ISSN 1725-2407

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 256

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

50. Jahrgang
27. Oktober 2007


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Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

ENTSCHLIESSUNGEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
436. Plenartagung vom 30./31. Mai 2007

2007/C 256/01

Entschliessung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Beitrag zum Europäischen Rat am 21./22. Juni 2007 — Fahrplan für den Verfassungsprozess

1

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

437. Plenartagung vom 11./12. Juli 2007

2007/C 256/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über strafrechtliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen EigentumsKOM(2005) 276 endg. — 2005/0127 (COD)

3

2007/C 256/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Unternehmenspotenzial — insbesondere von KMU (Lissabon-Strategie)

8

2007/C 256/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Investitionen in Wissen und Innovation (Lissabon-Strategie)

17

2007/C 256/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch: Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im VerbraucherschutzKOM(2006) 744 endg.

27

2007/C 256/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rückspiegel von land- oder forstwirtschaftlichen Zugmaschinen auf Rädern — (Kodifizierte Fassung) KOM(2007) 236 endg. — 2007/0081 (COD)

31

2007/C 256/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Festlegung einer Energiepolitik für Europa (Lissabon-Strategie)

31

2007/C 256/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen:

39

2007/C 256/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Beförderung gefährlicher Güter im BinnenlandKOM(2006) 852 endg.

44

2007/C 256/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch zu Anwendungen der SatellitennavigationKOM(2006) 769 endg.

47

2007/C 256/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Hinweisendes Nuklearprogramm — Vorlage nach Artikel 40 Euratom-Vertrag zwecks Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und SozialausschussesKOM(2006) 844 endg.

51

2007/C 256/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 des Rates über die Ratifikation des Übereinkommens der Vereinten Nationen über einen Verhaltenskodex für Linienkonferenzen durch die Mitgliedstaaten oder über den Beitritt der Mitgliedstaaten zu diesem ÜbereinkommenKOM(2006) 869 endg. — 2006/0308 (COD)

62

2007/C 256/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Funkfrequenzkennzeichung (RFID)

66

2007/C 256/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — GALILEO am Scheideweg: die Umsetzung der europäischen GNSS-ProgrammeKOM(2007) 261 endg.

73

2007/C 256/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Zweijährlichen Fortschrittsbericht zur EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung

76

2007/C 256/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Statistiken zu PflanzenschutzmittelnKOM(2006) 778 endg. — 2006/0258 (COD)

86

2007/C 256/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Innovation: Auswirkungen auf den industriellen Wandel und die Rolle der EIB

88

2007/C 256/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Beschäftigung für vorrangige Bevölkerungsgruppen (Lissabon-Strategie)

93

2007/C 256/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts und Sozialausschusses zum Thema Rolle der Sozialpartner/Vereinbarung von Beruf, Familie und Privatleben

102

2007/C 256/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Flexicurity (die Dimension der internen Flexibilität — Tarifverhandlungen und Sozialer Dialog als Instrumente der Arbeitsmarktregulierung und -reform)

108

2007/C 256/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Beschäftigungsfähigkeit und Unternehmergeist — Die Rolle der Zivilgesellschaft, der Sozialpartner und der regionalen und lokalen Einrichtungen unter Berücksichtigung des Gender Mainstreamings

114

2007/C 256/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Gesundheit und Migration

123

2007/C 256/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Euregios

131

2007/C 256/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Beziehungen zwischen der EU und Zentralamerika

138

2007/C 256/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Förderung des Unternehmergeistes der Frauen im Europa-Mittelmeerraum

144

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

ENTSCHLIESSUNGEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss 436. Plenartagung vom 30./31. Mai 2007

27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/1


Entschliessung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Beitrag zum Europäischen Rat am 21./22. Juni 2007 — Fahrplan für den Verfassungsprozess“

(2007/C 256/01)

In seiner Sitzung vom 29. Mai 2007 beschloss das Präsidium des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, dem Plenum als Beitrag zur Tagung des Europäischen Rates am 21. und 22. Juni 2007 eine Entschließung zu dem Fahrplan für den Verfassungsprozess vorzulegen.

Der Ausschuss verabschiedete diese Entschließung auf seiner Plenartagung am 30./31. Mai 2007 (Sitzung vom 30. Mai) mit 171 gegen 18 Stimmen bei 16 Stimmenthaltungen.

1.

Der EWSA bestätigt mit Nachdruck seine Stellungnahmen zum Verfassungsvertrag vom 24. September 2003 (1), vom 28. Oktober 2004 (2) und vom 17. Mai 2006 (3) sowie auch seine Entschließung vom 14. März 2007 zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge (4). In allen diesen Stellungnahmen hat sich der EWSA vorbehaltlos zum Konventsverfahren wie auch zu seinem Ergebnis bekannt.

2.

Der EWSA unterstützt nach wie vor den Verfassungsvertrag, der sich von allen institutionellen Texten, die bisher von den verschiedenen Regierungskonferenzen zur Revision der Römischen Verträge produziert wurden, grundlegend und positiv unterscheidet: er ist unter Beteiligung von nationalen und europäischen Parlamentariern in freier und öffentlicher Debatte zustande gekommen; er fasst systematisch das gesamte politisch-institutionelle Vertragswerk, wie es sich seit Gründung der Europäischen Gemeinschaften entwickelt hat, in einem einzigen Text zusammen; er enthält die Dispositionen für die notwendigen institutionellen und prozeduralen Reformen des Entscheidungssystems der Europäischen Union, beschreibt die Ziele, die von ihr verfolgt werden sollen, benennt die Werte, auf die sie ihre Politik gründen soll, und kodifiziert die Grundrechte, die von ihr respektiert und geschützt werden müssen.

3.

All das hat es gerechtfertigt, den Entwurf des Konvents einen „Vertrag über die Verfassung Europas“ zu nennen. Aufgrund mannigfacher Missverständnisse in einigen Mitgliedstaaten ist die Bezeichnung „Verfassung“ jedoch auf Ablehnung gestoßen. Der EWSA widersetzt sich nicht, dass dem neuen Vertrag ein anderer Name gegeben wird. Die Substanz ist wichtiger als der Name.

4.

Als institutionelle Vertretung der organisierten Zivilgesellschaft sind für den EWSA folgende Gründe für seine anhaltende Unterstützung des Verfassungsvertrages maßgebend, die zur Stärkung der demokratischen Legitimation der EU beitragen:

Ausbau der Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments durch Ausdehnung der Mitentscheidung auf neue Bereiche;

verstärkte Einbindung auch der nationalen Parlamente in die Tätigkeit der Europäischen Union, indem ihnen ein Kontrollrecht in Bezug auf die Einhaltung des Prinzips der Subsidiarität zugebilligt wird;

Verbesserung der Transparenz der Beratungen des Rates der Europäischen Union;

Stärkung der Rolle des autonomen Sozialen Dialogs und Anerkennung der Sozialpartner als Akteure des europäischen Einigungswerkes;

Anerkennung der Bedeutung der partizipativen Demokratie insbesondere dadurch, dass die europäischen Institutionen dazu verpflichtet werden, einen transparenten und regelmäßigen Dialog mit den Organisationen der Zivilgesellschaft und den Unionsbürgern zu führen;

in gleichem Sinne Einführung eines Initiativrechts für die Bürger der Union.

5.

Der EWSA erinnert daran, dass die im Europäischen Rat vereinten Staats- bzw. Regierungschefs aller Mitgliedstaaten dem Verfassungsvertrag zugestimmt und ihn am 29. Oktober 2004 in Rom feierlich unterzeichnet haben. Inzwischen hat auch eine 2/3-Mehrheit der Mitgliedstaaten mit einer Bevölkerung, die eine deutliche Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union ausmacht, den Verfassungsvertrag ratifiziert. Der EWSA besteht deshalb darauf, dass der Verfassungsvertrag Grundlage der weiteren Beratungen zur Lösung der aktuellen Krise bleibt.

6.

Der EWSA unterstützt die deutsche Präsidentschaft in ihrer Absicht, anlässlich der Tagung des Europäischen Rats am 21./22. Juni dieses Jahres einen Fahrplan für die künftigen Bemühungen zur Lösung der Krise vorzulegen, und begrüßt, dass in der „Berliner Erklärung“ vom 25. März 2007 als Termin für das Inkrafttreten des neuen Vertrags die Europawahl 2009 festgeschrieben wurde.

7.

Das bedeutet, dass bis zum Jahresende 2007 eine Regierungskonferenz von kurzer Dauer die Änderungen am vorliegenden Entwurf verabschieden muss, die notwendig sind, um einen neuen Konsens herzustellen. Das Mandat dieser Regierungskonferenz wird dementsprechend präzise die wenigen Dispositionen aufführen müssen, die für eine neue Beratung zugelassen werden können. Das Ergebnis müsste im Laufe des Jahres 2008 von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden.

8.

Die Neuberatung des Vertrags, muss ergeben, dass die Substanz dessen, was im Europäischen Konvent beschlossen und anschließend von den Staats- und Regierungschefs einmütig gebilligt wurde, bewahrt bleibt. Dazu gehören in erster Linie die institutionellen und prozeduralen Neuerungen sowie der verpflichtende Charakter der Charta der Grundrechte. Das heißt: Teil I (Ziele, Institutionen, Struktur der Union), Teil II (Die Charta der Grundrechte der Union) und Teil IV (Allgemeine und Schlussbestimmungen) müssen bestehen bleiben. Die Dispositionen des Teils III enthalten im Wesentlichen die auf die Politiken der Europäischen Union bezogenen Bestimmungen der geltenden Verträge und müssen nicht unbedingt Bestandteil des neuen Vertrages werden; die institutionellen und prozeduralen Bestimmungen des Teils III, sollten, sofern sie über bisher geltendes Recht hinausgehen, in Teil I integriert werden.

9.

Der EWSA wird die Arbeit der Regierungskonferenz konstruktiv begleiten. Er besteht aber auch darauf, dass den zivilgesellschaftlichen Organisationen trotz der voraussichtlich kurzen Dauer der Regierungskonferenz und trotz ihres begrenzten Mandats die Möglichkeit zur beratenden Mitwirkung eröffnet wird. Der EWSA ist bereit, in Zusammenarbeit mit der Präsidentschaft des Rates die entsprechenden Informations- und Konsultationstreffen zu organisieren; er kann sich dabei auf die guten Erfahrungen stützen, die er während der Arbeiten des Europäischen Konvents in Zusammenarbeit mit dessen Präsidium wie auch mit dem Europäischen Parlament gemacht hat.

10.

Eine schnelle Beendigung der aktuellen Krise durch die Verabschiedung eines Vertrages, der den Erfordernissen einer Union mit 27 Mitgliedstaaten gerecht wird, ist dringend geboten. Denn neue Herausforderungen machen es notwendig, dass sich die Europäische Union auf neue Politiken verständigt und weit reichende Beschlüsse fasst, vor allem im Hinblick auf die Weiterentwicklung des europäischen Gesellschaftsmodells — in dem die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse ein konstitutiver Bestandteil sind — und die Stärkung der sozialen Dimension der europäischen Integration; die Beherrschung der negativen Effekte, die sich aus der Globalisierung aller wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen ergeben; die Förderung des wirtschaftlichen Wachstums und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit; die Bewältigung des Klimawandels; die Sicherung der Energieversorgung; die Bewältigung der mit der Einwanderung verbundenen Probleme; und die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung.

Brüssel, den 30. Mai 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Stellungnahme für die Regierungskonferenz (CESE 1171/2003), ABl. C 10 vom 14.1.2004.

(2)  Stellungnahme über den Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. C 120 vom 20.5.2005.

(3)  Stellungnahme vom 17. Mai 2006„Beitrag zum Europäischen Rat am 15./16. Juni 2006 — Phase des Nachdenkens“, ABl. C 195 vom 18.8.2006.

(4)  ABl. C 161 vom 13.7.2007.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

437. Plenartagung vom 11./12. Juli 2007

27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/3


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über strafrechtliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums“

KOM(2005) 276 endg. — 2005/0127 (COD)

(2007/C 256/02)

Der Rat beschloss am 21. September 2005, den Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 4. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr RETUREAU.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 12. Juli) mit 76 gegen 3 Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1

Der Ausschuss wird aufmerksam verfolgen, ob die Umsetzung der Richtlinie von 2004 mit dem vorliegenden geänderten Richtlinienvorschlag sowie einschlägigen ergänzenden Rahmenbeschlüssen koordiniert erfolgt, um überprüfen zu können, inwieweit sich die Bekämpfung der Nachahmung und ihrer internationalen Verzweigungen, auch über das Gemeinschaftsgebiet hinaus, im Laufe der Zeit als wirksam erweist.

1.2

Der Ausschuss unterstützt die vorgeschlagenen Bestimmungen von ihrem allgemeinen Ansatz her, fordert die Kommission jedoch auf, die Bemerkungen dieser Stellungnahme zu berücksichtigen, in der vorgeschlagen wird, die Anstrengungen zur Strafverfolgung und zur Zusammenarbeit in Straf- und Zollsachen in erster Linie auf die Nachahmung im großen Stil und auf von kriminellen Vereinigungen verübte Nachahmungen zu konzentrieren sowie auf Fälle, in denen der Verstoß die Gesundheit oder Sicherheit von Personen gefährdet.

1.3

Der Ausschuss wünscht insbesondere, dass sich die Richtlinie auf alle Rechte an gewerblichem Eigentum erstreckt und somit auch Erfindungspatente — den für die europäische Industrie wichtigsten Bereich — mit einschließt.

1.4

Der Ausschuss verweist auf die Uneindeutigkeit einiger Rechtstermini, wie etwa die im vorliegenden Richtlinienvorschlag enthaltenen Begriffe der Verletzungen „in gewerbsmäßigem Umfang“ oder „gewerblicher“ bzw. „gewerbsmäßiger“ Art, die den Grundsätzen des Strafrechts entgegenstehen, nach denen ein Straftatbestand eindeutig und präzise definiert sein muss. Der Ausschuss spricht sich zudem gegen die Art der Definition der in Artikel 2 des Richtlinienvorschlags vorgesehenen Strafmaße aus, da er die Auffassung vertritt, dass lediglich ein allgemeiner strafrechtlicher Rahmen (der sich auf die Verhängung von Haft- bzw. Geldstrafen beschränkt) vorgesehen werden sollte, während die Festlegung der konkreten Strafen die ausschließliche Zuständigkeit der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften bleiben muss.

2.   Einleitung

2.1

In einem Vermerk vom 23. November 2005 (MEMO/05/437), in dem ihre Mitteilung vom selben Tag zusammengefasst wurde, begrüßt die Kommission das Urteil des Gerichtshofs, das der Gemeinschaft Zuständigkeiten für die Annahme von verhältnismäßigen und abschreckenden strafrechtlichen Maßnahmen zuerkennt, um die Anwendung der Normen für die im EG-Vertrag verankerten Bereiche der Gemeinschaftspolitik zu gewährleisten.

2.2

In der Mitteilung legt die Kommission ihre Auslegung des Urteils vom 13. September 2005 dar, mit dem der Gerichtshof einen Rahmenbeschluss zum Umweltschutz durch das Strafrecht aufgehoben hat. Ihres Erachtens nach ist der Gerichtshof zu der Auffassung gekommen, dass die Gemeinschaft befugt ist, strafrechtliche Maßnahmen zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu ergreifen. Die Tragweite dieses Urteils geht laut Kommission wesentlich über den Umweltbereich hinaus und zielt auf die gesamte Gemeinschaftspolitik sowie die durch den Vertrag anerkannten Grundfreiheiten ab. Die Einführung strafrechtlicher Sanktionen in das Gemeinschaftsrecht muss durch eine hinreichend begründete Notwendigkeit gerechtfertigt sein und die Gesamtkohärenz des strafrechtlichen Gefüges der Union wahren.

2.3

Diese extensive Auslegung eines Urteils zum Umweltschutz stieß bei Mitgliedstaaten und Lehre nicht auf ungeteilte Zustimmung. Viele sind der Ansicht, dass die Straftatbestände und das Maß der entsprechenden strafrechtlichen Sanktionen im Wesentlichen unter das Subsidiaritätsprinzip fallen und ihre Harmonisierung auf EU-Ebene Teil der im EU-Vertrag vorgesehenen zwischenstaatlichen justiziellen Zusammenarbeit ist.

2.4

Diese Auslegung wird vom Europäischen Parlament überwiegend geteilt, denn welche Bereiche unter die strafrechtliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen, hängt nicht mehr allein von der einstimmigen Entscheidung der Mitgliedstaaten im Rat ab, sondern von einer qualifizierten Mehrheit in einem Mitentscheidungsverfahren, das das Parlament einbindet, dessen Befugnisse als Mitgesetzgeber so erweitert werden (1).

2.5

Es handelt sich hierbei jedoch um eine beträchtliche, aus einem Gerichtsentscheid resultierende Erweiterung der Gemeinschaftsbefugnisse, und aufgrund der Gefahr abweichender Auslegungen zwischen den Institutionen kann u.a. die Verabschiedung von Rechtsvorschriften, die strafrechtliche Bestimmungen enthalten, verzögert oder ihre Tragweite im Nachhinein eingeschränkt werden, etwa infolge von neuen Rechtsbehelfen oder von Kompromissen. Im Falle dieses Richtlinienvorschlags bleibt die Frage, ob Erfindungspatente in den Bereich des strafrechtlichen Schutzes aufgenommen werden sollen, offen, da nach Auffassung des Parlaments nur das Recht gemeinschaftlichen Ursprungs vom Urteil des Gerichtshofs betroffen ist, während die Kommission beabsichtigt, den gesamten Korpus des Rechts an geistigem Eigentum — Gemeinschafts- und einzelstaatliches Recht — einzubeziehen.

3.   Die Kommissionsvorschläge

3.1

Mit dem geänderten Vorschlag für eine Richtlinie (KOM(2006) 168 endg.) soll ein horizontaler und harmonisierter strafrechtlicher Rahmen geschaffen werden, um die Wahrung der Rechte an gewerblichem, literarischem und künstlerischem Eigentum sowie sonstiger gleichgestellter immaterieller Rechte (die unter der Bezeichnung „geistiges Eigentum“ zusammengefasst sind) sicherzustellen. Der Vorschlag betrifft den Binnenmarkt und wird mit der ausdrücklichen Notwendigkeit eines Eingreifens der EU in diesem Bereich begründet, wobei die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gewahrt würden. Rechtsgrundlage ist Artikel 95 EG-Vertrag.

3.2

Mit dem Vorschlag wird ein allgemeiner strafrechtlicher Rahmen festgelegt, der die geschützten „Rechte an geistigem Eigentum“, die Verstöße gegen diese Rechte und die Höchststrafmaße definiert. Ziel ist es, die Strafverfolgung der Nachahmung von materiellen Gütern, Dienstleistungen sowie geistigen und künstlerischen Schöpfungen innerhalb des Binnenmarkts zu harmonisieren, die durch das europäische materielle, das jeweilige einzelstaatliche Recht sowie die einschlägigen internationalen Konventionen geschützt sind, insbesondere durch das 1994 von der WTO geschlossene TRIPS-Übereinkommen (2), das Bestimmungen zu den strafrechtlichen Sanktionen (3) für die Verletzung bestimmter geschützter Rechte umfasst.

3.3

Durch eine 2004 angenommene Richtlinie (4) wird bereits ein Rahmen zum Schutz vor Kopien, Piraterie und Nachahmung zu gewerblichen Zwecken definiert; in einer Erklärung der Kommission (5) wurde ein ausführliches Verzeichnis der durch Artikel 2 dieser Richtlinie geschützten Rechte erstellt. Es handelt sich um gewerbliches Eigentum (Erfindungspatente und ergänzende Zertifikate, Gebrauchsmuster, Marken, Ursprungsbezeichnungen, Geschmacksmuster, Sortenschutz), Urheberrechte und dem Urheberrecht verwandte Schutzrechte sowie durch das Gemeinschaftsrecht geschaffene Schutzrechte sui generis für Topografien elektronischer Schaltkreise und für Datenbanken. Hier geht es um ausschließliche Rechte, die rechtlich dem immateriellen Eigentumsrecht zugeordnet werden. Ein Teil dieser Rechte gehört zum Acquis communautaire oder ist sogar Gegenstand eines organisierten materiellen Gemeinschaftsschutzes (Geschmacksmuster, Marken, Sortenschutz) (6). Andere Rechte, wie die Patente, fallen — in Erwartung eines von allen Branchen der Industrie geforderten Gemeinschaftspatents — ausschließlich unter das innerstaatliche Recht. Der Fachbegriff „geistiges Eigentum“ bezieht sich demnach auf einen sehr uneinheitlichen Bereich von immateriellen Rechten, die sich im Hinblick auf ihre Wesensmerkmale und ihren Rechtsstatus erheblich voneinander unterscheiden.

3.4

Die Mitgliedstaaten unterliegen den Verpflichtungen des TRIPS-Übereinkommens, das die Einführung angemessener einzelstaatlicher Rechtsvorschriften für die Strafverfolgung von Nachahmungen zu gewerblichen Zwecken und diesbezügliche strafrechtliche Sanktionen fordert; allerdings verfügen sie über einen gewissen Auslegungsspielraum, und bestimmte Staaten, auch innerhalb der EU, haben überdies noch keine Strafverfolgung eingeführt, die den in ihrem Gebiet verübten Verletzungen der Rechte an geistigem Eigentum angemessen wäre. Die Richtlinie von 2004 ermöglicht es den Opfern von Verletzungen an geistigem Eigentum, entschädigt zu werden, indem zulasten der Mitgliedstaaten Ermittlungs-, Verfahrens-, Beschlagnahme- (7) und Schadensersatzverpflichtungen geschaffen wurden mit dem Ziel, das anwendbare Recht und die Bekämpfung der bei der Nachahmung sehr aktiven organisierten Kriminalität (8) zu harmonisieren. Allerdings betrifft diese Richtlinie nur das Verfahren und die Sanktionen im Zivil-, Handels- und Verwaltungsrecht und ist in erster Linie auf die Wiedergutmachung von Schäden ausgerichtet, die wegen Nachahmung klagende Inhaber geschützter Rechte erlitten haben, und einige Mitgliedstaaten haben sie noch gar nicht umgesetzt!

3.5

Der Schutz des „geistigen Eigentums“ ist in der Allgemeinen Menschrechtserklärung und in der EU-Charta der Grundrechte festgeschrieben, die im Dezember 2000 in Nizza in Form einer feierlichen Erklärung angenommen wurde. Auch in Übereinkommen, die im Rahmen hierfür zuständiger UN-Sonderorganisationen (Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO), UNESCO) oder in einem regionalen Rahmen (Übereinkommen von München aus dem Jahr 1973 zur Einrichtung des Europäischen Patentamts und zur Schaffung des europäischen Patents) geschlossen wurden, sind internationale Schutzmechanismen vorgesehen. Nur das TRIPS-Übereinkommen umfasst derzeit minimale strafrechtliche Bestimmungen. Ziel des Kommissionsvorschlags ist eine gewisse Harmonisierung innerhalb der Gemeinschaft, indem die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, in ihr innerstaatliches Recht strafrechtliche Sanktionen, einschließlich gemeinsamer Definitionen von Tatbeständen und gemeinsamer Standardsanktionen, aufzunehmen.

3.6

Mit dem geänderten Vorschlag für eine Richtlinie sollen somit die Strafmaße für die Verletzung von Rechten an geistigem Eigentum einander bezüglich Gefängnisstrafen, Geldstrafen und Einziehungen angenähert werden. Es sollen Regeln für die gerichtliche Zuständigkeit festgelegt werden, um die Strafverfolgung — wenn die Straftat mehrere Mitgliedstaaten betrifft — möglichst in einem einzigen Staat zu zentralisieren und die Ermittlungen zu erleichtern; es wird vorgeschlagen, die Opfer bzw. ihre Vertreter in diese Ermittlungen einzubinden.

3.7

Die wichtigste Änderung im Vergleich zu früheren Vorschlägen besteht in der Festlegung von Ausmaß und Art der strafrechtlichen Sanktionen, die für die im Richtlinienentwurf ebenfalls festgelegten Straftatbestände der Verletzung geistigen Eigentums anzuwenden sind.

3.8

Natürliche Personen, die eine unter Artikel 3 der Richtlinie fallende Straftat begangen haben, sollten mit einer Höchststrafe von mindestens 4 Jahren Haft belegt werden, wenn sie im Rahmen einer kriminellen Organisation gehandelt haben oder die Straftat die Sicherheit oder Gesundheit von Menschen gefährdet hat (Artikel 2 Absatz 1).

3.9

Gegen natürliche und juristische Personen, die eine unter Artikel 3 der Richtlinie fallende Straftat begangen haben, sollten wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen verhängt werden können, die strafrechtliche und nicht strafrechtliche Geldstrafen mit einem Höchstbetrag von mindestens 100 000 EUR (300 000 EUR im Falle schwerer Straftaten gemäß Artikel 2 Absatz 1, unbeschadet höherer Strafen im Falle der Lebensgefährdung oder der Gefahr eines körperlichen oder geistigen Gebrechens) umfassen.

3.10

Im einzelstaatlichen Recht müsste zumindest in schweren Fällen (organisierte Kriminalität, Gefährdung der Gesundheit und Sicherheit von Menschen) die Einziehung der nachgeahmten Produkte sowie der Tatwerkzeuge und Vermögensgegenstände aus Straftaten vorgesehen werden (Artikel 3).

3.11

Der geänderte Vorschlag erlaubt es den Mitgliedstaaten, über das jeweils vorgesehene Strafmaß hinauszugehen.

3.12

Nachdem der Rat seinen Vorschlag für eine Rahmenrichtlinie, der den ursprünglichen Vorschlag begleitete, zurückgezogen hat, beabsichtigt die Kommission, in Strafverfahren den am 23.12.2005 angenommenen Querschnittsansatz anzuwenden, bei dem es darum geht, Rechtshilfeersuchen zu unterstützen und die Höhe der Sanktionen auf ein von Land zu Land vergleichbares Maß festzulegen, um Eurojust umsetzen zu können (9).

3.13

Die Initiative für Ermittlungen und Strafverfolgung liegt bei den Mitgliedstaaten und sollte nicht allein auf Klage von Opfern hin ergriffen werden.

4.   Allgemeine Bemerkungen des Ausschusses

4.1

Der Ausschuss stellt fest, dass immer häufiger die ungenaue Bezeichnung „geistiges Eigentum“ benutzt wird, die ganz unterschiedliche Rechtsbegriffe und verschiedene Arten des Schutzes und der Nutzung vermischt, im europäischen und internationalen Recht jedoch zum Terminus technicus geworden ist. Art, Dauer und Tragweite aller betreffenden immateriellen Rechte sind sehr unterschiedlich, da mit jedem ein eigener Rechtsstatus, eine variable territoriale Gültigkeit sowie besondere Einrichtungen für seine Eintragung und seinen Schutz verknüpft sind; darüber hinaus kann die Auslegung der Verstöße gegen diese Rechte von Land zu Land verschieden sein und sich in bestimmten Fällen rasch ändern.

4.2

Analysen der Zusammensetzung von Arzneimitteln (ohne Nutzung oder Veröffentlichung des Ergebnisses), das Reverse Engineering von Software oder Elektronikbestandteilen zu Zwecken der Interoperabilität oder die Ausübung des legitimen Rechts auf Kopie zu privaten Zwecken durch Umgehung eines (im Allgemeinen relativ schwachen) Schutzmechanismus können in mehreren Mitgliedstaaten als Nachahmung oder illegale Kopie eingestuft werden; in diesen Mitgliedstaaten können die Strafen im Übrigen sehr hoch sein, auch wenn keine gewerbliche Absicht oder kriminelle Vereinigung hinter der Handlung steht.

4.2.1

Der Ausschuss hat sich bereits für eine auf europäischer Ebene koordinierte Bekämpfung der verschiedenen Formen der gewerblichen Nachahmung, die die europäische Wirtschaft betreffen, sowie für eine Ahndung der verschiedenen Straftaten, die die Rechte an gewerblichem Eigentum und die Urheberrechte verletzen (10) und der europäischen Wirtschaft erheblich schaden, ausgesprochen; Nachahmung in großem Umfang ist häufig das Werk krimineller Vereinigungen oder organisierter Banden und kann die Gesundheit, die Sicherheit und das Leben von Menschen gefährden: diese Fälle sind bei der Festlegung der strafrechtlichen Sanktionen als erschwerende Umstände zu werten. In dem Richtlinienvorschlag sollte der Grundsatz der Erhöhung des Strafmaßes bei allen erschwerenden Umständen festgehalten werden.

4.2.2

Wie bereits bei der Richtlinie von 2004 begrüßt der Ausschuss die Tatsache, dass die ins Auge gefasste Harmonisierung nur die in gewerbsmäßigem Umfang begangenen Straftaten betrifft, die folglich den Binnenmarkt erheblich in Mitleidenschaft ziehen können; allerdings wäre es sinnvoll, die Begriffe „gewerblich“ bzw. „gewerbsmäßig“ genauer zu definieren, z.B. indem präzisiert wird, dass die nachgeahmten Produkte oder Dienstleistungen für den Vertrieb in großen Mengen vorgesehen sind und so beträchtlicher wirtschaftlicher Schaden entsteht oder dass sie, unabhängig von der vertriebenen Menge, für Menschen eine Gefahr darstellen oder dass die Urheber dieser Straftaten mit ihren Handlungen in jedem Fall auf illegale finanzielle Vorteile abzielen. Die Anwendung strafrechtlicher Sanktionen setzt eine offensichtliche Störung der öffentlichen Ordnung voraus, und diese Störung kann unterschiedlich stark und schwerwiegend sein: die Skala der Straftaten und Strafen muss im richtigen Verhältnis zur Störung stehen, aber es fragt sich, ob die Unterscheidung zwischen „Verstößen in gewerbsmäßigem Umfang gegen ein Recht an geistigem Eigentum“ und „schweren Verstößen“ und die Strenge der vorgeschlagenen Strafen auch tatsächlich dem im Strafrecht geltenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Davon abgesehen sind der private Austausch von Internetdateien, die Vervielfältigung (bzw. der Remix von Musiktiteln) oder die Wiedergabe materieller oder geistiger Werke im familiären oder privaten Rahmen oder zu Studien- und Versuchszwecken stillschweigend aus dem Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Rechtsetzung ausgeschlossen; dieser Ausschluss sollte ausdrücklich erfolgen.

4.2.3

Der Ausschuss möchte daran erinnern, dass die von Nachahmungen betroffenen immateriellen Rechte keine absoluten Rechte sind; jedes dieser Rechte hat seine eigenen Besonderheiten und gewährt grundsätzlich Exklusivität und ein vorübergehendes Nutzungsmonopol mit schwankender zeitlicher und räumlicher Gültigkeit, d.h. führt eine zeitlich begrenzte protektionistische Maßnahme (im Gegenzug zur Veröffentlichung von Erfindungen im Bereich des Patentrechts bzw. aufgrund der Schaffung eines Werkes im Bereich des Urheberrechts) ein; doch auch die Inhaber von Nutzungslizenzen und die legitimen oder Bona-fide-Nutzer von Produkten und Dienstleistungen oder geistigen Werken haben Rechte, im Rahmen bestimmter Lizenzen (11)sogar sehr weit reichende. Die Situation mehrerer einzelstaatlicher Rechtsordnungen weist jedoch Unstimmigkeiten auf und räumt den Rechten der Erzeuger, der Vertreiber und der Industrie einseitigen Vorrang vor denen der Verbraucher ein; die Absicht, im innerstaatlichen Recht zahlreicher Länder schwere strafrechtliche Sanktionen einzuführen, scheint Teil dieser Einseitigkeit zu sein. Dabei kommt man zu dem Paradox, dass sich das im Richtlinienvorschlag für eine Verletzung in gewerbsmäßigem Umfang verhängte Höchststrafmaß als gleich schwer bzw. sogar weniger schwer erweisen könnte als das Strafmaß, das für eine Verletzung im Einzelfall besteht.

4.2.4

Der Ausschuss wünscht, dass auf Initiative der Kommission — etwa durch einen eingehenden Vergleich der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften nach der Umsetzung der Richtlinie — eine grundlegende Überprüfung des Strafrechts der Mitgliedstaaten im Vergleich zum EU-Strafrecht vorgenommen wird, um so zu einer echten europäischen Harmonisierung zu gelangen, insbesondere im Bereich der Urheber- und verwandter Schutzrechte, die bisweilen Gegenstand gegenseitiger Überbietungen bei den strafrechtlichen Sanktionen sind, aus denen sich ohne echte Not unverhältnismäßige Sanktions- und Strafmaße ergeben. Denn die gewerblichen Modelle zur Verbreitung von Werken befinden sich in voller Entwicklung — auf kurze Sicht ist die Abschaffung der DRM-Systeme (Kopierschutzmechanismen) geplant -, und die Inhaber der Rechte werden durch die Besteuerung der Datenträger bisweilen bei Weitem für Raubkopien entschädigt.

4.3   Besondere Bemerkungen

4.3.1

Der Ausschuss wünscht, dass der Tatbestand der Anstiftung zur Nachahmung von Produkten oder Dienstleistungen geistigen Eigentums eindeutiger definiert wird. Eine Straftat umfasst ein Element des Vorsatzes seitens ihres Urhebers oder seiner Komplizen: Im TRIPS-Übereinkommen wird die „vorsätzliche Nachahmung“ erwähnt, und die Richtlinie spricht davon, dass die Handlung vorsätzlich begangen sein muss. Die Tat umfasst auch ein materielles Element, nämlich die Ausübung der Straftat bzw. zumindest der Ausübungsversuch, der mit der begonnenen Ausübung einer beabsichtigten Straftat gleichzusetzen ist: beide Elemente sind kumulativ, da die einfache Absicht für die Straftat nicht ausreicht (außer wenn eine Gedankenpolizei eingesetzt wird). Von Anstiftung zur Ausübung einer Straftat kann im Allgemeinen jedoch nur dann gesprochen werden, wenn der „Anstifter“ (im Allgemeinen illegale) Instrumente für die spezifischen Zwecke der Ausübung der betreffenden Straftat bereitstellt. Folglich kann die einfache Bereitstellung von gängiger Hard- oder Software oder eines Internetzugangs nach Ansicht des Ausschusses nicht mit einer Komplizenschaft oder dem Tatbestand der „Anstiftung“ gleichgesetzt werden (der im Strafrecht generell nur in einer sehr begrenzten Zahl von Situationen existiert und im Übrigen schwer nachzuweisen ist), wenn diese Mittel von den Nachahmern verwendet werden. Im Gemeinschaftsrecht sollte der Begriff „Komplizenschaft“ ausreichen, da die Frage der Mittäterschaft im Einzelnen durch das innerstaatliche Recht geregelt wird. Andernfalls könnten daraus Straftatbestände resultieren, ohne dass Vorsatzelemente vorhanden sind.

4.3.2

Die illegale Vervielfältigung von Werken, Modellen, Verfahren oder Erfindungen, die durch ein vorübergehendes Monopol geschützt sind, stellt den Tatbestand der Nachahmung dar. Es wäre zweckmäßig, sich auf diese Definition zu beschränken, ohne sie auf die „Piraterie“ auszuweiten (die im Allgemeinen aus dem missbräuchlichen Eindringen in Informatiksysteme zu Zwecken der Kontrollübernahme, des Datendiebstahls oder der Bandbreitennutzung besteht, in der Regel mit illegaler Absicht). Die Piraterie unterscheidet sich von der Nachahmung in eigentlichen Sinn, weshalb die Straftatbestände eng auszulegen sind. Das unerlaubte Eindringen in Informatiksysteme, der Diebstahl von Daten oder Bandbreiten und rechtswidrige Eingriffe in die Privatsphäre müssen zwar Gegenstand entsprechender Straftatbestände sein, fallen aber nicht unmittelbar unter die Nachahmung. Die strafrechtliche Verfolgung von Computerpiraterie (Hacking) sollte gesondert behandelt werden, auch wenn die Begriffe in vielen politischen Erklärungen, die die Tendenz haben, die Terminologie zu vermischen und eine gewisse Verwirrung aufrechtzuerhalten, unpräzise verwendet werden. Das Hacking wird im Rahmen von terroristischen Unternehmungen verwendet und sollte Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit und einer entsprechenden internationalen Zusammenarbeit sein.

4.3.3

Der in der Begründung erwähnte Begriff „kriminelle Vereinigung“ bzw. organisierte Kriminalität sollte durch den Terminus „organisierte Bande“ ergänzt werden, der in einigen Strafrechtsordnungen bereits als strafverschärfender Umstand besteht. Die gewerbsmäßige Nachahmung in organisierten Banden oder im Rahmen einer kriminellen Vereinigung sollte ein solcher erschwerender Umstand sein, der höhere Haft- und Geldstrafen rechtfertigt.

4.3.4

Die Kommission legt dar, dass es den Mitgliedstaaten frei steht, höhere Strafen zu verhängen oder andere Tatbestände zu sanktionieren. Dies kann als eine Aufforderung zur Ahndung von Handlungen ohne gewerbliche Absicht bzw. die Ausweitung des Tatbestands der Nachahmung auf Sachverhalte verstanden werden, die keine Vervielfältigung oder Kopie eines Produkts, eines Verfahrens oder eines Werkes im eigentlichen Sinne darstellen.

4.3.5

Der Ausschuss hat Bedenken bezüglich der nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts und in einigen Mitgliedstaaten praktizierten Gleichsetzung von Kopiersoftware, mittels derer die so genannten DRM-Systeme (12) (zumeist schwache und nicht verschlüsselte Hardware- oder Software-Kopierschutzmechanismen) umgangen oder aufgehoben werden können, mit der Nachahmung dieser DRM-Systeme, wobei der Tatbestand, der damit als „Nachahmung“ bezeichnet wird, gar keine Kopie oder Vervielfältigung der Originalvorrichtung darstellt. Außerdem sind die DRM-Systeme kein Standard; sie hängen von einer Plattform oder einem Lieferanten ab, und die Dateiformate können geschützt sein, was die Interoperabilität behindert oder darauf abzielt, durch Ausschaltung der Konkurrenz einen gebundenen Markt zu schaffen. Die Schaffung und Nutzung von Kopiermöglichkeiten mit dem Ziel, dem Verbraucher oder dem Unternehmen, das Softwarelizenzinhaber ist, die Ausübung seiner Rechte (private Sicherungskopie zur Verwendung auf unterschiedlicher Standardhardware) zu ermöglichen, sollten nicht als solche geahndet werden, sondern nur dann, wenn das moralische und materielle Element einer in gewerbsmäßigem Umfang begangenen Handlung gegeben ist.

