer Kinder bei der Internetbenutzung: 69 % von ihnen sind nicht besonders besorgt über die Möglichkeit von Cyber-Mobbing.

3.9.   Im Vereinigten Königreich kommt eine unlängst bei 2 000 Elf- bis Achtzehnjährigen durchgeführte Umfrage zu dem Schluss, dass jeder dritte Befragte Opfer von Cyber-Mobbing über soziale Netzwerke und SMS geworden ist, wobei Mädchen vier Mal häufiger als Jungen von dieser Art der Belästigung betroffen sind.

3.10.   Der Schutz der Privatsphäre ist ebenfalls ein großes Problem im Zusammenhang mit der Teilnahme an sozialen Netzwerken. Bei der 30. Internationalen Konferenz der Beauftragten für den Datenschutz und für die Privatsphäre, die vom 15. bis 17. Oktober 2008 in Straßburg stattfand, wurde eine Entschließung über den Schutz der Privatsphäre in sozialen Netzwerken (7) verabschiedet, deren Empfehlungen besondere Berücksichtigung und Erwägung verdienen.

3.11.   In der Selbstverpflichtungserklärung „Sichere Grundsätze für das Social Networking in der EU“ (Safer Social Networking principles for the EU) (8), die am 10. Februar 2009 von den wichtigsten in Europa tätigen Anbietern sozialer Netzwerke unterzeichnet wurde und der bislang zwanzig Anbieter beigetreten sind, wurden die potentiellen Risiken für unter-18jährige Nutzer solcher Websites klar herausgearbeitet: Mobbing (Mobbing von Kindern im Internet oder per SMS), psychologische Manipulation (freundschaftliche Annäherungsversuche von Erwachsenen gegenüber Kindern mit dem Ziel des sexuellen Missbrauchs) und riskante Verhaltensweisen wie die unrechtmäßige Abschöpfung personengebundener Daten für illegale Zwecke.

4.   Anhörung auf EWSA-Initiative

4.1.   Die Art dieses gesellschaftlichen Phänomens und seine rasche Entwicklung ließen es ratsam erscheinen, im Zuge der Ausarbeitung dieser Stellungnahme eine Anhörung durchzuführen, die im EWSA stattfand und an der neben Vertretern des Rates, der Kommission, der ENISA, des Europäischen Datenschutzbeauftragten sowie der zuständigen nationalen Behörden einige der repräsentativsten Interessenträger im Hinblick auf die Betreibung und Nutzung sozialer Netzwerke - NGO und Verbraucher - teilnahmen.

4.2.   Die schriftlichen Antworten auf den vorab versandten Fragebogen, die verschiedenen dargelegten Standpunkte und die lebhafte Gegenüberstellung von Ideen und Vorschlägen (Zusammenfassung auf der EWSA-Website unter: http://www.eesc.europa.eu/sections/ten/index_en.asp?id=7000tenen) trugen maßgeblich und in äußerst positiver Weise zur Abfassung der vorliegenden Stellungnahme bei und zeigen sehr gut, wie wichtig solche direkten Konsultationen der zivilgesellschaftlichen Interessenträger für die Formulierung von Anregungen und Empfehlungen an die Adresse der politischen Entscheidungsträger und - im konkreten Fall der sozialen Netzwerke - an die Adresse der Anbieter und Nutzer sind.

4.3.   Hervorzuheben ist die weitgehende Übereinstimmung zwischen den Standpunkten der anwesenden Vertreter der Kommission und des Europäischen Datenschutzbeauftragten und dem Gros der in dieser Stellungnahme vorgebrachten Vorschläge. Zu nennen sind auch die wesentlichen Fortschritte, die die Kommission im Hinblick auf eine bessere Festlegung bzw. Konkretisierung einiger Ziele im Rahmen derzeit laufender oder geplanter Initiativen erreicht hat, was für die Zukunft eine äußerst fruchtbare interinstitutionelle Zusammenarbeit verheißt.

5.   Erforderliche Maßnahmen und zu erwartende Ergebnisse

5.1.   Der EWSA anerkennt und begrüßt die Arbeit, die die Kommission bereits auf dem Gebiet des Jugendschutzes bei der Benutzung des Internet geleistet hat, und bekräftigt damit seinen Standpunkt, den er schon 2008 in seiner Stellungnahme zu dem Vorschlag über ein mehrjähriges Gemeinschaftsprogramm zum Schutz der Kinder bei der Nutzung des Internet und anderer Kommunikationstechnologien (9) vorgebracht hatte.

5.2.   Der Ausschuss anerkennt zudem, dass die weiter oben genannte Selbstverpflichtungsinitiative zur rechten Zeit kommt und vor allem aufgrund der darin vorgeschlagenen Maßnahmen zur Minimierung der größten Risiken sinnvoll ist.

5.3.   Im Zusammenhang mit der Durchführung des Programms „Sichereres Internet (2009-2013)“ betont der Ausschuss, dass der Dialog mit den an sozialen Netzwerken beteiligten Kreisen verstärkt werden muss, wobei insbesondere die Beteiligung der Jugend an der Diskussion, Entwicklung und Umsetzung von Lösungen für eine sicherere Nutzung des Internet gefördert werden muss.

5.4.   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die jungen Menschen bei der Festlegung der Anwendungsmodelle für diese Netze und - im Falle von Streitigkeiten und Problemen - bei der Vermittlung und Beilegung direkt einbezogen werden müssen, da sie wahrscheinlich am besten in der Lage sind, auftretende Problemsituationen schnell und sicher zu erfassen.

5.5.   Der EWSA schlägt vor, dass die Möglichkeit der Entwicklung eines internationalen oder europäischen Lehrplans für die Ausbildung von Beratern und Therapeuten für Opfer von Online-Praktiken - insbesondere von Cyber-Mobbing oder Cyber-Grooming - geprüft werden sollte. Der Ausschuss regt zudem an, im Rahmen des Programms „Sichereres Internet“ Initiativen für die Beratung im Allgemeinen und für Online-Beratungsdienste im Besonderen sowie die Aufstellung von Präventivprogrammen für Kinder und Jugendliche vorzusehen.

5.6.   Ebenfalls im Zuge der Durchführung des Programms „Sichereres Internet (2009-2013)“ sollten nach Auffassung des EWSA Initiativen zur Förderung der digitalen Kompetenz, vor allem im Hinblick auf die sichere Benutzung sozialer Netzwerke, aufgelegt werden, die sich nicht nur an Kinder und Jugendliche, sondern an alle Bevölkerungsgruppen und insbesondere an die Eltern, die ja für die Erziehung verantwortlich sind, und auch an ältere Menschen richten.

5.7.   Außerdem sollten die Anbieter sozialer Netzwerke nach Ansicht des EWSA ihre Selbstverpflichtungsinitiativen - vornehmlich auf dem Gebiet des Jugendschutzes - fortsetzen, wobei allerdings ihre tatsächliche Einhaltung von unabhängiger Stelle kontrolliert werden muss und die Möglichkeit bestehen sollte, gesetzlich ein Mindestschutzniveau festzulegen.

5.8.   Der EWSA spricht sich überdies dafür aus, diese Selbstregulierungssysteme sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene in Richtung von Ko-Regulierungsmechanismen unter Beteiligung der Regulierungsbehörden weiterzuentwickeln, um die tatsächliche Einhaltung der Vereinbarungen, die Prävention und Ahndung von Verstößen sowie die Bestrafung von Regelverletzern durch die anderen Anbieter zu gewährleisten.

5.9.   Der EWSA begrüßt und befürwortet den Großteil der Empfehlungen, die in der Entschließung zum Datenschutz in sozialen Netzwerkdiensten - verabschiedet von der 30. Internationalen Konferenz der Beauftragten für den Datenschutz und für die Privatsphäre am 17. Oktober 2008 in Straßburg (10) - und in der Stellungnahme der „Artikel 29“-Datenschutzgruppe zu sozialen Netzwerken im Internet (11) enthalten sind, und ruft die Kommission auf, diese Empfehlungen zu übernehmen und die Anbieter und Betreiber darauf zu verpflichten.

5.10.   Der EWSA hält zudem zusätzliche Anstrengungen im Hinblick auf eine bessere Aufklärung und Erziehung von den ersten Schuljahren an für notwendig, um die Risikoprävention und die Art und Weise der Nutzung dieser sozialen Netze zu verbessern. Dazu sollten auf Gemeinschaftsebene und in den einzelnen Mitgliedstaaten Aufklärungskampagnen gestartet werden. Eine in diesem Zusammenhang äußerst sinnvolle Ergänzung zu den Initiativen im Rahmen des Programms „Sichereres Internet“ wäre die Entwicklung eines „eYouGuide“ als spezifischer Leitfaden für die Teilnehmer an sozialen Netzwerken. Dabei handelt es sich um eine Website, die die Rechte der Teilnehmer sozialer Kommunikationsnetze auflistet und die Meldung von Missbrauch sowie die Beilegung von Streitigkeiten auf gesamteuropäischer Ebene ermöglicht, d.h. um ein einheitliches Forum für die „Verwaltung“ der Nutzerrechte, die Bewertung der Koordination auf Gemeinschaftsebene, die Diskussion über mögliche Eingriffe und Maßnahmen und die Evaluierung der Zusammenarbeit zwischen den einzelstaatlichen Behörden.

5.11.   Der EWSA vertritt überdies die Auffassung, dass die nationalen und gemeinschaftlichen FuE-Programme sowie die Anbieter und Betreiber selbst mehr in die Entwicklung und Vervollkommnung der technischen Lösungen für Zugangsfilter und -sperren investieren sollten, da diese den Familien eine umsichtige und zugleich wirksame Anwendung des Vorsorgeprinzips ermöglichen.

5.12.   Angesichts der Art dieses Phänomens und seiner dynamischen Entwicklung würde es der EWSA begrüßen, wenn die Kommission ein Grünbuch erarbeitete und darin die Ergebnisse der im Juli 2008 durchgeführten öffentlichen Konsultation auswertete, die möglichen Hauptrichtungen für die künftigen Arbeiten zur Untersuchung der Auswirkungen dieser Netze festlegte und dazu eine umfassende Anhörung der einschlägigen Unternehmen, Fachleute, Wissenschaftler und beteiligten zivilgesellschaftlichen Organisationen und Verbände durchführte.

5.13.   In diesem Zusammenhang sollte die Möglichkeit geprüft werden, im Ergebnis einer stärkeren Zusammenarbeit und engeren Abstimmung der einzelstaatlichen Maßnahmen einen EU-weit einheitlichen Rechtsrahmen festzulegen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die vertraglichen Bedingungen für die Teilnahme an sozialen Netzwerken, die regelmäßig missbräuchliche Klauseln - insbesondere über das anwendbare Recht und den Gerichtsstand - enthalten.

Da es sich hierbei im Wesentlichen um ein internationales Phänomen handelt - für die wichtigsten sozialen Netzwerke sind außerhalb der EU-Grenzen liegende Gerichtsbarkeiten zuständig -, hält der EWSA die wirksame Förderung folgender Maßnahmen für sehr wichtig:

5.14.1.   Die Festlegung von Verhaltensgrundsätzen und Verhaltensregeln für soziale Netzwerkdienste und insbesondere für international operierende soziale Netzwerke für die Zielgruppe der Minderjährigen.

5.14.2.   Die Institutionalisierung der Kontrolle der Einhaltung dieser Regeln, die aufgrund der Art der Dienste zwangsläufig grenzüberschreitend erfolgen muss.

5.14.3.   Eine stärkere und flexiblere Zusammenarbeit der Europäischen Union mit europäischen und nichteuropäischen Drittländern auf politischer und operationeller Ebene, um die Risiken und Probleme im Zusammenhang mit der Nutzung sozialer Netzwerke zu ermitteln, nach optimalen Lösungen zur Bewältigung dieser Probleme zu suchen und, soweit das der internationale Rechtsrahmen zulässt, Situationen zu unterbinden, bei denen die Rechte der Bürger bzw. Verbraucher verletzt werden.

5.15.   Der EWSA unterstreicht zudem die Notwendigkeit einer wirksamen internationalen Zusammenarbeit und Koordination zwischen den Beteiligten, damit die für eine sicherere Nutzung des Internet (12) notwendigen Maßnahmen möglichst große Wirkung entfalten. Dazu ist ein proaktiver internationaler Ansatz notwendig, um die Verbreitung und den Austausch von Kenntnissen, die Abstimmung bei der Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung und die Bereitstellung der für die Umsetzung der notwendigen Maßnahmen erforderlichen Finanzmittel in und außerhalb der EU zu gewährleisten.

5.16.   Der EWSA bekräftigt zudem die Notwendigkeit, dass die Mitgliedstaaten die Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung von Computer-Kriminalität sowie zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (13) ratifizieren, da dies eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass die Europäische Union auf internationaler Ebene als einheitlicher Block auftreten kann.

5.17.   Abschließend wirft der EWSA die Frage auf, ob parallel zu den oben genannten Initiativen nicht die Möglichkeit der Einsetzung eines EU-Beauftragten (Ombudsman) für alle Fragen im audiovisuellen Bereich und damit auf dem Gebiet der sozialen Netze - Schutz der Privatsphäre und Datenschutz, Schutz der Menschenwürde, Widerspruchs- und Berichtigungsrecht sowie Meinungsfreiheit - erwogen werden sollte, indem auf verschiedene Stellen verteilte Zuständigkeiten zusammengefasst und ausgedehnt werden. Dieses Amt könnte nach dem Vorbild des kanadischen Privacy Commissioner geschaffen werden, der unlängst kraft seiner weitreichenden Befugnisse im Zusammenhang mit Facebook und einem vermuteten unrechtmäßigen Behalt personenbezogener Daten tätig wurde, worüber die Medien berichteten (14).

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  IP/09/232 Brüssel, 10. Februar 2009.

(2)  Siehe dazu insbesondere den Bericht der Europäischen Agentur für Netz- und Informationssicherheit (ENISA) „Security Issues and Reccomendations for Online Social Networks“ (www.enisa.europa.eu/doc/pdf/deliverables/enisa_pp_social_networks.pdf).

(3)  http://ec.europa.eu/information_society/activities/sip/events/forum/forum_sepet_2008/index_en.htm.

(4)  http://ec.europa.eu/information_society/activities/sip/policy/consultations/ageverif_sns/index_en.htm.

(5)  http://ec.europa.eu/information_society/activities/sip/docs/pub_consult_age_rating_sns/summaryreport.pdf.

(6)  Flash-Eurobarometer-Umfrage 2008: „Auf dem Weg zu einer sichereren Nutzung des Internets für Kinder in der EU - aus dem Blickwinkel der Eltern“, http://ec.europa.eu/public_opinion/flash/fl_248_en.pdf.

(7)  Entschließung über den Schutz der Privatsphäre in sozialen Netzwerken, http://www.privacyconference2008.org./adopted_resolutions/STRASBOURG2008/resolution_social_networks_en.pdf.

(8)  „Safer Social Networking principles for the EU“, http://ec.europa.eu/information_society/activities/social_networking/eu_action/selfreg/index_en.htm#self_decl.

(9)  ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 61.

(10)  Die Empfehlungen können im Wortlaut abgerufen werden unter: http://www.privacyconference2008.org/adopted_resolutions/STRASBOURG2008/resolution_social_networks_de.pdf.

(11)  Stellungnahme 5/2009 vom 12.6.2009 zur Nutzung sozialer Online-Netzwerke.

(12)  Dieser Standpunkt wurde von Janos Tóth, Vorsitzender der Fachgruppe TEN des EWSA, bei der öffentlichen Präsentation zum Thema „Schutz der Kinder bei der Internetnutzung“ am 5.5.2009 vertreten (http://www.eesc.europa.eu/sections/ten/index_en.asp?id=4300003tenen).

(13)  http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/QueVoulezVous.asp?NT=201&CM=8&DF=05/10/2009&CL=GER.

(14)  Zum kanadischen Amt des Beauftragten für die Privatsphäre: http://www.priv.gc.ca/aboutUs/mm_e.cfm#contenttop; zu seiner jüngsten Intervention im Zusammenhang mit Facebook: http://www.priv.gc.ca/media/nr/-c/2009/nr-c_090716_e.cfm.


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

457. Plenartagung am 4./5. November 2009

18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/74


457. PLENARTAGUNG AM 4./5. NOVEMBER 2009

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen. Arbeitsmarkt- und Qualifikationserfordernisse antizipieren und miteinander in Einklang bringen“

KOM(2008) 868 endg.

(2010/C 128/13)

Berichterstatterin: Vladimíra DRBALOVÁ

Die Europäische Kommission beschloss am 16. Dezember 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen. Arbeitsmarkt- und Qualifikationserfordernisse antizipieren und miteinander in Einklang bringen

KOM(2008) 868 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 15. Oktober 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 4. November 2009 mit 141 gegen 2 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Nach Ansicht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) ist die Mitteilung der Europäischen Kommission zum Thema „Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen“ eine Initiative, die genau zum rechten Zeitpunkt kommt. Der EWSA teilt die Ansicht der Kommission, dass auf einzelstaatlicher und europäischer Ebene ein Mechanismus zur Antizipierung von Kompetenzen für den Bedarf auf dem Arbeitsmarkt erforderlich ist und entsprechende Kapazitäten aufgebaut werden müssen. Die Steigerung des Kompetenzniveaus auf allen Ebenen ist eine wesentliche Voraussetzung für eine kurzfristige Ankurbelung der Wirtschaft wie auch für eine langfristige Entwicklung, die Erhöhung der Produktivität, für Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung sowie für die Gewährleistung der Chancengleichheit und des sozialen Zusammenhalts. Die Antizipierung des künftigen Bedarfs auf dem Arbeitsmarkt hat ihre Grenzen, und daher müssen die Mechanismen und Instrumente ständig verbessert werden.

1.2.   Der EWSA befürwortet die vom Europäischen Zentrum zur Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP) vorgeschlagenen weiteren Verbesserungen zur regelmäßigen Antizipierung der Kompetenzen in Europa, beispielsweise die Verbesserung der Methoden und Datenbanken sowie die gleichzeitige Aktualisierung der Prognosen über Angebot und Nachfrage, durch die eine Analyse der Ungleichheiten ermöglicht wird. Gleichzeitig empfiehlt der EWSA, die Begriffsbestimmung „Kompetenz“ mit Blick auf die unterschiedlichen Praktiken in den Mitgliedstaaten noch eingehender auszuarbeiten.

1.3.   Tatsache ist jedoch, dass es keine Instrumente zur sicheren Ermittlung des künftigen Bedarfs gibt und auch die weltweite Arbeitsteilung aufgrund der Globalisierung mittelfristig, d.h. für die wahrscheinliche Dauer einer Ausbildung, nicht unverändert bleiben wird.

1.4.   Der EWSA befürwortet die Steigerung der Kompetenzen und ihre Anpassung an die derzeitigen und künftigen Arbeitsmarkterfordernisse, fordert jedoch, das vorhandene Arbeitsmarktpotenzial vollständig auszuschöpfen, die Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer zu erhöhen, die bestehenden Arbeitsplätze qualitativ zu verbessern, neue produktive Arbeitsplätze zu schaffen und das Potenzial des sog. grünen Arbeitsmarktes zu entwickeln.

1.5.   Der EWSA unterstützt voll und ganz den Gedanken einer Partnerschaft und Zusammenarbeit aller interessierten Kreise. Insbesondere erkennt er den Beitrag der Sozialpartner, der wichtigsten Akteure auf dem Arbeitsmarkt, und der Zivilgesellschaft an. Der EWSA betont des Weiteren die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit und Koordinierung der Aktivitäten auf internationaler Ebene, vor allem zwischen der MOP und der OECD.

1.6.   Der EWSA legt insbesondere Wert auf eine enge und effiziente Zusammenarbeit zwischen den Bildungseinrichtungen und Unternehmen, die bewirken sollte, dass zwischen Aus- und Weiterbildungssystemen ein konstruktiver Austausch entsteht, die Zahl der Schulabbrecher abnimmt, technische Berufe an Attraktivität gewinnen, die Qualität der Berufsausbildung zunimmt und die Tendenzen hinsichtlich der auf dem Arbeitsmarkt nachgefragten Qualifikationen und damit die Kompetenzen antizipiert und besser auf die Realität in den Unternehmen ausgerichtet werden, um die allgemeine Beschäftigungsquote in der EU zu erhöhen. Der EWSA unterstreicht zugleich die Notwendigkeit einer qualitativ hochwertigen Grund- und Allgemeinbildung bzw. Ausbildung für Schüler und Lehrkräfte sowie einer Verbesserung der Systeme, die der Berufsberatung dienen. Dabei sollte insbesondere der spezifische Bedarf der mittelständischen Unternehmen (KMU) berücksichtigt werden.

1.7.   In diesem Zusammenhang ruft der EWSA einige Empfehlungen in Erinnerung, die im Mai 2009 auf dem außerordentlichen EU-Beschäftigungsgipfel in Prag beschlossen wurden und darauf ausgerichtet sind, die Qualifikationen zu verbessern, in die Bildung zu investieren, die Mobilität im Rahmen der EU zu fördern, die Nachfrage nach beruflichen Qualifikationen zu antizipieren und sie besser auf die Arbeitsmarkterfordernisse abzustimmen sowie die Chancen auf hochwertige Ausbildungsgänge und Praktika auszubauen.

1.8.   Der EWSA befürwortet gleichfalls die auf dem Rat der europäischen Minister für Bildung, Jugend und Kultur vom Mai eingegangene Verpflichtung der Mitgliedstaaten, einen stabileren Rahmen für eine intensivere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung zu schaffen, sowie die vier strategischen Ziele zur Förderung der Beschäftigungsfähigkeit und der unternehmerischen Fähigkeiten aller, die sich in einer allgemeinen oder beruflichen Ausbildung befinden. In diesem Zusammenhang ist insbesondere der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) (1) von Bedeutung.

1.9.   Der EWSA hat zudem die Entscheidung des schwedischen Ratsvorsitzes der EU begrüßt, in sein Aktionsprogramm eine Konferenz am 22./23. November 2009 zum Thema „Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen“ aufzunehmen, in deren Mittelpunkt der Bedarf auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft und die Aufgaben der öffentlichen Arbeitsverwaltungen stehen werden.

2.   Einführung

2.1.   Die Wirtschaft der Europäischen Union ist infolge der globalen Finanzkrise in eine Rezession geraten, was bedeutende Folgen für die europäischen Arbeitsmärkte und die Beschäftigungslage hat. Aktuellen Schätzungen zufolge wird die Arbeitslosenquote von 9,4 % im Jahr 2009 auf 10,9 % im Jahr 2010 ansteigen.

2.2.   Auf die Lage in Europa reagierte die Europäische Kommission mit dem Europäischen Konjunkturprogramm  (2). Darin weist sie auf die Bedeutung eines koordinierten Ansatzes hin, steckt strategische Ziele ab und schlägt eine Reihe Maßnahmen in den vier vorrangigen Bereichen der Lissabon-Strategie vor.

2.3.   Die Maßnahmen zur wirtschaftlichen Erholung der EU sind unter anderem auf die Sicherung der Arbeitsplätze - und der Humanressourcen - sowie die Förderung der unternehmerischen Initiative gerichtet. Die Europäische Kommission ruft dazu auf, eine umfangreiche europäische Initiative zur Beschäftigungsförderung auf den Weg zu bringen, und empfiehlt unter anderem, das vorhandene und absehbare Angebot offener Stellen genau zu verfolgen und durch die Entwicklung und den Ausbau der beruflichen Qualifikationen besser auf dieses Stellenangebot zu reagieren.

2.4.   Der wichtigste Faktor für Wachstum und Wohlstandsmehrung ist die Fähigkeit eines Staates, Arbeitsplätze zu schaffen. Eine Politik zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung umfasst mehrere Komponenten. Ein moderner, integrativer, flexibler und wettbewerbsfähiger Arbeitsmarkt bietet ein breites Spektrum an Arbeitsmöglichkeiten und Aufgaben. Außerdem ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer einer der Grundpfeiler der Europäischen Union. Ziel ist, den Bürgerinnen und Bürgern das Arbeiten in einem anderen Mitgliedstaat zu erleichtern und das Angebot an Arbeitsgelegenheiten zu verbessern, aber auch ein größeres und flexibleres Arbeitskräfteangebot für die Unternehmen zu schaffen sowie eine bessere Anpassung an die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts zu ermöglichen.

2.5.   In den Schlussfolgerungen der Frühjahrstagung des Europäischen Rates 2009 wird deutlich gemacht, dass der Kapazitätsaufbau der EU unbedingt vorangetrieben werden muss, um das Kompetenzniveau auf allen Ebenen zu steigern sowie die Qualifikations- und Arbeitsmarkterfordernisse zu antizipieren und besser aufeinander abzustimmen. Die Staats- und Regierungschef richteten auch einen dringenden Appell an die Mitgliedstaaten, die integrierte Leitlinie Nr. 24 umzusetzen und ihre Aus- und Weiterbildungssysteme auf neue Qualifikationsanforderungen auszurichten.

2.6.   Auf dem außerordentlichen EU-Beschäftigungsgipfel, der am 7. Mai 2009 in Prag stattfand, wurden zehn konkrete Maßnahmen beschlossen, die sowohl auf einzelstaatlicher als auch auf europäischer Ebene in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern umzusetzen sind und Antworten auf lang- und kurzfristige Herausforderungen geben sollen. Vier dieser Maßnahmen haben die allgemeine und berufliche Bildung, das lebenslange Lernen, die Weiterbildung, die Förderung der Mobilität, eine bessere Antizipierung der künftig benötigten Kompetenzen und ihre Anpassung an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zum Gegenstand.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Die Europäische Kommission veröffentlichte 2008 ihre Mitteilung „ Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen. Arbeitsmarkt- und Qualifikationserfordernisse antizipieren und miteinander in Einklang bringen  (3), in der sie vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise die Notwendigkeit unterstreicht, durch eine Steigerung des Kompetenzniveaus das Humankapital zu entwickeln und die Beschäftigungsfähigkeit zu erhöhen. Der Kommissionsvorschlag zielt darauf ab, die Kapazitäten der Europäischen Union auf dem Gebiet der Abschätzung und Antizipierung der Kompetenzen zu verbessern und diese besser auf die neu entstehenden Arbeitsplätze abzustimmen.

3.2.   Die Kommission führt einerseits eine erste Abschätzung der Kompetenzen vor dem Hintergrund der Arbeitsmarkterfordernisse bis zum Jahr 2020 durch, schlägt des Weiteren aber auch einen systematischen Prozess zur Verfolgung, Abschätzung und rechtzeitigen Identifizierung der künftigen Arbeitsmarktanforderungen vor. Mit Hilfe des Programms PROGRESS und des Programms für lebenslanges Lernen richtet die Kommission ihre Aufmerksamkeit auch auf neue Methoden zur Kompetenzmessung.

3.3.   Die Kommission mobilisiert die bestehenden Instrumente zur effizienten Umsetzung dieser Prozesse und erarbeitet gleichzeitig neue Instrumente zur Beschleunigung oder Vereinfachung des Prozesses. Sie hebt die Politik der Flexicurity sowie die Einleitung der Maßnahmen zur Steigerung des Kompetenzniveaus heraus. Zu den vorgeschlagenen neuen Instrumenten gehören auch der „Europäische Arbeitsmarkt-Monitor“, ein standardisierter vielsprachiger Katalog der Berufe und Qualifikationen, und das sogenannte Match and Map, ein Instrument, um Nutzern die Anwendung des Systems EURES zu erleichtern. Die Schlüsselrolle des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) wird ebenfalls erwähnt. Die Antizipierung des künftigen Bedarfs auf dem Arbeitsmarkt hat ihre Grenzen, und daher müssen die Mechanismen und Instrumente ständig verbessert und zugleich die Aufnahmefähigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten beobachtet werden.

3.4.   Die Kommission unterstreicht zudem ganz zu Recht die wachsende Bedeutung der Querschnittkompetenzen und der „weichen Fähigkeiten“ (soft skills) wie Teamarbeit, Sprachkenntnisse und Kommunikationsfähigkeit. Besondere Aufmerksamkeit muss der Erhöhung der Standards und des erreichten Niveaus bei der Lese- und Schreibfähigkeit und der Kenntnis der Grundrechenarten (numeracy) schon vom frühesten Kindesalter an gewidmet werden.

3.5.   Als gute Praxis ist die Bildung branchenspezifischer Kompetenzgremien (SSC = Sector Skills Council) anzusehen, die auf der Grundlage von Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern, Bildungseinrichtungen und weiteren interessierten Kreisen im Rahmen einzelner Wirtschaftszweige tätig sind. Die Tätigkeit solcher Gremien kann mit der Struktur des Sozialen Dialogs in den einzelnen Branchen verknüpft werden, denn die Rolle der Sozialpartner ist in dieser Hinsicht besonders wichtig (4).

3.6.   Im Rat der Bildungsminister haben sich die Mitgliedstaaten am 12. Mai 2009 zu einer intensiveren Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung verpflichtet. Die bei dieser Gelegenheit vereinbarten Prioritäten verdeutlichen den großen Stellenwert, den die allgemeine und berufliche Bildung in der breit angelegten wirtschafts- und sozialpolitischen Debatte einnehmen muss. Die gemeinsamen Herausforderungen sind: 1) die Arbeitskräfte, die über die nötigen Kompetenzen für die Arbeitsplätze von morgen verfügen müssen, 2) die Abstimmung mit den Erfordernissen einer alternden Gesellschaft und 3) der härtere globale Wettbewerb.

3.7.   Der Rat nahm des Weiteren Schlussfolgerungen zum Ausbau der Partnerschaft zwischen den Bildungseinrichtungen und den Sozialpartnern an. Eine der wichtigen Funktionen, die die allgemeine und berufliche Bildung auf dem Gebiet des sozialen Zusammenhalts erfüllt, besteht darin, die Menschen mit den Kenntnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen auszustatten, die ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern und die Aufnahme eines dauerhaften Beschäftigungsverhältnisses ermöglichen. Das erklärt auch den großen Stellenwert, den die Sozialpartner als wichtige Akteure auf dem Arbeitsmarkt einnehmen.

4.   Fakten und Zahlen

4.1.   In den Schlussfolgerungen seiner Tagung vom Juni 2008 bekräftigte der Europäische Rat seine Forderung, eine umfassende Abschätzung der Qualifikationsanforderungen in Europa bis 2020 durchzuführen - Die Antizipierung und Abstimmung der Arbeitsmarkterfordernisse mit besonderer Berücksichtigung der Jugend  (5).

4.2.   Aus diesem Grund hat das Europäische Zentrum zur Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP) eine Untersuchung über die Qualifikationserfordernisse für den Zeitraum 2006 bis 2020 (6) erstellt, die 25 Mitgliedstaaten sowie Norwegen und die Schweiz umfasst. In der Untersuchung wird prognostiziert, dass bis zum Jahr 2020 20,3 Mio. zusätzliche Arbeitsplätze entstehen werden. Weitere 85 Mio. Arbeitsplätze werden durch die Neubesetzung von Stellen entstehen, deren bisherige Inhaber die Altersgrenze erreicht haben oder aus dem Beschäftigungsverhältnis ausgeschieden sind, was aber nicht als Schaffung neuer Arbeitsplätze gelten kann. Es wird erwartet, dass im Jahre 2020 drei Viertel aller Arbeitsplätze auf den Dienstleistungssektor entfallen.

4.3.   Zurzeit haben beinahe 40 % der Beschäftigten Positionen inne, die eine höhere Qualifikation erfordern, beispielsweise in der Verwaltung, in Fachberufen oder in technischen Berufen. In den kommenden zehn Jahren wird ein weiterer Anstieg der Arbeitsplätze erwartet, für die eine höhere oder mittlere Ausbildung erforderlich ist. Ein Anstieg wird auch in einigen Berufssparten erwartet, für die keinerlei Ausbildung oder eine nur geringe Qualifikation vorzuweisen ist.

4.4.   Setzt sich dieser Trend fort, dann werden diese Änderungen zu einer Polarisierung beim Beschäftigungswachstum führen. Diese Polarisierung verursacht wiederum eine sinkende Nachfrage nach Arbeitsplätzen mit mittlerem Bildungsniveau (die auf einfachen Routinearbeiten basieren), obwohl für jede der zahlreichen, wegen des Eintritts ihres bisherigen Inhabers in den Ruhestand neu zu besetzenden Stellen Arbeitskräfte mit einer entsprechenden Berufsausbildung zur Verfügung stehen müssen.

4.5.   Zurzeit steigen die Qualifikationsanforderungen in allen Berufssparten an, auch in jenen, die sich auf der niedrigsten Stufe der Qualifikationsskala befinden. Diese Tendenz, immer höhere Qualifizierungen zu fordern, steht unter dem Einfluss des Qualifikationsangebots. Aufs Ganze gesehen ist in den vergangenen zehn Jahren die Bildungsquote unter anderem dadurch angestiegen, dass sich die Menschen in zahlreichen Mitgliedstaaten dafür entschieden haben, einen höheren Bildungsgrad anzustreben, und ältere, im allgemeinen weniger qualifizierte Jahrgänge aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden und in Rente gegangen sind.

4.6.   Die Schlussfolgerungen des CEDEFOP machen jedoch deutlich, dass für zahlreiche/die meisten Arbeitsplätze ein allgemeiner und langfristiger Anstieg des Qualifikationsniveaus zu verzeichnen ist. Seinen Prognosen zufolge wird für etwa 91 % aller im Zeitraum von 2006 bis 2020 zu besetzenden Stellen ein höheres oder mittleres Bildungsniveau erforderlich sein. Die gegenwärtige Qualifikationsstruktur der Arbeitskräfte muss sich in den nächsten zehn Jahren ändern, denn für immer mehr freie Stellen (bis zu 55 Mio.) wird ein mittleres Ausbildungsniveau (das auch die berufliche Bildung umfasst) erforderlich sein. Für Bewerber ohne Ausbildung oder mit einem niedrigen Kompetenzniveau wird es nicht einmal zehn Millionen Stellen geben.

4.7.   Statistischen Angaben von Eurostat ist zu entnehmen, dass in der EU seit dem Jahr 2000 qualifizierte Arbeitsplätze geschaffen werden konnten. Es besteht also eine positive Korrelation zwischen dem Beschäftigungsanteil von Hochschulabsolventen und dem Beschäftigungszuwachs. In den meisten EU-Mitgliedstaaten nahm der Beschäftigungsanteil von Arbeitnehmern mit Hochschulabschluss stärker zu als die durchschnittliche Gesamtbeschäftigung. In Malta beispielsweise hat sich der Anteil der Arbeitnehmer mit Hochschulabschluss an der Beschäftigung seit 2000 mehr als verdoppelt, wobei die Gesamtbeschäftigung nur um 12 % zunahm. Derzeit muss aber auch der entgegengesetzte Trend - die Schaffung unsicherer Arbeitsplätze - beobachtet werden.

4.8.   Durch die Untersuchung des CEDEFOP wird deutlich, dass mit einer Reihe Auswirkungen zu rechnen ist:

Die allgemeine Nachfrage nach Kompetenzen wird weiter ansteigen.

Die Politik muss gewährleisten, dass die Arbeitskräfte diesen Anforderungen gerecht werden. Es sollte bekannt sein, ob Engpässe auf dem Arbeitsmarkt lediglich eine zeitweilige bzw. vorübergehende Erscheinung sind, oder ob es sich um ein langfristiges Phänomen handelt, dass gezieltes Handeln erfordert.

Eine kontinuierliche berufliche Ausbildung und lebenslanges Lernen müssen dazu beitragen, dass die Kompetenzen der Arbeitskräfte fortwährend an den strukturellen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt ausgerichtet werden.

Die Zahl der jungen Menschen, die in den kommenden zehn Jahren in den Arbeitsmarkt eintreten, wird nicht ausreichen, um alle Anforderungen des Marktes zu erfüllen. Das wird Auswirkungen auf die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung haben. Dem lebenslangen Lernen kommt eine grundlegende Bedeutung zu.

Obwohl die allgemeine und berufliche Ausbildung sehr wichtig ist, um besser auf die Arbeitsmarkterfordernisse reagieren zu können, lässt sich das Problem der Über- oder Unterqualifizierung durch sie doch nicht lösen.

Wichtig sind eine angemessene Kompetenzbewertung, die Vermeidung von Kompetenzverlust und die Nutzung der zur Verfügung stehenden Kompetenzen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.   Das Ziel der Europäischen Kommission besteht darin, dafür Sorge zu tragen, dass das Qualifikationsangebot und die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt aufeinander abgestimmt werden. Auch der Abbau bestehender Hemmnisse - einschließlich administrativer Hürden - für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU sowie transparentere Informationen über die Tendenzen auf dem Arbeitsmarkt würden zur Förderung der beruflichen, sektoriellen und geografischen Mobilität (7) beitragen und eine bessere Abstimmung zwischen den Qualifikationen und den Beschäftigungsmöglichkeiten ermöglichen. Wichtig ist auch der Ausbau der sogenannten Übergangsmobilität, also der leichtere Übergang zu einer neuen qualifizierten Beschäftigung im Falle eines Arbeitsplatzverlustes, bei dem der Arbeitnehmer in den Genuss von Sicherheiten kommt (Flexicurity-Konzept).

5.2.   In dem der Mitteilung beigefügten Arbeitsdokument (8) führt die Kommissionen Begriffsbestimmungen wie Qualifikation, Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen an, die Praxis zeigt jedoch, dass mit diesen Begriffen in den einzelnen Mitgliedstaaten ganz unterschiedlich umgegangen wird. Die Kommission sollte klarer festlegen, welchen Bedeutungsumfang der Begriff Kompetenz in ihrer Mitteilung hat.

5.3.   Das Problem der Qualifikationen bestand in Europa schon vor der gegenwärtigen Krise. Bereits vor mehr als zehn Jahren haben die europäischen Institutionen und die Unternehmensführungen darauf aufmerksam gemacht, dass Europa nicht genügend Wissenschaftler, Ingenieure und IT-Spezialisten ausbildet, anwirbt und an sich bindet, um den Bedarf der Industrie zu decken. Die Lage spitzt sich zu, und die Zahlen belegen, dass unter den jungen Menschen das Interesse an einer wissenschaftlichen Ausbildung immer mehr schwindet. Der Mangel an Kompetenzen, die den Arbeitsmarkterfordernissen in Europa genügen, nimmt zu und ist eine tickende Zeitbombe auf dem Weg Europas zur Wettbewerbsfähigkeit. Ein angemessenes Niveau der Kompetenzen, ein verbesserter Zugang zu Informationen und eine strukturelle Verbesserung werden sich positiv vor allem auf die KMU auswirken.

5.4.   Die Zuwanderung aus Drittstaaten kann ebenfalls zur Entwicklung in der EU beitragen, insbesondere angesichts des sinkenden Arbeitskräfteangebots in vielen Ländern. Der neue EU-Ansatz für die Wirtschaftsmigration aus Drittländern und der Zustrom von Talenten aus anderen Teilen der Welt kann lediglich zeitweise Abhilfe schaffen. In der Praxis wird sich zeigen, ob es Europa durch die Einführung der sogenannten „Blue Card“ gelingen wird, im Ringen um Talente Erfolge zu verbuchen. Zurzeit stammen lediglich 2 % der hochqualifizierten Arbeitskräfte in Europa aus Drittländern.

5.5.   Nun, da über Europa turbulente Zeiten hereingebrochen sind, verlangt das Problem des Mangels an benötigten Kompetenzen größere Aufmerksamkeit und eine bessere Darstellung in der Öffentlichkeit. Europa wird außerdem mittel- oder langfristig ein größeres Potenzial zur Schaffung neuer und neu zu besetzender Arbeitsplätze mobilisieren, doch wird es unter dem Strich darauf hinauslaufen, dass es zu einem einseitig starken Anstieg derjenigen Arbeitsplätze kommt, für die ein hohes Qualifikationsniveau erforderlich ist.

5.6.   Eine Reduzierung der Beschäftigungszahlen in Zeiten geringerer Nachfrage ist ein sehr kurzsichtiger Lösungsansatz. Der Aufbau von Kompetenzen ist ein lang andauernder und kostspieliger Prozess, unabhängig davon, ob es sich nun um formelle Bildung (in der Primar- und Sekundarstufe und im Hochschulbereich) oder um eine Ausbildung im Unternehmen handelt (Unternehmenskultur, Unternehmensstruktur, Beziehungen zum Kunden). Eine wirtschaftliche Wiederbelebung wäre undenkbar, wenn die Unternehmen mit einem Mangel an ausreichend qualifizierten Arbeitskräften konfrontiert wären.

5.7.   Ein visionäres und zukunftsorientiertes Szenario erfordert gemeinsame Aktionen seitens der Regierungen und der Privatwirtschaft:

eine Neuausrichtung der ESF-Finanzierung auf die berufliche Bildung und Umschulungsmaßnahmen im Zeitraum 2007 bis 2013;

Initiierung gemeinsamer Aktionen und partnerschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Privatwirtschaft und öffentlichen Stellen;

Durchführung einer gemeinsamen Politik mit dem Ziel, die Zahl der Schulabbrecher zu verringern und das Interesse junger Menschen an der Mathematik, der Wissenschaft und einer beruflichen Laufbahn im Ingenieurswesen, der Informations- und Kommunikationstechnologie sowie im Umweltschutz zu wecken;

Förderung und Entwicklung von Partnerschaften zwischen Schulen und Universitäten auf hoher Ebene, und zwar durch geplante Praktika, die Studierende vor allem in den letzten Monaten ihres Studiums die Möglichkeit bieten, direkten Kontakt zu Arbeitswelt aufzunehmen, auf die ihre Studien ausgerichtet sind;

Förderung einer Kompetenzmobilität innerhalb Europas;

Förderung eines innovativen Bildungsansatzes einschließlich des computergestützten Lernens (eLearning) und des Fernstudiums;

Erschließung des Potenzials der von Ausgrenzung betroffenen und noch fortbildungsfähigen Gruppen, für deren Wiedereingliederung bereits beträchtliche Finanzmittel aufgewendet werden (Armut, Arbeitslosigkeit, Behinderung, Diskriminierung usw.);

Steuerung der Aus- und Weiterbildung von Einwanderern.

5.8.   Europa muss seine Kompetenzpyramide  (9) verbessern: Alphabetisierung und Allgemeinwissen, berufliche Kenntnisse, und die sogenannten GKE-Fähigkeiten (Global Knowledge Economy talents - Fähigkeiten der weltweiten Wissensgesellschaft). Zurzeit ist Europa in vielen Ländern noch weit von einer Kompetenzpyramide entfernt, die seinen Ansprüchen gerecht würde.

5.9.   Wenn Europa die benötigten Fähigkeiten aufbauen, gewährleisten und aufrechterhalten will, muss es eine ganze Reihe von Maßnahmen sowohl hinsichtlich des Angebots als auch der Nachfrage an europäischen Kompetenzen umsetzen. Die Nachfrage wird ganz sicher durch Wachstumsbranchen, durch langfristige, sich auf globaler und lokaler Ebene schnell entwickelnde Prioritäten sowie durch allgemeine Tendenzen bezüglich der globalen Ressourcen und der demokratischen Entwicklung beeinflusst. Auf der Angebotsseite sind die wichtigsten Faktoren für die in Europa verfügbaren Arbeitskräfte vor allem die demografischen Tendenzen, die geringe Mobilität und die Fähigkeit Europas, die benötigten Kompetenzen auszubilden.

5.10.   Der EWSA betont erneut, wie wichtig die Qualität der Lehrerbildung ist (10). Die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte muss mit den wichtigsten Maßnahmen in den Bereichen Innovation, Forschung und Unternehmertum verknüpft werden. Bereits in die Ausbildung der Lehrer müssen Komponenten einfließen, die es ihnen erlauben, sich besser auf Veränderungen auf dem Arbeitsplatz und die Entwicklung der entsprechenden Kompetenzen auf allen Bildungsebenen einzustellen.

5.11.   In diesem Zusammenhang kommt den Sozialpartnern eine maßgebliche Rolle zu. Die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Bildungseinrichtungen muss zu ganz konkreten Ergebnissen führen, vor allem bei der Erstellung von Lehrplänen sowie der Schaffung von Beschäftigungs- und Qualifikationssystemen auf nationaler Ebene, die den Bedürfnissen der Arbeitgeber im Hinblick auf die Erfüllung konkreter Aufgaben auf Unternehmensebene Rechnung tragen müssen. Von großer Bedeutung sind die Ausbildung der Lehrlinge, Praktika für junge Arbeitnehmer und die Erhöhung der Attraktivität der Branchen, in denen Bedarf besteht. Die Kommission sollte die Aufmerksamkeit vorrangig auf die Aufgaben richten, die auf Unternehmensebene zu erfüllen sind, und danach auf die Kompetenzen. Dabei müssen die Bedürfnisse der kleinen und großen Unternehmen deutlich voneinander getrennt werden.

5.12.   In Europa werden auch die Auswirkungen der Anpassung an den Klimawandel auf die Beschäftigung zu berücksichtigen sein. Die globale Erwärmung wird sich auf die Produktionsfaktoren und -prozesse auswirken. Die Europäische Kommission arbeitet bereits an einer Reihe von Untersuchungen mit dem Ziel eines neuen Wirtschaftskonzepts mit niedrigen CO2-Emissionen und der damit einhergehenden Schaffung sogenannter „Grüner Arbeitsplätze“ und „Ökoindustrien“. Erste Ergebnisse machen deutlich, dass nicht genügend Daten zur Verfügung stehen und dass die Prognosen über die Auswirkungen des Klimawandels auf den Arbeitsmarkt ungenau sind und stark voneinander abweichen. Der Übergang zu einer Wirtschaft mit niedrigen CO2-Emissionen muss als langfristiger Prozess angesehen werden, in dessen Verlauf sich die Arbeitsmärkte schrittweise anpassen werden.

5.13.   Im Mittelpunkt der Kommissionsmitteilung stehen vor allem die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Erhöhung der Qualifikationen für diese künftigen Arbeitsplätze. Die EU muss des Weiteren das vorhandene Potenzial des Arbeitsmarktes effizient ausschöpfen und die Qualifikationen sowie die Anpassungsfähigkeit der von Arbeitsplatzverlust betroffenen oder bedrohten Arbeitskräfte erhöhen. Darüber hinaus muss auch der Umschulung, der beruflichen Weiterbildung und dem lebenslangen Lernen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auf der anderen Seite muss die EU auch in der Lage sein, die Voraussetzungen für die Schaffung produktiver, qualitativer und gut bezahlter Arbeitsplätze zu gewährleisten.

5.14.   Die Initiativen zur Steigerung des Kompetenzniveaus müssen den Ansprüchen und Bedürfnissen der Einzelnen Rechnung tragen. Die Bildung hat eine grundlegende Bedeutung für den freien Willen der Bürger und ihre Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung. Aus Sicht des Arbeitsmarktes liegt die Bedeutung der Bildung auch darin, dem Einzelnen Kenntnisse und Kompetenzen zu vermitteln, die für die Erfüllung der einem ständigen Wandel unterworfenen Anforderungen und für die Gewährleistung eines hohen Beschäftigungsgrades unerlässlich sind.

5.15.   Die Maßnahmen zur Steigerung des Kompetenzniveaus und der Anpassungsfähigkeit der Arbeitskräfte müssen auf den Grundsätzen der Gleichstellung aller Bürgerinnen und Bürger und des Diskriminierungsverbots beruhen. Das bedeutet, dass alle verbliebenen Hindernisse in den Systemen der allgemeinen und beruflichen Bildung beseitigt werden müssen: sowohl formale als auch in den Betrieben bestehende Hindernisse. Die Hindernisse betreffen vor allem besonders schutzbedürftige Gruppen wie ältere Arbeitnehmer und Menschen mit Behinderungen.

5.16.   In den Schlussfolgerungen des Rats der europäischen Minister für Bildung, Jugend und Kultur vom 12. Mai 2009 wird auf die große Bedeutung der Sozialpartner hingewiesen. Die europäischen Sozialpartner haben im Rahmen des europäischen sozialen Dialogs ihre Aufmerksamkeit auf die allgemeine und berufliche Bildung in Zusammenhang mit den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes gerichtet. Im Jahr 2002 haben sie gemeinsam den Aktionsrahmen für den lebenslangen Erwerb von Fähigkeiten und Qualifikationen ausgearbeitet und im Jahre 2006 eine Analyse der Kernelemente des Arbeitsmarktes durchgeführt, aufgrund derer die gemeinsamen Maßnahmen in ihrem dritten gemeinsamen Arbeitsprogramm 2009-2010 wie eine eigenständige Vereinbarung über integrative Arbeitsmärkte sowie der Beschäftigungsbericht erarbeitet wurden.

5.17.   In den Schlussfolgerungen des Rates wird ebenfalls eine intensivierte Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft und die Zusammenarbeit aller interessierter Kreise - Unternehmen, Bildungseinrichtungen, öffentliche Arbeitsverwaltungen etc. - gefordert. Die Zusammenarbeit mit den betroffenen nichtstaatlichen Organisationen und soziale Initiativen können den traditionellen sozialen Dialog ergänzen.

5.18.   Einer der bedeutendsten Beiträge der Methode der offenen Koordinierung im Bereich allgemeine und berufliche Bildung auf europäischer Ebene ist der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR). Durch diesen sollten die Qualifikationen transparenter und verständlicher und so die Mobilität in Europa erhöht werden.

5.19.   Der Europäische Sozialfonds hat sich als nützliches Instrument in Bezug auf die Bedürfnisse Europas bei der beruflichen Bildung erwiesen. Künftige Verbesserungen können durch die Abschaffung bürokratischer Verfahren und der Überlappung mit Initiativen der Strukturfonds sowie durch eine stärkere Beteiligung der Sozialpartner erreicht werden.

5.20.   Die sogenannten Europäischen Durchschnittsbezugswerte für allgemeine und berufliche Bildung (Benchmarks) werden zum Instrument für die Überwachung der erzielten Fortschritte. Die Mitgliedstaaten sind übereingekommen, dass bis zum Jahr 2020

mindestens 15 % der Erwachsenen sich an Programmen des lebenslangen Lernens beteiligen sollten;

der Anteil der 15-Jährigen, die Schwierigkeiten beim Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften haben, unter 15 % sinken sollte;

der Anteil von Personen zwischen 30 und 34 Jahren mit Hochschulausbildung bei mindestens 40 % liegen sollte;

der Anteil von jugendlichen Schulabbrechern und der Jugendlichen ohne Ausbildung unter 10 % sinken muss;

mindestens 95 % der Kinder zwischen dem vierten Lebensjahr und dem Beginn der Schulpflicht eine Vorschule besuchen sollten.

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 zur Einrichtung eines Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen, ABl. C 111, S. 1.

(2)  Europäisches Konjunkturprogramm, KOM(2008) 800 endg. vom 26. November 2008.

(3)  Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen. Arbeitsmarkt- und Qualifikationserfordernisse antizipieren und miteinander in Einklang bringen, KOM(2008) 868 endg. vom 16.12.2008.

(4)  ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 15.

(5)  CEDEFOP Panorama Series 160, Skill needs in Europe (Qualifikationsbedarf in Europa), 2008.

(6)  Dabei sollte beachtet werden, dass die Analyse vor der Finanz- und Wirtschaftskrise erstellt wurde, und dass deren Auswirkungen nicht berücksichtigt sind.

(7)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 14.

(8)  Begleitdokument zu der Mitteilung KOM(2008) 868 endg.: Arbeitsdokument SEK (2008) 3058.

(9)  Quelle: Dokument für den European Business Summit 2009, INSEAD (The Business school for the world) in Zusammenarbeit mit der Firma Microsoft und dem Belgischen Unternehmerverband (FEB).

(10)  ABl. C 151 vom 17.6.2008, S. 41.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/80


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat - Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger“

KOM(2009) 262 endg.

(2010/C 128/14)

Berichterstatter: Luis Miguel PARIZA CASTAÑOS

Mitberichterstatter: Cristian PÎRVULESCU

Die Europäische Kommission beschloss am 10. Juni 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat - Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger“

KOM(2009) 262 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 15. Oktober 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 4. November) mit 152 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

1.1.   In den letzten Jahren haben der Schutz und die Förderung der Menschenrechte auf der Agenda der EU an Bedeutung verloren. Zur politischen Priorität wurde die Sicherheit der Staaten erhoben - ganz so, als wäre sie mit der Entwicklung der Freiheit und des Schutzes der Grundrechte unvereinbar.

1.2.   Maßnahmen in den Bereichen Sicherheit und Recht müssen die Werte der Freiheit wahren. Nach Auffassung des Ausschusses müssen diese Maßnahmen auf dem Schutz der in der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta der Europäischen Union verankerten fundamentalen Rechte beruhen.

1.3.   Sicherheitspolitische Maßnahmen dürfen nicht die Grundwerte (Menschenrechte und Grundfreiheiten) sowie die in der gesamten Union geltenden demokratischen Prinzipien (Rechtsstaatlichkeit) beeinträchtigen. Die persönliche Freiheit darf nicht hinter das Ziel der Sicherheit der Gemeinschaft und des Staates zurücktreten. In einigen Politikvorschlägen wird derselbe Fehler begangen wie in früheren Zeiten, nämlich die Freiheit zu opfern, um die Sicherheit zu verbessern.

1.4.   Der EWSA ist der Auffassung, dass der Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten mit Hilfe einer sichtbaren und handlungsfähigen politischen Autorität auf europäischer Ebene gestärkt werden muss; deshalb unterstützt er den Vorschlag von Kommissionspräsident Barroso, das Amt eines Europäischen Kommissars für Justiz, Grundrechte und bürgerliche Freiheiten einzurichten. Der Ausschuss hofft, dass diesem Amt die politischen Instrumente und organisatorischen und finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden, die für die Wahrnehmung einer solch verantwortungsvollen Aufgabe erforderlich sind.