4.3.6

Der Ausschuss unterstützt den Grundsatz der Unabhängigkeit der Strafverfolgung von jeder zivil- oder strafrechtlichen Klage des Opfers, denn in einem mafiösen Kontext könnten die Opfer zögern, Klage zu erheben, um ihre Rechte zu schützen. Darüber hinaus beeinträchtigt die — insbesondere durch Banden oder Vereinigungen der organisierten Kriminalität bzw. des Terrorismus — gewerbsmäßig betriebene Nachahmung sowohl die Wirtschaft als auch das soziale Wohlbefinden, und ihre strafrechtliche Verfolgung obliegt dem Staat.

4.3.7

Der Ausschuss hofft, dass es durch eine effektive Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten möglich sein wird, die internationalen Nachahmungsnetze wirksam zu bekämpfen, vor allem diejenigen, die mit kriminellen Vereinigungen und Geldwäscheaktivitäten in Verbindung stehen, erinnert jedoch gleichzeitig daran, dass viele dieser Netze von Drittstaaten aus operieren und es daher unerlässlich ist, den Aktionsradius — unter Nutzung der Möglichkeiten des internationalen Rechts — über die Unionsgrenzen hinaus auszuweiten.

4.3.8

Auf Gemeinschaftsebene vertritt der Ausschuss die Ansicht, dass gemeinsame polizeiliche Ermittlungsgruppen nicht nur mit den Opfern von Nachahmungen oder ihren beauftragten Sachverständigen, sondern auch mit den Zollgruppen zusammenarbeiten sollten. Er begrüßt die Einbeziehung der Opfer in die Ermittlungsverfahren, schlägt jedoch vor, ihre Rolle ausschließlich auf die Unterrichtung der öffentlichen Behörden zu beschränken. Es würde zu weit gehen, wenn ein Unternehmen im Falle des Vorwurfs einer Nachahmung in gewerbsmäßigem Umfang beispielsweise an Kontrollen und Beschlagnahmungen bei einem Konkurrenten teilnehmen könnte, der bis zum rechtskräftig erbrachten, endgültigen gerichtlichen Nachweis des Gegenteils als unschuldig gilt. Dem Ausschuss ist daran gelegen, Entgleisungen in Form von Privatjustiz oder einem Einmischen oder missbräuchlichen Eingreifen von nicht im Namen der Staatsgewalt handelnden Personen in Strafverfahren zu verhindern.

4.3.9

Schließlich ist der Ausschuss besorgt über die Tendenz zur zunehmenden gewerblichen Aktivität in Internetnetzen und zu Anfragen nach Ausweitung der in den TRIPS-Abkommen vorgesehenen strafrechtlichen Sanktionen auf diesen Tätigkeitsbereich unter Anwendung der Verträge der WIPO auf das Internet, das ein frei und allgemein zugängliches Instrument und ein universelles Gemeingut darstellt, wie dies in dem Bericht des US-Handelsministeriums aus dem Jahr 2006 zu den Abschnitten 301 und Super 301 (13) deutlich zum Ausdruck kommt.

Brüssel, den 12. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Die Opt-in-Klausel für das Vereinigte Königreich und Irland und die Ausnahme im Falle Dänemarks könnten gegenüber der Gesetzgebung nicht mehr geltend gemacht werden, wie dies für Initiativen im Rahmen der dritten Säule der Fall ist.

(2)  Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums.

(3)  Artikel 61 TRIPS-Übereinkommen.

(4)  Richtlinie 2004/48/EG zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums.

(5)  Erklärung der Kommission 2005/295/EG der Kommission zur Auslegung von Artikel 2 der vorgenannten Richtlinie.

(6)  Eine erhebliche Ausnahme stellt hier das Gemeinschaftspatent dar, das immer noch keine Gestalt angenommen hat (Anm. des Verfassers).

(7)  Rahmenbeschluss des Rates 2005/212/JI über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten (Nachahmung, Produktpiraterie) (ABl. L 68 vom 15.3.2005).

(8)  Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Die Nachahmung kann auch bei der Finanzierung terroristischer Netze eine Rolle spielen — das Waschen der aus der Nachahmung fließenden Erträge ist ebenfalls eine kriminelle Handlung, die rigoros bekämpft werden muss.

(9)  KOM(2005) 696 endg.

(10)  Siehe Stellungnahme von Herrn Malosse (ABl. C 221 vom 7.8.2001).

(11)  „Creative Commons Licence“, „General Public Licence“, „BSD“, freie audiovisuelle Lizenz der BBC usw.

(12)  Digital Rights Management („Verwaltung digitaler Rechte“, schönfärberischer Ausdruck für „Kopierschutz“).

(13)  „2006 Special 301 Report USA“.


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Unternehmenspotenzial — insbesondere von KMU (Lissabon-Strategie)“

(2007/C 256/03)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. September 2006 gemäß Artikel 31 der Geschäftsordnung, die Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch mit der Erarbeitung eines Informationsberichts zu beauftragen: „Unternehmenspotenzial — insbesondere von KMU (Lissabon-Strategie)“.

Auf der Plenartagung am 14./15. März 2007 wurde beschlossen, den Informationsbericht in eine Initiativstellungnahme umzuwandeln (Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 3. Mai 2007 an. Berichterstatterin war Frau FAES.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 12. Juli) mit 123 gegen 1 Stimme bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

In den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 23./24. März 2006 ersucht der Rat den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, Anfang 2008 einen zusammenfassenden Bericht zur Unterstützung der Partnerschaft für Beschäftigung und Wachstum vorzulegen.

1.2

Der Europäische Rat schlug in diesem Rahmen spezifische Bereiche für vorrangige Maßnahmen im Zeitraum 2005-2008 vor:

i)

Investitionen in Wissen und Innovation;

ii)

das Unternehmenspotenzial — insbesondere von KMU;

iii)

Beschäftigung für vorrangige Bevölkerungsgruppen (…);

iv)

die Festlegung einer Energiepolitik für Europa (…);

v)

Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen, um bei allen Teilaspekten der Partnerschaft für Beschäftigung und Wachstum die Dynamik aufrechtzuerhalten (…).

2.   Zusammenfassung und Empfehlungen

2.1

Die Lissabon-Strategie hat zwar durchaus zu guten Ergebnissen geführt, ist jedoch bislang — insbesondere in den Bereichen wirtschaftliches und industrielles Wachstum und Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen — nicht voll zum Tragen gekommen. Im globalen Wettbewerb ist Europa durch die Konkurrenz traditioneller und neuer Wettbewerber gefordert, ohne dieser Herausforderung in angemessener Weise begegnen zu können.

2.2

Die europäischen Unternehmen stehen vor dem Problem, in einem Binnenmarkt operieren zu müssen, der — insbesondere in Bezug auf die Harmonisierung der Steuervorschriften, die zu langsame Umsetzung von Richtlinien durch die Mitgliedstaaten, den fortbestehenden hohen Verwaltungsaufwand und die fehlende Mobilität der Arbeitnehmer — unvollendet ist. Vor allem KMU fällt es schwer, diese Hindernisse zu überwinden.

2.3

Zu bewältigen gilt es auch noch weitere Herausforderungen wie den mangelnden Unternehmergeist, die Alterung der Bevölkerung und ihre Konsequenzen für die unternehmerische Initiative und das Arbeitskräfteangebot; außerdem ist es notwendig, sich stärker auf Unternehmensübertragungen, den Zugang zu Finanzierungsquellen in der Gründungs- und Wachstumsphase sowie den Zugang zu Forschungsergebnissen und damit zu Innovationschancen zu konzentrieren.

2.4

Im Hinblick auf das Erreichen der Lissabon-Ziele kommt kleinen und mittleren Unternehmen eine Schlüsselrolle zu. Ihr notwendiger Beitrag wurde jedoch in den ersten Jahren der Umsetzung der Strategie vernachlässigt. So müssen vor allem die KMU-Verbände stärker in die Bewertung der Fortschritte auf diesem Gebiet sowie in die Förderung der KMU auf allen politischen Ebenen einbezogen werden. Der EWSA fordert, anlässlich der nächsten Revision der integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung für den Zeitraum 2008-2010 gezieltere und straffere integrierte Leitlinien für die KMU festzulegen, insbesondere für den Abschnitt mikroökonomische Reformen. Im Hinblick auf ihre umfassende Einbindung in diesen Prozess fordert der EWSA den Rat nachdrücklich auf, wie vom Europäischen Parlament gefordert die Europäische Charta für Kleinunternehmen auf eine Rechtsgrundlage zu stellen, um so eine solidere Basis für weitere Maßnahmen zu schaffen. Die folgenden politischen Leitlinien und Maßnahmen sind von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung des Unternehmenspotenzials von KMU.

2.4.1

Der EWSA fordert die Kommission und den Rat auf, alles in ihren Kräften Stehende zu unternehmen, damit der Grundsatz des „think small first“ („zuerst in kleinen Dimensionen denken“) als Leitgrundsatz bei allen einschlägigen Rechtsvorschriften angewendet wird.

2.4.2

Der EWSA ruft dazu auf, 2009 zum „Jahr des Unternehmers“ zu erklären, um so die entscheidende Rolle der Unternehmer für Wachstum und Wohlstand deutlich zu machen und insbesondere junge Menschen zu ermutigen, eine unternehmerische Tätigkeit als berufliche Laufbahn in Erwägung zu ziehen.

2.4.3

Der EWSA fordert Anstrengungen für ein wirksames Programm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation, das KMU effizient unterstützt und leicht zugänglich ist, sowie für den Zugang von KMU zum siebten Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung und zu den Strukturfonds. Die Wirksamkeit und Zugänglichkeit dieser sowie des JEREMIE-Programms sollten genau überwacht werden.

2.4.4

Das wertvollste Kapital eines Unternehmens ist sein Humankapital. Angemessene Fördermaßnahmen, maßgeschneiderte Fortbildungsangebote und durchdachte finanzielle Anreize sollten es den KMU erleichtern, durch fortgesetzte Investitionen in Weiterbildung die Qualifikationen und Fertigkeiten sowohl der Arbeitnehmer als auch der Unternehmer zu verbessern.

2.4.5

Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Untersuchung zur Beteiligung von KMU an Gemeinschaftsprogrammen durchzuführen. Sollte diese Beteiligung als unzureichend angesehen werden, muss ein verbindlicher Mindestanteil festgelegt werden.

2.4.6

Das öffentliche Beschaffungswesen stellt ein wichtiges Instrument dar, um KMU bei ihrer unternehmerischen Entwicklung zu unterstützen. Hier sollte die KMU-Beteiligung genau beobachtet und Maßnahmen ergriffen werden, um KMU den Zugang zu öffentlichen Aufträgen zu erleichtern. Dazu sollte der Austausch bewährter Verfahrensweisen gefördert werden.

2.4.7

Bei der Kommission sollte eine Koordinierungsstruktur für die tatsächliche, effiziente und effektive Berücksichtigung von KMU-Belangen in allen Programmen, Maßnahmen und Rechtsakten der Gemeinschaft geschaffen werden.

2.4.8

Es werden spezifische Maßnahmen zur Förderung und Anwendung vorbildlicher Verfahrensweisen im Bereich der KMU und in Bezug auf die Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit benötigt, insbesondere in den Regionen, die einen im europäischen Vergleich niedrigen Entwicklungsstand aufweisen. Die Durchführung derartiger Initiativen sollte den KMU-Organisationen überlassen werden.

3.   Allgemeine Aspekte

3.1

Die Lissabon-Strategie wird sehr häufig auf die Kurzformel gebracht, die Europäische Union bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Ergänzend zu den allgemeinen Grundzügen dieser Strategie verabschiedete der Rat im Juni 2000 in Santa Maria da Feira die Europäische Charta für Kleinunternehmen.

3.2

Der Ausschuss erinnert daran, dass in dem am 24. März 2000 in Lissabon erteilten Mandat von Beginn an betont wurde, dass:

die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft im Rahmen unterschiedlicher Formen der Partnerschaft aktiv daran mitwirken müssen;

der Erfolg der Strategie vornehmlich vom Privatsektor und von öffentlich-privaten Partnerschaften sowie vom Engagement der Mitgliedstaaten und der EU selbst abhängt;

eine ausgewogene Entwicklung der drei Teile der Strategie — Wirtschaftswachstum, sozialer Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit — durch die Stimulierung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und der Schaffung von Arbeitsplätzen unter gleichzeitigem Einsatz angemessener umweltpolitischer Maßnahmen erreicht werden muss.

3.3

Auf seiner Frühjahrstagung im März 2005 nahm der Europäische Rat eine Halbzeitbewertung der Lissabon-Strategie vor und beschloss eine Neubelebung des Lissabon-Prozesses und seine Neuausrichtung auf Wachstum und Beschäftigung als Europas vorrangigste politische Aufgaben. Dazu einigte man sich auf integrierte Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung (1), mit denen den Reformmaßnahmen Kohärenz verliehen und ein Fahrplan für die Aufstellung der Nationalen Reformprogramme vorgegeben werden sollte.

3.4

In der weiterentwickelten Lissabon-Strategie ist das Streben nach Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum ein entscheidendes Element für mehr wirtschaftlichen Wohlstand, für die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Sicherung und die Verbesserung des Lebensstandards. Andererseits kann aus besserer Lebensqualität, sozialen Verbesserungen und ökologischer Nachhaltigkeit auch wieder Wachstum entstehen. Insbesondere in den Bereichen wirtschaftliches und industrielles Wachstum und Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen ist die Lissabon-Strategie bislang nicht zum Tragen gekommen. Im globalen Wettbewerb hat Europa mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Seit Beginn des Lissabon-Prozesses hat die EU zudem eine umfassende Erweiterung erfahren, zunächst von 15 auf 25 und dann auf 27 Mitgliedstaaten.

3.5

Der Ausschuss stellt zunächst fest, dass die Lissabon-Strategie bereits eine Reihe von positiven Entwicklungen ermöglicht hat, u.a.:

das sich quer durch die traditionellen Lager ziehende Bewusstsein, dass Reformbedarf besteht;

die beschleunigte Verbreitung von Informationstechnologien und Innovationsprozessen;

die stärkere Unterstützung für neu gegründete Unternehmen und die Finanzierung von KMU;

die stärkere Berücksichtigung einer nachhaltigen Entwicklung zum Abbau öffentlicher Haushaltsdefizite, zur Wiederherstellung der Haushaltsstabilität bei den Sozialschutzsystemen und zum Schutz der Umwelt;

Initiativen der Sozialpartner bei den sozialen Reformen;

Maßnahmen zur Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungsverfahren, die jedoch bislang nur begrenzt gegriffen haben.

3.6

Trotz dieser positiven Aspekte lautet das Fazit: Europa befindet sich in der Zange zwischen der Konkurrenz der hoch entwickelten Industrieländer und der Niedriglohn-Schwellenländer, welche immer stärker neue Technologien einsetzen, und steht vor ständig wachsenden Herausforderungen des Wettbewerbs. Anlass zur Besorgnis geben mehrere Indikatoren:

die nachlassende Binnennachfrage, die geringeren Investitions-, Produktivitäts- und Wachstumsraten in der Europäischen Union, die dazu führen, dass Europa von seinen Hauptkonkurrenten und den aufstrebenden Märkten abgehängt wird;

die Tatsache, dass im Zuge der Globalisierung neue Länder eine zunehmend wichtige Rolle im internationalen Wirtschaftssystem spielen werden;

das deutliche Verfehlen der Beschäftigungsziele;

anhaltende öffentliche Haushaltsdefizite in mehreren Mitgliedstaaten, wenn auch nicht immer in den gleichen;

stark divergierende Steuerregeln und Steuersätze für die Unternehmen;

fortbestehender hoher Verwaltungsaufwand für Unternehmen und schleppende Umsetzung der EU-Richtlinien in den Mitgliedstaaten;

die Alterung der europäischen Bevölkerung, die gewaltige Konsequenzen für die öffentlichen Finanzen und das Arbeitskräfteangebot haben wird;

die drohende zunehmende Ressourcenverknappung und Preisvolatilität, der Klimawandel und Biodiversitätsverluste;

die fehlende Mobilität der Arbeitskräfte, die für die Vollendung des Binnenmarkts unbedingt erforderlich ist;

die Abwanderung europäischer Unternehmen in aufstrebende und schnell wachsende Wirtschaftsräume;

das abnehmende Interesse der Unionsbürger für die EU.

3.7

Gleichzeitig ist man mit der Durchführung der Lissabon-Reformen im Rückstand.

3.7.1

Auf europäischer Ebene haben sich die Mitgliedstaaten zwar verpflichtet, den Binnenmarkt auf verschiedenen Gebieten (Energie, Dienstleistungen, öffentliches Auftragswesen, transeuropäische Netze, Anpassung der öffentlichen Dienste) zu vollenden, sie sträuben sich jedoch, die hierfür erforderlichen Maßnahmen fristgerecht umzusetzen.

3.7.1.1

Auf europäischer Ebene hat die Kommission seit den 90er Jahren zahlreiche Initiativen ergriffen, um zunächst die Bedürfnisse und die Funktionsweise von KMU besser zu verstehen und dann die KMU in ihrer Entwicklung und beim Ausschöpfen ihres Potenzials zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu unterstützen. Verstärkt wurden diese Maßnahmen in den letzten Jahren durch die Einsetzung eines KMU-Beauftragten, die Annahme des Aktionsplans für unternehmerische Initiative im Jahr 2004, die Bemühungen um eine bessere Rechtsetzung, die Verbesserung des Zugangs zu Finanzmitteln (EIF und EIB) und das Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation.

3.7.2

Auf nationaler Ebene gibt es unterschiedliche Ergebnisse, wobei vor allem auf folgenden Gebieten Defizite bestehen:

strukturell bedingte komplizierte Rechtsvorschriften und Verwaltungsverfahren;

hohe Arbeitslosenquoten, insbesondere bei bestimmten Bevölkerungsgruppen;

die zu hohe Vorruhestandsquote trotz gegenteiliger Verpflichtungen;

Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung, die nicht an die Erfordernisse angepasst sind, insbesondere was unternehmerische Kompetenz und IKT-Kompetenz angeht;

unzureichende Angebote für lebensbegleitendes Lernen;

Forschungsausgaben, die insgesamt gesehen eher noch weiter zurückgegangen sind, statt sich dem Lissabon-Ziel von 3 % des BIP zu nähern;

Mangel an Innovation, auch wenn im jüngsten Innovationsanzeiger („Innovation Scoreboard“) bessere Ergebnisse verzeichnet werden;

unzureichender Zugang von KMU zu Finanzierungsquellen und mangelnde Kenntnis der Möglichkeiten auch auf EU-Ebene;

anhaltende öffentliche Haushaltsdefizite, auch wenn dies nicht immer die gleichen Länder betrifft.

3.7.3

Die neuen Mitgliedstaaten müssen häufig zusätzliche Probleme bewältigen, die auf den Entwicklungsrückstand bei der Beschäftigung und im Technologie- oder Umweltbereich zurückzuführen sind, obgleich diese Nachteile bisweilen durch Reformmaßnahmen wettgemacht werden, die radikaler als in den 15 alten Mitgliedstaaten sind.

3.8

Verwiesen sei hier auf den Bericht, den der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) gemäß dem vom Europäischen Rat im März 2005 erteilten Mandat vorgelegt hat und der die Ergebnisse der Konsultation seiner Partner in allen EU-Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene zur Umsetzung der Lissabon-Strategie sowie zur Rolle der Sozialpartner und sonstigen Akteure der organisierten Zivilgesellschaft darstellt (2). In den letzten Jahren hat der Ausschuss eine Reihe von Berichten über die Lissabon-Strategie und über spezifische Aspekte dieser Strategie veröffentlicht (3).

4.   Verbesserung des Unternehmenspotenzials, insbesondere für KMU

4.1   Bedeutung der KMU für die europäische Wirtschaft

4.1.1

Der Mittelstand macht den überwiegenden Teil der europäischen Unternehmen aus (99,8 %). Die durchschnittliche europäische Firma ist ein Kleinstunternehmen (91 %), gefolgt von kleineren Betrieben (7 %). Bei den meisten europäischen Unternehmen handelt es sich also um KMU, die zudem für einen wesentlichen Teil der Beschäftigung (zwei Drittel in der Privatwirtschaft) und der Wirtschaftstätigkeit (57 % des BIP) (4) in Europa sorgen.

4.1.2

Zur besseren Überwachung der wirtschaftlichen Leistungen von KMU ruft der EWSA die Europäische Kommission auf, den Tätigkeiten der Europäischen Beobachtungsstelle für KMU neue Impulse zu geben.

4.1.3

KMU schaffen die meisten Arbeitsplätze; sie stellen eine der wichtigsten Einnahmequellen für den Staatshaushalt (Steuern, Mehrwertsteuer usw.) dar und bieten einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung — insbesondere dem aktivsten und innovativsten Teil, der Antriebskraft für die Wirtschaft ist — die Möglichkeit des beruflichen und sozialen Erfolgs. Außerdem bilden sie das tragende Element eines für die Marktwirtschaft günstigen, von Flexibilität, Innovation und Dynamik geprägten Grundgefüges, in dem künftige große Unternehmen keimen können, insbesondere in den neuen Wirtschaftszweigen, den komplexen Hi-tech-Branchen.

4.2   Wettbewerbsfähigkeit

4.2.1

Die Schwerpunktsetzung auf die Wettbewerbsfähigkeit trägt der Tatsache Rechnung, dass eine nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit in einer offenen und globalen Wirtschaft nur durch den verstärkten Einsatz neuer Technologien, eine effizientere berufliche Bildung, qualifizierte Arbeitnehmer und die Steigerung der Produktivität erreicht werden kann. Die Qualität (der Waren, Dienstleistungen, Vorschriften, Verwaltungen, Beschäftigung, sozialen Beziehungen und Umwelt) steht dabei im Mittelpunkt der Strategie.

4.2.2

Um die wirtschaftliche Stabilität zu sichern, sollten die Mitgliedstaaten im gesamten Konjunkturzyklus ihre mittelfristigen haushaltspolitischen Ziele weiterverfolgen bzw. alle erforderlichen Korrekturmaßnahmen treffen. Dabei sollten sie eine prozyklische Fiskalpolitik vermeiden. Mitgliedstaaten mit potenziell nicht nachhaltigen Leistungsbilanzdefiziten sollten diese Situation durch Strukturreformen zur Steigerung der externen Wettbewerbsfähigkeit und durch steuerpolitische Maßnahmen korrigieren. Diese Maßnahmen sind wegen der Bevölkerungsalterung in Europa unumgänglich.

4.2.3

Der EWSA ist der Ansicht, dass nur durch eine grundlegende Neuorientierung der Wirtschaftspolitik, insbesondere der makroökonomischen Politik, die innergemeinschaftlichen Blockaden für einen anhaltenden und sich selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung beseitigt werden können. Die EU muss sich auf ihre inneren Kräfte stützen, um die europäische Wirtschaft wieder auf einen Kurs des Wachstums und der Vollbeschäftigung zu bringen. Dazu bedarf es einer ausgewogenen makroökonomischen Politik mit dem erklärten Ziel, das zu erreichen, was in der Lissabon-Strategie festgelegt ist, nämlich Vollbeschäftigung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, wobei die in den Schlussfolgerungen des Göteborger Gipfels enthaltene Verpflichtung zu einem „nachhaltigen“ Wachstum wirklich ernst genommen werden muss.

4.2.4

Der EWSA erinnert daran, dass das Ziel der Geldpolitik ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Preisstabilität, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung sein sollte. Dazu wäre es sinnvoll, der EZB ein weiter gefasstes Stabilitätsziel nahe zu legen, welches nicht nur die Preisstabilität betrifft, sondern auch die Stabilität von Wachstum, Vollbeschäftigung und sozialem Zusammenhalt (5). Um hier etwas zu erreichen, müssen die Staatshaushalte im Einklang mit der EZB-Politik und in Übereinstimmung mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt stehen.

4.2.5

Darüber hinaus weist der EWSA auf die besondere Relevanz der unternehmensbezogenen Dienstleistungen als Teil der KMU für das Gelingen des Lissabon-Prozesses und die Wettbewerbsfähigkeit der EU hin. Unter Bezugnahme auf die betreffende Mitteilung der Kommission (6) unterstreicht der Ausschuss die Notwendigkeit, ein Regelungsumfeld zu schaffen, in dem die betroffenen KMU die sich stellenden gesellschaftlichen Anforderungen erfüllen können.

4.2.6

Der EWSA begrüßt auch die breit angelegte Analyse der notwendigen Fördermaßnahmen in 27 Sektoren des verarbeitenden Gewerbes, die in Mitteilung der Kommission zu einer integrierten Industriepolitik vorgenommen wird, dringt jedoch auf die tatsächliche Umsetzung der politischen Maßnahmen in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten (7).

4.3   Bessere Rechtsvorschriften (8)

4.3.1

Der EWSA unterstützt vorbehaltlos den unlängst von der Europäischen Kommission gemachten Vorschlag, den Verwaltungsaufwand für Unternehmen bis zum Jahr 2012 um 25 % zu verringern (9). Daraus könnte sich eine Zunahme des BIP um 1,5 % ergeben. Der EWSA fordert die Kommission auf, eine klar umrissene Strategie für die umfassende Vereinfachung des ordnungspolitischen Umfelds vorzulegen, damit sie ihr Versprechen halten kann (10).

4.3.2

Ein geringerer Verwaltungsaufwand kann die Wirtschaftsdynamik erheblich verbessern. Die Last der gesetzlichen und ordnungspolitischen Verpflichtungen zu verringern erfordert ein von den lokalen, regionalen und staatlichen Behörden sowie von der EU getragenes Gesamtkonzept. Die Vorschriften müssen gut durchdacht und angemessen sein.

4.3.3

Die von der Kommission in ihren strategischen Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung vorgeschlagene Einsetzung eines Ausschusses für Folgenabschätzung (11), mit der die Wirksamkeit dieser Analysen verbessert werden soll, wird vom EWSA unterstützt. Dieser Ausschuss sollte jedoch seine Tätigkeit nicht auf die reine Koordinierung beschränken, sondern auch die Qualität und Wirksamkeit der KMU-relevanten Maßnahmen berücksichtigen und die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der legislativen Vorschläge untersuchen. Neue einzelstaatliche und gemeinschaftliche Rechtsvorschriften sollten daraufhin geprüft werden, welche Auswirkungen sie auf die KMU haben werden.

4.3.4

Die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen neuer und überarbeiteter Rechtsvorschriften müssen sorgfältig analysiert werden, um unter den einzelnen Politikzielen einen Ausgleich herzustellen und mögliche Synergien zwischen ihnen zu ermitteln. Darüber hinaus müssen für die bestehenden Rechtsvorschriften das Vereinfachungspotenzial ausgelotet und die Auswirkungen auf den Wettbewerb bewertet werden. Dies gilt insbesondere für die unabhängige Evaluierung der Auswirkungen aller Rechtsetzungs- und Regelungsvorschläge der Europäischen Kommission auf die Unternehmen („business impact assessments“) unter besonderer Berücksichtigung von Kleinunternehmen. Und schließlich muss ein einheitliches Verfahren zur Ermittlung des mit neuen und bestehenden Rechtsvorschriften verbundenen Verwaltungsaufwands entwickelt werden. Der Grundsatz des „think small first“ („zuerst in kleinen Dimensionen denken“) sollte als Leitgrundsatz bei der Überarbeitung bestehender bzw. Formulierung neuer Rechtsvorschriften angewendet werden. In den Rechtsvorschriften sollten also die Besonderheiten von KMU Berücksichtigung finden.

4.3.5

Der EWSA weist darauf hin, dass Verbesserungen insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) wichtig sind, denen es mit ihren begrenzten Ressourcen gewöhnlich schwer fällt, den mit dem Gemeinschaftsrecht und dem nationalen Recht verbundenen Verwaltungsaufwand zu bewältigen.

4.3.6

Es muss sichergestellt werden, dass alle Mitgliedstaaten sämtliche Richtlinien rechtzeitig und gut umsetzen. Zudem gilt es, die nationalen und regionalen Regierungen und Gesetzgebungsorgane dazu zu bewegen, eigene Projekte zur Vereinfachung der Rechtsvorschriften in jenen Bereichen in Gang zu setzen, in denen bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht zuviel des Guten getan wurde („gold-plating“).

4.3.7

Die meisten politischen Akteure auf regionaler, nationaler und EU-Ebene kennen die Gegebenheiten in Kleinunternehmen und deren tatsächliche Bedürfnisse nicht gut genug. Eine stärkere Einbeziehung der Vertretungsverbände der KMU (12) auf allen Ebenen ist Voraussetzung für eine qualitativ bessere KMU-Politik in Europa. Die Stärkung der Verbände der Kleinunternehmen ist auch ein zentrales Element der Europäischen Charta für Kleinunternehmen (2000). Vertretungsverbände der KMU sollten als wichtige Akteure auf allen Ebenen in den Beschlussfassungsprozess eingebunden werden.

4.3.8

Der EWSA befürwortet nachdrücklich die Europäische Charta für Kleinunternehmen, die sich als ein zweckmäßiges Instrument zur Kontrolle der erzielten Fortschritte und zur Feststellung von Problemen bei den KMU erwiesen hat und die Mitgliedstaaten veranlasst, zugunsten einer Verbesserung der Koordinierung der unternehmensbezogenen Maßnahmen in ganz Europa tätig zu werden. Die Integration der Berichte über die Umsetzung der Charta in die jährlichen Berichte zur Agenda von Lissabon muss zügig erfolgen. Die Charta muss in Bezug auf die revidierte Lissabon-Strategie und die große EU-Erweiterung ständig aktualisiert und vervollständigt werden.

4.4   Unternehmerische Kultur und Unternehmensneugründungen (13)

4.4.1

Unternehmergeist ist eine komplexe Erscheinung, die Initiativgeist, Risikobereitschaft und Innovation umfasst. Kleine und neue Unternehmen schaffen Innovationen, erschließen Marktnischen, schaffen Arbeitsplätze und sorgen für mehr Wettbewerb, womit sie auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verbessern.

4.4.2

In der Europäischen Union gibt es insgesamt zu wenig unternehmerische Initiativen im Gründungsstadium. Der letzte GEM-Bericht (Global Entrepreneurship Monitor) verzeichnet unter den zehn führenden Ländern keine EU-Mitgliedstaaten (14). Dagegen sind unter den zehn Ländern mit der niedrigsten Quote acht Mitgliedstaaten (15) zu finden.

4.4.3

Unternehmergeist ist für die Gesellschaft als Ganzes wichtig. Mit dem Ziel, das Bewusstsein für eine Kultur des unternehmerischen Denkens und für die Bedeutung des Unternehmertums für die gesamte Entwicklung eines Landes zu stärken, schlägt der Ausschuss vor, das Jahr 2009 zum Europäischen Jahr des Unternehmertums zu erklären. In diesem Zusammenhang weist der Ausschuss darauf hin, dass die Halbzeitbewertung mehrerer einschlägiger EU-Programme im Jahr 2010 erfolgen wird. Ziel ist es, eine positive Einstellung der Öffentlichkeit zum Unternehmertum herbeizuführen. Ein Europäisches Jahr zu diesem Thema böte zugleich auch Gelegenheit, den Austausch vorbildlicher Praktiken zu konsolidieren und zu stärken.

4.4.4

In der EU gibt es einen großen Bedarf für Veränderungen der allgemeinen und beruflichen Bildungsgänge, und zwar insbesondere im Hochschulwesen, damit mehr Nachdruck auf die Vermittlung von fortgeschrittenen unternehmerischen Kenntnissen, den strategischen Wert von Informationsmanagement und IKT sowie vernetztem Arbeiten gelegt wird. Schulen und Universitäten sind ein entscheidender Faktor bei der Förderung von Unternehmergeist bei jungen Menschen. So wird z.B. die aktive Teilnahme von Unternehmensvertretern im Bildungsbereich oder auch die Einbindung von Unternehmerverbänden empfohlen. Eine wichtige Rolle spielt das Wirken der Medien und das durch sie vermittelte Unternehmensbild.

4.4.5

Die Gründung und das Wachstum von Unternehmen sollten stärker als bislang durch entsprechende Maßnahmen gefördert werden, wozu ein beschleunigtes und kostengünstigeres Verfahren der Unternehmensgründung, ein besserer Zugang zu Risikokapital, mehr Fortbildungsprogramme für Unternehmer, Maßnahmen zur Erleichterung des Anschlusses an öffentliche Versorgungsnetze und des Zugangs zu öffentlichen Versorgungsleistungen und ein dichteres Servicenetz zur Förderung der KMU gehören. Überdies bedarf es politischer Entscheidungen zur Reform der Steuersysteme, der Regulierungsmaßnahmen, des Marktzugangs, der Sanierungs- und Umstrukturierungsverfahren und des Erbrechts. Im Hinblick auf die Einstellung zu Konkursen ist ein Umdenken erforderlich.

4.4.6

Die Finanzierung in der Gründungsphase ist von entscheidender Bedeutung. In Belgien hat die Regierung Maßnahmen ergriffen, um das Problem des fehlenden Eigenkapitals zu lösen. Ein Beispiel hierfür ist der ARKimedes-Fonds, der durch den Verkauf von Anteilen bzw. Schuldverschreibungen, die von der flämischen Regionalregierung gesichert sind, 110 Mio. EUR bereitgestellt hat.

4.4.7

Ebenso entscheidend ist die Bereitstellung von Informationen und Unterstützungsdiensten für Unternehmen, insbesondere für Jungunternehmer. In Flandern (Belgien) haben sich Mentorenprogramme bewährt.

4.4.8

Die Angst vor dem Scheitern wirkt sich nachhaltig negativ auf potenzielle Unternehmensgründungen aus. Daher müssen für Selbstständige angemessene soziale Rahmenbedingungen geschaffen werden. Auch sollte selbständigen Unternehmern leichter eine zweite Chance eingeräumt werden.

4.5   Binnenmarkt (16)

4.5.1

Das Potenzial des Binnenmarktes muss voll entfaltet werden. Die Europäische Union sollte jetzt eigentlich die Vorteile eines Marktes nutzen können, der größer als derjenige der USA oder Chinas ist, doch dem steht Folgendes im Wege:

zu viele Richtlinien wurden nicht voll in nationales Recht umgesetzt;

unzureichende Fortschritte bei der Gewährleistung der Normung und gegenseitigen Anerkennung im Dienstleistungsverkehr;

Verzögerungen bei der Liberalisierung der Märkte einschließlich der Bereiche des öffentlichen Sektors;

Schwierigkeiten bei der Einigung auf praktikable Rechte an geistigem Eigentum auf europäischer Ebene;

Unterschiede in der Besteuerung, die zu Verzerrungen führen.

4.5.2

Die Attraktivität der Europäischen Union als Investitionsstandort ist abhängig von der Größe und Offenheit ihrer Märkte, dem ordnungspolitischen Umfeld und der Qualität der Infrastruktur. Mit höheren Investitionen wird auch die Produktivität Europas wachsen, denn die Arbeitsproduktivität wird determiniert durch Investitionen in Sach- und Humankapital, in Wissen und in die Infrastruktur.

4.5.3

Die Fähigkeit der europäischen Produzenten, sich auf dem Binnenmarkt zu behaupten, entscheidet auch über ihre Wettbewerbskraft auf den Weltmärkten. Während der Güterbinnenmarkt weitgehend vollendet ist, sind die Dienstleistungsmärkte rechtlich und de facto noch fragmentiert. Ein funktionierender Dienstleistungsbinnenmarkt ist jedoch Voraussetzung für Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit; dabei gilt es jedoch, das europäische Sozialmodell zu bewahren. Die Beseitigung der steuerlichen Hindernisse, die grenzüberschreitenden Tätigkeiten entgegenstehen, und der verbliebenen Mobilitätshemmnisse würde deutliche Effizienzgewinne mit sich bringen. Und schließlich würde die vollständige Integration der Finanzmärkte dank eines effizienteren Kapitaleinsatzes und besserer Finanzbedingungen für Unternehmen eine Produktionssteigerung und einen Beschäftigungszuwachs bewirken.

4.5.4

Für KMU — insbesondere im Dienstleistungssektor — ist der Binnenmarkt immer noch nicht voll verwirklicht. Aufwendige Verwaltungsverfahren für grenzüberschreitende Geschäfte und nicht entsprechend angepasste europäische Normen verhindern, dass Kleinunternehmen von dem größeren Markt profitieren können.

4.5.5

Normen spielen beim Zugang zu den Märkten eine wichtige Rolle. Bei den derzeitigen Normungsverfahren werden die Besonderheiten des Handwerks und der KMU nicht genügend berücksichtigt. Die Kleinunternehmen müssen stärker in die Ausarbeitung europäischer und internationaler Normen eingebunden werden. Zwar werden Einrichtungen wie NORMAPME (17) von der Kommission stark unterstützt, aber es sind weitere Anstrengungen zugunsten der KMU notwendig, insbesondere für kleine Produktionsserien und maßgefertigte Produktion, für niedrigere Normenkosten, für eine ausgewogenere Vertretung in den technischen Ausschüssen, für die Vereinfachung der Zertifizierungssysteme.

4.5.6

Bei den Verfahren im öffentlichen Auftragswesen besteht noch erheblicher Spielraum für Verbesserungen, die sich zum Beispiel in einer Zunahme der öffentlichen Ausschreibungen niederschlagen würden. Besondere Beachtung sollte den Möglichkeiten von KMU zur Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen geschenkt werden. Der EWSA befürwortet in diesem Zusammenhang, dass die Kommission ein Kompendium beispielhafter Verfahren in diesem Bereich aus den EU-Mitgliedstaaten, aber auch aus den Vereinigten Staaten und Japan zusammenstellt, durch die kleinen und mittleren Unternehmen die Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen erleichtert wurde.

4.5.7

KMU in Europa sind mit 27 verschiedenen Steuersystemen konfrontiert, was ihnen überaus hohe Befolgungskosten verursacht und den Binnenmarkt schwer beeinträchtigt. Kleinunternehmen haben im Vergleich zu großen Unternehmen viel höhere Befolgungskosten zu tragen (18). Hier wird eine Vereinfachung erwartet, die besonders den KMU zugute käme.

4.6   Humankapital, Erwerb beruflicher Fähigkeiten und sozialer Dialog

4.6.1

In einer globalisierten und wissensbasierten Wirtschaft müssen sich Unternehmen fortwährend an die sich ändernden Bedingungen anpassen. Erfolgreiche Unternehmen benötigen mehr denn je eine solide Grundlage in Form von Wissen und Qualifikationen, um im härteren Wettbewerb zu bestehen und siegreich aus dem Innovationswettlauf hervorzugehen. Ferner erfordern technologische Entwicklungen eine kontinuierliche Entwicklung neuer Kompetenzen insbesondere im IKT-Bereich und den Erwerb aktualisierter Fähigkeiten durch die Unternehmer und Arbeitnehmer (19).