1.5.   Der Ausschuss bedauert jedoch, dass die Themen Einwanderung und Asyl in das Ressort Innere Sicherheit unter der Zuständigkeit eines anderen Kommissionsmitglieds fallen sollen. Das Thema Zuwanderung mit demjenigen der Sicherheit zu verknüpfen und es vom Schutz der Menschenrechte zu trennen, ist ein falsches politisches Signal. Der EWSA schlägt vor, in der neuen Europäischen Kommission die Einwanderungs- und Asylpolitik eng mit dem Grundrechteschutz zu verknüpfen und beide Bereiche dem gleichen politischen Ressort zu unterstellen.

1.6.   Wenn der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt, wird es für die Maßnahmen im Rahmen des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts umfassendere Rechtsgrundlagen geben, weshalb die Europäische Union nach Ansicht des EWSA ehrgeizigere Ziele als die von der Kommission vorgeschlagenen erreichen kann.

1.7.   Der Ausschuss empfiehlt eine Überprüfung der Rechtsvorschriften über die Reisefreiheit und folglich eine Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2252/2004.

2.   Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

2.1.   Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) der EU tritt nun in eine entscheidende Phase. Seit 1999 wurden vom Rat zwei Fünfjahresprogramme verabschiedet: das Programm von Tampere (1999-2004) und das Haager Programm (2004-2009).

2.2.   Zehn Jahre nach Tampere wurden die anvisierten Ziele nicht erreicht. Ein gemeinsamer Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist die EU nach wie vor nicht. Im Laufe dieser Jahre konnten zwar Fortschritte erzielt werden, doch waren sie unzureichend (1) und darüber hinaus ungleichmäßig. Der Europäische Rat von Stockholm kann eine neue Chance bieten, an den Geist von Tampere anzuknüpfen.

2.3.   In der gemeinsamen Politik in den Bereichen Einwanderung, Asyl und Grenzsicherung wurden beträchtliche Fortschritte erzielt, mit Ausnahme der legalen Einwanderung und der Arbeitsmigration, die im Rat nach wie vor Einstimmigkeit erfordern.

2.4.   Die Maßnahmen im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sind bislang Gegenstand der Regierungszusammenarbeit gewesen, waren von einem Klima tiefen Misstrauens gekennzeichnet und erforderten die Einstimmigkeit, was die Verabschiedung gemeinsamer Vorschriften auf europäischer Ebene erheblich erschwert hat.

2.5.   Das Stockholmer Programm wird wahrscheinlich nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon umgesetzt, so dass zahlreiche politische Maßnahmen im Rat im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens und des Mitentscheidungsverfahrens mit dem Europäischen Parlament verabschiedet werden. Dies wird die Festlegung ehrgeizigerer Ziele durch die EU ermöglichen, wobei die Entwicklung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den Europa braucht, auch nach dem derzeit geltenden Vertrag möglich ist.

2.6.   Der in die Annahme des Stockholmer Programms mündende Prozess wurde bereits von zahlreichen Beiträgen genährt, so beispielsweise dem Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl (2), den Berichten der Expertengruppe für die Zukunft der europäischen Politik im Bereich Justiz und Inneres (3) sowie von Beiträgen, die die Europäische Kommission im Rahmen der im September und November 2008 durchgeführten öffentlichen Konsultation zu den Prioritäten für die nächsten fünf Jahre zum Thema „Freiheit, Sicherheit und Recht: Wie wird die Zukunft aussehen?“ sammeln konnte (4).

2.7.   Im Juni 2009 veröffentlichte die Kommission die Mitteilung „Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger - Mehr Freiheit und mehr Sicherheit (5). Auf der Grundlage dieser Mitteilung wird der EWSA in dieser Stellungnahme seinen Standpunkt und seine Empfehlungen zum Stockholm-Prozess darlegen.

2.8.   Darüber hinaus spricht sich der Ausschuss in einer derzeit in Ausarbeitung befindlichen Initiativstellungnahme (6) dafür aus, bei den politischen Maßnahmen und Rechtsvorschriften der Europäischen Union in den Bereichen Einwanderung und Grenzsicherung die Menschenrechte in vollem Umfang zu wahren und die Freiheit und die Sicherheit aller Personen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu stellen. Auch diese Stellungnahme ist ein Beitrag des EWSA zur Vorbereitung des Stockholmer Programms.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Der Ausschuss begrüßt und unterstützt den Grundsatz, wonach die politische Priorität der Stockholm-Agenda auf der Verwirklichung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger beruht. Eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden fünf Jahre, insbesondere nach der Annahme des Vertrags von Lissabon, besteht in dem Aufbau eines Europas der Bürger, weshalb die politischen Prioritäten der Union auf dieses Ziel ausgerichtet sein müssen. Der Ausschuss hat vor drei Jahren eine Initiativstellungnahme verabschiedet, in der es um eine bessere öffentliche Wahrnehmung und Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft ging (7). Die Institution der Unionsbürgerschaft muss einen Qualitätssprung erfahren, offener, gerechter und integrationsfreundlicher werden und jegliche Art von Diskriminierung vermeiden.

3.2.   Der EWSA begrüßt darüber hinaus, dass in der Mitteilung der Schaffung eines „Europas als Garant der Grundrechte und Grundfreiheiten“ ebenfalls Priorität eingeräumt wurde, da der Schutz der in der Charta der Grundrechte verankerten Rechte und Grundfreiheiten zu den wesentlichen Werten der EU gehört (8).

3.3.   Obgleich das europäische System zum Schutz der Grundrechte gut ausgestaltet ist, ist die tatsächliche Achtung dieser Rechte in der EU nicht gewährleistet, insbesondere wenn es darum geht, das Gemeinschaftsrecht auf der nationalen, regionalen oder lokalen Ebene umzusetzen und anzuwenden. Das Stockholmer Programm sollte eine klare, ehrgeizige und vollständige Strategie zum Schutz und zur Wahrung der Grundrechte im RFSR mit sich bringen und ein solides und umfassendes, auf allen Regierungsebenen gewährleistetes „Europa als Garant der Grundrechte und Grundfreiheiten“ ermöglichen.

3.4.   In den letzten Jahren hat die EU der Sicherheit höhere Priorität als dem Schutz der Menschenrechte, dem Recht und der Freiheit eingeräumt. Nach Auffassung des Ausschusses setzt der Aufbau eines echten Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein Gleichgewicht zwischen den drei Bereichen voraus. Die zu ergreifenden politischen Maßnahmen im Bereich der Sicherheit müssen den Schutz der Werte der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit gewährleisten. Der Schutz der durch die Europäische Menschenrechtskonvention und die EU-Grundrechtecharta garantierten Grundrechte muss die Grundlage dieser politischen Maßnahmen bilden.

3.5.   Die Menschenrechte müssen als universelle und unteilbare Rechte nicht nur der Bürger der Europäischen Union, sondern aller Menschen geschützt werden. Das Europa der Grundrechte und der Rechtstaatlichkeit darf sich nicht auf jene Menschen beschränken, welche die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, sondern muss sich auf jede in der Europäischen Union ansässige Person erstrecken, da sonst der persönliche Geltungsbereich des RFSR mit den der Europäische Union zu Grunde liegenden Rechten und Prinzipien, der Nichtdiskriminierung, der gerechten und gleichen Behandlung und der Solidarität unvereinbar wäre. Das Stockholm-Programm muss der Tatsache Rechnung tragen, dass zahlreiche in internationalen und europäischen Übereinkommen und Verträgen verankerte Rechte und Freiheiten für alle Menschen gelten, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, Bürgerschaft oder dem administrativen Migrationsstatus.

3.6.   Das Stockholm-Programm muss sich am Programm von Tampere von 1999 orientieren, in dessen Rahmen der Rat als Hauptschwerpunkt u.a. den Grundsatz der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung von Drittstaatsangehörigen gegenüber europäischen Bürgern verabschiedet hatte. Dieser Grundsatz kann mit dem neuen Vertrag gestärkt werden, in dem die EU-Grundrechtecharta rechtsverbindlich gemacht und der Union die Möglichkeit eröffnet wird, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beizutreten.

3.7.   Nach Auffassung des EWSA muss nach 2011 die Rolle der EU-Agentur für Grundrechte gestärkt werden, indem ihre Haushaltsmittel erhöht werden, sie mit neuen Zuständigkeiten hinsichtlich der Bewertung ausgestattet und ihre Zusammenarbeit mit anderen europäischen Agenturen und Einrichtungen intensiviert wird (z.B. mit dem Europäischen Datenschutzbeauftragen (EDSB) oder dem Bürgerbeauftragten). Darüber hinaus ist es zweckmäßig, die Unabhängigkeit der Agentur gegenüber den Regierungen zu gewährleisten und den EWSA als Vertreter der Zivilgesellschaft einzubinden.

3.8.   Zur Gewährleistung einer erfolgreichen Umsetzung des Stockholm-Programms schlägt die Kommission eine auf fünf Säulen beruhende Methode vor, die der Ausschuss begrüßt: 1. angemessene Einbeziehung der Maßnahmen in den Bereichen Justiz und Inneres in die sonstigen Politikfelder der EU; 2. Verminderung der Unterschiede zwischen den auf europäischer Ebene erlassenen Rechtsvorschriften, ihrer Anwendung auf einzelstaatlicher Ebene und ihrer Ausgestaltung durch konkrete Maßnahmen; 3. Verbesserung der Qualität der europäischen Rechtsvorschriften und ihrer Auswirkungen; 4. besserer Einsatz der Bewertung der beschlossenen Instrumente und geschaffenen Agenturen; 5. Flankierung durch geeignete Finanzinstrumente.

3.9.   Bei der Bewertung der Qualität und des Mehrwerts der europäischen Politiken, ihrer Auswirkungen auf die Grundrechte und das Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie ihrer ethischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen wird der EWSA als Institution auch in Zukunft eine sehr aktive Rolle spielen.

3.10.   Der Ausschuss kann so auch weiterhin an einer europäischen Strategie zur besseren Rechtsetzung und Bewertung der Qualität und der guten Verwaltung des europäischen Rechtssystems sowie der Anwendung und der Auswirkungen der im Rahmen dieses Systems erlassenen Vorschriften mitwirken.

3.11.   Mit dem Stockholm-Programm müssen die von der Europäischen Union eingegangenen Verpflichtungen in Bezug auf die zu erreichenden Ziele und Pläne ehrgeiziger und klarer sein. Der EWSA empfiehlt die Festlegung einer Reihe von Schlüsselindikatoren sowie die Erstellung einer ersten Liste der zu erreichenden Ziele, auf deren Grundlage im Laufe der Umsetzung des Programms bis zum Abschluss des Prozesses die ermittelten Fortschritte bewertet werden können.

3.12.   Der Ausschuss begrüßt die angenommenen Aktionslinien, spricht sich jedoch dafür aus, dass die Prioritäten des Programms klarer aufgeführt und durch entsprechende Verpflichtungen in Bezug auf die finanzielle Unterstützung ergänzt werden.

3.13.   Der Ausschuss würdigt den wertvollen Beitrag, den der Europarat mit seinen zahlreichen Entschließungen und Empfehlungen auf dem Gebiet der Wirksamkeit und ordnungsgemäßen Anwendung des Rechts geleistet hat, und fordert die Kommission auf, den Inhalt dieser Dokumente in die künftigen Arbeiten auf dem Gebiet des Zivil- und Strafrechts in der Europäischen Union aufzunehmen (9).

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Förderung der Menschenrechte: ein Europa als Garant der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit

4.1.1.   Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen wurde und in der die Universalität eines gemeinsamen Prinzipien- und Wertesystems proklamiert wird, die 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bilden die Grundlage und Garantie für die Wahrung der Menschenrechte im gesamten Unionsgebiet.

4.1.2.   Die Charta der Menschenrechte der EU umfasst neue, in der EMRK noch nicht enthaltene Rechte. Die Charta wird zur Rechtssicherheit des Schutzes der Grundrechte jedes Menschen beitragen und für die europäischen Institutionen sowie die Mitgliedstaaten insbesondere bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts verbindlich sein.

4.1.3.   Das Recht auf Freizügigkeit ist eines der grundlegenden Rechte der Unionsbürgerschaft. Die Aufhebung der Kontrollen an den Binnengrenzen und die Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit im Schengen-Raum gehören zu den wichtigsten Fortschritten der letzten zehn Jahre der europäischen Integration.

4.1.4.   Nichtsdestotrotz äußert der EWSA seine Sorge darüber, dass die Wahrnehmung dieses Rechts in der Praxis in weiten Teilen der EU nach wie vor durch zahlreiche Hindernisse und Barrieren erschwert wird. Nach Auffassung des Ausschusses ist die Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht angemessen in einzelstaatliches Recht umgesetzt worden. Die Umsetzung wurde von der Kommission (10) und vom Europäischen Parlament in zahlreichen Sachverständigenberichten für unzureichend befunden und erfolgte darüber hinaus nicht innerhalb der vorgesehenen Frist (11).

4.1.5.   Der EWSA begrüßt die Mitteilung der Kommission zur Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der vorgenannten Richtlinie. Alle von den nationalen Behörden auf das Grundrecht der Freizügigkeit anwendbaren Abweichungen und Ausnahmen müssen eng ausgelegt werden und in vollem Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften stehen (12). Verbessert werden muss der Schutz der allgemeinen und sozialen Arbeitnehmerrechte in grenzüberschreitenden Beschäftigungsverhältnissen, wie der Ausschuss in mehreren Stellungnahmen vorgeschlagen hat (13).

4.1.6.   In Bezug auf einen besseren Schutz der Rechte des Kindes hat der EWSA verschiedene Stellungnahmen (14) verabschiedet, in denen er sich dafür aussprach, dass die EU die internationalen Verträge achtet und eine Strategie umsetzt, die darauf abzielt, dass die Mitgliedstaaten den auf europäischer und internationaler Ebene eingegangenen Verpflichtungen im Bereich der Kinderrechte (insbesondere im Rahmen der UN-Kinderrechtskonvention) nachkommen.

4.1.7.   Der EWSA betont die Bedeutung der Achtung der Vielfalt und des Schutzes schwächerer Personen. Die mit der Vielfalt zusammenhängenden Herausforderungen betreffen die verschiedenen Minderheitengruppen (z.B. Roma) und zahlreiche Personen mit einem Migrationshintergrund.

4.1.8.   Der Ausschuss hat in jüngster Zeit eine Reihe von Stellungnahmen zur Stärkung des Antidiskriminierungsrechts verabschiedet (15) und schlägt u.a. vor, die Instrumente zur Bekämpfung der Diskriminierung, des Rassismus, der Gewalt, der Homophobie und der Fremdenfeindlichkeit zu stärken. Die Zivilgesellschaft kann bei der Überwachung der angemessenen Anwendung des Gemeinschaftsrechts eine wesentliche Rolle übernehmen.

4.1.9.   Bei Inkrafttreten der Grundrechtecharta wird die Europäische Union über neue Rechtsgrundlagen für den Schutz der allgemeinen und sozialen Arbeitnehmerrechte verfügen. Im Hinblick auf die Ausgestaltung von Gemeinschaftsmaßnahmen für einen stärkeren Schutz dieser Rechte wird der Ausschuss auch in Zukunft Initiativen ergreifen und schlägt der Europäischen Kommission vor, die allgemeinen und sozialen Arbeitnehmerrechte zu einer ihrer Prioritäten zu erklären.

4.1.10.   Die EU arbeitet an Maßnahmen im Bereich Sicherheit und Grenzkontrolle, bei denen neue Technologien und Informationssysteme zum Einsatz kommen. Zu berücksichtigen sind dabei die ethischen und rechtlichen Folgen dieser Maßnahmen für den Schutz personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre.

4.1.11.   Nach Auffassung des EWSA könnte die organisierte Zivilgesellschaft in enger Zusammenarbeit mit den für den Datenschutz zuständigen Behörden und den Beauftragten auf nationaler und europäischer Ebene an der Bewertung mitwirken, damit die Grundsätze der Zweckgebundenheit, der Verhältnismäßigkeit, der Rechtmäßigkeit, der Sicherheit und der Vertraulichkeit eingehalten werden.

4.1.12.   In zahlreichen Anhörungen der europäischen Zivilgesellschaft wurde betont, dass die Reisefreiheit unverhältnismäßigen Sicherheitsmaßnahmen, wie der Einführung von biometrischen Elementen und von Techniken der Funkfrequenzkennzeichnung (RFID) in Reisedokumenten, unterworfen ist. In seiner Stellungnahme (16) vertritt der Ausschuss die Ansicht, dass die RFID-Technik „noch nicht ausgereift ist“ und die Grundfreiheiten des Menschen einschränken kann.

4.1.13.   Im Rahmen des Stockholmer Programms muss berücksichtigt werden, dass sich aufgrund der schnellen Entwicklung dieser Technologien die Annahme neuer politischer Initiativen und Rechtsvorschriften im Bereich des Schutzes der Menschenrechte als erforderlich erweisen könnte, insbesondere in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten. Die Kommission sollte Informations- und Sensibilisierungskampagnen über die Rechte und Risiken im Zusammenhang mit der Nutzung von Informationstechnologien durchführen.

4.1.14.   Die geringe Beteiligung an den jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament war Ausdruck der Unzufriedenheit zahlreicher Europäer mit der Qualität ihrer Unionsbürgerschaft sowie mit der EU-Politik in bestimmten Bereichen. Der Ausschuss unterstützt das Ziel der Kommission, das demokratische Leben und die aktive Teilhabe der europäischen Bürger zu verbessern. Um dem wachsenden Desinteresse der Bürger der Mitgliedstaaten an der Gemeinschaftspolitik zu begegnen, empfiehlt der Ausschuss, eine Reihe von Maßnahmen einzuleiten, durch die die Unionsbürgerschaft praktisch erlebbar wird. Der Ausschuss spricht sich dafür aus, die Wahlen zum Europäischen Parlament in der Woche des 9. Mai abzuhalten und den Kandidaturen, Wahlprogrammen und –kampagnen einen weniger nationalen und stärker europäischen Charakter zu verleihen.

4.1.15.   Nach Auffassung des EWSA ist es zweckmäßig, unserer Demokratie eine breitere Grundlage zu geben und neue Bürger mit den gleichen Rechten und Pflichten einzubinden. Die sich aus der Staatszugehörigkeit und der Unionsbürgerschaft ergebenden Rechte müssen der vielfältigen nationalen, ethnischen, religiösen oder kulturellen Herkunft Rechnung tragen, die sich teilweise aus der Zuwanderung ergibt.

4.1.16.   Der EWSA hat eine an den Konvent gerichtete Initiativstellungnahme ausgearbeitet (17), in der er die Möglichkeit geltend machte, Bürgern mit dem Status langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger die Unionsbürgerschaft zuzuerkennen. Der Ausschuss schlägt den EU-Institutionen vor, diesen Vorschlag im Rahmen des Stockholmer Programms zu berücksichtigen.

4.2.   Erleichterungen für die Bürger - Europa als Raum des Rechts und der justiziellen Zusammenarbeit Gewährleistung des Rechts und der justiziellen Zusammenarbeit in einem weltoffenen Europa

4.2.1.   Gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen

4.2.1.1.   Der EWSA begrüßt die Bemühungen um die gegenseitige Anerkennung, die nach wie vor der Eckstein des europäischen Rechtsraums ist. Diese Bemühungen müssen mit der Rechtstradition eines jeden Mitgliedstaates vereinbar sein und die Stärkung eines Raumes der Freiheit und der Verantwortung gewährleisten. Die Union muss ein gemeinsames normatives Fundament schaffen. Andererseits muss das gesamte System der gemeinschaftlichen und der einzelstaatlichen Zwangsmaßnahmen gesetzlichen Einschränkungen unterliegen, um etwaige Möglichkeiten von Missbrauch auszuschließen: Die Vorschriften dürfen keinesfalls die Freiheiten und Menschenrechte beeinträchtigen und müssen den Schutz der bürgerlichen und sozialen Rechte gewährleisten.

4.2.1.2.   Die gegenseitige Anerkennung könnte auf bislang nicht geregelte Bereiche (z.B. Erb- und Testamentsrecht, Ehegüterrecht und vermögensrechtliche Folgen einer Trennung) sowie auf alle mit dem Alltag der Unionsbürger zusammenhängenden Bereiche ausgeweitet werden. Die gegenseitige Anerkennung muss auf alle in den Mitgliedstaaten gesetzlich anerkannten Formen der zivilrechtlichen Partnerschaft Anwendung finden.

4.2.1.3.   In Zivilsachen muss das Exequaturverfahren aufgehoben werden, mit dem die Mitgliedstaaten in anderen Mitgliedstaaten ergangene Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vollstrecken, und der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ist auf die Bereiche auszuweiten, in denen er bislang noch keine Anwendung findet. In Strafsachen muss dieser Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung dauerhaft auf allen Verfahrensstufen angewandt werden. Darüber hinaus ist er auf den Zeugen- und Opferschutz sowie auf die Verjährung von Rechten auszuweiten.

4.2.2.   Stärkung des gegenseitigen Vertrauens

4.2.2.1.   Um das gegenseitige Vertrauen in die Justizsysteme zu stärken, muss die Aus- und Fortbildung des Justizpersonals durch die Entwicklung gemeinsamer Instrumente verbessert und gefördert werden. Der Austausch unter Justizbeamten muss insbesondere mithilfe des Rechtsforums und der verschiedenen juristischen Netzwerke sowie durch die Umsetzung eines Austauschs in Anlehnung an das Erasmus-Programm gefördert werden. Zur Verbesserung der Kommunikation und des Austauschs bewährter Verfahrensweisen ist eine Stärkung des europäischen Rechtsforums zweckmäßig.

4.2.2.2.   Das gegenseitige Vertrauen muss gestärkt werden, indem die Berufsbildungsprogramme für das Justizpersonal und die Entwicklung juristischer Netzwerke energischer gefördert werden (insbesondere finanziell). Diese Maßnahmen müssen durch einen Austausch bewährter Verfahrensweisen und die Entwicklung innovativer Projekte zur Modernisierung der Justiz begleitet werden.

4.2.3.   Erleichterung des Zugangs zur Justiz: eine Priorität

4.2.3.1.   In Strafsachen dürfen sich die europäischen Maßnahmen zur besseren gegenseitigen Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen nicht ausschließlich auf terroristische Straftaten, die organisierte Kriminalität und auf Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU beschränken, sondern müssen auch auf Tatbestände ausgerichtet sein, die gegen die Menschenrechte und Grundfreiheiten verstoßen. Aufgrund der zunehmenden Mobilität innerhalb der Europäischen Union sind die EU-Bürger sowohl im Privatleben als auch am Arbeitsplatz Diskriminierungen und Missbrauch ausgesetzt.

4.2.3.2.   Die EU muss sich dafür einsetzen, dass die vorhandenen Möglichkeiten der Prozesskostenhilfe ausgebaut und Online-Verfahren (e-Justiz) (18), soweit sie eingesetzt werden können sind, stärker genutzt werden. Den Bürgern muss vor allem die Hinzuziehung von Übersetzern und Dolmetschern in Justizfragen erleichtert werden. Auch die Formalitäten zur Beglaubigung von Urkunden und Dokumenten sollten vereinfacht werden. Notwendig ist zudem eine bessere Unterstützung der Opfer von Straftaten, insbesondere in grenzüberschreitenden Fällen.

4.2.4.   Rolle der Vertreter des Rechts bei der Unterstützung der Wirtschaftstätigkeit

4.2.4.1.   Es gilt, die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen zu verbessern, was insbesondere durch die Einführung eines europäischen Verfahrens der vorläufigen Kontenpfändung erfolgen kann. Die Arbeiten an einem gemeinsamen Referenzrahmen für das Vertragsrecht könnten für künftige Legislativvorschläge herangezogen werden. Zudem könnten Musterverträge ausgearbeitet und in genau definierten Bereichen des Binnenmarkts fakultative Regelungen auf europäischer Ebene („28. Regelung“) eingeführt werden. Die Arbeiten zur Angleichung der geltenden Vorschriften im Versicherungsvertrags- und Gesellschaftsrecht sollten weitergeführt werden.

4.2.4.2.   In einem europäischen Rechtsraum muss gerade in Krisenzeiten nicht nur für einen geregelten Ablauf der Wirtschaftstätigkeit im Binnenmarkt gesorgt werden, sondern auch die Wirtschaft selbst muss gegenüber der Gesellschaft und den Arbeitnehmern Verantwortung übernehmen. Vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise kommt es vor allem darauf an, den solidarischen Zusammenhalt zwischen den Staaten, den Wirtschaftsakteuren und den Bürgern zu stärken und im Umgang mit den Menschen die Achtung ihrer Würde und Rechte zu gewährleisten.

4.2.5.   Stärkung der internationalen Präsenz der EU in rechtlichen Fragen

Eine vorrangige Aufgabe sollte es sein, dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in der ganzen Welt Geltung zu verschaffen, was insbesondere für die Nachbarländer der EU und die Staaten gilt, mit denen die Union Kooperationsprogramme in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und gemeinsame Sicherheit unterhält, und die verschiedenen Instrumente für Rechtshilfe und justizielle Zusammenarbeit der Europäischen Union mit Drittstaaten erheblich auszubauen.

4.3.   Ein Europa, das Schutz bietet Rechtsrahmen und Grundsätze für ein offenes Europa, das seinen Bürgern Schutz bietet

Der EWSA begrüßt die Entwicklung einer Strategie für die innere Sicherheit in der Europäischen Union, wobei ein möglichst breites Spektrum öffentlicher und privater Interessenträger an diesem Prozess beteiligt werden sollte (19). Die Mitwirkung der Zivilgesellschaft ist Gewähr dafür, dass die Grundperspektive auf den Prinzipien Toleranz, Dialog und Kooperation und nicht auf Ausgrenzung, Angst und Misstrauen gegenüber den Bürgern anderer Mitgliedstaaten oder von Drittstaaten aufbaut. Sie garantiert zudem den Schutz der besonders gefährdeten Grundrechte und -freiheiten gegenüber Kontroll- und Zwangsmitteln, die ohne eine demokratische Zivilgesellschaft in diskriminierender und missbräuchlicher Weise angewandt werden könnten. Die Strategie der inneren Sicherheit sollte durch eine europäische Strategie zur Bewertung der Funktionsweise der europäischen Justizsysteme ergänzt werden.

4.3.1.   Ausbau des Instrumentariums

4.3.1.1.   Die polizeiliche Zusammenarbeit sollte in beträchtlichem Maße auf die Aus- und Weiterbildung der Polizeikräfte ausgerichtet sein. Die EU-Agentur für Grundrechte hat festgestellt, dass das harte, aggressive Vorgehen von Polizeikräften oft mit Diskriminierungen verbunden ist. Im Hinblick auf die Eindämmung dieser Praktiken sollten Maßnahmen zur Bekämpfung solcher Vorgehensweisen und zur Wiederherstellung des öffentlichen Vertrauens in das korrekte Handeln der Polizeikräfte ergriffen werden (20).

4.3.1.2.   Die Mobilisierung der für die Gewährleistung der inneren Sicherheit erforderlichen technischen Instrumente setzt voraus, in Zusammenarbeit mit den Bürgern und der Zivilgesellschaft einen transparenten und verantwortungsbewussten Einsatz dieser Mittel sicherzustellen.

4.3.2.   Wirksame Strategien

4.3.2.1.   Zu den Prioritäten auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Kriminalität sollte auch eine Stärkung der Verteidigungsrechte gehören, wobei der Grundsatz der Unschuldsvermutung und Regeln für die Untersuchungshaft (Haftdauer und Überprüfung der Haftgründe) in die gemeinsamen Mindestgarantien einbezogen werden sollten. Die Maßnahmen der Kriminalitätsbekämpfung müssen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen. Diese Initiativen sollten mit angemessenen Mitteln im Rahmen eines Aktionsplans entwickelt und unterstützt werden und vor allem in Situationen, die sich als problematisch erwiesen haben (Behandlung von Personen, die terroristischer Aktivitäten verdächtigt werden), einer Kontrolle unterliegen.

4.3.2.1.1.   Im Hinblick auf die Grenzkontrolle und -überwachung und insbesondere auf den Schutz hilfsbedürftiger Personen und Gruppen müssen die grundlegenden Seerettungsverpflichtungen der Mitgliedstaaten Vorrang vor den Kontroll- und Überwachungsanforderungen an den Seegrenzen haben.

4.3.2.1.2.   Ein gemeinsames europäisches Schengen-Visum, das eine gemeinsame Konsularbehörde ausstellen könnte, wäre eine Garantie für die Gleichbehandlung der Antragsteller. Allerdings sollte die durch eine bestimmte Staatsangehörigkeit begründete Risikovermutung allmählich durch die Bewertung des mit der jeweiligen Person verbundenen Risikos ersetzt werden. Diese positive Entwicklung beugt einer missbräuchlichen und diskriminierenden Behandlung der Antragsteller vor.

4.3.3.   Gemeinsame Ziele

4.3.3.1.   Die Strategie der inneren Sicherheit muss sich auf die Bedrohungen konzentrieren, denen nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Besonderes Augenmerk muss dabei den Maßnahmen zur aktiven Bekämpfung von hassgeprägten Verhaltungsweisen, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus gelten. Die verwendeten Instrumente dürfen nicht ausschließlich auf den Bereich Sicherheit ausgerichtet sein, sondern müssen sich auch auf die Bereiche Wirtschaft, Soziales, Kultur und Bildung erstrecken und präventiv eingesetzt werden.

In der Strategie der inneren Sicherheit muss der Transparenz und Korruptionsbekämpfung ein wichtiger Platz eingeräumt werden, da die Korruption das Vertrauen der Bürger in die öffentlichen Einrichtungen und die Demokratie in den Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene untergräbt.

4.3.3.2.   Im Rahmen der Eindämmung terroristischer Bedrohungen bedarf es verstärkter Anstrengungen seitens der EU, um die europäischen Modelle des interkulturellen und interreligiösen Dialogs zu fördern und somit den Isolierungs- und Radikalisierungstendenzen bestimmter Gemeinschaften, Gruppen oder Organisationen inner- und außerhalb der EU Einhalt zu gebieten. Die Maßnahmen auf dem Gebiet der inneren Sicherheit, so durchschlagend sie auch sein mögen, setzen nur bei den Auswirkungen und nicht bei den Ursachen des Terrorismus an. Aus diesem Grund muss unbedingt ein gesamteuropäischer Dialog über diese Modelle eingeleitet werden, damit die EU diese anschließend in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten aktiv fördern kann.

4.4.   Eine dynamische Einwanderungspolitik

4.4.1.   Die Umsetzung einer Einwanderungspolitik auf der Grundlage der Ziele des Europäischen Pakts zu Einwanderung und Asyl gehört zu den wichtigsten Prioritäten für die nächsten Jahre. Eine der von der Kommission festgelegten Prioritäten ist die Konsolidierung des globalen Einwanderungskonzepts.

4.4.2.   Auch muss die EU den Dialog und die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern verbessern. Der EWSA hat vorgeschlagen (21), dass die EU im Bereich der Außenpolitik einen internationalen Rechtsrahmen für die Migration fördert, der auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte und dem Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte gründet. Dieser internationale Rechtsrahmen muss die wichtigsten ILO-Konventionen und die Internationale Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen umfassen, die von den EU-Mitgliedstaaten noch nicht ratifiziert worden ist, obwohl der EWSA in einer Initiativstellungnahme (22) die Ratifizierung vorschlug.

4.4.3.   Damit die europäische Einwanderungspolitik zur Entwicklung in den Herkunftsländern beitragen kann, müssen die Abkommen zwischen der EU und den Herkunftsländern zu beiderseitig vorteilhaften Bedingungen und unter Achtung der Rechte der Einwanderer geschlossen werden. Nach Ansicht des Ausschusses sollten die Mobilitätsvereinbarungen einen Braindrain vermeiden und diesen gegebenenfalls kompensieren. Damit die zirkuläre Migration sich positiv auf die Entwicklung auswirkt, müssen die Rechtsvorschriften über die Aufnahme und den Status langfristig Aufenthaltsberechtigter flexibler gestaltet werden, um eine freiwillige Rückkehr ohne Verlust des Aufenthaltsrechts zu begünstigen.

4.4.4.   Die Zusammenarbeit mit Drittstaaten sollte sich nicht ausschließlich auf die Bewältigung der illegalen Einwanderung, die Rückkehr und die Kontrolle der Grenzen beschränken, obgleich es sich dabei um sehr wichtige Aspekte handelt. Die mit diesen Ländern geschlossenen Abkommen müssen dem Interesse aller Seiten gerecht werden, d.h. dem der Einwanderer, deren Grundrechte garantiert sein müssen und denen eine faire Behandlung zusteht, dem der Herkunftsländer, damit sich die Einwanderung dort positiv auf die Entwicklung von Beschäftigung und Gesellschaft auswirkt, und dem der Aufnahmeländer in Europa.

4.4.5.   Nach Ansicht des EWSA liegt eine Schwäche des globalen Ansatzes für die Einwanderung gerade darin, dass es der Europäische Union schwerfällt, von allgemeinen politischen Erklärungen zur konkreten Verabschiedung neuer Rechtsvorschriften nach dem Gemeinschaftsverfahren und unter Beachtung der in den Verträgen vorgesehenen Zuständigkeiten überzugehen.

4.4.6.   Der Ausschuss teilt nicht die Auffassung, wonach die europäische Einwanderungspolitik auf der zirkulären Migration fußen sollte. Sicherlich kommt ein Teil der Einwanderer nur auf Zeit, so dass sich in einigen Fällen eine zirkuläre Migration ergibt, doch die Erfahrung zeigt, dass der Großteil der Migranten auf Dauer oder für einen langen Zeitraum kommt. Zudem müssen die europäische Politik und die Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschenrechte, einen sicheren rechtlichen Status für Einwanderer, Integration und Familienzusammenführung sorgen.

4.4.7.   Der EWSA hat unlängst in einer Stellungnahme (23) die Auffassung vertreten, dass in der Einwanderungspolitik und in den Einwanderungsbestimmungen die individuellen Menschenrechte, die Gleichbehandlung und die Nichtdiskriminierung in vollem Umfang geachtet werden müssen.

4.4.8.   Der EWSA spricht sich gegen die Verwendung des Begriffs „illegale Einwanderung“ aus und schließt sich hier dem Standpunkt anderer europäischer Akteure wie der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und dem Europäischen Parlament an, die lieber von „irregulärer Einwanderung“ und „Einwanderern ohne gültige Papiere“ sprechen, um keinen falschen Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kriminalität herzustellen.

4.4.9.   Auch wenn es nicht gesetzlich ist, ohne die dafür erforderlichen Dokumente und Genehmigungen in ein Land einzureisen, ist das noch kein Verbrechen. In vielen Medien und politischen Erklärungen wird zwischen illegaler Einwanderung und Kriminalität ein Zusammenhang hergestellt, der nicht der Realität entspricht und in der Bevölkerung des Aufnahmelandes Angst und Fremdenfeindlichkeit schürt.

4.4.10.   Der EWSA unterstützt die Kommission in ihrem vorrangigen Ziel, auf einzelstaatlicher Ebene die Anwendung der Garantien und Rechte zu kontrollieren, die in der im Dezember 2010 in Kraft tretenden Rückführungsrichtlinie 2008/115 vorgesehen sind.

4.4.11.   Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag der Kommission, in der EU „gemeinsame Standards für die Aufnahme von illegalen Einwanderern, bei denen ein Abschiebungshindernis besteht“, zu schaffen. Er unterstützt auch den Vorschlag, im Zusammenhang mit der Legalisierung von Einwanderern „Leitlinien zu entwickeln“. Bei der Legalisierung der Situation irregulärer Migranten muss auch das soziale und berufliche Umfeld der Betroffenen berücksichtigt werden, wie es im Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl vorgesehen ist.

4.4.12.   Irregulär eingewanderte unbegleitete Minderjährige müssen ebenfalls durch spezifische Maßnahmen auf europäischer Ebene geschützt werden.

4.4.13.   Der Ausschuss teilt die Auffassung der Kommission, wonach die EU sich einen gemeinsamen Rahmen in Form einer flexiblen Regelung zur Aufnahme von Migranten geben muss, die eine Anpassung an die Bedürfnisse der nationalen Arbeitsmärkte ermöglicht. Allerdings vertritt der Ausschuss auch die Ansicht, dass in den EU-Rechtsvorschriften keine Maßnahmen vorgesehen werden sollten, die ausschließlich auf die Arbeitsmarkterfordernisse in einer bestimmten Konjunkturlage oder Zeit abstellen und die die Einwanderer nur als Arbeitskräfte sehen und nicht als Menschen und Träger von Rechten, die Schutz und Sicherheit brauchen.

4.4.14.   Der Ausschuss unterstützt den Vorschlag der Kommission, eine europäische Plattform für den Dialog zur besseren Steuerung der Arbeitsmigration unter Beteiligung von Arbeitgebern, Gewerkschaften, Beschäftigungsagenturen der Mitgliedstaaten, Personalagenturen und sonstigen Interessenträgern zu schaffen. Der EWSA könnte hier die europäische Institution sein, die dieser Plattform ein Forum für ihre Tätigkeit bietet, wie das bereits beim Europäischen Integrationsforum der Fall ist.

4.4.15.   Der EWSA hat bereits mehrfach angemerkt, dass die gemeinsamen Rechtsvorschriften über die Aufnahme auf europäischer Ebene besser in Form eines umfassenden Rechtsrahmens horizontaler Art aufzustellen sind als durch sektorspezifische Vorschriften (24).

4.4.16.   Dessen ungeachtet arbeitet die Kommission derzeit an verschiedenen Vorschlägen für sektorspezifische Richtlinien. Erst unlängst hat der Europäische Rat die Richtlinie über die Blue Card  (25) angenommen, in der ein beschleunigtes und flexibles Verfahren für die Aufnahme von „hochqualifizierten“ Migranten und deren Familienangehörigen vorgesehen ist, was zu einer Ungleichbehandlung von hochqualifizierten Migranten und anderen Einwanderern (die Gegenstand spezifischer Richtlinien sein werden) führen kann. Zudem wird die Festlegung und Konkretisierung der mit der Blue Card einhergehenden Bedingungen und Rechte weitgehend dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen.

4.4.17.   Der EWSA vertritt die Ansicht, dass der sektorspezifische Ansatz der europäischen Rechtsetzung über Einwanderung mit einem gemeinsamen horizontalen Rahmen (europäischen Status) der Rechte von Einwanderern einhergehen muss, durch den die Achtung und der Schutz der Rechte und Freiheiten von Migranten in Europa unabhängig von ihrer beruflichen Kategorie, ihrer Rechtsstellung oder ihrer verwaltungsrechtlichen Situation gewährleistet werden.

4.4.18.   Die Kommission hat einen Vorschlag für eine Rahmenrichtlinie über die Rechte der Einwanderer erarbeitet, der bislang noch nicht vom Rat angenommen wurde. Der Ausschuss hat eine Stellungnahme (26) zu diesem Richtlinienvorschlag vorgelegt, der hoffentlich in die Arbeiten des Rates einfließen wird.

4.4.19.   Der EWSA wird den Vorschlag der Kommission zur Schaffung eines Einwanderungskodex prüfen, der den Einwanderern in Europa einen einheitlichen und vergleichbaren Rechtsstatus garantiert. Er bedauert jedoch, dass im Zusammenhang damit der Rahmenrichtlinienvorschlag zurückgezogen werden soll, und schlägt den künftigen Ratsvorsitzen daher vor, die Arbeiten bis zur Annahme dieser Richtlinie fortzusetzen.

Im Hinblick auf die Familienzusammenführung pflichtet der Ausschuss der Kommission bei, dass „eine Überarbeitung der Richtlinie im Anschluss an eine breite Konsultation in Erwägung gezogen werden könnte“.

4.4.20.   Der EWSA hofft, dass die Kommission in nächster Zukunft ein Grünbuch vorlegen und damit die Debatte über die nötigen Änderungen an dieser Richtlinie einleiten wird, denn gemäß der minimalistischen Richtlinie 2003/86 kann Drittstaatsangehörigen in einigen Mitgliedstaaten nach nationalem Recht die Familienzusammenführung verweigert werden, wie die Kommission selbst in ihrem Bericht über die Umsetzung der Richtlinie in einzelstaatliches Recht feststellt (27).

4.4.21.   Der Ausschuss sieht in der Förderung der Integration ein sehr wichtiges Anliegen und hat hierzu mehrere Initiativstellungnahmen vorgelegt, in denen er die Umsetzung freiwilliger integrationspolitischer Maßnahmen in der EU anregt, die in beide Richtungen, d.h. sowohl auf die Aufnahmegesellschaften als auch auf die Einwanderer ausgerichtet sind. Es handelt sich dabei um ein positives Integrationskonzept, das sich von dem negativen Ansatz bestimmter Regierungen unterscheidet, die in der Integration ein neues Hindernis für die Gleichbehandlung und ein neues Diskriminierungsinstrument sehen.

4.4.22.   Dafür bedarf es, wie auch die Kommission bekräftigt, intensiverer Anstrengungen nicht nur seitens der EU, der Mitgliedstaaten und der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, denn auch die Aufnahmegesellschaft und die Einwanderer selbst müssen sich stärker einbringen. Vor nicht allzu langer Zeit wurde als Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen EWSA und Kommission ein Europäisches Integrationsforum eingerichtet. Es handelt sich dabei um eine Plattform zur Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Migrantenorganisationen an der Gestaltung der EU-Politik zur Förderung der Integration.

4.4.23.   Der EWSA hat den Vorschlag für eine offene Methode der Koordinierung im Bereich der Integration befürwortet und wird durch neue Stellungnahmen zur Umsetzung dieses Vorschlags beitragen. Nach den Vorstellungen der Kommission „könnte ein gemeinsamer Koordinierungsmechanismus entwickelt werden, der die Maßnahmen der Mitgliedstaaten aufgrund eines gemeinsamen Bezugsrahmens stützt“. Dazu gehören die Festlegung vorbildlicher Verfahrensweisen, die Entwicklung von gemeinsamen Indikatoren, die Verknüpfung mit Maßnahmen in anderen Politikbereichen und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft über die Website zur Integration und das Europäische Integrationsforum.

4.4.24.   Das Forum könnte ebenfalls zur Bewertung der Verfahren, Entwicklung von Indikatoren und Verknüpfung der Integration mit Maßnahmen in anderen Politikbereichen der EU beitragen.

4.5.   Asylpolitik: gemeinsamer Raum und Solidarität

4.5.1.   Europa muss bereit sein, Asylbewerber mit Würde aufzunehmen, und braucht dazu entsprechende Rechtsvorschriften zu ihrem Schutz und mehr Solidarität in der Politik. Viele Personen, die des internationalen Schutzes bedürfen, gelangen auf illegalem Wege an die Außengrenzen. Die Behörden müssen sicherstellen, dass diese Personen Anträge auf Schutz stellen können, die dann entsprechend den internationalen Übereinkommen sowie den gemeinschaftlichen und nationalen Rechtsvorschriften zu prüfen sind.

4.5.2.   Der Ausschuss hat in den letzten Jahren mehrere Stellungnahmen zur Entwicklung eines gemeinsamen Asylsystems vorgelegt (28). Bei der Einrichtung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems muss ein hohes Qualitätsniveau angestrebt werden, das nicht hinter internationalen Schutzvorschriften zurückbleiben darf. Im Zuge der Harmonierung darf auf keinen Fall eine Senkung des in einigen Mitgliedstaaten bestehenden derzeitigen Schutzniveaus erfolgen, sondern sollen vielmehr die Rechtsvorschriften von Mitgliedstaaten mit unzureichendem Schutzniveau verbessert werden.

4.5.3.   Zur Einrichtung des gemeinsamen Asylsystems ist es erforderlich, dass die Harmonisierung der Rechtsvorschriften durch eine verstärkte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten untereinander flankiert wird. Diese Zusammenarbeit und Solidarität wird durch das von der Kommission vorgeschlagene Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen verbessert - ein Vorschlag, den der EWSA unterstützt.

4.5.4.   Die neuen Rechtsvorschriften sollten Asylbewerbern den Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Bildung ermöglichen, die Rolle der auf diesem Gebiet tätigen NGO anerkennen und diesen Organisationen den uneingeschränkten Zugang zu den Verfahren und Orten, die mit ihrer Tätigkeit zusammenhängen, gewähren.

4.5.5.   Die in der Dublin-Verordnung vorgesehenen Verfahren sollten dahingehend geändert werden, dass Asylbewerber das Land wählen dürfen, in dem sie ihren Asylantrag stellen wollen, um so humanitären Gründen und familiären, kulturellen und sozialen Bindungen Rechnung zu tragen.

4.5.6.   Gemäß der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen gegen die Entscheidungen über Asylanträge Rechtsmittel möglich sein, wobei die Entscheidung durch Einlegen des Rechtsmittels ausgesetzt wird.

4.5.7.   In mehreren Mitgliedstaaten der EU ist es immer noch gängige Praxis, Asylbewerber und irreguläre Einwanderer in geschlossenen Zentren in Gewahrsam zu nehmen. Der EWSA spricht sich gegen diese Praxis aus; die Internierung in Aufnahmezentren muss eine Maßnahme für den Ausnahmefall bleiben.

4.5.8.   Nach Auffassung des EWSA ist die Achtung der Menschenrechte unabdingbare Voraussetzung für den Abschluss von Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten. Der Ausschuss spricht sich dagegen aus, dass die EU oder ihre Mitgliedstaaten Rückführungs- oder Grenzkontrollabkommen mit Ländern abschließen, die die wichtigsten völkerrechtlichen Instrumente zum Schutz der Menschenrechte nicht unterzeichnet haben.

4.5.9.   Der Ausschuss vertritt die Ansicht, dass die innergemeinschaftliche Finanzsolidarität im Asylbereich verstärkt werden muss, wozu der Europäische Flüchtlingsfonds aufgestockt und angepasst werden sollte.

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Nach Angaben des scheidenden Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Franco Frattini, wurden lediglich 53 % der Ziele erreicht.

(2)  Europäischer Pakt zu Einwanderung und Asyl, Rat der Europäischen Union, Brüssel, 13440/08, 24. September 2008.

(3)  Bericht der Expertengruppe für die Zukunft der Innen- und Justizpolitik „Liberty, Security, Privacy – European Home Affairs in an Open World“, Juni 2008.

(4)  http://ec.europa.eu/justice_home/news/consulting_public/news_consulting_0001_en.htm.

(5)  KOM(2009) 262 endg.

(6)  Stellungnahme des EWSA vom 4.9.2009 zum Thema „Die Einhaltung der Menschenrechte in der europäischen Einwanderungspolitik und in ihren Rechtsvorschriften“, Berichterstatter: Luis Miguel Pariza Castaños (s. Seite 39 dieses Amtsblattes).

(7)  ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 163.

(8)  ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 60.

(9)  Vgl. „Relevant Council of Europe Resolutions and Recommendations in the field of efficiency and fairness of justice“ (Einschlägige Entschließungen und Empfehlungen des Europarates auf dem Gebiet der Wirksamkeit und Gerechtigkeit der Justiz), in CEPEJ(2003)7 rev. vom 13. November 2003.

(10)  KOM(2008) 840 endg.

(11)  30. April 2006.

(12)  KOM(2009) 313 endg.

(13)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 14, und ABl. C 325 vom 30.12.2006, S. 43.

(14)  ABl. C 325 vom 30.12.2006, S. 65.

(15)  ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 19, und ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 102.

(16)  ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 66.

(17)  ABl. C 208 vom 3.9.2003, S. 76.

(18)  Stellungnahme des EWSA vom 30.9.2009 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss: Eine europäische Strategie für die e-Justiz“, Berichterstatter: Jorge Pegado Liz (ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 69).

(19)  ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 147, und ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 61.

(20)  Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, 2009, The Stockholm Programme: A chance to put fundamental rights protection right in the centre of the European Agenda (Das Stockholm-Programm: Ein Chance, den Grundrechteschutz in den Mittelpunkt der EU-Agenda zu rücken), S. 6-7.

(21)  ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 91.

(22)  ABl. C 302 vom 7.12.2004, S. 49.

(23)  ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 69.

(24)  ABl. C 286 vom 17.11.2005, S. 20.

(25)  Richtlinie EG/50/2009.

(26)  ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 114.

(27)  KOM(2008) 610 endg.

(28)  ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 77; ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 78 und Stellungnahmen des EWSA vom 16.7.2009 zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (Neufassung)“, Berichterstatterin: An Le Nouail Marlière (ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 110), und vom 16.7.2009 zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung)“, Berichterstatterin: An Le Nouail Marlière (ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 115).


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/89


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Rates über rauchfreie Zonen“

KOM(2009) 328 endg. — 2009/0088 (CNS)

(2010/C 128/15)

Berichterstatter: Eugen LUCAN

Die Europäische Kommission beschloss am 8. Juli 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Empfehlung des Rates über rauchfreie Zonen“

KOM(2009) 328 endg. - 2009/0088 (CNS).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 15. Oktober 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) mit 81 gegen 68 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Spezifische Empfehlungen

In Bezug auf Ziffer 1 der Empfehlungen an die Mitgliedstaaten

1.1.1.   Der wirksame Schutz vor Belastung durch Tabakrauch sollte sich auf „Arbeitsstätten“ im Allgemeinen beziehen, und zwar insbesondere auf geschlossene Räume ohne spezielle Raucherbereiche.

1.1.2.   Der Ausschuss empfiehlt, alle öffentlichen Räume, die von Kindern oder Jugendlichen unter 18 Jahren besucht werden, unter die „sonstigen öffentlichen Orte“ nach Maßgabe von Artikel 8 Absatz 2 des WHO-Rahmenübereinkommens zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (FCTC) einzubeziehen.

1.1.3.   Der Ausschuss ersucht den Rat, eine kürzere Annahmefrist als die von der Kommission vorgesehenen drei Jahre anzuvisieren, da andernfalls die aktuelle Generation der Jugendlichen an weiterführenden Schulen (14 bis 18 Jahre), die der Gefahr ausgesetzt ist, von Passivrauchern zu Aktivrauchern zu werden, nicht mehr erreicht würde.

In Bezug auf Ziffer 2 der Empfehlungen an die Mitgliedstaaten

1.2.1.   „Eine wesentliche Rolle spielen die europaweit in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen verfolgten Erziehungs- und Beratungsstrategien“. Der EWSA empfiehlt, diese Ziffer zu ergänzen und unmissverständlich zu betonen, wie wichtig die europaweite Umsetzung der Informations- und Beratungsstrategien in den Bildungseinrichtungen (Grund- und weiterführende Schulen) sind, damit jedes Kind bzw. jeder Jugendliche korrekt, vollständig und regelmäßig über den Tabakkonsum und seine schädlichen Auswirkungen ebenso wie über die kanzerogenen Folgen einer Belastung durch Tabakrauch in der Umgebungsluft (ETS) informiert wird.

In Bezug auf Ziffer 3 der Empfehlungen an die Mitgliedstaaten

1.3.1.   Die Strategien zur Schaffung rauchfreier Zonen sollten u.a. durch folgende flankierende Maßnahmen unterstützt werden:

(c)

Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2004/37 über die Gefährdung durch Karzinogene oder Mutagene bei der Arbeit auch auf Tabakrauch in der Umgebungsluft,

(d)

Verschärfung der Anforderungen für den Schutz der Arbeitnehmer vor Belastung durch Tabakrauch in der Richtlinie 89/654/EWG, der zufolge alle Arbeitgeber verpflichtet sind zu gewährleisten, dass Arbeitsplätze rauchfreie Zonen sind,

(e)

Die Änderung der Richtlinie über gefährliche Stoffe (67/548/EWG) (1991) dahingehend, dass ETS als krebserregender Stoff eingestuft wird. Dementsprechend würde er automatisch in den Anwendungsbereich der Richtlinie über die Gefährdung durch Karzinogene oder Mutagene bei der Arbeit fallen, und es würden die Mindestanforderungen für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz greifen.

(f)

Aufforderung an die Mitgliedstaaten und die Kommission, die Bezeichnung „Tabakrauch in der Umgebungsluft“ offiziell in „kanzerogener Tabakrauch in der Umgebungsluft“ zu ändern,

(g)

Erarbeitung von Aufklärungsstrategien (durch die Generaldirektionen „Bildung und Kultur“ und „Gesundheit und Verbraucher“), damit Kinder und Jugendliche in sämtlichen Bildungseinrichtungen unionsweit korrekte, vollständige und regelmäßige Informationen über die Auswirkungen des Tabakkonsums und des Tabaksrauchs in der Umgebungsluft erhalten.

In Bezug auf Ziffer 4 der Empfehlungen an die Mitgliedstaaten

1.4.1.   Hingewiesen werden sollte auch auf den „Schutz vor Tabakrauch in von Kindern und Jugendlichen besuchten öffentlichen Räumen“ (Freiluftspielplätze, Freizeiteinrichtungen, Diskotheken unter freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen, Clubs, Cafés für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren und sonstige für sie bestimmte Räume).

In Bezug auf Ziffer 6 der Empfehlungen an die Mitgliedstaaten

1.5.1.   Die Definition der nationalen Anlaufstellen für die Eindämmung des Tabakgebrauchs sollte um folgenden Passus ergänzt werden: „und zur Eindämmung bzw. Beseitigung einer Gefährdung der Bevölkerung durch Tabakrauch in der Umgebungsluft“.

2.   Schlussfolgerungen

2.1.   Der EWSA unterstützt die Initiative zur Gewährleistung einer effektiven Umsetzung von Artikel 8 des WHO-Rahmenübereinkommens zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (FCTC), der auf die Schaffung einer vollständig rauchfreien Umgebung abzielt, nach Maßgabe von Grundsatz 1 (Ziffer 6) der Leitlinien zur Umsetzung von Artikel 8 des FCTC, die im Anhang zum Vorschlag KOM(2009) 328 endg. aufgeführt werden (1). Seines Erachtens ist die EU-Empfehlung ein in diesem Sinne brauchbares Instrument, auch wenn sie kaum Garantien bietet. Sollten sich die Umsetzung und Wirksamkeit dieser Regelung als unbefriedigend erweisen, dann wird die Kommission kurzfristig ein verbindliches Instrument vorschlagen müssen.

2.2.   Nach Ansicht des Ausschusses sollten europaweit Untersuchungen zur Bekämpfung der schädlichen Auswirkungen des Tabakkonsums bei Kindern und Jugendlichen sowie über ihren ETS-Expositionsgrad durchgeführt werden. Im Hinblick auf wirksame Strategien und Programme für die Zukunft sollten die Forscher auch die rauchende Bevölkerung unter die Lupe nehmen, um in Erfahrung zu bringen, in welchem Alter sie ihre erste Zigarette geraucht und warum sie überhaupt in ihrer Kindheit oder Jugend mit dem Rauchen begonnen haben.

2.3.   Da das Europäische Parlament die Mitgliedstaaten aufgerufen hat, bis 2025 den Tabakkonsum von Jugendlichen um mindestens 50 % zu senken, ist der EWSA der Auffassung, dass die schädlichen Auswirkungen auf junge Raucher quantifiziert werden müssen, um später für die Mitgliedstaaten unionsweite Ziele zur Reduzierung des Tabakkonsums von Jugendlichen festzulegen. Der Ausschuss möchte damit nicht bewirken, dass sich die Einführung von Anti-Tabak-Maßnahmen bis zum Jahr 2025 hinzieht, sondern vielmehr betonen, wie vordringlich derartige Maßnahmen angesichts der schwerwiegenden Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und der verursachten enormen Kosten sind.

2.4.   Der EWSA erachtet es als absolut unerlässlich, den Tabakkonsum und in der Folge auch ETS an Orten zu verbieten, die von Kindern oder Jugendlichen (0-18 Jahre) besucht werden, wie etwa Freizeitanlagen, Clubs, Diskotheken in geschlossenen Räumen, Cafés, Sportanlagen, Freizeiträume für Kinder u.a. Dadurch könnte ein Teil der Generation der gegenwärtig 15- bis 18-Jährigen, die am stärksten durch das Rauchen und ETS gefährdet sind, geschützt werden. Denn in der Regel wird häufig im Alter zwischen 15 und 18 Jahren zur ersten Zigarette gegriffen und aus Passivrauchern werden so aktive Raucher.

2.5.   Der Ausschuss hält es für wesentlich, dass in Grund- und weiterführenden Schulen Programme zur Förderung einer gesunden und harmonischen Lebensweise umgesetzt werden. Um sich der Gefahren des Tabakkonsums und von ETS bewusst zu werden, sollten Kinder und Jugendliche europaweit über dieses Thema regelmäßig, korrekt und vollständig informiert werden. Dies kann in Partnerschaft mit Nichtregierungsorganisationen erfolgen, wichtig ist dabei nur, dass die Informationen allen zugänglich sind, regelmäßig erfolgen, auf interaktive und innovative Weise vermittelt werden und auf die Beweggründe der Kinder und Jugendlichen zugeschnitten sind, damit sie in aller Freiheit und Sachkenntnis selbstverantwortlich handeln können.

2.6.   Nach Ansicht des Ausschusses sollten für alle Alters- und Gesellschaftsgruppen Aufklärungskampagnen über eine gesunde Lebensführung gestartet werden, damit die Menschen für sich und ihre Kinder verantwortungsvolle Entscheidungen in vollem Bewusstsein ihrer Folgen treffen können.

2.7.   Der Ausschuss ermutigt die Nichtregierungsorganisationen und die Zivilgesellschaft, Maßnahmen zum Schutz vor Gefährdung durch Tabakrauch und ETS zu ergreifen und aktiv zu unterstützen, insbesondere wenn sie sich an gefährdete Gruppen richten, deren Mitglieder durch zunehmende Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes und schrittweisen Verlust vitaler Funktionen Gefahr laufen, ihre soziale und persönliche Autonomie zu verlieren. Bezüglich der Belastung durch Tabakrauch in der Umgebungsluft sollten insbesondere benachteiligte Kinder besonderen Schutz erfahren, also Kinder aus Bevölkerungsgruppen, die diesem sekundären Rauch besonders stark ausgesetzt sind, sowie „Straßenkinder und -jugendliche“ und sonstige obdachlose Bevölkerungsgruppen.

3.   Hintergrund und allgemeine Bemerkungen

3.1.   Medizinisch-soziale Argumente betreffend den Tabakkonsum und den ETS-Expositionsgrad

3.1.1.   Einer Studie zufolge „kann jede gerauchte Zigarette das Leben des Rauchers um 8 Minuten verkürzen“ (2). Tabakkonsum ist die Ursache Nummer eins für Tod, Krankheit und Invalidität in der Europäischen Union, wo er rund 650 000 Todesfälle jährlich verursacht (3).

3.1.2.   Tabakrauch ist ein komplexes toxisches Gemisch, das aus mehr als 4 000 Stoffen besteht, u.a. aus giftigen Stoffen wie Cyanwasserstoff, Ammoniak und Kohlenmonoxid, sowie aus mehr als 50 (genauer gesagt 69 (4)) anderen nachweislich krebserregenden Stoffen, sodass der Tabakrauch in der EU eine weitverbreitete Morbiditäts- und Mortalitätsquelle ist. Die Bezeichnung „Tabakrauch in der Umgebungsluft“ in „krebserregender Tabakrauch in der Umgebungsluft“ zu ändern, ist wissenschaftlich begründet.

3.1.3.   Es ist erwiesen, dass die anhaltende Belastung durch Passivrauchen zu denselben Krankheiten führt wie das aktive Rauchen, darunter Lungenkrebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Kinderkrankheiten.

3.1.4.   Die ETS-Exposition kann bei Erwachsenen koronare Herzkrankheiten und Lungenkrebs verursachen. Ferner kann sie beim erwachsenen Menschen zu Gefäßverengungen im Gehirn, zu Asthma oder einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) (5) bzw. zu einer Verschlimmerung dieser bereits bestehenden Erkrankungen führen (6).

3.1.5.   Studien und Definitionen in Bezug auf die Risiken einer ETS-Exposition haben sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Begriffe wie „Passivrauchen“ und „unfreiwillige Belastung durch Tabakrauch“ sollten nicht verwendet werden, denn es hat sich in Frankreich und in anderen Ländern gezeigt, dass diese Begriffe u.U. verwendet werden, um die Vorstellung zu untermauern, dass diese Belastung „freiwillig“ und somit akzeptabel sei. Der neue wissenschaftliche Kenntnisstand gebietet es, nicht mehr von „Tabakrauch in der Umgebungsluft“, sondern von „krebserregendem Tabakrauch in der Umgebungsluft“ zu sprechen.

3.1.6.   ETS ist für Kinder besonders gefährlich: er kann Asthma, Lungenentzündung, Bronchitis, Atemwegserkrankungen, Mittelohrentzündung und plötzlichen Kindstod verursachen (5).

3.1.7.   Vorsichtigen Schätzungen zufolge sind in der EU-25 im Jahr 2002 7 300 Erwachsene, darunter 2 800 Nichtraucher, gestorben, weil sie am Arbeitsplatz ETS ausgesetzt waren, und 72 000 weitere Personen, darunter 16 400 Nichtraucher, haben ihr Leben infolge einer ETS-Exposition zuhause verloren (7).

3.1.8.   Es ist erwiesen, dass das Risiko einer Lungenkrebserkrankung beträchtlich steigt, wenn man ETS allgemein und am Arbeitsplatz ausgesetzt ist, und dass dieses Risiko beispielsweise bei Arbeitnehmern in Unternehmen des Hotel- und Gaststättengewerbes, wo geraucht wird, um 50 % höher ist als bei Arbeitnehmern, die einer derartigen Belastung nicht ausgesetzt sind (8).

3.1.9.   Die Belastung durch Tabakrauch während der Schwangerschaft kann das Risiko von Missbildungen, Fehl-, Tot- und Frühgeburten erhöhen.

3.2.   Soziologische Argumente von Eurobarometer betreffend die Anti-Tabak-Maßnahmen und die ETS-Exposition

3.2.1.   Eurobarometer betont, dass die Anti-Tabak-Maßnahmen in der Bevölkerung auf große Akzeptanz stoßen. Ein Rauchverbot in Büros und sonstigen Arbeitsplätzen in geschlossenen Räumen befürworten 84 % der Unionsbürger, in Restaurants 77 % und in Cafés und Lokalen 61 %.

3.2.2.   Rund 70 % der Unionsbürger rauchen nicht (9), und aus Studien geht hervor, dass die Mehrheit der Raucher gerne aufhören möchte (10).

3.2.3.   Einer aktuellen Eurobarometer-Umfrage zur „Einstellung der Europäer zu Tabak“ zufolge sind sich Dreiviertel der Europäer des Gesundheitsrisikos des Rauchens für Nichtraucher bewusst, während 95 % einräumen, dass das Rauchen in der Nähe einer Schwangeren eine ernste Gefahr für das Kind bedeuten kann.

3.2.4.   Ende 2006 waren schätzungsweise 28 % der in Büroräumen tätigen Arbeitnehmer täglich am Arbeitsplatz Tabakrauch in der Umgebungsluft ausgesetzt, während Ende 2008 knapp 39 % der in Cafés und Restaurants tätigen Arbeitnehmer in derselben Situation waren. Einer anderen Umfrage (2006) zufolge waren 7,5 Millionen Arbeitnehmer in Europa täglich am Arbeitsplatz ETS ausgesetzt (11).

3.2.5.   Jedes Jahr belaufen sich die Ausgaben, die der Tabakkonsum in den Gesundheitssystemen der europäischen Volkswirtschaften erforderlich macht, auf mehrere hundert Mrd. EUR. Diese Kosten werden nicht nur von den Verursachern aufgebracht, sondern von der gesamten Bevölkerung. Schätzungen zufolge verursacht die ETS-Exposition am Arbeitsplatz in den 27 EU-Mitgliedstaaten jährliche Kosten in Höhe von 2,46 Mrd. EUR (12), das heißt 1,3 Mrd. an medizinischen Kosten für tabakbedingte Krankheiten (darunter 560 Mrd. für nichtrauchende Arbeitnehmer) und mehr als 1,1 Mrd. an nichtmedizinischen Ausgaben durch Produktivitätsverluste (davon 480 Mio. für Nichtraucher).

3.3.   Die Verpflichtung zum Schutz der Bevölkerung vor ETS-Exposition fällt unter die Gewährleistung der Grundrechte des Menschen (Recht auf Leben und Gesundheitsstandards)

3.3.1.   Die nach Maßgabe von Artikel 8 des WHO-Rahmenübereinkommens zur Eindämmung des Tabakgebrauchs bestehende Pflicht, die Bevölkerung vor Tabakrauch zu schützen, ist in den menschlichen Grundrechten und –freiheiten verwurzelt. Angesichts der Risiken im Zusammenhang mit der Belastung durch sekundären Rauch gehört die Pflicht, die Bevölkerung vor Tabakrauch zu schützen, implizit insbesondere zum Recht auf Leben und auf das bestmögliche Gesundheitsniveau, wie es in zahlreichen internationalen Rechtsinstrumenten sanktioniert ist (u.a. Verfassung der Weltgesundheitsorganisation, Übereinkommen über die Rechte des Kindes, Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau und internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte), die ausdrücklich in der Präambel des WHO-Rahmenübereinkommens genannt und in den Verfassungen zahlreicher Nationen anerkannt werden.

3.3.2.   Die Pflicht, die Bevölkerung vor Tabakrauch zu schützen, kommt einer Verpflichtung der Regierungen gleich, Gesetze zum Schutz der Menschen vor jeglicher Bedrohung ihrer Grundrechte und –freiheiten zu erlassen. Sie gilt für die gesamte Bevölkerung und nicht nur für bestimmte Gruppen.

3.4.   Der internationale und europäische Kontext

3.4.1.   In den Vereinigten Staaten haben die Umweltschutzagentur und das Ministerium für Gesundheit und Sozialdienste den Tabakrauch in der Umgebung erstmals im Jahr 1993 und ein zweites Mal im Jahr 2000 als einen für den Menschen krebserregenden Stoff eingestuft, und das Internationale Krebsforschungs-Zentrum der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat im Jahr 2002 nachgezogen.

3.4.2.   Auf internationaler Ebene wird in dem WHO-Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakkonsums, das von 168 Parteien unterzeichnet und von 141 ratifiziert wurde (darunter die Europäische Gemeinschaft), anerkannt, „dass wissenschaftliche Untersuchungen eindeutig bewiesen haben, dass Tabakkonsum und Passivrauchen zu Tod, Krankheit und Invalidität führen“. Das Übereinkommen verpflichtet die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten, das Problem der Belastung durch Tabakrauch am Arbeitsplatz in geschlossenen Räumen, in öffentlichen Verkehrsmitteln und an geschlossenen öffentlichen Orten in Angriff zu nehmen. In Artikel 8 dieses Übereinkommens ist eine Verpflichtung zur Gewährleistung eines Schutzes vor der Belastung durch Tabakrauch festgeschrieben.

3.4.3.   Die Europäische Anti-Tabak-Strategie der WHO aus dem Jahr 2004 geht von der Annahme aus, dass die erfolgversprechendste Maßnahme im Hinblick auf eine langfristige Tabakentwöhnung in intensiven mehr als 10-minütigen Beratungsgesprächen mit einem Arzt besteht.

3.5.   Folgenabschätzung für die günstigste Option unter den fünf möglichen Szenarien europäischer Politik

3.5.1.   Mit dem am 30. Januar 2007 veröffentlichten Grünbuch der Kommission „Für ein rauchfreies Europa: Strategieoptionen auf EU-Ebene“ (KOM(2007) 27 endg.) wurde eine öffentliche Debatte angestoßen. Die fünf möglichen Szenarien europäischer Politik sind: 1) Beibehaltung des Status Quo, 2) freiwillige Maßnahmen, 3) Methode der offenen Koordinierung, 4) Empfehlungen der Kommission oder des Rates und 5) verpflichtende Rechtsvorschriften.

3.5.2.   In ihrer Folgenabschätzung präzisiert die Kommission, dass mit Option 5 (verpflichtende Rechtsvorschriften) aufgrund ihres zwingenden Charakters die mit einer ETS-Exposition verbundenen Schäden maximal reduziert werden könnten, da sie diese an Arbeitsplätzen in geschlossenen Räumen beseitigen würde. Gleichwohl würde die Umsetzung dieses Szenariums sehr viel mehr Zeit in Anspruch nehmen als die von Option 4 (Empfehlung des Rates). Option 1 (keine Änderung an der derzeitigen Lage) würde die geringsten Erfolge bei der Reduzierung von ETS und der damit verbundenen gesundheitlichen Schäden bringen. Es wäre zu erwarten, dass in diesem Fall die aktuelle Anti-Rauch-Bewegung zwar weitergehen, aber an Schubkraft verlieren würde. Die politischen Optionen 2 und 3 hätten ähnliche Auswirkungen und würden im Vergleich zu Option 1 (Status Quo) nur zu einer geringfügigen Abnahme von ETS führen. Maßnahme 3, d.h. die Umsetzung der Methode der offenen Koordinierung, kann sehr viel Zeit in Anspruch nehmen und sich als unangemessen für ein Problem wie das des ETS erweisen. Die Wirkung von Option 4 wäre im Falle einer Empfehlung der Kommission begrenzt, da sie ggf. nicht den Rückhalt der Mitgliedstaaten erhält. Es wird erwartet, dass die zweite Möglichkeit in Szenarium 4 (Empfehlung des Rates) aufgrund der damit einhergehenden Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten und ihrer relativ schnellen Wirkung die größten positiven Auswirkungen auf die Gesundheit hätte.

4.   Die durch die ETS-Exposition am stärksten gefährdeten Zielgruppen und entsprechenden Problemlösungsstrategien

4.1.   Die am stärksten durch ETS-Exposition gefährdeten Gruppen sind Kinder, Jugendliche, Arbeitslose, benachteiligte Bevölkerungsgruppen und Arbeitnehmer im Hotel- und Gaststättengewerbe.

4.2.   Aus kausaler Sicht ist es sinnvoll, das Problem der ETS-Exposition in Korrelation mit dem Tabakkonsum und den Besonderheiten der jeweiligen Zielgruppe anzugehen. 80 % der Raucher in Europa haben erklärt, auch zuhause zu rauchen. Die Strategien zur Reduzierung des Tabakkonsums und der ETS-Exposition müssen insbesondere auf Kinder, Jugendliche und Eltern zugeschnitten sein.

4.3.   Unter den EU-Bürgern im Alter ab 15 Jahren erklären 31 % zu rauchen (26 % täglich und 5 % gelegentlich (13)). Bei den Kindern steigt die Raucherquote rapide ab dem Alter von 11 Jahren. Die sehr hohen Tabakkonsumquoten, die im Alter unter 18 Jahren zu beobachten sind, untermauern die Annahme, dass Jugendliche schon als Minderjährige mit dem Rauchen beginnen (14). Die Eurobarometer-Umfrage gibt keinen Aufschluss über den Erstkonsum von Tabak, aber einige Länder habe nationale Statistiken (15) aufgestellt, aus denen hervorgeht, dass „der Großteil der Raucher (53 %) in ihrer Kindheit begonnen haben: 5,5 % haben ihre erste Zigarette geraucht, als sie jünger als 15 Jahre waren; für 47,5 % fällt die erste Zigarette in die Altersspanne zwischen 15 und 19 Jahre“. Mehr als die Hälfte der männlichen Raucher (51,4 %) haben zwischen 15 und 19 Jahren mit dem Rauchen angefangen. Unter den am stärksten gefährdeten Gesellschaftsgruppen rauchen die Straßenkinder ihre erste Zigarette im Alter unter 15 Jahren (16). Das Leben auf der Straße, insbesondere für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen, geht einher mit einem hohen Tabakkonsum und ETS-Expositionsgrad.

4.4.   Freizeiträume (Clubs, Cafés, Diskotheken unter freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen usw.) sind Bereiche, in denen die ETS-Exposition besonders hoch und gefährlich ist, und zwar sowohl für die Kundschaft (Teenager, Jugendliche und andere Gruppen) als auch für die Belegschaft (Angestellte der Unterhaltungsindustrie, des Hotel- und Gaststättengewerbes). Eine vierstündige ETS-Exposition in einer Diskothek ist genauso gefährlich wie ein Monat des Zusammenlebens mit einem Raucher (17).

4.5.   Notwendig sind nicht nur Aufklärungsstrategien in den Medien, sondern auch und noch viel mehr vorbeugende Erziehungsmaßnahmen. Die Nichtregierungsorganisationen haben neuartige Dienste zur Information, Erziehung und Prävention eingerichtet, mit denen Kinder und Jugendliche für die Risiken des Tabakkonsums und der ETS-Exposition sensibilisiert werden sollen. Unionsweit könnte eine Lösung darin bestehen, diese nachahmenswerten Modelle flächendeckend zu verbreiten, indem entsprechende Erziehungsprogramme in die Schulsysteme eingeführt und Unterstützungsdienste mittels des europäischen Netzes der Bürgerberatungsstellen und - für Eltern und Kinder - mittels der Beratungsstellen der Schulen angeboten werden. Die Gemeindeclubs für Kinder und Eltern und Bildungsprogramme wie die Elternschule oder die Elternuniversität sind nachahmenswerte Modelle, die dazu beitragen können, dem Tabakkonsum vorzubeugen und die ETS-Exposition zu reduzieren, und zwar in der Schule, aber auch und vor allem zuhause (hier respektiert die EU-Gesetzgebung die Privatsphäre).

5.   Positiv konzipierte, inhaltlich umfassende Medienkampagnen zur Gesundheitsförderung werden den Zigarettenkonsum und den ETS-Expositionsgrad auf natürliche Weise verringern

5.1.   Europaweit wurden in den Medien zwei Anti-Tabak-Kampagnen gestartet: „Fühl' Dich frei, nein zu sagen“ (2001-2004) und „HELP - Für ein rauchfreies Leben“ (2005-2008) mit dem Ziel, in erster Linie die jungen Menschen auf die schädlichen Folgen des Passivrauchens aufmerksam zu machen und sie für ein Leben ohne Tabak zu sensibilisieren.

5.2.   In Bezug auf die Änderung der Entscheidung der Kommission 2003/641/EG vom 5. September 2003 ist der Ausschuss der Auffassung, dass jeglicher Warnhinweis auch klare Angaben über den Inhalt von Zigaretten, die Beschaffenheit der kanzerogenen Giftstoffe - insbesondere Konservierungsmittel und Stoffe, die für die Herstellung verwendet werden - sowie weitere Angaben wie eine gebührenfreie Telefonnummer oder eine Webseite, mit denen die Raucher bei der Entwöhnung unterstützt werden sollen, enthalten muss.

5.3.   Zwar erinnern sich 80 % der Raucher oder ehemaligen Raucher in der EU an eine Anti-Tabak-Kampagne, doch erklären 68 %, dass derartige Maßnahmen sie nicht dazu veranlasst hätten, mit dem Rauchen aufzuhören (18). Nach Ansicht des EWSA sollten unbedingt Informations- und Aufklärungskampagnen auf der Grundlage folgender Prinzipien gestartet werden:

Hinweis auf die Bedeutung des Atmens als vitale Funktion des Menschen und dementsprechend auf den Bezug zwischen Luft- und Lebensqualität („Wir sind, was wir atmen“);

Förderung einer korrekten und vollständigen Information;

Rückgriff auf die Grundsätze der positiven Suggestion, die sich auf die Gestaltung gesunder Lebensweisen, welche die Zigarette und die verräucherten Lokale „vergessen“ machen, fokussieren sollte;

Anpassung der Kernbotschaft an die verschiedenen Zielgruppen und die jeweiligen Motive einzelner Altersgruppen (für die Jugendlichen z.B. die Bedeutung der Leistung und des eigenen Images);

Förderung sportlicher und erzieherischer Aktivitäten sowie kultureller Ansätze, die per Definition den Tabakkonsum ausschließen: Leistungssport (Schwimmen, Fußball, Radsport, Handball), Trainingsmethoden, Selbstverteidigung oder Selbsterfahrung (Karate, Tai-Chi, Yoga (19), Qigong u.a.) sowie Lebensanschauungen, die Tabakkonsum nicht zulassen; der ETS-Expositionsgrad in öffentlichen Räumen, die für solche Aktivitäten bereitgestellt werden, muss weiter gegen Null tendieren;

Persönlichkeiten aus Sport, Kultur oder Politik, die ein ausgewogenes und rauchfreies Leben führen, als Vorbilder präsentieren.

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  „Wirksame Maßnahmen für den Schutz vor der Belastung durch Tabakrauch, wie sie in Artikel 8 des WHO-Rahmenübereinkommens vorgesehen sind, erfordern die vollständige Unterbindung des Rauchens und die vollständige Vermeidung von Tabakrauch an einem bestimmten Ort oder in einer bestimmten Umgebung, um ein vollständig rauchfreies Umfeld zu schaffen. Es gibt kein unbedenkliches Niveau der Belastung durch Tabakrauch, und Begriffe wie der eines Grenzwerts für die Toxizität des Tabakrauchs in der Umgebungsluft sollten abgelehnt werden, da sie durch wissenschaftliche Erkenntnisse widerlegt werden“ (KOM(2009) 328 endg., Anhang, Grundsatz 1, S. 13).

(2)  Tabakkonsum, Stiftung Soros, 888 Seventh Avenue, New York 10106, 1992.

(3)  Tobacco or health in the European Union: Past, present and future, Consortium ASPECT, Oktober 2004.

(4)  Folgenabschätzung Rand, Rand Corporation.

(5)  Surgeon General (2006), op. cit.

(6)  Foreman, M.G., D.L. DeMEO, et al., „Clinical determinants of exacerbations in severe, early-onset COPD“, European Respiratory Journal 30 (6): 1124-1130.

(7)  The Smoke free Partnership (2006). Schluss mit dem blauen Dunst: 10 Gründe für ein rauchfreies Europa, European Respiratory Society, Brüssel, Belgien.

(8)  Siegel M., Involuntary smoking in the restaurant workplace. A review of employee exposure and health effects, Journal of American Medical Association, Juli 1993, 28; 270(4), 490-493.

(9)  Gesundheitsindikatoren der Europäischen Gemeinschaft, Indikator Nr. 23, „Gewohnheitsraucher“: http://ec.europa.eu/health/ph_information/dissemination/echi/echi_de.htm.

(10)  Fong G.T., Hammond D., Laux F.L., Zanna M.P., Cummings K.M., Borland R., Ross H., The near-universal experience of regret among smokers in four countries: findings from the International Tobacco Control Policy Evaluation Survey. Nicotine and Tobacco Research, Dezember 2004; 6 suppl. 3, S. S341-S351.

(11)  Jaakkola M., Jaakkola J. (2006), Impact of smoke-free workplace legislation on exposure and health: possibilities of prevention, European Respiratory Journal 28, 397-408.

(12)  SEK(2009) 895, S.3, Ziffer 2.1.2.

(13)  Eurobarometer 253, März 2009, Survey on Tobacco, The Gallup Organisation, Ungarn, S.7, Ziffer 1.

(14)  Tobacco Free Policy Review Group (2000), Towards a tobacco free society: report of the Tobacco Free Policy Review Group, Government Publication. Starionery Office, Dublin (http://www.drugsandalcohol.ie/5337/), S.29, Ziffer 1.

(15)  Nationales Statistikinstitut Rumäniens.

(16)  Assoziierte Therapien zur Integration von Straßenkindern, Eugen Lucan, Forschungsarbeit im Rahmen Hochschuldiplomarbeit, 1996.

(17)  M. Nebot et al., Environmental tobacco smoke exposure in public places of European cities, Tobacco Control, Februar 2005; 14 (1), S.60-63.

(18)  Eurobarometer 239/2005, Januar 2006, S. 58-59.

(19)  In einer auf dem Internet veröffentlichten Studie wird betont, dass von den Personen, die auf einen Fragebogen geantwortet haben, 37 % Raucher waren, bevor sie mit Yoga begonnen haben, aber dann alle mit dem Rauchen aufgehört hätten. Auch würde keine dieser Personen Drogen nehmen (siehe http://yogaesoteric.net/content.aspx?lang=RO&item=3869).


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/94


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung (EG) Nr. …/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung in Bezug auf Wohnungsbauvorhaben für marginalisierte Bevölkerungsgruppen“

KOM(2009) 382 — 2009/0105 (COD)

(2010/C 128/16)

Hauptberichterstatter: Angelo GRASSO

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 11. September 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung (EG) Nr. …/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung in Bezug auf Wohnungsbauvorhaben für marginalisierte Bevölkerungsgruppen

KOM(2009) 382 - 2009/0105 (COD).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt am 29. September 2009 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) Angelo GRASSO zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 70 gegen 2 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1.   Der EWSA nimmt den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Kenntnis, Artikel 7 Absatz 2 der EFRE-Verordnung (1) zu ändern, da die Erfahrung gezeigt hat, dass die dort aufgeführten Bedingungen für die Förderfähigkeit den Bedürfnissen vor Ort nicht voll entsprechen.

1.2.   Der EWSA befürwortet den Vorschlag.

2.   Gründe und Empfehlungen

2.1.   Der EWSA wünscht, dass die Bestimmungen dieses Vorschlags für alle marginalisierten Bevölkerungsgruppen gelten und nicht nur für diejenigen, die in den Erwägungsgründen des Vorschlags gesondert genannt sind. Prinzipiell sollten die Bestimmungen in allen Mitgliedstaaten der Union Anwendung finden.

2.2.   Der EWSA erachtet es als nützlich, die Bestimmungen des Vorschlags dahingehend zu erweitern, dass diese sowohl für den Ersatz von Wohnungen durch Neubauten als auch die Renovierung bestehender Wohngebäude gelten und dabei Energieeinsparungen und Nachhaltigkeit gewährleistet werden.

2.3.   Der EWSA begrüßt die mit dem Vorschlag einhergehenden Vereinfachungen, warnt im Allgemeinen aber vor zu vielen Änderungen des Rechtsrahmens während ein und desselben Programmplanungszeitraums, da dies zu einer wachsenden administrativen Unsicherheit der Betroffenen führen kann, die sich während des Zeitraums mit der Anwendung der geänderten Vorschriften konfrontiert sehen.

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006, in der durch Verordnung (EG) Nr. 397/2009 geänderten Fassung, ABl. L 210, 31.7.2006, S. 1.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/95


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 hinsichtlich allgemeiner Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds im Hinblick auf die Vereinfachung bestimmter Anforderungen und im Hinblick auf bestimmte Bestimmungen bezüglich der finanziellen Verwaltung“

KOM(2009) 384 — 2009/0107 (AVC)

(2010/C 128/17)

Hauptberichterstatter: Carmelo CEDRONE

Der Rat beschloss am 11. September 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 hinsichtlich allgemeiner Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds im Hinblick auf die Vereinfachung bestimmter Anforderungen und im Hinblick auf bestimmte Bestimmungen bezüglich der finanziellen Verwaltung

KOM(2009) 384 endg. – 2009/0107 (AVC).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt am 29. September 2009 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) Carmelo CEDRONE zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 82 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt den oben genannten Kommissionsvorschlag zur Kenntnis.

1.2.   Grundsätzlich begrüßt der EWSA den Vorschlag vorbehaltlich der nachstehenden Bemerkungen.

2.   Begründung

2.1.   Vereinfachung bestimmter Vorschriften

2.1.1.   Seit vielen Jahren setzt sich der EWSA – ebenso wie das Europäischen Parlament und der Ausschuss der Regionen – für die Vereinfachung und Anpassung der Gemeinschaftsbestimmungen an die örtlichen Gegebenheiten ein (1). Der EWSA begrüßt ausdrücklich die von der Kommission für Artikel 39, Artikel 41 Absatz 1 und 2, Artikel 44, Artikel 48 Absatz 3, Artikel 55 Absatz 3 und 4, Artikel 65 Absatz 3, Artikel 57 Absatz 1 und 5, und für Artikel 67, Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 vorgeschlagenen Änderungen zur Vereinfachung der Bestimmungen.

2.1.2.   Nach Ansicht des EWSA muss jedoch vermieden werden, dass die betroffenen Parteien und relevanten Akteure – die während desselben Programmplanungszeitraums allzu oft Änderungen der geltenden Regeln hinnehmen müssen – durch diese Änderungen in Bezug auf das administrative Prozedere verunsichert werden können.

2.1.3.   Der EWSA erachtet diese Vorschläge als unverzichtbaren Mindestbeitrag zur Überwindung der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise, die Europa infolge der Finanzkrise gegenwärtig durchlebt.

2.1.4.   Der EWSA fordert die Kommission daher auf, die bereits begonnene Vereinfachung couragierter voranzutreiben. Die nächste Stufe muss mit einer von Grund auf geänderten Verordnung erreicht werden, damit die Verfahren einfacher, klarer und prägnanter werden.

2.2.   Bestimmungen bezüglich der finanziellen Verwaltung

2.2.1.   Der EWSA begrüßt die von der Kommission für Artikel 77, Artikel 78, Artikel 88 Absatz 3, und Artikel 94 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 vorgeschlagenen Änderungen.

2.2.2.   Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, sich dem Kommissionsvorschlag zur Kofinanzierung nicht zu widersetzen.

2.2.3.   Nach Ansicht des EWSA sollten die für Artikel 77 vorgeschlagenen Änderungen jedoch nicht generell gelten, sondern sich auf spezielle Projekte (Innovation, nachhaltige Entwicklung usw.) sowie auf Projekte beschränken, die für die Überwindung der Krise von besonderer Bedeutung sind.

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zu den Ergebnissen der Verhandlungen über kohäsionspolitische Strategien und Programme im Programmplanungszeitraum 2007-2013“, ABl. C 228/141 vom 22.9.2009, und die Stellungnahme zu dem „Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds in Bezug auf bestimmte Vorschriften zur Finanzverwaltung“, ABl. C 218/107 vom 11.9.2009.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/97


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Grünbuch über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher“

KOM(2008) 794 endg.

(2010/C 128/18)

Berichterstatter: Edwin CALLEJA

Die Europäische Kommission beschloss am 27. November 2008 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Grünbuch über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher“

KOM(2008) 794 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 9. September 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) mit 123 gegen 4 Stimmen bei 13 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Empfehlungen

1.1.   Grundsätzlich ist der Zugang zu wirksamem Rechtsschutz ein Grundrecht, das den Verbrauchern bei der Durchsetzung kollektiver Rechtsansprüche offenstehen sollte. Dabei müssen jedoch die im Vertrag vorgesehenen Beschränkungen sowie die zwischen den nationalen Rechtsordnungen bestehenden verfahrens- und verfassungsrechtlichen Unterschiede sorgfältig berücksichtigt werden.

1.2.   Legislativmaßnahmen der EU im Bereich der kollektiven Rechtsdurchsetzung würden insbesondere bei grenzüberschreitenden Geschäften eine Verbesserung des Verbraucherschutzes bewirken.

1.3.   In das System müssen ausreichende Sicherungen gegen unbegründete Forderungen und Missbrauch eingebaut werden, die von anderen Parteien als den Verbrauchern ausgehen und hauptsächlich durch finanzielle Interessen und Gewinnabsichten motiviert sind.

1.4.   Bei der Annahme jeglicher EU-Maßnahmen sollte grundsätzlich darauf geachtet werden, dass angemessene Sicherungen gegen die Einführung bestimmter Elemente vorgesehen werden, die nach den Erfahrungen in anderen Rechtsordnungen leicht missbräuchlich genutzt werden können. In jedem einzuführenden System zur kollektiven Rechtsdurchsetzung sollte insbesondere der Richter mit Befugnissen ausgestattet werden, die vorab vorgebrachten Klagegründe in einem Verfahren zur Durchsetzung kollektiver Ansprüche prüfen und so dem Missbrauch Einhalt gebieten und gewährleisten zu können, dass nur begründete Ansprüche geltend gemacht werden.

1.5.   Die Annahme eines Verfahrens zur gerichtlichen Durchsetzung kollektiver Rechtsansprüche schließt nicht aus, dass Verfahren der außergerichtlichen Beilegung von Verbraucherstreitigkeiten in Anspruch genommen werden.

1.6.   Der EWSA legt der Kommission nahe, weitere Anstrengungen zu unternehmen, um die Unternehmen zur Entwicklung interner Verfahren der Beschwerdebearbeitung anzuregen, bestehende alternative Streitbeilegungsverfahren weiterzuentwickeln und die öffentliche Aufsicht auszubauen. Solche alternativen Rechtsmittel könnten von den Verbrauchern genutzt werden, bevor sie den Rechtsweg beschreiten.

1.7.   Der EWSA macht die Europäische Kommission erneut darauf aufmerksam, dass die Frage der gerichtlichen Durchsetzung kollektiver Rechtsansprüche seit 1985 diskutiert wird und dass es an der Zeit ist, Entscheidungen zu treffen und unverzüglich entsprechende Verfahren umzusetzen, die den Ansprüchen der Verbraucher genügen.

2.   Einleitung

2.1.   Ziel der Verbraucherpolitischen Strategie der EU  (1) ist, den internen Einzelhandelsmarkt zu fördern, indem bis 2013 erreicht werden soll, dass das Vertrauen der Verbraucher und Einzelhändler bei grenzüberschreitenden Käufen ebenso groß ist wie bei Käufen in ihren Herkunftsländern. In dieser Strategie betonte die Kommission die Bedeutung wirksamer Rechtsschutzverfahren für Verbraucher und kündigte an, dass sie Initiativen im Bereich des kollektiven Rechtsschutzes in Erwägung ziehe.

2.2.   Das Europäische Parlament, der Rat und der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßten die Absicht der Kommission, den Verbraucherrechtsschutz zu verbessern und insbesondere Initiativen im Bereich des kollektiven Rechtsschutzes in Erwägung zu ziehen (2). Selbst die OECD verabschiedete eine Empfehlung über die Beilegung von Verbraucherstreitigkeiten und einschlägige Rechtsbehelfe (3), in der ihren Mitgliedstaaten empfohlen wurde, den Verbrauchern Zugang zu verschiedenen Rechtsbehelfen, u.a. auch zu Verfahren der kollektiven Rechtsdurchsetzung, zu verschaffen.

2.3.   Mit dem im November 2008 veröffentlichten Grünbuch der Kommission über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher (4) wird nun aufgezeigt, wie die Rechtsdurchsetzung erleichtert werden kann, wenn eine Vielzahl Verbraucher durch das verbraucherrechtswidrige Geschäftsgebaren eines einzelnen Gewerbetreibenden geschädigt worden sind. In dem Grünbuch werden vier Optionen dargelegt.

2.4.   Die Europäische Kommission veranstaltete außerdem am 29. Mai 2009 eine öffentliche Anhörung zur Erörterung des Grünbuchs und verfasste anschließend ein Dokument, das zur öffentlichen Stellungnahme vorgelegt wurde und zusätzlich zu den vier im Grünbuch aufgezeigten Optionen zur kollektiven Rechtsdurchsetzung eine weitere, fünfte Option beinhaltet. In diesem fortgeschrittenen Stadium seiner Beratungen kann der EWSA diese jüngste Vorlage der Kommission nicht mehr berücksichtigen. Dies gilt insbesondere, weil noch Folgenabschätzungen durchgeführt werden müssen. Und gerade deshalb ist für den EWSA selbst in dieser frühen Phase schon absehbar, dass es bei dieser fünften Option zu beträchtlichen Umsetzungsproblemen kommen wird.

2.5.   Es ist nicht zu leugnen, dass der Zugang der Verbraucher zu Rechtsbehelfen im Falle einer Verletzung ihrer Rechte durch Gewerbetreibende dazu beiträgt, das Verbrauchervertrauen in die Märkte zu stärken und die Markleistung zu verbessern. Dieses Ziel kann jedoch nur dann erreicht werden, wenn die Verbraucher wissen, dass sie im Streitfall zu ihrem Recht gelangen und angemessen entschädigt werden.

2.6.   Um allen beteiligten Akteuren gleichermaßen gerecht zu werden, muss ein ausgewogenes Verhältnis zwischen allen berührten Interessen erzielt werden.

3.   Zusammenfassung des Grünbuchs

3.1.   Das erklärte Ziel des Grünbuchs besteht darin, „den aktuellen Stand der Rechtsbehelfsmechanismen zu bewerten, insbesondere in den Fällen, in denen zahlreiche Verbraucher vom selben Rechtsverstoß betroffen sein können, und Optionen für eine Schließung möglicher Lücken im Rechtsbehelfssystem in diesen Fällen aufzuzeigen“ (5). Die Kommission erachtete es für notwendig, keine Unterscheidung zwischen grenzüberschreitenden Mechanismen für Massenforderungen und rein nationalen Mechanismen zu machen. Ein weiterer Aspekt, der in dem Grünbuch erörtert werden soll, ist die Frage, ob bestimmte Instrumente nur für grenzüberschreitende Fälle oder auch im nationalen Rahmen gelten sollten.

3.2.   Im Mittelpunkt des Grünbuchs stehen Lösungsmöglichkeiten für Massenforderungen; Ziel ist, wirksame kollektive Rechtsbehelfe für Bürger in der gesamten EU zu schaffen, die durch das Geschäftsgebaren eines einzelnen Gewerbetreibenden beeinträchtigt werden, und zwar unabhängig vom Ort der Transaktion. Ferner wird aufgezeigt, welche wesentlichen Hindernisse derzeit einer wirksamen Rechtsdurchsetzung entgegenstehen und welche Faktoren zur Wirksamkeit und Effizienz eines Verfahrens zur kollektiven Rechtsdurchsetzung beitragen.

3.3.   Die Kommission stellt fest, dass die bestehenden EU-Instrumente (6) nicht ausreichen, und umreißt vier Optionen, mit denen die relevanten Fragen angegangen und den Verbrauchern - insbesondere im Wege der kollektiven Rechtsdurchsetzung - angemessene und wirksame Rechtsbehelfe zur Verfügung gestellt werden sollen.

Option 1: Erzielung eines angemessenen Rechtsschutzes für Verbraucher durch auf nationaler und EU-Ebene bereits vorhandene Maßnahmen;

Option 2: Entwicklung einer Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, um sicherzustellen, dass die Verbraucher in der gesamten EU die in verschiedenen Mitgliedstaaten bestehenden kollektiven Rechtsschutzverfahren nutzen können;

Option 3: Kombination von Instrumenten verbindlicher oder nicht verbindlicher Art, die zusammen den Verbraucherrechtsschutz stärken können, indem die größten Hindernisse beseitigt werden;

Option 4: Schaffung von Verfahren zur gerichtlichen Durchsetzung kollektiver Rechtsansprüche durch eine verbindliche oder nicht verbindliche EU-Maßnahme.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.   Der EWSA hat sich bereits in den letzten Jahren dafür ausgesprochen, auf Gemeinschaftsebene eine Sammelklage vorzusehen, die im Fall der Verletzung kollektiver Rechte einen effektiven Schadensersatz ermöglicht.

4.2.   Schon 1992 machte der EWSA die Kommission im Rahmen zweier Initiativstellungnahmen darauf aufmerksam, dass Handlungsmöglichkeiten zur Regelung grenzüberschreitender Streitsachen gefunden werden müssten und dass die Klagebefugnis der Verbraucherverbände sowohl bei einzelstaatlichen als auch bei grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten anerkannt werden müsse (7). Ebenso forderte der EWSA die Kommission in einer auf der Plenartagung am 1. Juni 1994 einstimmig verabschiedeten Stellungnahme ausdrücklich auf, ein einheitliches Verfahren für Sammelklagen und verbundene Klagen zu schaffen, und zwar nicht nur für Klagen auf Unterlassung rechtswidriger Praktiken, sondern auch zur Erleichterung von Klagen auf kompensatorischen Schadensersatz (8). Dieses Thema wurde später in mehreren weiteren Stellungnahmen des EWSA aufgegriffen (9). In seiner Stellungnahme vom 26. Oktober 2006 (10) unterstützte der EWSA eindeutig die von der Kommission in ihrem Grünbuch „Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts“ geäußerten Bedenken und bekräftigte in seiner Stellungnahme vom 25. März 2009 die Bedeutung eines wirksamen Rechtsbehelfs für durch Wettbewerbsverstöße geschädigte Personen (11).

4.3.   Da die EU einheitliche materielle Verbraucherrechte geschaffen hat, sollte sie nach Ansicht des EWSA ebenso dafür sorgen, dass die Verbraucher angemessene Verfahren nutzen können, um diese Rechte geltend zu machen. So sollte den Verbrauchern ein gerichtliches Verfahren zur kollektiven Rechtsdurchsetzung zur Verfügung stehen, damit sie ebenso wie in sonstigen gewerblichen Streitsachen den Rechtsweg beschreiten können. Wie der EWSA bereits in früheren Stellungnahmen betont hat, ist der Verbraucherrechtsschutz ein Grundrecht, mit dem kollektive Interessen und gleichgerichtete Individualinteressen rechtlich geschützt werden sollten. Ein Handeln auf EU-Ebene ist erforderlich, da es an Rechtsinstrumenten zur Verwirklichung und Durchsetzung kollektiver Rechte und gleichgerichteter Individualrechte in der Union mangelt. Verfahren zur kollektiven Rechtsdurchsetzung sind notwendig, um den Verbrauchern eine realistische und effiziente Möglichkeit zur Wiedergutmachung zahlreicher verschiedener Schäden ähnlicher Art zu geben.

4.4.   Des Weiteren ist die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ein vorrangiges politisches Ziel der Europäischen Union. Im Bereich des Verbraucherschutzes hat die EU einen Sockel materieller Rechtsvorschriften geschaffen. Nun gilt es, für eine Anwendung dieser Bestimmungen zu sorgen, damit die Wirtschaft durch einen verstärkten grenzüberschreitenden Handel angekurbelt werden kann, der auf dem Vertrauen beruht, dass Streitfälle rasch, kostengünstig und im gesamten EU-Binnenmarkt nach ähnlichen Vorschriften und Verfahren geregelt werden können. Die Verbraucher sind möglicherweise in zunehmendem Maße unlauteren Geschäftspraktiken ausgesetzt, und daher sind Verfahren erforderlich, um Missbrauch dieser Art zu verhindern und abzustellen. Rechtsdurchsetzung, Prävention, Mängelbeseitigung und Schadensersatz sind allesamt relevante Faktoren. In der Regel sind die Entschädigungssummen für Einzelpersonen gering, sie können sich insgesamt aber zu hohen Beträgen summieren.

4.5.   Der EWSA ist der Auffassung, dass gerichtliche Rechtsbehelfe verfügbar sein und wirksam geltend gemacht werden müssen. Die außergerichtliche Streitbeilegung kann daher eine Ergänzung zum Gerichtsverfahren sein und die Möglichkeit eines weniger streng geregelten und kostengünstigeren Verfahrens bieten. Voraussetzung ist dabei jedoch, dass beide Streitparteien auch wirklich zur Zusammenarbeit bereit sind. Dank solcher außergerichtlicher Maßnahmen könnte eine gerechte Lösung gefunden und gleichzeitig dazu beigetragen werden, dass der Arbeitsüberhang an den Gerichten nicht noch größer wird.

4.6.   Der EWSA betont jedoch, dass bei der Entwicklung geeigneter Verfahren unbedingt die kulturellen Traditionen und Rechtstraditionen der europäischen Staaten berücksichtigt werden müssen.

4.7.   Ferner ist der EWSA der Ansicht, dass ein solches Rechtsinstrument der EU hauptsächlich zur Geltendmachung kollektiver Rechtsansprüche bei Verstößen gegen das Verbraucherrecht und gegen die Wettbewerbsvorschriften eingesetzt werden sollte.

5.   Besondere Bemerkungen zu dem Grünbuch

5.1.   Gerichtliche Durchsetzung kollektiver Rechtsansprüche

5.1.1.   Der EWSA erkennt an, dass ein europäisches Verfahren zur gerichtlichen Durchsetzung kollektiver Rechtsansprüche nach Maßgabe der Option 4 des Grünbuchs eingerichtet werden sollte, wenn sowohl die Verbraucher als auch die Unternehmen zu ihrem Recht gelangen sollen. Durch die Einführung eines solchen Verfahrens könnte allen Verbrauchern unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, ihren finanziellen Möglichkeiten und der Höhe des ihnen entstandenen individuellen Schadens Zugang zum Recht verschafft werden. Ferner würde mit einem solchen Verfahren ein Problem angegangen, das vom OECD-Ministerrat in der Empfehlung über die Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten mit Schadensersatz  (12) anerkannt wurde und darin besteht, dass die meisten Verfahren, die in den Mitgliedstaaten zur Beilegung dieser Streitigkeiten und entsprechender Schadensersatzansprüche existieren, für die Regelung nationaler Streitsachen entwickelt wurden und nicht immer geeignet sind, Ansprüche von Verbrauchern aus einem anderen Mitgliedstaat zu befriedigen.

5.1.2.   Der EWSA erkennt jedoch auch an, dass die Entwicklung eines einheitlichen gerichtlichen Verfahrens zur kollektiven Rechtsdurchsetzung ihre eigenen Schwierigkeiten und Nachteile haben kann, die durch die Komplexität, die Kosten, die Dauer und weitere Herausforderungen im Zusammenhang mit einem solchen Verfahren bedingt sind. Eine dieser Herausforderungen ist die Begrenzung der beträchtlichen Gefahr des Missbrauchs von Rechtsstreitigkeiten ebenso wie die Art der Finanzierung solcher Klagen. Auch muss entschieden werden, ob das „Opt-in“- oder das „Opt-out“-Verfahren gewählt werden soll. Beide Optionen bringen eigene Nachteile mit sich, wie der EWSA bereits feststellte (13).

5.2.   Wesentliche Merkmale einer europäischen Sammelklage

5.2.1.   Wie die Kommission in ihrem Grünbuch feststellt, besteht derzeit in nur 13 Mitgliedstaaten ein Verfahren zur gerichtlichen Durchsetzung kollektiver Rechtsansprüche. Zudem können drei Verfahrensarten unterschieden werden, die in jenen Mitgliedstaaten, die derzeit über ein solches System verfügen, als Verfahren zur gerichtlichen Durchsetzung „kollektiver“ Rechtsansprüche bezeichnet werden können.

5.2.2.   Der Begriff der „kollektiven Rechtsdurchsetzung“ ist ein sehr weit gefasstes Konzept, bei dem vielmehr das Ergebnis als das (oder ein) Verfahren im Vordergrund steht. Es umfasst alle Mechanismen, die zur Beendigung oder Verhütung von Rechtsverstößen und/oder zur Anspruchsbefriedigung im weitesten Sinne führen könnten, sei es durch Mängelbeseitigung oder durch Entschädigung. Da in verschiedenen Mitgliedstaaten der EU eine Vielzahl möglicher Verfahren entwickelt wurden bzw. werden und angesichts der Tatsache, dass die meisten Verfahren neuartig sind und Versuchscharakter haben, ist es kaum möglich, ein Modell zu ermitteln, das einem anderen vorzuziehen wäre.

5.2.3.   Angesichts der Unterschiede in den Rechtssystemen und unter Berücksichtigung der in früheren Stellungnahmen zu diesem Thema (14) untersuchten unterschiedlichen Möglichkeiten und der unterbreiteten Vorschläge befürwortet der EWSA Folgendes:

eine EU-Richtlinie, um ein Grundmaß an Harmonisierung zu gewährleisten und gleichzeitig genügend Spielraum für jene Länder zu lassen, die derzeit noch kein System zur gerichtlichen Durchsetzung kollektiver Rechtsansprüche eingeführt haben; eine solche Richtlinie würde zudem an die Richtlinie über Unterlassungsklagen anknüpfen;

Sicherungsmaßnahmen, die gewährleisten, dass Kollektivklagen nicht die Form der US-amerikanischen „class actions“ annehmen; alle Legislativmaßnahmen der EU sollten die europäische Rechtskultur und -tradition widerspiegeln, allein der Erwirkung von Schadensersatz dienen und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Prozessparteien gewährleisten, d.h. zu einem System führen, das die Interessen der Gesellschaft insgesamt schützt. Der EWSA unterstützt voll und ganz den Vorschlag der Kommission, dass bei jeder wie auch immer gearteten Maßnahme zur Einrichtung eines Verfahrens zur gerichtlichen Durchsetzung kollektiver Rechtsansprüche in allen Mitgliedstaaten „[…] Elemente vermieden werden [sollten], die eine Kultur des Rechtsstreits fördern würden, die, wie man sagt, in einigen nichteuropäischen Ländern besteht, was etwa Strafschadenersatz, Erfolgshonorare und andere Elemente umfasst.“;

ein gemischtes System für Sammelklagen, das die Vorteile einer Opt-in- und einer Opt-out-Regelung miteinander kombiniert, je nachdem, welcher Art die auf dem Spiel stehenden Interessen sind, ob die Mitglieder der Gruppe der Geschädigten im Einzelnen festzustellen sind oder nicht und wie hoch der Schaden des Einzelnen ist; bei „Opt-in“-Verfahren können die Geschädigten beschließen, ihre individuellen Schadensersatzansprüche in einer einzigen Klage zu bündeln; bei „Opt-out“-Verfahren muss die Klage von repräsentativen und qualifizierten Einrichtungen als Verbandsklage erhoben werden;

Einzelpersonen sollte eher das Recht eingeräumt werden, sich durch „Opt-in“-Verfahren kollektiven Streitsachen anzuschließen, anstatt einfach davon auszugehen, dass sie Verfahrenspartei sind, sofern sie nicht ausdrücklich eine gegenteilige Erklärung abgeben („opt-out“). Der EWSA verweist auf die in seiner Stellungnahme vom 13. Februar 2008 (15) beschriebenen Vor- und Nachteile dieser Mechanismen. Diese Option sollte bevorzugt werden, um die Auswirkungen einer solchen Kollektivklage vor allem in jenen Mitgliedstaaten abzufedern, die derzeit nicht über entsprechende Verfahren verfügen;

die Aussage der Kommission, ein EU-Mechanismus sollte dazu beitragen, unbegründete Klagen zu vermeiden, und dass dem Richter eine zentrale Rolle zukommen könnte, indem er entscheidet, ob eine kollektive Forderung unbegründet oder zulässig ist. So erinnert der EWSA an seine in früheren Stellungnahmen unterbreiteten Empfehlungen zur bedeutenden Rolle des Richters. Der Richter muss mit den erforderlichen Befugnissen ausgestattet werden, um unbegründete Klagen in einer frühen Phase des Gerichtsverfahrens Einhalt zu gebieten. Das Gericht wird die Begründetheit der eingereichten Klage prüfen und feststellen, ob sich die vorgebrachten Ansprüche zur kollektiven Regelung eignen. Insbesondere muss der Richter sicherstellen, dass die Identität der Gruppe auf der Grundlage einer bestimmten Zahl identischer Fälle festgestellt wird und dass die erhobenen Schadensersatzforderungen insofern einen gemeinsamen Ursprung haben, als derselbe Gewerbetreibende seine vertraglichen Pflichten nicht oder nur mangelhaft erfüllt hat

Es sollte gewährleistet werden, dass den Geschädigten der reale Wert der erlittenen Verluste in vollem Umfang ersetzt wird. Dieser Anspruch erstreckt sich nicht nur auf den realen Verlust oder materiellen und immateriellen Schaden, sondern auch auf entgangene Gewinne und beinhaltet auch den Anspruch auf Zinsen. Während bei der behördlichen Rechtsdurchsetzung die Einhaltung der Vorschriften und die Abschreckung im Vordergrund stehen, muss es bei Schadensersatzklagen darum gehen, einen vollen Ausgleich für erlittene Schäden zu leisten. Dieser volle Ausgleich muss daher den realen Verlust, entgangene Gewinne und Zinsen abdecken.

Die Tragfähigkeit eines solchen Verfahrens zur gerichtlichen Durchsetzung kollektiver Rechtsansprüche muss durch eine angemessene Finanzierung gewährleistet sein;

in dem System sollte auch die Möglichkeit zur Einlegung einer Berufung vorgesehen werden.