4.6.2

Seit Einleitung der Lissabon-Strategie im Jahr 2002 sind die Ziele der beruflichen Bildung und die Strategien für lebensbegleitendes Lernen zwar eindeutig stärker in den Mittelpunkt gerückt, doch in dem 2006 erstellten Berichts zur Bewertung des 2002 von den europäischen Sozialpartnern (EGB, BusinessEurope, CEEP und UEAPME) angenommenen Aktionsrahmens für die lebenslange Entwicklung von Kompetenzen und Qualifikationen wird festgestellt, dass weitere Verbesserungen nötig sind. In diesem Zusammenhang sollte das neue „Integrierte Aktionsprogramm im Bereich des lebenslangen Lernens“ voll für die Lissabon-Ziele und insbesondere dafür eingesetzt werden, „dass sich die Europäische Union zu einer fortschrittlichen Wissensgesellschaft entwickelt — einer Gesellschaft mit nachhaltigem Wirtschaftswachstum, mehr und besseren Arbeitsplätzen und größerem sozialen Zusammenhalt“.

4.6.3

Wie der EWSA bereits zu Recht festgestellt hat (20), gehörten „die bisherigen europäischen Bildungsprogramme zu den wenigen Tätigkeitsbereichen der Union […], die sich unmittelbar an die europäischen Bürger richteten. Mit dem neuen Programm müssen einerseits die demokratische Entwicklung auf der Grundlage einer partizipativen Demokratie mit aktiven Bürgern sowie andererseits die Beschäftigung und ein vielseitiger Arbeitsmarkt gefördert werden.“ Da auch die wichtigsten Gemeinschaftsprogramme für Mobilität, insbesondere das Programm Leonardo da Vinci für Lehrlinge, junge Menschen in der beruflichen Erstausbildung und junge Arbeitnehmer sowie das Programm Erasmus für Studenten, darin integriert sind, sollte der Zugang zu individueller Mobilität einfacher werden. Ein Studien- oder Arbeitsaufenthalt im Ausland bereichert den Einzelnen nicht nur in seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern trägt auch zum besseren Verständnis Europas und der Unionsbürgerschaft bei. Zugleich befähigt es den Einzelnen, proaktiver und offensiver Eigenverantwortung für seine Beschäftigungschancen zu übernehmen.

4.6.4

Darüber hinaus misst der EWSA „besondere Bedeutung […] der Möglichkeit des Zugangs von KMU zu den Programmverfahren bei“ und „schlägt […] für das Problem der KMU einen spezifischen Lösungsansatz im Sinne einer Vereinfachung der entsprechenden Verfahren vor, so dass den KMU eine Teilnahme an diesem Programm möglich ist und ihnen auch etwas bringt“. In einer dienstleistungsorientierten Wirtschaft ist das Humankapital das wertvollste Kapital für ein Unternehmen. Damit Unternehmen und insbesondere KMU eine Strategie für die Entwicklung beruflicher Kompetenzen verfolgen können, sollten individuell angepasste flankierende Maßnahmen für sie entwickelt werden, um so Anreize für Investitionen in Fortbildung zu schaffen. Dazu gehören maßgeschneiderte Fortbildungsangebote, Finanzhilfen und steuerliche Anreize.

4.6.5

Der soziale Dialog ist ein wichtiges Instrument, um wirtschaftliche und soziale Herausforderungen zu meistern. Eine seiner wichtigsten Leistungen ist die Verbesserung des Funktionierens der Arbeitsmärkte und die frühzeitige Erkennung von Veränderungen. Zudem trägt der soziale Dialog zu einem Klima des Vertrauens in den Unternehmen bei. Er kann auch maßgeschneiderte Antworten für kleinere Unternehmen bieten, insoweit er die Besonderheiten und die Art des Arbeitsumfeldes und des Arbeitsklimas sowie die besonderen Bedingungen für die Tätigkeit und Entwicklung kleiner Handwerksbetriebe und Unternehmen berücksichtigt.

4.7   Innovation

4.7.1

Ein Ziel der Lissabon-Agenda lautet, 3 % des BIP in FuE zu investieren, wovon zwei Drittel von der Privatwirtschaft aufgebracht werden sollen. Heute steuert letztere gerade mal 56 % bei. Leider muss festgestellt werden, dass Europa weit weniger von seinem BIP für Forschung und Entwicklung ausgibt als die USA und Japan (1,93 % des BIP im Gegensatz zu 2,59 % in den USA und 3,15 % in Japan). Zudem ist China auf dem besten Wege, die EU hinsichtlich der Forschungsintensität einzuholen, was spätestens im Jahr 2010 der Fall sein wird. Forschung und Entwicklung: im Jahr 2002 hat die Privatwirtschaft in den USA 100 Mrd. EUR mehr in die Forschung gesteckt als in Europa.

4.7.2

Das künftige Europäische Technologieinstitut (ETI), das auf eine größtmögliche Integration von Bildung, Forschung und Innovation auf Spitzenniveau abzielt, sollte das Potenzial der KMU mit Nachdruck anerkennen und nutzen. Die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, Forschungszentren und Wirtschaft, insbesondere kleinen Unternehmen, muss gestärkt werden. Forscher sollten ermutigt werden, Beziehungen zu Unternehmen zu pflegen. Die Bedeutung der Förderung von Technologietransfer über Technologiezentren und -inkubatoren kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Maßnahmen zur Unterstützung von innovationsfördernden Diensten, Clustern und Netzen sollten in dem neuen Gemeinschaftsrahmen für staatliche Forschungs- und Entwicklungsbeihilfen ebenfalls vorgesehen werden. Europäischen Forschern müssen in allen 27 Mitgliedstaaten mehr Möglichkeiten eingeräumt werden. Die Forschungsergebnisse müssen besser bekannt gemacht und weiter verbreitet werden, damit die Unternehmen vermehrt Zugang zu diesen Ergebnissen und zu dem entsprechenden wirtschaftlichen Nutzen erhalten.

4.7.3

Die EU sollte sich einen europaweit harmonisierten Regelungsrahmen zur Innovationsförderung geben. Gebraucht werden neue Initiativen für ein Gemeinschaftspatent, um Innovationen zu schützen und den Bedürfnissen der europäischen Wirtschaft zu entsprechen. In einem solchen System sollten für KMU verminderte Patentgebühren und angemessene Versicherungsmechanismen in Patentstreitigkeiten vorgesehen werden.

4.7.4

Die Europäische Kommission hat in ihren jüngsten Mitteilungen im Hinblick auf KMU die Notwendigkeit eines breiter definierten Innovationsbegriffs und der Berücksichtigung „nicht technischer Innovation“ in allen Bereichen der Wirtschaft anerkannt. Dieser neue Ansatz muss nun in allen Politikbereichen zum Nutzen kleiner Unternehmen umgesetzt werden.

4.7.5

Für die kleinen und mittleren Unternehmen ist es besonders wichtig, ihr vorhandenes Humankapital fortzubilden sowie für die Bereiche Produktion und Innovation Hochschulabsolventen einzustellen. Durch das 7. Rahmenprogramm sollten kleine und mittlere Unternehmen bei der Einführung moderner Technologieforschung und Produktionstechnik, aber auch anderer KMU-relevanter Innovationsformen unterstützt werden.

4.7.6

Die notwendigen Mittel auf EU-Ebene sollen aus dem Programm für Wettbewerb und Innovation, dem Forschungsrahmenprogramm, den Strukturfonds und den Bildungsprogrammen fließen, um nur die wichtigsten zu nennen. Die Koordinierung der einzelnen Politikbereiche, einschließlich der finanziellen Mittel, wird eine schwierige und heikle Aufgabe darstellen, insbesondere da die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel auf europäischer Ebene im Verhältnis zu Bedarf und Erfordernissen relativ begrenzt sind. Um den Einsatz von Strukturfondsmitteln zur Kofinanzierung von Programmen für innovative KMU, Unternehmensneugründungen und Übertragung von Unternehmen (z.B. über den Europäischen Investitionsfonds — JEREMIE) zu gewährleisten, sollten auf der Ebene der Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen ergriffen und die Effizienz sowie die Zugänglichkeit genau überwacht werden.

4.7.7

Zur Einführung neuer fortschrittlicher Produktionsmethoden und -maschinen, insbesondere in den KMU, werden günstige Kredite benötigt. Die EIB und der EIF sollten eng in die Arbeit der sektorspezifischen und sektorübergreifenden Planungsgruppen eingebunden werden.

4.7.8

KMU sollten stärker auf IKT-Anwendungen orientiert werden, die zu Kostensenkungen, Produktivitätssteigerungen und mehr Wettbewerbsfähigkeit in den Unternehmen beitragen können.

4.8   Übertragung von Unternehmen (21)

4.8.1

Europäischen Untersuchungen zufolge werden in den nächsten zehn Jahren ein Drittel aller Unternehmer in Europa und darunter vor allem Inhaber von Familienunternehmen ihre Tätigkeit einstellen. Schätzungen zufolge wird dies ungefähr 690 000 Unternehmen mit insgesamt 2,8 Mio. Arbeitsplätzen betreffen. Unternehmensübertragungen sollte daher als gute Alternative zu Neugründungen gefördert werden.

4.8.2

Im Gegensatz zur Vergangenheit werden immer mehr Unternehmen nicht innerhalb der Familie, sondern an Dritte übertragen. Auch wächst das Interesse, eine bereits etablierte Firma zu übernehmen, statt mit einer Unternehmensneugründung bei null anzufangen. Die Untersuchungen zeigen, dass 96 % der übertragenen Unternehmen die ersten fünf Jahre überlebten; bei Neugründungen sind es 75 %.

4.8.3

Als erstes sollte daher eine Plattform geschaffen werden, damit potenzielle Käufer und Verkäufer von Unternehmen leichter einen passenden Interessenten finden. Dieser Marktplatz sollte transparent gestaltet sein, um Kontakte zu erleichtern und den Fortbestand rentabler Unternehmen zu sichern. Dabei kommt es vor allem auf qualitativ hochwertige Dienste an, wozu die Vermittlung eines passenden Interessenten, Beratung und Vertraulichkeit gehören. In den meisten europäischen Ländern gibt es von den Behörden organisierte oder geförderte Plattformen für Unternehmensübertragungen (22). Solche Initiativen sollten in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union entwickelt werden.

4.9   Zugang zu Finanzierungsmitteln

4.9.1

KMU, insbesondere Neugründungen, übertragene Firmen und innovative Unternehmen sollten einen besseren Zugang zu Finanzierungsmitteln bekommen, damit sie ihr Potenzial voll ausschöpfen und Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung in Europa schaffen können. Risikoteilungsmodelle wie z.B. Regelungen für Versicherungsgarantien und staatliche Garantien haben sich als äußerst wirksame Instrumente bewährt und sollten sowohl auf EU-Ebene als auch durch die Mitgliedstaaten weiter gefördert werden.

4.9.2

Es geht um die Verfügbarkeit von Kapital zu erschwinglichen Kosten für neu gegründete Firmen, KMU und rasch expandierende Unternehmen. Dazu müssen die Zinssätze und Risikoprämien auf einem vernünftigen Niveau bleiben und die Regelungen für staatliche Beihilfen sinnvoll gestaltet werden.

4.9.3

Die Beratung von KMU durch KMU-Verbände sollte verstärkt und gefördert werden. Auch sollten geeignete Finanzinstrumente eingeführt werden, die an die Bedürfnisse und Ressourcen kleiner Unternehmen angepasst sind. Der EWSA fordert die Kommission und die EIB bzw. den EIF auf, Innovationen in KMU durch Risikokapital und Bürgschaftsregelungen zu finanzieren.

4.9.4

Risikokapitalinvestoren und „Business Angels“ sind wichtige Möglichkeiten der KMU-Finanzierung. Es sollte Anreize für die Vernetzung zwischen den Risikokapitalinvestoren und „Business Angels“ einerseits und den Unternehmern und Unternehmensgründern andererseits geschaffen werden, um so die Kapitallücke auf diesem Niveau („small equity gap“) zu schließen.

4.9.5

Bürgschaftsregelungen haben sich als wirksames und ressourcenschonendes Instrument zur Förderung kleiner Unternehmen erwiesen. Die Caisse Mutuelle de Garantie de la Mécanique (CMGM) in Frankreich kann auf eine über 45jährige Erfahrung auf diesem Gebiet zurückblicken. Dieses Finanzinstitut bietet Bankbürgschaften für nahezu alle Kredite (Investitionskredite, Unternehmensübertragungen, Optionsscheine, Barkredite), die Unternehmen gewährt werden. Die Unternehmen zeichnen den Kapital- und Garantiefonds der Bank. Durch dieses System müssen die Unternehmer weniger private Sicherheiten vorlegen, können höhere Kredite in Anspruch nehmen und verfügen über ein Sicherheitsnetz gegenüber der Bank. Der Austausch bewährter Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bezüglich des Zugangs zu Finanzmitteln und zu Garantiefonds für KMU sollte gefördert werden.

4.10   Internationalisierung

4.10.1

Die EU muss die Chancen wahrnehmen, die sich durch die Öffnung rasch wachsender Märkte in Asien, z.B. in China und in Indien, bieten. Gleichzeitig muss die EU auf die sich abzeichnende neue internationale Arbeitsteilung reagieren. Zu nennen in diesem Zusammenhang sind insbesondere China, das sich immer mehr auf Güter mit hoher Wertschöpfung spezialisiert, und Indien, das sich zu einem globalen Outsourcing-Zentrum entwickelt. Der EWSA betont, dass ein einheitliches Vorgehen in den Beziehungen zu Drittländern für die Verbesserung des Marktzugangs für EU-Unternehmen wichtig ist.

4.10.2

Obgleich es den Binnenmarkt bereits seit über vierzehn Jahren gibt, sind viele Unternehmen nach wie vor nur in einem Land tätig. Die Sprachbarrieren und verbleibende Unterschiede in den Rechtsvorschriften und Regelungen sowie die Unkenntnis anderer Märkte bilden die Haupthindernisse. Der EWSA begrüßt die Einrichtung einer unternehmensnahen Wirtschaftsförderung in der Art des „Passport to export“ („Ausfuhrpass“) im Vereinigten Königreich (23). Auch der Zugang von KMU zum öffentlichen Beschaffungswesen sollte gefördert werden.

4.10.3

Es sollten geeignete Instrumente zur Förderung grenzüberschreitender Aktivitäten in der EU und auf anderen Märkten geschaffen werden.

4.10.4

Der EWSA betont, dass in den Dokumenten der Kommission zur Handelspolitik (Marktzugangstrategie, handelspolitische Schutzmaßnahmen, Europa in einer globalen Welt) den KMU besondere Aufmerksamkeit zukommen muss.

Brüssel, den 12. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Entscheidung des Rates vom 12. Juli 2005 über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (2005/600/EG), ABl. L 205 vom 6.8.2005, S. 21.

(2)  Umsetzung der Lissabon-Strategie, Synthesebericht an den Europäischen Rat.

(3)  ABl. C 185 vom 8.8.2006 und CCMI/032.

(4)  Die Angaben beziehen sich auf das Jahr 2003; Quelle: Eurostat's Pocket book 2006.

(5)  Der EWSA hat mehrfach gefordert, dass die Geldpolitik auch auf das Erreichen der Beschäftigungs- und Wachstumsziele abstellen sollte.

(6)  „Die Wettbewerbsfähigkeit von unternehmensbezogenen Dienstleistungen und ihr Beitrag zur Leistungsfähigkeit europäischer Unternehmen“ [KOM(2003) 747 endg.] vom 4. Dezember 2003.

(7)  Mitteilung der Kommission „Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft: Ein politischer Rahmen zur Stärkung des verarbeitenden Gewerbes in der EU — Auf dem Weg zu einem stärker integrierten Konzept für die Industriepolitik“ [KOM(2005) 474 endg.]; „Moderne Industriepolitik“.

(8)  Der EWSA hat in jüngster Zeit eine Reihe von Stellungnahmen zur Vereinfachung und Verbesserung der Rechtsetzung veröffentlicht:

 

ABl. C 24 vom 31.1.2006, Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des britischen EU-Ratsvorsitzes „Bessere Rechtsetzung“, Berichterstatter: Herr RETUREAU;

 

ABl. C 24 vom 31.1.2006, Initiativstellungnahme zum Thema „Möglichkeiten einer besseren Durchführung und Durchsetzung des EU-Rechts“, Berichterstatter: Herr van IERSEL;

 

ABl. C 112 vom 30.4.2004, Stellungnahme zur Mitteilung „Aktualisierung und Vereinfachung des Acquis communautaire“, KOM(2003) 71 endg., Berichterstatter: Herr RETUREAU.

(9)  KOM(2006) 689, 690 und 691 vom 14. November 2006.

(10)  Aktionsprogramm zur Verringerung der Verwaltungslasten in der Europäischen Union, KOM(2007) 23 endg. vom 24. Januar 2007.

(11)  Mitteilung der Europäischen Kommission vom 14. November 2006.

(12)  Mit dem Begriff KMU-Verbände sind diejenigen Organisationen gemeint, die die KMU in den verschiedenen Tätigkeitsfeldern vertreten (gemäß der gemeinschaftlichen Definition) — Handwerk, Industrie, Dienstleistungen, Handel, freie Berufe —, und zwar sowohl branchenübergreifende als auch branchenspezifische Organisationen.

(13)  ABl. C 309 vom 12.12.2006, Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft: Förderung des Unternehmergeistes in Unterricht und Bildung“, KOM(2006) 33 endg.

(14)  Irland liegt auf Rang 11.

(15)  Ungarn, Belgien, Schweden, Slowenien, die Niederlande, Dänemark, Italien und Finnland.

(16)  ABl. C 93 vom 27.4.2007, Sondierungsstellungnahme zum Thema „Überprüfung des Binnenmarktes“.

(17)  NORMAPME: Europäisches Büro des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe für die Normung —

www.normapme.com.

(18)  Dies bezieht sich auf die steuerlichen Befolgungskosten bei grenzüberschreitender Geschäftstätigkeit.

(19)  Selbst Traditionsberufe wie Klempner und Zimmerer müssen Energiespartechniken berücksichtigen.

(20)  ABl. C 221 vom 8.9.2005.

(21)  Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft für Wachstum und Beschäftigung. Unternehmensübertragung. Kontinuität durch Neuanfang. KOM (2006) 117 endg. vom 14. März 2006.

(22)  Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Finnland und Belgien (mit einer eigenen Datenbank für jede Region). Die Erfolgsquote liegt in diesen Ländern bei ca. 25 %, d.h., für jedes vierte Unternehmen in der Datenbank hat sich ein Geschäftsnachfolger gefunden.

(23)  Für nähere Informationen über den Binnenmarkt wird auf Flash Barometer 180 — TNS Sofres/EOS Gallup Group Europe, Internal Market Opinions and Experiences of Businesses in EU-15, Juni 2006, verwiesen.

Für weitere Informationen über „Passport to Export“, das Programm von „UK Trade & Investment“ (Wirtschaftsförderung der britischen Regierung) zur Förderung britischer Exporteure im Welthandel wird auf folgende Publikation verwiesen: Charter of Small Business, Selection of good practices 2006, S. 9.


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/17


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Investitionen in Wissen und Innovation (Lissabon-Strategie)“

(2007/C 256/04)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. September 2006 gemäß Artikel 31 der Geschäftsordnung, die Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch mit der Erarbeitung eines Informationsberichts zu beauftragen: „Investitionen in Wissen und Innovation“.

Auf der Plenartagung vom 14.-15. März 2007 wurde beschlossen, den Informationsbericht in eine Initiativstellungnahme umzuwandeln (Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung).

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 3. Mai 2007 an. Berichterstatter war Herr WOLF.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11.-12. Juli 2007 (Sitzung vom 12. Juli) mit 120 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

INHALT

1.

Einleitung

2.

Zusammenfassung und Empfehlungen

3.

Allgemeine Gesichtspunkte

4,

Ausbildung, Training und Weiterbildung

5.

Finanzielle Fragen und Prozeduren

6.

Strukturelle Aspekte und Rahmenbedingungen

7.

Der Faktor Mensch — Wissenschaftler, Ingenieure und Unternehmer

1.   Einleitung

1.1

Unter dem Thema „DIE NEUBELEBTE LISSABON-STRATEGIE FÜR WACHSTUM UND BESCHÄFTIGUNG“ begrüßte der Europäische Rat in den Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes vom 23.-24. März 2006 (Ziffer 12) die Initiative des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, mit der auf Gemeinschaftsebene die Eigenverantwortung für die Lissabon-Strategie gestärkt werden soll. Er hielt den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss an, seine Arbeit fortzusetzen, und ersuchte ihn, bis Anfang 2008 einen zusammenfassenden Bericht zur Unterstützung der Partnerschaft für Wachstum und Beschäftigung zu erarbeiten.

1.2

Vorab hat der Ausschuss dazu bereits am 15. Februar 2007 eine an die Frühjahrstagung 2007 des Europäischen Rates gerichtete Entschließung zur Umsetzung der überarbeiteten Lissabon-Strategie verabschiedet.

1.3

Der Vorbereitung des vom Europäischen Rat erbetenen zusammenfassenden Berichts dienen vier Informationsberichte zu folgenden Themen:

„Investitionen in Wissen und Innovation“,

„Das Unternehmenspotenzial — insbesondere von KMU“,

„Beschäftigung für vorrangige Bevölkerungsgruppen“, und

„Festlegung einer Energiepolitik für Europa“.

Diese Informationsberichte werden dessen wesentliche Elemente bilden.

1.4

Der folgende Text, der auch in Zusammenarbeit mit Vertretern nationaler Wirtschafts- und Sozialausschüsse einiger Mitgliedstaaten entstanden ist, behandelt ausschließlich das Thema „Investitionen in Wissen und Innovation“

2.   Zusammenfassung und Empfehlungen

2.1

Die Kraft Europas besteht in der Leistungsfähigkeit seiner Bürger.

2.2

Das freie Wechselspiel von handwerklichem Erfindergeist und unternehmerischer Initiative mit wissenschaftlicher Methodik und Systematik sowie den daraus entwickelten Technologien und industriellen Prozessen war das europäische Erfolgsrezept für die zu unserem heutigen Lebensstandard führenden Fortschritte, die Hand in Hand gingen mit den historischen gesellschaftspolitischen Entwicklungen hin zum freien Bürger im modernen Staat mit Gewaltenteilung, Demokratie und Grundrechten.

2.3

Einen entscheidenden Beitrag dazu lieferte die Entwicklung und intensive Nutzung von Energie verbrauchenden industriellen Verfahren, Maschinen und Transportmitteln: Energie hat die Menschen von der Last körperlicher Schwerstarbeit befreit, ihre Produktivität vervielfacht, Wärme und Licht geschaffen sowie ungeahnte Mobilität und Kommunikation ermöglicht. Energie wurde zum Nahrungsmittel und Antriebsmotor moderner Volkswirtschaften.

2.3.1

Angesichts der endlichen Ressourcen fossiler Energieträger, des stark ansteigenden globalen Energiebedarfs, sowie der erwarteten Auswirkungen des Energieverbrauchs auf die zukünftige Klimaentwicklung steht dementsprechend die Sicherung einer nachhaltigen und klimaverträglichen Energieversorgung im Vordergrund der politischen Diskussion. Wichtige Voraussetzung für die Lösung dieser sehr schwierigen Aufgabe ist ein starkes, breit gefächertes und wirkungsvolles Forschungs- und Entwicklungsprogramm „Energie“.

2.4

Darüber hinaus gibt es jedoch noch sehr viele weitere Probleme und Aufgaben, die nur durch Forschung, Entwicklung und Innovationen gelöst werden können. Diese betreffen z.B. die Bekämpfung physischer und psychischer Krankheiten, die Lebenserleichterung und gesellschaftliche Teilhabe von behinderten Menschen, die Auswirkung des demografischen Wandels einschließlich der Alternsforschung, den Schutz der Umwelt sowie generell die Sicherung und Weiterentwicklung unserer Lebensgrundlagen, unseres europäischen Wertesystems und Sozialmodells. Letztendlich dienen Forschung und Entwicklung aber auch dem fundamentalen Ziel, mehr und neues Wissen zu schaffen. Mehr Wissen hilft nicht nur Probleme zu lösen, sondern erweitert auch unser Weltbild, versachlicht Konfliktsituationen und bereichert unsere Kultur.

2.5

Die Europäische Gemeinschaft steht zudem vor der Herausforderung eines sich verschärfenden globalen Wettbewerbs, bei dem es darum geht, die europäischen Arbeitsplätze, Einkommensniveaus sowie Sozial- und Umweltstandards zu erhalten. Dies gilt nicht nur vor dem Hintergrund der Wirtschaftskraft der USA und Japans, sondern vor allem der zunehmend erstarkenden Industrie- und Forschungsleistungen von Staaten wie China, Indien und Brasilien, und der dort bedeutend niedrigeren Löhne sowie Sozial- und Umweltstandards.

2.6

Dem kann nur durch einen auch in Zukunft bestehenden Vorsprung in Forschung, technologischer Entwicklung und permanenter Innovation begegnet werden, eingebettet in ein gesellschaftliches und kulturelles Umfeld von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, politischer Stabilität, unternehmerischer Freiheit, Planungssicherheit, Leistungswillen, Leistungsanerkennung und sozialer Sicherheit.

2.7

Wissenschaftliche und technische Höchstleistungen und deren unternehmerische Umsetzung in wettbewerbsfähige Wirtschaftskraft sind daher die entscheidenden Voraussetzungen, um unsere Zukunft — insbesondere auch bezüglich der Energie- und Klimaproblematik — zu sichern, unsere derzeitige Position im globalen Umfeld zu erhalten und zu verbessern, und um das europäische Sozialmodell nicht zu gefährden, sondern ausbauen zu können.

2.8

Grundvoraussetzung ist ein gegenüber Fortschritt und Innovation aufgeschlossenes gesellschaftliches Klima, in dem diese Einsicht ihre volle Wirkung entfaltet, damit auf allen Ebenen der Politik die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen und die entsprechenden richtungweisenden Entscheidungen getroffen werden, so dass seitens der Wirtschaft genügend Vertrauen und Optimismus für die in Europa nötigen Investitionen aufgebaut wird und neue Arbeitsplätze entstehen. Dazu gehört aber auch, die elementare Bedeutung der Grundlagenforschung noch bewusster zu machen, da sie das notwendige Saatgut für zukünftige Innovationen liefert. Besonders nötig sind innovations- und risikobereiter Unternehmergeist sowie politische Führungskraft, Verlässlichkeit und Realitätssinn.

2.9

Insbesondere muss der zur Verwirklichung der Lissabon-Strategie formulierte Zielwert von Barcelona von allen darin angesprochenen Akteuren sehr ernst genommen werden, um Europa im globalen Wettlauf der FuE-Investitionen nicht weiter abfallen zu lassen. Dieser Zielwert besagt, dass die Gesamtausgaben für FuE in der Union erhöht werden sollen, so dass sie 2010 ein Niveau von nahezu 3 % des BIP erreichen. Die dazu benötigten Investitionen sollen zu zwei Dritteln von der Privatwirtschaft aufgebracht werden.

2.10

Im Dezember 2006 wurde vom Rat das 7. FuE-Rahmenprogramm (RP7) 2007-2013 mit einem gegenüber seinem Vorgängerprogramm deutlich erhöhten Budget von ca. 50 Mrd. EUR verabschiedet. Dies ist ein weiterer beachtlicher Erfolg europäischer Politik, der vom Ausschuss maßgeblich unterstützt worden ist. Allerdings wird sich die Gemeinschaft damit dennoch nur mit einem Anteil von rund 2 % (also mit nur einem Fünfzigstel!) an den im Zielwert von Barcelona insgesamt angestrebten Investitionen in Forschung und Entwicklung beteiligen. Wie vom Ausschuss mehrfach betont, reicht dies nicht aus, um die beabsichtigte Hebelwirkung und Integrationskraft der gemeinschaftlichen Förderung auf die Förderpolitik der Mitgliedstaaten und auf die Investitionsbereitschaft der Industrie voll zur Wirkung zu bringen.

2.11

Darum bekräftigt der Ausschuss seine frühere Empfehlung, den Anteil der gemeinschaftlichen Förderung bei der im Jahre 2008 anstehenden Revision des EU-Haushalts in einem ersten Schritt um die Hälfte zu erhöhen, also auf rund 3 % der im Zielwert von Barcelona insgesamt angestrebten Investitionen. Dies gilt insbesondere auch in Hinblick auf das zu gründende Europäischen Technologieinstituts ETI sowie die Dringlichkeit vermehrter FuE-Arbeiten für eine klimaverträgliche nachhaltige Energieversorgung.

2.12

Gleichermaßen ist es jedoch erforderlich, die Investitionsbereitschaft der Industrie in Forschung und Entwicklung, insbesondere auch der kleineren und mittelgroßen Unternehmen, durch geeignete rechtliche (auch haftungsrechtliche), administrative, steuerliche und finanzielle Rahmenbedingungen zu fördern sowie attraktiver und lohnender zu machen. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch das Beihilferecht der Gemeinschaft; es muss den Mitgliedstaaten ermöglichen, Forschungs- und Entwicklungsvorhaben der Universitäten, der Forschungsorganisationen und der Industrie sowie deren erforderliche Vernetzung, effektiver und unbürokratischer als bisher zu fördern. Darum sollte sorgfältig beobachtet werden, ob der „Gemeinschaftsrahmen für staatliche Beihilfen für Forschung, Entwicklung und Innovation“ diese Zielsetzungen tatsächlich unterstützt.

2.13

Wissen basiert auf zwei gleichbedeutenden, voneinander abhängigen Säulen: Bildung und Forschung. Neues Wissen muss durch Forschung und Entwicklung gewonnen werden. Basis ist das vorhandene Wissen. Dieses muss durch Bildung, Ausbildung, Training und Weiterbildung verankert und weitergegeben werden. Dazu sind sowohl Methoden als auch Inhalte zu überprüfen, ob sie den genannten Zielen dienen. Beide Säulen benötigen zudem deutlich vermehrte finanzielle Investitionen und geeignete Rahmenbedingungen.

2.14

Die Kraft Europas besteht in der Leistungsfähigkeit seiner Bürger. Darum ist es vorrangig, eben diese Leistungsfähigkeit noch stärker zu fördern und zur Entfaltung zu bringen. Dementsprechend appelliert der Ausschuss an die Mitgliedstaaten, ihre Bildungseinrichtungen zu stärken und zu verbessern, sowie die hierfür erforderlichen beachtlichen Investitionen aufzubringen. Eine fundierte Ausbildung breiter Bevölkerungsschichten ist ebenso wichtig wie die Bildung von wissenschaftlichen Eliten. In diesem Sinn wird ein breites, ausreichendes Angebot solider und qualifizierter Bildungseinrichtungen benötigt, von Grundschulen bis zu Universitäten. Nur so wird insgesamt eine bildungs- und wissenschaftsfreundliche europäische Gesellschaft entstehen.

2.15

Zudem bekräftigt der Ausschuss seine Empfehlung, durch eine intensivere staatenübergreifende Zusammenarbeit in den Bereichen Lernen, Innovation und Forschung einen gemeinsamen europäischen Wissensraum zu entwickeln, der den Europäischen Forschungsraum ergänzt und vervollständigt. Eine wichtige Rolle spielen dabei alle Anreize und Maßnahmen für lebenslanges Lernen: Lebenslanges Lernen ist der Schlüssel zur Wissensgesellschaft. Hemmnisse des Binnenmarktes, die den Übergang zur europäischen Wissensgesellschaft behindern, müssen so schnell wie möglich abgebaut werden.

2.16

Dazu gehört auch eine noch intensivere Förderung personeller Mobilität seitens der Mitgliedstaaten sowie eine Verstärkung dementsprechender wirksamer gemeinschaftlicher Programme (Erasmus, Marie Curie). Mobilität unterstützt den Erwerb und den Transfer von Kompetenz. Die europaweite Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Forscher und Studenten muss sichergestellt und durch Anreize belohnt werden; sie muss mit akzeptablen Einkommen, Arbeitsbedingungen und Familienförderung einhergehen. Dafür ist auch der europaweite Zugang zu Informationen über offene Stellen in allen Mitgliedstaaten zu verbessern.

2.17

Hinsichtlich der Bedeutung und Förderung von Innovation verweist der Ausschuss nicht nur auf seine unten dargelegten ausführlichen Empfehlungen, sondern vor allem auch auf den ausgezeichneten Aho-Report, den er unterstützt. Dies betrifft insbesondere die rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für ein innovationsfreudiges Unternehmertum und einen innovationsfreundlichen Markt. Der Ausschuss verweist zudem auf seine ausführlichere Stellungnahme „Das Potenzial Europas für Forschung, Entwicklung und Innovation freisetzen und stärken“.

2.18

Fortschritt und Innovation beruhen auf der Umsetzung neuer Erkenntnisse in neue, bessere Prozesse und Produkte (einschließlich der permanenten Innovation bereits bestehender), auf neuartigen Geschäftsmodellen und auf den geeigneten Managementmethoden; es geht also um innovativen Unternehmergeist und Unternehmerinitiativen. Fortschritt und Innovation beruhen aber auch auf neuartigen Dienstleistungen, auf der Fortentwicklung des Gesundheitswesens, und allgemein auf der besseren Lösung sozialer Fragen im Spannungsfeld mit wirtschaftlichen Erfordernissen.

2.19

Innovation bedeutet also, neue Techniken, Verfahren, Organisationsweisen, Geschäftsmodelle, Ausbildungsmodelle etc. zu konzipieren und zu verwirklichen, die vorher nicht in Betracht gezogen worden sind oder werden konnten. Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass die dafür zuständigen gesetzlichen Regelwerke genügend Spiel- und Freiraum bieten, um auch der neuen, vorher nicht bedachten Idee die Chance der Verwirklichung zu geben und diese — weil nicht in das Raster zu detaillierter Regelwerke passend — nicht schon a priori verdorren zu lassen. Ein Übermaß einschränkender Vorschriften ist Hemmschuh für Innovationen. Darum unterstützt der Ausschuss alle Bemühungen zur Vereinfachung der Regelwerke und zur deren Überprüfung auf überflüssige, zu detaillierte und/oder unnötig einschränkende Vorschriften.

2.20

Innovation bedeutet auch, ein gewisses Erfolgs- oder gar Schadensrisiko zu akzeptieren; denn im Regelfall lassen sich Leistungsfähigkeit, aber auch Nachteile oder Nebenwirkungen eines neuen Ansatzes oder Konzepts erst durch seine Bewährung in der Praxis und im Wettbewerb mit konkurrierenden Verfahren erkennen. Auch Misserfolg ist ein Erkenntnisgewinn. Chance und Risiko sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Grundsätzlich sollte der erwartete Nutzen einer Innovation die damit möglicherweise verbundenen Risiken überwiegen. Etwaige Risken für die Gesellschaft bedürfen erforderlichenfalls einer besonderen Bewertung. Es könnte zudem überlegt werden, ob hier zumindest für kleine und mittlere Unternehmen — z.B. bei der EIB — ein Risikofond eingerichtet werden sollte, der mögliche Schäden oder Verluste abzudecken hilft.

2.21

Der Ausschuss hat schon mehrfach darauf hingewiesen, dass menschliche Fähigkeiten und Leistungskraft die sensibelste und wertvollste Ressource für Wissen und Innovation sind. Daher sind ausreichende Zahl, Ausstattung und Qualität der dafür erforderlichen Ausbildungsstätten entscheidende Voraussetzungen, um den Bedarf an guten Wissenschaftlern, Ingenieuren und Lehrern befriedigen zu können.

2.22

Mit den seitens der Gesellschaft und gleichzeitig von jedem einzelnen Wissenschaftler und Ingenieur getätigten Investitionen zum Erwerb eines breiten und schwierigen Grundlagen- und hochgradigen Spezialwissens übernimmt die Gesellschaft — vertreten durch die Politik — die Verantwortung zum bestmöglichen Nutzen dieser Investitionen. Diese Verantwortung muss sich in der Sorge für angemessene Berufschancen und Entfaltungsmöglichkeiten der qualifizierten Forscher und Ingenieure, Möglichkeit der Familiengründung, sowie einen adäquaten Karriereweg mit attraktiven Verzweigungsoptionen manifestieren, und zwar ohne berufliche Abseitsfallen oder Sackgassen! Arbeitslosigkeit, Unterbezahlung oder Fehlbeschäftigung (auch durch überbordende Administration und Gremienarbeit) qualifizierter Wissenschaftler und Ingenieure sind Vergeudung volkswirtschaftlicher Investitionen und Abschreckung der nachwachsenden Leistungselite, mit dem Ergebnis einer Entscheidung für wissenschafts- und technikferne Berufsbilder oder einer Abwanderung aus Europa!

2.23

Dazu nicht im Widerspruch steht die Forderung, erfahrene Fachexperten und wissenschaftlich-technische Leistungsträger mehr als bisher maßgeblich an forschungspolitischen, unternehmerischen und innovationspolitischen Entscheidungsprozessen und Verwaltungsakten zu beteiligen. Die Gründung des Europäischen Forschungsrates ERC ist hier ein sehr ermutigender erster Schritt. Aber auch für die Forschungs- und Innovationsförderung der Gemeinschaft (einschließlich der Kommission!) und der Mitgliedstaaten muss ausreichender fachbezogener Sachverstand eingebracht und erhalten werden. Administration allein genügt nicht.

2.24

Eine besondere Problematik stellt die Umsetzung von Forschung und Innovation in industrielle Produkte und Prozesse dar. Nicht umsonst fordert die Zielsetzung von Lissabon, dass zwei Drittel der FuE-Leistungen von der Industrie erbracht werden sollen. Ganz besonders geht es deshalb auch darum, das Berufsbild des Unternehmers aufzuwerten und in seiner entscheidenden Bedeutung für Innovation, wirtschaftlichen Fortschritt und allgemeinen Wohlstand in der Gesellschaft besser zu verankern. Darum hat der Ausschuss in seiner Funktion als Brücke zur organisierten Zivilgesellschaft das „Unternehmertum mit menschlichem Antlitz“ in den Mittelpunkt seines kommenden Arbeitsprogramms gestellt. Nur durch ein verantwortungsbewusstes, tatkräftiges und ideenreiches Unternehmertum, das sich bestmöglich entfalten kann, wird es letztlich gelingen, die Ziele von Lissabon zu erreichen.

2.25

Bezüglich vieler weiterer Gesichtspunkte und Einzelheiten wird auf die folgenden ausführlicheren Ausführungen verwiesen, sowie darüber hinaus insbesondere auf die Stellungnahmen des Ausschusses „Auf dem Weg zur europäischen Wissensgesellschaft — Der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zur Lissabon-Strategie“ (1) sowie „Das Potenzial Europas für Forschung, Entwicklung und Innovation freisetzen und stärken“ (2).