5.2.4.   Alle weiteren Aspekte dieses Gerichtsverfahrens sollten im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip den Mitgliedstaaten selbst überlassen werden. In jedem Fall sollten bei allen auf EU-Ebene angestrengten Sammelklagen das Subsidiaritätsprinzip und der Grundsatz Verhältnismäßigkeit eingehalten werden. Das bedeutet, dass auf keinen Fall über das zur Erreichung der Ziele des Vertrags notwendige Maß hinausgegangen werden darf. Voraussetzung muss demnach sein, dass die jeweiligen Ziele von den Mitgliedstaaten nicht angemessen erreicht werden können und daher durch ein Handeln auf Gemeinschaftsebene besser zu verwirklichen sind. Verschiedene einzelstaatliche, rechtliche und verfassungsrechtliche Erfordernisse, und nicht zuletzt Artikel 5 des EG-Vertrags, können eine Harmonisierung der einschlägigen Rechtsvorschriften verhindern oder ihr im Wege stehen.

5.3.   Durchsetzung der Verbraucherrechte durch andere, bestehende Instrumente

5.3.1.   Der EWSA hat bereits anerkannt, dass „die Annahme eines Verfahrens zur gerichtlichen Durchsetzung kollektiver Rechtsansprüche auf EU-Ebene in keiner Weise verhindern sollte, dass Verfahren der außergerichtlichen Beilegung von Verbraucherstreitigkeiten in Anspruch genommen werden. Der EWSA hat seine unbedingte Unterstützung für diese Verfahren zum Ausdruck gebracht, deren Potenzial noch weiter ausgeschöpft und entwickelt werden muss“ (15), wie in Option 3 des Grünbuchs der Kommission vorgeschlagen wird. Die von der Kommission in Option 3 vorgeschlagenen Maßnahmen können die Annahme eines wie oben beschriebenen EU-Rechtsinstruments natürlich nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen.

5.3.2.   Außergerichtlichen Verfahren der Streitbeilegung wurde bis dato große Bedeutung beigemessen. So hat die Generaldirektion SANCO eine Studie über alternative Streitbeilegungsverfahren (alternative dispute resolution, ADR) für Verbraucherstreitigkeiten in Auftrag gegeben. Auch wurden jüngst Rechtsvorschriften über Verfahren für geringfügige Forderungen (16), Mediation (17) und die Erweiterung des Europäischen Justiziellen Netzes (18) angenommen. Im EU-Recht zur Durchsetzung des Verbraucherschutzes mussten bislang sowohl staatliche als auch private Systeme berücksichtigt werden. Ein politischer Richtungswechsel, der beträchtliche Folgen haben könnte, erfolgte 2004 mit der Auflage, dass alle Mitgliedstaaten über eine zentrale Behörde zur Koordinierung der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung verfügen müssen (19).

5.3.3.   Interne Verfahren zur Beschwerdebearbeitung

Der EWSA ist der Ansicht, dass eine wirksame Beschwerdebearbeitung durch die Gewerbetreibenden ein entscheidender Schritt zur Stärkung des Verbrauchervertrauens in den Binnenmarkt sein kann. Der EWSA erachtet es als äußerst wichtig, dass die Kommission die erforderlichen Initiativen fördert, wobei die Einbeziehung der Zivilgesellschaft und insbesondere repräsentativer Unternehmensverbände unerlässlich ist, um zu gewährleisten, dass ein kohärenter Rechtsrahmen besteht, der die Entwicklung solcher interner Verfahren zur Beschwerdebearbeitung durch die Gewerbetreibenden reguliert; dabei sollte vor allem die effiziente Behandlung von Verbraucherbeschwerden im Mittelpunkt stehen.

5.3.4.   Staatliche Aufsicht

Der EWSA befürwortet den Vorschlag der Kommission, die Durchsetzungsbefugnisse der zuständigen Behörden, darunter des nationalen Bürgerbeauftragten, im Rahmen der Verordnung zur Zusammenarbeit im Verbraucherschutz auszuweiten und zu stärken. Er empfiehlt nachdrücklich, dass die genaue Funktionsweise eines solchen Verfahrens jedoch in einer Richtlinie geregelt werden sollte, um ein Mindestmaß an Harmonisierung in allen EU-Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Bei einem solchen Vorschlag sollte die mögliche Wiedergutmachung in jedem Fall auf kompensatorischen Schadensersatz begrenzt und ein umfangreicher Verfahrensschutz für die Rechtssubjekte vorgesehen werden, die Gegenstand des Durchsetzungsverfahrens sind. Nach Auffassung des EWSA könnte das Konzept der staatlichen Aufsicht zu einem Netz der gegenseitigen Amtshilfe auf Arbeitsebene ausgebaut werden, das sich auf alle Mitgliedstaaten erstreckt und sich als sehr wirksames Instrument erweisen könnte, um unionsweit Gewerbetreibende aufzuspüren, die möglicherweise gegen Verbraucherrechte verstoßen. Angemessene Informationskampagnen zur Sensibilisierung der Verbraucher und zur Verbreitung von Informationen könnten die Verbraucher dazu anregen, sich zu manifestieren, wenn ihre Rechte verletzt werden.

5.3.5.   Alternative Streitbeilegungsverfahren

Die Kommission erkennt an, dass die bestehenden Verfahren zur alternativen Beilegung von Verbraucherstreitigkeiten sowohl innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten als auch zwischen ihnen sehr unterschiedlich sind und dass selbst in Rechtsordnungen, die solche Verfahren vorsehen, erhebliche Lücken bereichsspezifischer Art und hinsichtlich der geografischen Abdeckung bestehen. Außerdem geht es bei den meisten alternativen Streitbeilegungsverfahren in der EU grundsätzlich um Individualansprüche. In Bezug auf die bestehenden EU-Instrumente (20) geht aus dem von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen Bericht „An analysis and evaluation of alternative means of consumer redress other than redress through ordinary judicial proceedings (21) hervor, dass die in diesen Instrumenten aufgestellten Grundsätze der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der an Mediations- bzw. Schlichtungsverfahren beteiligten Dritten nicht einmal im Rahmen der EEC-Net-Datenbank eingehalten werden. Vor diesem Hintergrund ist der EWSA der Ansicht, dass die bestehenden Empfehlungen im Zusammenhang mit alternativen Streitbeilegungsverfahren zu verbindlichen Rechtsinstrumenten gemacht werden sollten. Ein erweiterter Zugang der Verbraucher zur alternativen Streitbeilegung und zu Verfahren für geringfügige Forderungen kann zu einer raschen, gerechten, wirksamen und verhältnismäßig kostengünstigen Regelung von Verbraucherschutzfragen führen.

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  KOM(2007) 99 endg.

(2)  In seiner Entschließung zur Verbraucherpolitischen Strategie der EU ersucht das EP die Kommission, nach einer sorgfältigen Bewertung der Frage der rechtlichen Absicherung der Verbraucher in den Mitgliedstaaten „[…] sofern zweckdienlich, eine kohärente Lösung auf europäischer Ebene vorzuschlagen, die allen Verbrauchern Zugang zu Mechanismen mit kollektiven Rechtsbehelfen für die Regelung grenzüberschreitender Klagen verschafft […].“ (A6-0155/2008); der Rat ersuchte die Kommission, „[…] sorgfältig kollektive Rechtsschutzverfahren zu prüfen und die Ergebnisse der laufenden einschlägigen Untersuchungen hinsichtlich möglicher Vorschläge oder Schritte vorzulegen […].“, ABl. C 166 vom 20.7.2007, S. 1-3.

Das EP bekräftigte seine Forderung in der Entschließung zum Grünbuch über Finanzdienstleistungen (A6-0187/2008). Auch der Untersuchungsausschuss des EP zum Zusammenbruch der „Equitable Life Assurance Society“ hatte die Kommission aufgefordert, „[…] darüber hinaus die Schaffung eines Rechtsrahmens mit einheitlichen zivilrechtlichen Anforderungen für grenzüberschreitende europäische Kollektivklagen zu untersuchen […].“ (A6-0203/2007). In einer Initiativstellungnahme (ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 1) unterbreitete der EWSA Vorschläge zur rechtlichen Gestaltung von Verfahren für kollektive Rechtsbehelfe.

(3)  Anm.d. Übers.: Die Empfehlung liegt in offizieller Sprachfassung nur auf Englisch und Französisch vor. Siehe: http://www.oecd.org/dataoecd/43/50/38960101.pdf.

(4)  KOM(2008) 794 endg.

(5)  KOM(2008) 794 endg., S. 3.

(6)  Empfehlung 98/257/EG der Kommission betreffend die Grundsätze für Einrichtungen, die für die außergerichtliche Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten zuständig sind (ABl. L 115 vom 17.4.1998, S. 31) und Empfehlung 2001/310/EG der Kommission über die Grundsätze für an der einvernehmlichen Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten beteiligte außergerichtliche Einrichtungen (ABl. L 109 vom 19.4.2001, S. 56); Richtlinie 98/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 1998 über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen (ABl. L 166 vom 11.6.1998, S. 51); Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 2004 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden (ABl. L 364 vom 9.12.2004, S. 1).

(7)  ABl. C 339 vom 31.12.1991, S. 16, Ziffer 5.4.2, und ABl. C 19 vom 25.1.1993, S. 22, Ziffer 4.12, sowie Abschnitt 4 der interessanten Studie im Anhang, die gemeinsam von Eric Balate, Pierre Dejemeppe und Monique Goyens durchgeführt und vom EWSA veröffentlich wurde (S. 103 ff.)).

(8)  ABl. C 295 vom 22.10.1994, S. 1.

(9)  Folgende Stellungnahmen waren besonders bedeutend: die Initiativstellungnahme „Binnenmarkt und Verbraucherschutz: Chancen und Hemmnisse des einheitlichen Marktes“ (ABl. C 39 vom 12.2.1996, S. 55), in der festgestellt wurde, dass es bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Folgemaßnahmen zu den Vorschlägen und Anregungen gegeben habe, die der EWSA in seiner vorhergehenden Stellungnahme zum Grünbuch unterbreitet hatte; die Stellungnahme zu dem „Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament - Der Binnenmarkt 1994“ [KOM(1995) 238 endg.], in der die Verzögerungen bei der wirksamen Durchsetzung des Binnenmarktes - insbesondere bei den Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes und vor allem in den grenzüberschreitenden Beziehungen - aufgezeigt wurden (ABl. C 39 vom 12.2.1996, S. 70); die Stellungnahme zu der „Mitteilung der Kommission: Verbraucherpolitische Prioritäten (1996-1998)“, in der der EWSA zwar den Vorschlag für eine Richtlinie über Unterlassungsklagen und den von der Kommission vorgelegten Aktionsplan für den Zugang der Verbraucher zum Recht begrüßte, jedoch auch erklärte, dass er weiteren Entwicklungen auf diesem Gebiet mit Interesse entgegensehe, und feststellte, dass der Binnenmarkt in diesem Bereich bei weitem nicht vollendet sei und dass eine „gezielte Wahrung der Rechte der Verbraucher“ Grundvoraussetzung sei, um das Vertrauen der Verbraucher zu gewinnen (ABl. C 295 vom 7.10.1996, S. 64). Diese Anliegen sind auch Gegenstand der Stellungnahme des EWSA zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat - Wirkung und Wirksamkeit der Binnenmarktmaßnahmen“ [KOM(1996) 520 endg. vom 23. April 1997] (ABl. C 206 vom 7.7.1997). Auch sollten folgende Stellungnahmen des EWSA genannt werden: die Initiativstellungnahme zum Thema „Die Verbraucherpolitik nach der EU-Erweiterung“ (Ziffer 11.6, ABl. C 221 vom 8.9.2005); die Stellungnahme zu dem Aktionsprogramm der Gemeinschaft in den Bereichen Gesundheit und Verbraucherschutz (2007-2013), (Ziffer 3.2.2.2.1, ABl. C 88 vom 11.4.2006) sowie die Stellungnahme zu dem „Rechtsrahmen für die Verbraucherpolitik“ (ABl. C 185 vom 8.8.2006).

(10)  ABl. C 324 vom 30.12.2006. Der EWSA brachte seine Unterstützung für diese Initiative der Kommission zum Ausdruck und bekräftigte die Notwendigkeit von Sammelklagen, weil dadurch „eine Reihe wichtiger Ziele in vollem Umfang erreicht [werden]: i) wirksamer Schadensersatz, da die Forderung des Schadensersatzes durch Verbände im Namen der betroffenen Verbraucher erleichtert und somit ein Beitrag zum tatsächlichen Zugang zu den Gerichten geleistet wird; ii) Abschreckung und Vorbeugung von Kartellverhalten wegen des großen gesellschaftlichen Echos, das diese Art von Klagen findet.“

(11)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 40.

(12)  Empfehlung C(2007) 74 vom 12. Juli 2007.

(13)  ABl. C 162 vom 25.6.2008.

(14)  ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 31, und ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 40.

(15)  ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 1.

(16)  Verordnung (EG) Nr. 861/2007 (ABl. L 199 vom 31.7.2007, S. 1).

(17)  Richtlinie Nr. 2008/52/EG (ABl. L 136 vom 24.5.2008, S. 3).

(18)  KOM(2008) 380 endg. – Stellungnahme des EWSA: ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 84.

(19)  Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 (ABl. L 364 vom 9.12.2004, S. 1).

(20)  Empfehlung 1998/257 und Empfehlung 2001/310.

(21)  Anm.d. Übers.: Der Bericht besteht nur auf Englisch. Titel etwa: „Eine Untersuchung und Bewertung alternativer Instrumente des Verbraucherrechtsschutzes neben der Erwirkung von Schadensersatz im Wege ordentlicher Gerichtsverfahren“.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/103


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Die Vorteile des Binnenmarkts durch engere Verwaltungszusammenarbeit erschließen“

KOM(2008) 703 endg.

(2010/C 128/19)

Berichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Die Europäische Kommission beschloss am 6. November 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Die Vorteile des Binnenmarkts durch engere Verwaltungszusammenarbeit erschließen“

KOM(2008) 703 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 9. September 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) mit 128 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den stärker dezentralisierten, netzgestützten Ansatz in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, den das Binnenmarktinformationssystem (IMI) für den Binnenmarkt bedeuten wird. Nach Auffassung des Ausschusses wird das System dazu beitragen, dass die Binnenmarktvorschriften wirklich eingehalten und geeignete Maßnahmen zur Lösung der Probleme ergriffen werden, auf die Bürger und Unternehmen stoßen.

1.2.   Die Organisationen der organisierten Zivilgesellschaft können in den einzelnen Mitgliedstaaten eine aktive, herausragende Rolle für den Einsatz des IMI spielen. Außerdem können sie mithelfen, das System bekanntzumachen und über seine Funktionsweise zu informieren.

1.3.   Da das IMI-System einzelstaatliche Hemmnisse identifizieren wird, die einer ordnungsgemäßen Anwendung der Dienstleistungs- und der Berufsqualifikationsrichtlinie entgegenstehen, und da sein materieller Anwendungsbereich möglicherweise auf andere Sektoren ausgeweitet wird, wäre es sinnvoll, wenn die Kommission konkrete Vorschläge für einen eventuellen speziellen Warn- und/oder Sanktionsmechanismus im Hinblick auf die Beseitigung dieser Hemmnisse machen würde.

1.4.   Soweit die Datenübermittlung im IMI-System Datenschutzvorschriften des Gemeinschaftsrechts unterliegt, empfiehlt der Ausschuss die Einführung der Pflicht zur Benachrichtigung der betroffenen Person, um sicherzustellen, dass diese ihr in diesen Datenschutzvorschriften vorgesehenes Auskunftsrecht in dem in der Rechtsprechung des Gerichtshofs dargelegten Sinn ausüben können.

2.   Einleitung

2.1.   In Artikel 10 des EG-Vertrags ist der allgemeine Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft verankert, der durch die Rechtsprechung des EuGH (1) umfassend ausgelegt wurde und wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind:

alle zur Durchführung der Rechtsvorschriften und Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht zu ergreifen,

zur Verwirklichung der Ziele des Vertrags und des abgeleiteten Rechts miteinander und mit der Gemeinschaft zusammenzuarbeiten.

2.2.   Die Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft erstreckte sich bislang auf bestimmte Bereiche, wie den Bereich der Steuern (2) (hier muss jeder Mitgliedstaat ein zentrales Verbindungsbüro benennen und ist den anderen Mitgliedstaaten zur Hilfe verpflichtet), das Zollwesen, den Wettbewerb (Netz nationaler Wettbewerbsbehörden) oder auch die Asyl-, Einwanderungs- und Außenpolitik (Programm ARGO-2002).

2.3.   Der EWSA hat sich in einer Initiativstellungnahme (3) mit der Verwaltungszusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden und den Gemeinschaftsinstitutionen beschäftigt, wobei er zu dem Schluss kam, dass klar definierte und wirksame innerstaatliche Verfahrensweisen in Politik und Verwaltung der Mitgliedstaaten zusammen mit einer besseren Rechtsetzung sowie Durchführung und Durchsetzung der Rechtsvorschriften ein integraler Bestandteil des verantwortungsvollen Regierens und Verwaltens in der EU sind.

2.4.   Durch den Beschluss 2004/387/EG (4) vom 21. April 2004 wurde ein Programm zur interoperablen Erbringung europaweiter elektronischer Behördendienste (eGovernment-Dienste) für öffentliche Verwaltungen, Gemeinschaftsinstitutionen und andere Einrichtungen sowie Unternehmen und Bürger (IDABC) geschaffen. Darin sind Projekte „von gemeinsamem Interesse“ und horizontale Maßnahmen vorgesehen, deren Durchführung die Gemeinschaft im Verhältnis zu ihrem Interesse übernimmt (Artikel 10).

2.5.   Am 17. März 2006 billigten die Vertreter der Mitgliedstaaten im Beratenden Ausschuss für den Binnenmarkt den Gesamtdurchführungsplan für das Binnenmarktinformationssystem (im Folgenden „IMI“) und dessen Ziel der Verbesserung der Kommunikation zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten. In der Entscheidung der Kommission 2008/49/EG (5) über den Schutz personenbezogener Daten bei der Umsetzung des Binnenmarktinformationssystems wird dieses System als Projekt von gemeinsamem Interesse im Sinne von IDABC eingestuft.

2.6.   Das IMI-System soll die Durchführung binnenmarktrelevanter Rechtsakte, die einen Informationsaustausch zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten erfordern, einfacher machen.

3.   Die Mitteilung der Kommission

Mangelndes Vertrauen in den Rechtsrahmen und in die Aufsicht anderer Mitgliedstaaten hat dazu geführt, dass immer mehr Vorschriften erlassen wurden und grenzübergreifende Geschäfte oft doppelt kontrolliert werden. Dies ist bis heute eine der größten Herausforderungen für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes. Deshalb müssen die Behörden der Mitgliedstaaten eng zusammenarbeiten und gegenseitiges Vertrauen in ihre Systeme entwickeln.

3.1.1.   Mit dem IMI können die Mitgliedstaaten ihre rechtliche Verpflichtung zum Informationsaustausch erfüllen. Darüber hinaus wird das System neue Formen der Verwaltungszusammenarbeit ermöglichen, die nur ein elektronisches Informationssystem bieten kann.

Mit dem IMI verfügen die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten über ein einfaches Mittel, um über eine strukturierte Fragenabfolge Behörden in anderen Mitgliedstaaten für die verschiedenen Bereiche des EU-Rechts ausfindig zu machen und Anfragen an sie zu richten.

3.2.1.   Das IMI soll auf effiziente und wirksame Weise die Stückkosten der Kommunikation, die für die ordnungsgemäße Umsetzung der Binnenmarktvorschriften zwischen den Mitgliedstaaten stattfinden muss, senken. Die Kommission hielt es jedoch für angebracht, die Anwendung des IMI zunächst auf zwei Bereiche zu beschränken, nämlich die Anerkennung von Berufsqualifikationen, bei der die Anwendung bereits angelaufen ist, und die Dienstleistungsrichtlinie. Auf den in diesen beiden Bereichen gewonnenen Erfahrungen aufbauend, soll die Anwendung später auf andere binnenmarktrelevante Schlüsselbereiche ausgedehnt werden.

3.2.2.   Das IMI wird so dazu beitragen, die erforderliche Vertrauensbasis zu schaffen, damit der Binnenmarkt reibungslos funktionieren und seinen vollen Nutzen entfalten kann.

3.3.   Das IMI ist ein mehrsprachiges System, das für eine EU mit 27 Mitgliedstaaten und 23 Amtssprachen geschaffen wurde, allerdings auch zur Anwendung in allen 30 Staaten des EWR. Die Sprachenvielfalt bedeutet eine Bereicherung, wobei neue Technologien zum Einsatz kommen, die durch menschliche und maschinelle Übersetzung unterstützt werden. Das IMI ist ein gutes Beispiel dafür, mit welchen Maßnahmen die EU entsprechende Hindernisse konkret abbauen und das Kommunikationsdefizit zwischen den Verwaltungen in Europa beheben kann.

3.4.   Im Rahmen der Modernisierung der Steuerung des Binnenmarktes wird das IMI einen effizienteren, dezentralen und netzgestützten Ansatz für die grenzübergreifende Zusammenarbeit unterstützen.

3.5.   Das IMI ist ein System, mit dessen Hilfe die Mitgliedstaaten bei der tagtäglichen Umsetzung der Binnenmarktvorschriften effizienter zusammenarbeiten können, und hilft den zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten, praktische Kommunikationshemmnisse zu überwinden, wie sie etwa durch unterschiedliche Verwaltungs- und Arbeitsweisen, Sprachschwierigkeiten oder fehlende Informationen über die Ansprechpartner in anderen Mitgliedstaaten entstehen. Ziel des IMI ist es, die Effizienz und Wirksamkeit der tagtäglichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu erhöhen.

3.6.   Die Entwicklung des IMI beruht auf drei Grundsätzen:

Es bürdet den Mitgliedstaaten über die Binnenmarktvorschriften hinaus keine weiteren Verpflichtungen zur Verwaltungszusammenarbeit auf.

Es bietet die nötige Flexibilität, um den unterschiedlichen Verwaltungsstrukturen und -kulturen in Europa gerecht zu werden.

Es ist ein aus wiederverwendbaren „Bausteinen“ zusammengesetztes einheitliches System. Es ist so konzipiert, dass es für eine Vielzahl von Binnenmarktvorschriften eingesetzt werden kann, und wirkt so der Vervielfachung der Informationssysteme entgegen.

In der Mitteilung der Kommission wird zu Recht betont, dass das IMI-System Auswirkungen auf den Schutz personenbezogener Daten hat und damit in vollem Umfang unter die einschlägigen Rechtsvorschriften, insbesondere unter die Richtlinie 95/46/EG und die Verordnung (EG) Nr. 45/2001 fällt.

3.7.1.   Der Zugang zu den durch das IMI-System verwalteten Daten ist den nationalen Behörden und Dienststellen vorbehalten, die in den Richtlinien, für die das System gegenwärtig anzuwenden ist, als „zuständige Behörde“ benannt sind.

3.8.   Schließlich vertritt die Kommission die Ansicht, dass mehr in Schulungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen investiert werden muss, wenn die gewünschten Ergebnisse tatsächlich erzielt werden sollen. Die Kommission wird erforderlichenfalls die verschiedenen Optionen unter die Lupe nehmen und prüfen, ob ein Schulungs- und Austauschprogramm aufgestellt werden sollte.

3.9.   Die Kommission hat am 29. Juni 2009 eine Empfehlung zur Optimierung der Funktionsweise des Binnenmarktes (6) veröffentlicht, in der sie von einem koordinierten und kooperativen Vorgehen auf der Grundlage einer Partnerschaft zwischen Kommission und Mitgliedstaaten mit dem gemeinsamen Ziel spricht, für eine bessere Umsetzung, Anwendung und Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften zu sorgen. Dies bedeutet, dass auch die Mitgliedstaaten hier eine Zuständigkeit haben und folglich eine aktivere Rolle in der Gestaltung des Binnenmarktes übernehmen müssen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

Der mit der Einführung des IMI verfolgte dezentrale und netzgestützte Ansatz für die grenzübergreifende Zusammenarbeit stärkt das Recht der Bürger, Behörden und Unternehmen auf eine gute Verwaltung. Die grundlegenden Prinzipien der Flexibilität, Wiederbenutzung und Vermeidung zusätzlicher Pflichten oder Lasten für die Mitgliedstaaten müssen beibehalten werden.

4.1.1.   Recht auf gute Verwaltung bedeutet hier konkret, dass den Bürgern problemlos genaue und konkrete Informationen darüber zur Verfügung gestellt werden, welche Voraussetzungen sie in dem Mitgliedstaat, in dem sie sich niederlassen, erfüllen müssen, um dort Dienstleistungen zu erbringen bzw. eine Tätigkeit auszuüben, und an welche Behörden sie die entsprechenden Anträge richten müssen. Darüber hinaus liefert das System indirekt Daten über ungerechtfertigte einzelstaatliche Hemmnisse für die wirksame Ausübung der jeweiligen, im Gemeinschaftsrecht verankerten Grundfreiheiten, von denen ausgehend die Kommission tätig werden kann.

4.2.   Im Hinblick auf ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes müssen die Behörden der Mitgliedstaaten eng zusammenarbeiten und gegenseitiges Vertrauen in das IMI entwickeln und so zu mehr Transparenz und verantwortungsvoller Verwaltung beitragen. Für eine enge grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den für Binnenmarktfragen zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten müssen die Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um das reibungslose Funktionieren der von der Kommission eingerichteten grenzüberschreitenden Netze oder elektronischen Informationssysteme (z.B. des IMI) sicherzustellen.

4.3.   Laut Beschluss 2004/387/EG (IDABC) soll ein Plan aufgestellt werden, der die ausgewogene Umlegung der Betriebs- und Wartungskosten der europaweiten eGovernment- und Infrastrukturdienste auf die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten vorsieht (Artikel 7 Absatz 3). Die Behörden der Mitgliedstaaten müssen daher die für ein einwandfreies Funktionieren des IMI erforderlichen Investitionen vornehmen. Da es sich um eine geteilte Zuständigkeit und damit gemeinsame Verantwortung handelt, sollten nach Ansicht des EWSA auch die Mitgliedstaaten zusätzliche Anstrengungen unternehmen.

Für eine tatsächliche Implementierung des Systems ist eine stärkere Verwaltungszusammenarbeit zwischen Behörden der Mitgliedstaaten untereinander und zwischen diesen Behörden und der Kommission notwendig. In der Zukunft sollte der Anwendungsbereich des IMI, der derzeit auf die Richtlinie über Berufsqualifikationen und die Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt beschränkt ist, auf weitere Bereiche ausgedehnt werden.

4.4.1.   Zu diesen Zwecken der Verwaltungszusammenarbeit ist in dem Beschluss 2008/49/EG ein System für den Austausch und die Verarbeitung von Informationen vorgesehen, wobei den verschiedenen beteiligten Verwaltungseinheiten wegen der Sensibilität der Informationen nur Teilaufgaben, d.h. die Verwaltung eines bestimmten Teils des Gesamtsystems, übertragen werden. Somit ist für das IMI neben der Beteiligung der Kommission auch die Mitwirkung der nationalen Akteure erforderlich. Diese sind einerseits der Koordinator und andererseits die Benutzer des Systems. Letztere arbeiten unter der Kontrolle der nationalen Behörde oder des nationalen Koordinators in Abhängigkeit von den Funktionen, die ihnen der örtliche Datenbank-Betreiber, -Zuweiser, -Supervisor oder -Administrator überträgt.

4.4.2.   Natürlich muss dieses System mit den Mechanismen der Verwaltungszusammenarbeit abgestimmt werden, die in den Richtlinien (Dienstleistungsrichtlinie und Richtlinie über Berufsqualifikationen), für die das System gelten soll, vorgesehen sind, d.h. mit den Datenaustauschstellen und den dafür zuständigen nationalen Behörden. In diesem Sinne gilt es, die möglichen direkten und indirekten Beziehungen zwischen den IMI-Nutzern und den in den betreffenden Richtlinien genannten nationalen Behörden zu berücksichtigen, insbesondere jene Beziehungen, die unmittelbar oder mittelbar Einfluss auf den Binnenmarkt haben.

4.4.3.   Bezüglich der Dienstleistungsrichtlinie ist es insbesondere zweckmäßig, im Hinblick auf eine Abstimmung mit dem IMI folgende Aspekte abzuklären:

a)

die weit gefasste Definition des Begriffs „zuständige Stelle“ (Artikel 4);

b)

die Einrichtung von einheitlichen Ansprechstellen (Artikel 6) und Kontaktstellen (Artikel 28);

c)

die Einführung weitgehend harmonisierter Genehmigungsverfahren und Verfahren für die Kommunikation mit dem Antragsteller (Artikel 13);

d)

die Einrichtung von Vorwarnmechanismen (Artikel 32), die zur Einrichtung eines europäischen Netzes einzelstaatlicher Behörden führen kann.

4.4.4.   Und im Zusammenhang mit der Richtlinie über Berufsqualifikationen müssen schließlich folgende Verfahren der Zusammenarbeit abgestimmt werden:

a)

die weit gefasste Definition des Begriffs „zuständige Behörde“ und die Gleichstellung der von Berufsverbänden oder -organisationen ausgestellten Ausbildungsnachweise (Artikel 3);

b)

die Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Erbringung von Dienstleistungen (Artikel 8);

c)

die Harmonisierung der Verfahren für die Anerkennung der Berufsqualifikationen im Hinblick auf die Niederlassung (Artikel 51);

d)

das spezifische System der Verwaltungszusammenarbeit mit den konkreten Bedingungen für den Informationsaustausch über disziplinarische oder strafrechtliche Sanktionen, die Liste der zuständigen Behörden und Stellen sowie die Koordinatoren für deren Tätigkeit (Artikel 56), sowie die Einrichtung von nationalen Kontaktstellen mit der Aufgabe, konkret über die Auswirkungen der Anwendung der Richtlinie zu informieren (Artikel 57).

4.4.5.   Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass für eine unmittelbare und sofortige Anwendung des IMI soziale Aspekte (Beitragszeiten, Rentenanwartschaften usw.), die im Zusammenhang mit den in der ersten Phase vorgesehenen Anwendungsgebieten stehen, berücksichtigt werden müssen. Dieser Ansatz bringt nicht nur den traditionellen politischen Standpunkt des Ausschusses zum Ausdruck, sondern ergibt sich auch zwingend aus der Tatsache, dass bei der Ausübung einer Erwerbstätigkeit wirtschaftliche und soziale Aspekte unmittelbar und notwendigerweise miteinander verknüpft sind.

4.4.6.   Auf diese Verknüpfung hat der Ausschuss mehrfach hingewiesen. So stellte er zum Beispiel erst kürzlich in seiner Stellungnahme vom 14. Januar 2009 (7) über die soziale und ökologische Dimension des Binnenmarkts fest, dass die Institutionen der Europäischen Union die berechtigten Interessen der Wirtschaft ebenso berücksichtigen müssen wie die Notwendigkeit, dass die wirtschaftlichen Freiheiten einer Regulierung bedürfen, durch die sichergestellt wird, dass ihre Ausübung die wesentlichen Sozialrechte nicht beeinträchtigt, die im Gemeinschaftsrecht, in internationalen Arbeitsnormen und im einzelstaatlichen Recht verankert sind (z.B. das Recht auf die Aushandlung, den Abschluss und die Umsetzung von Tarifvereinbarungen).

4.4.7.   Der Ausschuss hat dabei insbesondere Maßnahmen zur Harmonisierung auf diesem Gebiet unterstützt, wie z.B. die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit oder die Übertragbarkeit von Rentenanwartschaften (8).

4.5.   Der EWSA begrüßt das Bestreben nach einer wirksamen Anwendung des gesamten Gemeinschaftsrechts und nach Ausschöpfung des gesamten Binnenmarktpotenzials sowie die Absicht, geeignete Maßnahmen zur Sensibilisierung und Schulung der zuständigen Behörden zu ergreifen.

4.6.   Die Stärkung der Verwaltungszusammenarbeit erfordert zum einen eine Konsolidierung der Funktionsweise des IMI und der daran mitwirkenden Organisationen, und zum anderen kommt dem EWSA und den Organisationen der organisierten Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle zu, insbesondere durch Kampagnen zur Bekanntmachung des Systems und zur Darlegung seiner Bedeutung für das Funktionieren des Binnenmarktes.

4.7.   Nach Ansicht des EWSA können auf der Grundlage der Erfahrungen mit dem IMI-System und im Zuge der Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts allgemeine Prinzipien festgelegt werden, um in der Zukunft eine umfassendere und detailliertere Gemeinschaftsregelung der Verwaltungszusammenarbeit in Form einer Verordnung über ihre allgemeineren Aspekte ins Auge zu fassen.

4.8.   Das IMI ist dabei die erste Etappe auf diesem Weg. In gleicher Weise sollen die Verfahren der Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten untereinander und mit der Kommission in Bereichen, die auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung und Nichtdiskriminierung basieren und für das Funktionieren des Binnenmarktes von wesentlicher Bedeutung sind, rationalisiert werden. Zugleich geht es um die Sicherung eines für die Unionsbürger wesentlichen Bereichs, nämlich um den Schutz personenbezogener Daten. Dieser wird durch eine sehr genaue Zuweisung der Aufgaben der einzelnen, am IMI beteiligten Akteure erreicht, ein Ergebnis der Bemühungen der Kommission in diesem Bereich.

4.9.   Im Hinblick auf die datenschutzrechtlichen Auswirkungen des IMI sei auf die jüngst veröffentlichten Schlussanträge von Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer (9) verwiesen, in denen einige Bestimmungen des Datenschutzrechts, die hier volle Anwendung finden, ausgelegt werden. Diese Auslegung wurde durch das Urteil des EuGH vom 7. Mai 2009 bekräftigt, wonach eine Verpflichtung besteht, ein Recht auf Auskunft über die Empfänger oder Kategorien der Empfänger der Daten sowie den Inhalt der übermittelten Information vorzusehen, das nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Vergangenheit gilt. Darin vorgesehen ist auch die Festlegung einer Frist für die Aufbewahrung dieser Information, wobei ein gerechter Ausgleich gewahrt sein muss zwischen dem Interesse der betroffenen Person am Schutz ihres Privatlebens einerseits und der Belastung, die die Pflicht zur Aufbewahrung der betreffenden Information für den für die Verarbeitung Verantwortlichen darstellt, andererseits.

4.10.   Die Auslegung erfolgt insbesondere im Hinblick auf zwei unterschiedliche Rechte, die in der Richtlinie 95/46/EG vorgesehen sind, wobei die Ausübung des einen (Recht auf Löschung der Daten binnen Jahresfrist) die des anderen (Auskunftsrecht der betroffenen Personen) zu erschweren scheint. Durch Löschung der Daten gemäß Richtlinie 95/46/EG wird die Ausübung des Auskunftsrechts unmöglich, denn über nicht mehr existierende Daten kann keine Auskunft verlangt werden. In dieser Sache kann billigerweise von der vom Generalanwalt und vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung ausgegangen werden, die diese beiden im Gemeinschaftsrecht verankerten Rechte und ihre Ausübung miteinander vereinbar macht. Danach muss der Betroffene darüber in Kenntnis gesetzt werden, dass und an wen die Daten abgetreten werden, dass er binnen eines Jahres sein Auskunftsrecht ausüben kann und dass die Daten nach Ablauf dieses Zeitraums gelöscht werden und damit keine Auskunft mehr möglich ist.

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Urteil vom 15.11.2005 in der Rechtssache C-392/02 und Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed.

(2)  ABl. L 264 vom 15.10.2003.

(3)  ABl. C 325 vom 30.12.2006.

(4)  ABl. L 181 vom 18.5.2004.

(5)  ABl. L 13 vom 16.1.2008.

(6)  ABl. L 176 vom 7.7.2009, S. 17.

(7)  ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 1.

(8)  ABl. C 228 vom 22.9.2009.

(9)  Schlussanträge vom 22.12.2008 in der Rechtssache C-553/07.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/107


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Entwicklung einer kohärenten Strategie für eine europäische Agrarforschungsagenda“

KOM(2008) 862 endg.

(2010/C 128/20)

Berichterstatter: Franco CHIRIACO

Die Kommission beschloss am 15. Dezember 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Entwicklung einer kohärenten Strategie für eine europäische Agrarforschungsagenda“

KOM(2008) 862 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 13. Oktober 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 4. November) mit 155 Ja-Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission, die im Hinblick auf den Aufbau eines Europäischen Forschungsraums für die Landwirtschaft den Prozess für die Erarbeitung einer künftigen Agrarforschungsagenda einleitet. Damit das Angebot an landwirtschaftlichen Erzeugnissen mit der Entwicklung der weltweiten Nachfrage Schritt halten kann, müssen die Forschung und die Innovation in diesem Sektor intensiviert werden (1).

1.2.   Der EWSA stimmt dem von der Kommission vorgeschlagenen Ansatz zu, der sich auf die Erprobung des Konzepts der gemeinsamen Programmplanung stützt, mit dem unter Berücksichtigung der Erfordernisse und Besonderheiten der verschiedenen einzelstaatlichen Programme die Abstimmung der Initiativen auf Gemeinschaftsebene und die gemeinsame Nutzung der Ressourcen auf wirkungsvolle und konkrete Weise gewährleistet werden soll (2). Insbesondere fordert der EWSA die Kommission auf, die Zusammenarbeit zu stärken, nicht nur im Hinblick auf die nationalen Forschungsprogramme im Landwirtschaftsbereich, sondern auch auf die verschiedenen Initiativen, die von den verschiedenen Generaldirektionen (beispielsweise GD Umwelt, GD Landwirtschaft und GD Unternehmen) gefördert werden. In diesem Zusammenhang fordert der EWSA die Kommission auf, mehr Informationen über die Instrumente und die Verfahrensweisen - einschließlich der finanziellen Ressourcen - der Initiativen zu liefern, die in einer künftigen Mitteilung vorgeschlagen werden sollen. Dabei sollten alle betroffenen Akteure in einen Konsultationsprozess einbezogen werden und die Ergebnisse des Pilottests zur Erprobung der gemeinsamen Programmplanung berücksichtigt werden.

1.3.   Mit der gemeinsamen Programmplanung in der Agrarforschung wird das Ziel verfolgt, die Fähigkeit der Gesellschaft zur Bewältigung der Herausforderungen im Rahmen der Entwicklung von nachwachsenden Rohstoffen (biobased commodities) auf europäischer Ebene zu untersuchen. Diese Herausforderungen betreffen den Klimawandel, den Schutz der menschlichen Gesundheit und Fragen der Ernährungssicherheit. Diese Themen waren - auch vor dem Hintergrund der Ergebnisse des Workshops zur gemeinsamen Programmplanung in der Agrarforschung - Gegenstand einer ausführlichen Diskussion und gründlichen Analyse des Ständigen Agrarforschungsausschusses (Standing Committee on Agricultural Research, SCAR) (3), die in dem Positionspapier zur gemeinsamen Programmplanung vom Juni 2009 zusammengefasst werden. Die gemeinsame Programmplanung setzt ein erhebliches Maß an Mitwirkung und große Anstrengungen seitens der beteiligten Länder voraus, die sich für die Bürger und die europäische Wettbewerbsfähigkeit in einen Mehrwert und Vorteile erbringen. Vor diesem Hintergrund schlägt der EWSA vor, bereits jetzt geeignete Mechanismen vorzusehen, um auch auf privater Ebene die Einbeziehung aller Beteiligten - vor allem der Unternehmen - bei der Festlegung der Forschungsziele zu gewährleisten. Dabei gilt es auch, die erforderlichen Ressourcen zu veranschlagen und die für das Funktionieren des Systems notwendigen finanziellen Instrumente genau zu bestimmen, wodurch der tatsächliche Zugang zu den Finanzierungen sichergestellt wird. Insbesondere empfiehlt der EWSA der Kommission und dem Rat, im Einklang mit dem 2004 eingeleiteten politischen Prozess für die Ausarbeitung eines Verordnungsvorschlags zu sorgen, der die Rechtsgrundlage für die Organisation und die Arbeit des neuen SCAR-Ausschusses bilden und die Verordnung (EWG) Nr. 1728/74 ersetzen soll.

1.4.   In dem von der Kommission vorgeschlagenen neuen Verwaltungsmodell fällt dem Ständigen Agrarforschungsausschuss die Aufgabe zu, die Förderung der gemeinsamen Initiativen auf europäischer Ebene und die Zuweisung der Zuständigkeiten im Rahmen der geförderten Forschungsinitiativen zu koordinieren. Der EWSA ist der Auffassung, dass der SCAR-Ausschuss auf dem Prinzip einer grundlegenden Flexibilität beruhen sollte, um die bereits durchgeführten (4) oder noch durchzuführenden Reformen des sich ständig weiterentwickelnden rechtlichen Rahmens der Gemeinsamen Agrarpolitik begleiten zu können.

1.5.   Bei der gemeinsamen Programmplanung ist der Prognose- und Analyseprozess eng mit dem Kartierungsprozess verknüpft, mit dessen Hilfe sich dank der Lieferung von Kennzahlen und Statistiken zu den Schwächen, Entwicklungen und Erfordernissen im Hinblick auf die Organisation der Agrarforschung in den einzelnen Ländern ein Gesamtbild der Entwicklungen in der Agrarforschung innerhalb der EU zeichnen lässt. Bislang wurden diese Informationen über das Projekt „EU-AGRI-Mapping“ bereitgestellt, eine Initiative im Rahmen des Sechsten Forschungsrahmenprogramms der EU. Angesichts der im Verlauf dieses Projekts aufgetretenen Schwierigkeiten ist der EWSA der Ansicht, dass die Kartierung nicht auf Ad-hoc-Initiativen beruhen darf, sondern es sich hierbei um einen kontinuierlichen und laufend aktualisierten Prozess handeln sollte.

2.   Wesentlicher Inhalt der Mitteilung

2.1.   Ein neuer Rahmen für die Agrarforschung in Europa

2.1.1.   Die Landwirtschaft in Europa muss neue Herausforderungen bewältigen, wie beispielsweise den demografischen Wandel in der Landwirtschaft und eine veränderte Struktur der Betriebe, die Auswirkungen der Anwendung moderner Landwirtschaftsmethoden auf die Beschäftigung, die Entwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und die globalen Faktoren, die sich auf den Sektor auswirken.

2.1.2.   Es ist weithin anerkannt, dass sich diese Herausforderungen in Europa nur mit Hilfe eines starken Agrarforschungsraums bewältigen lassen. Die Agrarforschung muss die erforderlichen Erkenntnisse liefern, um zu einem profunden Verständnis der Entwicklung des ländlichen Raums sowie der Antriebskräfte und Hindernisse einer nachhaltigen Entwicklung gelangen zu können. Sie muss auch die für die Entwicklung des Agrarsektors erforderlichen neuen Technologien und Innovationen bereitstellen und außerdem die Gewinnung von Erkenntnissen ermöglichen, um die Marktdynamiken besser zu begreifen. Doch sind die Forschungsbemühungen häufig fragmentarisch und schlecht aufeinander abgestimmt und außerdem mangelt es an Investitionen und kritischer Masse. Europa verfügt insbesondere dank des EU-Rahmenprogramms über eine Reihe von Mechanismen zur Förderung der gesamteuropäischen Forschungszusammenarbeit. Im Rahmen des ERA-NET-Programms werden daher Finanzmittel für die Vernetzung der nationalen Programme, Ministerien oder Fördereinrichtungen in allen wissenschaftlichen Bereichen bereitgestellt. Der Europäische Rat kam im November 2004 zum dem Schluss, dass eine stärker strukturierte Strategie von Vorteil für die Zusammenarbeit in diesem Bereich wäre. In diesem Zusammenhang geht das kürzlich entwickelte Konzept der gemeinsamen Programmplanung einen Schritt über das ERA-NET-Programm hinaus: Die Mitgliedstaaten sollen bei der Festlegung gemeinsamer Ziele und strategischer Forschungsagenden direkt zusammenarbeiten und Ressourcen bündeln, um konkrete Fragen gemeinsam angehen zu können. Der SCAR-Ausschuss wurde im Hinblick auf neue Verfahren der gemeinsamen Programmplanung bereits als positives Beispiel für eine mögliche Vernetzung genannt.

2.2.   Lenkungsfunktion des Ständigen Agrarforschungsausschusses (SCAR)

2.2.1.   Nach einigen Jahren geringer Aktivität erteilte der Rat der Europäischen Union dem SCAR-Ausschuss im Jahr 2005 einen neuen Auftrag, mit dem ihm eine wesentliche Rolle bei der Koordinierung der Agrarforschungsbemühungen in Europa zugewiesen wird. Der neue SCAR-Ausschuss umfasst Teilnehmer aus den 27 Mitgliedstaaten, die Vertreter der Kandidatenländer und assoziierten Länder haben Beobachterstatus. Zu den vom SCAR-Ausschuss unterstützten Initiativen zur Förderung eines europäischen Agrarforschungsraums gehören - neben der gemeinsamen Programmplanung - der Prognoseprozess zur Ausarbeitung möglicher langfristiger Szenarien der europäischen Landwirtschaft und der Kartierungsprozess zur Ermittlung der Erfordernisse und Entwicklungen der Agrarforschung in der EU.

2.2.2.   Der SCAR-Ausschuss hat einen strukturierten Ansatz angenommen, um für eine künftige engere Zusammenarbeit eine Priorisierung der Forschungsthemen vorzunehmen. Dazu wurde eine Reihe von gemeinsamen Arbeitsgruppen (Collaborative Working Groups, CWG) eingerichtet, an denen die Mitgliedstaaten und assoziierten Staaten beteiligt sind. Die CWG gehen ebenso wie die ERA-NET-Netze schrittweise vor: sie konzentrieren sich zunächst auf den Informationsaustausch, bestimmen dann, wo es bei den verschiedenen Forschungsgebieten und Schwerpunktbereichen an Zusammenarbeit mangelt, und leiten schließlich eventuell erforderliche gemeinsame Maßnahmen bzw. gemeinsame Forschungsaufrufe ein.

2.3.   Entscheidende Maßnahmen für die Entwicklung einer kohärenten europäischen Agrarforschungsagenda

2.3.1.   Es gilt, sich rasch eine genauere Kenntnis davon zu verschaffen, welche Faktoren den mit dem Klimawandel zusammenhängenden Prozessen zugrunde liegen, um dessen negative Auswirkungen zu mildern und die Wasser- und Bodenressourcen sowie die biologische Vielfalt zu erhalten. Dabei soll im europäischen und globalen Rahmen eine nachhaltigere Landwirtschaft unterstützt und zu gefördert werden. In diesem Zusammenhang bilden der Klimawandel und die Energieressourcen vorrangige Forschungsbereiche.

2.3.2.   Die Forschung könnte auf diesem Gebiet eine wichtigere Rolle spielen, wenn die verschiedenen Akteure stärker in die Agendaplanung eingebunden würden und dank Maßnahmen wie den Innovationsnetzen am Prozess mitwirken könnten. Aus diesem Grund beabsichtigt die Kommission, die Gewinnung und gemeinsame Nutzung von Erkenntnissen im Agrarbereich über den SCAR-Ausschuss und das europäische Netzwerk für ländliche Entwicklung zu verstärken (5). Mit Blick auf eine Konsolidierung der gemeinsamen Forschungsplanung für eine bessere Steuerung des europäischen Agrar- und Lebensmittelsystems könnte die strategische Rolle des SCAR-Ausschusses entsprechend weiter gestärkt werden. So könnte dieser als Aufsichtsstelle zur Überwachung der verschiedenen Tätigkeiten aller öffentlichen europäischen Forschungseinrichtungen im Agrarbereich fungieren.

2.3.3.   Zur Entwicklung langfristiger Forschungsagenden, die auf gemeinsamen Leitlinien und Zielen beruhen, muss ein Überwachungsmechanismus erarbeitet werden, der eine Kombination von Instrumenten zur Prognoseanalyse und zur Kartierung der Forschungskapazitäten umfasst.

2.3.4.   Die Verantwortung, die Europa in einer globalisierten Wirtschaft zukommt, darf nicht außer Acht gelassen werden: die Nachhaltigkeit der Landwirtschaft wird sich in Zukunft sowohl direkt (z.B. über die Lebensmittelpreise) als auch indirekt (z.B. über die Migration) auf die EU und alle anderen Regionen der Welt auswirken. Daher sind generell politische Synergien auf dem Gebiet der Agrarforschung innerhalb und außerhalb Europas zu stärken, insbesondere die Synergien zwischen der Forschungspolitik der EU und der Mitgliedstaaten einerseits und den externen Politikbereichen wie Entwicklungshilfe- und Nachbarschaftspolitik andererseits.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Neue Rahmenbedingungen für die europäische Agrarforschung

3.1.1.   In den vergangenen 50 Jahren wurden Rolle und Funktionen der europäischen Landwirtschaft unter Einbeziehung der Bürger und Verbraucher im Zuge der Entwicklungen, die die europäische Gesellschaft und Wirtschaft geprägt haben, einem tiefgreifenden Wandel unterzogen: Aus einer „ländlichen“ wurde eine „post-industrielle“ Landwirtschaft. Folglich wird weithin die Ansicht vertreten, dass der Agrarsektor gemäß dem bekannten europäischen Agrarmodell unter dem Gesichtspunkt der Multifunktionalität oder der territorialen Aufgaben der Landwirtschaft betrachtet werden sollte, d.h. nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt der Produktivität. Demnach muss dasselbe Kriterium für die Definition von „Agrarforschung“ herangezogen werden. Hierdurch wird die vorrangige Rolle der Erzeugung von Agrarprodukten bestätigt, die auch durch die weltweite Lebensmittelkrise deutlich gemacht wurde. Die Frage der Wettbewerbsfähigkeit und der Ernährungssicherheit wird eine Herausforderung für die nahe Zukunft darstellen.

3.1.2.   In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA den gewählten Ansatz, der darin besteht, eine breiter gefasste Definition des Begriffs „Agrarforschung“ zu erarbeiten, die den Herausforderungen Rechnung trägt, die in der europäischen Landwirtschaft zu bewältigen sind, darunter insbesondere die Anpassung an den Klimawandel und dessen Eindämmung, die Entwicklung der erneuerbaren Energieträger aus Agrarprodukten, der Erhalt der biologischen Vielfalt, die nachhaltige Wasserbewirtschaftung, aber auch die Förderung der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und eine verbesserte Qualität der Erzeugung.

3.2.   Hin zu gemeinsamen Forschungsagenden

3.2.1.   In der Mitteilung der Kommission wird das neue Konzept der gemeinsamen Programmplanung (2) als neuer Ansatz für die Agrarforschung verfolgt, der auf die optimale Nutzung der begrenzten Finanzmittel mit dem Ziel einer besseren Zusammenarbeit ausgerichtet ist. Die gemeinsame Programmplanung wird derzeit mit einem Pilotprojekt in der Alzheimer-Forschung getestet. Ferner ist bis 2010 die Annahme weiterer Initiativen in anderen wichtigen Forschungsbereichen durch den Rat vorgesehen: In den Bereichen, in denen diese positive Ergebnisse hervorbringen, könnte sich die gemeinsame Programmplanung entscheidend auf die künftigen Mechanismen für die Zusammenarbeit in der Forschung auf europäischer Ebene auswirken.

3.2.2.   Die gemeinsame Programmplanung beruht auf der freiwilligen Beteiligung von Mitgliedstaaten in variabler Zusammensetzung an der Festlegung, Entwicklung und Umsetzung strategischer Forschungsagenden, die sich auf eine gemeinsame Sicht der Art und Weise stützen, wie die größten gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen sind. Dies kann bedeuten, dass zwischen bestehenden nationalen Programmen eine strategische Zusammenarbeit begonnen wird oder völlig neue Programme gemeinsam geplant und erstellt werden. In beiden Fällen beinhaltet dies, dass Ressourcen zusammengeführt und die am besten geeigneten Instrumente ausgewählt oder entwickelt werden, die Programme durchgeführt und die Fortschritte gemeinsam überwacht und überprüft werden.

3.2.3.   Angesichts der Tatsache, dass die Tätigkeiten in der Agrarforschung häufig fragmentarisch und wenig aufeinander abgestimmt sind, die Investitionen nicht ausreichen, es an einer gezielten Verbreitung der Ergebnisse sowie an kritischer Masse mangelt fehlt, begrüßt der EWSA das Konzept der gemeinsamen Programmplanung. Er erachtet es als ein ehrgeiziges Ziel, dank dessen in Verbindung mit einer pragmatischen und flexiblen Vorgehensweise eine strategische und strukturierte Agrarforschung eingeleitet werden kann

3.3.   Lenkungsfunktion des Ständigen Agrarforschungsausschusses (SCAR)

3.3.1.   Die Kommissionsmitteilung und das dazugehörige Arbeitsdokument der Dienststellen der Kommission enthalten eine ausführliche Beschreibung der Analyse-, Überwachungs-, Bewertungs- und Konsultierungsfunktionen sowie der organisatorischen und operationellen Arbeitsweise des SCAR-Ausschusses gemäß den Leitlinien, die der Rat Landwirtschaft und Fischerei auf seiner Tagung am 19. Juli 2004 aufgestellt hat. Insbesondere hätte der SCAR-Ausschuss die Aufgabe zu erfüllen, die nationalen Forschungsinitiativen im Agrar- und Lebensmittelsektor zu überwachen, sie auf gemeinschaftlicher Ebene zu koordinieren und realistische Prognosen für die langfristige Entwicklung der Prioritäten der Forschung auf diesem Gebiet zu erstellen.

3.3.2.   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Abstimmung auf gemeinschaftlicher Ebene von wesentlicher Bedeutung ist, um die gemeinsamen Herausforderungen angehen zu können und es der EU zu ermöglichen, auf internationaler Ebene mit einer Stimme zu sprechen. Dadurch wird eine Duplizierung vermieden, es können inhaltlich detailliertere Programme aufgestellt werden und der Wettbewerb um die Finanzmittel wird intensiver und die Qualität der Forschungsvorschläge nimmt somit zu. Jedoch darf nicht vergessen werden, dass sich die Lage im Forschungsbereich in den einzelnen Mitgliedstaaten stark voneinander unterscheidet und die nationale Programmplanung den besonderen einzelstaatlichen Bedürfnissen und Prioritäten Rechnung tragen muss, bei denen eine Zusammenarbeit auf europäischer Ebene nicht immer signifikante Vorteile in puncto Umfang und Reichweite erbringen würde. Deshalb müssen dem SCAR-Ausschuss Instrumente zur Verfügung stehen, die eine kontinuierliche und aktualisierte Überwachung gewährleisten.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Im Rahmen der entscheidenden Maßnahmen für die Entwicklung einer kohärenten europäischen Agrarforschungsagenda wird in der Kommissionsmitteilung als Priorität die Reduzierung der nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels, der Erhalt der Wasser- und Bodenressourcen und der Schutz der biologischen Vielfalt genannt. Der EWSA hält es für erforderlich, auch den sozialen Auswirkungen Rechnung zu tragen, wie auch in dem Bericht der FAO von 2008 Gender and Equity Issues in Liquid Biofuels Production („Geschlechts- und Gleichberechtigungsfragen bei der Produktion flüssiger Biobrennstoffe“) unterstrichen wird, in dem es um die Gesamtheit der Beziehungen zwischen Unternehmen, Beschäftigung und Regionen geht.

4.2.   Bei der Bestimmung der neuen Schwerpunktbereiche für die künftige europäische Agrarforschungsagenda sind neben dem Klimawandel und den mit der Landwirtschaft verbundenen Energieproblemen auch weitere Bereiche zu berücksichtigen. Dies sind die Bemühungen um den Erhalt der biologischen Vielfalt, die nachhaltige Nutzung der Wasserressourcen, die Abschätzung der Folgen des Anbaus und Inverkehrbringens von GVO für die Umwelt und die menschliche Gesundheit, Fragen im Zusammenhang mit dem Agrarnahrungsmittelsektor - unter besonderer Bezugnahme auf die Phase der Produktverarbeitung und die Biotechnologien. Überdies sind alle Innovationen, die Lösungen für diese Bereiche - die neue Herausforderungen darstellen - erbringen können, zu berücksichtigen, wie dies unlängst im Gesundheitscheck der reformierten GAP (November 2008) hervorgehoben wurde.

4.3.   Die Forschung könnte eine wichtigere Rolle spielen, wenn die einzelnen Akteure besser in die tatsächliche Agendaplanung einbezogen und in den Forschungsprozess integriert würden. Insbesondere ist es wichtig, die Unternehmen, vor allem die KMU, in die Bestimmung der Forschungsziele auf der Grundlage der tatsächlichen Bedürfnisse der Unternehmen selbst und in die Förderung der angewandten Forschung und des Technologietransfers durch die Gewährung des Zugangs zu den erforderlichen Mitteln einzubinden. Daher begrüßt der EWSA den Vorschlag der Kommission, die Verbindungen zwischen Wissen und Innovationen zu stärken, um die Interessen der Unternehmen und der Bürger miteinander in Einklang zu bringen, und fordert die Kommission auf, hierzu entsprechende Ausbildungsprogramme vorzusehen.

4.4.   Was insbesondere das Netz für die Entwicklung des ländlichen Raums (5) anbelangt, sollten weniger spezifische Maßnahmen eingeführt werden, die zu Koordinierungsproblemen bei den Regulierungsfunktionen des Netzes führen könnten, sondern vielmehr Mechanismen zur Förderung des Austauschs vorbildlicher Verfahren vorgesehen werden. Das europäische Netzwerk für die Entwicklung des ländlichen Raums und die europäischen Technologieplattformen sind neben den anderen Instrumenten für den Wissensaustausch strategische Lösungen, um auf europäischer Ebene gute Ideen, zuverlässige Informationen und praktische Erfahrungen auszutauschen und weiterzuentwickeln und so die Gewinnung von Erkenntnissen und die gemeinsame Nutzung von Wissen zu strukturieren und zu verstärken.

4.5.   Um die europäische Forschung - vor allem in den Entwicklungsländern - mit der internationalen Forschung zu vernetzen, müssen geeignete Mechanismen eingerichtet werden, mit denen die Effizienz und Wirksamkeit der geförderten Initiativen gewährleistet werden kann, insbesondere durch den Ausbau der lokalen Verwaltungskapazitäten und die Verbesserung der Qualität der relevanten Humanressourcen.

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Lebensmittelpreise in Europa“ (s. Seite 00 dieses Amtsblattes).

(2)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 56.

(3)  Verordnung (EWG) Nr. 1728/74, Art. 7.

(4)  Verordnung Nr. 72/2009/EG, Verordnung Nr. 73/2009/EG, Verordnung Nr. 74/2009/EG und Beschluss des Rates vom 19. Januar 2009 (2009/61/EG).

(5)  Verordnung (EG) Nr. 1698/2005, Artikel 67.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/111


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Lebensmittelpreise in Europa“

KOM(2008) 821 endg.

(2010/C 128/21)

Berichterstatter: József KAPUVÁRI

Die Europäische Kommission beschloss am 9. Dezember 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Lebensmittelpreise in Europa“

KOM(2008) 821 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 2. September 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) mit 75 gegen 5 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Die Verbesserung der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette sowie die Steigerung ihrer Effektivität und Wettbewerbsfähigkeit dürfen nicht auf eine Senkung der Lebensmittelpreise abzielen. Dies würde nämlich bedeuten, dass die Lebensmittelversorgungskette auf dem derzeitigen - falschen - Weg verbliebe. Vielmehr ist nachdrücklich für die Beibehaltung des Preis-Leistungs-Verhältnisses auf einem realistischen Niveau einzutreten. Durch eine Antizipation niedriger Preise in der Produktionskette werden letztlich die Investitions- und Innovationskapazität der Lebensmittellieferanten sowie die Wahl der Verbraucher eingeschränkt; die Kommission muss diese Faktoren und ihre Nebeneffekte mittel- und langfristig berücksichtigen und darf nicht mehr nur die unmittelbaren Vorteile niedriger Preise im Blick haben. Es wäre falsch zu behaupten, dass niedrige Lebensmittelpreise im Interesse des Verbrauchers sind. Im Interesse des Verbrauchers sind realistische Preise, wenn er für sein Geld eine seinen Ansprüchen entsprechende Qualität, Quantität und Dienstleistung bekommt. Zugleich ist der Ansatz vollkommen richtig, dass das Ausmaß der Preisvolatilität verringert werden soll. Auf diese Weise lassen sich die Sicherheit und Berechenbarkeit der Lebensmittelversorgungskette steigern.

1.2.   Die Europäische Union hat ein Interesse daran, dass ihre Verbraucher langfristig von den Vorteilen sicherer Lebensmittel profitieren können. Hierzu bedarf es einer weitgehenden Selbstversorgung mit Lebensmitteln. Eine nachhaltige Landwirtschaft lässt sich jedoch nur durch Forschung und Entwicklung, Innovation und technologische Entwicklung gewährleisten; hierfür sind die GAP-Mittel unverzichtbar. Gleichwohl muss sich der Zugang zu diesen Mitteln jedoch so gestalten, dass die Anpassung an die Marktbedingungen gefördert sowie die Bereitstellung von Informationen, die Zusammenarbeit und eine weitgehende Berücksichtigung der Aspekte ländlicher Entwicklung obligatorisch werden.

1.3.   Die genannten Einsatzbereiche lassen sich nur mit einer möglichst umfassenden sozialen Konzertierung ausweiten. Für jeden Bereich müssen die notwendigen Hintergrundanalysen vorgenommen, ein genauer Einsatzplan erarbeitet sowie die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten definiert werden. All dies ist unerlässlich, da sich jede Maßnahme für Lebensmittelpreise innerhalb eines komplexen Systems auswirkt. Lebensmittel sind der wichtigste Faktor des sozialen Zusammenhalts und gleichzeitig strategische Artikel, denen die Verbraucher vertrauen. Daher sind ihre Herstellungsbedingungen so zu gestalten, dass die langfristige Nachhaltigkeit nicht gefährdet wird.

1.4.   Investitionen in Rohstoffmärkte, die typischerweise über die Börsen erfolgen, lassen sich unmöglich beschränken, doch muss ein Weg gefunden werden, um die Auswirkungen der Faktoren einer irrealen Nachfrage abzuschwächen, denn diese stören das Gleichgewicht der landwirtschaftlichen Produktionsketten. Die EU ist sich ihrer Verantwortlichkeiten hinsichtlich der Lebensmittelversorgung der Entwicklungsländer bewusst, doch darf sie dabei ihre Hauptaufgabe nicht vergessen: ihren Bürgern eine umfassende Versorgung mit sicheren Lebensmitteln zu gewährleisten, ihre Abhängigkeit von den Weltmärkten zu beschränken und ihre Eigenständigkeit zu wahren.

1.5.   Der EWSA unterstützt die Initiative zur Einsetzung der Hochrangigen Gruppe für die Wettbewerbsfähigkeit der Lebensmittelindustrie durch den Kommissionsbeschluss vom 28. April 2008 (2008/359/EG) und erwartet die Ergebnisse ihrer Arbeit mit großem Interesse. Zu den wichtigsten Zielen ihrer Tätigkeit sollte die Erreichung einer größtmöglichen Stabilität der Lebensmittelmärkte gehören.

2.   Mitteilung der Kommission

2.1.   Im zweiten Halbjahr 2007 bewirkte der beschleunigte Preisanstieg von Agrarerzeugnissen einen deutlichen Anstieg der Verbraucherpreise von Lebensmitteln. Die Kommission hat auf diese Entwicklung mit der Vorlage der Mitteilung „Steigende Lebensmittelpreise - Ansätze der EU zur Bewältigung des Problems“ (KOM(2008) 321 endg.) reagiert.

2.2.   Die Kommission hält es für entscheidend, dass die Probleme, die in der Lebensmittelversorgungskette aufgrund von gesetzlichen Bestimmungen und Wettbewerbsbedingungen bestehen, ermittelt und gelöst werden. Anschließend umfasst die aus fünf Kapiteln bestehende Mitteilung eine Lageanalyse sowie Maßnahmenvorschläge zur Problemlösung.

2.3.   In der Mitteilung heißt es, dass der Preisanstieg auf eine Kombination aus strukturellen und temporären Faktoren zurückzuführen ist. Strukturelle Ursachen (weltweites Bevölkerungswachstum, steigende Einkommen in den Schwellenländern, neue Absatzmöglichkeiten) haben die weltweite Nachfrage gesteigert.

2.4.   „Im Zeitraum August 2007 bis Juli 2008 machte die Inflation bei den Lebensmitteln (ohne Alkohol und Tabak) etwa 1,0 Prozentpunkte der Inflation insgesamt aus.“ Charakteristisch für die Preisentwicklung waren unter anderem die unterschiedlichen Preissteigerungen für verarbeitete und unverarbeitete Lebensmittel, die auf den sogenannten Komponenten-Effekt zurückzuführen sind.

2.5.   Die Kommission rechnet im Laufe der nächsten beiden Jahre mit einem Rückgang der Lebensmittelinflation und mit einer Verringerung des Anteils der Lebensmittel an der Gesamtinflation.

2.6.   Nach Ansicht der Kommission waren die von einigen Ländern im vergangenen Jahr verhängten Agrarexportbeschränkungen eher schädlich als nützlich, weil sie die Marktsignale außer Acht gelassen haben.

2.7.   Wie die Gesamtzahl der noch ausstehenden Terminkontrakte von Marktteilnehmern zeigt, verzeichnen die Märkte für Agrarrohstoffe seit Anfang 2006 einen sprunghaften Anstieg der Investitionszuflüsse.

2.8.   Die Mitteilung umfasst einen tabellarischen Überblick über die Handelspraktiken, die sich aus wettbewerbsrechtlicher Sicht als bedenklich erweisen könnten:

Kartelle

Abnahmeverträge

Verkaufspreisbindung

Markenzwang

Eigenmarkenprodukte

Produktkopplung

Exklusivliefervereinbarung

Zertifizierungssysteme.

2.9.   Ausgehend von einer Analyse der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette hat die Kommission einen Fahrplan mit vier wesentlichen Komponenten für deren Verbesserung ausgearbeitet.

2.10.   Die Kommission hofft, dass die Empfehlungen der im Frühling 2008 eingesetzten Hochrangigen Gruppe für die Wettbewerbsfähigkeit der Lebensmittelindustrie zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Lebensmittelversorgungskette beitragen werden.

2.11.   Um die in Ziffer 4 genannten, als problematisch angesehenen und potenziell wettbewerbsschädlichen Praktiken einzudämmen, wird die Kommission im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes ihren kontinuierlichen Dialog mit den nationalen Wettbewerbsbehörden fortsetzen, um EU-weit eine kohärente, gut abgestimmte Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften zum Nutzen der europäischen Verbraucher zu gewährleisten.

2.12.   Im Zusammenhang mit der Überprüfung von Vorschriften, die sich für die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette als problematisch erweisen könnten, auf nationaler und/oder gemeinschaftlicher Ebene, werden in der Mitteilung folgende Vorschriften und Praktiken genannt:

Vorschriften, die den Marktzutritt neuer Unternehmen beschränken;

Vorschriften, die die Möglichkeiten der Unternehmen zum Preiswettbewerb einschränken und auf nationaler Ebene überprüft werden sollten;

Praktiken, die das Verhältnis zwischen Lieferanten und Einzelhändlern verzerren und verhindert werden sollten.

2.13.   Die Kommission wird mit den Regulierungsbehörden der Rohstoffmärkte und in engem Kontakt mit den Regulierungsbehörden von Drittländern (insbesondere der USA, wo die wichtigsten Börsen angesiedelt sind) prüfen, welche Maßnahmen zur Eindämmung der Preisvolatilität auf den Agrarrohstoffmärkten getroffen werden könnten.

2.14.   Ausgehend von diesem Arbeitsprogramm und den damit verbundenen Maßnahmen wird die Kommission die Möglichkeit weiterer Initiativen prüfen und schlägt vor, dass sich der Europäische Rat im Dezember 2009 erneut mit diesem Thema befasst.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Während die für den Preisanstieg von Agrarerzeugnissen verantwortlichen strukturellen Faktoren mittelfristig fortbestehen, deuten die Preisschwankungen der letzten beiden Jahre darauf hin, dass der Markt für Agrarerzeugnisse künftig mit einer zunehmenden Preisvolatilität konfrontiert sein wird. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise bewirkt lediglich eine Abflachung der Zunahme der globalen Nachfrage, so dass sich die Mitte 2007 entstandenen Prozesse jederzeit wiederholen können und die Märkte für Agrarerzeugnisse folglich noch unberechenbarer werden. Darüber hinaus ist es unmöglich, sich an eine durch spekulative Preismanipulierung erzeugte irreale Nachfrage anzupassen, denn dies würde ein Maß an Flexibilität erfordern, das den Merkmalen und Möglichkeiten der landwirtschaftlichen Erzeugung zuwiderliefe.

3.2.   Die Europäische Union ist der Ansicht, dass die Agrarpreisschwankungen nicht nur den gesamten Agrarsektor, sondern über die Lebensmittelpreise auch alle Verbraucher treffen. Um unmittelbar und umfassend auf diese Schwankungen einzuwirken, muss die Stellung der EU-Landwirtschaft neu bewertet werden. Hierfür wäre die Hochrangige Gruppe für die Wettbewerbsfähigkeit der Lebensmittelindustrie ein angemessenes Forum. Dabei sind (I) die landwirtschaftliche Zukunft der EU und (II) die künftige Stellung der Landwirtschaft in der Gemeinschaftspolitik zu klären und (III) zu prüfen, wie die Auswirkungen der Marktöffnung zu handhaben sind und (IV) wie wieder Ausgewogenheit in die Beziehungen innerhalb der Lebensmittelversorgungskette gebracht werden kann.

3.3.   Zwar wurden seit der Schaffung der GAP hinsichtlich der innergemeinschaftlichen territorialen Spezialisierung keinerlei Fortschritte erzielt, doch gibt es hierfür auf dem Weltmarkt deutliche Anzeichen. Durch die schrittweise Öffnung ihrer Märkte für Waren aus Drittländern setzt die EU ihre Landwirte einer Konkurrenz zu unfairen Bedingungen aus, so dass die europäischen Erzeuger Marktanteile verlieren. Mittelfristig könnte diese Realität die ländliche Wirtschaft in Europa ernsthaft gefährden. Folglich kann die Europäische Union ihre offene Handelspolitik nur dann fördern, wenn sie die verschiedenen Formen der finanziellen Unterstützung für landwirtschaftliche Erzeuger und ausreichende Anreize für die Wahrung des Produktionsniveaus beibehält.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Preisentwicklung bei Agrarrohstoffen und Lebensmitteln

4.1.1.   In der Zeit nach der Krise dürfte die Nachfrage nach Agrarerzeugnissen erneut schneller als das Angebot steigen, so dass diese Erzeugnisse wieder interessanter für Risikokapital werden dürften. Dies wird zu ähnlichen Preisschwankungen wie in den letzten beiden Jahren führen, wenn die Preisfluktuationen von Agrarerzeugnissen höhere Erträge als andere Finanzmarktkonstruktionen abwerfen. Im Konjunkturzyklus nach der Krise ist die Wahrscheinlichkeit von Schwankungen geringer als 2007. Mittelfristig ist jedoch mit einer fortgesetzten Preisvolatilität zu rechnen.

4.1.2.   Wie das Europäische Parlament in einer Entschließung vom 26. März 2009 (2008/2175(INI)) unterstrichen hat, erhalten die landwirtschaftlichen Erzeuger und die Lebensmittelverarbeiter einen immer geringeren Anteil von den Verbraucherpreisen für Lebensmittel. So wird verständlich, warum Preisschwankungen am Anfang der Produktionskette sich nur geringer und langsamer auf den Verbraucherpreis auswirken.

Der Anstieg der Verbraucherpreise von Lebensmitteln betrifft vor allem diejenigen, deren Einkommen großenteils für den Einkauf dieser Waren aufgewandt wird. Dies hängt eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung des jeweiligen Landes zusammen. Daher ließ sich beobachten, dass sich der Anstieg der Lebensmittelpreise in den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union am stärksten auf die Inflation ausgewirkt hat. In diesen einkommensschwächeren Mitgliedstaaten können die Lebensmittelausgaben 40-50 % aller Haushaltsausgaben ausmachen.

4.1.3.   In den nächsten Jahren dürften die Lebensmittelpreise höher als der Durchschnitt der Jahre 2002-2006, aber niedriger als Ende 2007 ausfallen, während die Preisvolatilität weiterhin hoch sein wird. Zu den ungünstigen Veränderungen der letzten beiden Jahre zählt auch die gestiegene Empfindlichkeit der Preise gegenüber Marktinformationen. Da mit einer Zunahme der Informationen über das Angebot wie auch die Nachfrage betreffende Faktoren zu rechnen ist, dürften die Preisschwankungen andauern. Hierbei spielen die Medien erneut eine wichtige Rolle, da effektive Medien den Märkten direkte Informationen über das gesamte globale Geschehen ermöglichen.

4.1.4.   Auch die landwirtschaftlichen Erzeuger der EU müssen sich auf eine konstant steigende Nachfrage nach Lebensmitteln einstellen. Die gemeinschaftliche Agrarerzeugung ist in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht zu verbessern. Eine große Verantwortung kommt hierbei jedoch der GAP zu: Sie muss dafür Sorge tragen, dass die schrittweise Öffnung der EU-Märkte nicht die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Agrar- und Lebensmittelsektors gefährdet. Die EU benötigt eine langfristige Agrarstrategie, im Rahmen derer festgelegt ist, welchen Selbstversorgungsgrad die EU für die unterschiedlichen Produkte anstrebt. Es muss jedoch klar sein, dass die Europäische Union mittelfristig zahlreiche Erzeugnisse einführen wird.

4.2.   Bedeutung der Spekulation für die Agrarrohstoffpreise

4.2.1.   Es ist wichtig zu wissen, dass Swap-Händler, Banken und multinationale Unternehmensgruppen auf den internationalen Geldmärkten immer größere Vermögen in Form von Renten-, Deckungs- und Staatsfonds anhäufen. Aufgrund ihrer Größe üben diese Akteure großen Einfluss auf die Märkte aus, auf denen sie operieren. Da sie jedoch in den traditionellen Investitionsbereichen für Finanzmittel keine angemessene Rendite erzielen konnten, wandten sie sich den Warenmärkten zu.

4.2.2.   Spekulativen Risikoinvestitionen ist es eigen, dass sie die Preise nicht dauerhaft, sondern kurzfristig beeinflussen. Die Landwirtschaft muss dies sowie allgemein die Entwicklung der Finanzmärkte ebenfalls berücksichtigen. Diese Geldmarktprodukte, die bedeutende Agrarpreisschwankungen hervorrufen, ohne dass dahinter Warenbewegungen stünden, sind keine gute Stütze für die Preisbewegungen auf den tatsächlichen Märkten.

4.3.   Überwachung der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette

4.3.1.   Wie auch im einschlägigen Arbeitsdokument der Kommission (SEK(2008) 2972) festgestellt wird, hängen die Ereignisse der letzten beiden Jahre auf den Agrarmärkten eng mit den Störungen der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette zusammen. Die Verteilung der Preise der Agrarprodukte innerhalb der Kette veranschaulicht deutlich die Fähigkeit der einzelnen Glieder, ihre Interessen durchzusetzen.

4.3.2.   Die Aufgabe der Wettbewerbsbehörden, die wettbewerbsschädliche Wirkung des Konsolidierungsprozesses der Lebensmittelversorgungskette zu beurteilen, ist demnach ziemlich schwierig. Es ist wichtig, die in bestimmten Fällen auftretenden wettbewerbsschädlichen Praktiken und wettbewerbsrechtlichen Probleme im Verhältnis zwischen Lebensmittellieferanten und dem Handel als Glied der Produktionskette, auf die von der Kommission hingewiesen wird, anzugehen, um die Bedingungen an die tatsächliche Wirtschafts- und Marktlage anzupassen. Wie von der Kommission hervorgehoben wird, muss EU-weit für eine kohärente, gut abgestimmte Durchsetzung der Wettbewerbsregeln gesorgt werden. Die Fragmentierung der Lebensmittelversorgungskette ist immer noch so groß, dass die einzelnen Transaktionen aus Sicht des Binnenmarktes nicht wettbewerbsschädlich erscheinen. Die in dem Dokument erörterten Praktiken untermauern die Feststellung, dass ein gewisser – je nach Erzeugnis und Mitgliedstaat unterschiedlicher – Konzentrationsgrad mit Blick auf die Wettbewerbsbeschränkung ernsthafte Gefahren birgt. Das Entstehen von Verarbeitungskapazitäten, die – aufgrund von größenbedingten Einsparungen – auf verschiedenen Produktmärkten eine marktbeherrschende Stellung schaffen können, bewirken u.U. die Homogenisierung des Angebots und das Verschwinden der kleinen und mittleren Unternehmen vom Markt. Das gilt besonders, seit die Handelsmarken großen Einfluss auf die Märkte haben. Andererseits kann die derzeitige Dominanz der Preiswettbewerbsfähigkeit in der Handelspolitik zu einem geringeren Nährwert der Produkte führen. Während der Konformitätsgrad der Lebensmittelsicherheit steigt, stellt das Lebensmittelangebot aufgrund des Ersatzes natürlicher durch künstliche und weniger nahrhafte Zutaten die qualitativen Ansprüche der Verbraucher immer weniger zufrieden.

4.3.3.   Es wird vorgeschlagen, die in Tabelle 1 aufgeführten wettbewerbsschädlichen Praktiken um die im Großhandel übliche Rückzahlungspraktik zu ergänzen. Diese Praktik ermöglicht es, die Lieferantenpreise von den tatsächlichen Kosten und zugleich die Verbraucherpreise von den Bezugspreisen zu entkoppeln. So entstehen irreal niedrige Bezugspreise, die weit jenseits des durch Effizienzsteigerung erreichbaren Maßes liegen. Natürlich sind wettbewerbsschädliche Praktiken wie Kartelle und Exklusivliefervereinbarungen inakzeptabel, ebenso wie die Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung, um den Lieferanten einseitig Bedingungen zu diktieren. Diese Technik der doppelten Gewinnspanne – außer auf die Verbraucher realisieren die Händler (über die Rückzahlungen) auch auf die Lieferanten eine bedeutende Gewinnspanne – verschleiert zudem das Ausmaß der Handelsspannen und trägt zur Verzerrung der Einkommensverhältnisse innerhalb der Lebensmittelversorgungskette bei. Sie ist insofern wettbewerbsschädlich, als von den Lieferanten erwartet wird, sich an einen Preis anzupassen, der in keinerlei Verhältnis zu den Produktionskosten steht.

4.3.4.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) teilt uneingeschränkt die Sorgen der Kommission hinsichtlich einiger wettbewerbsschädlicher Praktiken, die die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette verändern können. In diesem Zusammenhang muss offensichtlich das unausgewogene Kräfteverhältnis zwischen Erzeugern, Verarbeitern und Einzelhändlern stärker beachtet werden. Die nachgelagerte Machtkonzentration bewirkt eine beherrschende Stellung der Einzelhändler gegenüber den Erzeugern und Verarbeitern und ermöglicht unerwünschte missbräuchliche Praktiken. Daher sollte der Schwerpunkt des Ansatzes für das Verbraucherwohl nicht nur auf kurzfristigen, sondern auch auf langfristigen Preissenkungen liegen, wobei die direkten wie die indirekten Auswirkungen zu berücksichtigen sind, um finanzielle Schwierigkeiten der Zulieferer, unzureichende Innovation, eine eingeschränkte Auswahl und langfristig sogar Preissteigerungen zu vermeiden.

5.   Vorschläge zur Verbesserung der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette

Eine korrekte Aufteilung der Vergütungen auf die einzelnen Stufen der Versorgungskette ist eine sehr komplexe Aufgabe, die weitreichende Eingriffe in die Marktmechanismen erfordert. Diese Maßnahmen sind jedoch unabdingbar, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Lebensmittel auf einer realen Grundlage zu steigern.

5.1.1.   Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Kommission um einen transparenten Markt. Ein besseres Verständnis der Funktionsweise des Marktes und der Rolle der einzelnen Glieder der Kette wird stets von Nutzen sein. Sehr wichtig ist eine detaillierte Analyse dieser Kette, damit die Behörden im Falle von Mängeln oder Störungen in der Kette die notwendigen Korrekturen vornehmen können. Der EWSA unterstützt daher ausdrücklich die in der Kommissionsmitteilung vorgeschlagenen Maßnahmen und wird bei ihrer Umsetzung uneingeschränkt kooperieren.

Gleichwohl sollte die Kommission jedoch bedenken, dass die Bedingungen von Branche zu Branche und gar von Land zu Land variieren und daher auch die - eher dynamischen als statischen - preisbestimmenden Faktoren voneinander abweichen.

Sämtliche Kommissionsmaßnahmen zur Konzeption und Einrichtung eines ständigen Instruments zur Kontrolle der Lebensmittelpreise und der Einkommensverteilung über die Kette sollten auf diesen Fakten beruhen, und die erzielten Ergebnisse sollten als Bezugspunkt und nicht etwa als unumstößliche Wahrheit angesehen werden.

5.1.2.   Die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Lebensmittelversorgungskette ist nur denkbar, wenn die interne Zusammenarbeit bedeutend besser wird. In der Tat suggeriert der Ausdruck „Kette“, dass die einzelnen „Glieder“ nur mit denjenigen kooperieren, mit denen sie direkt verbunden sind, während sich wirkliche Effizienz nur garantieren lässt, wenn alle Glieder der Kette zusammen an der Verwirklichung der gemeinsamen Interessen arbeiten. Wenn tatsächlich gilt, dass die Ansprüche der Verbraucher durch die Produkte die Bedingungen für die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette bestimmen sollen, dann ist es dringend erforderlich, die Überlegungen innerhalb der Branche voranzutreiben.

5.1.3.   Die Europäische Union muss der Tatsache ins Auge sehen, dass ein Großteil der in der Kommissionsmitteilung aufgeführten Faktoren nicht mit wettbewerbspolitischen Instrumenten angegangen werden kann. Die Harmonisierung des Wettbewerbsrechts und die Zusammenarbeit der Wettbewerbsbehörden eignen sich nur für klassische Fälle (wie Kartelle oder irreführende Werbung). Die Erfahrung zeigt, dass das Wettbewerbsrecht aufgrund der bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse für die in Tabelle 1 aufgeführten Situationen nicht geeignet ist. Bezeichnenderweise ist festzustellen, dass der von den verschiedenen Handelsketten auf den Markt ausgeübte Einfluss auf Gemeinschaftsebene zwar keinen Eingriff der Wettbewerbsbehörden rechtfertigt, auf Seiten der Lieferanten die Abhängigkeit von Ketten und Einkaufszentralen jedoch zu einem entscheidenden Faktor für das Fortbestehen der Unternehmen geworden ist. Als Folge davon ist die Kooperation einseitig geworden.

Gleichzeitig könnte eine Verschärfung der wettbewerbsrechtlichen Sanktionen tatsächlich von der Irreführung der Verbraucher abschrecken.

Der Verbraucherschutz wird in den kommenden Jahren weiter an Bedeutung gewinnen. Dies hängt mit der Qualität der Lebensmittel, die aufgrund der Marktöffnung aus Drittländern auf den Binnenmarkt kommen, sowie mit ihren Herstellungsbedingungen zusammen. Der Anstieg der Importe ist u.a. darauf zurückzuführen, dass die Verbilligung der Lebensmittel aufgrund der Fixierung auf den Preis zur zentralen Frage geworden ist. Dies wiederum geht mit verstärkten Risiken in punkto Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutz einher, da ein Großteil der Produkte aus Regionen stammt, deren Kultur der Lebensmittelherstellung weit hinter der europäischen zurückliegt.

5.1.4.   Die Möglichkeiten, in die Geschäftspolitik der Handelsketten einzugreifen, sind gering. Dennoch sollten alle Instrumente genutzt werden, um diese Politik so zu lenken, dass niedrige Preise (stellenweise sogar Niedrigstpreise) nicht mehr im Mittelpunkt stehen. Hauptfolge ist die derzeitige verzerrte Einkommensverteilung innerhalb der Lebensmittelversorgungskette. Außerdem wird der Blick der Verbraucher dadurch erheblich verstellt.

5.1.5.   Die Europäische Union kann nur dann wirksam in die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette eingreifen, um Störungen zu korrigieren bzw. deren Effizienz zu erhöhen, wenn sie sich auf geeignete Informationen stützen kann. Eine weitere wichtige Aufgabe der Europäischen Union besteht darin, den Informationsstand der europäischen Verbraucher zu erhöhen, damit diese fundiertere Kaufentscheidungen treffen können. Die Verbraucher sind der Schlüssel für das Fortbestehen und die nachhaltige Entwicklung der europäischen Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie. Das bewusste Verhalten der europäischen Verbraucher kann zur Wahrung eines der Grundprinzipien der Gemeinschaft beitragen: der Präferenz für innerhalb der EU hergestellte Waren - ein Prinzip, das in den unter den GATT- und WTO-Verhandlungen zwangsläufig missachtet wurde.

Bei der Ausgestaltung des Überwachungsinstruments sollten Anreize in das System eingebaut werden, die dafür sorgen, dass die Marktteilnehmer zuverlässige Informationen liefern. Darunter sind Sanktionen (wie z.B. Steuerprüfungen), Steuerbefreiungen oder Unterstützungsmöglichkeiten zu verstehen. Die Transparenz auf freiwilliger Basis ist keine echte Alternative.

5.1.6.   Um die schädliche Wirkung der Spekulation abzufedern, sollte eine Regelung erwogen werden, die den Abschluss von Börsengeschäften nur dann ermöglicht, wenn diese tatsächlich durch Waren gedeckt sind. Bei der derzeitigen Börsenpraxis lassen sich nämlich die Preise auf dem Börsenparkett, das ja die Grundlage für Preisänderungen auf dem Lokomarkt bildet, mit minimalen Warenbewegungen erheblich beeinflussen.

5.1.7.   Die Verkürzung der Lebensmittelversorgungskette

Eine direktere Verbindung zwischen landwirtschaftlichem Erzeuger und Verbraucher ist eine gute Möglichkeit, die Funktionsweise der Versorgungskette zu verbessern. Nach dem Vorbild der Schulmilch- und Schulobstprogramme sollten Anreize zum Aufbau von Direktkontakten geschaffen werden. Eine Möglichkeit, die geradezu auf der Hand liegt, ist die Förderung der traditionellen Erzeugermärkte. Hierdurch würde - neben vielen anderen Vorteilen - das Überleben dieser ländlichen Lebensform sowie der kleinen und mittleren Agrarbetriebe gewährleistet.

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/116


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein umfassendes Klimaschutzübereinkommen als Ziel für Kopenhagen“

KOM(2009) 39 endg.

(2010/C 128/22)

Berichterstatter: Thomas McDONOGH

Die Europäische Kommission beschloss am 28. Januar 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein umfassendes Klimaschutzübereinkommen als Ziel für Kopenhagen“

KOM(2009) 39 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 2. September 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) mit 168 gegen 2 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist sehr enttäuscht, dass die Staats- und Regierungschefs der EU immer noch keine Einigung über die Finanzierung der Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels erzielen konnten.

1.2.   Der Ausschuss empfiehlt, im Einklang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen ein langfristiges Ziel (bis 2050) für die CO2-Emissionen von 2 Tonnen pro Kopf und Jahr festzulegen, um die Erderwärmung auf unter 2 °C zu beschränken.

1.3.   Der Ausschuss bekräftigt, dass die EU sich das ehrgeizige Zwischenziel setzen sollte, die globalen Treibhausgasemissionen bis 2020 um 30 % im Vergleich zu 1990 zu verringern, vorausgesetzt andere Industrie- und Schwellenländer verpflichten sich auf vergleichbare Emissionssenkungen.

1.4.   Die Industrieländer sollten ihren Klimagasausstoß bis 2050 gegenüber 1990 um mindestens 80 % senken.

1.5.   Der Ausschuss schließt sich der Meinung der Kommission an, dass die Entwicklungsländer als Gruppe (ausgenommen die am wenigsten entwickelten Länder in Afrika) sich darauf verpflichten sollten, die Zunahme ihrer Emissionen bis 2020 auf 15 bis 30 % weniger als in einem „Business-as-usual“-Szenario zu begrenzen.

1.6.   Die Emissionen aus dem Luft- und Seeverkehr sollten in die Verhandlungen in Kopenhagen einbezogen werden.

1.7.   Der Ausschuss wiederholt die Notwendigkeit, die Abholzung der Tropenwälder bis 2020 um mindestens 50 % gegenüber den derzeitigen Werten zu verringern, wobei gleichzeitig eine nachhaltige Bewirtschaftung der Wald-, Grünland-, Feucht- und Torfgebiete in den übrigen Industrieländern sowie in Zukunft auch in den Entwicklungsländern sichergestellt werden muss.

1.8.   Wie die Kommission befürwortet auch der Ausschuss eine internationale Vereinbarung, um den im Kyoto-Protokoll genannten Gasen weitere fluorierte Treibhausgase hinzuzufügen.

1.9.   Es müssen angemessene finanzielle Mittel für die globale (und regionale) klimawandelrelevante Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration bereitgestellt werden.

1.10.   Der Ausschuss befürwortet eine proaktive Bildungspolitik und Öffentlichkeitsarbeit zur Förderung des Verständnisses des Klimawandels und seiner Auswirkungen, die sich an die Bürger Europas und darüber hinaus richtet.

1.11.   Die derzeitige weltweite Rezession darf kein Grund dafür sein, dass dringend benötigte, entscheidende Klimaschutzmaßnahmen nicht ergriffen werden.

2.   Einleitung

2.1.   In Anbetracht der seit Vorlage des Vierten Sachstandsberichts (AR4) des IPCC (Weltklimarat) gewonnenen jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse ist der Ausschuss mehr denn je überzeugt, dass und unmittelbar Maßnahmen ergriffen werden müssen.

2.2.   Eine Erderwärmung von 2 °C gegenüber vorindustriellen Werten wurde von den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten 1996 als maximal vertretbare Obergrenze vorgegeben und seither auf Tagungen des Europäischen Rates und des Umweltrates und jüngst auch von der EU Climate Change Expert Group bekräftigt, denn ein höherer Temperaturanstieg würde aufgrund von gesundheitlichen Auswirkungen, Wasserverknappung, Ernährungsunsicherheit und Klimaflucht voraussichtlich zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Spannungen führen. Die 2 °C-Grenze kann jedoch keineswegs als sicher gelten, da beispielsweise das arktische Meereis schon bei der derzeitigen globalen Durchschnittstemperatur, die 0,8 °C höher liegt als vorindustrielle Werte, wesentlich schneller schmilzt als erwartet.

2.3.   Die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse sind alarmierender als die Schlussfolgerungen des Vierten Sachstandberichts des IPCC. Das Global Carbon Project hat bestätigt, dass die Kohlendioxidemissionen beschleunigt ansteigen und ihre Zunahme (durchschnittlich 3,5 % in den Jahren 2000-2007, also nahezu das Vierfache des Jahresdurchschnitts von 0,9 % zwischen 1990 und 1999) sogar das pessimistische Szenario des Sonderberichts des Weltklimarates über Emissionsszenarien übertrifft.

3.   Emissionsziele

3.1.   Hintergrundinformationen

Auf das Konto der Industrieländer mit ca. 1 Mrd. Einwohner bei einer Weltbevölkerung von insgesamt 6,7 Mrd. Menschen im Jahr 2008 gehen ca. 70 % aller Emissionen seit 1950. Künftig werden die sog. „Entwicklungs“länder den Großteil der Emissionen verursachen.

Die weltweiten Emissionen lagen 1990 und 2000 bei rund 40 Gt Kohlendioxidäquivalente jährlich und 2008 bei rund 50 Gt Kohlendioxidäquivalente jährlich. Die weltweiten CO2-Emissionen pro Kopf und pro Jahr beliefen sich 1990 und 2000 auf 7 bis 7,5 t und 2008 auf nahezu 8 t. Zu diesem Schluss gelangt auch das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, demzufolge die Treibhausgasemissionen bis 2050 um mehr als 50 % im Vergleich zu 1990 gesenkt werden müssen, wenn das Risiko einer Erderwärmung von über 2 °C höchstens 25 % (ein immer noch nicht unerhebliches Risiko) betragen soll.

3.2.   Der Ausschuss empfiehlt, im Einklang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem einhelligen wissenschaftlichen Konsens ein längerfristiges Ziel (bis 2050) von 2 Tonnen Kohlendioxidäquivalenten pro Kopf und Jahr festzulegen, das dem Zielwert für eine Stabilisierung der Klimagasemissionen bei ca. 500 ppm Kohlendioxidäquivalenten entspricht. Das Ziel von 2 Tonnen pro Kopf und Jahr sollte auf nationaler Ebene gefördert werden.

3.3.   Der Ausschuss befürwortet die von der Kommission genannten Emissionsminderungsziele, dass nämlich die globalen Emissionen bis 2050 gegenüber 1990 um mindestens 50 % gesenkt werden müssen.

3.4.   Der Ausschuss stimmt dem Vierten Sachstandsbericht des IPCC (AR4) und den Erkenntnissen aus jüngeren Untersuchungen zu, dass sich die Industrieländer zu einer Reduzierung bis 2050 um mindestens 80 % gegenüber 1990 verpflichten sollten.

Die EU ist mit gutem Beispiel vorangegangen und hat sich einseitig verpflichtet, ihre Emissionen bis 2020 um 20 % gegenüber 1990 zu reduzieren.

3.5.   Der Ausschuss stimmt außerdem mit der Kommission überein, dass die EU sich wie vorgeschlagen eine weitreichendere Emissionsminderung, und zwar um 30 %, zum Ziel setzen sollte, vorausgesetzt, andere Industrieländer verpflichten sich auf vergleichbare und die Schwellenländer auf angemessene Emissionssenkungen. Auf die genannten Ziele sollten sich nicht nur alle Anhang-I-Länder von Kyoto verpflichten, sondern alle OECD-Mitgliedstaaten und alle EU-Mitgliedstaaten, Bewerberländer und potenziellen Bewerberländer. Das Engagement der Industrieländer ist dringend notwendig, wenn nicht gar unabdingbar, damit die Entwicklungsländer ihrem Beispiel folgen und entsprechende Ziele aufstellen. Im Hinblick auf diese Ziele sollte ein Fahrplan mit „Jahrzehnt-Zielen“ für 2030 und 2040 aufgestellt werden, die auf der Grundlage der jeweils aktuellsten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse regelmäßig überprüft werden.

3.6.   Der Ausschuss hegt große Sorge angesichts der wesentlich weniger ehrgeizigen Vorschläge anderer wichtiger Industriestaaten wie der Vereinigten Staaten und Japan, die weit hinter den obengenannten Zielen für 2020 zurückbleiben. Der Ausschuss für Handel und Energie des US-Kongresses nahm am 21. Mai 2009 eine Gesetzesvorlage über Energie und Klimawandel an, in der bis 2020 eine 17 %ige Emissionsminderung im Vergleich zu 2005 (und nicht im Vergleich zu den bedeutend niedrigeren Werte von 1990!) und bis 2050 eine Verringerung um 83 % gefordert wird. Die 930 Seiten umfassende Vorlage muss jedoch noch von der US-Regierung in Kraft gesetzt werden, was voraussichtlich nicht rechtzeitig vor der Kopenhagener Konferenz im Dezember möglich ist. Dies könnte erheblichen Einfluss auf den Erfolg der Kopenhagener Konferenz haben.

3.7.   Der Ausschuss kritisiert auch das Fehlen konkreter finanzieller Verpflichtungen seitens der G8-Staaten, weiterer acht Länder und der EU, die an dem Forum der führenden Wirtschaftsnationen zu den Themen Energie und Klima (Major Economies Forum (MEF) on Energy and Climate) am 9. Juli 2009 in L'Aquila (Italien) teilnahmen. Man einigte sich zwar auf ein langfristiges globales Ziel für Emissionssenkungen um mindestens 50 % bis 2050 sowie - als Teil dieses Ziels - um mindestens 80 % in den Industrieländern bis zum gleichen Jahr, doch wurde weder ein Referenzjahr für die Emissionssenkungen noch ein Halbzeit-Ziel (2020) festgelegt.

3.8.   Der Ausschuss schließt sich der Meinung der Kommission an, dass die Entwicklungsländer als Gruppe (ausgenommen die am wenigsten entwickelten Länder in Afrika) sich ihrerseits darauf verpflichten sollten, die Zunahme ihrer Emissionen bis 2020 auf 15 bis 30 % weniger als in einem „Business-as-usual“-Szenario zu begrenzen.

Zur Verwirklichung dieser Ziele bedarf es frühzeitiger und abgestimmter Maßnahmen.

3.9.   Nach Auffassung des Ausschusses sind die Treibhausgasemissionen in Kohlendioxidäquivalenten pro Kopf ein ausgewogenes Kriterium für die Emissionsminderungsziele in den Industrie- und Entwicklungsländern, da jeder Bürger die gleichen „Emissionsrechte“ haben sollte.

3.10.   Parameter wie die sogenannte Kohlenstoffintensität [Kohlendioxid-Emissionen pro BIP-Einheit] könnten als Emissionsminderungs-Messgröße herangezogen werden. Der Ausschuss hält es jedoch für notwendig, bei ihrer Anwendung Vorsicht walten zu lassen, da eine Verringerung der Kohlenstoffintensität schon durch eine Steigerung des BIP anstatt einer Senkung der Gesamtemissionen des betreffenden Landes erreicht werden kann.

4.   Emissionen aus Luft- und Seeverkehr

4.1.   Emissionen

4.1.1.   Die Emissionen aus dem internationalen (und nationalen) Luftverkehr sowie aus dem Seeverkehr nehmen weltweit zu. So ist der Klimagasausstoß des internationalen Luft- und Seeverkehrs zwischen 1990 und 2004 jährlich um 4,5 % respektive 2,75 % gestiegen. Nichtsdestotrotz werden diese Emissionen in der Klimarahmenkonvention beziehungsweise dem Kyoto-Protokoll nicht erfasst. Ausgehend von den luftverkehrsbedingten CO2-Emissionen 2007 entfallen auf den Luftverkehr ca. 2 % der globalen Klimagasemissionen; dieser Anteil dürfte in naher Zukunft steigen. Die Internationale Luftverkehrsorganisation IATA hat im Juni 2009 eine Reihe von Zielen zur Eindämmung der Treibhausgasemissionen aus dem Luftverkehr angenommen und vorgeschlagen, dass diese Emissionen vielmehr auf internationaler denn auf regionaler oder lokaler Ebene verrechnet (d.h. bezahlt) werden. Aktuellen Berichten der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation IMO zufolge beläuft sich der Ausstoß des internationalen Seeverkehrs auf ca. 843 MT CO2 jährlich [ca. 3,5 % der globalen Klimagas-Gesamtemissionen], was dem Treibhausgasausstoß eines großen Industrielandes wie beispielsweise Deutschland entspricht.

4.2.   Ziele

4.2.1.   Der Ausschuss befürwortet wie die Kommission die Einbeziehung der Emissionen aus dem internationalen Luft- und Seeverkehr in das Klimaübereinkommen von Kopenhagen: „Senkung der Emissionen unter den Stand von 2005 bis 2020 und erheblich unter den Stand von 1990 bis 2050“. Er stimmt auch darin mit ihr überein, dass die Emissionen aus dem internationalen Luft- und Seeverkehr in die nationalen Gesamtemissionsmengen im Rahmen des Kopenhagener Übereinkommens eingerechnet werden sollten, wenn bis Ende 2010 im Rahmen der ICAO und der IMO keine Einigung über Emissionsminderungsziele erreicht wird. Der Ausschuss bekräftigt, dass die Anwendung eines Emissionshandelssystems auf den Seeverkehr jedoch weitaus komplexer als auf die Luftfahrt ist und ein alternatives internationales System erheblich wirksamer als ein europäisches oder regionales System sein könnte (siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine umweltfreundliche See- und Binnenschifffahrt“).

5.   Emissionen aufgrund von Bodennutzung und veränderter Bodennutzung

5.1.   Auf veränderte Bodennutzung, überwiegend durch Abholzung, Verbrennung von Torf u.Ä., gehen 17,4 % der aktuellen weltweiten Emissionen zurück.

5.2.   Aufgrund des hohen Emissionsanteils, der durch die Veränderung der Bodennutzung verursacht wird, bekräftigt der Ausschuss die Notwendigkeit, die Abholzung der Tropenwälder bis 2020 um mindestens 50 % gegenüber den derzeitigen Werten zu verringern (siehe die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Bekämpfung der Entwaldung und der Waldschädigung zur Eindämmung des Klimawandels und des Verlusts der biologischen Vielfalt“).

5.3.   Gleichzeitig muss eine nachhaltige Bewirtschaftung der Wald-, Grünland-, Feucht- und Torfgebiete zunächst in den Industrieländern (sowie in Zukunft auch in den Entwicklungsländern) sichergestellt werden, um die Kohlenstoffbindung auch in diesen Ländern zu gewährleisten. Alle Länder sollten Maßnahmen treffen, um die Abholzung einzudämmen.

5.4.   Europa sollte beim Waldschutz mit gutem Beispiel vorangehen und z.B. Zertifizierungen für Holzerzeugnisse aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern vorschreiben.

5.5.   Die Beziehungen zwischen dem Klimawandel und der Landwirtschaft sind Gegenstand einer gesonderten Stellungnahme des Ausschusses (1) und werden an dieser Stelle deshalb nicht weiter ausgeführt.

6.   Sektorspezifischer Ansatz im Rahmen der Klimaschutzverhandlungen

6.1.   Der Ausschuss schlägt vor, einen sektorspezifischen Ansatz als Ergänzung zu den Klimaschutzverhandlungen in Betracht zu ziehen. So könnten beispielsweise nach dem Vorbild eines Berichts einer Arbeitsgruppe für das Kyoto-Protokoll freiwillige/zwingende quantitative/qualitative Ziele in bestimmten Bereichen (z.B. Strom, Eisen und Stahl, Zement) zusätzlich zu den nationalen Emissionszielen vereinbart werden. Dieser sektorspezifische Ansatz wird in Bezug auf Anpassungsoptionen für ein globales Klimaschutzübereinkommen in einem Bericht weiter ausgeführt.

7.   Fluorierte Gase

7.1.   Der Ausschuss befürwortet die vorgeschlagene Einbeziehung verschiedener neuer Industriechemikalien in ein künftiges Klimaübereinkommen. Das in der Produktion von Computern und Flachbildschirmen verwendete Stickstofftrifluorid (NF3) beispielsweise ist 17 000 Mal schädlicher als Kohlendioxid. Flurkohlenwasserstoffe (FKW) fallen nicht unter das Montrealer Protokoll und werden anstatt FCKW eingesetzt. Erörtert werden außerdem neue Arten von Perfluor-Kohlenwasserstoffen (PFC) und Fluorkohlenwasserstoffen (HFC), Trifluormethyl-Schwefelpentafluorid (SF5CF3), fluorierte Ether, Perfluorpolyether (PFPE) und Kohlenwasserstoffe (KW). Die chemische Industrie sollte dazu angehalten werden, Ersatzgase für neue Industriegase mit hohem Treibhausgaspotenzial herzustellen.

7.2.   Ziele

7.2.1.   Wie die Kommission befürwortet auch der Ausschuss eine internationale Vereinbarung, um die folgenden fluorierten Treibhausgase (F-Gase) den im Kyoto-Protokoll genannten Gasen hinzuzufügen: neue Arten von HFC, PFC sowie Trifluormethyl-Schwefelpentafluorid, fluorierte Ether, PFPE und Kohlenwasserstoffe, für die zunächst Grenzwerte und dann Minderungsziele festgelegt werden sollten.

7.2.2.   Die Überwachung und Kontrolle der Konzentrationsmengen der neuen F-Gase sollte ein wichtiger Aspekt internationaler Vereinbarungen sein.

8.   Maßnahmen zur Minderung der Treibhausgasemissionen

8.1.   Nach Überzeugung des Ausschusses sollten die Regierungen kostengünstige Maßnahmen zur Verringerung des Energieverbrauchs wie Energieeffizienzmaßnahmen in Gebäuden durch Regelung und Normung nachdrücklich fördern. So können Rechtsvorschriften zur Förderung von Abfallvermeidung und Recycling angenommen oder Beihilfen aufgelegt werden, um Anreize für die Bürger zu schaffen, ihre Häuser mit Solarpanelen auszustatten, sie besser zu dämmen usw.

8.2.   Erneuerbare Energieträger sollten ebenfalls gefördert werden. So sollten beispielsweise Beihilfen zur Errichtung von Windturbinen zur Stromerzeugung mit der Möglichkeit der Einspeisung ins Stromnetz und zur Nutzung von Biogas-Anlagen bereitgestellt werden, in denen mittels Vergärung einer Mischung aus Gras, Pflanzen, Getreide usw. Methan hergestellt wird, das dann ebenfalls ins Netz eingespeist wird. In Deutschland wurde dies ins Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) aufgenommen - mit dem Ergebnis, dass mehr als 14 % des Stroms aus erneuerbaren Energieträgern erzeugt wird.

8.3.   Außerdem sollten auch CO2-arme und grüne Technologien gefördert werden. Die Industrie- und Entwicklungsländer sollten innovativ vorgehen und wo immer machbar auf neue energieeffiziente Technologien umsteigen.

8.4.   Die bestehenden und künftigen Stromkraftwerke müssen durch zahlreiche Maßnahmen verbessert werden, namentlich Umstellung auf kohlestoffärmere Brennstoffe, Erhöhung des Anteils der erneuerbaren Energieträger oder der Nuklearenergie und Nutzung effizienterer Kraftwerkstechnologien.

8.5.   Der Ausschuss spricht sich dafür aus, dass Anfangsinvestitionen in weniger entwickelten Ländern direkt auf den Erwerb der besten vor Ort verfügbaren oder den örtlichen Bedingungen angepassten Technologie ausgerichtet werden.

9.   Anpassungsmaßnahmen

9.1.   Im Aktionsplan von Bali ist festgehalten, dass Anpassungsmaßnahmen ausdrücklich Teil eines Klimaschutzübereinkommens für die Zeit nach 2012 sein müssen. Die Anpassung an den Klimawandel, d.h. die Verbesserung der Fähigkeiten der Gesellschaft, die Auswirkungen des Klimawandels zu bewältigen, war unlängst Gegenstand eines internationalen wissenschaftlichen Kongresses über den Klimawandel. Am 1. April 2009 legte die Europäische Kommission ein Weißbuch über die Anpassung an den Klimawandel vor (KOM(2009) 147 endg.), das zum Ziel hat, der EU und ihren Mitgliedstaaten die Vorbereitung auf die Auswirkungen des Klimawandels zu erleichtern.

9.2.   Der Ausschuss befürwortet den Vorschlag der Kommission, im Kopenhagener Übereinkommen einen Anpassungsrahmen festzulegen, der folgende Aspekte umfassen sollte:

einen strategischen Ansatz für Anpassungsmaßnahmen;

die Aufnahme von Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel in die zentralen EU-Politiken;

die Durchführung der Anpassung auf lokaler und regionaler Ebene;

die Unterstützung von Anpassungsmaßnahmen in den am wenigsten entwickelten Ländern und kleinen Inselstaaten im Rahmen der Globalen Allianz für den Klimaschutz sowie der allgemeinen Regeln für die Anpassung an den Klimawandel der UNFCCC.

9.3.   Für den Erfolg von Anpassungsmaßnahmen ist es ausschlaggebend, dass die Last der Anpassung gerecht verteilt ist und Auswirkungen auf die Arbeitsplätze und die Lebensqualität niederer Einkommensgruppen berücksichtigt werden. Bei den Anpassungsmaßnahmen muss auch die soziale Dimension berücksichtigt werden; es gilt, alle Sozialpartner einzubinden.