3.   Allgemeine Gesichtspunkte

3.1

Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Die Wiege einer sich kontinuierlich entwickelnden modernen Wissenschaft und Forschung liegt in Europa. Dies gilt unter Einbeziehung des griechisch-ägyptischen Kulturkreises und zeitweiliger wechselseitiger Befruchtungen mit dem indisch-arabischen (3) Kulturkreis auch für die Wiege der Wissenschaft generell. Wissenschaft und Forschung waren trotz zeitlicher Schwankungen und kriegsbedingter Brüche über Landesgrenzen hinweg europaweit verbunden. Ihre Methodik und Denkweise, waren ein entscheidender Wegbereiter unserer heutigen europäischen Gesellschaft, ihrer Werte, ihrer Lebensweise und ihres Lebensstandards; sie waren ein Kennzeichen des Europäischen Kulturraums (4). Erfolgsrezept für die daraus resultierenden Errungenschaften war das freie Wechselspiel von handwerklichem Erfindergeist und unternehmerischer Initiative mit wissenschaftlicher Methodik und Systematik sowie den daraus entwickelten Technologien und industriellen Prozessen.

3.2

Entwicklung der Gesellschaft. Nahezu Hand in Hand mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt verliefen die entscheidenden gesellschaftspolitischen Entwicklungen hin zum freien Bürger im modernen Staat mit Gewaltenteilung, Demokratie, Grundrechten und Sozialgesetzen.

3.3

Entwicklung der Lebensbedingungen. Als Ergebnis dieser gemeinsamen Prozesse haben sich die Lebensbedingungen der Menschen in den daran beteiligten Staaten und Regionen in einem Maße verändert und verbessert wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Innerhalb der letzen 135 Jahre hat sich die mittlere Lebenserwartung der Bevölkerung (5) mehr als verdoppelt (6). Innerhalb der letzten 50 Jahre hat sich der flächenbezogene, landwirtschaftliche Ertrag nahezu verdreifacht. In den erfolgreichen Industriestaaten werden Übergewicht statt Unterernährung, Informationsüberflutung statt Informationsmangel, Überalterung statt Kindersterblichkeit diskutiert. Die durch Forschung, Entwicklung und Innovation erarbeiteten Fähigkeiten und Leistungen der modernen mobilen Industriegesellschaft umfassen alle Bereiche menschlicher Entfaltung und Lebensqualität.

3.4

Nutzung der Energie. Ein für den erreichten Fortschritt maßgeblicher Faktor war die Entwicklung und intensive Nutzung von Energie verbrauchenden industriellen Verfahren, Maschinen und Transportmitteln: Energie hat die Menschen von der Last körperlicher Schwerstarbeit befreit, ihre Produktivität vervielfacht, Wärme und Licht geschaffen sowie ungeahnte Mobilität, Kommunikation und kulturelle Entfaltung ermöglicht; Energie wurde zum Nahrungsmittel und Antriebsmotor moderner Volkswirtschaften.

3.5

Klimaproblematik und Energieversorgung. Diese beachtliche Entwicklung führt aber auch zu neuen Problemen und Herausforderungen. Die globale Erwärmung, deren mögliche Folgen sowie die Strategie zu ihrer Eindämmung sind Gegenstand weit reichender politischer Entscheidungen (7) und zahlreicher Untersuchungen (8) mit z.T. kontroversen Ansichten. In dem Ende Oktober 2006 veröffentlichten STERN REVIEW (9): „The Economics of Climate Change“ wird festgestellt, dass allein zur Eindämmung der durch Klimagase beeinflussten globalen Erwärmung ein Aufwand von ca. 1 % des BIP benötigt wird, der insbesondere auch weitere, dazu erforderliche, F&E-Aktivitäten umfasst. Aber selbst ohne Klimaproblematik ist die Frage einer sicheren nachhaltigen Energieversorgung Europas (und der Welt!) eine der zentrale politischen Herausforderungen, für deren Bewältigung deutlich intensivierte Forschung und Entwicklung eine entscheidende Rolle spielen (10).

3.6

Weitere Probleme und Herausforderungen  (11). Allerdings sind Klimaänderung und Energieversorgung nicht der einzige Problemkreis. Auch die Bekämpfung physischer und psychischer Krankheiten, die Lebenserleichterung für behinderte oder sonstig benachteiligte Menschen mit dem Ziel verbesserter Teilhabe an beruflicher Entfaltung und an der Wissensgesellschaft, die Auswirkung des demografischen Wandels einschließlich der Alternsforschung, ein besseres Verständnis komplexer wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Zusammenhänge und Wirkmechanismen, der Schutz der Umwelt sowie generell die Sicherung und Weiterentwicklung unserer Lebensgrundlagen, unseres europäischen Wertesystems und Sozialmodells sind Beispiele bedeutender Forschungsthemen, zu denen der Ausschuss in früheren Stellungnahmen wie z.B. jenen zum 7. FuE-Rahmenprogramm (12) und zu dessen „Spezifischen Programmen“ (13) ausführliche Empfehlungen gegeben hat.

3.7

Globaler Wettbewerb. Die Europäische Gemeinschaft steht zudem vor der sehr ernsten Herausforderung eines sich verschärfenden globalen Wettbewerbs, bei dem es insbesondere darum geht, die europäischen Arbeitsplätze, Einkommensniveaus sowie Sozial- und Umweltstandards zu erhalten. Dies gilt nicht nur vor dem Hintergrund der Wirtschaftskraft der USA und Japans, sondern insbesondere der beachtlichen und zunehmend erstarkenden Industrie- und Forschungsleistungen von Staaten wie China (bis 2050 will China die USA als weltweit führende Technologienation abgelöst haben! (14)), Indien und Brasilien, und der dort bedeutend niedrigeren Löhne sowie Sozial- und Umweltstandards. Genau vor diesem Hintergrund des globalen Wettbewerbs sowie des damit verbundenen globalen Wettlaufs zunehmender Investitionen in Forschung und Entwicklung, einschließlich eines globalen Wettbewerbs um die besten Wissenschaftler und Ingenieure, muss die Europäische Gemeinschaft ihre dementsprechende Politik optimieren. Es geht also primär um den globalen Wettbewerb, nicht um den innereuropäischen!

3.8

Vorsprung in Forschung, Entwicklung und Innovation. Eine wettbewerbsfähige Position Europas kann also nur durch einen auch in Zukunft bestehenden Vorsprung in Forschung, technologischer Entwicklung und permanenter Innovation gehalten werden, eingebettet in ein gesellschaftliches und kulturelles Umfeld von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, politischer Stabilität und Verlässlichkeit, unternehmerischer Freiheit, Planungssicherheit, Leistungswillen und Leistungsanerkennung. Der Europäische Forschungsraum muss gestärkt und ausgebaut werden. Zwar ist dieses Ziel inzwischen Allgemeingut politischer Absichtserklärungen, aber im tatsächlichen Handeln und in der Umsetzung in reale Prioritäten (z.B. Forschungsbudgets) und in die betreffenden Regelwerke (z.B. Tarifstruktur (15), Steuerrecht (16)) bestehen noch deutliche und bedauerliche Defizite, sowohl auf Ebene der Gemeinschaft als auch auf Ebene der meisten Mitgliedstaaten. Die Dramatik dieses Tatbestands sollte nicht unterschätzt werden, selbst wenn erfreulicherweise in einigen Mitgliedstaaten ein gewisser Aufholtrend zu beobachten ist (17).

3.9

Wissenschaftliche und technische Höchstleistungen. Wissenschaftliche und technische Höchstleistungen und deren unternehmerische Umsetzung in Innovationen und wettbewerbsfähige Wirtschaftskraft sind daher die entscheidenden Voraussetzungen, um unsere Zukunft — z.B. bezüglich der Energie- und Klimaproblematik — zu sichern, unsere derzeitige Position im globalen Umfeld zu erhalten und zu verbessern, und um das europäische Sozialmodell nicht zu gefährden, sondern ausbauen zu können. Letztendlich dienen Forschung und Entwicklung aber auch dem fundamentalen Ziel, mehr und neues Wissen zu schaffen. Mehr Wissen hilft aber nicht nur Probleme zu lösen, sondern erweitert auch unser Weltbild, versachlicht Konfliktsituationen und bereichert unsere Kultur.

3.10

Wiederbelebung der Tradition. Also gilt es jetzt für Europa, sich seiner Tradition als vordem führender Forschungs- und Innovationsraum bewusst zu werden und diese wieder zu beleben. Die Kraft Europas liegt in der Leistungsfähigkeit seiner Bürger. Darum ist es notwendig, eben diese Leistungsfähigkeit noch stärker als bisher zu fördern. Darum ist es aber auch notwendig, deutlich mehr in Forschung und Entwicklung zu investieren, deren Effizienz zu erhöhen, die Innovationsbereitschaft und Innovationsfähigkeit von Industrie, Handel und Verwaltung zu stärken, Leistung zu fördern und anzuerkennen sowie entgegenstehende Hindernisse abzubauen.

3.11

Steigerung der Investitionen. Dies bedeutet insbesondere, seitens der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten noch deutlich mehr in Forschung und Entwicklung, in die dementsprechende Bildung der Bürger sowie in die Ausbildung der benötigten Wissenschaftler und Ingenieure (beiderlei Geschlechts!) zu investieren. Es bedeutet aber vor allem, auch die Investitionsbereitschaft der Industrie in Forschung und Entwicklung, insbesondere auch der kleineren und mittelgroßen Unternehmen, durch geeignete rechtliche, administrative, steuerliche (18) und finanzielle Rahmenbedingungen zu fördern sowie attraktiver und lohnender zu machen.

3.12

Fortschrittsfreundliches gesellschaftliches Klima. Wichtigste Voraussetzung dafür ist ein gegenüber Fortschritt, Innovation und Unternehmertum aufgeschlossenes gesellschaftliches Klima, in dem diese Einsicht ihre volle Wirkung entfaltet, damit auf allen Ebenen der Politik die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen und die entsprechenden richtungweisenden Entscheidungen getroffen werden, aber auch damit Arbeitsplätze entstehen und seitens der Industrie genügend Vertrauen und Optimismus für die nötigen Investitionen aufgebaut wird. Dazu gehört, die Bürger mehr als bisher mit den Errungenschaften und der Bedeutung von Wissenschaft und Technik und den unternehmerischen Pionierleistungen vertraut zu machen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass insbesondere Grundlagenforschung (19) das notwendige Saatgut für zukünftiges Wissen und zukünftige Innovationen liefert.

3.13

Anerkennung der Errungenschaften. Die entscheidende Rolle dieser Errungenschaften für unsere heutige Lebensweise, die Voraussetzungen ihrer Entstehung sowie die mit ihnen verbundene wissenschaftlich-technische unternehmerische und kulturelle Leistung muss von der Gesellschaft wahrgenommen, in den Schulen gelehrt und in ihrer existenziellen Bedeutung gewürdigt werden.

3.14

Weitere Voraussetzungen. Fortschritt und permanente Innovation beruhen allerdings nicht nur auf Wissenschaft und Technik, sondern auch auf der Motivation, den Fähigkeiten und der Leistungsbereitschaft aller Beteiligten, sowie auf neuartigen Geschäftsmodellen, auf den richtigen Managementmethoden und auf dafür günstigen rechtlichen Rahmenbedingungen.

3.15

Risiko-Akzeptanz. Um neue Forschungsansätze, innovative Technologien, Betriebsabläufe oder Geschäftsmodelle zu entwickeln, ist es notwendig, ein gewisses Erfolgs- oder gar Schadensrisiko zu akzeptieren; denn im Regelfall lassen sich Vorteile und Leistungsfähigkeit, aber auch Nachteile, Risiken und Nebenwirkungen eines neuen Ansatzes erst durch seine Bewährung in der Praxis und im Wettbewerb mit den konkurrierenden Verfahren erkennen. Auch Misserfolg ist ein Erkenntnisgewinn. Chance und Risiko sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Grundsätzlich sollte der erwartete Nutzen einer Innovation die damit möglicherweise verbundenen Risiken überwiegen. Etwaige Risken für die Gesellschaft bedürfen erforderlichenfalls einer besonderen Bewertung. Zudem könnte überlegt werden, ob hier zumindest für kleine und mittlere Unternehmen — z.B. bei der EIB — nicht ein Risikofond eingerichtet werden sollte, der es den Unternehmen erleichtert, Schäden oder Verluste abzudecken.

4.   Bildung, Ausbildung, Training und Weiterbildung

4.1

Wissensbasis. Wissen basiert auf zwei gleichbedeutenden Säulen: Bildung und Forschung. Neues Wissen kann nur durch Forschung und Entwicklung gewonnen werden. Dazu braucht es als Basis das vorhandene Wissen: Dieses muss durch Bildung, Ausbildung, Training und Weiterbildung weitergegeben und verankert werden. Hierbei geht es um folgende Ziele:

4.1.1

Grundkenntnisse. Einerseits gilt es, eine solide Grundkenntnis über Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, deren Funktionsweise und wesentlichen Grundgesetze, in den Bildungskanon aller Bürger aufzunehmen. Nur so werden sie z.B. in die Lage versetzt, die oftmals nicht ganz einfachen Zusammenhänge beurteilen zu können, deren Kenntnis auch für eine qualifizierte politische Meinungsbildung erforderlich ist. Dem entsprechend sind Lehrpläne und verfügbare Unterrichtszeit in allen Schulstufen darauf auszurichten, die Kinder und Jugendlichen mit anschaulichen Beispielen sowie anregenden Erklärungen und Lernstoffen stufenweise in die Denkweise von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft sowie in den vorhandenen Wissensschatz (20) einzuführen, und die entscheidende Bedeutung der wissenschaftlichen Arbeit, der technischen Entwicklung innovativer wirtschaftlicher und sozialer Handlungsweisen sowie der Wissensgesellschaft generell für ihre Zukunft und Lebenschancen bewusst zu machen. Hierfür muss diesem Teil der Lehrpläne ein deutlich größeres Gewicht eingeräumt werden. Der Ausschuss begrüßt und unterstützt die Empfehlungen des diesem Anliegen dienenden Rocard-Berichts (21).

4.1.2

Anreize für Berufswahl. Andererseits sind die dazu Begabten für eine dementsprechende Berufswahl und ein bekanntermaßen schwieriges Studium zu begeistern und dazu mit solidem Grundwissen auszustatten. Auch hierfür müssen die Lehrpläne der Schulen, insbesondere der Gymnasien, mit einem erweiterten und hochwertigen Lehrangebot ausgestattet werden.

4.1.3

Nachholbedarf in Breite und Tiefe. Es gibt also einen deutlichen Nachholbedarf im Lehrangebot auf naturwissenschaftlich-technischem Gebiet, unbeschadet davon, dass natürlich alle Begabungen breit gefördert werden müssen, also auch in sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Bereichen und in human- und geisteswissenschaftlichen Fächern. Eine fundierte Ausbildung breiter Bevölkerungsschichten — wozu auch Leistungsbereitschaft und Disziplin seitens der Schüler benötigt wird — ist ebenso von Bedeutung wie die Bildung von wissenschaftlichen Leistungseliten. Qualitativ hochwertige Bildungseinrichtungen, von Grundschulen bis zu Universitäten, sind die Grundvoraussetzung für die Entstehung einer insgesamt bildungs- und wissenschaftsfreundlichen Gesellschaft.

4.1.4

Der Europäische Wissensraum. Der Ausschuss bekräftigt seine Empfehlung, dass sich durch eine intensivere staatenübergreifende Zusammenarbeit in den Bereichen Lernen, Innovation und Forschung ein gemeinsamer europäischer Wissensraums entwickeln sollte, der den Europäischen Forschungsraum ergänzt und vervollständigt. Daher müssen Hemmnisse des Binnenmarktes, die den Übergang zur europäischen Wissensgesellschaft behindern, so schnell wie möglich abgebaut werden. Der Ausschuss verweist dazu auch auf seine Stellungnahme „Auf dem Weg zur europäischen Wissensgesellschaft — Der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zur Lissabon-Strategie“ (22).

4.1.5

Lebenslanges Lernen und Mobilität. Eine wichtige Rolle spielen dabei Anreize und Maßnahmen für lebenslanges Lernen: Lebenslanges Lernen ist der Schlüssel zur Wissensgesellschaft. Dazu gehört auch eine noch intensivere Förderung personeller Mobilität seitens der Mitgliedstaaten sowie eine Verstärkung der dementsprechenden wirksamen gemeinschaftlichen Programme (Erasmus, Marie Curie). Mobilität vernetzt Europa und dient dem Kompetenzerwerb und -transfer. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Forscher und Studenten muss sichergestellt werden und mit akzeptablen Einkommen, Arbeitsbedingungen und Familienförderung einhergehen. Dafür ist auch der europaweite Zugang zu Informationen über offene Stellen in allen Mitgliedstaaten zu verbessern.

4.2

Standard der Fachausbildung. Dazu gehört zudem, an den Universitäten und Technischen Hochschulen eine dem besten internationalen Standard mindestens ebenbürtige wissenschaftlich-technische Fachausbildung zu gewährleisten: Das wichtigste Kapital für Forschung und Innovation sind bestqualifizierte und motivierte Wissenschaftler und Ingenieure beiderlei Geschlechts, die ihre Fachkompetenz durch lebenslanges Lernen über ihr gesamtes Berufsleben hinweg erhalten und ausbauen, und unter denen eine ausreichende Anzahl befähigt ist, Führungsrollen zu übernehmen und auf schwierigstem Gebiet Pionierleistungen zu vollbringen.

4.3

Chancen für alle. Fortschritt und Erfolg werden in Zukunft mehr denn je das Ergebnis einer strukturierten arbeitsteiligen Teamarbeit sein, bei der es notwendig ist, allen Beteiligten die gemäß ihrer Begabung, Leistungsfähigkeit und Kreativität bestmöglichen Chancen der Entfaltung und Eigeninitiative zu bieten. Dies erfordert auch, dass die Schulsysteme ausreichende Durchlässigkeit besitzen, damit allen Begabungen, z.B. auch Spätentwicklern, die Möglichkeit einer optimalen Ausbildung geboten wird. Unerlässlich sind zudem entsprechend hochwertige Ausbildungsstätten für das gesamte Qualifikationsspektrum an Spezialisten und Fachkräften, welches heute und zukünftig für die umfangreiche Palette von Aufgaben in Technik, Wissenschaft und Wirtschaft benötigt wird.

4.4

Vernetzung. Insbesondere auch für Training und Weiterbildung ist eine noch stärkere Vernetzung der Säulen Ausbildung, Forschung und industrielle Anwendung erforderlich, wobei ein offensichtlicher Bezug zum Thema lebenslanges Lernen und Mobilität besteht (siehe Ziffer 4.1.5). Erforderlich ist auch eine stärkere grenzüberschreitende Vernetzung der Universitäten und Technischen Universitäten/Hochschulen. Auch aus dieser Sicht begrüßt der Ausschuss die Planungen zum Europäischen Technologieinstitut (23) ETI, welches zur Weiterentwicklung der Innovationskapazität der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten beitragen soll, indem es Ausbildungs-, Forschungs- und Innovationsaktivitäten auf höchstem Niveau miteinander verbindet. Letzteres betrifft aber auch — über Bildung und Ausbildung hinausgehend — die gemeinsame „vorwettbewerbliche“ Forschung und Entwicklung (24) industrieller Unternehmen, wie z.B. die gemeinsame Entwicklung verbesserter Motorentechnologien in der Automobilindustrie.

5.   Finanzielle Fragen und Prozeduren

5.1

Investition ist Aufgabe aller Beteiligten. Gemeinschaft, Mitgliedstaaten und Privatwirtschaft müssen nach besten Kräften, das heißt deutlich mehr als zurzeit, die für Bildung, Forschung und Entwicklung nötigen Investitionen aufbringen.

5.2

Zielwert von Barcelona. Der zur Verwirklichung der Lissabon-Strategie formulierte Zielwert von Barcelona muss von allen darin angesprochenen Akteuren sehr ernst genommen und mit ganzer Kraft angestrebt werden, um im globalen Wettlauf der FuE-Investitionen nicht letzter zu bleiben. Dieser Zielwert besagt, dass die Gesamtausgaben für F&E in der Union so erhöht werden sollen, dass sie 2010 ein Niveau von nahezu 3 % des BIP erreichen. Die dazu benötigten Investitionen sollten zu zwei Dritteln von der Privatwirtschaft erbracht werden.

5.3

Hebelwirkung des 7. FuE-Rahmenprogramms. Im Dezember 2006 wurde vom Rat das 7. FuE-Rahmenprogramm (RP7) 2007-2013 mit einem gegenüber seinem Vorgängerprogramm deutlich erhöhten Budget von ca. 50 Mrd. EUR verabschiedet. Dies ist ein weiterer sehr beachtlicher Erfolg europäischer Politik, der vom Ausschuss maßgeblich unterstützt worden ist. Allerdings würde sich die Gemeinschaft mit dem dafür vorgesehen Budget von ca. 50 Mrd. EUR ihrerseits dennoch nur mit einen Anteil von rund 2 %, also nur mit einem Fünfzigstel (!), an den im Zielwert von Barcelona insgesamt angestrebten Investitionen in Forschung und Entwicklung beteiligen. Wie vom Ausschuss mehrfach betont, reicht dies jedoch nicht aus, um die erhebliche Hebelwirkung und Integrationskraft der gemeinschaftlichen Förderung auf die Förderpolitik der Mitgliedstaaten und auf die notwendige Investitionsbereitschaft der Industrie voll zur Wirkung zu bringen und dort den beachtlichen Zuwachs auszulösen, der zum Erreichen des Barcelona-Zielwerts erforderlich ist.

5.4

Bekräftigte Empfehlung. Darum bekräftigt der Ausschuss — insbesondere auch angesichts des zu gründenden Europäischen Technologieinstituts ETI sowie der dringenden Notwendigkeit vermehrter F&E-Arbeiten zur klimaverträglichen nachhaltigen Energieversorgung — seine Empfehlung (25), den Anteil der gemeinschaftlichen Förderung bei der im Jahre 2008 anstehenden Revision des EU-Haushalts in einem ersten Schritt um die Hälfte, d.h. auf rund 3 % der im Zielwert von Barcelona insgesamt angestrebten Investitionen zu erhöhen. Dies wäre seitens der Gemeinschaft eine besonders wirkungsvolle Maßnahme, um die zunehmend wichtigeren Ziele von Lissabon und Barcelona rascher als derzeit erkennbar erreichen zu können, sowie um die oben genannten Probleme wirksamer und schneller zu lösen.

5.4.1

Wettlauf mit China. Die diesbezüglichen Forschungsanstrengungen z.B. Chinas befinden sich in rapidem Wachstum und Europa muss alle Anstrengungen unternehmen, um bei weltweit wichtigen und erforderlichen Technologien den Markt nicht an die internationale Konkurrenz zu verlieren. Allerdings können die dafür erforderlichen Investitionen der Privatwirtschaft politisch kaum glaubwürdig eingefordert werden, solange die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten noch nicht einmal ihren eigenen Anteil an der Finanzierung des von ihnen selbst formulierten Zielwertes von Barcelona erbracht haben.

5.4.2

Grundfinanzierung durch die Mitgliedstaaten. Zumindest sollten die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass ihre Universitäten und Forschungseinrichtungen mit genügend Grundfinanzierung ausgestattet sind, um die Chance einer Kofinanzierung durch das 7. FuE-Rahmenprogramm in dem erwarteten Maß wahrnehmen zu können.

5.5

Gemeinschaftsrahmen für staatliche Beihilfen. Das Beihilferecht (E state aid) der Gemeinschaft sollte so gestaltet werden, dass es die Mitgliedstaaten ermuntert und ihnen den dazu nötigen Freiraum gibt, Forschungs- und Entwicklungsvorhaben der Universitäten, der Forschungsorganisationen und der Industrie sowie deren erforderliche Vernetzung, verstärkt, effektiver und unbürokratischer als bisher zu fördern. Darum sollte sorgfältig beobachtet werden, ob der „Gemeinschaftsrahmen für staatliche Beihilfen für Forschung, Entwicklung und Innovation“  (26), diese Zielsetzungen tatsächlich unterstützt.

5.6

Haushaltsrecht der Mitgliedstaaten. Das Haushaltsrecht einzelner Mitgliedstaaten sollte bei der Förderung von FuE-Maßnahmen einen dem jeweiligen Projektablauf angepassten flexibleren Mittelabruf/Mittelabfluss ermöglichen, z.B. durch Übertragbarkeit zugewiesener Mittel in das nächste Kalender- oder Haushaltsjahr.

5.7

Ausbau wissenschaftlicher Infrastruktur. Zudem hatte der Ausschuss mehrfach (27) empfohlen, einen deutlich größeren Teil der Mittel des gemeinschaftlichen Strukturfonds für den Ausbau wissenschaftlicher Infrastruktur zu verwenden. Hier könnten auch Mittel der Europäischen Investitionsbank mit großem Nutzen zum Einsatz kommen.

5.8

Potenzial von KMU. Dabei gilt es auch, das Potenzial von KMU und insbesondere von „Start-Ups“ für Innovationen weiter zu stärken sowie generell stärkere Anreize für mehr dementsprechende Investitionen seitens der Industrie zu schaffen. Der Ausschuss verweist zudem auf seine Empfehlungen (28) zum EU-Programm „Mehrjahresprogramm für Unternehmen und unternehmerische Initiative, insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU)“ und auf die in diesem Zusammenhang besonders wichtige Förderung im Bereich der wissensbasierten Wirtschaft. Aus der Tatsache, dass in der EU 98 % aller Firmen KMU sind, wird besonders deutlich, welche Bedeutung einer Stärkung der Innovationsfähigkeit dieser Unternehmenskategorie zukommt (der Ausschuss begrüßt daher, dass in FP7 1,3 Mrd. EUR für FuE durch und für KMU reserviert sind). Derzeit bestehende erschwerende Vorschriften für KMU sollten überprüft und möglichst „entbürokratisiert“ werden; zudem könnten die Behörden durch „Business Angels“ Hilfe beim Zugang zu den Fördermöglichkeiten leisten. Auch aus der diesbezüglichen Förderpolitik anderer Staaten kann Europa Anregungen gewinnen.

6.   Strukturelle Aspekte und Rahmenbedingungen

6.1

Verweis auf andere und vorhergehende Berichte. Hierzu verweist der Ausschuss zunächst auf die beiden kürzlich veröffentlichten Mitteilungen (29) der Kommission zum Thema „Innovation“ sowie auf den ausgezeichneten Aho-Report (30). Er verweist außerdem auf seine eigene Stellungnahme (31). „Das Potenzial Europas für Forschung, Entwicklung und Innovation ausschöpfen und stärken“, welche in ihren Aussagen mit dem hier vorliegenden Text zahlreiche Überlappungen aufweist, zugleich aber mehrere der hier angesprochenen Themen viel ausführlicher behandelt.

6.2

Innovation ist mehr. Die oben genannten Berichte bekräftigend und ergänzend wiederholt der Ausschuss: Fortschritt und Innovation beruhen nicht nur auf Wissenschaft und Technik, sondern auch auf der Umsetzung dieser Erkenntnisse in neue, bessere Prozesse und Produkte, auf neuartigen Geschäftsmodellen, auf den richtigen Managementmethoden; es geht also auch um innovativen Unternehmergeist und Unternehmerinitiativen. Fortschritt und Innovation beruhen auch auf neuartigen Dienstleistungen, auf der Fortentwicklung des Gesundheitswesens, und allgemein auf der besseren Lösung sozialer Fragen — Ein Beispiel ist das vom Ausschuss behandelte „Flexicurity“-Konzept (32).

6.3

Innovation, der Schritt in Neuland. Innovation bedeutet also, neue Techniken, Verfahren, Organisationsweisen, Geschäftsmodelle, Ausbildungsmodelle etc. zu konzipieren und zu verwirklichen, die vorher nicht in Betracht gezogen worden sind. Darum lässt sich deren Leistungsfähigkeit meistens erst im Nachhinein durch ihre Bewährung im praktischen Wettbewerb beweisen.

6.4

Regelwerke offen gestalten. Demgegenüber werden Regelwerke auf der Basis des bereits vorhandenen Wissensstands erstellt. Aus diesem Grunde ist es sehr wichtig, dass diese Regelwerke genügend Spiel- und Freiraum bieten, also genügend Pluralität und Variabilität zulassen, um auch der neuen, vorher nicht bedachten Idee die Chance der Verwirklichung zu geben und diese nicht schon — weil nicht ins Raster bestehender Regelwerke passend — a priori im Keime zu ersticken oder langsam verdorren zu lassen. Also ist bei allen Regelwerken darauf zu achten, dass zwar die grundsätzlichen Fragen erfasst und geordnet werden, aber jede zu weit ins Detail gehende Vorschrift vermieden wird; jede Überregulierung, jedes Übermaß einschränkender Vorschriften, und seien sie auch aus noch so guter Absicht erlassen, sind Hemmschuhe und Hindernisse für Innovation. Darum unterstützt der Ausschuss alle Bemühungen zur Vereinfachung der Regelwerke und zur deren Überprüfung auf überflüssige und/oder unnötig einschränkende Vorschriften. Dies dient zudem auch der Entlastung (siehe unten) der Fachexperten von unnötiger Bürokratie. Zudem: Fehler Einzelner dürfen nicht zur Überregulierung Aller führen.

6.5

Freiheit der Forschung. Nochmals: Innovation benötigt einen ausreichenden unternehmerischen Freiraum. Freiheit der Forschung — auch die Freiheit von sachfremden, einengenden (33) oder gar ideologischen Vorgaben — ist Grundvoraussetzung für kreative Wissenschaft sowie neue Entdeckungen und Erfindungen, unbeschadet ihrer Grenzen durch die gesetzliche Regelung ethischer Problemstellungen und unbeschadet einer sachgerechten Verwendung zugewiesener Fördermittel.

6.6

Bekräftigung von CESE 1566/2006. Für noch weitere wichtige Gesichtspunkte wird auf die oben unter Ziffer 5.1 genannte Stellungnahme (34) verwiesen und deren Aussagen nachdrücklich bekräftigt. Darin werden unter den Ziffern 4.7 bis 4.11 zu folgenden hierfür relevanten Themen Empfehlungen gegeben: Von der Naturerkenntnis zum innovativen Produkt, zum innovativen Prozess und zu innovativen Dienstleistungen. Mobilität zwischen Akademia und Industrie. Öffentlich zugängliche Informations-Systeme. „Cluster“. „Start-Ups“. Grundlagenforschung. Das innovative Produkt. Öffentliches Auftragswesen. Geistiges Eigentum und notwendiges Gemeinschaftspatent. Neuheitsunschädliche Vorveröffentlichungsfrist. Sprachenproblem. Besondere Situation der neuen Mitgliedstaaten.

6.6.1

Schutz des geistigen EigentumsEuropäisches Gemeinschaftspatent. Dabei wird ein ausreichender Schutz des geistigen Eigentums (35) noch einmal besonders betont: unternehmerische Investitionen in Forschung, Entwicklung und Innovation müssen sich lohnen, und sowohl der finanzielle als auch der rechtlich/administrative Aufwand zum Erlangen und Erhalt der Schutzrechte darf — im Vergleich mit den globalen Wettbewerbern — die Wirtschaftskraft Europas nicht belasten. — Dies zeigt auch die dringende Notwendigkeit eines Europäischen Gemeinschaftspatents (mit darin verankerter Neuheitsschonfrist).

7.   Der Faktor Mensch

7.1

Wertvollste Ressource. Zunächst verweist der Ausschuss auf seine spezifisch diesem Themenkreis gewidmete Stellungnahme (36), deren Aussagen er noch einmal bestätigt und unterstreicht. Wie schon zuvor hatte der Ausschuss dort darauf hingewiesen, dass Humankapital die sensibelste und wertvollste Ressource für Wissen und Innovation ist. Also ist die wichtigste Aufgabe, dazu begabte, junge Menschen für eine wissenschaftliche oder technische Ausbildung zu motivieren und ihnen diese dann auch bestmöglich zu bieten.

7.2

Qualität der Ausbildungsstätten (Siehe Kapitel 4.). Daher sind Zahl, Ausstattung und Qualität der dafür erforderlichen Ausbildungsstätten entscheidende Voraussetzungen, um den Bedarf an guten Wissenschaftlern, Ingenieuren und Unternehmern befriedigen zu können. Also muss man in genügender Zahl und Ausstattung beste, attraktive Universitäten, vor allem auch Technische Universitäten, mit hervorragenden Lehrkräften — und in Verbindung von Forschung und Lehre (37) — schaffen bzw. erhalten. Diese müssen den Wettbewerb mit den besten Universitäten der USA oder anderen, außereuropäischen Ländern bestehen können und auch genügend Anziehungskraft für die besten außereuropäischen Studenten besitzen.

7.3

Verantwortung der Gesellschaft. Mit den sowohl seitens der Gesellschaft als auch seitens der einzelnen Forscher getätigten Investitionen zum Erwerb eines erwünschten breiten und schwierigen Grundlagen- und hochgradigen Spezialwissens übernimmt die Gesellschaft — vertreten durch die Politik — die Verantwortung zur bestmöglichen Nutzung dieser Investitionen. Diese Verantwortung muss sich in der Sorge für angemessene Berufschancen und Entfaltungsmöglichkeiten, sowie einem adäquaten Karriereweg der ausgebildeten Forscher mit attraktiven Verzweigungsoptionen ohne berufliche Abseitsfalle oder Sackgasse manifestieren. Arbeitslosigkeit, Unterbezahlung oder Fehlbeschäftigung qualifizierter Wissenschaftler und Ingenieure sind Vergeudung volkswirtschaftlicher Investitionen und schrecken die nachwachsende Leistungselite ab mit dem Ergebnis einer Entscheidung gegen wissenschafts- und technikrelevante Berufsbilder oder einer Abwanderung aus Europa! Auch überbordende Bürokratie (siehe Ziffer 7.7) ist Fehlbeschäftigung.

7.4

Entfaltung der Talente. Es geht darum, den Menschen — also auch allen Mitarbeitern in Firmen, Universitäten und Forschungsinstituten — die gemäß ihrer Begabung, Leistungsfähigkeit und Kreativität bestmöglichen Chancen für die Entfaltung ihrer Talente und für Eigeninitiative zu bieten sowie ein soziales Umfeld zu gestalten, das Familienbildung ermöglicht sowie ihrer Schaffenskraft dient und diese fördert. Dies beinhaltet dann aber auch, dass die in den Genuss dieser Ausbildung und Förderung gelangten jungen Menschen ihrerseits alles daransetzen, die erworbenen Fähigkeiten und Talente mit Pflichtbewusstsein und Engagement bestmöglich einzusetzen. Dies sind sehr wichtige Fragen der Sozialpolitik, der Familienpolitik, der Betriebswirtschaftslehre und generell der Managementkultur. Dort wurde inzwischen auch die Bedeutung einer sinnvollen „Work-Life-Balance“ für Kreativität und Produktivität erkannt (38).

7.5

Identifizierung und Bewertung der Leistungsträger  (39). Herausragende Fähigkeiten und Leistungen lassen sich kaum durch formale Bewertungsschemata — bei denen zudem ebenfalls die Möglichkeit zum Missbrauch bestehen — erfassen. Problematisch ist z.B. das Verhalten solcher wissenschaftlicher Autoren, die sich in Veröffentlichungen vorzugsweise gegenseitig zitieren, auf diese Weise „Zitier-Kartelle“ bilden und sich so Vorteile bei schematischer Bewertung verschaffen. Weder die Zahl der Veröffentlichungen, noch der Zitate oder Patente oder andere derartige Kennzahlen allein sind ausreichende oder belastbare Bewertungskriterien; wichtiger sind Qualität, Neuheitswert und Bedeutung. Darüber hinaus waren es manchmal gerade die besonders bahnbrechenden Erkenntnisse oder Erfindungen, die erst mit einer gewissen Verzögerung bekannt, anerkannt, genutzt oder zitiert wurden. Darum benötigt man zur Bewertung von Persönlichkeit und Leistung, mit all ihren Ausprägungen und Facetten, den Erfahrungsschatz und das persönliche Urteilsvermögen (ohne dass selbst dann Fehleinschätzungen ganz vermieden werden können) der maßgeblichen Repräsentanten des jeweiligen Fachgebiets, in welchem die Leistungen erbracht wurden bzw. erwartet werden.

7.6

Beteiligung an den Entscheidungsprozessen. Zudem ist es notwendig, erfahrene Fachexperten und wissenschaftlich-technische Leistungsträger mehr als bisher maßgeblich an wichtigen forschungspolitischen, unternehmerischen und innovationspolitischen Entscheidungsprozessen und Verwaltungsakten zu beteiligen. Die Gründung des Europäischen Forschungsrates ERC ist hier ein sehr ermutigender erster Schritt, der vom Ausschuss nachdrücklich unterstützt worden ist (40). Aber auch für die Administration der Forschungs- und Innovationsförderung der Gemeinschaft (d.h. insbesondere der Kommission!) und der Mitgliedstaaten muss ausreichender fachbezogener Sachverstand eingebracht und erhalten werden. Dabei sollten insbesondere auch erfolgreiche jüngere Ingenieure und Forscher einbezogen werden. Forschungs- und Innovationsförderung muss über reine Administration hinausgehen.

7.7

Entlastung vom Übermaß fachfremder Aufgaben. Forschen, Entwickeln und Erfinden, aber auch die Aufbereitung und Weitergabe von Wissen sind zeitintensive Geistes- und Laborarbeit, die auch Phasen der ungestörten Konzentration und Besinnung benötigt. Der Ausschuss hat seit dem Jahre 2000 wiederholt darauf hingewiesen (41), dass das immer weiter anwachsende Übermaß an Gremienarbeit, Antrags- und Gutachtertätigkeit, Berichteschreiben, das heißt generell an Bürokratie etc. inzwischen für viele Experten den Großteil ihrer Arbeitszeit erfordert, diese so ihrer eigentlichen Aufgabe entzieht und damit der Innovationskraft und Leistungsfähigkeit gerade auch der herausragenden Fachvertreter schadet. Diese Fehlentwicklung wird inzwischen zunehmend auch in den Medien angeprangert (42). Der Ausschuss begrüßt die erklärte Absicht der Kommission, sich dieses Themas anzunehmen und gemeinsam mit den Mitgliedstaaten hier nach Entlastung zu suchen. Dabei ist die Forderung nach einer Beteiligung der Fachexperten an forschungspolitischen Entscheidungsprozessen kein Widerspruch zur nötigen Entlastung von bürokratischen Auflagen; sie kann diesem Ziel sogar dienlich sein. Ein konkretes Ziel sollte sein, die zahlreichen Antrags-, Berichts- und Monitoring-Verfahren für die verschiedenen Zuwendungsgeber, Partnerinstitutionen, Netzwerke sowie Kontroll- und Gutachtergremien zu vereinheitlichen und zusammenzulegen. Dies erbrächte überdies einen beachtlichen Gewinn an Transparenz.