10.   Globale Forschungs-, technologische Entwicklungs- und Demonstrationsvorhaben

Nach fester Überzeugung des Ausschusses müssen finanzielle Mittel für die globale (und regionale) Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration (FTE&D) bereitgestellt werden und werden dringend benötigt. Es sollten FTE&D-Konzepte für die beschleunigte Entwicklung, technische Verbesserung und Markteinführung von erneuerbaren Energieträgern und der Kraft-Wärme-Kopplungstechnologie (KWK) für Kraftwerke ausgearbeitet werden.

10.1.1.   Der Ausschuss befürwortet die Absicht der Kommission (SEK(2008) 3104 endg.), eine integrierte Erforschung des Klimawandels unter dem laufenden siebten Forschungsrahmenprogramm voranzubringen. In diesem Sinn empfiehlt er eine engere Zusammenarbeit zwischen Kommission und Weltklimarat im Siebten Forschungsrahmenprogramm sowie in damit verknüpften und künftigen Forschungsprogrammen.

10.1.2.   Der Ausschuss befürwortet einen starken Anschub von Erforschung, Entwicklung und Demonstration der durch die Internationale Energieagentur anerkannten kohlenstoffarmen und energieeffizienten Technologien sowie der im Rahmen des Europäischen Strategieplans für Energietechnologie (SET-Plan) genannten Technologien, damit die strategisch wichtigen kohlenstoffarmen und energieeffizienten Technologien möglichst rasch einsatzbereit sind.

10.1.3.   Der gesamte Bereich Schutz des geistigen Eigentums und Entwicklungsländer hat sich seit Inkrafttreten des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPs) im Jahr 1995 erheblich verändert. So verpflichten sich die Entwicklungsländer in diesem Übereinkommen, ausländische Patente zu respektieren. Seit Inkrafttreten des Übereinkommens sind Unternehmen stärker daran interessiert, Patente in Entwicklungsländern anzumelden.

10.2.   Der Ausschuss unterstützt die nachstehenden, in der Mitteilung genannten Ziele:

Durchführung von Forschungsmaßnahmen über die Auswirkungen des Klimawandels, Anpassungsmaßnahmen und Möglichkeiten zur Eindämmung auf nationaler und internationaler Ebene;

Förderung der internationalen wissenschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit in der gesamten klimabezogenen Forschung einschließlich kohlenstoffarme Technologien und erneuerbare Energieträger in allen Bereichen;

bis 2012 zumindest eine Verdoppelung und bis 2020 eine Vervierfachung der energiebezogenen FTE&D mit deutlicher Verschiebung der Schwerpunkte hin zu CO2-emissionsarmen Technologien, insbesondere erneuerbaren Energien.

11.   Finanzielle Mittel

11.1.   Ein umfassendes Kopenhagener Übereinkommen muss durch angemessene finanzielle Ressourcen untermauert werden. Dahingehende Vorschläge der Industrieländer müssen sehr bald vorgelegt werden, um die Entwicklungsländer zu motivieren und anzuhalten, ebenfalls Maßnahmen zu ergreifen. Das Übereinkommen von Kopenhagen steht und fällt mit den von den Industrie- und Entwicklungsländern vereinbarten Zielen sowie mit der Finanzierung.

11.2.   Die Anstrengungen der EU mit Blick auf die Kopenhagener Konferenz wirken nicht sonderlich überzeugend, zumal die Staats- und Regierungschefs am 18./19. Juni 2009 zentrale Entscheidungen über die Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen vertagten und lediglich feststellten, dass die Beiträge zur Finanzierung der Bekämpfung des Klimawandels sich prinzipiell in erster Linie nach der Zahlungsfähigkeit und der Verantwortung für die Emissionen richten sollen.

11.3.   Der Europäische Rat hat bislang noch keinen Beschluss über die Finanzierung gefasst, was der Ausschuss jedoch als dringend notwendig erachtet. Es ist außerordentlich Besorgnis erregend, dass die Industrieländer, auch die EU, bislang keine ausreichenden finanziellen Zusagen gemacht haben bzw. Verpflichtungen eingegangen sind.

11.4.   Investitionen in beispielsweise Energieeffizienz-Technologien und ein breites Spektrum an kohlenstoffarmen Technologien werden das Wirtschaftswachstum sowie Energieeinsparungen fördern.

11.5.   Die Emissionsminderungsmaßnahmen der Entwicklungsländer könnten durch einheimische und externe Quellen, den globalen Kohlenstoffmarkt und Beiträge der Industrieländer finanziert werden.

: Der Großteil der Investitionen bis 2020 und Energiesparmaßnahmen dürften relativ kostengünstig ausfallen - beispielsweise Energieeffizienzmaßnahmen in Haushalten, in Gebäuden und im Privatsektor; die notwendigen Investitionen können im Rahmen der nationalen Umwelt- und Energiepolitik gefördert werden. Mögliche weitere Finanzierungsquellen können außerdem in Form von Zuschüssen und Darlehen im Rahmen nationaler, internationaler und bilateraler Programme aufgetan werden.

: Unterstützung für Emissionsminderungsmaßnahmen, bei denen sich die Investitionen nicht innerhalb kurzer Zeit amortisieren und die Höhe der Investitionen die Möglichkeiten des betreffenden Entwicklungslandes übersteigen, muss durch die Mobilisierung der gesamten verfügbaren Palette an Finanzierungsquellen und innovativen Finanzierungsinstrumenten einschließlich öffentlicher Mittel und internationaler Emissionshandelssysteme gesichert werden. Der Ausschuss unterstützt die Bemühungen der Kommission, durch die Verknüpfung des EESC-Emissionshandelssystem (EU-ETS) mit anderen vergleichbaren „Cap-and-Trade“-Systemen bis 2015 einen OECD-weiten und bis 2020 einen noch umfassenderen Kohlenstoffmarkt zu errichten.

11.6.   Der Europäische Rat erachtet es als notwendig, die internationalen Finanzierungsmechanismen genauer auszuloten, und wird sich auf seiner Oktober-Tagung erneut mit diesem Thema befassen. Da die Kopenhagener Konferenz im Dezember stattfindet, hält der Ausschuss dies für zeitlich sehr knapp bemessen.

Der Ausschuss unterstützt die Kommission darin, dass die Industrieländer ihren Beitrag durch die Vergabe öffentlicher Mittel und die Nutzung von Kohlenstoffgutschriften leisten sollen. Die öffentlichen Finanzleistungen sollten vergleichbar sein und auf dem Verursacherprinzip sowie auf der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen Länder beruhen. Die Beitragssätze sollten ausgehandelt und verbindlich in das Übereinkommen aufgenommen werden:

i)

indem entweder der jährliche Finanzbeitrag der Industrieländer anhand einer vereinbarten Formel (Verursacherprinzip in Verbindung mit der Zahlungsfähigkeit) ermittelt wird;

ii)

oder indem jedes Industrieland einen bestimmten Prozentsatz seiner Emissionsrechte zur Verfügung stellt. Diese Emissionsrechte würden dann auf einer international vereinbarten Ebene unter den Regierungen versteigert.

11.7.1.   Der Ausschuss begrüßt insbesondere den Vorschlag Mexikos, dass alle Staaten abhängig von ihrer Bevölkerungszahl, ihrer Wirtschaftskraft und dem Umfang ihrer Klimagasemissionen in einen gemeinsamen Fonds einzahlen. Dieser gemeinsame Fonds würde dann unter allen Staaten im Einklang mit ihren Bedürfnissen zur Senkung der Emissionen, zur Einführung grüner Technologien und zur Anpassung an den Klimawandel aufgeteilt.

11.8.   Der Ausschuss:

befürwortet die von der Kommission empfohlene Weiterentwicklung von Cap-and-Trade-Systemen zwischen zunächst den Industrieländern und dann schrittweise auch Schwellenländern;

unterstützt auch eine Reform des Mechanismus für umweltfreundliche Entwicklung (CDM), der aufgrund seiner Projektbezogenheit mit hohen Transaktions- und Verwaltungskosten verbunden ist. Der Übergang von den derzeitigen projektbezogenen zu einem sektorspezifischen CDM wäre ein möglicher Lösungsansatz. Eine andere Möglichkeit wäre ein CDM für technologische Entwicklung und Transfer, mit dem die Anforderungen des Bali-Aktionsplans erfüllt werden.

11.9.   Die prognostizierten Kosten für die Verwirklichung der langfristigen Ziele bis 2050 sind nicht zu unterschätzen: Sie belaufen sich auf 2 % des aktuellen BIP, doch sie würden noch erheblich höher ausfallen, wenn keine einschneidenden Maßnahmen getroffen werden.

12.   Öffentlichkeitsarbeit

12.1.   Es ist wichtig, der Öffentlichkeit stärker ins Bewusstsein zu bringen, welche Bedrohung von der Erderwärmung ausgeht, wenn nicht umgehend Klimaschutzmaßnahmen ergriffen werden.

12.2.   Die Bürger müssen durch Anreize dazu ermutigt werden, durch die Nutzung umweltgerechterer Energieformen, den Kauf energieeffizienterer Güter und Dienstleistungen und die Verringerung ihres ökologischen Fußabdrucks ihren Beitrag zu leisten.

12.3.   Nach Meinung des Ausschusses sollten die einzelnen Länder ihren Bürgern über die Medien die dringende Notwendigkeit, zu handeln, Energie zu sparen und alternative (erneuerbare) Energiequellen bereitzustellen und so zur Senkung klimaschädlicher Treibhausgasemissionen beizutragen, vermitteln. Der Klimawandel sollte auch im Rahmen einer langfristig angelegten Strategie in die schulischen Lehrpläne der Primar- und Sekundarstufe aufgenommen werden.

Der Ausschuss befürwortet eine proaktive Bildungspolitik zur Förderung des Verständnisses des Klimawandels, wie von der Kommission vorgeschlagen.

12.4.   Der Europäische Rat sollte die Mitgliedstaaten dazu auffordern, die Einbindung der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften sowie der Unternehmen, Gewerkschaften und sonstiger Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft in die Förderung von Klimaschutzstrategien und -initiativen in ihren Ländern zu unterstützen und zu erleichtern.

12.5.   Außerdem sollten die lokalen, regionalen und nationalen Behörden enger zusammenarbeiten, um durch die Mobilisierung ihrer Bürger und des Privatsektors eine solide Wissensgrundlage über die Auswirkungen und Folgen des Klimawandels zu schaffen. So haben sich beispielsweise rund 500 Kommunen im Rahmen des Bürgermeisterkonvents, einer EU-Initiative, zur Verringerung ihrer CO2-Emissionen um mehr als 20 % bis 2020 verpflichtet.

13.   Überprüfungsklausel

13.1.   In dem Übereinkommen sollte eine regelmäßige Überprüfung der erzielten Fortschritte und der Angemessenheit der Verpflichtungen und Maßnahmen sowie eine umfassende Prüfung im Jahr 2015 vorgesehen werden.

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 59.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/122


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Weißbuch ‚Anpassung an den Klimawandel: Ein europäischer Aktionsrahmen‘“

KOM(2009) 147 endg.

(2010/C 128/23)

Berichterstatter: Frederic Adrian OSBORN

Die Kommission beschloss am 1. April 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Weißbuch „Anpassung an den Klimawandel: Ein europäischer Aktionsrahmen“

KOM(2009) 147 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 13. Oktober 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) mit 183 gegen 3 Stimmen bei 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Klimawandel ist eine der größten globalen Herausforderungen im 21. Jahrhundert. Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels durch Begrenzung der Treibhausgasemissionen sind oberste Priorität. Es ist jedoch ebenso wichtig, die Anpassungen an diese inzwischen unvermeidbar gewordenen Veränderungen rechtzeitig zu planen.

1.2.   2007 veröffentlichte die Kommission ein Grünbuch zur Anpassung an den Klimawandel. Nach einer umfassenden Konsultation zu diesem Dokument und einer weiteren Analyse hat die Kommission nun ein Weißbuch „Anpassung an den Klimawandel: Ein europäischer Aktionsrahmen“ vorgelegt, mit dem sie den Ausschuss befasst hat.

1.3.   In seiner Stellungnahme zu dem Grünbuch (1) empfahl der EWSA, als Rahmen eine übergeordnete europäische Anpassungsstrategie zu schaffen, in der dann die Maßnahmen abgesteckt werden, die auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene sowie durch andere Akteure zu ergreifen sind. In dem Weißbuch wird nun genau ein solcher Rahmen vorgeschlagen; der Ausschuss begrüßt den allgemeinen Ansatz des Weißbuchs.

1.4.   Einige der von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen sind jedoch nach Auffassung des Ausschusses weder dringlich noch spezifisch genug. Der Ausschuss drängt insbesondere auf

die Stärkung der Rolle der europäischen Strategie zur Koordinierung der verschiedenen nationalen Anpassungsstrategien;

eine Verkürzung des Zeitplans für die Weiterentwicklung der Strategie unter besonderer Berücksichtigung von Themen oder Bereichen mit dem dringendsten Bedarf an Anpassungsmaßnahmen;

die Einsetzung eines unabhängigen, hochrangig besetzten Ausschusses oder Gremiums, um Fortschritte bei der Eindämmung des Klimawandels bzw. der Anpassung an seine Auswirkungen in Europa zu messen und um öffentlich auf die Themen aufmerksam zu machen, bei denen Fortschritte zu wünschen übrig lassen;

frühzeitige Bemühungen um die Berechnung der für die Anpassung in Europa wahrscheinlich erforderlichen Ausgaben (entsprechend den lobenswerten Bemühungen der Kommission, den diesbezüglichen Bedarf der Entwicklungsländer zu berechnen);

die Intensivierung der Zusammenarbeit zumindest in der OECD, vorzugsweise aber auf internationaler Ebene, da die Anpassung global erfolgen muss;

die Intensivierung der Bemühungen zur Einbindung der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft in die Entwicklung von Plänen und Maßnahmen für die Anpassung.

2.   Das Weißbuch und sein Kontext

2.1.   Der Klimawandel ist eine der größten globalen Herausforderungen im 21. Jahrhundert. Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels durch eine Begrenzung des Treibhausgasausstoßes müssen weltweit wie auch bei der anstehenden Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention in Kopenhagen oberste Priorität erhalten. Es ist jedoch ebenso wichtig, die Anpassung an die inzwischen unvermeidbar gewordenen Veränderungen rechtzeitig zu planen.

2.2.   2007 veröffentlichte die Kommission ein Grünbuch zur Anpassung an den Klimawandel. Nach einer umfassenden Konsultation zu diesem Dokument (einschließlich einer Stellungnahme des EWSA) und einer weiteren Analyse hat die Kommission nun ein Weißbuch „Anpassung an den Klimawandel: Ein europäischer Aktionsrahmen“ vorgelegt, mit dem sie den Ausschuss befasst hat. Viele Punkte aus der Stellungnahme des Ausschusses haben ihren Widerhall im Weißbuch gefunden.

2.3.   Das Weißbuch geht von der Grundannahme aus, dass der Klimawandel bereits Wirklichkeit ist und sich erheblich verschlimmern wird, weswegen für schwerwiegende Auswirkungen auf viele Bereiche schon jetzt planerische Vorkehrungen getroffen werden müssen. Über das Ausmaß der Auswirkungen und ihre geografische Verteilung herrscht noch einige Unsicherheit; zum Teil wird dies davon abhängen, wie erfolgreich die weltweiten Bemühungen um die Eindämmung des Klimawandels durch die Verringerung des Treibhausgasausstoßes sein werden. Doch auch unter Voraussetzung des optimistischsten Eindämmungsszenarios müssen Anpassungen an große Veränderungen erfolgen und schon jetzt geplant werden.

2.4.   Für die Region Europa werden im Weißbuch mehrere Bereiche herausgestellt, die vermutlich besonders betroffen sein werden:

Land- und Forstwirtschaft

Fischerei und Aquakultur, Küsten und marine Ökosysteme

Infrastrukturen und ihre Anfälligkeit gegenüber Wetterextremen und dem Anstieg des Meeresspiegels

Tourismus

gesundheitliche Auswirkungen auf Menschen und Pflanzen

Wasserressourcen

Ökosysteme und biologische Vielfalt.

2.5.   Im Weißbuch wird davon ausgegangen, dass die Strategien die größte Wirkung entfalten werden, wenn auf die Fähigkeit der Natur, Belastungen aufzufangen oder unter Kontrolle zu bringen, geachtet und der Schwerpunkt nicht nur auf physische Infrastrukturen gelegt wird. Es wird auf die in der Folgenabschätzung erläuterten „grünen Infrastrukturen“ verwiesen.

2.6.   Im Weißbuch wird argumentiert, dass eine autonome Anpassung von Privatpersonen und Unternehmen, die von diesen Auswirkungen betroffen sind, kaum zu einer optimalen Anpassung werden kann. Präventivmaßnahmen werden eindeutig für erforderlich gehalten, um ungeeignete Maßnahmen („Fehlanpassungen“) zu verhindern und durch frühzeitiges Handeln wirtschaftliche, ökologische und soziale Vorteile zu sichern und nicht durch Abwarten ins Hintertreffen zu geraten.

2.7.   Im Weißbuch wird zwar anerkannt, dass die meisten Anpassungsmaßnahmen auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene zu treffen sind, doch wird dem Handeln auf EU-Ebene eine klare Rolle zugemessen, und zwar in Bereichen, in denen Probleme nationale Grenzen überschreiten, und in Sektoren, in denen die EU bereits Kompetenzen und Tätigkeiten entwickelt hat, die einen deutlichen Einfluss auf die Anpassung haben können.

2.8.   Es wird vorgeschlagen, den Aktionsrahmen in zwei Phasen umzusetzen. Für die erste Phase (2009-2012) werden vier Aktionsschwerpunkte jeweils mit Aktionen der EU und der Mitgliedstaaten vorgeschlagen:

Schaffung einer soliden Wissensgrundlage

Einbeziehung der Anpassungsfrage in die wesentlichen Politikbereiche der EU

Einsatz einer Kombination politischer Instrumente, um sicherzustellen, dass der Anpassungsprozess effektiv abläuft

Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit bei Anpassungsfragen.

2.9.   Für die zweite Phase ab 2013 ist eine umfassendere Anpassungsstrategie geplant, doch enthält das Weißbuch bislang noch keine Einzelheiten zu ihrem Umfang.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   In seiner Stellungnahme zu dem Grünbuch (NAT/368) empfahl der EWSA, als Rahmen eine übergeordnete europäische Anpassungsstrategie zu schaffen, in der dann die Maßnahmen abgesteckt werden, die auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene sowie durch andere Akteure zu ergreifen sind. Mit dem Weißbuch wird nun genau solch ein Rahmen vorgeschlagen, in den viele der in der früheren Stellungnahme des Ausschusses empfohlenen Punkte eingeflossen sind. Der Ausschuss begrüßt dies natürlich, ebenso wie den im Weißbuch skizzierten Ansatz.

Bei vielen der unter den Überschriften vorgeschlagenen Aktionen drängt sich jedoch das Gefühl auf, dass sie erst angedacht sind. Mehrere Aktionen sollen „geprüft“, „bewertet“ oder „ermutigt“ werden. Keine Aktion ist verpflichtend oder verbindlich, und Rechtsvorschriften für diesen Bereich scheinen keine baldige Option zu sein. Angesichts der zunehmenden Intensität der Auswirkungen des Klimawandels und der Bedeutung einer diesbezüglichen europäischen Vorreiterrolle hält der Ausschuss es für erforderlich, dass die Europäische Union rascher eine verbindlichere Strategie mit spezifischeren Zielen entwickelt. Im weiteren Teil dieser Stellungnahme werden einige wesentliche Elemente der kraftvolleren Strategie erläutert, die die Europäische Union nach Auffassung des Ausschusses anstreben sollte.

3.2.1.    - Zwar werden viele der praktischen Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene zu treffen sein, doch stimmt der Ausschuss der Kommission darin zu, dass auch deutlicher Bedarf an Handeln auf europäischer Ebene besteht. Hierfür gibt es vielerlei Gründe:

Eine Analyse der wahrscheinlichen Veränderungen und Auswirkungen bedarf umfangreicher Forschungs- und Überwachungsanstrengungen, die von einer Koordinierung auf europäischer Ebene profitieren würden.

Einige der absehbaren Probleme werden nationale Grenzen überschreiten und eine konzertierte Reaktion erforderlich machen.

Die verschiedenen Regionen Europas werden auf unterschiedliche Weise betroffen sein, wobei einige der ärmeren Regionen u.U. am stärksten betroffen sein könnten, was eine Lastenteilung durch Kohäsionsinstrumente oder andere Mechanismen notwendig macht.

Mehrere der wesentlichen Politiken und Programme der Kommission - darunter die GAP und die Strukturfonds - werden vor dem Hintergrund des Klimawandels angepasst werden müssen, um ihr Funktionieren zu gewährleisten.

Über Europa hinaus werden umfangreiche internationale Anstrengungen erforderlich sein, um die am wenigsten entwickelten Länder im Süden zu unterstützen, die wahrscheinlich am stärksten unter dem Klimawandel zu leiden haben werden und deren Fähigkeiten für eine angemessene Anpassung geringer sind. Die EU wäre am besten geeignet, um europäische Bemühungen in diesem Bereich zu koordinieren.

Vor allem erfordert die Herausforderung einer angemessenen und rechtzeitigen Anpassung an die künftigen Veränderungen unseres Klimas eine Zusammenarbeit der politischen Entscheidungsträger in Europa in einem gemeinsamen, nationale Grenzen überschreitenden Unterfangen.

Aus all diesen Gründen unterstützt der Ausschuss voll und ganz das Erfordernis der Entwicklung einer durchsetzungsstarken europäischen Anpassungsstrategie und fordert die Kommission auf, die Strategie so bald wie möglich entschlossener und mit spezifischeren Zielen auszugestalten.

Angesichts des globalen Charakters des Klimawandels müssen auch die Anpassungsprogramme global angelegt sein, zumal der Klimawandel sich am stärksten auf die am wenigsten entwickelten Länder auswirken wird, die derzeit auch am anfälligsten sind. Diesbezüglich hat die OECD eine weitreichende Initiative auf den Weg gebracht. Soweit wie möglich sollten auch die europäischen Rahmenmaßnahmen und Programme auf dieser Ebene koordiniert werden.

Neben der Entwicklung von Aktionen auf europäischer Ebene müssen auch energischere Maßnahmen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene angeregt werden. Aus den Hintergrundinformationen zu dem Weißbuch geht hervor, dass die Ansätze auf nationaler Ebene derzeit sehr verschiedenartig sind und dass einige Mitgliedstaaten mehr Fortschritte als andere bei der Analyse ihrer Lage und der Entwicklung geeigneter Anpassungsstrategien aufzuweisen haben. Um dem Anpassungsprozess größeren Schwung zu verleihen, hielte der Ausschuss eine europäische Initiative für hilfreich, um gemeinsame Parameter und Zeitpläne für die Aufstellung nationaler Anpassungsstrategien vorzugeben.

3.2.2.    - Die Kommission schlägt ein Vorgehen in zwei Phasen vor, wobei in der ersten Phase von 2009 bis 2012 die Wissensgrundlage ausgebaut, der Aspekt der Anpassung in wichtige Politikbereiche der EU einbezogen, Maßnahmen entwickelt und die internationale Zusammenarbeit gestärkt würden. Erst in einer zweiten Phase ab 2013 würde eine umfassende Anpassungsstrategie entwickelt.

3.2.3.   Der Ausschuss erkennt die Logik dieses zweiphasigen Vorgehens. Er befürchtet jedoch, dass dieses Vorgehen angesichts der Dringlichkeit des Problems zu lasch sein könnte. Die Auswirkungen des Klimawandels machen sich allmählich innerhalb Europas sowie in stärkerem Maße auch in anderen Weltteilen bemerkbar. Auch wenn im Anschluss an Kopenhagen weltweit erfolgreich Bemühungen um eine Eindämmung unternommen werden, wird die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre zwangsläufig mehrere Jahrzehnte weiter ansteigen und zu zunehmend schwerwiegenderen Klimafolgen führen. Die Anpassungsmaßnahmen müssen jetzt eingeleitet werden und nicht irgendwann in der mittelfristigen Zukunft. Auch Maßnahmen zur Vermeidung nicht angepasster Entwicklungen und Investitionen („Fehlanpassungen“) können nicht zu früh beginnen.

3.2.4.   Der Ausschuss fordert die Kommission daher auf, im Rahmen ihrer Analyse in den kommenden drei Jahren besondere Aufmerksamkeit auf die Verbesserung der Methoden zur Vorhersage der Auswirkungen auf nähere Sicht (1-5 Jahre) zu richten, die in diesem Zeitraum die dringendsten Anpassungsmaßnahmen und Aktionen erforderlich machen dürften. Welche Küstengebiete sind am anfälligsten und erfordern die dringendsten Schutzmaßnahmen? Welche Gebiete werden vermutlich am stärksten von Wasserknappheit betroffen sein und wie kann darauf reagiert werden? Welche gesundheitlichen Auswirkungen stehen unmittelbar bevor und wie kann hierfür am besten vorgesorgt werden?

3.2.5.   Ferner sollte die Kommission versuchen, möglichst rasch zu ermitteln, wo die größte Gefahr nicht angepasster Investitionen („Fehlanpassungen“) besteht und wie solche Fehler vermieden werden können. Ein Beispiel hierfür ist weitere Bautätigkeit in Gebieten, die einer zunehmenden Überschwemmungsgefahr ausgesetzt sein werden.

3.2.6.   Die Kapazitäten für Analysen und Vorhersagen der wesentlichen Institutionen müssen dringend dahingehend weiterentwickelt werden, dass sie Entscheidungsträgern bei so grundlegend wichtigen Themen sinnvolle Orientierungshilfen geben können. Außerdem müssen die CO2-Konzentration an verschiedenen repräsentativen Stellen in der EU sowie weltweit ständig überwacht und der Klimawandel und die Auswirkungen des Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre auf das Klima beobachtet werden.

3.2.7.    - Im Weißbuch wird die Einsetzung zweier, die gesamte EU umspannender Gremien vorgeschlagen: eine Lenkungsgruppe für Folgenbewältigung und Anpassung zwecks Verbesserung der Zusammenarbeit bei der Anpassung sowie ein Vermittlungsmechanismus, der als IT-Tool und Datenbank für Klimaauswirkungen, Anfälligkeit und bewährte Anpassungspraktiken fungiert. Beide Vorschläge erscheinen an sich sinnvoll, doch werden sie nach Auffassung des Ausschusses kaum ausreichen, die Art von Öffentlichkeitswirksamkeit und politischer Dynamik zu erzeugen, die notwendig ist, um Anpassungsmaßnahmen im erforderlichen Umfang und Tempo anzustoßen.

3.2.8.   Der Ausschuss möchte daher erneut auf seine zu dem Grünbuch vorgebrachte Empfehlung zurückkommen: Die EU sollte ein unabhängiges Überwachungsgremium mit einem unabhängigen Vorsitzenden einsetzen und damit beauftragen, die Fortschritte der gesamten Klimawandelstrategie (Anpassung und Eindämmung) zu überprüfen. Ein solches unabhängiges Gremium würde regelmäßige Fortschrittsberichte veröffentlichen sowie frühzeitig warnen, wenn Maßnahmen in Verzug geraten, bzw. - im Falle der Anpassung -, wenn keine ausreichenden Vorkehrungen gegen unmittelbare Auswirkungen des Klimawandels getroffen werden.

3.2.9.   Nachdem der Ausschuss diese Empfehlung ausgesprochen hatte, veröffentlichte der im Vereinigten Königreich eingerichtete unabhängige Klimaausschuss einige eindringliche Empfehlungen, die zu weiteren Maßnahmen anspornten, was den Nutzen eines solchen Gremiums erfolgreich belegt. Ein ähnliches Gremium auf europäischer Ebene wäre sinnvoll, denn es könnte kontinuierlich Druck ausüben, dass auf dieser Ebene Maßnahmen ergriffen werden.

3.2.10.    - Im Zusammenhang mit den Verhandlungen in Kopenhagen muss Europa dringend eine Aufstellung der für die Unterstützung der Anpassung (und der Eindämmung) in den Entwicklungsländern erforderlichen Mittel vornehmen und auch eine Vorstellung seines eigenen möglichen Beitrags entwickeln. In einer separaten Mitteilung (KOM(2009) 475/3) geht die Kommission davon aus, dass der Finanzierungsbedarf für Anpassungs- und Klimaschutzmaßnahmen in den Entwicklungsländern besten Schätzungen zufolge bis zum Jahr 2020 rund 100 Mrd. EUR jährlich erreichen könnte; ferner werden Vorschläge gemacht, welcher Anteil davon durch öffentliche Finanzströme aus Europa gedeckt werden müsste. Der Ausschuss begrüßt diese frühzeitigen Vorschläge und fordert die Organe und Institutionen auf, sich dringend mit ihnen zu beschäftigen, damit sie tatsächlich zu einem erfolgreichen Ergebnis in Kopenhagen beitragen können.

3.2.11.   Vor dem Hintergrund der Konferenz in Kopenhagen ist es zwar verständlich, aber dennoch frustrierend, dass bislang sehr viel weniger Klarheit bezüglich der potenziellen Kosten für die Anpassung in Europa selbst besteht. Das Weißbuch enthält enttäuschend wenig Angaben über die wahrscheinlichen Kosten für die Anpassung in Europa und verspricht lediglich, dass zu gegebener Zeit eine Einschätzung der Kosten für Anpassungsmaßnahmen vorgenommen wird. Der Ausschuss hält es für eine dringliche Aufgabe, eine erste Einschätzung des Umfangs der in Europa voraussichtlich erforderlichen Ressourcen vorzunehmen. Diese Gesamteinschätzung müsste dann in Tranchen aufgeteilt werden: die obersten Prioritäten mit einem Kostenbedarf innerhalb der ersten fünf Jahre, wodurch weniger dringliche Ausgaben auf einen späteren Zeitpunkt verschoben würden. Bei der Bewertung müsste berücksichtigt werden, welche Ausgaben dem Privatsektor zugemutet werden können, was von Versicherungen abgedeckt werden sollte und wo vermutlich öffentliche Mittel gebraucht werden. Auch müsste darüber nachgedacht werden, wie die öffentlichen Ausgaben am besten zwischen den einzelstaatlichen Haushalten und dem EU-Haushalt aufgeteilt werden.

3.2.12.   Solche Einschätzungen sind selbstverständlich nicht leicht vorzunehmen. Doch wenn sie für die Entwicklungsländer vorgenommen werden können, sollte dies sicherlich auch für Europa selbst möglich sein. Nach Auffassung des Ausschusses sind hier eine größere Dringlichkeit und auch ein größeres Ausmaß der möglichen künftigen Probleme gegeben, als im Weißbuch anklingt. Der Klimawandel stellt die Welt vor ein völlig neuartiges Problem, bei Plänen für Ausgaben für Vorbeugungs- und Anpassungsmaßnahmen kann nicht auf Erfahrungen aus der Vergangenheit zurückgegriffen werden bzw. können auch solch altmodische Kenngrößen wie die Bereitstellung von ausreichendem Schutz gegen Naturkatastrophen, die keine Jahrhundertereignisse sind, nicht herangezogen werden. In Zukunft werden früher als Jahrhundertereignis auftretende Naturereignisse sehr viel häufiger auftreten. Kriterien und Leitlinien für die Notfallplanung und die sich hieraus ergebenden Ausgaben für Vorbeugungsmaßnahmen werden entsprechend angepasst und in die entsprechenden Haushalte einbezogen werden müssen.

3.2.13.   Da die Auswirkungen des Klimawandels in den kommenden Jahren zunehmend ernster werden, werden auch die Ausgaben für die Anpassung zwangsläufig steigen und einen größeren Anteil der öffentlichen und privaten Haushalte ausmachen und sich auch in höheren Versicherungsprämien und -leistungen niederschlagen. Aus allen Untersuchungen geht bislang hervor, dass es Vorteile bringen dürfte, rasch geeignete Maßnahmen sowohl für die Anpassung als auch für die Eindämmung zu ergreifen, anstatt so lange abzuwarten, bis schwerer Schaden entstanden ist.

3.2.14.   Wenn jedoch rechtzeitig gehandelt wird und die Maßnahmen wirksam auf andere politische Maßnahmen abgestimmt werden, dürfte zumindest in einigen Fällen die Möglichkeit bestehen, dass sich die Maßnahmen allseitig positiv auswirken werden und die Widerstandskraft eines Gebiets oder einer Tätigkeit gegen die Folgen des Klimawandels gestärkt wird und gleichzeitig andere politische Ziele vorangebracht werden. Die Suche nach diesen möglichen Synergieeffekten muss möglichst rasch aufgenommen werden; außerdem müssen die Gesamtkosten für die Anpassung allmählich öffentlich zur Debatte gestellt und genauer aufgeschlüsselt werden.

3.2.15.    - Der Klimawandel wird zahlreiche Wirtschaftsbereiche und viele verschiedene Unternehmen und Einzelpersonen treffen. Diese Auswirkungen sollten einer möglichst breiten Öffentlichkeit bekannt sein, und jeder sollte sich in die Umsetzung der für die Bewältigung der Auswirkungen erforderlichen Veränderungen eingebunden fühlen. Derzeit liegt der Schwerpunkt der Klimawandeldebatte in der Öffentlichkeit vor allem darauf, was Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen tun können, um die Bemühungen um die Eindämmung durch ihre Entscheidungen in ihrem privaten und beruflichen Alltag zu unterstützen.

3.2.16.   Bald schon wird sich die breite Öffentlichkeit aber dazu noch mit Anpassungsfragen beschäftigen müssen, die sie selbst betreffen könnten, wie etwa:

die Frage des Wohn-, Arbeits- und Urlaubsorts angesichts der Klimaveränderungen;

die Frage, wie die Bewirtschaftung von langlebigen Baumarten und Wäldern unter sich ständig ändernden klimatischen Voraussetzungen erfolgen kann;

die Frage, welche Pflanzen und Bäume unter veränderten Klimabedingungen in den Gärten gedeihen können und wie Kulturlandschaften in allen Teilen der EU erhalten werden können;

die Frage, wie sich die Verbreitung von Gesundheitsrisiken verändern könnte und welche Vorkehrungen zu treffen sind;

die Frage, wie wir uns eventuell auf andere Nahrungsmittel und andere Ernährungsgewohnheiten umstellen müssen.

Die Öffentlichkeit und die am stärksten betroffenen Gruppen müssen bezüglich des Auftretens dieser Art von Auswirkungen des Klimawandels und auch über künftig mögliche weitere Veränderungen unbedingt auf dem jüngsten Wissensstand gehalten werden. Gleichzeitig benötigen die Öffentlichkeit und insbesondere die am stärksten betroffenen Gruppen Unterstützung, damit sie die Art von Anpassungsmaßnahmen, die sie selbst ergreifen können, durchdenken können. Europa könnte diese Art von öffentlichem Dialog und die Verbreitung von Erkenntnissen als wesentlicher Akteur anstoßen. Die Kommission sollte diesen Aspekt unbedingt näher in Betracht ziehen.

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 38.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/127


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Mehr internationale Finanzmittel für den Klimaschutz: europäisches Konzept für die Kopenhagener Vereinbarung“

KOM(2009) 475 endg.

(2010/C 128/24)

Hauptberichterstatterin: Lavinia ANDREI

Die Europäische Kommission beschloss am 10. September 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Mehr internationale Finanzmittel für den Klimaschutz: europäisches Konzept für die Kopenhagener Vereinbarung“

KOM(2009) 475 endg.

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz am 29. September 2009 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Aufgrund der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) Lavinia Andrei zur Hauptberichterstatterin und verabschiedete mit 179 gegen 4 Stimmen bei 11 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt diese frühzeitigen Vorschläge und fordert die europäischen Institutionen auf, sich dringend mit ihnen zu beschäftigen, damit sie tatsächlich zu einem erfolgreichen Ergebnis in Kopenhagen beitragen können. Diese Mitteilung ist ein guter Anfang, da die Industrieländer bislang keinerlei konkrete Zahlen für die Klimafinanzierung nennen wollten.

1.2.   Die Klimafinanzierung darf nicht als freiwilliger Beitrag angesehen werden, sie ist eine Verpflichtung, die in den Artikeln der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) verankert ist, um den Entwicklungsländern neue, zusätzliche, angemessene und vorhersehbare Finanzmittel bereitzustellen. Die Industrieländer müssen den in dem Übereinkommen festgeschriebenen Grundsatz der „gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung“ unbedingt einhalten.

1.3.   Die Entwicklungsländer müssen bei der Bekämpfung des Klimawandels umfassend unterstützt werden; die EU hat einer derartigen Unterstützung im Rahmen der UN-Klimarahmenkonvention zugestimmt. Ihnen werden in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich Kosten in Höhe von Hunderten von Milliarden Euro jährlich für Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen entstehen.

1.4.   Der Ausschuss befürwortet den Vorschlag der EU für eine Schnellstartfinanzierung seitens der Industrieländer in Höhe von 5 bis 7 Mrd. EUR jährlich bis 2013. Angesichts der derzeitigen Stimmung und des Vertrauensmangels zwischen Süd und Nord ist dies ein guter Ausgangspunkt.

1.5.   Der Ausschuss befürwortet ferner den positiven Ansatz der Europäischen Kommission zur Mobilisierung von Finanzmitteln aus dem internationalen Luft- und Seeverkehr.

1.6.   Es gibt jedoch bereits deutliche Signale aus den Entwicklungsländern, insbesondere aus Afrika, dass das Angebot der EU viel zu niedrig sei und effektiv bedeuten würde, die Bezahlung der Schäden, die jahrelang von anderen verursacht wurden, auf die Entwicklungsländer abzuwälzen. Viele NGO und Ökonomen der Vereinten Nationen argumentieren, dass sich die erforderliche Finanzierung seitens der Industrieländer für die Entwicklungsländer selbst bei konservativen Schätzungen auf rund 150 Mrd. USD (ca. 110 Mrd. EUR) jährlich für den Zeitraum 2013-2017 belaufen wird.

1.7.   In Bezug auf die Einnahmen aus dem CO2-Markt geht die Europäische Kommission davon aus, dass die hohen Gewinne, die von den Akteuren auf diesem Markt gemacht werden, zu 100 % in die Entwicklungsländer und anschließend in kohlenstoffarme Tätigkeiten fließen werden. In der Praxis werden diese Gewinne aber wohl viel eher in den Taschen der vielfach in Industrieländern angesiedelten Privatunternehmen landen.

1.8.   Der Ausschuss zeigt sich auch besorgt über die EU-Vision in Bezug auf die inländischen privaten Investitionen in den Entwicklungsländern, da die EU nicht einmal sicherstellen kann, dass ihre Mitgliedstaaten die Einnahmen aus ihren eigenen Emissionshandelssystemen für Investitionen in saubere Energie nutzen.

1.9.   Die Europäische Kommission sollte einen überarbeiteten, machbaren Plan zur Behauptung der Führungsrolle der EU in der internationalen Klimapolitik vorlegen. Die EU sollte auch ihre Forderung an die Vereinigten Staaten und andere Länder bekräftigen, ihre Standpunkte zur Klimafinanzierung darzulegen.

1.10.   Das Versprechen der Aufstockung internationaler und nationaler Finanzmittel sollte Gegenstand von Bestimmungen sein, die sich messen, darlegen und überprüfen lassen.

2.   Einleitung

2.1.   Die Europäische Kommission veröffentlichte am 10. September 2009 die Mitteilung „Mehr internationale Finanzmittel für den Klimaschutz: europäisches Konzept für das Kopenhagener Übereinkommen“.

2.2.   Mit dieser Mitteilung soll der derzeitige Stillstand in den Verhandlungen gelöst werden, in denen einerseits die Industrieländer einen größeren Beitrag seitens der wirtschaftlich fortgeschritteneren Entwicklungsländer zu den allgemeinen Anstrengungen und andererseits die Entwicklungsländer von den Industrieländern klare Aussagen zur Finanzierung der Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen erwarten.

2.3.   Dieser Vorschlag reicht jedoch nicht aus, um in Kopenhagen ein wirksames Übereinkommen auszuhandeln. Es bedarf weitreichender Emissionsreduktionen aller Industrieländer, angemessener Klimaschutzmaßnahmen der Entwicklungsländer sowie einer effizienten globalen Struktur, die die richtigen Anreize für Investitionen in eine kohlenstoffarme Wirtschaft bietet.

2.4.   Der Finanzierungsbedarf für Maßnahmen zur Eindämmung der Treibhausgasemissionen sowie zur Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels in den Entwicklungsländern könnte bis zum Jahr 2020 rund 100 Mrd. EUR jährlich erreichen. Die erforderlichen Finanzmittel sollten großteils durch nationale Finanzmittel sowie einen erweiterten globalen CO2-Markt aufgebracht werden, es bedarf jedoch auch internationaler öffentlicher Finanzströme in Höhe von 22 bis 50 Mrd. EUR jährlich.

2.5.   Die Europäische Kommission schlägt vor, dass die Industrie- und wirtschaftlich fortgeschritteneren Entwicklungsländer diese öffentlichen Finanzbeiträge anhand der Kriterien „Emissionsverursache“r und „Zahlungsfähigkeit“ bereitstellen. Der EU-Beitrag könnte somit rund 2 bis 15 Mrd. EUR jährlich bis 2020 betragen.

3.   Kommissionsdokument

3.1.   Die Europäische Kommission schätzt den Finanzierungsbedarf für Anpassungs- und Klimaschutzmaßnahmen in den Entwicklungsländern bis zum Jahr 2020 auf rund 100 Mrd. EUR jährlich ein. Nationale (öffentliche und private) Finanzmittel in den Entwicklungsländern, der globale CO2-Markt und ergänzende internationale öffentliche Finanzströme sollten zur Deckung dieses Bedarfs beitragen. 20 bis 40 % könnten durch nationale private und öffentliche Finanzmittel aufgebracht werden, 40 % über den CO2-Markt, und der verbleibende Anteil könnte durch internationale öffentliche Finanzmittel gedeckt werden.

3.2.   Der internationale CO2-Markt könnte bis 2020 bis zu 38 Mrd. EUR jährlich erwirtschaften. Mit dem Kopenhagener Übereinkommen muss ein neuer Mechanismus für Gutschriften für Emissionsreduktionen auf sektoraler Ebene geschaffen und zugleich der Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (Clean Development Mechanism - CDM) auf die am wenigsten entwickelten Länder ausgerichtet werden.

3.3.   Im Jahr 2020 sollten internationale öffentliche Finanzmittel in Höhe von 22 bis 50 Mrd. EUR jährlich zur Verfügung gestellt werden. Ab 2013 sollten die öffentlichen Finanzbeiträge anhand der Kriterien „Zahlungsfähigkeit“ und „Emissionsverursacher“ festgelegt werden und auch wirtschaftlich fortgeschrittenere Entwicklungsländer mit einbeziehen. Auf der Grundlage dieser Hypothesen würde auf die EU je nach Gewichtung dieser beiden Kriterien ein Anteil von etwa 10 bis 30 % entfallen. Im Falle eines ehrgeizigen Ergebnisses von Kopenhagen könnte sich ein fairer Beitrag der EU daher je nach Umfang der vereinbarten globalen Finanzierung und der Gewichtung der einzelnen Verteilungskriterien im Jahr 2020 auf 2 bis 15 Mrd. EUR jährlich belaufen.

3.4.   Bei der Förderung von Anpassungsmaßnahmen sollten die anfälligsten und ärmsten Entwicklungsländer Priorität erhalten.

3.5.   Der internationale Luft- und Seeverkehr kann eine wichtige Quelle innovativer Finanzierungen sein.

3.6.   Die Verwaltung der künftigen internationalen Finanzierungsstruktur sollte dezentral und nach dem Bottom-up-Prinzip erfolgen. Ein neues hochrangiges Forum für internationale Klimafinanzierung sollte überwachend tätig sein und regelmäßig Lücken und Ungleichgewichte bei der Finanzierung von Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen überprüfen.

3.7.   Alle Länder mit Ausnahme der am wenigsten entwickelten Länder sollten bis 2011 Pläne für ein kohlenstoffarmes Wachstum mit glaubhaften mittel- und langfristigen Zielen ausarbeiten und jährliche Treibhausgasinventare erstellen.

3.8.   Im Zeitraum 2010-2012 bedarf es voraussichtlich einer Schnellstartfinanzierung für Anpassungs- und Klimaschutzmaßnahmen, Forschung und Kapazitätenaufbau in den Entwicklungsländern in der Größenordnung von 5 bis 7 Mrd. EUR jährlich. Zu diesem Zweck sollte die EU ab 2010 einen Sofortbeitrag in Höhe von 0,5 bis 2,1 Mrd. EUR jährlich bereitstellen. Sowohl der EU-Haushalt als auch die nationalen Haushalte sollten sich an dieser Finanzierung beteiligen.

3.9.   Für die Zeit nach 2012 würde die Europäische Kommission im Rahmen des Vorschlagspakets für den kommenden Finanzrahmen einen Vorschlag für ein einheitliches globales Angebot der EU unterbreiten und darin erläutern, ob dieses Angebot ab 2013 aus dem Haushalt zu finanzieren wäre, ob im Rahmen des Vorschlagspakets für den Finanzrahmen nach 2013 ein gesonderter Klimafonds eingerichtet werden sollte oder ob eine Kombination von beidem möglich wäre. Direktbeiträge der einzelnen Mitgliedstaaten könnten ebenfalls eine wichtige EU-Finanzierungsquelle im Rahmen der Gesamtanstrengungen der EU sein.

3.10.   Bei Nichtinanspruchnahme des EU-Haushalts sollten die Beiträge innerhalb der EU nach denselben Verteilungsgrundsätzen wie auf der internationalen Ebene festgesetzt werden, wobei den besonderen Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten Rechnung getragen wird.

4.   Allgemeine Anmerkungen

4.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Kommissionsmitteilung, mit der versucht wird, den derzeitigen Stillstand der Verhandlungen über ein neues Klimaübereinkommen in Kopenhagen durch die Vorlage eines Konzepts für die Klimafinanzierung zu lösen und die Notwendigkeit aufzuzeigen, auch weiterhin ehrgeizige Emissionsminderungsziele zu verfolgen.

4.2.   Die G77 (die Gruppe der Entwicklungsländer) hat klargestellt, dass die Bereitstellung ausreichender Mittel zur Klimafinanzierung für ihre Mitglieder die zentrale Frage im Rahmen eines UN-Klimaübereinkommens ist. Es wird allgemein anerkannt, dass die Entwicklungsländer (und deren ärmste Bevölkerungsschichten) als erste und am härtesten vom Klimawandel betroffen werden.

4.3.   Die Entwicklungsländer müssen bei der Bekämpfung des Klimawandels auch unterstützt werden; die EU hat einer derartigen Unterstützung im Rahmen der UN-Klimarahmenkonvention zugestimmt. Ihnen werden in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich Kosten in Höhe von Hunderten von Milliarden Euro jährlich entstehen.

4.4.   Der Ausschuss begrüßt, dass die Europäische Kommission den ersten Schritt getan und eine Analyse der verschiedenen Finanzierungsquellen vorgenommen hat, und lobt, dass sämtliche Quellen weiter untersucht werden sollen, sowohl im Hinblick auf die Identifizierung der Ressourcen als auch die Ausgabenoptionen und die Kanalisierung der Geldmittel. Allerdings argumentieren viele NGO und Ökonomen der Vereinten Nationen einhellig, dass sich die erforderliche Finanzierung seitens der Industrieländer für die Entwicklungsländer selbst bei konservativen Schätzungen auf rund 150 Mrd. USD (ca. 110 Mrd. EUR) jährlich belaufen wird.

4.5.   Dem neuen flexiblen Mechanismus für Gutschriften für Emissionsreduktionen auf sektoraler Ebene (SCM) sollte mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, um praktische Möglichkeiten für seine Umsetzung zu finden und die Gefahr eines Misserfolgs zu minimieren. Der Grundsatz der Zusätzlichkeit muss im Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (CDM) wie auch im Mechanismus für Gutschriften für Emissionsreduktionen auf sektoraler Ebene (SCM) berücksichtigt werden, um jedwede Verwirrung zu vermeiden.

4.6.   Die gesamte Klimafinanzierung sollte über neue Verpflichtungen zusätzlich zu denen der öffentlichen Entwicklungshilfe (ODA) der Industrieländer (in Höhe von 0,7 % des BNE) erfolgen, da der Klimawandel erhebliche Zusatzkosten über die Kosten hinaus verursachen wird, die ursprünglich in den Verpflichtungen bei der Festlegung der Ziele berücksichtigt wurden. Allerdings haben nur sehr wenige Länder ihr Versprechen eingehalten, die öffentliche Entwicklungshilfe auf 0,7 % des BNE zu erhöhen. Die Tendenz der letzten zehn Jahre lässt darauf schließen, dass dieses Versprechen wohl kaum erfüllt werden wird.

4.7.   Die EU sollte heute mehr denn je ihre Maßnahmen fortführen und ihre Führungsrolle in der internationalen Klimapolitik im Zuge der Verhandlungen über ein umfassendes neues Klimaübereinkommen in Kopenhagen behaupten. Die gegenwärtige Finanzkrise von ungekanntem Ausmaß wird von kurzer Dauer sein und letztlich vorübergehen. Der Klimawandel hingegen ist dauerhaft.

4.8.   Der Konjunkturaufschwung hängt von der Bewältigung des Klimawandels ab. Wenn die Regierungen die dieses Jahr dringend notwendigen Maßnahmen nicht ergreifen, werden sich die Kosten des Klimawandels wahrscheinlich auf über 20 % des globalen BIP belaufen. Laut Lord Stern, dem ehemaligen Chefökonomen der Weltbank, ist dies mehr als die Kosten der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre und beider Weltkriege zusammengenommen. Darüber hinaus werden auch zahlreiche Opfer in der Bevölkerung zu beklagen sein und viele Arten aussterben.

4.9.   Die EU sollte die Vereinigten Staaten und andere Länder weiterhin dazu drängen, ihre Standpunkte zur Klimafinanzierung darzulegen. Die versprochene Aufstockung internationaler und nationaler Finanzmittel sollte Gegenstand von Bestimmungen sein, die sich messen, darlegen und überprüfen lassen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.   Generierung adäquater Finanzströme

5.1.1.   Mobilisierung nationaler Finanzmittel

5.1.1.1.   Ein Großteil der erforderlichen Investitionen wird nicht nur in den Industriestaaten, sondern auch in den Entwicklungsländern inländisch von der Privatwirtschaft finanziert werden. Ein großer Teil dieser Investitionen ist bereits rentabel, da sich die zusätzlichen Investitionen durch niedrigere Energierechnungen amortisieren.

5.1.1.2.   Die ärmsten Länder, insbesondere die am wenigsten entwickelten Länder, sowie die ärmsten Bevölkerungsgruppen in den Entwicklungsländern werden nicht über ausreichende Mittel verfügen, um in Anpassungsmaßnahmen zur Abfederung der negativen Auswirkungen des Klimawandels zu investieren, und werden weitgehend auf öffentliche - inländische und internationale - Unterstützung angewiesen sein.

5.1.2.   Optimale Nutzung des CO2-Marktes

5.1.2.1.   Der Ausschuss stimmt dem Standpunkt zu, dass der internationale CO2-Markt ein Instrument zur Mobilisierung privater Investitionen in Entwicklungsländern ist, auch wenn er noch nicht ausgereift ist und zahlreiche Fragezeichen hinter der Qualität der Ausgleichsgutschriften stehen. Seine Effizienz kann durch eine Verknappung der CO2-Emissionsrechte in einem ehrgeizigen Kopenhagener Übereinkommen erhöht werden.

5.1.2.2.   Die marktbezogene Finanzierung in Form der Versteigerung eines gewissen Prozentsatzes der nationalen Emissionsrechte (Assigned Amount Units - AAU) im internationalen Emissionshandelssystem (und nicht im Europäischen Emissionshandelssystem (EU-EHS)) oder des Kaufs von Emissionsrechten zu einem Festpreis sollte das wichtigste Mittel zur Finanzbeschaffung für die UN-Klimarahmenkonvention sein. Diese neuen Finanzmittel könnten durch Gebühren für Luft- und Seeverkehr, die Versteigerung von Emissionsrechten in diesen beiden Bereichen in regionalen oder nationalen Emissionshandelssystemen (z.B. dem EU-EHS) sowie Transaktionsgebühren auf dem CO2-Markt ergänzt werden.

5.1.2.3.   Der CO2-Markt ist ein Derivatmarkt, auf dem Spekulationen über die zu erwartenden (künftigen) Preise von Emissionsminderungen durch Großinvestoren möglich sind. Dieser Markt zeigt bereits Schwächen und könnte eine weitere Destabilisierung des internationalen Finanzmarktes bedingen. In ihrer Sitzung in Bangkok argumentierten die Entwicklungsländer, dass die Anfälligkeit der Entwicklungsländer im Süden, die bereits jetzt unter der Nahrungsmittel-, Finanz- und Klimakrise leiden, noch verstärkt würde, wenn auf Marktmechanismen vertraut wird.

5.1.2.4.   Es bedarf Validierungs- und Verifizierungsverfahren, um die Verfahren im Rahmen des Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (CDM) und des Mechanismus für Gutschriften für Emissionsreduktionen auf sektoraler Ebene (SCM) zu beschleunigen.

5.1.2.5.   Es gilt, stärker in den Kapazitätenaufbau und die Schulung von Sachverständigen in allen Bereichen des CO2-Marktes in den Industrie- und den Entwicklungsländern zu investieren.

5.1.2.6.   Zur Umsetzung des Mechanismus für Gutschriften für Emissionsreduktionen auf sektoraler Ebene (SCM) muss eine transparente Definition der „wirtschaftlich fortgeschritteneren Entwicklungsländer“ festgelegt werden. Der Ausschuss befürwortet die Einführung dieses Mechanismus in wettbewerbsintensiven Wirtschaftssektoren, warnt jedoch vor einem hohen Misserfolgsrisiko, wenn der Mechanismus nicht so robust wie möglich konzipiert wird.