7.8

Brain Drain und Mobility. Der Beruf des Ingenieurs oder Wissenschaftlers erfordert aus gutem Grund (siehe auch Ziffer 4.1.5) Mobilität und Flexibilität. Dies darf jedoch nicht zu Lasten der persönlichen und familiären Lebensverhältnisse und der sozialen Absicherung geschehen (43). Außerdem darf es nicht zu einer Netto-Abwanderung der Besten weg aus Europa führen. Also müssen die Berufsbedingungen innerhalb Europas attraktiv genug sein, dies zu verhindern und insgesamt zu einer zumindest ausgeglichenen Bilanz globaler Mobilität der hochqualifizierten Leistungsträger führen. Allerdings besteht auch seitens einiger Mitgliedstaaten die Besorgnis, dass innerhalb der EU ein einseitiger Braindrain entstehen könnte. Wie der Ausschuss schon mehrfach empfohlen hatte (siehe auch Ziffer 5.7) sollte daher ein deutlich größerer Teil der Mittel des gemeinschaftlichen Strukturfonds für den Ausbau wissenschaftlicher Infrastruktur zu verwendet werden, um in allen Mitgliedstaaten attraktive Forschungsstätten zu schaffen, die dann Anziehungspunkte für Rückkehrwillige und zugleich Partner in Netzwerken sein können.

7.9

Berufsbild des Unternehmers. Eine besondere Problematik stellt die Umsetzung von Forschung und Entwicklung in innovative Produkte und Prozesse dar. Nicht umsonst fordert die Zielsetzung von Lissabon, dass zwei Drittel der finanziellen Forschungsleistung von der Industrie erbracht werden sollen. In ganz besonderem Maße geht es daher auch darum, das Berufsbild des Unternehmers aufzuwerten und in seiner entscheidenden Bedeutung für Innovation, wirtschaftlichen Fortschritt und allgemeinen Wohlstand in der Gesellschaft besser zu verankern. Darum hat der Ausschuss in seiner Funktion als Brücke zur organisierten Zivilgesellschaft das Thema „Unternehmertum mit menschlichem Antlitz“ in den Mittelpunkt seines kommenden Arbeitsprogramms gestellt. Nur durch ein verantwortungsbewusstes und tatkräftiges Unternehmertum, das sich bestmöglich entfalten kann, wird es letztlich gelingen, die Ziele von Lissabon zu erreichen.

Brüssel, den 12. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  ABl. C 65 vom 17.3.2006.

(2)  ABl. C 325 vom 30.12.2006.

(3)  Möglicherweise auch mit dem chinesischen Kulturkreis.

(4)  Eine sehr ausführliche und differenzierte Darstellung dieser Prozesse findet sich in der Initiativstellungnahme des Ausschusses „Wissenschaft, Gesellschaft und Bürger in Europa“, ABl. C 221 vom 7.8.2001.

(5)  In Deutschland.

(6)  Insbesondere auch durch Reduktion der Kindersterblichkeit.

(7)  Europäischer Rat 23.-24. März 2007 — Schlussfolgerungen des Vorsitzes (Nachhaltige Energie).

(8)  

Z.B.

1)

WMO/UNEP Intergovernmental Panel on Climate Change — „Climate Change 2007: The Physical Science Basis — Summary for Policy Makers“ oder

2)

Open letter by 61 Scientists to the Canadian Prime Minister

(http://www.lavoisier.com.au/papers/articles/canadianPMletter06.html).

(9)  http://www.hm-treasury.gov.uk/independent_reviews/stern_review_economics_climate_change/sternreview_index.cfm.

(10)  ABl. C 241 vom 7.10.2002, „Forschungsbedarf im Hinblick auf eine sichere und nachhaltige Energieversorgung“. Siehe neuerdings ISBN 92-79-02688-7 „Transition to a sustainable energy system for Europe — The R&D perspective“ sowie „nature“ Vol 444, Issue no. 7119, page 519 (Nov. 2006) „Our emperors have no clothes“.

(11)  Siehe dazu auch (ABl. C 185 vom 8.8.2006).

(12)  ABl. C 65 vom 17.3.2006.

(13)  ABl. C 185 vom 8.8.2006.

(14)  Bild der Wisssenschaft 9/2006, S. 109.

(15)  Insbesondere die Einkommens- und Vertragssituationen junger Wissenschaftler und Ingenieure.

(16)  Siehe dazu die Mitteilung der Kommission KOM(2006) 728 endg. „Wege zu einer wirksameren steuerlichen Förderung von FuE“.

(17)  FAZ Nr. 49, S. 17 vom 27. Februar 2007„Zwischen Fortschritt und Stillstand“.

(18)  Siehe dazu auch Mitteilung der Kommission KOM(2006) 728 endg.: „Wege zu einer wirksameren steuerlichen Förderung von FuE.“ Dazu wird der Ausschuss eine eigene Stellungnahme erarbeiten.

(19)  Siehe dazu insbesondere (ABl. C 110 vom 30.4.2004). Historisch gesehen, waren es sogar Vorhaben in der Grundlagenforschung, denen die ersten Initiativen wissenschaftlicher Zusammenarbeit in (West-) Europa galten. Sie entstanden aus der Notwendigkeit, Zentren für Großgeräte zu errichten und eine kritische Masse zu schaffen, deren Kostenaufwand die finanzielle Fähigkeit oder Zahlungsbereitschaft der einzelnen Mitgliedstaaten überstieg.

(20)  Dabei geht es nicht so sehr um ein Erlernen und Beherrschen von sehr vielen Formeln, sondern um ein Grundverständnis der Technik und der elementaren Naturgesetze, aber doch auch um die Bedeutung quantitativer Zusammenhänge und des Nutzens der Mathematik.

(21)  A Renewed Pedagogy for the Future of Europe, Bericht der Generaldirektion Forschung, 2007 (EUR 22845), erstellt von der Expertengruppe für naturwissenschaftlichen Unterricht: Michel Rocard (Vorsitzender), Peter Csermely, Doris Jorde, Dieter Lenzen, Harriet Walberg-Henriksson, Valerie Hemmo (Berichterstatterin).

(22)  ABl. C 65 vom 17.3.2006.

(23)  ABl. C 93 vom 27.4.2007.

(24)  Siehe dazu auch Kapitel 7 von ABl. C 204 vom 18.7.2000.

(25)  ABl. C 325 vom 30.12.2006.

(26)  ABl. C 323/I vom 30.12.2006.

(27)  U.a. in ABl. C 65 vom 17.3.2006.

(28)  ABl. C 234 vom 22.9.2005.

(29)  KOM(2006) 502 endg. vom 13.9.2006„Kenntnisse in die Praxis umsetzen: eine breit angelegte Innovationsstrategie für die EU“; KOM(2006) 589 endg. vom 12.10.2006„Ein innovationsfreundliches modernes Europa“.

(30)  EUR 22005 „Creating an Innovative Europe“ ISBN 92-79-00964-8.

(31)  ABl. C 325 vom 30.12.2006.

(32)  Z.B. „Flexicurity nach dänischem Muster“ (ABl. C 195 vom 18.8.2006).

(33)  Siehe auch ABl. C 65 vom 17.3.2006, dort Ziffer 4.13.2 „Charta“ samt Fußnote.

(34)  ABl. C 325 vom 30.12.2006.

(35)  Siehe dazu auch: Kommissar Günter Verheugen, SPEECH/07/236 „Geistiges Eigentum — Antrieb für Innovation in Europa“19. April 2007.

(36)  „Forscher im europäischen Forschungsraum: ein Beruf, vielfältige Karrieremöglichkeiten“ (ABl. C 110 vom 30.4.2004).

(37)  Dabei könnte eine noch bessere Vernetzung zwischen Universitäten und außeruniversitären Forschungsinstituten hilfreich sein, insbesondere um deren Gerätschaften und Infrastruktur in die Verbindung von Forschung und Lehre einzubeziehen, aber auch um so deren neueste Erkenntnisse in die Lehre einfließen zu lassen.

(38)  Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 257, 4. November 2005, C1.

(39)  Siehe dazu auch ABl. C 110 vom 30.4.2004.

(40)  Siehe dazu auch ABl. C 110 vom 30.4.2004.

(41)  Siehe insbesondere die Punkte 9.8 von (ABl. C 204 vom 18.7.2000); dort steht z.B. unter Ziffer 9.8.2 „In diesem Sinne hat jeder erfolgreiche Wissenschaftler nur eine begrenzte Anzahl von Valenzen — und einen begrenzten Bruchteil seiner Zeit — verfügbar, um ohne Schaden für seine wissenschaftliche Leistungsfähigkeit Kontakte zu anderen Personen, Gruppen, Gremien, Kommissionen etc. wahrzunehmen und mit sinnvollen Inhalten zu erfüllen. Zu vielerlei und zu aufwendige Antragsverfahren und Begutachtungsprozeduren etc. — wenn sie dann gar noch erfolglos waren — entziehen der Forschung die Arbeitskraft der dort benötigten Personen. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass es viele, einander häufig sogar überschneidende Förderinstrumente und Evaluierungsprozeduren gibt, die auf ein einzelnes Projekt angewandt werden.“

(42)  So z.B. FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) Nr. 60 vom 12. März 2007„Ein Forscher geht“; aber auch FAZ Nr. 67 vom 20. März 2007, Interview mit Harald Uhlig.

(43)  Siehe auch (ABl. C 110 vom 30.4.2004).


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/27


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Grünbuch: Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz“

KOM(2006) 744 endg.

(2007/C 256/05)

Die Europäische Kommission beschloss am 8. Februar 2007 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen: „Grünbuch: Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 4. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr ADAMS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 12. Juli) mit 55 Ja-Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA nimmt das Grünbuch zur Kenntnis, bezweifelt aber, dass der dargelegte Ansatz zu einem hohen und einheitlichen Verbraucherschutzniveau überall in Europa führen kann. Die Gewährleistung eines solchen Schutzes durch einen vereinfachten, einheitlichen und verstärkten gemeinschaftlichen Besitzstand im Verbraucherschutz wurde mehrfach in Stellungnahmen des EWSA zum Verbraucherschutz thematisiert, es gibt jedoch Anzeichen im Rahmen dieses Überprüfungsprozesses, dass dieses Ziel schwer zu erreichen sein könnte. Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands ist somit eine praktische Übung im Rahmen der Umsetzung der Initiative „bessere Rechtsetzung“. Grundlage und Ziele dieser Übung müssen im Vorfeld unter Einbeziehung der betroffenen Kreise klar abgesteckt und einvernehmlich festgelegt werden.

1.2

Der überarbeitete gemeinschaftliche Besitzstand im Verbraucherschutz benötigt eine echte demokratische Legitimierung und eine klare rechtliche und konzeptuelle Grundlage.

1.3

Der EWSA würde insbesondere die Anwendung der Grundsätze des Besitzstandes auf das schnell wachsende und kaum regulierte digitale Umfeld begrüßen.

1.4

Der EWSA sieht Verbraucherschutzpolitik nicht nur als Bestandteil der Binnenmarktstrategie der EU, sondern auch als ein wichtiges und bekräftigendes Element der Bürgerschaft an. Er unterstützt die Umsetzung der Grundsätze für bessere Rechtsetzung bei Verbraucherschutzvorschriften. Alle Vorschläge für harmonisierte Bestimmungen in diesem Bereich sollten auf einer ordnungsgemäßen Folgenabschätzung basieren und auf die Vereinfachung und Verdeutlichung der bestehenden Bestimmungen ausgerichtet sein.

1.5

Bessere Durchsetzungsmaßnahmen sowie die Stärkung bzw. Einführung klarer und einfacher Prozesse zur Erlangung von Schadenersatz sollten als Priorität hervorgehoben werden.

1.6

Der Ausschuss fordert die Kommission auf, seine Stellungnahme vom April 2006 zum „Rechtsrahmen für die Verbraucherpolitik“  (1) zu berücksichtigen, in der vorgeschlagen wurde, die Möglichkeit zu schaffen, Verbraucherschutzmaßnahmen als solche anzunehmen und nicht nur als Begleiterscheinung im Zuge der Vollendung des Binnenmarktes.

1.7

Bei der Harmonisierung der Verbraucherschutzvorschriften innerhalb Europas muss das Leitprinzip darin bestehen, das beste und höchste Verbraucherschutzniveau zu übernehmen, das in den Mitgliedstaaten besteht. Jedes „horizontale Instrument“ sollte auf den höchsten Standards beruhen, während der Schwerpunkt der erforderlichen „vertikalen Integration“ auf der Klärung technischer Fragen liegen sollte. Dennoch könnte ein horizontales Instrument in spezifischen Bereichen, wie dem Widerrufsrecht oder der Definition des Begriffs „Verbraucher“ sowie in Bezug auf Missbrauchsklauseln, Fragen der Zustellung oder das Recht der Verbraucher auf Schadenersatz, vollständig harmonisierte Bestimmungen umfassen, während anderswo die Mindestharmonisierung angewandt würde. Es ist zu hoffen, dass dieser Ansatz sowohl von der Kommission als auch von allen Mitgliedstaaten bevorzugt wird.

2.   Einleitung

2.1

Die Kommission legte Anfang Februar 2007 ihr lang erwartetes „Grünbuch: Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz“ vor. Damit wurde die so genannte „Diagnosephase“ der Überprüfung abgeschlossen. Es werden derzeit Standpunkte zu Möglichkeiten eingeholt, wie die geltenden Gemeinschaftsvorschriften im Bereich des Verbraucherschutzes vereinfacht, modernisiert und harmonisiert werden können. Es wird die Auffassung vertreten, dass die Untersuchung der Stärken und Schwächen der bestehenden Rechtsvorschriften und entsprechende Überarbeitungen sowohl den Verbrauchern als auch den Unternehmen zugute kommen können. Die Kommission erachtet die Überprüfung auch als Gelegenheit, um für Einheitlichkeit zwischen den Mitgliedstaaten zu sorgen und — unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips — die (zum Teil bereits 20 Jahre alten) Verbraucherschutzvorschriften der EU insgesamt zu verbessern, insbesondere indem untersucht wird, wo Regelungsunterschiede bestehen und ob diese zu Binnenmarkthindernissen für Verbraucher und Unternehmen führen. Im Mittelpunkt dieser Stellungnahme steht deshalb die Frage, wie die dem gemeinschaftlichen Besitzstand im Verbraucherschutz zugrunde liegenden Themen aufgefasst und dargestellt werden. Bis jetzt liegen nur Vorschläge für Änderungen vor.

2.2

Die Verbraucherausgaben machen zwar 58 % des BIP der EU aus, sind aber noch weitgehend in 27 einzelstaatliche Märkte zergliedert. Der Binnenmarkt könnte der größte der Welt sein, und die Kommission möchte mit ihrer Strategie „einen schlummernden Riesen wachrütteln: den Einzelhandel im Binnenmarkt“  (2). Die Kommission nennt als ein Ziel ihrer derzeitigen Verbraucherpolitik die „Sicherstellung eines gleich hohen Verbraucherschutzniveaus für alle Konsumenten in der EU, unabhängig davon, wo sie ansässig sind, wohin sie reisen und wo in der EU sie ihre Einkäufe tätigendies als Schutz vor Risiken und Gefahren ihrer Sicherheit und ihrer wirtschaftlichen Interessen“  (3) .

2.3

Das Ziel der Gewährleistung einer einheitlichen Umsetzung des gemeinsamen Verbraucherrechtsrahmens in der EU findet breite Unterstützung. Ein solcher Rahmen würde eindeutige und angemessene Rechte sowie einen eindeutigen und angemessenen Schutz für alle Verbraucher ermöglichen, während er gleiche Wettbewerbsbedingungen für Anbieter von Waren und Dienstleistungen schaffen würde. Im Grünbuch über Verbraucherrechte wird ausdrücklich anerkannt, dass die bisherigen Schritte hin zu diesem Ziel langsam und uneinheitlich waren und von einer ganzen Reihe unterschiedlicher einzelstaatlicher Prioritäten und Ausnahmeregelungen behindert wurden. Die durchaus zu begrüßende Aufnahme neuer Mitgliedstaaten hat ein gemeinsames Verständnis des Verbraucherschutzes weiter erschwert. Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz spiegelt die Haltung der Kommission zu einem Prozess wider, der die Klarheit, Einheitlichkeit und Anwendung der bestehenden Richtlinien verstärken könnte. Aber viele Verbraucherorganisationen argumentieren, dass sie auch Fragen bezüglich der Richtung der Verbraucherpolitik als Ganzes aufwirft.

2.4

Die von dieser Überprüfung betroffenen Richtlinien decken eine breites Spektrum an Verbrauchervertragsrechtsthemen ab, z.B. Haustürgeschäfte, Teilzeitnutzung (Timesharing), Pauschalreisen, Fernabsatz, Warenverkauf und unlautere Vertragsbedingungen. Jedoch sind nicht alle Verbraucherschutzrichtlinien von der Überprüfung betroffen, da einige als zu neu angesehen und andere von der Kommission in einem anderen Kontext behandelt werden. Es wurde in dem Grünbuch betont, dass die Timesharing-Richtlinie dringend überarbeitet werden muss, und eine entsprechend überarbeitete Richtlinie wird in Kürze erwartet. Als wichtiger neuer Bereich, auf den die Grundsätze des gemeinschaftlichen Besitzstands angewandt werden sollten, wird das „digitale Umfeld“ hervorgehoben, das die globalen Herausforderungen für den elektronischen Handel veranschaulicht.

2.5

Die Kommission hat die Richtlinien folgendermaßen überprüft:

vergleichende Untersuchung ihrer Umsetzung in nationales Recht,

Erforschung der Einstellungen von Verbrauchern und Unternehmen,

Seminare mit Sachverständigen und Interessenträgern im Bereich Vertragsrecht aus den Mitgliedstaaten.

2.6

Die fest etablierte Terminologie derjenigen, die sich mit Verbraucherschutzfragen beschäftigen, kann möglicherweise Verwirrung stiften, weshalb bereits an dieser Stelle einige der Schlüsselbegriffe erklärt werden. „Mindestharmonisierung“ liegt vor, wenn durch eine Richtlinie verschiedene Mindestanforderungen vorgegeben werden, die von den Mitgliedstaaten durchgesetzt werden müssen. Dabei steht es den Mitgliedstaaten offen, strengere Anforderungen aufzuerlegen als die in der Richtlinie angegebenen. „Maximale“ (oder „vollständige“) Harmonisierung bedeutet, dass die Mitgliedstaaten die in der Richtlinie vorgegebenen Bestimmungen anwenden müssen und nicht weiter gehen dürfen („Harmonisierung an der unteren und der oberen Grenze“). Dadurch sind viele Verbraucherorganisationen zu der Auffassung gelangt, dass vollständige Harmonisierung mit einem Mindestniveau an Verbraucherschutz gleichzusetzen ist und Mindestharmonisierung die Möglichkeit eines wesentlich höheren Schutzniveaus bietet.

2.7

Die Veröffentlichung des Grünbuchs bildet den Abschluss der von der Kommission vorgenommenen Sondierung im Rahmen der Überprüfung. Die Kommission hat dazu aufgefordert, bis zum 15. Mai 2007 Standpunkte zum Grünbuch zu übermitteln. Derzeit wertet sie die entsprechenden Antworten aus, wird einen Meinungsspiegel erstellen und dann entscheiden, ob ein Rechtsinstrument erforderlich ist, auch wenn dies mehrere Monate in Anspruch nehmen wird. Jede Art von Legislativvorschlag wird mit einer Folgenabschätzung verbunden sein: „Endergebnis dieses Vorhabens sollte idealerweise sein, den Verbrauchern in der gesamten EU die Botschaft vermitteln zu können, dass sie 'gleich was sie, gleich wo in der EU kaufen, die gleichen grundlegenden Rechte besitzen“  (4).

3.   Zusammenfassung des Grünbuchs

3.1

Das Grünbuch soll einen Rahmen bilden, in dem die Standpunkte von Interessenträgern zu den politischen Optionen für den gemeinschaftlichen Besitzstand im Verbraucherschutz und einigen anderen spezifischen Themen zusammengetragen werden. Folgende Hauptthemen werden darin genannt:

Neue Entwicklungen am Markt: Die meisten Richtlinien, die Teil des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz sind, werden „den heutigen Anforderungen der sich rasch weiterentwickelnden Märkte größtenteils nicht mehr gerecht“. Unter den von der Kommission aufgeführten Beispielen finden sich Musik-Downloads und Online-Auktionen sowie Software und elektronische Daten, die nicht unter die Richtlinie über den Verbrauchsgüterverkauf fallen.

Rechtszersplitterung: Die derzeitigen Richtlinien ermöglichen es den Mitgliedstaaten, im nationalen Recht ein höheres Verbraucherschutzniveau sicherzustellen. In Bezug auf eine Reihe von Aspekten, wie z.B. die Länge der Widerrufsfrist eines Vertrags, ist ein Mangel an Kohärenz zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften festzustellen.

Mangel an Vertrauen: Die meisten Verbraucher glauben, dass die Verbraucherschutzvorschriften von Unternehmen in anderen Mitgliedstaaten in geringerem Maße befolgt werden.

3.2

Auf der Grundlage früherer Arbeiten schlägt die Kommission zwei positive Strategien für eine Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz vor:

Option I — der vertikale Ansatz: Im Rahmen dieses Ansatzes könnten die bestehenden Richtlinien gesondert abgeändert und im Laufe der Zeit miteinander in Einklang gebracht werden.

Option II — der kombinierte Ansatz: Im Rahmen dieses Ansatzes wäre es notwendig, Aspekte, die allen Richtlinien gemeinsam sind, zu ermitteln und herauszufiltern und sie in einem „horizontalen Instrument“ einheitlich zu regeln. Bestimmte „vertikale“ Anpassungen der einzelnen Richtlinien wären ebenfalls erforderlich.

3.3

Darüber hinaus wird eine dritte Strategie — „nichts auf legislativem Gebiet unternehmen“ — zwar kurz erwähnt, aber betont, dass dadurch die bestehenden Probleme nicht gelöst würden, sondern die Widersprüchlichkeiten zwischen den Mitgliedstaaten sogar verstärkt werden könnten.

3.4

Im Grünbuch wird zudem der mögliche Geltungsbereich eines horizontalen Instruments behandelt. Drei Optionen werden vorgeschlagen:

I.

Ein Rahmeninstrument, das ein breites Spektrum abdecken und sowohl inländische als auch grenzübergreifende Geschäftsvorgänge betreffen, aber nicht die geltenden sektorspezifischen Regelungen ersetzen würde, sodass diese in Kraft blieben. Als Beispiele werden Finanzdienstleistungen und Versicherungen genannt.

II.

Ein Instrument, das nur für grenzübergreifende Verträge gelten würde. Es würde für Verbraucher, die Waren oder Dienstleistungen außerhalb ihres Wohnlands kaufen, mehr Sicherheit und Vertrauen schaffen, aber möglicherweise auch zu unterschiedlichen Standards zwischen inländischem und grenzüberschreitendem Schutz führen.

III.

Ein horizontales Instrument, das nur auf den — grenzüberschreitenden oder inländischen — Fernabsatz angewandt würde. Dieses würde die Fernabsatzrichtlinie ersetzen, aber möglicherweise auch aufgrund des unterschiedlichen Schutzes für Fernabsatzverträge und in Anwesenheit der Vertragsparteien geschlossene Verträge zu einer Rechtszersplitterung führen.

3.5

Das nächste Thema des Grünbuchs dürfte für viele der entscheidende Aspekt der Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz sein: der Harmonisierungsgrad. Gegenwärtig können die Mitgliedstaaten höhere Verbraucherschutzniveaus festlegen als die in den Richtlinien vorgesehenen Niveaus. Dies wird als „Mindestharmonisierung“ bezeichnet. Schwerpunkt und Vorrang von Verbraucherschutzfragen variieren zwischen den Mitgliedstaaten in erheblichem Maße, wodurch Verbraucher manchmal verunsichert und Unternehmen von der internationalen Vermarktung ihrer Produkte abgehalten werden. Es werden zwei Optionen zur Prüfung vorgeschlagen:

1.

überarbeitete und vollständig harmonisierte Rechtsvorschriften, wobei bei Fragen, bei denen keine vollständige Harmonisierung möglich wäre, „für bestimmte Aspekte […], die zwar von dem vorgeschlagenen Rechtssetzungsakt erfasst, aber nicht vollständig harmonisiert wären“ eine Klausel zur gegenseitigen Anerkennung angewandt würde;

2.

überarbeitete Rechtsvorschriften auf der Grundlage einer Mindestharmonisierung in Kombination mit einer Klausel zur gegenseitigen Anerkennung oder dem Herkunftslandsprinzip (5).

3.6   Anhang I — Konsultation

Im größten Teil des Grünbuchs wird das kleinschrittige und stark strukturierte Konsultationsverfahren beschrieben, bei dem die Teilnehmer aufgefordert werden, ihre Ansichten zu einem breiten Themenspektrum zu äußern, z.B. zu allgemeinen politischen Fragen, Definitionsfragen, Vertragsrechtsfragen, Grundsatzfragen und auch Fragen des Geltungsbereichs und der Ausgestaltung. Die Konsultation beginnt mit den drei weiter oben dargelegten „politischen“ Themen:

dem Ansatz für eine allgemeine gesetzliche Regelung;

dem Geltungsbereich eines horizontalen Instruments;

dem Grad der Harmonisierung.

Die Kommission stellt zu jedem Punkt eine Schlüsselfrage und gibt drei oder vier mögliche Antworten vor. Dann folgen 27 spezifische Fragen zu den betreffenden Richtlinien. Auch hier besteht die Struktur wieder darin, kurz in das Thema einzuführen, die Hauptfrage zu stellen — z.B. „Inwieweit sollten bei missbräuchlichen Vertragsklauseln auch im Einzelnen ausgehandelte Klauseln einbezogen sein?“ oder „Sollte die Länge der Bedenkzeiten im gesamten gemeinschaftlichen Verbraucherrecht harmonisiert werden?“ — und drei oder vier Optionen für eine Antwort anzubieten.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Seit vielen Jahren unterstützt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss durch seine Arbeit und seine Stellungnahmen das primäre Ziel der EU-Verbraucherpolitik: ein hohes, einheitliches und kohärentes Schutzniveau für alle. Der Ausschuss unterstützt auch das sekundäre Ziel, die Verbraucher in die Lage zu versetzen, sich zu informieren und ihre Entscheidungen in einem Markt ohne Grenzen in Kenntnis der Sachlage zu treffen. Der Aufbau des Grünbuchs führt zwangsläufig die Schwierigkeiten bei der vollkommenen Verwirklichung dieser beiden Ziele vor Augen.

4.2

Es ist schon jetzt klar, dass die Beibehaltung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz in seiner derzeitigen Form keine langfristige Option sein sollte. Abweichungen im Recht zwischen den Mitgliedstaaten, Widersprüche in der Definition, erhebliche Unterschiede in der Anwendung und Durchsetzung der Verbraucherschutzbestimmungen sowie mangelnde Klarheit bei Beschwerde- und Abhilfeverfahren — oder allein schon ihr Vorkommen — tragen in gewisser Weise zur Schaffung von Hemmnissen für den Binnenmarkt bei.

4.3

Augenscheinlich hält die Kommission die Überprüfung für eine Gelegenheit, um einige bisher als grundlegend erachtete Aspekte der Verbraucherpolitik zu untersuchen und festzustellen, ob sie mit einem dynamischen Binnenmarkt — insbesondere einem, der im Rahmen der Globalisierung wettbewerbsfähig ist — vereinbar sind. In dieser Hinsicht gibt es Übereinstimmungen mit anderen Überprüfungen, die infolge der Umsetzung der Lissabon-Agenda eingeleitet wurden. Ein hohes und einheitliches Verbraucherschutzniveau wird von einigen als fester Bestandteil des europäischen Sozialmodells aufgefasst und eine Schwerpunktverlagerung mit dem Ziel, die „EU-Verbraucherpolitik […] [neu zu definieren], damit diese möglichst effektiv zur Verwirklichung zweier zentraler Zielsetzungen der EU beitragen kann, nämlich zur Schaffung von Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätzen sowie dazu, die EU ihren Bürgern wieder näher zu bringen (6), könnte als eine Infragestellung dieser Auffassung interpretiert werden.

4.4

Auch wenn die Aufgabe schwierig sein wird, begrüßt der EWSA die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz und unterstützt die Kommission in ihren Zielen, Binnenmarkthemmnisse zu beseitigen und gleichzeitig ein hohes Verbraucherschutzniveau aufrechtzuerhalten. Dabei darf sie sich aber seines Erachtens nicht auf die acht derzeit überprüften Richtlinien beschränken, sondern muss sich mindestens mit den 22 Richtlinien, die auf der im Mai 2003 von ihr selbst erstellten Liste stehen, befassen.

4.5

Der EWSA möchte an dieser Debatte aktiv teilnehmen, um den Binnenmarkt zugunsten aller Interessenträger — Verbraucher, Fachkräfte, Unternehmen und Bürger — zu stärken.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Im Grünbuch werden komplexe politische, Grundsatz- und Rechtsfragen aufgeworfen. Die Mitgliedstaaten haben jeweils selbst einen Rechtskorpus zum Verbraucherschutz entwickelt, dessen wesentliche Prinzipien zwar oft identisch sind, dessen Einzelheiten und Anwendung jedoch voneinander abweichen. Die systematische und breit angelegte Konsultation im Anhang des Dokuments spiegelt diese Komplexität wider. In diesem detaillierten Rahmen werden die Antworten von mehreren hundert Interessenträgerorganisationen erbeten, die ihren Standpunkt mitteilen möchten. Der EWSA hingegen beschränkt seine Bemerkungen in dieser Stellungnahme auf die zugrunde liegenden politischen Kernfragen, weil er davon ausgeht, dass er sich zu jeder einzelnen der zur Überprüfung anstehenden Richtlinien zu äußern haben wird, wie es bereits bei der Richtlinie über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz der Fall war, zu der er eine Stellungnahme abgegeben hat (Stellungnahme INT/334 zu der Mitteilung der Kommission KOM(2006) 514 endg.; Befassung vom 21.9.2006).

5.2

Höchste Priorität sollte der Beseitigung der Defizite in den bestehenden Richtlinien und ihrer Abstimmung aufeinander eingeräumt werden.

5.3

„Mindestharmonisierung“ in Kombination mit einem positiven Ansatz der Mitgliedstaaten, dessen Ziel in der Annahme wesentlich höherer Verbraucherschutzniveaus besteht, wird wahrscheinlich für die absehbare Zukunft die Grundlage für den Hauptteil des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz bilden. Aus mehreren (und unterschiedlichen) sozialen und wirtschaftlichen Gründen werden die Mitgliedstaaten entweder das bereits bestehende Verbraucherschutzniveau halten oder allmählich, im selbstbestimmten Rhythmus zu einem anderen Schutzniveau übergehen wollen. Dieser Standpunkt respektiert das Subsidiaritätsprinzip und ist wesentlich leichter mit ihm zu vereinbaren. Allerdings wird durch ihn auch die Auffassung anerkannt, dass verschiedene Verbrauchergruppen innerhalb der EU bezüglich ihres derzeitigen Schutzniveaus und ihrer Möglichkeiten, Schadenersatz zu fordern, benachteiligt sind und sowohl auf Ebene der EU als auch auf Ebene der Mitgliedstaaten gehandelt werden muss.

5.3.1

Dies bedeutet nicht, dass nicht — auf der Grundlage einer Einzelfallbewertung — in ganz bestimmten Bereichen, in denen das Interesse an der Vollendung des Binnenmarktes überwiegt, die Möglichkeit einer Höchstharmonisierung ins Auge gefasst werden könnte, vorausgesetzt, es wird dabei ein höheres Verbraucherschutzniveau, eventuell sogar im Wege von Verordnungen, gewährleistet.

5.4

Das erklärte Ziel, den Verbrauchern — bezüglich Kenntnis der Verbraucherrechte und der Fähigkeit, gegen Verkäufer zu klagen und Schadenersatz zu erlangen, — das Steuer in die Hand zu geben, sollte nicht als Alternative für einen eindeutigen und proaktiv verstärkten Schutz durch eine Kombination aus Rechtsvorschriften der EU und der Mitgliedstaaten gesehen werden. Information ist etwas ganz anderes als Schutz. In der Tat fällt das Kräftegleichgewicht bei den meisten Markttransaktionen zugunsten des Verkäufers aus und der Großteil der Verbraucherschutzvorschriften dient der Wahrung der Rechte des Käufers.

Brüssel, den 12. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  ABl. C 185 vom 8.8.2006.

(2)  http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/07/320&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en.

(3)  http://ec.europa.eu/health/ph_overview/Documents/com_2005_0115_de.pdf.

(4)  http://ec.europa.eu/consumers/cons_int/safe_shop/acquis/green-paper_cons_acquis_de.pdf.

(5)  Gegenseitige Anerkennung würde bedeuten, dass die Mitgliedstaaten weiterhin die Möglichkeit hätten, strengere Verbraucherschutzbestimmungen in nationales Recht einzuführen, ihre strengeren Anforderungen jedoch nicht in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen so auferlegen könnten, dass es zu ungerechtfertigten Beschränkungen des freien Waren- oder Dienstleistungsverkehrs käme. Die Anwendung des Herkunftslandsprinzips würde bedeuten, dass ein Mitgliedstaat weiterhin die Möglichkeit hätte, strengere Verbraucherschutzbestimmungen in nationales Recht einzuführen, in anderen Mitgliedstaaten ansässige Unternehmen jedoch nur die in ihrem Herkunftsland geltenden Bestimmungen einhalten müssten.

(6)  Meglena Kuneva, für Verbraucherschutz zuständiges Kommissionsmitglied.

http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?eference=IP/07/256&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en.


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/31


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rückspiegel von land- oder forstwirtschaftlichen Zugmaschinen auf Rädern“ — (Kodifizierte Fassung)

KOM(2007) 236 endg. — 2007/0081 (COD)

(2007/C 256/06)

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 29. Mai 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags vollkommen zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) mit 145 gegen 2 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

 

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/31


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Festlegung einer Energiepolitik für Europa (Lissabon-Strategie)“

(2007/C 256/07)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. September 2006 (bestätigt am 26. Oktober 2006) gemäß Artikel 31 seiner Geschäftsordnung, einen Informationsbericht zu folgendem Thema zu erstellen: „Festlegung einer Energiepolitik für Europa (Lissabon-Strategie)“.

Auf der Plenartagung am 14./15. März 2007 wurde beschlossen, den Informationsbericht in eine Initiativstellungnahme umzuwandeln (Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 19. Juni 2007 an. Berichterstatterin war Frau SIRKEINEN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 12. Juli) mit 126 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

1.1

Die Energie ist als Thema in den Mittelpunkt der Politik gerückt und eng mit der Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung verknüpft.

Die Energie macht einen wachsenden Teil der europäischen Wirtschaft aus. Um die energiepolitischen Herausforderungen — Klimawandel, Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit — zu bewältigen, muss sich die EU zu einer äußerst effizienten und kohlenstoffarmen Energiewirtschaft wandeln.

Daher ist ein globaler Ansatz erforderlich, und auf EU-Ebene muss über die Steuerung der Energienachfrage in Europa, über die Sicherung der Energieversorgung aus den verschiedensten Quellen, über den Netzzugang und eine einheitliche Stimme bei energiepolitischen Außenbeziehungen sowie bei anderen möglichen Maßnahmen nachgedacht werden.

Die Entwicklung und der Einsatz von Innovationen, die diesen Wandel möglich machen werden, erfordern bestimmte Voraussetzungen und spezifische Maßnahmen auf europäischer, regionaler und lokaler Ebene.

1.2

Mehr und bessere Arbeitsplätze sind das Kernziel der Lissabon-Strategie. Durch veränderte Marktbedingungen gehen einige Arbeitsplätze im Energiesektor verloren. Gleichzeitig können neue Energielösungen die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze bewirken. Die allgemeine und berufliche Bildung ist hier ein Schlüsselfaktor.

1.2.1

Neben der Beschäftigung stehen noch weitere Aspekte der sozialen Dimension der Energie im Mittelpunkt der Lissabon-Strategie. Hierzu zählen vor allem hochwertige öffentliche Dienstleistungen zu vertretbaren Preisen. Die Zivilgesellschaft, einschließlich der Sozialpartner, muss aktiv in die Gestaltung der Energiepolitik eingebunden werden.

1.3

Der EWSA legt in Zusammenarbeit mit nationalen Wirtschafts- und Sozialräten folgende energiepolitische Empfehlungen im Rahmen der Lissabon-Strategie, „Energiepolitik für eine Wissensgesellschaft“, vor:

Die Energiepolitiken und andere einschlägige Rahmenbedingungen sollten vor dem Hintergrund der EU-Ziele einer effizienten und kohlenstoffarmen Wirtschaft geprüft werden.

Es muss für gut ausgebildete und motivierte Arbeitskräfte gesorgt werden, indem ein hochwertiges Bildungssystem sichergestellt wird.

Öffentliche FuE sollte in ausreichendem Umfang, in vergleichbarer Größenordnung wie die größten Konkurrenten, sichergestellt und eine stärkere private FuE-Finanzierung sollte gefördert werden.

Die internationale Zusammenarbeit im Energiebereich sollte insbesondere mit anderen großen Akteuren ausgebaut werden. Politik und Maßnahmen im Bereich der Energietechnologie der wichtigsten Konkurrenten und Partner sollten systematisch verfolgt werden.

In der Gründungs- und Anfangsphase von KMU sowie bei Investitionen in neue Technologien sollten Risikofinanzierungen verfügbar gemacht werden.

Durch einen offenen und gesunden Wettbewerb auf dem Energiemarkt sollten die Unternehmen zu Innovationen gezwungen werden. Bei erneuerbaren Energien kann der Netzzugang der entscheidende Faktor für eine erfolgreiche Innovation sein.

Investitionshemmnisse, die dem Einsatz neuer Technologien im Wege stehen, müssen beseitigt werden. Planungs- und Genehmigungsanforderungen verlangsamen Investitionen und behindern sie teilweise sogar. Um die mit Investitionen verbundenen Risiken zu verringern, muss der Rechtsrahmen verlässlich und stabil sein.

Der Zugang neuer Technologien zum europäischen Markt und zum Weltmarkt muss sichergestellt werden.

Gleiche Ausgangsbedingungen, z.B. eine Bepreisung von CO2 auf globaler Ebene, müssen sichergestellt werden, wobei darauf zu achten ist, dass CO2 nicht als „normale“ Ware gehandelt wird, da seine reale Verringerung eine Voraussetzung für das Überleben unseres Planeten darstellt.

Ehrgeizige Ziele können zum Aufbau einer starken Stellung der EU auf dem Weltmarkt für energieeffiziente und erneuerbare Energietechnologien beitragen. Die Aufstellung von Zielen und den entsprechenden Fristen muss jedoch sorgfältig durchdacht sein, damit eine realistische Möglichkeit besteht, dass sie wirklich erreicht werden können.

Die Maßnahmen für eine aktive Unterstützung von Innovation müssen sorgfältig unter folgenden Maßnahmen ausgewählt werden, damit die Ergebnisse kostengünstig sind:

Finanzierung von FuE;

Allgemeine und berufliche Bildung;

Sensibilisierung der Öffentlichkeit;

Preismechanismen, Besteuerung;

Finanzhilfen;

Verbindliche Ziele und Verpflichtungen;

Vorschriften und verbindliche Standards;

Freiwillige Standards, freiwillige Vereinbarungen;

Öffentliches Auftragswesen.

1.4

Um die dringend erforderliche Umgestaltung des Energiesektors zu bewerkstelligen, muss das Innovationstempo anziehen. Der Ausschuss drängt darauf, folgenden Punkten besondere Aufmerksamkeit zu widmen:

Maßnahmen für eine korrekte Bepreisung von CO2-Emissionen,

der Ausweitung öffentlicher und privater FuE-Bemühungen zur Förderung neuer Energieformen und der Energieeffizienz,

Rechtsvorschriften, mit deren Hilfe auf eine raschere Steigerung der Energieeffizienz von Produkten aller Art hingewirkt wird,

eine proaktivere Nutzung des öffentlichen Beschaffungswesens, über das vor allem im Bauwesen höhere Energieeffizienznormen durchgesetzt werden.

2.   Einleitung

2.1

Der EWSA soll gemeinsam mit den nationalen Wirtschafts- und Sozialräten Anfang 2008 einen „zusammenfassenden Bericht“ zu den Prioritäten der Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung vorlegen. Diese Stellungnahme zur Energiepolitik ist Teil dieses zusammenfassenden Berichts. Sie wurde in Zusammenarbeit mit nationalen Wirtschafts- und Sozialräten erstellt, mit aktiven Beiträgen insbesondere des französischen, des italienischen und des maltesischen Wirtschafts- und Sozialrates.

2.2

Diese Stellungnahme stützt sich auf Abschnitt B — Mikroökonomische Reformen zur Stärkung des Wachstumspotenzials Europas der integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung 2005-2008. Insbesondere bezieht sie sich auf Leitlinie 8 zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, auf die Leitlinie 12 zu FuE, auf die Leitlinie 13 zu Innovation und IKT sowie auf Leitlinie 14 zur Begünstigung einer nachhaltigen Ressourcennutzung (1).

Der Europäische Rat vom März 2006

2.3

Der Europäische Rat begrüßt in den Schlussfolgerungen seiner Tagung vom 23./24. März 2006 in Brüssel „die Initiativen des Europäischen Parlaments, des Ausschusses der Regionen und des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, mit denen die Eigenverantwortung (für die neubelebte Lissabon-Strategie für Arbeitsplätze und Wachstum) auf Gemeinschaftsebene gestärkt werden soll. Er hält den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen an, ihre Arbeit fortzusetzen, und ersucht sie, Anfang 2008 zusammenfassende Berichte zur Unterstützung der Partnerschaft für Beschäftigung und Wachstum vorzulegen“ (Ziffer 12 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes).

2.4

Der Europäische Rat stellt Folgendes fest: „Die Verschärfung des Wettbewerbsdrucks von außen, die alternde Bevölkerung, höhere Energiepreise und die Notwendigkeit, die Energiesicherheit zu gewährleisten, prägen die Rahmenbedingungen“ (Ziffer 7 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes). Ferner „bekräftigt er, dass die Integrierten Leitlinien 2005-2008 für Beschäftigung und Wachstum weiterhin gültig sind. In diesem Rahmen verständigt er sich auf spezifische Bereiche für vorrangige Maßnahmen in Bezug auf Investitionen in Wissen und Innovation, auf das Unternehmerpotenzial — insbesondere von KMU — und auf Beschäftigung für vorrangige Bevölkerungsgruppen sowie die Festlegung einer Energiepolitik für Europa“ (Ziffer 16).

2.5

Zum Thema Energie hält der Europäische Rat fest, dass Europa im Energiebereich zahlreiche Herausforderungen zu bewältigen hat: die anhaltend schwierige Situation auf den Öl- und Gasmärkten, die zunehmende Abhängigkeit von Importen und die bislang noch begrenzte Diversifizierung, hohe und stark schwankende Energiepreise, die weltweit zunehmende Energienachfrage, Sicherheitsrisiken für die Erzeuger- und Transitländer sowie für die Transportrouten, die wachsende Bedrohung durch die Klimaänderungen, die langsamen Fortschritte bei der Energieeffizienz und der Nutzung erneuerbarer Energien, das Erfordernis höherer Transparenz auf den Energiemärkten und einer stärkeren Integration und Vernetzung der nationalen Energiemärkte bei einer kurz vor dem Abschluss stehenden Liberalisierung des Energiemarktes (Juli 2007), die begrenzte Abstimmung zwischen den Akteuren im Energiebereich, obwohl bedeutende Investitionen in die Energieinfrastruktur erforderlich sind (Ziffer 43).

2.6

Angesichts dieser Herausforderungen und unter Zugrundelegung des Grünbuchs der Kommission mit dem Titel „Eine europäische Strategie für nachhaltige, wettbewerbsfähige und sichere Energie“ fordert der Europäische Rat eine Energiepolitik für Europa, die auf eine effiziente Gemeinschaftspolitik, Kohärenz zwischen den Mitgliedstaaten und Stimmigkeit der Maßnahmen in verschiedenen Politikbereichen ausgerichtet ist und den drei Zielen Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Umweltverträglichkeit in ausgewogener Weise gerecht wird (Ziffer 44).

2.7

Der Europäische Rat betont, dass die Energiepolitik den Anforderungen in vielen Politikbereichen gerecht werden muss, damit diese Kohärenz in der internen und der externen EU-Politik erreicht wird. Als Teil einer Wachstumsstrategie und durch offene und wettbewerbsorientierte Märkte fördert die Energiepolitik die Investitionstätigkeit, die technologische Entwicklung sowie den Binnen- und Außenhandel. Sie ist sehr eng mit der Umweltpolitik verknüpft und steht auch in einem engen Zusammenhang mit der Beschäftigungs-, der Regional- und insbesondere der Verkehrspolitik. Außerdem gewinnen außen- und entwicklungspolitische Aspekte zunehmend an Bedeutung, wenn es darum geht, die energiepolitischen Ziele mit anderen Ländern zu fördern (Ziffer 45).

2.8

Die Energiepolitik für Europa sollte auf gemeinsamen Vorstellungen bezüglich der langfristigen Perspektiven für Angebot und Nachfrage und auf einer objektiven und transparenten Einschätzung der Vor- und Nachteile aller Energiequellen beruhen und auf ausgewogene Weise zu ihren drei Hauptzielen beitragen: (Ziffern 46 + 47).

Erhöhung der Versorgungssicherheit

Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften und der Bezahlbarkeit der Energieversorgung zum Nutzen der Unternehmen und der Verbraucher innerhalb eines stabilen Regelungsrahmens

Förderung der Umweltverträglichkeit

2.9

Bei der Erfüllung dieser Hauptziele sollte die Energiepolitik für Europa:

Transparenz und Nichtdiskriminierung auf den Märkten gewährleisten,

mit den Wettbewerbsvorschriften vereinbar sein,

mit dem öffentlichen Versorgungsauftrag vereinbar sein,

die Hoheit der Mitgliedstaaten über die primären Energiequellen uneingeschränkt wahren und die Mitgliedstaaten bei der Wahl des Energiemixes voll respektieren.

Das „Energiepaket“ 2007

2.10

Die Kommission soll ab 2007 regelmäßig eine Begutachtung der Energiestrategie unterbreiten. Am 10. Januar 2007 veröffentlichte die Kommission ihre erste Überprüfung sowie eine Mitteilung an den Europäischen Rat und das Europäische Parlament: „Eine Energiepolitik für Europa“ — das sog. „Energiepaket“.

2.11

Die Kommission geht bei einer europäischen Energiepolitik von drei Ausgangspunkten aus: Bekämpfung des Klimawandels, Förderung von Beschäftigung und Wachstum, Verringerung der durch die Abhängigkeit von Erdgas- und Erdölimporten bedingten externen Verwundbarkeit der EU.

2.12

Als grundlegendes energiepolitisches Ziel sieht die Kommission, dass die EU die Treibhausgasemissionen bis 2020 um mindestens 20 % im Vergleich zum Stand von 1990 verringern sollte. Das EU-Ziel muss im Zusammenhang mit der Notwendigkeit internationaler Maßnahmen der Industrieländer für den Klimaschutz gesehen werden. Sobald dahingehende Verpflichtungen vereinbart worden sind, muss die EU noch mehr tun. Das Ziel sollte daher höher gesteckt werden: eine 30 %ige Senkung bis 2020 und eine 60-80 %ige Senkung bis 2050.

2.13

Es geht nicht nur um den Klimawandel, sondern auch um Europas Energieversorgungssicherheit, seine Wirtschaft und das Wohlergehen seiner Bürger. Die Kommission erkennt, dass durch das Erreichen des Ziels auch die Bedrohung der EU durch eine zunehmende Volatilität der Öl- und Gaspreise verringert werden kann und ein in stärkerem Maße wettbewerbsorientierter EU-Energiemarkt entstehen kann, der Innovationstechnologien und Beschäftigung hervorbringt.

2.14

Im Energiebereich setzt das Erreichen dieses Gesamtziels für den Klimagasausstoß voraus, dass die EU ihren energieverbrauchsbedingten CO2-Ausstoß in den nächsten 13 Jahren um mindestens 20 % (voraussichtlich mehr) senkt. Die EU muss also eine weltweite Führungsrolle übernehmen, um eine neue industrielle Revolution in Gang zu setzen.

2.15

Damit dieses Ziel erreicht werden kann, schlägt die Kommission auch vor, den Schwerpunkt auf eine Reihe energiebezogener Maßnahmen zu legen: Steigerung der Energieeffizienz, Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien am Energiemix und neue Maßnahmen, durch die sichergestellt wird, dass die Vorteile des Energiebinnenmarktes allen zugute kommen, Stärkung der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die langfristige Entwicklung der Energietechnologien, mit einer erneuten Hinwendung zur nuklearen Sicherheit und Sicherheitsüberwachung und mit entschlossenen Bemühungen der EU, gegenüber ihren internationalen Partnern, einschließlich Energieerzeugern, Energieimporteuren und Entwicklungsländern, „mit einer Stimme“ zu sprechen.

2.16

Zu der Überprüfung gehört ein zehn Punkte umfassender Energieaktionsplan mit einem Zeitplan für Maßnahmen. Mit dem Aktionsplan wird ein erstes Paket konkreter Maßnahmen unterbreitet, das Folgendes umfasst:

einen Bericht über die Verwirklichung des Erdgas- und Elektrizitätsbinnenmarktes durch die Mitgliedstaaten und die Ergebnisse einer Untersuchung über die Wettbewerbslage in diesen beiden Sektoren,

einen vorrangigen Verbundplan für die Strom- und Erdgasnetze der Mitgliedstaaten, durch den das europäische Netz Wirklichkeit werden soll,

Vorschläge zur Förderung der nachhaltigen Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen,

einen Fahrplan und weitere Initiativen von Förderung erneuerbarer Energien, vor allem von Biokraftstoffen für den Verkehrssektor,

eine Analyse der Lage der Kernenergie in Europa,

ein Arbeitspapier für einen künftigen europäischen Strategieplan für Energietechnologie.

2.17

Am 19. Oktober 2006 hat die Kommission den Aktionsplan für Energieeffizienz vorgelegt, der auch Teil des Aktionsplans ist. Die Mitteilung der Kommission „Begrenzung des globalen Klimawandels auf 2 Grad CelsiusDer Weg in die Zukunft bis 2020 und darüber hinaus“ und die Überprüfung der Energiestrategie ergänzen und verstärken einander.

2.18

Der Europäische Rat billigte die Vorschläge der Kommission auf seiner Frühjahrstagung am 8./9. März 2007. Die Kommission wird nun im Sinne der Schlussfolgerungen des Rates ausführliche legislative und andere einschlägige Vorschläge ausarbeiten. Im Zuge einer zweiten Überprüfung der Energiestrategie in zwei Jahren wird über die Fortschritte berichtet werden, da sich die Staats- und Regierungschefs zu einer regelmäßigen Erörterung von Energiefragen verpflichtet haben.

Frühere Stellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) zur Energiepolitik

2.19

Der EWSA hat während seiner Mandatsperiode 2002-2006 mehrere Stellungnahmen zu energiepolitischen Themen vorgelegt, insbesondere zu den Besonderheiten und der Rolle verschiedener Energiequellen und -technologien. Auf seiner Plenartagung im September 2006 verabschiedete der EWSA schließlich eine Sondierungsstellungnahme, die sich an diese früheren Stellungnahmen anschloss, zum Thema „Die Energieversorgung der Europäischen Unioneine Strategie für einen sinnvollen Energiemix“  (2). In dieser Stellungnahme wurden viele der Themen, die vom Europäischen Rat im März 2006 angesprochen wurden, erörtert. Die wesentlichen Schlussfolgerungen dieser Stellungnahme lauteten wie folgt:

2.20

Der EWSA vertrat die Ansicht, dass sich Europa ein strategisches Ziel für einen breit gefächerten Energiemix setzen sollte, bei dem auf bestmögliche Weise Ziele in den Bereichen Wirtschaft, Versorgungssicherheit und Klimapolitik berücksichtigt werden. Alle Energiequellen und -technologien hätten im Hinblick auf diese Ziele Vor- und Nachteile, die offen erörtert und auf ausgewogene Weise berücksichtigt werden müssten.

2.21

Das Potenzial des Einsatzes von erneuerbaren Energieträgern erachte er als noch längst nicht ausgeschöpft. Doch selbst wenn das vorgeschlagene Ziel von 20 % erneuerbaren Energien bis 2020 erreicht würde, könnten erneuerbare Energieträger die herkömmlichen Energieträger in absehbarer Zukunft voraussichtlich nicht voll und ganz ersetzen.

2.22

Alle Optionen müssten offen gehalten werden. Die in der Stellungnahme dargelegten Szenarios für die EU-25 untermauerten diese Schlussfolgerung deutlich. Auch in dem Szenario, das auf der Annahme einer optimalen Entwicklung der Energieeffizienz und maximalen Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energiequellen beruhte, wurde keine Energietechnik verzichtbar, ohne dass dies negative Wirkungen entweder für die Umwelt oder für die Wirtschaft mit sich bringen würde.

2.23

Der gegenwärtige Energiemix sollte mit Hilfe politischer Strategien in Richtung einer geringeren Außenabhängigkeit und einer größeren Verfügbarkeit emissionsneutraler Quellen in Europa weiterentwickelt werden, wobei zu berücksichtigen sei, dass die Entscheidungen über Investitionen in verschiedene Technologien von den Markakteuren getroffen würden.

2.24

Der EWSA empfahl die Entwicklung einer Strategie für einen sinnvollen Energiemix. In diesem Zusammenhang sei es wichtig, die jeweilige Rolle der EU, der Mitgliedstaaten, unabhängiger Instanzen und der Marktakteure zu klären.

Es wurde empfohlen, dass die Strategie für einen sinnvollen Energiemix aus folgenden Elementen bestehen sollte:

Energieeffizienz, einschließlich der Kraft-Wärme-Kopplung;

erneuerbare Energiequellen, einschließlich der Verwendung von Biokraftstoffen im Verkehr;

Energieeffizienz im Verkehr;

Verbesserung der nuklearen Sicherheit und die Lösung des Problems der abgebrannten Brennelemente;

saubere Kohletechnologien und erneut verstärkte Verwendung einheimischer Kohlevorkommen der EU;

Förderung von Investitionen in Flüssiggasterminals;

geeignete Rahmenbedingungen für ausreichende Investitionen in die Erzeugung und den Transport von Energie;

Die EU sollte auf internationaler Ebene mit einer Stimme sprechen und ihre Position als einer der stärksten Akteure ausspielen.

Abschätzung der Auswirkungen gegenwärtiger und künftiger klima- und umweltpolitischer Maßnahmen auf die übrigen energiepolitischen Ziele

eine weltweite Post-Kyoto-Lösung, in die zumindest alle großen Emissionsverursacher einbezogen werden müssen

mehr FuE-Anstrengungen und mehr EU-Beihilfen für FuE im Energiebereich, sowohl kurz- als auch langfristig.

3.   Bemerkungen des EWSA zu einer Energiepolitik für Europa vor dem Hintergrund der Lissabon-Strategie

3.1

Energie ist eine Grundvoraussetzung in einer modernen Gesellschaft. Um unseren Bedarf an Nahrung, Heizung an kalten Tagen, Beleuchtung, Verkehr, Rohstoffen und Konsumgütern sowie an der heute zunehmend wichtigeren Telekommunikation und Informationsverarbeitung zu decken, sind wir auf eine sichere Energieversorgung angewiesen. Doch müssen und können wir die Art und Weise ändern, auf die wir diesen Bedarf decken. Angesichts der aktuellen Herausforderungen, insbesondere angesichts des Klimawandels, müssen wir dringend einen Paradigmenwechsel vollziehen, hin zu einer äußerst effizienten, kohlenstoffarmen Energiewirtschaft.

3.2

Die Energie ist eng mit der Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung verknüpft. Um die Lissabon-Ziele erreichen zu können, brauchen wir ausreichend Energie zu wettbewerbsfähigen Preisen. Gleichzeitig können neue Energielösungen, vor allem wenn sie auf dem Weltmarkt erfolgreich sind, als starke Impulsgeber für europäische Wettbewerbsfähigkeit und die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze wirken.

3.3

Die allgemeinen Ziele der Energiepolitik — Wettbewerbsfähigkeit, Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit — sind und bleiben gültig. Das ernsthafte Problem des Klimawandels erfordert eine Eindämmung der Energienachfrage durch eine sehr viel bessere Energieeffizienz und einen sehr viel höheren Anteil erneuerbarer Energien und anderer kohlenstoffarmer Energietechnologien, wie etwa in Zukunft potenziell die CO2-Abscheidung und -Speicherung. Auch eine bessere Energieeffizienz, eine Diversifizierung der Energiequellen und eine einheitliche Stimme der EU in der Außenpolitik kämen der Energieversorgungssicherheit zugute. Die Wettbewerbsfähigkeit muss über einen offenen Markt mit einem gut funktionierenden und gerechten Wettbewerb, einschließlich des Netzzugangs und unter Sicherstellung der Erbringung hochwertiger öffentlicher Dienstleistungen, gesteigert werden.

3.4

Die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen ist ein zentrales Element der Lissabon-Strategie. Da der Wettbewerb auf den Märkten insgesamt eine höhere Produktivität erfordert, müssen auch die Unternehmen auf dem Energiemarkt effizienter werden. Wenn Arbeitsplätze im Energiebereich verloren gehen, müssen die betroffenen Arbeitnehmer angemessen unterstützt werden. Gleichzeitig können Arbeitsplätze in Energie verbrauchenden Branchen erhalten und vermehrt werden. Insbesondere der Wandel hin zu einer besseren Energieeffizienz und der Umstieg auf erneuerbare Energien und andere neue Technologien werden zahlreiche und vor allem hochwertige Arbeitsplätze schaffen.

3.4.1

Die soziale Dimension der Energiepolitik muss im Rahmen der Lissabon-Strategie ausreichend berücksichtigt werden. Sie umfasst die Aspekte Beschäftigung und Arbeitsplätze sowie die Verfügbarkeit von Energie für alle zu erschwinglichen Preisen, d.h. die Sicherstellung einer hochwertigen öffentlichen Dienstleistung. Die Zivilgesellschaft, einschließlich der Sozialpartner, muss aktiv in die Gestaltung der Energiepolitik eingebunden werden.

3.5

Der EWSA hat seine Ansichten zu den oben erwähnten wesentlichen energiepolitischen Themen in jüngeren Stellungnahmen detailliert zum Ausdruck gebracht und wird demnächst eine Stellungnahme zu den legislativen und anderen spezifischen Vorschlägen erarbeiten, die von der Kommission auf der Grundlage der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zum Energiepaket vorgelegt werden sollen.

3.6

Um Doppelarbeit zu vermeiden und einen optimalen Mehrwert zu der Energiedebatte beizusteuern, konzentriert sich der EWSA in dieser Stellungnahme auf das Verhältnis zwischen der Energiepolitik und der der Lissabon-Strategie zugrunde liegenden Vision von Europa als Wissensgesellschaft. In dieser Stellungnahme wird auf die im Energiepaket enthaltenen Themen in Bezug auf Innovationen eingegangen.

Die Rolle von Technologie und Innovation bei der Bewältigung der Herausforderungen im Energiebereich in diesem Jahrhundert

3.7

Auf politischer Ebene aufgestellte Ziele und Maßnahmen bilden zwar den Rahmen, doch sind Technologie und andere Innovationen, z.B. auch Verhaltensänderungen, Schlüsselfaktoren für wirkliche Fortschritte. Dies gilt für eine Steigerung der Energieeffizienz, sowohl bei der Umwandlung als auch bei der Nutzung von Energie. Innovationen können eine wichtige Rolle bei der Verringerung der Abhängigkeit von ausländischen Energielieferungen spielen, da sie eine Diversifizierung des Energiemixes ermöglichen. Definitiv erforderlich sind Innovationen für die Verringerung der Treibhausgasemissionen, durch die Entwicklung und Nutzung erneuerbarer Energien, sauberer Kohle und anderer fossiler Brennstoffe sowie einer sicheren Kernenergie.

3.8

Innovation bedeutet Erneuerung im weitesten Sinne, d.h. die Entwicklung, breite Nutzung und wirtschaftliche Verwertung neuer Ideen. Sie umfasst technologische Innovationen wie auch neue Management- oder andere organisatorische Lösungen. Innovation findet statt in der Industrie, aber auch im Dienstleistungs- und im öffentlichen Sektor. Häufig, sicherlich aber nicht immer, geht Innovation von der Forschung aus. Hierzu verweist der Ausschuss auch auf seine Stellungnahme zum Thema „Forschungsbedarf im Hinblick auf eine sichere und nachhaltige Energieversorgung“ (3).

3.8.1

Im Blickpunkt stehen vor allem Energietechnologien, wie eine effizientere Verbrennung, Windkraftanlagen, Solarzellen oder künftig Brennstoffzellen, Wasserstofftechnologie und Fusion. Ebenso wichtig sind flankierende Technologien, wie die Werkstoffentwicklung oder die Meteorologie, die durch bessere Vorhersagen für eine effiziente Optimierung sorgt.

3.8.2

Für eine effizientere Energienutzung stehen beinahe unbegrenzte technische Möglichkeiten zur Verfügung: eine bessere Isolierung, energiesparende Geräte, leichtere Werkstoffe, eine bessere Produkt- und Verfahrensplanung in der Industrie, effizientere Maschinen. Hier ist die Rolle energieintensiver Industrien von Bedeutung: Sorgen sie nicht durch Investitionen und Fachwissen für Nachfrage, so wird die Innovation auf weiten Gebieten der energieeffizienteren Technologie für die Industrie in der EU im Keim erstickt.

3.8.3

Informations- und Kommunikationstechnologien bieten ein großes Potenzial. Angewandt in der Erzeugung, Umwandlung und Verteilung von Energie können IKT wie in jedem Prozess zu mehr Effizienz und höherer Produktivität beitragen. Gleiches gilt für einen zuverlässigen und sicheren Betrieb, insbesondere bei Übertragungsnetzen. IKT helfen Nutzern und Verbrauchern, ihren Energieverbrauch in den Griff zu bekommen. Eine Möglichkeit mit mehrfachem Nutzen wäre beispielsweise eine Reduzierung der Belastungsspitzen, indem die Nutzer unverzüglich auf Preissignale reagieren können. Allgemein könnte durch den Einsatz von IKT Verkehrsbedarf, z.B. durch Telearbeit oder Videokonferenzen, ersetzt werden.

3.8.4

Außerdem werden neue Wege — Innovationen — für den Betrieb und die Verwaltung von Energiesystemen und energieverwandten Systemen gebraucht. Das Ziel besteht hier in der Sicherstellung qualitativ hochwertiger Dienstleistungen zu einem vertretbaren Preis. Beispiele sind das Management eines sicheren Betriebs von Produktions- und Übertragungssystemen und ihrer Instandhaltung sowie der Marktbetrieb (Handel), das Spitzenlastmanagement und die Nutzung des Tageslichts. Nicht zuletzt kann eine effiziente Logistik ein wichtiger Faktor bei der Steuerung der Energienachfrage und einem besseren Brennstoffmanagement sein.

3.8.5

Auch innovatives Verhalten ist angesagt. Auf den Verbraucher kommt es an: Eine intelligentere Energienutzung ist Sache eines jeden Einzelnen, und dafür sind neue Ideen und mehr Wissen erforderlich. Eine große Herausforderung liegt in einer stärkeren Bewusstseinsbildung und geeigneten Verbraucherinformationen als Leitfaden für bewusste Entscheidungen. Die Regional- und Stadtplanung sowie architektonische Lösungen und Bauvorschriften können den Bürgern wichtige Hilfestellungen bei ihren Energieentscheidungen geben; zu diesem Zweck sollten offizielle Informationskampagnen für eine effiziente Energienutzung und Energieeinsparungen gefördert werden.

3.9

Grundlegend neue Problemlösungen werden benötigt, auch ein Wandel ist dringend erforderlich. Ein radikaler Wandel braucht Zeit, und daher ist es wichtig, unverzüglich mit der Ressourcenallokation zu beginnen. In der Zwischenzeit sollten vorhandene optimale Techniken umfassend eingesetzt werden, z.B. um den Energieverbrauch der Haushalte zu senken.

3.10

Um Innovation und Investitionen in eine kostenwirksame Richtung zu lenken, sollte die Kosteneffizienz vorgelagerter Technologien quantitativ bewertet werden. Ein wichtiges Maß sind die bei unterschiedlichen Technologien anfallenden Kosten zur Vermeidung von einer Tonne CO2 — beispielsweise sind Windkraftanlagen diesbezüglich wesentlich teurer als die Isolierung von Häusern.

Voraussetzungen und Maßnahmen der Politik für mehr Innovation

3.11

Die Schaffung und Nutzung von Innovationen erfordert bestimmte Voraussetzungen und einige spezifische politische Maßnahmen, sowohl auf lokaler, regionaler, nationaler als auch auf europäischer Ebene. Da die EU eine weltweite Führungsrolle bei Energieeffizienz und kohlenstoffarmer Technologie einnehmen will, müssen die energiepolitischen Maßnahmen und andere einschlägige Rahmenbedingungen mit Blick auf dieses Ziel durchleuchtet werden.

3.12

Die erste Voraussetzung für erfolgreiche Innovationen sind gut ausgebildete und motivierte Arbeitskräfte, unterstützt durch ein erstklassiges Bildungssystem. Die Entwicklung neuer Technologien erfordert ausreichende FuE-Bemühungen sowie eine Risikofinanzierung für die Gründungs- und die Anfangsphase von KMU. Ein gesunder und offener Wettbewerb zwingt Unternehmen zu Innovation. Der Marktzugang (auch zum globalen Markt) ist notwendig. Bei erneuerbaren Energien kann der Netzzugang der entscheidende Faktor für eine erfolgreiche Innovation sein. Der Rechtsrahmen muss so gestaltet sein, dass Innovation gefördert wird, z.B. indem Innovatoren besonders belohnt werden. (Beispiel: Das ETS belohnt diejenigen, die schon frühzeitig Maßnahmen zur Emissionsreduzierung ergriffen haben, nicht!) Durch Überregulierung wird Innovation unterdrückt.

3.12.1

Investitionen sind erforderlich, um neue Technologien zur Anwendung zu bringen. Um investieren zu können, müssen Unternehmen rentabel arbeiten. Dies gilt auch für Investitionen in bessere Energieeffizienz, selbst bei kurzer Amortisationsdauer. Zwar hat die Energiewirtschaft in den vergangenen Jahren große Gewinne verbucht, doch sind die Investitionen noch immer gering. Bekanntermaßen verlangsamen Planungs- und Genehmigungsanforderungen und Erlaubnisverfahren Investitionen und behindern sie gelegentlich sogar. Um die mit Investitionen verbundenen Risiken zu verringern, muss der Rechtsrahmen verlässlich und stabil sein. Da Investitionen in die Energieinfrastruktur häufig lange Amortisationszeiten haben, wären langfristige Verträge günstig.

3.12.2

Ein Unternehmen wird nur in die Entwicklung oder den Einsatz neuer Technologien investieren, wenn durch ausreichend große Märkte ein entsprechender Investitionsertrag gesichert ist. In den meisten Fällen sind die nationalen Märkte hierfür nicht groß genug — der Zugang zu globalen Märkten wird zunehmend zur Voraussetzung für die Tätigung von Investitionen. Ebenso relevant sind die Nachfrage auf dem Weltmarkt und gleiche Ausgangsbedingungen. Einseitige Maßnahmen der EU schaffen keine Nachfrage an anderen Orten in der Welt, auch wenn dies langfristig so sein kann. Beispielsweise kann eine Bepreisung von CO2 ein wichtiger Anreiz sein, doch müsste dies auf globaler Ebene erfolgen.

3.12.3

Die starke Stellung der EU auf dem Weltmarkt für energieeffiziente und erneuerbare Energietechnologien sollte weiter ausgebaut und gestärkt werden. Das Ziel der EU, zum Vorreiter in der Klimapolitik zu werden und dafür ehrgeizige Ziele für die Energieeffizienz und die Nutzung erneuerbarer Energien zu setzen, kann hierzu beitragen. Dies geht jedoch nicht automatisch. Die Aufstellung von Zielen und den entsprechenden Fristen muss sorgfältig durchdacht sein, damit eine realistische Möglichkeit besteht, dass sie wirklich erreicht werden können — ansonsten könnten nur zusätzliche Kosten und möglicherweise Arbeitsplatzverluste das Ergebnis sein. Beispielsweise müssen einschlägige Technologien in der Entwicklungspipeline so weit gediehen sein, dass sie rechtzeitig einsatzbereit sind. Auch sind Investitionszyklen in verschiedenen Branchen zu berücksichtigen.

3.12.4

Die EU scheint einen Schwerpunkt auf Marktinterventionen als Mittel zur Innovationsförderung zu legen, was u.U. aber nicht ausreicht. Die USA und andere Länder setzen stärker auf die öffentliche Finanzierung von FuE. Sowohl die öffentliche als auch die private FuE-Förderung muss in Europa ausgebaut werden. Die technologische Zusammenarbeit mit den anderen Hauptakteuren muss ausgeweitet und ihre Politik und Maßnahmen sollten systematisch verfolgt werden. In Europa ist eine intensivere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten erforderlich, und die Bemühungen auf einzelstaatlicher und auf EU-Ebene müssen besser koordiniert werden, ohne den Wettbewerb dabei auszuschalten. Eine engere Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Forschung und den Unternehmen muss gefördert werden, sowohl bei der Planung als auch bei der Durchführung von Forschungsagenden, um sicherzustellen, dass Forschungsbemühungen auch Innovationen hervorbringen. Das geplante Europäische Technologieinstitut (ETI) könnte hier eine Rolle übernehmen.

3.13

Für eine aktive Unterstützung von Innovationen ist normalerweise eine Kombination von Instrumenten erforderlich. Unterschiedliche Entwicklungsphasen und Marktsituationen erfordern auch unterschiedliche Instrumente, um einen Erfolg sicherzustellen. Unter Berücksichtigung der für eine erfolgreiche Markteinführung von Innovationen erforderlichen Maßnahmen können Technologien z.B. in drei Kategorien aufgeteilt werden:

1)

Weit weg vom Markt, in der FuE-Phase: Hier ist eine gezielte Unterstützung für FuE und Demonstration erforderlich. Preissignale, wie z.B. die Bepreisung von CO2, sind nicht ausreichend.

2)

Nah am Markt, eine funktionierende Technik, die jedoch immer noch zu teuer für den Markt ist: Die Bepreisung von CO2 kann der richtige Anreiz sein, ebenso wie eine gezielte Unterstützung, um eine rasche Nachfragesteigerung und somit ein großes Produktionsvolumen sicherzustellen.

3)

Ein gutes Produkt auf dem Markt, jedoch geringe Nachfrage (Beispiele sind unter den energieeffizienten Technologien zu finden): Hier sind vor allem Sensibilisierungsmaßnahmen gefragt, wobei Energieauditsysteme u.Ä. helfen können.

3.14

Auf EU-Ebene sowie auf der nationalen und regionalen Ebene steht eine große Auswahl an Maßnahmen und Instrumenten zur Verfügung. Die Maßnahmen für spezifische Ziele müssen sehr sorgfältig ausgewählt werden, um auf möglichst kostenwirksame Weise zu Ergebnissen zu gelangen. Die Handlungsgeschwindigkeit sollte kritisch bewertet werden, um Ressourcenverschwendung und unbeabsichtigte Nebenwirkungen zu vermeiden. Maßnahmen, die eindeutig direkten und indirekten Zielen dienen — sog. „No-regrets“-Maßnahmen -, sollten so rasch wie möglich umgesetzt werden. Kompliziertere, häufig neuartige Maßnahmen, wie z.B. Maßnahmen für eine Bepreisung von CO2, sollten zunächst sorgfältig geprüft werden. Um Komplikationen, unerwartete Nebenwirkungen und suboptimale Lösungen zu vermeiden, sollten für ein Ziel nicht mehrere Maßnahmen gewählt werden. Bei der Auswahl der einzusetzenden Maßnahmen muss auch das effiziente Funktionieren des Binnenmarktes berücksichtigt werden, was bislang nicht immer der Fall war.

3.14.1

Finanzierung von FuE: Hierzu verweist der Ausschuss insbesondere auf seine Stellungnahme zum Thema „Investitionen in Wissen und Innovation (Lissabon-Strategie)“ INT/325. Die EU als solche hinkt eindeutig hinter den USA und einigen anderen starken Konkurrenten her. Im 7. Rahmenprogramm sind insgesamt ca. 4 Mrd. EUR über sieben Jahre verteilt für Energie (mit Ausnahme des ITER-Baus) vorgesehen, während die US Energy Bill allein für 2007 im US-Bundeshaushalt 4,4 Mrd. US-Dollar (mit einem Anstieg in den kommenden Jahren) vorsieht. Neben der Aufstockung öffentlicher Mittel für FuE im Energiebereich sollten auch Anreize für mehr private Investitionen in FuE in diesem Bereich gegeben und gleichzeitig die Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten gefördert werden.

3.14.2

Allgemeine und berufliche Bildung: Zusätzlich zu den Bemühungen um eine Verbesserung der Qualität der allgemeinen und beruflichen Bildung in Europa muss die Energiebranche jungen Leuten als attraktive und aussichtsreiche Berufsmöglichkeit vermittelt werden. Angesichts des immer rascheren technologischen Wandels ist das lebenslange Lernen von grundlegender Bedeutung.

3.14.3

Sensibilisierung der Öffentlichkeit: Es ist eine große Herausforderung, unser aller Verhalten hin zu einer intelligenteren Energienutzung zu ändern. Hier sind die Schulen und Kampagnen gefragt. Mit der diesbezüglichen Sensibilisierung der Bürgerinnen und Bürger von morgen könnte bereits in der Grundschule begonnen werden, da die Kinder sehr empfänglich für die Thematik der Zukunft unseres Planeten sind und auch aktiv etwas beitragen möchten. Am Arbeitsplatz und in Unternehmen haben Energieaudits, z.B. auf der Grundlage freiwilliger Vereinbarungen, gute Ergebnisse hervorgebracht.

3.14.4

Preismechanismen, Besteuerung: Preissignale können, wenn sie sorgfältig angelegt sind, Innovationen durch die Steuerung von Verbraucherentscheidungen wirksam unterstützen. Als Mittel für eine allgemeine Senkung des Energieverbrauchs sind höhere Preise allerdings nicht sehr wirksam — bekanntermaßen ist die Preiselastizität bei Energie allgemein gering.

3.14.5

Finanzhilfen: Gezielte Finanzhilfen können wirksame Entscheidungshilfe leisten. Zu Beginn der Lernkurve sind häufig Finanzhilfen nötig, um die ansonsten zu hohen Risiken auszugleichen. Um den Wettbewerb nicht zu verzerren, können sie nur im Rahmen bestehender EU-Vorschriften, d.h. bei Marktversagen, eingesetzt werden. Finanzhilfen müssen zeitlich befristet sein und allmählich abgebaut werden. Zur Förderung der Energieeffizienz müssen geeignete Anreize entwickelt werden, um über die Mehrkosten bei der Anschaffung energieeffizienter Geräte, die sich häufig bereits nach kurzer Zeit amortisieren, hinweg zu helfen.

3.14.6

Auf politischer Ebene aufgestellte Ziele und Verpflichtungen: Sie geben ein Signal für die gewünschte Richtung einer Entwicklung. Ebenso wichtig für Investitionsentscheidungen sind die tatsächlichen politischen Instrumente, die für das Erreichen der Ziele eingesetzt werden. Bei der Aufstellung von Zielen ist zu berücksichtigen, dass normalerweise einige Wirtschaftsbereiche profitieren, während andere das Nachsehen haben. Bei übermäßig ehrgeizigen Zielen kann der Schaden größer als der Nutzen sein. Derzeit scheint die Tendenz dahin zu gehen, dass ein Globalziel und zusätzlich noch mit diesem Ziel verbundene Unterziele aufgestellt werden, z.B. Ziele für die Verringerung des CO2-Ausstoßes; und um diese Ziele zu erreichen, werden dann noch Ziele für den vermehrten Einsatz erneuerbarer Energien aufgestellt. Dies könnte zu suboptimalen Lösungen bei der Verwirklichung des Globalziels führen. Sowohl für die Ziele als auch für speziell ausgewählte Instrumente sind sorgfältige Folgenabschätzungen erforderlich, wie z.B. Vereinbarungen mit der Industrie in Deutschland und Finnland.

3.14.7

Emissionshandel, grüne/weiße Zertifikate: Dies sind wirkungsvolle Instrumente, die, wenn sie sorgfältig geplant sind, das angestrebte Ziel erreichen. Die Kosten sind jedoch im Voraus schwer einschätzbar und können sehr unterschiedlich hoch ausfallen. Je größer der Markt ist und je mehr Marktakteure mit Rechten oder Zertifikaten handeln, desto besser. Wenn das System auf Unternehmen angewandt würde, die global tätig sind, müsste auch das System global angelegt sein, um den Wettbewerb nicht zu verzerren.