5.1.3.   Bestimmung des Umfangs der internationalen öffentlichen Finanzmittel

5.1.3.1.   Der Ausschuss stimmt der Aussage zu: „Je weniger Mittel der CO2-Markt generiert, desto höher wird der Bedarf an öffentlichen Finanzmitteln für Klimaschutzmaßnahmen sein.“

5.1.3.2.   Es müssen Mechanismen zur regelmäßigen Überprüfung des Bedarfs an öffentlicher Finanzierung eingerichtet werden. Die Europäische Kommission muss sich jedoch der Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen auf dem CO2-Markt durch öffentliche Finanzierung bewusst sein, die nicht direkt in Sektoren geht, in denen der CO2-Markt nicht zugänglich ist, es an Interesse an ihm mangelt oder es an Initiativen fehlt (z.B. Kapazitätenaufbau, Schulungen).

5.1.4.   Schnellstart in die internationale öffentliche Finanzierung für den Zeitraum 2010-2012

5.1.4.1.   Der Ausschuss anerkennt die Bedeutung, die einer schnell einsetzenden internationalen öffentlichen Unterstützung im Zusammenhang mit einem umfassenden, ausgewogenen und ehrgeizigen Übereinkommen von Kopenhagen zukommt. Diese Unterstützung sollte insbesondere auf Kapazitätsaufbau - auch zur Ausarbeitung von Plänen für ein emissionsarmes Wachstum -, auf die Bereitschaft zur Reduktion von Emissionen, auf Pilotprojekte und auf dringende Anpassungsmaßnahmen ausgerichtet sein. Das Ziel einer derartigen schnell einsetzenden Unterstützung sollte darin bestehen, wirksame und effiziente mittel- und langfristige Maßnahmen vorzubereiten und zu vermeiden, dass sich ehrgeizige Pläne verzögern.

5.1.5.   Innovative Finanzierung durch den internationalen Luft- und Seeverkehrssektor

5.1.5.1.   Der Schadstoffausstoß aus dem internationalen Luft- und Seeverkehr ist enorm und wächst rasch. Zur Stabilisierung der Konzentration atmosphärischer Treibhausgase muss dieser Ausstoß reguliert werden. Durch eine Regulierung in diesem Bereich könnten erhebliche Finanzmittel für das Klimaübereinkommen generiert werden. Die Kosten würden in erster Linie von den Flugreisenden und den Verbrauchern in den Industrieländern getragen. Hierfür bedarf es allerdings der Zusammenarbeit der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) und der internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO), die in den letzten zehn Jahren jedwede Bemühung gebremst haben, dieses Thema aufzugreifen.

5.1.6.   Festsetzung der Beiträge zur internationalen öffentlichen Finanzierung

5.1.6.1.   Der Ausschuss stimmt zu, dass „eine im Vergleich zum BIP stärkere Gewichtung der Emissionen einen zusätzlichen Anreiz für Emissionsverringerungen bieten (würde) und die EU sich in ihren frühzeitigen Minderungsmaßnahmen bestätigt (sähe)“. Es gilt jedoch, einen korrekten Gewichtungsmechanismus zu fördern, um in Kopenhagen auch wirklich ein Übereinkommen zu erreichen.

5.2.   EU-Beitrag zur öffentlichen Klimafinanzierung

5.2.1.   Der Ausschuss befürwortet die Entscheidung der Europäischen Kommission, dass die EU in den Verhandlungen mit einer Stimme spricht und ein einheitliches globales Angebot unterbreitet.

5.2.2.   In Bezug auf die Mittelkanalisierung empfiehlt der Ausschuss die Nutzung bestehender Strukturen. Allerdings sollten klare Überwachungs- und Berichterstattungsverfahren aufgestellt werden, um die Kosten zu minimieren und die korrekte Mittelnutzung sicherzustellen.

5.3.   Ein europäisches Konzept für eine dezentralisierte Struktur für die Klimafinanzierung nach dem Bottom-up-Prinzip

5.3.1.   Die EU-Governancestruktur könnte als Modell herangezogen werden. Dies könnte erhebliche Vorteile für die EU bei weiteren angenommenen Maßnahmen bringen.

5.3.2.   Der Ausschuss erachtet die Frist für die Übermittlung der Pläne für ein kohlenstoffarmes Wachstum für alle Länder (2011) für unrealistisch, wenn die EU solide und machbare Pläne fordert, da es selbst in einigen EU-Mitgliedstaaten an Know-how mangelt.

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/131


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Meldeformalitäten für Schiffe beim Einlaufen in oder Auslaufen aus Häfen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und zur Aufhebung der Richtlinie 2002/6/EG“

KOM(2009) 11 endg. — 2009/0005 (COD)

und zu der

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Mitteilung und Aktionsplan zur Errichtung eines europäischen Seeverkehrsraums ohne Grenzen“

KOM(2009) 10 endg.

(2010/C 128/25)

Berichterstatter: Edgardo Maria IOZIA

Der Rat beschloss am 27. Februar 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 80 Absatz 2 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Meldeformalitäten für Schiffe beim Einlaufen in oder Auslaufen aus Häfen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und zur Aufhebung der Richtlinie 2002/6/EG

KOM(2009) 11 endg. - 2009/0005 (COD).

Die Europäische Kommission beschloss am 21. Januar 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Mitteilung und Aktionsplan zur Errichtung eines europäischen Seeverkehrsraums ohne Grenzen

KOM(2009) 10 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte der Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 8. September 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 4. November) mit 159 gegen 2 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt insgesamt die Mitteilung der Kommission zur Errichtung eines europäischen Seeverkehrsraums ohne Grenzen und den Vorschlag für eine Richtlinie über Meldeformalitäten für Schiffe beim Einlaufen in oder Auslaufen aus Häfen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und zur Aufhebung der Richtlinie 2002/6/EG.

1.2.   Das vorgeschlagene Arbeitsprogramm ist ambitioniert und gut gegliedert und weist einen schlüssigen Aktionsplan auf, der konsequent auf die vorgeschlagenen Ziele hin ausgerichtet ist. Eine Straffung und Rationalisierung der Verwaltungsformalitäten, die sich nicht auf die gegenwärtigen Sicherheitsanforderungen und die Qualität der erforderlichen Kontrollen auswirkt, ist für ein verbessertes Einlaufen in und Auslaufen aus Häfen unerlässlich.

1.3.   Eine Verbesserung der Hafenaktivitäten könnte zu einer Rationalisierung des Güterverkehrs an der Schnittstelle zwischen Land und See führen und die Intermodalität zwischen See- und Schienenverkehr, Binnenwasserstraßen und Straßen entsprechend den Vorstellungen aus dem Weißbuch Verkehr vorantreiben, die in der Halbzeitbilanz bekräftigt wurden.

1.4.   Einige konkrete Vorschläge der Mitteilung müssen weiter vertieft werden, und der EWSA fordert die Kommission auf, Diskussionsrunden mit allen Beteiligten zu folgenden Themen zu veranstalten: Bescheinigungen über die Befreiung von der Lotsenannahmepflicht, Formalitäten für eine Vereinfachung des Gefahrgütertransports, Transport von Erzeugnissen pflanzlicher oder tierischer Herkunft und Koordinierung administrativer Inspektionen in Häfen („Ein-Schalter“-Konzept).

1.5.   Der EWSA hat sich bereits früher eindeutig zu den Besonderheiten der Lotsendienste in Häfen geäußert (1); sein Standpunkt dazu gilt weiterhin.

1.6.   Die Kommission selbst stellte in ihrer Mitteilung „Strategische Ziele und Empfehlungen für die Seeverkehrspolitik der EU bis 2018“ fest: „Der zunehmende Mangel an Fachleuten, Offizieren und Mannschaften birgt das Risiko, dass die kritische Masse an Humanressourcen, auf der die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen maritimen Industrien insgesamt beruht, nicht mehr gewährleistet ist.“

1.7.   Mit dem Vorschlag für eine Befreiung von der Lotsenannahmepflicht könnte die Lotsentätigkeit weiter eingeschränkt und der Beruf für junge Leute noch weniger attraktiv werden. Ob positive Auswirkungen zu erwarten sind, muss durch seriöse Studien und Untersuchungen geklärt werden, wohingegen negative Auswirkungen auf die Beschäftigungsquote und die Sicherheit in Häfen anscheinend bereits gewiss sind. Alternativ zu diesem Vorschlag könnte untersucht werden, wie eine Fernlotsung unter Verwendung technischer Innovationen ausgebaut werden könnte, die Zeit und Kosten erspart, aber gleichzeitig auch hohe Sicherheitsstandards gewährleistet. Bei Zusammenstößen oder anderen Havarien auf See mit Materialschäden oder Menschenverlusten dürfen die Versicherungsgesellschaften die vertragsmäßigen Versicherungsleistungen verweigern, wenn die Befähigungsnachweise der für das Schiff Verantwortlichen - des Kapitäns und des Schiffsingenieurs - nicht gültig sind. Der EWSA empfiehlt der Kommission, eine Gesprächsrunde mit allen Beteiligten, Reedern, Lotsen, Branchengewerkschaften und Hafenbehörden zu veranstalten, um die konkreten Auswirkungen dieses Vorschlags auf die Sicherheit und Beschäftigung zu erörtern.

1.8.   Der EWSA begrüßt das Vorhaben eines Europäischen Seeverkehrsraums ohne Grenzen (2) als Bestandteil der Initiative Kurzstreckenseeverkehr: es ist dringend eine gemeinsame Rechtsgrundlage festzulegen, damit Schiffe, die „Gemeinschaftswaren“ zwischen zwei Häfen der Europäischen Union (z.B. Lissabon und Neapel) befördern, die gleiche Behandlung wie die anderen Verkehrsträger erfahren.

1.9.   Der EWSA hätte es lieber gesehen, dass diese Möglichkeit in den neuen Zollkodex der Gemeinschaft aufgenommen worden wäre. Da die Kommission diesen Vorschlag nicht weiter verfolgen will, fordert der EWSA, ihn im Interesse einer möglichst raschen Realisierung wenigstens in die Durchführungsbestimmungen für den gemeinschaftlichen Zollkodex aufzunehmen, die bis Ende 2009 erlassen werden dürften.

1.10.   Der EWSA begrüßt die Initiative zur Schaffung einer einzigen Anlaufstelle, an die man sich bei allen Fragen wenden kann, wie auch die anderen Rationalisierungsmaßnahmen, etwa die Planung der Inspektionsbesuche durch die verschiedenen Hafen- und Zollbehörden und die Möglichkeit der elektronischen Übermittlung der Verwaltungsdokumente, unbeschadet der Maßnahmen der Zollbehörden zur Bekämpfung der Kriminalität.

1.11.   Der EWSA fordert die Kommission auf, eingehend zu prüfen, ob Schiffe, die zwischen zwei Häfen in der EU verkehren, dabei aber auch einen Drittstaat-Hafen anlaufen, ebenfalls diese Rechte erhalten können. Nach Angaben der Reederei-Verbände handelt es sich um eine beträchtliche Zahl an Schiffen, die damit von den Vorteilen eines europäischen Seeverkehrsraums ohne Grenzen profitieren könnten.

1.12.   Die Verwendung des Englischen als gemeinsame Sprache für den Seeverkehr in Analogie zum Luftverkehr würde die Verwaltungsverfahren und -formalitäten erheblich erleichtern.

2.   Mitteilung und Aktionsplan der Kommission

2.1.   Der freie Personen- und Warenverkehr muss bei allen Beförderungsarten gleichermaßen gewährleistet sein. Die Vorteile des Binnenmarkts müssen in der Weise konkretisiert werden, dass Maßnahmen zur Verwirklichung dieser Zielsetzung getroffen werden. Gegenwärtig genießt der Seeverkehr nicht dieselben Rechte wie der Landverkehr. Die zahlreichen Formalitäten, Verwaltungslasten und Inspektionen hemmen die Nutzung des Seeverkehrs für die Güterbeförderung innerhalb der Europäischen Union.

2.2.   In dem Dokument der Kommission wird das Problem der Verwaltungsverfahren im Seeverkehr angesprochen, die auch für den Transport von Gemeinschaftswaren im zollrechtlich freien Verkehr zwischen zwei Häfen innerhalb der EU besondere Zoll- und Transportvorschriften, Regelungen zur Tier- und Pflanzengesundheit und andere Formalitäten beinhalten.

2.3.   Es wird daran erinnert, dass der Rat bereits 2006 darauf hingewiesen und seine Forderung 2007 wiederholt hat, dass der Kurzstreckenseeverkehr stärker genutzt werden müsse. In der Mitteilung wird auch auf die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses von Ende 2006 hingewiesen, in der die Abschaffung der Kontrollen im Seeverkehr an den Binnengrenzen verlangt wird.

2.4.   In ihrer Halbzeitbilanz zum Verkehrsweißbuch hatte die Kommission die Errichtung eines europäischen Seeverkehrsraums ohne Grenzen angekündigt. Auch in dem „Blaubuch“ über eine integrierte Meerespolitik hat sie diese Absicht bekräftigt. Dieses Konzept entspricht ihrer Strategie zur Vereinfachung der Rechtsvorschriften und Verbesserung der Rechtsetzung.

2.5.   Der Kurzstreckenseeverkehr SSS (Short Sea Shipping) kann zu einer Verbesserung der Qualität des Angebots beitragen, da Schiffe pro Tonne Fracht die Umwelt weniger belasten, geringere externe Kosten erzeugen und die Überlastung des Straßenverkehrs verringern.

2.6.   Eine stärkere Nutzung des Kurzstreckenseeverkehrs könnte der Gemeinschaft auch dazu verhelfen, ihre im Kyoto-Folgeabkommen zu vereinbarenden CO2 –Ziele zu erreichen.

2.7.   Die Schiffsverkehrsdienste/Seeverkehrsmanagement- und –informationssysteme (VTS/VTMIS), die Informationen des Automatischen Identifizierungssystems (AIS) nutzen, sind gemeinsam mit dem künftigen System für die Fernidentifizierung und -verfolgung (Long-Range Identification and Tracking - LRIT) Bestandteil des fracht- und navigationsrelevanten elektronischen Systems für den Seeverkehr (e-Maritime). Die Nutzung dieser Technologien wird in Verbindung mit einem integrierten System für die Beobachtung und Überwachung die Kontrollmöglichkeiten über den Schiffsverkehr weiter erhöhen.

2.8.   Im Rahmen des Aktionsplans schlägt die Kommission elf Maßnahmen vor: drei kurz- und vier mittelfristige Projekte sowie vier Empfehlungen an die Mitgliedstaaten.

2.9.   Folgende kurzfristigen Maßnahmen sollen noch 2009 durchgeführt werden:

Vereinfachung der Zollförmlichkeiten für Schiffe, die ausschließlich zwischen Häfen der Europäischen Union verkehren;

Leitlinien für die Beschleunigung der Dokumentenkontrollen für zwischen EU-Häfen beförderte tierische und pflanzliche Erzeugnisse;

Richtlinie für eine Rationalisierung der Dokumente, die aufgrund unterschiedlicher Regelwerke vorzulegen sind.

2.10.   Im Plan sind folgende mittelfristigen Maßnahmen vorgesehen, die im Jahr 2010 vorgelegt werden sollen:

Vereinfachung der Verwaltungsformalitäten für Schiffe, die zwischen EU-Häfen verkehren, aber einen Zwischenhafen in einem Drittland oder in einer Freizone anlaufen;

verbesserte elektronische Datenübermittlung;

eine einzige Anlaufstelle für alle Verwaltungstätigkeiten;

Vereinfachung der Vorschriften für die Beförderung gefährlicher Güter im Seeverkehr.

2.11.   In Form von Empfehlungen werden vier langfristige Maßnahmen vorgeschlagen:

Koordinierung administrativer Inspektionen im Interesse kürzerer Umlaufzeiten der Schiffe;

Erleichterung der Kommunikation zwischen den Verwaltungen;

Bescheinigungen über die Befreiung von der Lotsenannahmepflicht;

Rationalisierung des Verkehrsflusses und Platzangebots in den Häfen.

3.   Bemerkungen des EWSA

3.1.   Der EWSA bringt seine Wertschätzung dieses Vorschlags der Kommission für den Aktionsplan zum Ausdruck, abgesehen von einigen kritischen Bemerkungen, die er im Folgenden darlegen möchte. Der Plan zur Errichtung eines europäischen Seeverkehrsraums ohne Grenzen wurde vom EWSA bereits gewürdigt, und er bekräftigt seine Unterstützung für diese Initiative nachdrücklich.

3.2.   Der Plan leidet allerdings unter den Schwierigkeiten, die von den Mitgliedstaaten der Verwirklichung einer kohärenten und eindeutigen Reglementierung zur Vollendung des Binnenmarktes in den Weg gelegt werden. Die größten Hindernisse bestehen in unnötigen Zollformalitäten, in der mangelnden Koordinierung der Inspektionen und Kontrollen seitens der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten und im Fehlen des elektronischen Datenaustauschs und von miteinander kompatiblen Systemen. Der EWSA fordert die Kommission auf, so bald wie möglich die Zollformalitäten und –verfahren für Schiffe, die ausschließlich zwischen EU-Häfen verkehren, zu vereinfachen, denn sie sind entscheidende Voraussetzungen für die Errichtung eines europäischen Seeverkehrsraums ohne Grenzen.

3.3.   Die Vereinfachung der Zollformalitäten für Schiffe, die ausschließlich zwischen EU-Häfen verkehren, ist für die Errichtung des europäischen Seeverkehrsraums ohne Grenzen von wesentlicher Bedeutung. Der Vorschlag zur Änderung des Zollkodex der Europäischen Gemeinschaft hätte die Probleme gelöst, aber angesichts der erst vor Kurzem erfolgten Änderung des Kodex wird nunmehr vorgeschlagen, die Rechtsgrundlage für den Seeverkehrsraum in die Durchführungsverordnung für den neuen Zollkodex einzufügen. Darin müsste - ausschließlich für Zwecke des freien Warenverkehrs für Gemeinschaftswaren - festgelegt werden, dass zu diesem Seeverkehrsraum auch die Gemeinschaftswaren an Bord der Schiffe gehören, die zwischen zwei EU-Häfen verkehren.

3.4.   Bei den meisten Vorschlägen für Maßnahmen beschränkt sich die Kommission darauf, die Mitgliedstaaten aufzufordern, zielgerichtete Maßnahmen zur Verbesserung und Erleichterung der Verwaltungsverfahren zu treffen; hier wären jedoch viel strengere und verbindlichere Initiativen erforderlich.

3.5.   In ihrem Vorschlag konzentriert sich die Kommission allzu sehr auf einen der drei Pfeiler der Lissabon-Strategie, nämlich die Wirtschaftspolitik, während der Ausschuss eine größere Ausgewogenheit der Wirtschaftsinteressen mit den anderen grundlegenden Aspekten, nämlich den sozialen und ökologischen, für angebracht hält.

3.6.   Der EWSA spricht sich für die Initiativen zugunsten einer Verbesserung des Rechts- und Regelungsrahmens für den Binnenmarkt aus, vorausgesetzt, dass diese Maßnahmen niemals den Schutz der Bürger, der Arbeitnehmer und der Umwelt oder die Beschäftigungslage gefährden. Bei einigen vorgeschlagenen Maßnahmen wie etwa den Bescheinigungen über die Befreiung von der Lotsenannahmepflicht scheinen solche Gefahren jedoch gegeben zu sein.

3.7.   Seeverkehr gestattet die Beförderung großer Mengen von Waren bei verhältnismäßig günstigen CO2-Emissionswerten pro Tonne Fracht bzw. pro Kilometer. Darüber hinaus sind noch große Verbesserungen durch die Entwicklung neuer Motoren, die Verwendung reinerer Treibstoffe und die Drosselung der Fahrgeschwindigkeit möglich. Durch eine Verkürzung der Wartezeiten in Häfen, die aufgrund unnötiger Verwaltungsverfahren entstehen, würde die Zahl der Schiffsbewegungen in Häfen zugunsten größerer Effizienz und Kosteneinsparungen steigen und ein Beitrag zur Verwirklichung des Ziels der Senkung der Treibhausgase und einer sicheren und nachhaltigen Mobilität geleistet werden (3). Dadurch würde der Frachtverkehr in einem Verkehrsraum ohne Grenzen an Attraktivität gewinnen, und außerdem würde ein umweltfreundlicher Verkehrsträger unterstützt.

3.8.   Der EWSA hat bereits zum Ausdruck gebracht, dass er das Programm Marco Polo II unterstützt, mit dem die Überlastung der Verkehrswege verringert, die Umweltfreundlichkeit der Verkehrssysteme verbessert und der kombinierte Verkehr ausgebaut werden soll, indem die prognostizierte jährliche Gesamtzunahme des internationalen Güterstraßenverkehrs auf die Küstenschifffahrt, den Schienenverkehr oder die Binnenschifffahrt umgeleitet werden. Der Aktionsplan bildet die Ergänzung zu einer umfassenderen Strategie, zu dem auch die Schaffung von „Meeresautobahnen“ gehört. Die Inbetriebnahme des satellitengestützten Ortungssystems GALILEO wird die Umsetzung dieser Strategie weiter vereinfachen.

3.9.   Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verwaltungsvereinfachung folgen einer mittlerweile eingeübten und zweckmäßigen Praxis der Union, nämlich die Notwendigkeit und Wirksamkeit gemeinschaftlicher Rechtsvorschriften zu prüfen oder zu untersuchen, ob Verfahrensweisen und Vorschriften der Mitgliedstaaten zu den Grundsätzen des Vertrags in Widerspruch stehen.

4.   Besondere Bemerkungen. Die kurzfristigen Maßnahmen

4.1.   Die Richtlinie

4.1.1.   Die vorgeschlagene Richtlinie ist sicher nicht die wichtigste Maßnahme des Aktionsplans. Sie soll die geltende Richtlinie 2002/6/EG ersetzen und mittels dreier wichtiger Innovationen Verfahrensvereinfachungen erlauben: Verwendung des vorhandenen europäischen Modells zur Vermeidung übermäßigen Dokumentationsaufwands anstelle des Modells nach dem FAL-Übereinkommen der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) vom 9. April 1965, das im Juli 2005 überarbeitet wurde; Nutzung der elektronischen Datenübermittlung und Einrichtung einer einzigen Anlaufstelle, bei der alle erforderlichen Erklärungen und Dokumente eingereicht werden.

4.1.2.   Der EWSA befürwortet diesen Richtlinienvorschlag, der es gestattet, mit einfachen Mitteln die Aufgaben der Kapitäne und Reedereien zu erleichtern. Aber er empfiehlt, darauf zu achten, dass sich diese Vereinfachung nicht negativ auf die gegenwärtigen Gesundheits- und Umweltschutzvorkehrungen - beispielsweise bezüglich der Vorschriften für Schiffsabfälle und Ladungsrückstände - auswirkt.

4.2.   Der EWSA hält es für erforderlich, die Ermittlung der Leitlinien für die Beschleunigung der Dokumentenkontrollen für zwischen EU-Häfen beförderte tierische und pflanzliche Erzeugnisse näher zu erläutern. Die Verbreitung von Pandämien wie die Vogel- oder Schweinegrippe versetzt die öffentliche Meinung überall auf der Erde in Alarmstimmung und erfordert verstärkte Sicherheitsmaßnahmen. Die Rückverfolgbarkeit der Erzeugnisse ist unerlässlich, um etwaige Infektionsherde einzugrenzen; deshalb muss aus den vorgeschlagenen Maßnahmen deutlich hervorgehen, dass sie keine Abstriche an den derzeitigen Vorschriften bewirken werden.

5.   Besondere Bemerkungen. Die mittelfristigen Maßnahmen

5.1.   Ein Teil des Seeverkehrs wird durch Schiffe abgewickelt, die zwischen zwei EU-Häfen verkehren, dabei aber in einem Drittstaat oder einem Freihafen Station machen. Der EWSA sieht die Notwendigkeit, auch für diese Schiffe die Verwaltungsvorschriften zu vereinfachen. Die Entwicklung der Luft- und Raumfahrttechnik für die Ermittlung und Verfolgbarkeit und die ständige Verbesserung der elektronischen Identifizierungssysteme für Gemeinschaftswaren können gleichzeitig die Herkunftssicherung gewährleisten und den Zeit- und Kostenaufwand der Reedereien senken.

5.2.   Die Verbesserung des elektronischen Datenübermittlungssystems (e-Maritime), das sich bestens mit dem vorgesehenen elektronischen System für den neuen gemeinschaftlichen Zollkodex, e-Zoll, verbinden lässt, was übrigens mit der Entscheidung 70/2008/EG vorgesehen ist, ist Teil der vom EWSA angestrebten Lösungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürger und zum Abbau von überflüssigen und kontraproduktiven bürokratischen Verfahren.

5.3.   Die einzige Anlaufstelle für alle Verwaltungstätigkeiten wird ebenfalls erwartet. Es fragt sich, weshalb sie nicht schon längst geschaffen wurde. Der EWSA unterstützt diesen Vorschlag mit Nachdruck und fordert die Mitgliedstaaten auf, möglichst rasch die dafür erforderlichen Maßnahmen zu treffen.

5.4.   Vereinfachung der Vorschriften für die Beförderung gefährlicher Güter. Die derzeitigen Vorschriften verlangen bei Gefahrguttransporten auf verschiedenen Verkehrsträgern erheblich mehr Verwaltungsaufwand, als wenn nur ein Verkehrsmittel benutzt wird. Der Seeverkehr ist nun immer häufiger Teil einer multimodalen Beförderungskette, wird aber gegenüber einem einzigen Verkehrsträger wie etwa dem Straßenverkehr benachteiligt, was die Verwendung von Schiffen hemmt. Bei strikter Einhaltung der besonderen Sicherheitsniveaus für den Seeverkehr können nach Auffassung des EWSA einige Maßnahmen getroffen werden, insbesondere was die Ro-Ro-Schiffe (Roll-on/roll-off) betrifft, die Fahrzeuge befördern, die ihrerseits bereits die Vorschriften einhalten, die in der Richtlinie über Gefahrguttransporte oder im ADR-Übereinkommen über die internationale Beförderung vom 30. September 1957 vorgesehen sind.

6.   Besondere Bemerkungen. Die empfohlenen weiteren Maßnahmen

6.1.   Koordinierung administrativer Inspektionen. Nach derselben Logik wie bei der einzigen Anlaufstelle müssen die Hafen-, Zoll- und Polizeibehörden ihre zusammengehörigen Inspektionen aufeinander abstimmen und diese möglichst für denselben Zeitpunkt planen oder zumindest zeitnah programmieren. Mit solchen Maßnahmen würde beim Entladen viel Zeit eingespart, wenn man bedenkt, dass in einigen Mitgliedstaaten das Entladen erst nach der Durchführung aller Inspektionen gestattet ist. Der EWSA befürwortet diesen Vorschlag mit Nachdruck.

6.2.   Erleichterung der Kommunikation zwischen den Verwaltungen. Mit diesem Vorschlag wird ein sehr heikles Problem angepackt: die Verwendung einer gemeinsamen Sprache im Seeverkehr. Die Kommission legt nahe, sich auf die Verwendung einer gemeinsam mit einem Nachbarland gesprochenen Sprache oder der englischen Sprache zu verständigen. Sie überwindet ihre traditionelle diplomatische Zurückhaltung und betont die Bedeutung einer solchen Wahl aus praktischen Gründen. Dieser Vorschlag ist sinnvoll und zweckmäßig. Der EWSA ist der Ansicht, dass ebenso wie im Flugverkehr auch im Seeverkehr eine gemeinsame Sprache benutzt werden sollte, und zwar nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus Sicherheitsgründen. Mayday lautet der internationale Notruf, und auch im internationalen Funkverkehr wird in der Regel Englisch gesprochen. Um die Verständigung zu erleichtern, könnten elektronische Übersetzungssysteme eingesetzt werden, mit denen die bei jedem Entladen auszufüllenden Textbausteine und Formulare übersetzt werden.

6.3.   Bescheinigungen über die Befreiung von der Lotsenannahmepflicht. Der EWSA spricht sich dafür aus, diesen Vorschlag noch einmal gründlich zu prüfen, da er ihn für nicht zweckmäßig und nicht angemessen hält. Das Amt des Hafenlotsen verlangt höchste Professionalität und gründet wesentlich auf den täglichen Erfahrungen im jeweiligen Hafen, dessen Befahrbarkeit sich bekanntlich wegen Strömungen, Gezeiten, meteorologischen Bedingungen und Verkehrssituationen plötzlich ändern kann. Somit wären Zeitersparnisse nicht sehr erheblich und die Kosten würden sich auf die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen verlagern. Deshalb fordert der EWSA die Kommission auf, den Vorschlag zu überarbeiten und gemeinsam mit den Lotsenorganisationen zu prüfen, wie der Dienst ohne Abstriche an der Sicherheit am besten gestaltet werden kann.

6.4.   Rationalisierung des Verkehrsflusses und Platzangebots in den Häfen. Hierbei handelt es sich um Maßnahmen, die nach Ansicht des EWSA von den verschiedenen See- und Hafenbehörden „im Wettbewerb miteinander“ durchgeführt werden. Die Hafenbehörden sollten bedenken, dass auch die kleinen und mittelgroßen Schiffe nicht benachteiligt werden. Denn ein besserer Service lockt mehr Verkehr an und es dürfte deshalb auf der Hand liegen, dass jede Behörde Investitionen plant, die für eine Effizienzsteigerung des eigenen Hafens erforderlich sind. Deshalb hält der EWSA den Vorschlag für sinnvoll!

6.5.   Der EWSA ist schließlich der Auffassung, dass der Vorschlag der Kommission rascher verwirklicht werden muss und fordert angesichts der Bedeutung des Themas, dass diejenigen Dienste, die sich mit der praktischen Umsetzung des Programms für den - gegenwärtig unerklärlicherweise eingeschränkten - Kurzstreckenseeverkehr befassen, auch mit dem erforderlichen Personal ausgestattet werden.

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 48 vom 21.2.2002, S. 122; ABl. C 294 vom 25.11.2005, S. 25; ABl. C 168 vom 20.7.2007, S. 50.

(2)  ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 45-48.

(3)  ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 20-24 - Berichterstatterin: Anna BREDIMA.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/136


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Bericht der Kommission gemäß Artikel 3 der Richtlinie 2001/77/EG und Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 2003/30/EG sowie über die Umsetzung des EU-Aktionsplans für Biomasse (KOM(2005) 628)“

KOM(2009) 192 endg.

(2010/C 128/26)

Die Europäische Kommission beschloss am 24. April 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

„Bericht der Kommission gemäß Artikel 3 der Richtlinie 2001/77/EG und Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 2003/30/EG sowie über die Umsetzung des EU-Aktionsplans für Biomasse (KOM(2005) 628)“

KOM(2009) 192 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 12. Oktober 2009 an. Berichterstatterin war Lavinia ANDREI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 4. November) mit 97 gegen 2 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Nach Ansicht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses stellt der Klimawandel eine der größten ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedrohungen unseres Planeten dar, und nur wenn alle Staaten ihrer Verantwortung nachkommen und rasch Maßnahmen ergreifen, können seine Auswirkungen eingedämmt werden. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten jedoch weiterhin als Vorreiter einer ambitionierten Klimapolitik wirken. Die Verwendung erneuerbarer Ressourcen könnte einen wesentlichen Ansatz für die Verringerung des Klimagasausstoßes sowie für die Sicherung der Energieautarkie und Energieversorgungssicherheit Europas bieten.

1.2.   Der Ausschuss befürchtet, dass die EU die in den Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG für 2010 gesteckten Ziele wahrscheinlich nicht erreichen wird, und fordert die Mitgliedstaaten dringend auf, verantwortungsbewusst Maßnahmen zu ergreifen und alles daran zu setzen, die vereinbarten Ziele bis 2010 zu verwirklichen.

1.3.   Der Ausschuss unterstreicht die Notwendigkeit einer gemeinsamen langfristigen EU-Energiestrategie. Außerdem tut für den Strommarkt ein stabiler und zuverlässiger ordnungspolitischer Rahmen Not.

1.4.   Der Bereich der erneuerbaren Energieträger (EE) wird vielfältige Möglichkeiten für die Entstehung von Arbeitsplätzen in Europa und für die regionale Entwicklung eröffnen.

1.5.   Es sollte jedoch genauer bewertet werden, welche zusätzlichen finanziellen Belastungen für die Privathaushalte entstehen.

1.6.   Landwirtschaftlichen Betrieben und KMU könnte im Bereich der erneuerbaren Energieträger eine Schlüsselrolle zukommen.

1.7.   Wie schon zuvor betont der Ausschuss, dass im Verkehrsbereich zunächst auf Energieeffizienz gesetzt werden sollte und dann möglicherweise noch auf Biokraftstoffe, eine nachhaltige Biokraftstofferzeugung vorausgesetzt.

1.8.   Um ihre Ziele zu erreichen, sollten die Mitgliedstaaten die eingesetzten Technologien diversifizieren und in diesem Sinne neue Motoren im Verkehrsbereich einsetzen, stärker in alternative Kraftstoffe wie Biokraftstoffe der zweiten und dritten Generation investieren und weiterführende Forschung und Entwicklung fördern.

1.9.   Im Hinblick auf eine integrierte Beurteilung des Biokraftstoffpotenzials und zur Vermeidung der Verwendung von wertvollem Agrarland oder Flächen mit hoher biologischer Vielfalt empfiehlt der Ausschuss, dass jeder Mitgliedstaat eine Landkarte bereitstellt, auf der die für den Anbau von Energiepflanzen geeigneten Flächen ausgewiesen sind.

1.10.   Angesichts von Befürchtungen, dass die Waldbewirtschaftung unter Druck geraten könnte, empfiehlt der Ausschuss, dass zunächst ein geeignetes Überwachungssystem eingerichtet wird, bevor einschneidende Maßnahmen und Entscheidungen in Bezug auf die für die Energieerzeugung genutzte Biomasse getroffen werden.

1.11.   Die Kommission sollte gegebenenfalls angemessene Mittel für die Bewusstseinsförderung der Öffentlichkeit und die Sensibilisierung der EU-Bürger für Energiefragen vorsehen. Des Weiteren sollten Mittel bereitgestellt werden, um zu gewährleisten, dass in den Bereichen Energieeffizienz und Energieerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern Fachleute zur Verfügung stehen.

Es sollten – immer wieder – Vorschläge unterbreitet werden, um sicherzustellen, dass die für F+E im Bereich der erneuerbaren Energieträger vorgesehenen Haushaltsmittel auf Ebene sowohl der Mitgliedstaaten als auch der EU trotz der Finanzkrise aufrecht erhalten und aufgestockt werden, damit die EU nicht innerhalb kürzester Zeit ihre Vorreiterstellung verliert.

1.12.   In den nächsten Fortschrittsberichten sollte die Europäische Kommission auch auf die Überwachung und Berichterstattung im Zusammenhang mit der Behandlung und Wiederverwertung von EE-Anlagen am Ende ihres Lebenszyklus eingehen.

2.   Einleitung

2.1.   Am 24. April 2009 nahm die Kommission ihre Mitteilung „Fortschrittsbericht ‚Erneuerbare Energien‘“ (KOM(2009) 192 endg.) an, zu der ein ausführlicheres Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen (SEK(2009) 503 endg., liegt nur in englischer Sprache vor) gehört. Auszug aus dem Arbeitsdokument: „In der Mitteilung wird der europäische politische Rahmen für die Entwicklung der erneuerbaren Energieträger zusammengefasst: die Bedeutung der erneuerbaren Energieträger für die Erfüllung der Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsziele, die Verbesserung der Energieversorgungssicherheit und die Entwicklung einer innovativen europäischen EE-Industrie zur Schaffung von Beschäftigung und Wohlstand in Europa“.

2.2.   In den Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG legte die Kommission Ziele für das Jahr 2010 für den Anteil der erneuerbaren Energieträger an der Stromerzeugung und im Verkehrsbereich fest. Diesen Richtlinien zufolge müssen die EU-Mitgliedstaaten jährlich Bericht erstatten und die erzielten Fortschritte anhand der nationalen Richtziele aufschlüsseln, während die Europäische Kommission alle zwei Jahre die Fortschritte überprüft. Darüber hinaus wurde im Jahr 2005 ein Aktionsplan für Biomasse (1) verabschiedet, um den notwendigen gezielten Ausbau der europäischen Biomasseressourcen in den Mitgliedstaaten ins Blickfeld zu rücken.

2.3.   Die Wahl der jeweils am besten geeigneten Förderregelung zur Erreichung der Ziele blieb den Mitgliedstaaten überlassen.

2.4.   In diesem jüngsten Fortschrittsbericht wird festgestellt, dass in den vergangenen zwei Jahren kaum Fortschritte erzielt worden sind und lediglich zwei Mitgliedstaaten ihre Ziele bereits erreicht haben. Dies bekräftigt die Schlussfolgerung, dass die EU die für 2010 gesetzten Ziele wahrscheinlich verfehlen wird. Die EU könnte einen EE-Anteil von 19 % anstatt 21 % bei der Deckung ihres Strombedarfs und von 4 % anstatt 5,75 % im Verkehrssektor erreichen.

2.5.   In ihrem Bericht fasst die Kommission die Gründe hierfür zusammen und erläutert, dass die neue Erneuerbare-Energien-Richtlinie (2009/28/EG) (2), die im Rahmen des Energie- und Klimapakets vereinbart wurde, alle in dem Bericht vorgetragenen Anliegen aufgreift und eine stabile Grundlage für die Beseitigung von Hemmnissen und die Stärkung des Wachstums der erneuerbaren Energieträger in den kommenden zehn Jahren bietet.

3.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsdokumente

3.1.   Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern

3.1.1.   In ihrer Mitteilung geht die Kommission auf Fortschrittsberichte ein, wobei sie sich für Strom auf Daten aus dem Zeitraum 2004 bis 2006 und für Biokraftstoffe auf Daten aus dem Jahr 2007 stützt.

3.1.2.   Daraus geht hervor, dass der Anteil der erneuerbaren Energieträger bei der Deckung des Strombedarfs für die EU als Ganzes von 14,5 % im Jahr 2004 auf 15,7 % im Jahr 2006 gestiegen ist. Die 21 %-Marke bis 2010 kann nicht ohne erhebliche zusätzliche Anstrengungen erreicht werden. Lediglich zwei Länder, Ungarn und Deutschland, haben ihre Zielvorgabe für 2010 bereits erfüllt, sechs Mitgliedstaaten haben diesbezüglich Fortschritte erzielt, die über dem europäischen Durchschnitt liegen, doch in sieben Mitgliedstaaten haben die Anteile an erneuerbaren Energien stagniert oder sind sogar zurückgegangen.

3.1.3.   Auch das Spektrum der eingesetzten Technologien ist begrenzt geblieben. Das größte Wachstum war bei der Nutzung fester Biomasse und der Windenergie zu verzeichnen.

3.1.4.   Das unterschiedliche Fortschrittstempo ist auf die 27 verschiedenen Förderregelungen zurückzuführen, die u.a. Einspeisungstarife, Prämienregelungen, grüne Zertifikate, Steuerbefreiungen, Auflagen für Kraftstofflieferanten, das öffentliche Beschaffungswesen und Forschung und Entwicklung umfassen. Mangelnde Kontinuität und rasche Veränderungen in Politik und Mittelausstattung behindern Projekte zur Entwicklung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern.

3.1.5.   Die größten Probleme entstehen durch Verwaltungsbehörden und im Bereich des Netzzugangs: unzureichende Netzkapazität, undurchsichtige Verfahren für den Netzanschluss, hohe Anschlusskosten und lange Vorlaufzeiten bis zur Genehmigung des Netzanschlusses. Diese wesentlichen Erschwernisse gehen häufig eher auf eingeschränkte administrative und sonstige Ressourcen als auf technologische Grenzen zurück.

3.1.6.   In zahlreichen Mitgliedstaaten werden außerdem nach wie vor durch die Netzanschluss- und -erweiterungskosten sowie die Entgeltregelungen einiger Übertragungs- bzw. Verteilungsnetzbetreiber die etablierten Erzeuger begünstigt und neue, kleinere, häufig dezentral operierende EE-Strom-Erzeuger benachteiligt. Dadurch werden Wachstum und Beschäftigung auf lokaler Ebene beeinträchtigt.

3.1.7.   Das Herkunftsnachweissystem ist immer noch nicht von allen Mitgliedstaaten in vollem Umfang umgesetzt worden. Problempunkte sind Zuverlässigkeit, Doppelzählung und die Gefahr, dass bei der Stromkennzeichnung ein und dieselbe Energiemenge zwei verschiedenen Abnehmergruppen zugewiesen wird. Dies hat sich negativ auf den Verbrauchermarkt für EE-Strom ausgewirkt.

3.2.   Erneuerbare Energieträger im Verkehrssektor

3.2.1.   Die Richtlinie zur Förderung der Verwendung erneuerbarer Energieträger im Verkehrssektor (Richtlinie 2003/30/EG) schrieb den Mitgliedstaaten vor, für die Jahre 2005 und 2010 Zielvorgaben für den Anteil erneuerbarer Energien zur Ersetzung von Benzin und Diesel im Verkehrssektor festzulegen und dabei von den Bezugswerten 2 % bzw. 5,75 % auszugehen. Dem Fortschrittsbericht vom Januar 2007 (3) zufolge hatten Biokraftstoffe im Jahr 2005 einen Anteil von 1 % in der Europäischen Union. Die Bezugswerte wurden nur in Deutschland und Schweden erreicht.

3.2.2.   Den Berichten der Mitgliedstaaten zufolge betrug der Biokraftstoffanteil im Verkehrssektor der EU im Jahr 2007 8,1 Mio. t RÖE (2,6 %) des Gesamtkraftstoffverbrauchs. Im Jahr 2007 entfielen auf Biodiesel 6,1 Mio. t RÖE bzw. 75 % der im Verkehrssektor verwendeten Kraftstoffe aus erneuerbaren Energiequellen. Davon stammten 26 % aus Einfuhren. Bioethanol machte einen Anteil von 1,24 Mio. t RÖE oder 15 % der erneuerbaren Kraftstoffe im Verkehrssektor aus, wobei 31 % davon aus Einfuhren stammten, und bei den übrigen 10 % handelte es sich um reines Pflanzenöl, das in Deutschland, Irland und den Niederlanden verbraucht wurde, sowie um Biogas, das in Schweden genutzt wurde.

3.2.3.   Beim Verbrauch von Biokraftstoffen lagen 2006 und 2007 Deutschland, Frankreich, Österreich, Schweden und das Vereinigte Königreich an der Spitze und verbrauchten 87 % bzw. 81 % des gesamten EU-Biokraftstoffaufkommens. Über die Verwendung anderer Arten erneuerbarer Energien im Verkehrssektor wurde nicht berichtet. Die Nutzung von Wasserstoff aus Quellen jeder Art schlägt nach wie vor kaum zu Buche. Im Straßenverkehr kommt nur wenig Strom aus erneuerbaren Quellen zum Einsatz.

3.2.4.   Die Netto-Bioethanol-Importe sind von 171 000 t RÖE im Jahr 2005 auf 397 000 t RÖE im Jahr 2007 angestiegen, während die einheimische Biodiesel-Erzeugung zurückgegangen ist. Die im Jahr 2005 noch positive EU-Handelsbilanz für Biodiesel (Ausfuhr von 355 000 t RÖE) fiel im Jahr 2007 negativ aus (Einfuhr von 1,8 Mio. t RÖE). Eine der Hauptursachen dieser Entwicklung war der geringere Preis von Sojaöl-Methylester aus den Vereinigten Staaten sowie die Ethanol-Produktion aus Zuckerrohr in Brasilien und Argentinien.

3.2.5.   Steuererleichterungen und Biokraftstoffverpflichtungen sind die gängigsten Instrumente, auf die die Mitgliedstaaten zurückgreifen, um Biokraftstoffe zu fördern. In den Jahren 2005-2006 setzten alle Mitgliedstaaten - mit Ausnahme Finnlands - in erster Linie auf Verbrauchssteuerbefreiungen. Biokraftstoffverpflichtungen bestanden lediglich in drei Ländern. Seit 2007 haben jedoch mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten eine Verpflichtung zur Herstellung von Kraftstoffmixen, denen bestimmte Biokraftstoffe beigemischt sind, eingeführt, in den meisten Fällen kombiniert mit günstigen, allerdings zunehmend höheren Steuersätzen. Einige Mitgliedstaaten verfügen über Quotenregelungen und Ausschreibungssysteme.

3.2.6.   Ferner fördern einige Mitgliedstaaten Biokraftstoffe durch gezielte Maßnahmen. Entsprechende Förderregelungen betreffen u.a. die Erzeugung der landwirtschaftlichen Rohstoffe, die industriellen Verfahren zur Herstellung der Zwischen- und Enderzeugnisse, die Verteilung der Biokraftstoffe sowie den Kauf und die Instandhaltung von mit Biokraftstoff betriebenen Fahrzeugen.

3.3.   Wirtschaftliche und ökologische Auswirkungen

3.3.1.   Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet hat die vermehrte Nutzung von Biokraftstoffen einen Beitrag zur Versorgungssicherheit geleistet, indem sie zu einer Verringerung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und zu einer Diversifizierung des Kraftstoffmixes in der Europäischen Union geführt hat.

3.3.2.   Die Biomasse- und Biokraftstoffbranchen haben auch durch die Schaffung von Arbeitsplätzen einen Beitrag zur EU-Wirtschaft geleistet. Im Jahr 2005 waren im Bereich der Nutzung von Biomasse ohne Netzeinspeisung 600 000 Personen beschäftigt, in den Bereichen Biomasse mit Netzeinspeisung und Biokraftstoffe mehr als 100 000 Personen und im Bereich Biogas etwa 50 000 Personen. Darüber hinaus spielen Land- und Forstwirtschaft eine wichtige Rolle als Brennstofflieferanten für Biomasse-Technologien.

3.3.3.   Die Netto-Treibhausgaseinsparungen, die in den Jahren 2006 und 2007 EU-weit durch die Vermarktung und den Verbrauch von Biokraftstoffen erzielt wurden, sind auf 9,7 bzw. 14,0 Mio. t CO2-Äquivalent zu beziffern. Dabei ist davon auszugehen, dass zur Erzeugung von Biokraftstoffen in der Europäischen Union zum Großteil ohnehin stillgelegte Agrarflächen umgewidmet wurden oder die Aufgabe von Nutzflächen verlangsamt wurde.

3.3.4.   Die Einführung von Biokraftstoffen ist zwar immer noch teurer als andere CO2-Minderungstechnologien in anderen Sektoren, stellt aber auf dem gegenwärtigen Stand der Technik eine der gangbaren Lösungen zur Verringerung der zunehmenden CO2-Emissionen im Verkehrssektor dar.

3.4.   Vertragsverletzungsverfahren

3.4.1.   Seit 2004 hat die Kommission 61 Verfahren gegen Mitgliedstaaten wegen Nichteinhaltung der Richtlinie 2001/77/EG zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt eingeleitet. 16 von diesen 61 Fällen sind noch nicht abgeschlossen. Auf der Grundlage der Richtlinie 2003/30/EG zur Förderung der Verwendung von Biokraftstoffen oder anderen erneuerbaren Kraftstoffen im Verkehrssektor hat die Kommission seit 2005 62 Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten eingeleitet. Vielfach ging es dabei darum, dass die betreffenden Länder ihren Berichtspflichten nicht nachgekommen waren oder es versäumt hatten, nationale Ziele im Einklang mit den in der Richtlinie vorgegebenen Bezugswerten festzulegen.

3.5.   Nutzung erneuerbarer Energieträger im Wärme- und Kältesektor

3.5.1.   Auf diesen Sektor entfallen etwa 50 % des gesamten Endenergieverbrauchs und 60 % des gesamten EE-Endverbrauchs. Dabei dominiert die Nutzung von Biomasse, doch kommen auch Solarenergie und Geothermie zum Einsatz.

3.5.2.   Biomasse kann für die Erzeugung von Wärme und Strom genutzt und auch als sog. Biokraftstoffe im Verkehrssektor eingesetzt werden. Vor diesem Hintergrund hat die EU im Jahr 2005 den 33 Maßnahmen umfassenden Aktionsplan für Biomasse (BAP) vorgelegt und damit verdeutlicht, wie wichtig eine Koordinierung der Politik in diesem Bereich ist. Deshalb wird im Rahmen des vorliegenden Berichts auch auf die Fortschritte in der Biomassebranche eingegangen.

3.5.3.   Zu den Problemen, die einem Wachstum im Bereich Biomasse entgegenstehen, zählen auch administrative und marktfremde Hemmnisse, wie etwa das Fehlen klarer, abgestimmter Begriffsdefinitionen sowie die langwierigen, rechtlich komplizierten Verfahren zur Erteilung der erforderlichen Genehmigungen.

3.5.4.   Der Entwicklung von Bioenergie-Anlagen in den EU-Mitgliedstaaten stehen immer noch diverse Verwaltungshemmnisse im Weg. Die Kommission hat eine Benchmarking-Studie über die Erteilung von Genehmigungen für Bioenergie-Anlagen durchgeführt und den damit verbundenen Zeitaufwand sowie die Einflussgrößen für die Erteilung oder Ablehnung einer Genehmigung in der EU analysiert.

4.   Allgemeine Anmerkungen

4.1.   Der Ausschuss begrüßt die Mitteilung der Kommission und betont die nach wie vor gegebene Notwendigkeit eines neuen und stärkeren Rechtsrahmens, einer ständigen Überwachung und regelmäßigen Berichterstattung. Einige der genannten Hemmnisse sind bereits bei der Ausarbeitung der neuen Erneuerbare-Energien-Richtlinie und der Leitlinien für die nationalen Aktionspläne berücksichtigt worden.

4.2.   Der EWSA betont, dass er sich klar zur Nutzung der EE bekennt und dass ihm bewusst ist, dass mittel- und langfristig ein weitaus höherer Anteil als die bis zum Jahr 2020 anvisierten 20 % nötig ist, um die ehrgeizigen Ziele des Rates (minus 60-80 % beim CO2 sowie höhere Energieautarkie) zu erreichen (4).

4.3.   Der Ausschuss unterstreicht die Notwendigkeit einer gemeinsamen langfristigen EU-Energiestrategie.

4.4.   Um die gemeinschaftlichen Zielsetzungen hinsichtlich des Ausbaus der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern zu erreichen, muss durch Bewusstseinsförderung und Aufklärung die Unterstützung der Öffentlichkeit erlangt werden. In diesem Sinne könnten nationale Programme zur Förderung der Entwicklung der erneuerbaren Energieträger einen wichtigen Beitrag leisten.

4.5.   Der Bereich der erneuerbaren Energieträger bietet viele Möglichkeiten für die Entstehung von Arbeitsplätzen in Europa. In seiner Studie „Low carbon jobs for Europe (5) zeigt der WWF auf, dass mindestens 3,4 Mio. europäische Arbeitsplätze unmittelbar den Bereichen erneuerbare Energien, nachhaltiges Verkehrswesen und energieeffiziente Güter und Dienstleistungen zuzuordnen sind.

4.6.   An der Energieerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern sind häufig lokale oder regionale kleine und mittlere Unternehmen (KMU) und landwirtschaftliche Betriebe maßgeblich beteiligt. Mit Investitionen in erneuerbare Energieträger auf lokaler und regionaler Ebene sind bedeutende Wachstums- und Beschäftigungsvorteile für die Mitgliedstaaten und ihre Regionen verbunden. Der Ausschuss empfiehlt, Regionalentwicklungsmaßnahmen zu ergreifen, plädiert für den Austausch bewährter Verfahren bei der Energieerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern im Rahmen lokaler und regionaler Entwicklungsinitiativen und befürwortet in diesem Zusammenhang eine finanzielle Unterstützung seitens der EU.

4.7.   In den letzten Jahren hat die Kommission unter dem Sechsten und Siebten Forschungsrahmenprogramm umfangreiche Finanzmittel für die Entwicklung von Biokraftstofftechnologien der zweiten Generation bereitgestellt (6). Ferner wurden in dem Programm „Intelligente Energie für Europa II“ bewährte Verfahrensweisen aufgeführt, um den Ausbau der Bioenergie in den EU-Mitgliedstaaten zu unterstützen. Anstatt auf die Förderung innovativer Beispiele sollte die EU sich verstärkt darauf konzentrieren, wie die am besten bewährten Verfahren am wirksamsten verbreitet werden können (7).

4.8.   Es ist notwendig, die Erforschung von neuen Antrieben, Biokraftstoffen der zweiten Generation und anderen erneuerbaren Kraftstoffen zu fördern; des Weiteren sollte über geeignete Maßnahmen der Marktzugang von alternativen Kraftstoffen verbessert werden (8).

4.9.   In den nächsten Fortschrittsberichten sollte die Europäische Kommission auch die Behandlung und Wiederverwertung von EE-Anlagen am Ende ihres Lebenszyklus beleuchten. Ein nennenswertes Beispiel in diesem Bereich ist die „Association PV Cycle“, die ein freiwilliges Rücknahme- und Recycling-Programm für Altmodule und die Herstellerverantwortung für Fotovoltaikmodule während ihres gesamten Produktlebenszyklus anstrebt und das Werkzeug für die Überwachung, Berichterstattung und Entwicklung bewährter Verfahren bereitstellt.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.   Erneuerbare Energieträger und Stromerzeugung

5.1.1.   Der Ausschuss befürchtet, dass die EU die in den beiden Richtlinien festgesetzten Ziele für 2010 wahrscheinlich nicht erreichen wird. Er fordert die Mitgliedstaaten daher dringend auf, verantwortungsbewusst Maßnahmen zu ergreifen und alle erforderlichen Anstrengungen zu unternehmen, die vereinbarten Ziele bis 2010 zu verwirklichen, auch wenn es sich nur um Richtziele handelt. Im Stern-Bericht wird betont, dass sich Untätigkeit auf lange Sicht als wesentlich teurer erweisen wird.