3.14.8

Vorschriften oder verbindliche Standards: Sorgfältig geplante Vorschriften können Innovation fördern. Insbesondere können mit Vorschriften auf wirkungsvolle Art überholte Technologien ausrangiert werden. Durch die Aufstellung ehrgeiziger mittelfristiger Ziele zur Anhebung der Effizienzstandards kann die Innovation auf die Energieeffizienz von Produkten ausgerichtet werden. Die Gefahr Innovationen zu unterdrücken besteht jedoch immer. In jedem Fall muss jedoch sichergestellt sein, dass durch Vorschriften keine Markthindernisse geschaffen werden.

3.14.9

Freiwillige Standards, freiwillige Vereinbarungen, Zertifizierung: Dies sind innovationsfreundliche politische Instrumente. Sie führen zwar vielleicht nicht immer zum exakten, ursprünglich angestrebten Ziel, doch ermöglichen sie große Fortschritte bei der Innovation, und das praktisch ohne negative Nebeneffekte.

3.14.10

Öffentliches Auftragswesen: Öffentliche Ausschreibungen können eine wichtige Rolle für die Innovationsförderung im Energiebereich spielen. Diesbezügliche Verfahren sollten entwickelt und umfassend verbreitet werden. Eine „grünere“ Beschaffung erfordert normalerweise die Anwendung des Lebenszyklus-Ansatzes; für dieses und andere neue Verfahren benötigen die Behörden häufig Schulungen. Die einzuhaltenden EU-Rechtsvorschriften im Beschaffungsbereich sehen durch die Vorgabe von Lösungen auf dem neuesten Stand der Technik eine zunehmend „grüne“ Beschaffung vor.

3.14.11

Um die dringend erforderliche Umgestaltung des Energiesektors zu bewerkstelligen, muss das Innovationstempo anziehen. Der Ausschuss drängt darauf, folgenden Punkten besondere Aufmerksamkeit zu widmen:

Maßnahmen für eine korrekte Bepreisung von CO2-Emissionen,

der Ausweitung öffentlicher und privater FuE-Bemühungen zur Förderung neuer Energieformen und der Energieeffizienz,

Rechtsvorschriften, mit deren Hilfe auf eine raschere Steigerung der Energieeffizienz von Produkten aller Art hingewirkt wird,

eine proaktivere Nutzung des öffentlichen Beschaffungswesens, über das vor allem im Bauwesen höhere Energieeffizienznormen durchgesetzt werden.

Brüssel, den 12. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  KOM(2005) 141 endg., Integrierte Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung.

(2)  ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 185.

(3)  ABl. C 241 vom 7.10.2007, S. 13.


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/39


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems der Gemeinschaft“ (kodifizierte Fassung)

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 881/2004 zur Errichtung einer Europäischen Eisenbahnagentur“

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2004/49/EG über die Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft“

KOM(2006) 783 endg. — 2006/0273 (COD)

KOM(2006) 785 endg. — 2006/0274 (COD)

KOM(2006) 784 endg. — 2006/0272 (COD)

(2007/C 256/08)

Der Rat beschloss am 16. Januar 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 71 und 156 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlagen zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 19. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr CONFALONIERI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) mit 137 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Vorschläge

zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 881/2004 zur Errichtung einer Europäischen Eisenbahnagentur;

zur Änderung der Richtlinie 2004/49/EG über die Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft;

für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems der Gemeinschaft;

scheinen der Absicht zu entsprechen, den Zugang der Unternehmen zum europäischen Eisenbahnsystem zu erleichtern.

Sie

vereinfachen die Zertifizierungsverfahren für rollendes Material des interoperablen Systems;

vereinheitlichen den Großteil der nationalen Überprüfungen von rollendem Material, Instandhaltungsprozessen, Verkehrs- und Instandhaltungsunternehmen;

schaffen ein umfassendes Vergleichssystem für nationale Zertifizierungsnormen, einschließlich der nicht von den technischen Spezifikationen für die Interoperabilität (TSI) abgedeckten Parameter.

1.2

Der EWSA begrüßt das Ziel, das Inbetriebnahmeverfahren zu vereinfachen.

1.3

Der EWSA ist der Ansicht, dass diese Vereinfachungen zu einer stärkeren Nutzung des europäischen Eisenbahnsystems führen werden, so dass eine Verkehrsverlagerung weg von den anderen Verkehrsträgern eintreten, ein Beitrag zur Verbesserung der Umwelt erfolgen und eine Nutzung der in den EU-Energieplänen propagierten Energiequellen stattfinden wird.

1.4

Der EWSA legt Wert darauf, dass die künftige Anwendung der europäischen Interoperabilitätsstandards und die Aufteilung der Zertifizierungskontrollen zwischen nationalen und gemeinschaftlichen Stellen keine Sicherheitsrisiken verursachen.

1.5

Der EWSA empfiehlt insbesondere, dass die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen den durch das neue System eingerichteten Stellen umsichtig gehandhabt wird.

1.6

Der EWSA ist der Ansicht, dass für Güter- und Reisezugwagen, die nach Inkrafttreten der Richtlinie in Betrieb genommen werden, eine einzige, von einem EU-Mitgliedstaat erteilte Inbetriebnahmegenehmigung ausreicht. Die neue Verordnung über die Europäische Eisenbahnagentur ermöglicht den Eisenbahnunternehmen, Infrastrukturbetreibern, Fahrzeughaltern, vor allem aber den Stellen der nationalen Zertifizierung Folgendes:

Verkürzung der Zertifizierungszeiten

Verringerung der Zahl der Überprüfungen durch Beseitigung einzelstaatlicher Wiederholungen bei gemeinsamen Standards

Tätigwerden innerhalb eines einheitlichen Rechtsrahmens und Nutzung der technischen Hinweise der Agentur.

1.7

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Agentur aufgrund ihrer künftigen Maßnahmen als Leitungsorgan für die Schaffung des europäischen Eisenbahnsystems (bestehend aus dem Hochgeschwindigkeitsnetz (HG-Netz), den transeuropäischen Verkehrskorridoren und künftig aus allen übrigen nationalen Netzen) fungieren wird: durch Koordinierung und Ausdehnung des Europäischen Eisenbahnverkehrsleitsystem (ERTMS), Veröffentlichung des Vergleichssystems für nationale Normen und technische Unterstützung für nationale Zertifizierungsstellen.

1.8

Aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Europäischen Agentur als Orientierungs- und Kontrollorgan des Interoperabilitätsprozesses im Eisenbahnverkehr und des technologischen Wandels müssen zugleich die Aufgaben der Stellen für nationale Zertifizierung teilweise geändert werden.

1.9

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Möglichkeit eines gemeinsamen und von den Mitgliedstaaten getragenen europäischen Verzeichnisses über Beeinträchtigungen der Verkehrssicherheit zu erwägen, um die Wissensgrundlage für gemeinsame Parameter zu schaffen.

1.10

Die erhoffte Wirkung ist die Schaffung eines europäischen Marktes für Fahrzeuge, für Instandhaltungsarbeiten der Systeme und des rollenden Materials sowie für die mit der Verwaltung der Verkehrsdienste betrauten Humanressourcen.

1.11

Diese Entwicklung wird den europäischen Eisenbahntechnikherstellern eine einmalige Chance bieten, vor allem wenn im Rahmen der technischen TSI-Entscheidungen eine angemessene Herstellerzahl zur Gewährleistung eines wettbewerbsfähigen europäischen Marktes für rollendes Material (und Instandhaltung) aufrechterhalten werden kann.

1.12

Der EWSA empfiehlt, dass für rollendes Material, das vor dem Inkrafttreten der Richtlinie in Betrieb genommen wird und das keine EG-Prüferklärung aufweist, die Anwendung der Eisenbahnsicherheitsrichtlinie für die Eisenbahnunternehmen keine administrativen Nachteile mit sich bringt.

1.13

Der EWSA ist der Ansicht, dass in den Ländern des Europäischen Statistiksystems (ESS) nationale Zertifizierungsstellen vorgesehen werden müssen.

1.14

Im Rahmen der Analyse der Ausnahmeregelungen von den TSI müssen — im Hinblick auf das wirtschaftliche Gleichgewicht des Projekts — insbesondere die Auswirkungen der gemeinschaftlichen Kofinanzierung auf die ökonomische Machbarkeit des betreffenden Projekts untersucht werden.

1.15

Nach Ansicht des EWSA können die Ausnahmeregelungen nicht für jede einzelne TSI, sondern nur für das gesamte System aller TSI analysiert werden.

1.16

Der EWSA empfiehlt, für die Veröffentlichung der TSI seitens der Agentur die gegenwärtige Sprachenregelung anzuwenden.

Seiner Ansicht nach sind die Bewertungen und Stellungnahmen der Agentur für sämtliche Herstellungs- und Erneuerungsarbeiten anzufordern, auch wenn sie nicht von der Europäischen Gemeinschaft finanziert werden, um sowohl die nationalen als auch die gemeinschaftlichen Maßnahmen auf das europäische Sicherheitssystems auszurichten.

1.17

Nach Ansicht des EWSA sollte die Möglichkeit, von der Europäischen Agentur Stellungnahmen anzufordern, auf alle interessierten Kreise ausgedehnt werden, auch wenn sie den Bewertungen der nationalen Zertifizierungsstellen widersprechen. Der Zugang sollte insbesondere den Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft und den einschlägigen Arbeitnehmerorganisationen garantiert werden.

2.   Begründungen und Bemerkungen

2.1   Wesentliche Punkte und allgemeiner Kontext des Vorschlags

2.1.1

Der schrittweise Aufbau eines europäischen Eisenbahnraums ohne Grenzen erfordert die technische Regelung derjenigen Aspekte, die mit der Sicherheit, dem Betrieb und den Verfahren des Systemzugangs zusammen hängen.

2.1.2

Die Richtlinien 91/440/EWG des Rates vom 29. Juli 1991, 95/18/EG des Rates vom 19. Juni 1995 sowie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft sehen die schrittweise Öffnung der Zugangsrechte zur gemeinschaftlichen Infrastruktur für sämtliche Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft vor, die Inhaber einer von einem Mitgliedstaat ausgestellten Genehmigung sind und Güterverkehrsleistungen innerhalb eines neuen Bezugsrahmens erbringen wollen.

2.1.3

Das gleichzeitige Verfolgen von Sicherheits- und Interoperabilitätszielen erfordert technische Arbeiten, die von einer Facheinrichtung geleitet werden sollten. Daher wurde eine Europäische Eisenbahnagentur für Sicherheit und Interoperabilität eingerichtet.

2.1.4

Die wichtigsten Ziele der Tätigkeit der Agentur sind folgende:

Förderung der Errichtung eines europäischen Eisenbahnraums, Beitrag zur Wiederankurbelung des Sektors, Stärkung der Sicherheit;

Entwicklung gemeinsamer Sicherheitsindikatoren, -ziele und -verfahren;

Erleichterung der Ausstellung von Sicherheitsbescheinigungen an Eisenbahnunternehmen;

Gewährleistung einer größtmöglichen Transparenz und eines zuverlässigen Informationsflusses;

Kontinuität für die Arbeiten und die Weiterentwicklung der TSI im Laufe der Zeit in einem ständigen fachlichen Rahmen;

Verbesserung der Interoperabilität des transeuropäischen Netzes über neue von der Gemeinschaft unterstützte Investitionsvorhaben unter Achtung des Interoperabilitätsziels;

Förderung der Schaffung einer Regelung für die Zertifizierung von Ausbesserungswerken;

Leistung der erforderlichen technischen Unterstützung zur gebührenden Berücksichtigung auf europäischer Ebene der Anforderungen an die berufliche Qualifikation von Triebfahrzeugführern;

Leistung technischer Unterstützung bei der Einführung eines Systems für die Fahrzeugeinstellung zur Anerkennung der Fahrtauglichkeit des rollenden Materials unter bestimmten Bedingungen;

Sicherstellung größtmöglicher Transparenz und eines gleichberechtigten Zugangs aller Beteiligten zu den einschlägigen Informationen;

Förderung der Innovation im Bereich der Eisenbahnsicherheit und Interoperabilität.

2.1.5

Die nationalen Zulassungsverfahren für Lokomotiven werden derzeit als eines der größten Hindernisse bei der Neugründung von Unternehmen im Schienengüterverkehr und als starke Bremse der Interoperabilität des europäischen Eisenbahnsystems angesehen.

2.1.6

Da kein Mitgliedstaat eigenmächtig über die Gültigkeit der von ihm erteilten Inbetriebnahmegenehmigung auf dem Gebiet anderer Mitgliedstaaten bestimmen kann, bedarf es einer Gemeinschaftsinitiative zur Harmonisierung und Vereinfachung der einzelstaatlichen Verfahren sowie zur systematischeren Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung.

2.1.7

Des Weiteren beabsichtigt die Kommission, im Rahmen des Programms zur Vereinfachung der Rechtsvorschriften die Richtlinien über die Eisenbahninteroperabilität zu konsolidieren und zu bündeln, um ein einheitliches Regelwerk für das europäische Eisenbahnsystem zu schaffen.

2.1.8

Diese Initiativen können durch eine Senkung der Kosten der Eisenbahntransportkette die Wettbewerbsfähigkeit des Verkehrssektors steigern.

2.2   Europäische Eisenbahnagentur

2.2.1

Die Agentur vereinfacht das Zertifizierungsverfahren für in Betrieb befindliches rollendes Material und entwickelt ein Referenzinstrument, mit dem die Übereinstimmung zwischen den einzelnen nationalen Vorschriften ermittelt werden kann.

2.2.2

Bei Infrastrukturvorhaben und rollendem Material prüft die Agentur Anträge auf Gemeinschaftszuschüsse auf ihre „Interoperabilität“ hin.

2.2.3

Die Agentur bewertet die Beziehungen zwischen den Fahrzeughaltern und Eisenbahnunternehmen (früheres Übereinkommen zwischen Eisenbahnunternehmen über die gegenseitige Benutzung von Fahrzeugen im internationalen Verkehr (RIV-Übereinkommen), vor allem in Bezug auf die Instandhaltung, und legt der Kommission Empfehlungen zu ihrer Regelung vor.

2.2.4

Die Agentur spricht Empfehlungen zu gemeinsamen Kriterien für die berufliche Befähigung und die Beurteilung des Betriebs- und Instandhaltungspersonals aus.

2.2.5

Im Rahmen des ERTMS-Projekts fungiert die Agentur als Systembehörde.

2.3   Interoperabilität

2.3.1

Der Vorschlag dient der Vereinfachung und Modernisierung des Regelungsrahmens in Europa. In diesem Zusammenhang werden die Kodifizierung und Zusammenfassung der geltenden Richtlinien über die Eisenbahninteroperabilität vorgeschlagen.

2.3.2

Gestützt auf ihre zehnjährige Erfahrung mit der Umsetzung der Interoperabilitätsrichtlinien schlägt die Kommission ferner eine Reihe von Verbesserungen der technischen Aspekte des Regelungsrahmens vor.

2.4   Sicherheit des europäischen Eisenbahnsystems

2.4.1

Mit der Änderung von Artikel 14 der Eisenbahnsicherheitsrichtlinie wird präzisiert, welcher Teil einer Genehmigung der gegenseitigen Anerkennung bedarf und welcher Teil strikt mit der Vereinbarkeit des betreffenden Fahrzeugs mit der jeweiligen Infrastruktur in Zusammenhang steht.

2.4.2

Konsequenzen der Änderungen der Bestimmungen:

Bei jeder Inbetriebnahme eines Fahrzeugs muss ein „Verantwortlicher“ für die Instandhaltung eindeutig angegeben werden;

das Eisenbahnunternehmen muss nachweisen, dass die geltenden Vorschriften beim Betrieb und bei der Instandhaltung der von ihm benutzten Fahrzeuge eingehalten werden;

die Eisenbahnunternehmen erläutern, welches System und welche Verfahren sie verwenden, um sicherzustellen, dass die Eisenbahnsicherheit durch den Einsatz von Fahrzeugen verschiedener Halter nicht beeinträchtigt wird;

die Agentur bewertet die von den Eisenbahnunternehmen eingerichteten Verfahren für ihre Beziehungen mit den Fahrzeughaltern.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Europäische Eisenbahnagentur

3.1.1

Die Wesensmerkmale des Eisenbahnsystems sind dergestalt, dass sämtliche Elemente zur Systemsicherheit beitragen.

3.1.2

Wenn der Tätigkeitsbereich der Agentur vom Interoperabilitäts- auf das Sicherheitssystem ausgedehnt wird, werden ihre Zuständigkeiten mit der Zeit sämtliche Sicherheitsaspekte umfassen.

3.1.3

Der Gedanke liegt nahe, dass es am Ende des Prozesses ein einziges Gemeinschaftssystem und eine einzige Eisenbahnagentur geben wird.

3.1.4

Die Phase des Vergleichs der einzelnen Rechtsvorschriften ist als einer der notwendigen Schritte in diese Richtung anzusehen.

3.1.5

Die unterschiedlichen Auswirkungen der TSI-Entscheidungen und der neuen Zertifizierungsverfahren auf die einzelnen Mitgliedstaaten, Infrastrukturbetreiber, Eisenbahnunternehmen sowie Fahrzeughalter und ihre Endkunden müssen bewertet werden.

3.1.6

Die Wahrung des wirtschaftlichen Gleichgewichts der einzelnen nationalen Netze und der einzelnen Marktakteure ist zu berücksichtigen — vor allem in den Phasen der Harmonisierung der technischen Normen und der Zertifizierungsverfahren.

3.1.7

Die Agentur hat die Aufgabe erhalten, auch ohne finanzielle Anreize Orientierungshilfe für technologische Entscheidungen über ein der — derzeitigen und künftigen — Interoperabilität offen stehendes Netz zu leisten.

3.1.8

Es ist zu berücksichtigen, dass die Zuständigkeit der Agentur — entsprechend dem Vorschlag für eine Interoperabilitätsrichtlinie — künftig auf das gesamte Eisenbahnnetz der Gemeinschaft ausgedehnt wird.

3.2   Interoperabilität

3.2.1

Der Richtlinienvorschlag sieht eine Vereinfachung der TSI für das HG- und für das traditionelle System vor, wenn diese vergleichbar sind.

3.2.2

Der Richtlinienvorschlag umfasst eine Ausdehnung des Geltungsbereichs der TSI über das HG-Netz und die TEN-Korridore (Transeuropäische Netzkorridore) hinaus, um — von Ausnahmen abgesehen — alle nationalen Netze abzudecken.

3.2.3

Diese Ausdehnung bedeutet eine Kehrtwende in der Politik der technologischen Entwicklung des europäischen Eisenbahnsystems hin zu einem einzigen europäischen Netz. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen und strategischen Auswirkungen sind stärker als in der Begründung des Vorschlags angegeben.

3.2.4

Entscheidungen darüber, welcherlei TSI für neue Projekte und umfangreiche Anpassungen der bestehenden Infrastrukturen anzuwenden sind, fallen großenteils in die Zuständigkeit der Gemeinschaft.

3.2.5

Gemeinschaftsbeschlüsse über die Bestimmung und Weiterentwicklung der TSI in Zusammenhang mit der derzeitigen Lage jedes Mitgliedstaates haben starke wirtschaftliche Auswirkungen auf die Planung der Technologie- und Infrastrukturinvestitionen der einzelnen Mitgliedstaaten.

3.2.6

Eine wirtschaftliche Bewertung der Auswirkungen der neuen TSI für jeden Mitgliedstaat erscheint notwendig; auf dieser Grundlage ist zu entscheiden, ob ihre Übernahme zweckmäßig ist.

3.2.7

Diese Evaluierung sollte für TSI mit Auswirkungen auf öffentliche Investitionen der Mitgliedstaaten und für TSI mit Auswirkungen auf Investitionen von Eisenbahnunternehmen und privaten Betreibern unterschiedlich ablaufen.

3.2.8

Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der TSI auf das gesamte europäische Eisenbahnnetz — von Ausnahmen abgesehen — lässt auch an ein neues System der Beziehungen zwischen der Europäischen Eisenbahnagentur und den Zertifizierungsstellen der einzelnen Mitgliedstaaten denken.

3.2.9

Letztere werden ihre Tätigkeit künftig wahrscheinlich auf die Zertifizierung für Unternehmen und Betreiber statt auf die Steuerung der Entwicklung technologischer Standards konzentrieren.

3.2.10

Die Modifizierung der Sicherheitsrichtlinie ist eine der technischen Änderungen zur Erreichung des Ziels, den Verkehr interoperablen rollenden Materials zu erleichtern.

3.2.11

Zugleich wird das neue Konzept des „Güterwagenhalters“ eingeführt.

3.2.12

Die Zertifizierung des rollenden Materials läuft so ab, dass es je nach den verschiedenen technischen Parametern von unterschiedlichen Stellen bewertet wird.

3.2.13

Die von den TSI abgedeckten Parameter werden von jeder beliebigen nationalen Zertifizierungsstelle zertifiziert.

3.2.14

Die zusätzlichen einzelstaatlichen Parameter werden von der nationalen Zertifizierungsstelle des betreffenden Netzes kontrolliert. Die einzelstaatliche Zertifizierungsstelle nimmt die „gemeinschaftlichen“ Zertifizierungen zur Kenntnis, überprüft die nationalen Zertifizierungen und stellt die Sicherheitsbescheinigung aus. Sie ist zur Ablehnung des Zertifizierungsantrags ermächtigt und bleibt daher für die Übereinstimmung aller Zertifizierungsaspekte verantwortlich.

3.2.15

Die Europäische Eisenbahnagentur fungiert als unabhängige Beschwerdestelle, was den Ausgang des Zertifizierungsantrags anbelangt.

3.2.16

Neben den in den einzelnen Abschnitten (Interoperabilität und Agentur) aufgeführten allgemeinen Bemerkungen hat der EWSA keine weiteren Anmerkungen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Europäische Eisenbahnagentur

4.1.1

Artikel 8a: Zum einen erarbeitet und aktualisiert die Agentur ein Dokument zum Vergleich und zur Gleichwertigkeit der nationalen Normen für jeden Parameter (Ziffer 2), zum anderen gibt sie lediglich technische Stellungnahmen zu folgenden Fragen ab:

Gleichwertigkeit der Vorschriften;

Ersuchen um zusätzliche Informationen;

Gründe für die Verweigerung einer Genehmigung.

Die Tätigkeit der Agentur wäre effizienter, wenn diese Stellungnahmen verbindlich wären und auch von interessierten Kreisen wie Infrastrukturbetreibern, Eisenbahnunternehmen, und Fahrzeughaltern in Anspruch genommen werden könnten.

4.1.2

Artikel 15: Der Zuständigkeitsbereich der Agentur sollte auf sämtliche Erneuerungs-, Umrüstungs- oder Bauvorhaben ausgedehnt werden, welche die den — derzeitigen und künftigen — TSI unterworfenen Infrastrukturelemente betreffen.

4.1.3

Artikel 16a: Es ist notwendig, der Agentur Bewertungskriterien für die Entscheidung zwischen einem „auf Freiwilligkeit beruhenden oder einem obligatorischen“ Zertifizierungsverfahren auf der Grundlage folgender Kriterien an die Hand zu geben:

Sicherheitsniveaus;

Transparenz der Beziehungen zwischen Unternehmen;

Transparenz des Marktes und Regulierung.

Hervorzuheben sind die etwaigen Auswirkungen des Zertifizierungssystems auf die Fahrzeug haltenden Eisenbahnunternehmen.

4.1.4

Artikel 18: Es ist zu betonen, dass die Agentur bei der Erstellung der Formulare für den Einstellungsantrag die nicht in den gemeinsamen Teilen aufgeführten Spezifikationen so stark wie möglich zu begrenzen versucht.

4.1.5

Artikel 21b: Das Mandat erscheint in Bezug auf die Ziele der Agentur vollständig. Das Subsidiaritätsprinzip wird nicht gewahrt.

4.2   Interoperabilität

4.2.1

Artikel 1: In Bereichen, in denen die TSI auf den Europäischen Wirtschaftsraum ausgedehnt werden sollen, ist zugleich auch die Anerkennung der nationalen Zertifizierungsstellen vorzusehen.

4.2.2

Artikel 6: Die Freiheit der Agentur hinsichtlich der Sprachenregelung für die Veröffentlichung der technischen TSI-Anhänge geht nicht in Richtung eines leichten, gemeinsamen Zugangs zu den Gemeinschaftsbestimmungen über die Interoperabilität.

4.2.3

Artikel 7: Der Begriff Ausnahmeregelung erscheint besonders weit gefasst, vor allem in den wirtschaftlichen Begründungen, denn er sieht nicht den Einfluss der EU-Gelder auf die Analyse ökonomischer Machbarkeit vor. Das System der Ausnahmeregelungen sollte besser auf das gesamte TSI-System für das geprüfte Projekt denn als Ausnahmeregelung für eine einzelne TSI Anwendung finden.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/44


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Beförderung gefährlicher Güter im Binnenland“

KOM(2006) 852 endg.

(2007/C 256/09)

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 19. Januar 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 71 und Artikel 251 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 19. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr OSTROWSKI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) mit 136 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Standpunkt des EWSA

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt, dass die Europäische Kommission zur Vereinheitlichung der einschlägigen EU-Rechtsvorschriften einen Vorschlag für eine Richtlinie über die Beförderung gefährlicher Güter im Binnenland vorgelegt hat. Auf diese Weise sollen die Sicherheitsbedingungen bei Gefahrguttransporten im Binnenland verbessert werden.

1.2

Durch die vorgeschlagene Richtlinie werden die vier bestehenden Richtlinien sowie die vier Entscheidungen der Kommission zur Beförderung gefährlicher Güter auf den neuesten Stand gebracht und in einer Rechtsvorschrift zusammengefasst, wobei der Anwendungsbereich der EU-Bestimmungen von Straße und Schiene auf die Binnenwasserstraßen ausgeweitet wird.

1.3

Der Ausschuss teilt die Auffassung der Kommission, dass es ohne ein einheitliches gemeinschaftliches Regelwerk für sämtliche Landverkehrsträger (Straße, Schiene und Binnenschifffahrt) kaum möglich ist, die bestmöglichen Sicherheitsbedingungen für die Beförderung gefährlicher Güter zu schaffen.

1.4

Er teilt ferner die Auffassung der Kommission, dass sich durch die Vereinheitlichung der bestehenden Rechtsvorschriften für die Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße und auf der Schiene — wobei die bestehenden Vorschriften grundsätzlich nicht geändert werden, ihr Anwendungsbereich aber auf die Binnenwasserstraßen ausgeweitet wird — eine erhebliche Vereinfachung der Rechtsvorschriften sowie der Verwaltungsverfahren erzielen lässt, die sowohl den Behörden als auch den privaten Akteuren zugute kommt.

1.5

Durch die Zusammenfassung der Bestimmungen für alle drei Landverkehrsträger in einem Rechtsakt sowie die Schaffung der Möglichkeit, auf die internationalen Übereinkommen zum Gefahrguttransport lediglich in den Anhängen der Richtlinie zu verweisen (sie würden nicht wie bislang in die Richtlinie aufgenommen), wird der Umfang des einschlägigen Gemeinschaftsrechts erheblich verringert.

1.6

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die für die neuen Bestimmungen vorgeschlagene Rechtsform — eine Richtlinie — angemessen ist. Da aber den Mitgliedstaaten zahlreiche Ausnahmen zugestanden wurden und ihnen ein umfangreicher Spielraum gewährt wurde, ruft der EWSA die Mitgliedstaaten auf, in dieser Sache möglichst eng mit der Kommission zusammenzuarbeiten, damit die angestrebte Harmonisierung der einschlägigen Rechtsvorschriften auch tatsächlich erreicht wird.

1.7

Der Ausschuss weist darauf hin, dass er angesichts der Detailtiefe der Vorschriften bezüglich der technischen Bedingungen für die Beförderung gefährlicher Güter sowie ihrer unterschiedlichen Beschaffenheit nur auf die allgemeineren Fragen des Vorschlags eingehen kann.

1.8

Er zeigt sich erfreut darüber, dass sich die Beiträge der Mitgliedstaaten und Interessengruppen — d.h. der Industrieverbände, die die an der Gefahrgutbeförderung beteiligten Unternehmen vertreten — laut Kommission wesentlich auf den Inhalt des Vorschlags ausgewirkt haben und im Laufe der Anhörung soweit wie möglich gemeinsame Standpunkte gesucht wurden.

1.9

Er nimmt mit Zufriedenheit zur Kenntnis, dass die Kommission im Ausschussverfahren weiterhin von einem Regelungsausschuss für die Beförderung gefährlicher Güter unterstützt werden wird.

1.10

Ferner zeigt er sich erfreut darüber, dass sich die Industrieverbände dank der Möglichkeit zur regelmäßigen Teilnahme an den Sitzungen des Regelungsausschusses laufend in die Erarbeitung des Vorschlags einbringen konnten, auch die EFTA-Staaten in die Konsultation einbezogen wurden und das Europäische Parlament auf dem Laufenden gehalten wurde.

1.11

Da 80 % der Gefahrgutbeförderung in Europa auf dem Rhein erfolgen, begrüßt der Ausschuss überdies, dass auch die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt angehört wurde.

1.12

Außerdem nimmt er zur Kenntnis, dass 2004/05 eine Bewertung des Politikbereichs durch externe Berater („Bewertung der EU-Politik hinsichtlich der Beförderung gefährlicher Güter seit 1994“) durchgeführt, die Richtigkeit des Grundgedankens des Kommissionsvorschlags darin bestätigt und das von der Kommission vorgeschlagene Vorgehen bei der öffentlichen Anhörung von einem Großteil der Teilnehmer befürwortet wurde.

1.13

Der Ausschuss würde es sehr begrüßen, wenn die Kommission in Zusammenhang mit der Übertragung der erforderlichen Übersetzung und Veröffentlichung der technischen Anhänge der Richtlinie von der Gemeinschaftsebene auf die Ebene der Mitgliedstaaten die Übersetzungen in die jeweiligen Landessprachen finanziell unterstützen würde.

1.14

Der Ausschuss ist davon überzeugt, dass der Kommissionsvorschlag unterstützt werden sollte, wurde er doch von hoch qualifizierten Fachleuten im Bereich der Beförderung gefährlicher Güter im Binnenland aus verschiedenen Mitgliedstaaten erarbeitet.

1.15

Er möchte jedoch auf einige Punkte hinweisen, die seiner Auffassung nach präzisiert bzw. ergänzt werden sollten: so etwa die fehlende Bestimmung des Begriffs „gefährliche Güter“ für die Zwecke der Richtlinie; das Recht der Mitgliedstaaten, ausschließlich aus Gründen, die nicht mit der Sicherheit der Beförderung in Zusammenhang stehen, die innerstaatliche Beförderung bestimmter gefährlicher Güter zu untersagen; sowie das Fehlen jeglicher Informationen in den Anhängen III.2 und III.3.

Zu diesen Punkten nimmt der Ausschuss im Abschnitt „Besondere Bemerkungen“ noch näher Stellung.

2.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags

2.1

Die Beförderung gefährlicher Güter über Land (Chemikalien, Reinigungsmittel, Benzin, Sprengstoffe, Munition für Schusswaffen, Aerosole, radioaktives Material, Pestizide usw.) birgt ein erhebliches Unfallrisiko. Dies gilt für alle Arten des Transports — auf der Straße, der Schiene und den Binnenwasserstraßen — gleichermaßen. Gesundheits- bzw. Lebensgefahr besteht dabei nicht nur für die im Gefahrguttransport Beschäftigten, sondern auch für zahlreiche Menschen in den Städten und ländlichen Gemeinden.

2.2

Maßnahmen zur Gewährleistung der bestmöglichen Sicherheitsbedingungen für die Beförderung gefährlicher Güter wurden bereits ergriffen. Der internationale Gefahrguttransport ist derzeit in internationalen Verträgen und Übereinkommen geregelt, die auf Empfehlungen der Vereinten Nationen beruhen. Um die Sicherheit bei der Beförderung gefährlicher Güter sowie den freien und multimodalen Verkehr von grenzüberschreitenden Beförderungsleistungen zu gewährleisten, haben die Vereinten Nationen „Empfehlungen über den Transport gefährlicher Güter (UN-Modellvorschriftenwerk)“ erstellt, die regelmäßig aktualisiert werden.

2.3

Eine Regelung für den Gefahrguttransport ist nicht nur aufgrund der Besonderheit der beförderten Güter erforderlich, sondern auch aufgrund der transportierten Mengen. In der Europäischen Union werden jährlich 110 Mrd. Tonnenkilometer gefährlicher Güter befördert, was rund 8 % des gesamten Güterverkehrs in der EU entspricht. Davon werden 58 % auf der Straße, 25 % mit der Eisenbahn und 17 % per Binnenschiff befördert. Außer bei der Beförderung mit der Eisenbahn ist eine steigende Tendenz zu verzeichnen.

2.4

Die internationalen Übereinkommen zur Regelung von Gefahrguttransporten werden für den Landverkehrssektor in Europa durch drei Instrumente umgesetzt:

a)

ADR — Europäisches Übereinkommen über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße (am 30. September 1957 in Genf geschlossen; in der jeweils geltenden Fassung);

b)

RID — Ordnung für die internationale Eisenbahnbeförderung gefährlicher Güter (Anhang C des am 3. Juni 1999 in Vilnius geschlossenen Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF); in der jeweils geltenden Fassung);

c)

ADN — Europäisches Übereinkommen über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf Binnenwasserstraßen (am 26. Mai 2000 in Genf geschlossen; in der jeweils geltenden Fassung).

2.5

Die EU-Rechtsvorschriften für den Landtransport gefährlicher Güter decken nur die Straße und die Eisenbahn ab. Für diese beiden Verkehrsträger sind durch die Rechtsvorschriften ein hohes Maß an Beförderungssicherheit, der freie Dienstleistungsverkehr und die Freizügigkeit des Beförderungsmittels innerhalb des Gebiets der EU gewährleistet. Das Gemeinschaftsrecht enthält vier einschlägige Rechtsvorschriften:

a)

Richtlinie 94/55/EG des Rates vom 21. November 1994 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für den Gefahrguttransport auf der Straße;

b)

Richtlinie 96/49/EG des Rates vom 23. Juli 1996 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Eisenbahnbeförderung gefährlicher Güter;

c)

Richtlinie 96/35/EG des Rates vom 3. Juni 1996 über die Bestellung und die berufliche Befähigung von Sicherheitsberatern für die Beförderung gefährlicher Güter auf Straße, Schiene oder Binnenwasserstraßen;

d)

Richtlinie 2000/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2000 über die Mindestanforderungen für die Prüfung der Sicherheitsberater für die Beförderung gefährlicher Güter auf Straße, Schiene oder Binnenwasserstraßen.

2.6

Für die Beförderung gefährlicher Güter auf Binnenschifffahrtstraßen gibt es jedoch keine EU-Vorschriften. Allerdings finden im Bereich der Beförderung gefährlicher Güter auf Binnenwasserstraßen derzeit zwei Regelungswerke Anwendung, die die Beförderung auf Rhein und Donau regeln (ADNR sowie ADND). Dabei handelt es sich jedoch um regionale Vorschriften. Außerdem gibt es einzelstaatliche Bestimmungen für den innerstaatlichen Verkehr. Grund für das Fehlen einer EU-Regelung ist u.a. die Tatsache, dass ADN noch nicht in Kraft ist. Der 1997 von der Kommission vorgelegte Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Beförderung gefährlicher Güter auf Binnenwasserstraßen wurde nie verabschiedet und 2004 schließlich zurückgezogen.

2.7

Das Ratifizierungsverfahren für das Übereinkommen für die Beförderung auf Binnenwasserstraßen (ADN) läuft jedoch derzeit, und ADN wird voraussichtlich spätestens 2009 in Kraft treten. Insofern stimmt der Ausschuss mit der Kommission überein, dass es schon alleine aus Gründen der Harmonisierung logisch ist, auch den Transport auf Binnenwasserstraßen auf gemeinschaftlicher Ebene zu regeln. Dabei können außerdem die bestehenden Rechtsvorschriften aktualisiert und harmonisiert werden. Darüber hinaus sollte die Entwicklung zweier unterschiedlicher Systeme — eines für grenzüberschreitende und eines für innerstaatliche Beförderungen — vermieden werden. Auch die Tatsache, dass die EU-Rechtsvorschriften für die Beförderung gefährlicher Güter recht kompliziert sind, spricht für eine Neufassung. Die Rechtsvorschriften für die einzelnen Verkehrsträger enthalten überdies gewisse Unstimmigkeiten, und einige Bestimmungen sind bereits veraltet oder werden dies bald sein. So sind zwei der gegenwärtigen Richtlinien als überflüssig zu erachten, da ihre Vorschriften bereits in ADR, RID und ADN aufgenommen wurden. Des Weiteren besteht ein technisches, mit der Struktur der derzeitigen Richtlinien zusammenhängendes Problem. Jede der alle zwei Jahre stattfindenden Änderungen der internationalen Übereinkommen macht eine vollständige Übersetzung der umfangreichen technischen Anhänge der Richtlinien erforderlich, was sich als äußerst schwierig und kostspielig erwiesen hat.

2.8

Falls nichts geschieht, werden die genannten Probleme nicht nur bestehen bleiben, sondern sich laut Kommission noch verschärfen: Die derzeitigen komplizierten Vorschriften werden durch Änderungen der internationalen Übereinkommen höchstwahrscheinlich noch komplexer, überholte Vorschriften bleiben bestehen und verwirren die Nutzer, und auch die Gefahr der Nichteinhaltung der Vorschriften steigt. Statt nutzerfreundlicher werden die EU-Vorschriften möglicherweise gänzlich undurchschaubar. Da verstärkt multimodale Konzepte genutzt werden, werfen unterschiedliche Vorschriften für die einzelnen Verkehrsträger im Alltag noch mehr praktische Probleme in der Verkehrsabwicklung auf und verursachen unnötige Mehrkosten. Das Nebeneinander unterschiedlicher Vorschriften für den grenzüberschreitenden und den innerstaatlichen Verkehr wird die Weiterentwicklung dieses Verkehrsträgers behindern, der anderenfalls statistisch gesehen vielfach der bevorzugte Transportweg wäre, worauf die statistischen Daten hindeuten.

2.9

Die Kommission schlägt daher eine neue Richtlinie vor, durch die die bestehenden vier Richtlinien und vier Kommissionsentscheidungen zur Beförderung gefährlicher Güter aktualisiert und in einer Rechtsvorschrift zusammengefasst werden (d.h. ein einziger Rechtsakt für alle drei Landverkehrsträger) und gleichzeitig der Anwendungsbereich der EU-Bestimmungen von Straße und Schiene auf Binnenwasserstraßen ausgeweitet wird.