5.1.2.   Gegenwärtig gibt es 27 verschiedene nationale Förderregelungen, und es besteht die Gefahr, dass die Mitgliedstaaten in dem Bestreben, ihre Ziele zu erreichen, versuchen, sich gegenseitig auszustechen, und damit die Kosten unnötig in die Höhe treiben. Um ihre Ziele zu erreichen sollten die Mitgliedstaaten die eingesetzten Technologien diversifizieren und mehr Forschung und Entwicklung (9) sowie geeignete Bildungs- und Schulungsmaßnahmen (10) fördern. Ein Vorbild für die staatlich finanzierte Förderung von Forschung und Entwicklung ist das IMEC-Institut (Interuniversity MicroElectronics Center, www.imec.be) in Belgien.

5.1.3.   Ausgehend von einer Kosten-Nutzen-Analyse unterstreicht der Ausschuss erneut, dass die Mitgliedstaaten eine gemeinsame langfristige Energiestrategie benötigen. Immer wieder ist - auch vom EWSA - die Forderung erhoben worden, die EU müsse „mit einer Stimme sprechen“. Solange - insbesondere die großen - Mitgliedstaaten vor allem darauf bedacht sind, ihre eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen, wird die europäische Energieszene hinter ihrem Potenzial zurückbleiben und schwächer, anfälliger und ineffizienter sein als nötig; je größer der Mitgliedstaat, desto größer sein Einfluss darauf (11). In diesem Zusammenhang legte die Europäische Kommission Ende Juni 2009 ein Muster für nationale Aktionspläne für erneuerbare Energie (12) im Hinblick auf ein gemeinsames Konzept für die Nutzung erneuerbarer Energieträger vor.

5.1.4.   Um die wesentlichen, in dem Bericht genannten Netzzugangshemmnisse zu überwinden, muss die Netzintegration von Erzeugern erneuerbarer Energie und der Einsatz von Systemen zur Speicherung diskontinuierlich zur Verfügung stehender Energie (z.B. Batterien) im Hinblick auf eine „integrierte“ Gewinnung von Energie aus erneuerbaren Quellen nachdrücklich unterstützt werden. Mit Blick auf die Verwaltungshemmnisse sollten die Mitgliedstaaten sich die Empfehlung der Kommission zu Herzen nehmen, eine einzige, transparenter arbeitende Verwaltungsstelle für die Erteilung aller erforderlichen Genehmigungen  (13) einzurichten. Außerdem erfordert der Strommarkt einen stabilen und zuverlässigen ordnungspolitischen Rahmen und eine bessere Harmonisierung der einzelstaatlichen Förderregelungen.

5.1.5.   Eine korrekte Umsetzung des Herkunftsnachweissystems in allen Mitgliedstaaten könnte dazu beitragen, das Ziel auf europäischer Ebene auf kosteneffizientere Weise zu verwirklichen.

5.2.   Erneuerbare Energieträger im Verkehrssektor

5.2.1.   Der Ausschuss stimmt der Kommission zwar darin zu, dass die Einführung von Biokraftstoffen immer noch teurer ist als andere CO2-Minderungstechnologien in anderen Sektoren, ist jedoch nicht der Meinung, dass dies nach wie vor eine der wenigen gangbaren Lösungen zur Verringerung der zunehmenden CO2-Emissionen im Verkehrssektor darstellt, solange nicht in allen Mitgliedstaaten Programme zur Förderung eines nachhaltigen Verkehrs richtig umgesetzt werden.

5.2.2.   Energieeffizienz im Verkehrsbereich ist eine unausweichliche Notwendigkeit: Bei einem weiteren Anstieg der Energiegesamtnachfrage in diesem Sektor dürfte es immer schwieriger werden, auf nachhaltige Weise einen verbindlichen Zielwert für den prozentualen Anteil erneuerbarer Energieträger zu erreichen. Mehrfach hat der Ausschuss darauf hingewiesen, dass diesem Problem mit einer Politik der Verkehrsvermeidung und mit einer Änderung des Modalsplit sowie mit Marktanreizen zugunsten klimafreundlicher Verkehrsträger wie dem ÖPNV und dem Schiff begegnet werden sollte (4).

5.2.3.   Die Erzeugung erneuerbarer Energieträger für den Verkehrssektor beschränkt sich in Europa derzeit nahezu ausschließlich auf Biokraftstoffe, die lediglich 2,6 % (Stand: 2007) des Energiebedarfs des europäischen Verkehrssektors abdecken. In der Stellungnahme zu den Fortschritten bei der Verwendung von Biokraftstoffen (14) hat der EWSA betont, dass die bislang verfolgte Politik überdacht werden und entschlossen auf die Biokraftstoffe der zweiten Generation gesetzt werden muss. Gleichzeitig muss die Entwicklung der Transformationstechnologien der zweiten Generation gefördert und unterstützt werden, um Rohstoffe, die aus schnell wachsenden Kulturen - insbesondere beim Anbau von Graspflanzen und in der Forstwirtschaft - oder aus landwirtschaftlichen Nebenprodukten gewonnen werden, verwenden zu können und so die Verwendung von wertvollerem, für die Ernährung wichtigem Saatgut zu vermeiden (15).

5.2.4.   Um zu vermeiden, dass landwirtschaftliche Flächen und Flächen mit einem hohen Wert für die biologische Vielfalt für die Erzeugung von Biokraftstoffen genutzt werden, sollte jeder Mitgliedstaat auf einer Landkarte die Anbauflächen von Energiepflanzen ausweisen. Auf diese Weise kann auch das Biokraftstoffpotenzial auf europäischer Ebene besser eingeschätzt werden.

5.3.   Wirtschaftliche und ökologische Auswirkungen

5.3.1.   Die Kommission gibt sich bezüglich der wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen recht optimistisch, geht vor allem auf die positiven Aspekte ein und lässt den Einfluss der Biokraftstoffe auf die Nahrungsmittelpreise außer Acht. Der Ausschuss empfiehlt angesichts der gestiegenen Nahrungsmittelpreise daher, dass der Aufgabe der Landwirtschaft, hochwertige Nahrungsmittel zu erzeugen, Vorrang eingeräumt werden sollte vor ihrer Nutzung als Energielieferant. Die Europäische Union sollte sich stärker für die Einführung von Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe und für die Entwicklung von Biokraftstoffen der zweiten und dritten Generation engagieren. Durch die Einführung einer Biokraftstoff-Zertifizierung wird die EU eine führende Rolle bei der Förderung nachhaltiger Anbauverfahren (einschließlich Flächennutzungsänderungen und Schutz der biologischen Vielfalt) innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen übernehmen.

5.3.2.   Die Kommission nimmt in ihrem Dokument keine Einschätzung der mit dem Einsatz der erneuerbaren Energieträger verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen auf die Endverbraucher vor.

5.4.   Nutzung erneuerbarer Energieträger im Wärme- und Kältesektor

5.4.1.   Aufgrund der Verwendung von Biomasse bei der Wärme- und Stromerzeugung sowie als Biokraftstoff steht zu befürchten, dass die Waldbewirtschaftung unter Druck gerät. Auch die Tatsache, dass über 70, von der Europäischen Kommission finanzierte Studien (16) bei der Schätzung des Gesamtpotenzials für die EU-27 bis 2020 zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen (zwischen 76 Mio. t RÖE und 480 Mio. t RÖE), lässt die Sorge des Ausschusses mit Blick auf Forstmanagement und den zu erwartenden Druck auf die Waldbewirtschaftung wachsen. Zunächst ist ein geeignetes Überwachungssystem einzurichten, bevor einschneidende Maßnahmen und Entscheidungen über die für die Energieerzeugung genutzte Biomasse getroffen werden. Er sieht daher dem von der Kommission angekündigten Bericht über die Nachhaltigkeit von Biomasse mit Interesse entgegen (17).

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  KOM(2005) 628 endg.: „Aktionsplan für Biomasse“.

(2)  ABl. L 140 vom 5.6.2009, S. 16.

(3)  KOM(2006) 845 endg.: „Fortschrittsbericht Biokraftstoffe“.

(4)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen“, ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 43.

(5)  http://assets.panda.org/downloads/low_carbon_jobs_final.pdf (nur in englischer Sprache).

(6)  Laut Bericht über 109 Mio. EUR.

(7)  Projekt „BAP Driver“ - Europäischer Best-Practice-Bericht, in englischer Sprache abrufbar unter http://www.bapdriver.org/.

(8)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Entwicklung und Förderung alternativer Kraftstoffe für den Straßenverkehr in der EU“, ABl. C 195 vom 18.8.2006, S. 75.

(9)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema „Lösungsansätze für die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Ölversorgung“, CESE 46/2009, Ziffer 5.8.

(10)  ABl. C 277, 17.11.2009, S. 15-19.

(11)  ABl. C 228, 22.9.2009, S. 84–89.

(12)  Entscheidung der Kommission vom 30. Juni 2009 (bekannt gegeben unter Aktenzeichen K(2009) 5174) (1).

(13)  ABl. C 182, 4.8.2009, S. 60–64, Ziffer 4.7.

(14)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Fortschrittsbericht Biokraftstoffe“, ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 34.

(15)  ABl. C 162, 25.6.2008, S. 52–61.

(16)  „Status of Biomass Resources Assessments Version 1“, Dezember 2008, in englischer Sprache abrufbar unter: http://www.eu-bee.com/.

(17)  Richtlinie 2009/28/EG, Artikel 17.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/142


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Luftsicherheitsentgelte“

KOM(2009) 217 endg. — 2009/0063 (COD)

(2010/C 128/27)

Berichterstatter: Marius OPRAN

Der Rat beschloss am 20. Juli 2009 gemäß Artikel 80 Absatz 2 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Luftsicherheitsentgelte“

KOM(2009) 217 endg. - 2009/0063 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 12. Oktober 2009 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) mit 130 gegen 4 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen und Vorschläge

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss empfiehlt, dass das Europäische Parlament und der Rat den von der Europäischen Kommission vorgelegten Vorschlag für eine Richtlinie über Luftsicherheitsentgelte annehmen, damit die darin vorgeschlagene moderne Methode und aufgezeigten Lösungen so schnell wie möglich in allen Mitgliedstaaten umgesetzt werden können .

Der Ausschuss empfiehlt außerdem, für eine größere Klarheit und einfachere Anwendung der von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen modernen Methode und Lösungen folgende Änderungen im Wortlaut vorzunehmen:

1.2.1.   In Bezug auf die Begründung, Ziffer 3 - „Rechtliche Aspekte“, Absatz „Nichtdiskriminierung“ schlägt der Ausschuss vor, dass in dieser Ziffer der Beitrag (auch zu den Forschungs- und Entwicklungskosten) der Flugzeughersteller zur Verbesserung der Flugzeugsicherheit anerkannt wird. Die Ziffer sollte wie folgt lauten: „ Die Luftsicherheitskosten sollten gerecht und nicht diskriminierend für die Luftfahrtunternehmen, die Fluggäste und die Luftfahrtindustrie sein .“

1.2.2.   In Bezug auf Artikel 1 - „Gegenstand“ schlägt der Ausschuss die Umformulierung von Absatz 1 wie folgt vor: „ Diese Richtlinie legt gemeinsame Grundsätze für die Berechnung und Erhebung von Sicherheitsentgelten auf allen Flughäfen der Gemeinschaft fest .“

1.2.3.   In Bezug auf Artikel 4 - „Konsultation“ schlägt der Ausschuss folgende Umformulierung von Absatz 2 vor: „ Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass an jedem Flughafen ein Ausschuss der Luftfahrtunternehmen eingerichtet wird. Dieser Ausschuss nimmt an einem verbindlichen und regelmäßig durchzuführenden Verfahren für Konsultationen mit dem Flughafenleitungsorgan bezüglich der Durchführung der Sicherheitsentgeltregelung und der Höhe der Sicherheitsentgelte teil. Die Konsultation erfolgt bei Bedarf, mindestens aber einmal jährlich. Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen, die die Interessen der Fluggäste vertreten, sollten eingeladen werden, um regelmäßig als Mitglieder oder im Einzelfall als Beobachter an den Arbeiten dieses Ausschusses teilzunehmen .“

Angesichts der finanziellen Belastung, die für die Mitgliedstaaten mit der Einrichtung der neuen Behörden verbunden ist, sollten die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Rat sich nach Ansicht des Ausschusses letztlich zwischen folgenden beiden Optionen entscheiden , und zwar

1.2.4.1.   die Aufgaben der unabhängigen Aufsichtsbehörde den Sekretariaten der nationalen Luftfahrtbehörden und ihren qualifizierten Fachleuten zu übertragen und so eine finanzielle Belastung der Mitgliedstaaten zu vermeiden oder

1.2.4.2.   die ursprüngliche Entscheidung zur Einrichtung neuer unabhängiger Strukturen aufrecht zu erhalten.

1.2.5.   Des Weiteren ist der Ausschuss fest der Meinung, dass Maßnahmen zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit im Allgemeinen und zur Terrorismusbekämpfung im Besonderen zu den grundlegenden Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten zählen. Daher sollte die finanzielle Beteiligung der Mitgliedstaaten an den Luftsicherheitskosten, die derzeit von den Flughäfen, den Luftfahrtunternehmen und den Fluggästen getragen werden, überprüft und ihr Beitrag erheblich erhöht werden.

2.   Schlussfolgerungen und Anmerkungen

2.1.   Die neue von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Methode zur Berechnung der Kosten für die Anbieter von Sicherheitsdienstleistungen in der Zivilluftfahrt beruht auf der Auswahl und Definition einer Reihe von Grundsätzen, die von allen Flughafenbetreibern bei der Festlegung von Sicherheitsentgelten einzuhalten sind, welche dann von allen, einer oder mehreren Kategorien an potenziellen Nutzern (Staaten, Flughafenleitungsorgane, Luftfahrtunternehmen und Fluggäste) getragen werden müssen:

Subsidiarität;

Verantwortung der Staaten;

Gebührenerhebung / Gebührenschema;

Information und Kommunikation;

Harmonisierung;

Transparenz

Einrichtung einer unabhängigen nationalen Aufsichtsbehörde in jedem Mitgliedstaat.

2.2.   Nach einer eingehenden Bewertung dieser von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Grundsätze kommt der Ausschuss zu dem Schluss, dass durch ihre Umsetzung bestehende Verfahrensverzerrungen ausgemerzt werden können, wodurch die erfolgreiche Durchführung dieser neuen innovativen Methode sichergestellt wird.

In Bezug auf die Notwendigkeit, eine unabhängige nationale Aufsichtsbehörde in jedem Mitgliedstaat einzurichten, betont der Ausschuss, dass

2.3.1.   die Mitgliedstaaten bereits über nationale Luftfahrtbehörden verfügen, die auf einer interministeriellen Struktur beruhen;

2.3.2.   die Sekretariate dieser Luftfahrtbehörden dank ihrer Fachleute und Finanzressourcen als Aufsichtsbehörde agieren und eine angemessene und effiziente Durchführung der Richtlinienbestimmungen sicherstellen können, auch wenn sie nicht als wirklich unabhängige Gremien anzusehen sind. Nach Meinung des Ausschusses sollten Fragen in Verbindung mit der Personensicherheit in einem Mitgliedstaat nicht vollständig unabhängig behandelt werden, sondern letztlich einer demokratischen parlamentarischen Kontrolle unterliegen.

Der Ausschuss begrüßt die professionelle Arbeit der Europäischen Kommission, insbesondere die Verwendung von Computermodellen zur Bewertung verschiedener grundlegender Optionen für Luftsicherheitsentgelte auf der Grundlage international geltender Grundsätze:

2.4.1.   Die EU nimmt keinen Einfluss auf die Verfahrensweise und damit verbundene Folgen.

2.4.2.   Mit der von der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation ICAO und der Industrie selbst anerkannten Praxis der Selbstregulierung könnten die Interessen der Fluggäste geschützt und die Luftsicherheitsdienstleistungen durch eine direkte Konsultation zwischen Luftfahrtunternehmen und Flughäfen wirksamer unterstützt werden.

2.4.3.    Ein der in Ziffer 2.4.2 genannten Option ähnliches Verfahren, das jedoch durch eine europäische Richtlinie geregelt wird.

2.4.4.    Die Mitgliedstaaten übernehmen die gesamten Kosten für die Finanzierung der Flughafensicherheit , um eine geeignete „Win-Win“-Lösung für die Fluggäste, die Flughafenleitungsorgane, die Luftfahrtunternehmen und die Mitgliedstaaten zu finden, d.h. es entstehen keinerlei Sicherheitskosten für Dritte und keine Diskriminierung.

2.5.   Der Ausschuss befürwortet die Entscheidung der Europäischen Kommission, dass die dritte Option den Interessen der Verbraucher am besten Rechnung trägt und die Effizienz der Luftsicherheitsdienstleistungen am ehesten fördert. Er betont, dass der Verwaltungsaufwand für die Umsetzung dieser Option auf nationaler Ebene und die damit verbundenen zusätzlichen Kosten vernachlässigbar sein könnten, wenn die Europäische Kommission zustimmt, den Sekretariaten der nationalen Luftfahrtbehörden, die gemäß der Richtlinie über Flughafenentgelte (1) eingerichtet wurden, die Aufgaben der Aufsichtsbehörden zu übertragen.

2.6.   Gleichzeitig kann das gesteckte Ziel nach Ansicht des Ausschusses mit der von der Europäischen Kommission gewählten Option nur dann erreicht werden, wenn die Mitgliedstaaten sich ihrerseits bereiterklären, ihren Anteil an der Finanzierung der einschlägigen Kosten erheblich zu erhöhen.

2.7.   In Bezug auf die in dem Richtlinienvorschlag enthaltenen Transparenzbestimmungen sollte nach Meinung des Ausschusses aus diesen klar hervorgehen, dass die Transparenzanforderungen nicht nur für Probleme in Verbindung mit den Luftsicherheitskosten, sondern ebenfalls in gleichem Maße für die bestehenden Finanzierungsmechanismen gelten. Luftfahrtunternehmen und Fluggäste können die Berechnung der Luftsicherheitsentgelte durch die Flughafenleitungsorgane nur dann nachvollziehen, wenn die Finanzierung offengelegt wird und transparent ist. In gleicher Weise müssen auch die Kosten für das Sicherheitspersonal und die wichtigsten damit verbundenen Leistungsindikatoren öffentlich zugänglich sein.

In Bezug auf die Begründung, Ziffer 3 - „Rechtliche Aspekte“, Absätze „Konsultation und Rechtsbehelf“ und „Transparenz“ betont der Ausschuss, dass die Vertretungsorganisationen der Fluggäste, die den größten finanziellen Beitrag für die Luftsicherheit erbringen, zumindest als Beobachter in den einschlägigen Dialog zwischen den Flughafenleitungsorganen und den Luftfahrtunternehmen eingebunden werden sollten. So könnten die Einführung oder die ungerechtfertigte Fortführung teurer Sicherheitskontrollen, die zu peinlichen Situationen für die Fluggäste führen, die Terrorgefahr jedoch nicht erheblich mindern, vermieden werden. In der Regel werden derartige über die Standardkontrollen hinausgehenden zusätzliche Maßnahmen von den US-amerikanischen und/oder israelischen Behörden vorgesehen. Sie kommen in gewissen Situationen je nach Gefahrengrad zur Anwendung. Einige EU-Sicherheitsbehörden wollen sie jedoch dauerhaft einführen - aus Übereifer oder manchmal auch aus Angst, für eine falsche Einschätzung der Gefahr zur Verantwortung gezogen zu werden. Daher lehnen sie meistens viele Vorschläge der organisierten Zivilgesellschaft für eine gemeinsame Diskussion dieser Frage ab.

2.8.1.   Auf dem Flughafen von Brüssel müssen Fluggäste vor der Sicherheitskontrolle mittels Metalldetektor ihre Schuhe ausziehen, die dann getrennt durchleuchtet werden. Daraus entsteht eine Ansteckungsgefahr für die Fluggäste, die barfuss durch den Sicherheitskontrollbereich laufen, in dem unzählige Viren lauern können, die beispielsweise durch das Niesen einer Person, die nicht diagnostizierter Träger der H1N1-Grippe ist, ausgestoßen wurden. Gleichzeitig haben die Flughafenbehörden mit öffentlichen Mitteln eine beträchtliche Anzahl der neuesten Hightech-Scanner- und Durchleuchtungsgeräte für die Kontrolle der Schuhe angeschafft, die dazu nicht mehr ausgezogen werden müssen. Diese Ausrüstung ist zwar im Sicherheitskontrollbereich installiert worden, wird allerdings nicht im Rahmen der Sicherheitskontrolle der Fluggäste eingesetzt.

2.8.2.   Ein weiterer umstrittener Aspekt ist die geltende abwegige Begrenzung der an Bord mitgeführten Flüssigkeiten, auf lächerliche 100 ml pro Fluggast - vor allem das Ergebnis eines überzogenen und übereifrigen Verhaltens der Sicherheitsbehörden.

2.9.   Obwohl das in dem Richtlinienvorschlag festgelegte Verbot, Gewinne aus Tätigkeiten zur Erbringung von Luftsicherheitsdienstleistungen zu erwirtschaften, in völligem Widerspruch zu der Philosophie steht, die der Gründung und dem Betrieb von Privatunternehmen zugrunde liegt, d.h. der Profitoptimierung, und in dem Bemühen, weitere falsche Auslegungen von Artikel 7 des Richtlinienvorschlags zu vermeiden, ist der Ausschuss unbedingt der Meinung, dass die Europäische Kommission die Erbringung von Sicherheitsdiensten auf Flughäfen durch Privatunternehmen mit Ausnahme von Personen- und Gepäckskontrollen zulassen sollte.

2.10.   Aus Sicht des Ausschusses könnte die richtige Umsetzung des Kommissionsvorschlags bei einer gleichzeitigen Aufwertung der Rolle der Vertreter der Zivilgesellschaft umfangreiche Vorteile für die Bürger in der EU und der ganzen Welt sowie die Luftfahrtindustrie und die Flughafenbetreiber in der EU bringen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Der Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission - das Ergebnis einer breit angelegten Konsultation

3.1.1.   Im Zuge der Ausarbeitung des Richtlinienvorschlags konsultierte die GD TREN die Mitgliedstaaten sowie die Vertretungsorganisationen der Luftfahrtindustrie und Verbraucher und stützte sich auf Daten von 11 Mitgliedstaaten, 9 Branchenorganisationen von Flughafenleitungsorganen und Luftfahrtunternehmen sowie einen Fluggastverband.

3.1.2.   Die Mitgliedstaaten lehnten den Vorschlag, die Sicherheitskosten in vollem Umfang zu übernehmen, geschlossen ab. Ihr Argument: Diese Kosten sind untrennbar mit der Geschäftstätigkeit im Luftfahrtsektor verknüpft und sollten von der Luftfahrtindustrie getragen werden, so wie auch die Automobilindustrie die Investitionen in die Fahrzeugsicherheit trägt. Die Mitgliedstaaten forderten allesamt ein umfassendes Verbot der Erwirtschaftung von Gewinnen aus diesen Tätigkeiten sowie ein hohes Maß an Transparenz in diesem Bereich.

3.2.   Problembeschreibung

3.2.1.   Aufgliederung der Kosten für die Luftsicherheit

3.2.1.1.   Es gibt drei Hauptposten: Flughafensicherheitskosten, Kosten für die Luftfahrtunternehmen und von den Mitgliedstaaten getragene Kosten. Die Kosten für die Fluggast- und Fracht- (sprich Gepäcks-)-Sicherheitskontrollen machen den Löwenanteil aus.

3.2.1.2.   Die Sicherheitskosten lassen sich ihrerseits in zwei Posten aufschlüsseln: Löhne und Gehälter sowie Infrastruktur- und Ausrüstungskosten. Die Luftsicherheitsdienstleistungen werden im Allgemeinen von den zuständigen nationalen Organisationen erbracht oder dem Flughafenleitungsorgan bzw. einem spezialisierten Unternehmen übertragen.

3.2.2.   Wie viel kostet die Luftsicherheit, und wer kommt letztlich für diese Kosten auf?

2007 beliefen sich die Kosten für die Luftsicherheit in der gesamten EU auf rund 1,6 Mrd. EUR. Dies entspricht ca. 1 % des Preises, den die mehr als 636 Mio. Fluggäste, die von den Flughäfen der EU aus eine Flugreise antraten, für ihr Flugticket bezahlten. Diese Kosten werden großteils von den Mitgliedstaaten und der Luftfahrtindustrie getragen, die diese wiederum mittels Gebühren und zusätzliche Kosten auf die Fluggäste abwälzen. Insgesamt tragen Luftfahrtunternehmen, Fluggäste und Frachtunternehmen 90 % der Luftsicherheitskosten, wohingegen die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Haushalte lediglich für 6 oder 7 % dieser Kosten aufkommen.

3.2.3.   Diskriminierende Praktiken in Bezug auf die Kosten für Luftsicherheitsdienstleistungen

Ungeachtet ihres Zielorts unterliegen Fluggäste in der EU selbst bei Inlandsflügen denselben Sicherheitskontrollen. Die Sicherheitskosten sollten daher identisch sein. Zur Kostensenkung wälzen Luftfahrtunternehmen bedauerlicherweise die Kosten für die Sicherheitskontrollen, die sie selbst übernehmen sollten, auf ihre Fluggäste ab. Ganz allgemein machen nationale Luftfahrtunternehmen ihre Machtposition auf ihren nationalen Flughäfen geltend, d.h. sie senken die Preise für Inlandsflüge und heben die Preise für Auslandsflüge an.

Tabelle 1: Kosten für die Luftsicherheit pro Fluggast für Auslandsflüge innerhalb der EU und Inlandsflüge.

Land / Flughafen

Auslandsflug innerhalb der EU

Inlandsflug

Rumänien, Flughafen Bukarest

7,50 EUR

3,81 EUR

Spanien, alle Flughäfen

1,39 EUR

1,18 EUR

Litauen, Flughafen Vilnius

2,32 EUR / MT des Starthöchstgewichts

max. 1,16 EUR / MT des Startgewichts

Zypern, Flughafen Larnaca

0,39 EUR

0

In Tabelle 1 sind Beispiele für die Verfahrensweise vieler nationaler Luftfahrtunternehmen veranschaulicht, die unterschiedliche Luftsicherheitskosten für Aus- und Inlandsflüge veranschlagen. Dies steht im Widerspruch zu Artikel 5 der Verordnung (EG) Nr. 300/2008 über gemeinsame Vorschriften für die Sicherheit in der Zivilluftfahrt (2).

3.3.   Computermodelle und Simulation zahlreicher Optionen – Auswahl der Ideallösung

Für die Ausarbeitung des Richtlinienvorschlags griff die Europäische Kommission auf mathematische Simulationen zurück, um vier verschiedene Optionen auf der Grundlage internationaler Grundsätze für die Kosten für die Luftsicherheit zu bewerten.

3.3.1.   Option 1: Die EU nimmt keinen Einfluss auf die Verfahrensweise und damit verbundene Folgen.

Die Entgelte führen zu einer erheblichen Diskriminierung von Luftfahrtunternehmen und Fluggästen.

3.3.2.   Option 2: Mit der von der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation ICAO und der Industrie anerkannten Praxis der Selbstregulierung könnten die Interessen der Fluggäste besser geschützt und die Luftsicherheitsdienstleistungen durch eine direkte Konsultation zwischen Luftfahrtunternehmen und Flughäfen wirksamer unterstützt werden.

Ein ähnlicher Rahmen besteht seit 1981 in Form der ICAO-Regeln, die Selbstregulierung hat jedoch bislang keine nennenswerten Ergebnisse gebracht.

3.3.3.   Option 3: Ein Option 2 ähnliches Verfahren, das jedoch durch eine europäische Richtlinie geregelt wird.

Sind die Luftsicherungsentgelte diskriminierend oder werden sie zu anderen Zwecken als zur Abgeltung der Kosten von Sicherheitsmaßnahmen verwendet, können Luftfahrtunternehmen außerdem rechtliche Schritte gegen Flughäfen einleiten. Diese Option wird von einer Reihe damit verbundener EU-Maßnahmen unterstützt und steht im Einklang mit den einschlägigen Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten.

3.3.4.   Option 4: Die Mitgliedstaaten tragen sämtliche Kosten für die Luftsicherheit , wodurch Dritten keinerlei Sicherheitskosten entstehen und jedweder Diskriminierung ein Riegel vorgeschoben wird.

Mit dieser Option werden keinerlei Anreize für die Verbesserung der Qualität der Luftsicherheitsdienstleistungen geschaffen, da die Luftfahrtunternehmen keinen Anreiz zur Kostenkontrolle haben. Diese Option wurde überdies von allen Mitgliedstaaten abgelehnt.

3.4.   Die Meinung des Ausschusses zu den von der Europäischen Kommission für die Festlegung der neuen Methode ausgewählten Grundsätzen

3.4.1.   Subsidiarität

3.4.1.1.   Dieser Grundsatz gelangt zur Anwendung, da der Vorschlag nicht unter die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt und seine Ziele von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können, weil die Festlegung von Sicherheits- und Flughafenentgelten in der EU nicht einheitlich geregelt ist.

3.4.1.2.   Die Entgeltregelungen in den Mitgliedstaaten sind nach wie vor unterschiedlich. Dadurch herrschen für die Flughäfen und Luftfahrtunternehmen ungleiche Wettbewerbsbedingungen.

3.4.1.3.   Die EU-weite Anwendung eines gemeinsamen Regelwerks für Sicherheitsentgelte wird für gleiche Ausgangsbedingungen zwischen den Luftverkehrspartnern bei der Festlegung von Parametern für die Aufteilung der Kosten für Sicherheitsmaßnahmen auf Flughäfen sorgen.

3.4.1.4.   Aufgrund des Fehlens einheitlicher Leitlinien für die Berechnung von Sicherheitsentgelten bestehen in der EU zahlreiche unterschiedliche Entgeltregelungen. Mit dem Richtlinienvorschlag werden Unschärfen in diesem Bereich beseitigt, da eine einzige Methode zur Berechnung dieser Entgelte festgelegt und vorgeschlagen wird, die dann auch einheitlich angewendet werden kann.

3.4.1.5.   Die Europäische Kommission hat sich in ihrem Vorschlag auf die Festlegung eines Minimums an Regeln beschränkt, die die Mitgliedstaaten und/oder Flughafenbetreiber bei der Festlegung der Höhe der Sicherheitsentgelte einhalten müssen. Mit der vorgeschlagenen Richtlinie wird keine bestimmte Entgeltregelung auferlegt. Die Wahl des Systems liegt bei den Mitgliedstaaten.

Schlussfolgerung : Das Subsidiaritätsprinzip wird zu Recht ausgewählt und angewendet und ist für die Umsetzung der Richtlinie erforderlich.

3.4.2.   Verantwortung der Staaten

3.4.2.1.   Dieser Grundsatz gelangt ebenso wie das Subsidiaritätsprinzip zur Anwendung, da der Vorschlag nicht unter die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt. Hinsichtlich der Ausarbeitung der Richtlinie stellen sich im Zusammenhang mit beiden Grundsätzen ähnliche Probleme.

3.4.2.2.   Die Europäische Kommission hat sich in ihrem Vorschlag auf die Festlegung eines Minimums an Regeln beschränkt, die die Mitgliedstaaten und/oder Flughafenbetreiber bei der Festlegung der Höhe der Sicherheitsentgelte einhalten müssen. Mit der vorgeschlagenen Richtlinie wird keine bestimmte Entgeltregelung auferlegt. Die Wahl des Systems liegt bei den Mitgliedstaaten.

Schlussfolgerung : Der Grundsatz der Verantwortung der Staaten wird zu Recht ausgewählt und angewendet und ist für die Umsetzung der Richtlinie erforderlich. Allerdings muss den möglichen abweichenden und widersprüchlichen Voraussetzungen und dem unterschiedlichen Maß an terroristischer Bedrohung der Mitgliedstaaten sowie der Nationalität der Luftfahrtunternehmen angemessen Rechnung getragen werden. Der finanzielle Beitrag der Mitgliedstaaten zur Luftsicherheit muss erneut überprüft und erheblich erhöht werden, da in erster Linie die Exekutive für die Terrorismusbekämpfung verantwortlich ist.

3.4.3.   Gebührenerhebung

3.4.3.1.   Die Erhebung von Flugsicherungsgebühren und von Entgelten für Bodenabfertigungsdienste war bereits Gegenstand der Verordnung (EG) Nr. 1794/2006 der Kommission vom 6. Dezember 2006 zur Einführung einer gemeinsamen Gebührenregelung für Flugsicherungsdienste (3) bzw. der Richtlinie 96/67/EG des Rates vom 15. Oktober 1996 über den Zugang zum Markt der Bodenabfertigungsdienste auf den Flughäfen der Gemeinschaft (4).

3.4.3.2.   Angesichts der enormen Unterschiede zwischen dem Beitrag der Mitgliedstaaten zur Entwicklung, Umsetzung und Einführung von Luftsicherheitssystemen auf Flughäfen können die Verfahrenskosten für Sicherheitsbelange nicht in einem gemeinsamen Gebührenerhebungssystem festgelegt werden.

Schlussfolgerung : Der Grundsatz der Gebührenerhebung wird zu Recht ausgewählt und angewendet und ist für die Umsetzung der Richtlinie erforderlich. Angesichts der unterschiedlichen Voraussetzungen in der EU kann jedoch kein gemeinsames Gebührenerhebungssystem festgelegt werden.

3.4.4.   Information und Kommunikation

3.4.4.1.   Ganz allgemein sind die Flughafennutzer in Europa und auf anderen Kontinenten in Ausschüssen der Flughafenbetreiber zusammengeschlossen, die einen dauerhaften Dialog mit den Flughafenleitungsorganen führen.

3.4.4.2.   In diesem Rahmen können Informationen über das Verfahren und die Grundlage für die Berechnung der Sicherheitsentgelte ausgetauscht werden, insbesondere Betriebsprognosen, Entwicklungsprojekte und spezifischen Anforderungen und Vorschläge.

Schlussfolgerung : Der Grundsatz der Information und direkten Kommunikation zwischen den Anbietern von Sicherheitsdienstleistungen und den Flughafenleitungsorganen wird zu Recht ausgewählt und angewendet und ist für die Umsetzung der Richtlinie geeignet. Er wäre noch relevanter, wenn der Aspekt der Öffentlichkeitsarbeit mit einbezogen würde.

3.4.5.   Harmonisierung

3.4.5.1.   Die Basissatz für Sicherheitskosten könnte in allen EU-Flughäfen harmonisiert werden, in denen diese Kosten vollständig durch Sicherheitsentgelte abgedeckt werden.

3.4.5.2.   Die Einnahmen aus der Erhebung dieser Gebühren dürfen jedoch die Gesamtsicherheitskosten einschl. der öffentlichen Mittel nicht übersteigen. Das heißt, diese Maßnahme darf keinerlei Gewinn abwerfen.

3.4.5.3.   Daher können die Sicherheitsentgelte im Allgemeinen nicht völlig harmonisiert werden.

Schlussfolgerung : Der Grundsatz der Harmonisierung wird zu Recht ausgewählt und angewendet und ist für die Umsetzung der Richtlinie erforderlich, allerdings können nicht alle Gebühren harmonisiert werden. Außerdem darf kein Gewinn erwirtschaftet werden.

3.4.6.   Transparenz

3.4.6.1.   Es ist wichtig, Transparenz bezüglich der wirtschaftlichen Auswirkungen einzelstaatlicher Sicherheitsmaßnahmen zu schaffen, die über die in der Verordnung (EG) Nr. 300/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2008 über gemeinsame Vorschriften für die Sicherheit in der Zivilluftfahrt und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2320/2002 festgelegten Gemeinschaftsvorschriften hinausgehen.

3.4.6.2.   Einige dieser Maßnahmen können nur auf ausdrückliche Forderung eines oder mehrerer Luftfahrtunternehmen dauerhaft oder vorübergehend auferlegt werden.

Schlussfolgerung : Der Grundsatz der Transparenz wird zu Recht ausgewählt und angewendet und ist für die Umsetzung der Richtlinie erforderlich, wenn die nationalen Sicherheitsmaßnahmen über die Gemeinschaftsvorschriften hinausgehen oder auf ausdrücklichen Wunsch der Luftfahrtunternehmen eingeführt wurden. Außerdem müssen detaillierte Informationen über die Mittel und die Gremien zu Verfügung gestellt werden, denen diese Mittel zugewiesen werden, sofern es sich nicht um die Flughafenleitungsorgane handelt.

3.4.7.   Notwendigkeit der Einrichtung einer unabhängigen nationalen Aufsichtsbehörde in jedem Mitgliedstaat

3.4.8.   Die Mitgliedstaaten verfügen bereits über nationale Luftfahrtbehörden, die auf einer interministeriellen Struktur beruhen.

3.4.9.   Als Regierungsbehörde können die nationalen Luftfahrtbehörden nicht als vollkommen unabhängige Aufsichtsbehörde fungieren, der Ausschuss ist allerdings der Ansicht, dass sie aufgrund der Professionalität und des weltweiten Rufs ihrer Fachleute sowie aufgrund ihrer Finanzressourcen die ordnungsgemäße und wirksame Anwendung der Vorschriften der Richtlinie neutral überwachen können.

Schlussfolgerung : Die Einrichtung einer unabhängigen Aufsichtsbehörde ist korrekt und für die erfolgreiche Umsetzung der Richtlinienbestimmungen erforderlich. Trotz ihres Status als Regierungsbehörden können die nationalen Luftfahrtbehörden nach Meinung des Ausschusses dieser Aufgabe in neutraler und professioneller Weise nachkommen und die finanzielle Belastung der Mitgliedstaaten für den Aufbau und Betrieb neuer Strukturen senken.

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. L 70 vom 14.3.2009, S. 11.

(2)  ABl. L 97 vom 9.4.2008, S. 72.

(3)  ABl. L 341 vom 7.12.2006, S. 3.

(4)  ABl. L 272 vom 25.10.1996, S. 36.


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/147


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinschaftliche Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes“

(Neufassung)

KOM(2009) 391 endg. — 2009/0110 (COD)

(2010/C 128/28)

Der Rat beschloss am 11. September 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 156 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinschaftliche Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes“

KOM(2009) 391 endg. - 2009/0110 (COD).

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags vollkommen zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 4. November) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/148


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie …/…/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom […] über einheitliche Verfahren für die Kontrolle von Gefahrguttransporten auf der Straße“

(kodifizierte Fassung)

KOM(2009) 446 endg. — 2009/0123 (COD)

(2010/C 128/29)

Der Rat beschloss am 29. September 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 156 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie …/…/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom […] über einheitliche Verfahren für die Kontrolle von Gefahrguttransporten auf der Straße“ (kodifizierte Fassung)

KOM(2009) 446 endg. - 2009/0123 (COD).

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags vollkommen zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 4. November) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 4. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


18.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 128/149


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Europäisches Freiwilligenjahr 2011“ (Ergänzende Stellungnahme)

KOM(2009) 254 endg. — 2009/0072 (CNS)

(Ergänzende Stellungnahme)

(2010/C 128/30)

Hauptberichterstatterin: Soscha zu EULENBURG

Das Präsidium des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses beschloss am 29. September 2009, gemäß Artikel 29 Buchstabe A der Durchführungsbestimmungen zur Geschäftsordnung, eine ergänzende Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Europäisches Freiwilligenjahr 2011“

KOM(2009) 254 endg. (2009/0072 (CNS).

und beauftragte die Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 457. Plenartagung am 4./5. November 2009 (Sitzung vom 5. November) Frau Soscha zu Eulenburg zur Hauptberichterstatterin und verabschiedete einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1.   Der EWSA begrüßt den Vorschlag für das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit 2011. Damit wird das Engagement vieler Bürger und Bürgerinnen gewürdigt, die sich freiwillig in verschiedenen Bereichen für die Gesellschaft und den sozialen Zusammenhalt in Europa einsetzen.

1.2.   Der EWSA hält die vorgesehenen Ziele des Jahres für geeignet, einen europäischen Mehrwert für die Bürger und Bürgerinnen zu erzielen.

1.3.   Der EWSA betont, dass freiwilliges Engagement nicht instrumentalisiert werden darf.

1.4.   Eine enge Verzahnung mit den anderen Europäischen Jahren 2010 (Armutsbekämpfung) und 2012 (Aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen) sollte genutzt werden, um nachhaltige Synergien herzustellen.

1.5.   Der EWSA schlägt die Festlegung einer politischen Agenda zur Förderung des freiwilligen Engagements und seiner Infrastruktur in den Mitgliedstaaten der EU vor.

1.6.   Der EWSA hält förderliche Rahmenbedingungen für notwendig, um die erforderliche Unterstützung und Infrastruktur für freiwilliges Engagement auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene zu sicherzustellen und den Bürgern die Teilnahme zu ermöglichen.

1.7.   Der EWSA spricht sich für die Schaffung nachhaltiger Strukturen auf europäischer Ebene aus. Eine Stakeholder Plattform für das freiwillige Engagement könnte zur Erreichung dieses Ziels beitragen.

1.8.   Der EWSA hält eine beträchtliche Aufstockung der Finanzmittel für dringend geboten, um die gesteckten Ziele erreichen und der lokalen Dimension gerecht werden zu können.

1.9.   Den Akteuren muss Zeit zur Verfügung stehen, um das Jahr vorzubereiten und effektiv umsetzen zu können. Rat und Parlament sollten deshalb schnellstmöglich die notwendigen inhaltlichen und finanziellen Entscheidungen treffen.

1.10.   Der Bewertungsbericht soll in ein Weißbuch münden, um das Follow-up sicherzustellen und weitere Schritte und Maßnahmen auf europäischer Ebene aufzuzeigen.

2.   Ziele des Vorschlags der Kommission

2.1.   Die Kommission hat im Juni 2009 den Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit (2011) vorgelegt. Mit dem Europäischen Jahr sollen die Bedeutung und der Nutzen der Freiwilligentätigkeit für die europäischen Gesellschaften gestärkt werden.

2.2.   Die Kommission schlägt vier Ziele für das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit vor:

Die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen soll die Verankerung der Freiwilligentätigkeit als Instrument zur Förderung der Bürgerbeteiligung und des Engagements von Menschen für Menschen fördern.

Um die Freiwilligentätigkeiten zu erleichtern und Vernetzung, Mobilität und Zusammenarbeit zu fördern, sollen Freiwilligenorganisationen gestärkt und die Qualität der Tätigkeit verbessert werden.

Die Honorierung und Anerkennung von Freiwilligentätigkeiten soll durch die Förderung geeigneter Anreize für Einzelpersonen, Unternehmen und Organisationen unterstützt werden.

Die breite Öffentlichkeit soll für den Wert und die Bedeutung von Freiwilligentätigkeiten sensibilisiert werden.

2.3.   Die Ziele sollen durch Erfahrungsaustausch, Verbreitung von Studienergebnissen, Konferenzen und Veranstaltungen sowie Informations- und PR-Kampagnen verwirklicht werden. Hierfür ist ein Finanzvolumen in Höhe von 6 Mio. EUR für 2011 sowie 2 Mio. EUR für vorbereitende Maßnahmen im Jahr 2010 vorgesehen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission für das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit. Die Kommission greift damit den Wunsch und die Anregung des EWSA und anderer Organisationen der Zivilgesellschaft sowie des Europäischen Parlaments auf.

3.2.   Die Bereitschaft der Kommission, mit den Organisationen der Zivilgesellschaft einen intensiven Zivilen Dialog zu pflegen, muss ausdrücklich anerkannt werden. Es muss darauf hingearbeitet werden, dass auch auf nationaler Ebene im Rahmen der geplanten Koordinierungsstellen und der Planung sowie Durchführung der Aktivitäten die Organisationen der Zivilgesellschaft eingebunden sowie entsprechende nationale und europäische politische Agenden ausgearbeitet werden. Die Offene Methode der Koordinierung könnte hier als Beispiel dienen.

3.3.   Der Titel „European Year of Volunteering“ ist gut gewählt, erlaubt er doch, die gesamte Bandbreite des Phänomens zu erfassen. Er ist konkret genug, so dass sich Europäer und Europäerinnen damit identifizieren können und lässt genug Spielraum, alle verschiedenen Facetten des Engagements zu beleuchten. Insofern entspricht der Name dem Querschnittscharakter des freiwilligen Engagements und den verschiedensten Einsatzbereichen der Freiwilligen und sollte beibehalten werden.

3.4.   Der EWSA begrüßt, dass die Bedeutung des freiwilligen Engagements als Ausdruck der Bürgerbeteiligung, der europäischen Werte, der Solidarität und der Entwicklung der europäischen Gesellschaften hervorgehoben wird. Der EWSA hat in verschiedenen Stellungnahmen auf diese Bedeutung hingewiesen.

3.5.   Unter keinen Umständen sollte einer „Instrumentalisierung“ des Engagements das Wort geredet werden. Freiwillige sind keine Instrumente der Politik, sondern Ausdruck oder Element einer Aktiven Bürgerschaft. Mit ihrem Engagement verwirklichen sie die ideellen Werte wie beispielsweise die der sozialen Eingliederung, des sozialen Zusammenhaltes, der Solidarität und des lebenslangen Lernens in den Bereichen Umwelt, Sport, Menschenrechte, Kultur, um nur einige zu nennen.

3.6.   Die Gefahr der Instrumentalisierung des freiwilligen Engagements, etwa im Hinblick auf den Arbeitsmarkt und die Beschäftigungsfähigkeit, wird an manchen Textformulierungen des Kommissionsvorschlags sichtbar. In Erwägungsgrund 3 wird z.B. betont, dass Freiwilligentätigkeiten „nichtformale Lernerfahrungen (sind), die zum Erwerb beruflicher Kenntnisse und Kompetenzen beitragen und zugleich eine maßgebliche Form der aktiven Bürgerschaft darstellen.“ Nichtformale Lernerfahrungen, die sehr wohl die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und die Beschäftigungsfähigkeit verbessern können, sind ein durchaus positiver Nebeneffekt.

3.7.   Die derzeitige Wirtschafts- und Finanzkrise wird oft herangezogen, um zu einem Umdenken in verschiedenen Bereichen aufzurufen. Es sollte hierbei sehr darauf geachtet werden, dass nun nicht reflexartig auf Freiwillige zurückgegriffen wird, um negativen Auswirkungen der Krise auf unsere Gesellschaften entgegen zu wirken. Im Bereich des freiwilligen Engagements zeigt diese Krise vielmehr einmal mehr auf, welchen Wert das Engagement der Bürger für unsere Gesellschaft hat: Nämlich Solidarität zu leben und Menschen eine Möglichkeit zu geben, sich füreinander einzusetzen, aber auch selbst durch Engagement zu profitieren – nicht zuletzt mit dem Effekt gesteigerter Fähigkeiten und/oder sozialer Netze. Es hat somit das Potenzial, in der Krise abfedernd zu wirken und einem Auseinanderdriften der Gesellschaft entgegen zu wirken. Dies ist aber keine Folge der Krise, sondern Teil des genuinen Wertes des Engagements, das hier „wiederentdeckt“ wird.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Schaffung von Rahmenbedingungen

4.1.1.   Ein rechtlicher Rahmen ist notwendig, um die erforderliche Infrastruktur für freiwilliges Engagement auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene sicherzustellen und den Bürgern eine erleichterte Teilnahme zu ermöglichen. Darüber hinaus müssen auch die finanziellen und politischen Rahmenbedingungen so gestaltet sein, dass sie Hindernisse beim freiwilligen Engagement abbauen (1).

4.2.   Stärkung der Organisationen

4.2.1.   Die Förderung der Freiwilligenorganisationen als Orte und Katalysatoren des Engagements ist von entscheidender Bedeutung: Diese Organisationen sind meist die ersten und einzigen Anlaufpunkte für Freiwillige und sind oft genug von Freiwilligen selbst gegründet worden. Als Rückgrat der Zivilgesellschaft und des freiwilligen Engagements sollen der Erfahrungsaustausch, die Verbesserung der Kapazitäten innerhalb der Freiwilligenorganisationen sowie die Qualität ihrer Arbeit 2011 eine besondere Rolle spielen.

4.2.2.   Ziel muss es sein, auch auf europäischer Ebene nachhaltige Strukturen zu schaffen. Eine Stakeholder-Plattform für das freiwillige Engagement könnte sicherstellen, dass das Jahr auch über 2011 hinaus nachwirkt und auf eine „engagementfreundliche Politik“ hingearbeitet wird.

4.2.3.   Das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit 2011 sollte genutzt werden, um best-practice-Beispiele aufzuzeigen und auszutauschen.

4.3.   Verbesserung der Qualität

4.3.1.   Im Zusammenhang mit der Verbesserung der Qualität wird im Kommissionsvorschlag u.a. von „Professionalisierung“ gesprochen. Dieser Begriff ist missverständlich und sollte vermieden werden. Es geht vorrangig darum, die Qualität der Freiwilligentätigkeit zu sichern. Freiwillige haben das Recht, sich dort zu engagieren, wo es ihnen Freude macht. Ihr Engagement dient der Gesellschaft, den Einzelnen, aber auch ihnen selbst. Notwendig sind eine Sicherung der finanziellen und personellen Voraussetzungen für Qualifizierung, Fort- und Weiterbildung sowie Begleitung während ihres Engagements.

4.4.   Anerkennung der Tätigkeit

4.5.   Die Entwicklung einer „Anerkennungskultur“ wird begrüßt. Es sollte jedoch bei Freiwilligen vermieden werden, von „Honorierung“ zu sprechen: Dies ist missverständlich, da es ja nicht um geldwerte Anerkennung des Engagements geht. Darüber hinaus ist der Begriff „Honorierung“ konfliktbehaftet. Der Unterschied zwischen bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahltem freiwilligen Engagement soll ja im Rahmen des Europäischen Jahres 2011 gerade nicht verwischt, sondern vielmehr ihre Komplementarität herausgestellt werden.

4.6.   Sensibilisierung für den Wert und die Bedeutung von Freiwilligentätigkeiten

4.7.   Die Sensibilisierung einer breiten Öffentlichkeit ist ein wesentliches Ziel, das begrüßt wird. Es muss aber darauf geachtet werden, dass hierfür ausreichend Mittel zur Verfügung stehen. Eine effektive und erfolgreiche Sensibilisierungskampagne auf EU-Ebene, die die Möglichkeiten und den Wert sich zu engagieren aufzeigen, würde mit ca. 3,5 Mio. EUR bereits mehr als die Hälfte des Budgets aufbrauchen – soll die Botschaft auch bei den Menschen ankommen. Dies erscheint unzureichend. Zum Vergleich: Für das Jahr 2004 zur Erziehung durch Sport waren 12,3 Mio. EUR veranschlagt. Der von der Kommission selbst in Auftrag gegebene Evaluierungsbericht hat aber herausgestellt, dass die Europäerinnen und Europäer „wenig oder so gut wie überhaupt nicht“ über das Jahr informiert waren und dass sie dessen wesentliche Botschaften nicht erreicht haben.

4.8.   Finanzvolumen

4.8.1.   Der Vorschlag sieht Finanzmittel in Höhe von 6 Mio. EUR für die Maßnahmen im Jahr 2011 und 2 Mio. EUR für die vorbereitenden Maßnahmen 2010 vor. Sollen die genannten Ziele erreicht werden und soll vor allem der lokalen Dimension des Engagements der Europäerinnen und Europäer Rechnung getragen werden, so muss die EU ein realistisches Budget veranschlagen. 6 Mio. EUR für alle Aktivitäten auf Europa- und Mitgliedstaatenebene scheinen uns unzureichend. Es wäre fatal, wenn das Jahr 2011, mit weniger als der Hälfte des Budgets des o.g. Jahres 2004 ausgestattet, zu einem ähnlichen Resultat führen würde und wenn die hohen Ziele aufgrund eines unzureichenden Budgets verfehlt würden.

4.8.2.   Die Regierung von Großbritannien hat 2005 allein für das britische Jahr der Freiwilligen 10 Mio. Pfund zur Verfügung gestellt und die Region Valencia für ein Jahr dort 4,2 Mio. EUR. Als gutes Beispiel für ein realistisches Budget auf EU-Ebene kann das geplante Jahr 2010 dienen, für das 17 Mio. EUR zur Verfügung stehen, 9 Mio. EUR davon für Aktivitäten in den Mitgliedsstaaten. Diese wiederum haben sich verpflichtet, weitere 9 Mio. EUR beizusteuern.

4.9.   Weißbuch

4.9.1.   Zur Begleitung und Evaluierung will die Kommission einen Bericht über die Durchführung, die Ergebnisse und die allgemeine Bewertung der Initiativen vorlegen. Der EWSA erinnert in diesem Zusammenhang an seinen Vorschlag und regt an, in einem Weißbuch weitere Schritte und Maßnahmen aufzuzeigen, damit die Ergebnisse des Europäischen Jahres nachhaltige Wirkung bekommen.

4.10.   Nutzung von Synergien

4.10.1.   Es sollten unbedingt die Synergien der Jahre 2010 (Armutsbekämpfung), 2011 (Freiwilligentätigkeit) und 2012 (Aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen) aufgezeigt und genutzt werden. Dieser Dreiklang der Jahre bietet die einmalige Gelegenheit, dem Handeln der europäischen Institutionen und der Mitgliedstaaten im Bereich des Engagements der Bürger füreinander über drei Jahre hinweg einen roten Faden zu geben und dadurch nachhaltige Effekte zu erzielen. Die Organisationsteams innerhalb der europäischen und nationalen Institutionen für diese drei Jahre sollten eng zusammen arbeiten.

4.11.   Interinstitutioneller Prozess

4.11.1.   Um allen beteiligten Akteuren Zeit zu geben, das Jahr vorzubereiten und umzusetzen, sollte im Rat und im Europäischen Parlament auf eine zügige Verabschiedung ohne Verzögerungen gedrungen werden. Ziel hierbei sollte Ende 2009 sein, damit die Vorbereitungsphase offiziell beginnen kann sowie die entsprechenden Gelder freigestellt werden können.

Brüssel, den 5. November 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Ein Beispiel unter anderem für auftretende Hindernisse: In manchen Ländern wird Menschen ohne bezahlte Arbeit nur eine sehr begrenzte Stundenzahl für ihr freiwilliges Engagement zugestanden.