2.10

Durch die neue Richtlinie werden die Richtlinien 94/55/EG und 96/49/EG (in der geänderten Fassung) über die Beförderung gefährlicher Güter, die Richtlinien 96/35/EG und 2000/18/EG über Sicherheitsberater für die Beförderung gefährlicher Güter sowie die Entscheidungen 2005/263/EG und 2005/180/EG der Kommission (in der geänderten Fassung) über nationale Ausnahmen von den Richtlinien 94/55/EG und 96/49/EG aufgehoben. Dazu ist anzumerken, dass die Bestimmungen der Richtlinien 96/35/EG und 2000/18/EG derzeit in den Anhängen der Richtlinien 94/55/EG und 96/49/EG enthalten sind, so dass die erstgenannten Richtlinien für den Straßen- und Schienengüterverkehr überflüssig sind.

2.11

Mit dem Vorschlag werden die bestehenden Vorschriften zum grenzüberschreitenden Verkehr in Gemeinschaftsrecht übergeführt und die Anwendung internationaler Bestimmungen auf den innerstaatlichen Verkehr ausgeweitet. Der Vorschlag stellt somit eine erhebliche Vereinfachung des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet des Gefahrguttransports dar, auch wenn der Anwendungsbereich der Rechtsvorschriften ausgeweitet wird.

2.12

Darüber hinaus soll mit dem Vorschlag die erforderliche Übersetzung und Veröffentlichung der technischen Anhänge der Richtlinie von der Gemeinschaft, d.h. konkret von der Kommissionsebene, auf die Mitgliedstaaten verlagert werden. Einer der Hauptgründe hierfür ist der Umstand, dass die auf EU-Ebene angefertigten Übersetzungen nicht immer den höchsten Qualitätsanforderungen genügten und die Mitgliedstaaten ohnehin eigene Übersetzungen anfertigen bzw. Korrekturen anbringen mussten. Diese Anhänge werden alle zwei Jahre aktualisiert. Die Gemeinschaft sollte daher die Übersetzung in die jeweiligen Landessprachen finanziell unterstützen. Die Kommission ist aber überzeugt, dass die Einsparungen der Gemeinschaft an Kosten für Übersetzung und Veröffentlichung die den Mitgliedstaaten geleistete Unterstützung aufwiegen werden.

2.13

Schließlich soll durch die vorgeschlagene Richtlinie ein System geschaffen werden, bei dem auf die internationalen Übereinkommen zum Gefahrguttransport lediglich in den Anhängen der Richtlinie verwiesen würde und diese nicht wie bislang in die Richtlinie aufgenommen würden. Dadurch würde der Umfang des Gemeinschaftsrechts voraussichtlich um etwa 2000 Seiten verringert.

2.14

Vereinfachte gemeinschaftliche Rechtsvorschriften würden sich auch leichter in einzelstaatliches Recht umsetzen lassen. Die Arbeit der Kontrollorgane, auch hinsichtlich der Meldepflicht, würde durch die Vereinheitlichung der Vorschriften für den Gefahrguttransport einfacher und effektiver.

2.15

Außerdem würden durch die Vereinfachung und Vereinheitlichung der Vorschriften die Verwaltungsverfahren für alle an der Beförderung gefährlicher Güter Beteiligten, vom Absender bis zum Empfänger, erleichtert.

2.16

Durch die Harmonisierung der Vorschriften würde auch das Erstellen der Unterlagen für Transportvorgänge und Fahrzeuge und die Schulung der an der Beförderung gefährlicher Güter beteiligten Personen und der Sicherheitsberater vereinfacht.

2.17

Der Vorschlag ist Teil des fortlaufenden Arbeitsprogramms der Kommission zur Aktualisierung und Vereinfachung des Acquis communautaire und ihres Arbeits- und Legislativprogramms.

3.   Besondere Bemerkungen

Der Ausschuss möchte auf einige Punkte hinweisen, bezüglich derer er gewisse Vorbehalte hat:

3.1

Erstens wird in dem vorliegenden Vorschlag, dessen Titel „Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Beförderung gefährlicher Güter im Binnenland“ lautet, in dem Artikel „Begriffsbestimmungen“ zwar festgelegt, was die einzelnen Begriffe bzw. Abkürzungen (wie z.B. ADR, RID, ADN, Fahrzeug, Wagen, Schiff) für die Zwecke der Richtlinie bedeuten, nicht jedoch, was unter dem Begriff „gefährliche Güter“ zu verstehen ist. Zweifellos ist eine Definierung dieses Begriffs angesichts der Vielfalt der existierenden Güter und des technischen Fortschritts, der die Liste der Güter immer länger werden lässt, keine einfache Aufgabe. Der Ausschuss ist nichtsdestoweniger der Auffassung, dass festgelegt werden sollte, was der Begriff „gefährliche Güter“ für die Zwecke der Richtlinie bedeutet.

3.2

Zweitens ist in dem Richtlinienvorschlag vorgesehen, den Mitgliedstaaten das Recht einzuräumen, ausschließlich aus Gründen, die nicht mit der Sicherheit der Beförderung in Zusammenhang stehen, die innerstaatliche Beförderung bestimmter gefährlicher Güter auf ihrem Gebiet zu untersagen. Zwar kann der Ausschuss nachvollziehen, dass den Mitgliedstaaten das Recht eingeräumt werden soll, die Beförderung gefährlicher Güter zu regeln bzw. zu untersagen, er versteht jedoch nicht, warum ihnen dies „ausschließlich aus Gründen, die nicht mit der Sicherheit der Beförderung in Zusammenhang stehen“, möglich sein soll. Er vertritt die Auffassung, dass es den Mitgliedstaaten durch diese Formulierung in dem vorliegenden Vorschlag — durch den doch eigentlich Gefahrguttransporte sicherer gemacht werden sollen — eben nicht möglich wäre, die Beförderung von Gefahrgütern gerade im Hinblick auf die Sicherheit beim Transport zu untersagen, was unlogisch erscheint. Zudem ist dem Ausschuss für den Fall, dass die Mitgliedstaaten unterschiedliche Verbote einführen, nicht ersichtlich, wie die Koordinierung dieser Verbote in Bezug auf die grenzüberschreitende Beförderung gewährleistet werden soll.

3.3

Drittens werden unter den Ziffern III.2 und III.3 in Anhang III (Beförderung auf Binnenwasserstraßen) keinerlei Angaben zu etwaigen Übergangsbestimmungen bzw. zusätzlichen einzelstaatlichen Vorschriften gemacht. Der Ausschuss ersucht die Kommission daher um Auskunft, ob diesbezügliche Maßnahmen tatsächlich nicht vorgesehen sind oder ob an deren Festlegung noch gearbeitet wird.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/47


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Grünbuch zu Anwendungen der Satellitennavigation“

KOM(2006) 769 endg.

(2007/C 256/10)

Die Europäische Kommission beschloss am 8. Dezember 2006, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen: „Grünbuch zu Anwendungen der Satellitennavigation“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 19. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr BUFFETAUT.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) mit 134 Ja-Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

GALILEO ist ein Vorzeigeprojekt der europäischen Raumfahrtpolitik. Aufgrund der Tragweite und der strategischen Bedeutung dieses Projekts hat sich die Europäische Weltraumbehörde (ESA) zu einer engen Zusammenarbeit mit der Europäischen Union entschlossen. Ein derartiges Zusammenspiel aus zwischenregierungs- und gemeinschaftlichem Ansatz sollte das Unternehmen zum Erfolg führen. Im gleichen Geiste der Zusammenarbeit sollte dieses Projekt auch in Form einer öffentlichen-privaten Partnerschaft durchgeführt werden.

1.2

Der erste Versuchssatellit, Vorläufer der künftigen 30 Satelliten der Konstellation, wurde Ende 2005 ins All geschossen, und das Projekt läuft, allerdings nicht ohne Schwierigkeiten und Verzögerungen.

1.3

GALILEO ist ein weltweites Satellitennavigationssystem, das eine Reihe von Ortungs-, Navigations- und Zeitgebungsdiensten bereitstellen wird.

1.4

Mit seinen 30 Satelliten und Bodenstationen wird GALILEO den Nutzern in zahlreichen Wirtschaftssektoren, beispielsweise im Verkehrswesen (Ortung von Fahrzeugen, Schiffen oder Luftfahrzeugen, Lenksysteme, Routensuche usw.), in Justiz, Polizei und Zoll (Grenzkontrollen) sowie in den Bereichen öffentliche Arbeiten (Topografie, geodätische Vermessungen, geografische Informationssysteme), Freizeit (Orientierung zur See und im Gebirge) und Sozialdienste (Hilfe für Menschen mit Behinderungen oder ältere Menschen), aber auch den für die Gefahrenabwehr zuständigen Regierungsdiensten Informationen über ihren Standort liefern. Außerdem kann das System dank der Ortung von Rettungsbojen auch zur Rettung von Menschen in Seenot oder in entlegenen Gebieten der Erde eingesetzt werden.

1.5

Der Markt für Produkte und Dienstleistungen, die auf Satellitennavigationsanwendungen beruhen, wird Schätzungen zufolge bis 2025 ein Volumen von 400 Mrd. EUR erreichen.

1.6

Die Verhandlungen über den Konzessionsvertrag sind heute an einem toten Punkt angelangt, vertreten doch die verschiedenen Partner derart unterschiedliche Auffassungen über das Wirtschaftsmodell von GALILEO und die Leitung des Industriekonsortiums. Die bis jetzt angesammelten Verzögerungen und das Fehlen jeglichen Zeichens von Fortschritt in den Verhandlungen stellen eine Gefahr für das ganze Projekt dar.

1.7

Angesichts dieser Schwierigkeiten hatte der Rat „Verkehr, Telekommunikation und Energie“ die Europäische Kommission im März 2007 gebeten, die Fortschritte bei den Konzessionsverhandlungen zu bewerten und mögliche Alternativszenarien zu untersuchen. Diese hat in ihrer Mitteilung „GALILEO am Scheideweg“ und angesichts dieser Pattstellung den Rat und das Europäische Parlament aufgefordert, das Scheitern der gegenwärtigen Konzessionsverhandlungen zur Kenntnis zu nehmen und zu beschließen, diese zu beenden; gleichzeitig hat sie den Rat und das Europäische Parlament aufgefordert, ihren Willen zur Errichtung und Weiterführung des GALILEO-Programms zu bekräftigen. Die Europäische Kommission schlägt die Durchführung eines Alternativszenarios vor, bei dem die Entwicklungs- und Errichtungsphase vom öffentlichen Sektor unterstützt und finanziert werden und ausschließlich die Betriebsphase Gegenstand des Konzessionsvertrags ist. Die Europäische Weltraumorganisation (ESA) würde als Projektträger und öffentlicher Auftraggeber im Namen der Europäischen Union fungieren.

2.   Inhalt des Grünbuches

2.1

Das Grünbuch der Europäischen Kommission enthält einerseits eine Kurzbeschreibung des bereits errichteten Systems und seiner voraussichtlichen Entwicklung sowie der Innovation verschiedenster möglicher Anwendungen, wobei auf die angebotenen fünf Arten von Diensten hingewiesen wird, als da sind der offen zugängliche Dienst („Open Access Service“), der kommerzielle Dienst („Commercial Service“), der sicherheitskritische Dienst („Safety-of-Life Service“), der Such- und Rettungsdienst („Search and Rescue Service“) und der „öffentliche regulierte Dienst“ mit beschränktem Zugang („Public Regulated Service“). Letzterer ist nicht Gegenstand des Grünbuchs, da die Entscheidung, ihn zu nutzen, den Mitgliedstaaten obliegt. Jeder Mitgliedstaat wird daher direkt von der Europäischen Kommission in dieser Frage kontaktiert. Sie wird die Antworten zusammenfassen und einen Synthesebericht vorlegen.

2.2

Folgende geplante und mögliche Anwendungsbereiche werden von der Europäischen Kommission aufgelistet:

standortbezogene Dienste (für die Allgemeinheit) und Notrufe;

Straßenverkehr;

Schienenverkehr;

Seeverkehr, Fischerei, Binnenschifffahrt;

Luftfahrt;

Zivilschutz, Notfallmanagement und humanitäre Hilfe;

Beförderung gefährlicher Güter;

Viehtransporte;

Landwirtschaft, Parzellenmessung, geodätische und Katastervermessungen;

Energie, Öl und Gas;

Suche und Rettung;

Logistik;

Umwelt;

Sport und Tourismus;

Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung.

2.3

Diese umfassende Liste der denkbaren Anwendungsbereiche zeigt den Umfang und die große Palette der möglichen Anwendungen.

2.4

Am Ende des Grünbuches wird wie gewöhnlich eine Reihe von Fragen an die interessierten Seiten gerichtet. Es ist nicht Aufgabe des Ausschusses, im Detail auf die einzelnen Fragen einzugehen, sondern vielmehr diejenigen Fragen hervorzuheben, die seiner Meinung nach von besonderer Bedeutung sind, und weitere Fragen aufzuwerfen, die seiner Ansicht nach gestellt hätten werden müssen.

2.5

Die Europäische Kommission bewertet außerdem die Rückmeldungen, die sie von den Interessengruppen auf das Grünbuch erhalten hat. Diese sind nicht besonders zahlreich und manchmal zu allgemein gehalten, um daraus wirklich Schlüsse ziehen zu können. Die Europäische Kommission wird daher den Konsultationsprozess ausweiten und vertiefende Anhörungen durchführen, um im Oktober 2007 einen Aktionsplan vorzulegen. Bislang hat kein einziger großer Wirtschaftssektor ausdrücklich sein Interesse an den gebührenpflichtigen Diensten angemeldet. Dies zeigt deutlich das Problem, einem allgemein zugänglichen und kostenlosen Dienst Konkurrenz bieten zu wollen, auch wenn dieser nicht gewährleistet ist. Daher stellt sich die Frage der wirtschaftlichen und finanziellen Ausgewogenheit des europäische Systems, eines zivilen Dienstes, der nicht über den gleichen öffentlichen (sprich in diesem Falle militärischen) Rückhalt verfügt wie das US-amerikanische GPS-System.

3.   Grundlegende Fragen

3.1

Frage 2 (1) zum Schutz der Privatsphäre ist von besonderer Bedeutung; der Ausschuss hat dieser Frage wiederholt großes Augenmerk gewidmet und die strenge Einhaltung des Grundsatzes des Schutzes der Privatsphäre gefordert. Es stellt sich an dieser Stelle die Frage des Gleichgewichts zwischen dem Recht auf Schutz der Privatsphäre und den technischen Möglichkeiten. Die Satellitennavigations- und -ortungssysteme ermöglichen es den Nutzern, ihren Standort festzulegen. Diese Information ist jedoch nur für sie und nicht für Dritte zugänglich, sofern der Nutzer nicht beschließt, seinen Standort zu übermitteln, beispielsweise durch mobile Telekommunikationsmittel wie Mobiltelefone. Da diese Systeme nur in eine Richtung funktionieren, verfügt der Betreiber des Navigationssystems, sei es nun das US-amerikanische GPS, das europäische GALILEO oder das russische GLONASS über keine Informationen über die Nutzer und hat auch keinerlei Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, wer nun eigentlich die Navigationssignale nutzt, geschweige denn wo sich der Nutzer befindet. Daher muss die Frage des Schutzes der Privatsphäre für jeden Anwendungsdienst, der den Nutzern angeboten wird, einzeln geklärt werden. Für zahlreiche dieser Dienste ist nämlich die Echtzeit-Übermittlung des Standortes seitens des Nutzers an den Betreiber notwendig, der diesem dann die gewünschte Information liefert (beispielsweise Informationen über den Straßenverkehr).

3.2

Frage 5 (2) zur internationalen Zusammenarbeit ist bedenklich. Die Europäische Union hat bereits Vereinbarungen zur Zusammenarbeit mit China, Israel, Südkorea, Marokko und der Ukraine abgeschlossen, weitere Vereinbarungen mit Indien, Brasilien, Argentinien und Australien sind geplant. Derartige Vereinbarungen zur Zusammenarbeit sind zweifelsohne wünschenswert, um die internationale Reichweite von GALILEO insbesondere in Fragen der Regulierung, der Marktöffnung, der Zertifizierung und der Frequenzen sowie der Rechte am geistigen Eigentum auszubauen, doch ist Vorsicht geboten, da einige Partner sich in erster Linie das europäische Fach- und Sachwissen aneignen wollen, um Zeit für die Entwicklung ihrer eigenen Technologien zu gewinnen, die dann mit der europäischen konkurrieren würde. So ist heute klar, dass genau dies die Absicht Chinas bei der Unterzeichnung der Vereinbarung zur Zusammenarbeit für GALILEO mit der EU im Jahr 2003 war. Es ist auch verwunderlich, dass weder Norwegen noch die Schweiz eine Vereinbarung mit der EU über ihre Zusammenarbeit für GALILEO unterzeichnet haben, obwohl sie doch die Entwicklungs- und Bewertungsphase des Programms über ihre Teilnahme an der Europäischen Weltraumbehörde (ESA) finanzieren. Daher ist die Frage ihres möglichen Zugangs zu dem „öffentlichen regulierten Dienst“ („Public Regulated Service“) von GALILEO noch offen.

3.3

Ganz allgemein wird diese Zusammenarbeit den öffentlichen regulierten Dienst mit beschränktem Zugang wohl kaum betreffen. Außerdem sind die Verhandlungen über eine internationale Zusammenarbeit ins Stocken geraten, da es sich als vorrangig erwiesen hat, das europäische Satellitennavigationssystem auch tatsächlich erst einmal zu verwirklichen. Dies ist ein auch ein Zeichen für die Schwierigkeiten, auf die man in diesen Verhandlungen gestoßen ist.

3.4

Die Fragen 6 und 7 (3) zu den Normen und zur Zertifizierung werfen das Problem der Zertifizierung der Geräte und des Systems an sich sowie der eingesetzten Navigationsendgeräte auf. Dies ist eine besonders heikle Frage im Luft- und Schienenverkehr, ist die Sicherheits- und Signalisierungsausrüstung doch in beiden Bereichen Gegenstand eines strengen, international anerkannten Zertifizierungsverfahrens. Die Zertifizierung des GALILEO-Systems selbst ist nur dann sinnvoll, wenn sie für einen einzelnen Anwendungsbereich, beispielsweise die Luftfahrt, erfolgt, in dem die einzuhalten den Normen und Zertifizierungsverfahren festgelegt sind. Die Zertifizierung der Endgeräte und der Ausrüstung, die in mobilen Geräten zum Einsatz kommt, die die Dienste von GALILEO in Anspruch nehmen, geht weit über ein einziges Ortungsendgerät hinaus, sie betrifft auch alle weiteren Geräte, die Standortinformationen verarbeiten und dem Piloten bzw. Kapitän letztlich eine umfassende Information liefern. In diesem Falle greifen die herkömmlichen und der Anwendung eigenen Zertifizierungsverfahren. Daher ist diese Frage für jede Anwendung einzeln zu behandeln.

3.5

Ein weiterer Aspekt, und zwar die Frage der Haftung, wird nur angerissen, obwohl sie von grundlegender Bedeutung ist. Sie ist allerdings auch besonders komplex. Es müssen nicht nur die relativ einfach zu beantwortenden Fragen der vertragliche Haftung geklärt werden, sondern auch die viel schwierigeren Fragen der außervertraglichen Haftung. Außerdem kann das Ausmaß der Haftung je nach Art des Dienstes, und zwar offen zugänglicher, kommerzieller oder öffentlicher regulierter Dienst, unterschiedlich sein. Die Europäische Kommission beabsichtigt die Einführung eines Schemas nach dem Vorbild der zivilen Luftfahrt, das heißt eine Deckung, die bis zu einem gewissen Betrag von den Versicherungen und über diesen Betrag hinaus von den Behörden gewährleistet wird. Grundsätzlich stellt sich in diesem Fall die Frage, ab welchem Höchstbetrag die öffentliche Risikodeckung zum Tragen kommt. Der derzeit vorgeschlagene Grenzwert ist sehr hoch, er beträgt 1 Mrd. EUR.

3.6

Bis zu welchem Grad ist der Signalanbieter für dessen Leistung verantwortlich? Diese Frage stellt sich insbesondere im Luft- und Schienen-, aber auch im Seeverkehr.

3.7

Ist beispielsweise ein Flugzeugunglück oder eine Schiffshavarie mit Folgen wie einer Ölpest auf eine schlechte Signalqualität zurückzuführen, wer sollte dann dafür haften und inwieweit? Hier muss zwischen der vertraglichen und außervertraglichen Haftung unterschieden werden.

3.8

Muss der Betreiber des GALILEO-Systems die gesamte Haftung allein übernehmen oder teilt er diese mit den Ländern? Wenn ja, mit welchen Ländern? Dem Startstaat, den Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder den Teilnahmeländern am GALILEO-Projekt? Diese Fragen müssen zunächst aufgegriffen und erörtert werden, damit die kommerziellen GALILEO-Anwendungen sich in einem zufrieden stellenden und sicheren Rechtsrahmen herausbilden können.

3.9

Es gibt bereits Präzedenzfälle, beispielsweise ARIANE. Die Gefahr einer Schädigung Dritter infolge eines Raketenstarts wird in der Höhe von 100 Mio. EUR von ARIANESPACE und jeder Betrag darüber hinaus vom französischen Staat getragen. Eine ähnliche Risikoteilung zwischen den kommerziellen Betreibern und den Staaten besteht auch in der zivilen Luftfahrt. Dieses Konzept könnte auch bei GALILEO Anwendung finden. Der heikle Punkt ist jedoch, das richtige Maß zu finden: Wie soll die Haftung angemessen zwischen den staatlichen Stellen und dem Betreiber aufgeteilt werden, insbesondere im Falle eines neuen Dienstes?

3.10

Zur Umlegung eines derartigen Systems auf das GALILEO-Programm muss natürlich klar festgelegt werden, welche Behörde überhaupt in der Lage ist, die Haftung mit dem GALILEO-Betreiber zu teilen.

3.11

Frage 9 (4) zu den Rechten an geistigem Eigentum ist ebenfalls wichtig. Auch wenn öffentliche Einrichtungen die Vorlaufforschung finanzieren, wäre es doch wichtig, dass die Rechte an geistigem Eigentum der Anwendungen den Unternehmen, insbesondere den KMU, die diese Anwendungen entwickeln und umsetzen, zugeteilt werden.

3.12

Abschließend muss auch die Frage der militärischen Nutzung von GALILEO angegangen werden. Im Gegensatz zum US-amerikanischen GPS, einem militärischen System, das teilweise auch zur zivilen Verwendung geöffnet wurde, handelt es sich bei GALILEO um ein rein ziviles System. Wie im Falle des zivilen GPS-Signals können die Streitkräfte eines Landes in keiner Weise daran gehindert werden, einen offenen GALILEO-Dienst für militärische Zwecke zu verwenden, wohingegen die Nutzung des öffentlichen regulierten Diensts mit beschränktem Zugang, der von den EU-Mitgliedstaaten ganz genau geregelt wird, gegenüber den anderen GALILEO-Diensten den Vorteil bietet, dass er weniger störungsanfällig und auch unabhängig ist (da nicht die gleichen Frequenzen genutzt werden).

3.13

Ohne in die Diskussionen über die verschiedenen Arten der Nutzung des GALILEO-Signals zu militärischen Zwecken für den öffentlichen regulierten Dienst eingreifen zu wollen (dies würde den Rahmen dieser Stellungnahme sprengen; außerdem wurde diese Frage auch im Grünbuch ausgeklammert), hängt die Rentabilität der GALILEO-Anwendungen teilweise jedoch genau von dieser Frage ab. Sie wird in der neuen, von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Konfiguration des GALILEO-Projekts sicherlich noch erörtert werden. Die Europäische Kommission hat in ihrer Mitteilung „GALILEO am Scheideweg“ festgehalten: „Solange das System als ein ziviles System betrieben wird, könnten wesentliche Einnahmen auch von militärischen Nutzern kommen.“

4.   Schlussfolgerungen

4.1

In dem Grünbuch zu Anwendungen der Satellitennavigation wird ein Überblick über mögliche Anwendungsbereiche gegeben. Es muss jedoch in einigen sehr wichtigen Punkten wie der Frage der Rechte an geistigem Eigentum für Verfahren, die neue Anwendungsbereiche eröffnen könnten, der Zertifizierung und der Haftung vervollständigt werden.

4.2

Die Frage der Nutzung von GALILEO zu öffentlichen oder sogar militärischen Zwecken durch die EU-Mitgliedstaaten, die in direkten Gesprächen zwischen der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten untereinander im Sicherheitsausschuss von GALILEO geregelt wird, ist durchaus von Belang, da sie sich auf das Wirtschaftmodell von GALILEO auswirkt. Es ist ganz klar, dass diese Frage erneut aufgegriffen werden muss, zumal da sich auch der öffentliche Sektor aufgrund des Scheiterns des ursprünglichen Schemas einer öffentlich-privaten Partnerschaft stärker beteiligen muss.

4.3

Es ist sicherlich sinnvoll und interessant, die Anwendungen der Satellitennavigation zu erörtern, allerdings sollte man vielleicht doch erst einmal sicher sein, dass die Einrichtung der Satellitenkonstellation auch wirklich abgeschlossen wird. Die neuen Vorschläge der Europäischen Kommission sind die letzte Chance für das GALILEO-Projekt. Der Ausschuss ist sich der finanziellen Anstrengungen, die diese Vorschläge für die EU-Mitgliedstaaten bedeuten, sehr wohl bewusst. Doch hätte die Aufgabe des GALILEO-Programms zu einem Zeitpunkt, zu dem die Europäische Union bei ihren Bürgern auf eine gewisse Skepsis stößt, die in den Debatten über den Verfassungsvertrag zu Tage getreten ist, und gewissermaßen in Ungnade gefallen ist, verheerende Auswirkungen innerhalb wie auch außerhalb Europas. Ein derartiges Scheitern würde der Welt die Unfähigkeit der Europäischen Union veranschaulichen, sich gemeinsam für ein Projekt von größter wissenschaftlicher, technischer und wirtschaftlicher Tragweite zu mobilisieren. Es ist von grundlegender Bedeutung, das GALILEO-Projekt abzuschließen und so die Fähigkeit der Europäischen Union unter Beweis zu stellen, wieder Tritt zufassen und große zukunftsorientierte Projekte zum Erfolg zu führen.

4.4

Tatsache ist, dass das GALILEO-Projekt aus all diesen Gründen derzeit in einer schwierigen Phase steckt. Der Ausschuss bekräftigt, dass ein mögliches Scheitern dieses Vorzeigeprojekts der Europäischen Union einen immensen Vertrauensverlust bei den Bürgern in das europäische Einigungswerk darstellen würde, der unter allen Umständen vermieden werden muss.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Siehe KOM(2006) 769 endg., Ziffer 4.

(2)  Siehe KOM(2006) 769 endg., Ziffer 5.3.

(3)  Siehe KOM(2006) 769 endg., Ziffer 5.4.

(4)  Siehe KOM(2006) 769 endg., Ziffer 5.6.


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/51


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Hinweisendes Nuklearprogramm — Vorlage nach Artikel 40 Euratom-Vertrag zwecks Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses“

KOM(2006) 844 endg.

(2007/C 256/11)

Die Europäische Kommission beschloss am 10. Januar 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 40 des Euratom-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 19. Juni 2007 an. Berichterstatterin war Frau SIRKEINEN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 12. Juli) mit 81 Stimmen 28 gegen bei 15 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung

1.1

Im Jahr 2004 schlug der EWSA in seiner Stellungnahme zum Thema „Die Bedeutung der Kernenergie für die Stromerzeugung“ vor, „über die Bedeutung der Kernindustrie in der Praxis — Versorgungssicherheit, Verringerung der CO2-Emissionen, wettbewerbsfähige Preise, Sicherheit, Behandlung der abgebrannten Brennelemente — zu informieren, um der organisierten Zivilgesellschaft die Möglichkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit den Inhalten der darüber geführten Debatte zu geben.“ Das neue hinweisende Nuklearprogramm (PINC) bietet entsprechende Informationen. Der EWSA stimmt der Analyse und Darstellung in der Mitteilung der Kommission zu. Die Kommission hat seines Erachtens die wesentlichen Aspekte herausgegriffen und korrekt beschrieben. Der Ausschuss weist zusätzlich noch auf einige Aspekte der Kernkraft hin, die berücksichtigt werden sollten.

1.2

Der Kernenergie, die 31 % des Strombedarfs und 15 % des gesamten Primärenergieverbrauchs der EU (Stand: 2004) deckt, kommt auf dem Energiemarkt eine maßgebliche Rolle zu. Sie wird auch den Energiezielen der EU umfassend gerecht. Die Kosten von Nuklearstrom sind mittlerweile eindeutig wettbewerbsfähig. Die Außenabhängigkeit ist gering und die Brennstoffbezugsquellen sind diversifiziert und stabil, was die Versorgungssicherheitsanforderungen erfüllt. Die Kernkraft stellt derzeit die größte weitgehend CO2-freie Energiequelle in Europa dar.

1.3

Ausgehend von dem Beschluss des Europäischen Rates über die Klimaziele bis und nach 2020 sollte jedwede zusätzliche kohlenstoffarme Energieerzeugungskapazität, seien es nun erneuerbare Energieträger, Kernkraft oder potenziell saubere Kohle, zunächst Energieerzeugungskapazitäten ersetzen, die CO2-Ausstoß verursachen, und entsprechend zur Erhöhung der Gesamtmenge an kohlenstoffarm erzeugtem Strom beitragen. Anders ausgedrückt, wenn nicht zumindest der derzeitige Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung aufrecht erhalten wird, bis völlig neue Energielösungen zur Verfügung stehen, können die Klimaziele und andere energiepolitische Ziele nicht erreicht werden.

1.4

Der Ausschuss bekräftigt die anhaltend wichtige Aufgabe der EU, den modernsten Rechtsrahmen für die Kernenergie für die Mitgliedstaaten, die sich für deren Nutzung entscheiden, im Einklang mit den im Euratom-Vertrag festgelegten höchsten Normen für Sicherheit, Gefahrenabwehr und Nichtverbreitung weiterzuentwickeln.

1.5

Das dringendste Problem ist die Entsorgung der radioaktiven Abfälle und insbesondere die Endlagerung abgebrannter Brennstäbe, das zwar technisch, nicht aber politisch gelöst ist. In Bezug auf die anderen Gebiete, auf denen weiterhin ein stimmiges Vorgehen auf EU-Ebene erforderlich ist — die nukleare und die Strahlungssicherheit, wo Europa gute Ergebnisse vorweisen kann, sowie eine sichere Finanzierung der Stilllegung von Reaktoren — schließt sich der Ausschuss dem Standpunkt der Kommission an.

1.6

Der EWSA weist auf verschiedene Aspekte der Kernenergie hin, die im hinweisenden Nuklearprogramm nicht angesprochen werden, wie das Phänomen der Terrorismusbedrohung und die ausreichende Kühlwasserversorgung bestimmter Kernkraftwerke.

1.7

Als problematisch kann es sich für die Mitgliedstaaten, die weiter auf die Atomenergie setzen wollen, erweisen, dass der Kernenergiebereich bei der Berufswahl und als Forschungsschwerpunkt an Attraktivität eingebüßt hat. Der EWSA teilt die Meinung der Kommission, dass Know-how auf den Gebieten Strahlenschutz und Nukleartechnologie für die EU von grundlegender Bedeutung ist und das Augenmerk daher der Bildung, Schulung und Forschung in diesen Bereichen gelten muss.

1.8

Der EWSA unterstützt das Recht der Mitgliedstaaten, über die Zusammensetzung ihres Energiemixes mit oder ohne Kernkraft im Einklang mit dem hinweisenden Nuklearprogramm zu entscheiden.

2.   Einleitung

2.1

Artikel 40 des Euratom-Vertrags zufolge „veröffentlicht die Kommission in regelmäßigen Abständen hinweisende Programme, insbesondere hinsichtlich der Ziele für die Erzeugung von Kernenergie und der im Hinblick hierauf erforderlichen Investitionen aller Art. Vor der Veröffentlichung holt die Kommission die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu diesen Programmen ein.“ Seit 1958 wurden vier solcher hinweisender Programme sowie eine Aktualisierung veröffentlicht, zuletzt 1997.

2.2

Der Entwurf für das neue hinweisende Nuklearprogramm (PINC) wurde von der Europäischen Kommission am 10. Januar 2007 im Rahmen ihres Klima- und Energiepakets „Eine Energiepolitik für Europa“ vorgelegt. Die endgültige Fassung wird nach Eingang der Stellungnahme des EWSA veröffentlicht.

2.3

Im Rahmen dieses Pakets schlägt die Kommission außerdem Klimaziele vor, denen zufolge die Industrieländer ihre Treibhausgasemissionen bis 2020 um 30 % im Vergleich zu 1990 senken sollen, Europa allein jedenfalls aber um 20 %. Weitere Aspekte des Pakets betreffen den Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarkt, den Verbund der Strom- und Gasnetze, Vorschläge für eine nachhaltige Energieerzeugung aus fossilen Energieträgern, einen Fahrplan für erneuerbare Energien einschl. des verbindlichen Ziels, den Anteil erneuerbarer Energien am Gesamtenergiemix der EU auf 20 % bis zum Jahr 2020 zu vergrößern, sowie für eine Erhöhung von Energieeinsparungen durch eine Steigerung der Energieeffizienz um 20 % bis 2020, und einen europäischen Strategieplan für Energietechnologie. Auf seiner Tagung am 9. März 2007 billigte der Europäische Rat die Ziele und die wesentlichen politischen Inhalte des Dokuments.

2.4

Im Einklang mit den Bestimmungen des Vertrags hat der EWSA zu jedem hinweisenden Nuklearprogramm eine Stellungnahme abgegeben. Auch in einigen anderen Stellungnahmen hat er sich zur Kernenergie geäußert, wobei in diesem Zusammenhang in jüngster Zeit vor allem seine Initiativstellungnahme zum Thema „Die Bedeutung der Kernenergie für die Stromerzeugung“ aus dem Jahr 2004 zu nennen wäre, in der er zu der Schlussfolgerung gelangte, „dass die Kernkraft (…) Bestandteil einer diversifizierten, ausgewogenen, wirtschaftlichen und nachhaltigen Energiepolitik in der EU sein sollte. In Anbetracht der immer noch offenen Fragen kann nicht alles auf die Kernkraft gesetzt werden, doch ist der Ausschuss auch der Überzeugung, dass ein teilweiser oder vollständiger Ausstieg die Chancen der EU, ihre Klimaverpflichtungen einzuhalten, untergraben würde.“

3.   Die Mitteilung der Kommission

3.1

In ihrer Mitteilung gibt die Kommission einen Überblick über die in den letzten zehn Jahren getätigten Investitionen in Kernenergie, geht auf die wirtschaftlichen Aspekte der Kernenergieerzeugung ein, analysiert die Rolle der Kernenergie im Energiemix und untersucht die Voraussetzungen für die gesellschaftliche Akzeptanz der Kernkraft. Im Wesentlichen geht es ihr um Folgendes:

3.2

Jeder Mitgliedstaat entscheidet selbst, ob er Kernenergie zur Stromerzeugung nutzt. Finnland und Frankreich beschlossen jüngst, die Nutzung der Kernkraft auszubauen. In den Niederlanden, Polen, Schweden, der Tschechischen Republik, Litauen, Estland, Lettland, der Slowakei, dem Vereinigten Königreich, Bulgarien und Rumänien ist die Debatte über die Kernenergiepolitik neu angefacht worden. Deutschland, Spanien und Belgien halten — trotz fortlaufender Debatten — am Ausstieg aus der Kernkraft fest. 12 der 27 EU-Mitgliedstaaten produzieren keinen Atomstrom.

3.3

Die 152 in der EU-27 in Betrieb befindlichen Kernkraftwerksblöcke liefern 30 % der derzeitigen europäischen Stromproduktion, wobei dieser Anteil jedoch bei Fortsetzung der Stilllegungsprogramme in verschiedenen Mitgliedstaaten erheblich sinken wird. Um die absehbare Energienachfrage bewältigen zu können und die Abhängigkeit Europas von Energieimporten zu verringern, könnten neue Investitionen oder die Verlängerung der Laufzeit einiger Anlagen beschlossen werden.

3.4

Der Ausbau der Kernenergieerzeugung könnte der Kommission zufolge eine Option darstellen, um die CO2-Emissionen zu senken, und eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung des Klimawandels spielen. Die Stromproduktion aus Kernkraft ist weitgehend kohlenstofffrei und deshalb ist die Kernenergie Teil des Kohlenstoffreduzierungsszenarios der Kommission, wonach ebenfalls die CO2-Emissionen aus der Energienutzung gesenkt werden sollen. Dieser Umstand könnte auch bei der Erörterung künftiger Systeme für den Emissionsrechtehandel ins Gewicht fallen.

3.5

Für die Wachstumsperspektiven der Kernenergie sind die wirtschaftlichen Aspekte ausschlaggebend, denn ein Kernkraftwerk stellt zunächst eine Investition im Wert von 2 bis 3,5 Mrd. EUR dar. Während der Bau eines Kernkraftwerks teurer ist als der Bau eines mit fossilen Brennstoffen betriebenen Kraftwerks, liegen die Betriebskosten im Anschluss an die Anfangsinvestition erheblich niedriger. Die Kommission führt im Einzelnen folgendes an:

3.5.1

„Die wirtschaftlichen Risiken eines Kernkraftwerks haben mit der beträchtlichen Kapitalinvestition in der Anfangsphase zu tun und verlangen einen quasi fehlerfreien Betrieb in den ersten 15 bis 20 Jahren ihrer 40- bis 60-jährigen Laufzeit, damit sich die ursprüngliche Investition bezahlt macht. Zudem sind für die Stilllegung und die Abfallentsorgung finanzielle Vermögenswerte einzuplanen, die 50 bis 100 Jahre nach der Abschaltung des Reaktors verfügbar gemacht werden müssen.“

3.5.2

„In der EU-27 (1) gibt es 152 in Betrieb befindliche Kernkraftwerksblöcke, die auf 15 Mitgliedstaaten verteilt sind. Das Durchschnittsalter von Kernkraftwerken (KKW) beträgt annähernd 25 Jahre (2). In Frankreich mit dem größtem Bestand an Kernreaktoren, die nahezu 80 % der Elektrizität liefern, und in Litauen mit nur einem KKW, das aber 70 % der Elektrizität produziert, liegt das Durchschnittsalter bei etwa 20 Jahren. Das Durchschnittsalter der 23 KKW des Vereinigten Königreichs nähert sich 30 Jahren, während in Deutschland das Durchschnittsalter der 17 in Betrieb befindlichen KKW 25 Jahre beträgt.“

3.5.3

„Die Kernkraft zeichnet sich seit jeher aus durch eine Kombination höherer Konstruktions- und niedrigerer Betriebskosten im Vergleich zu einer Energieproduktion durch fossile Energieträger, bei der zwar niedrigere Kapitalkosten, aber dafür höhere, potenziell schwankende Brennstoff- und damit Betriebskosten zu verzeichnen sind.“

3.6

Die Stromerzeugung aus Kernkraft ist gegenüber Rohstoffpreisschwankungen weitgehend unempfindlich, da ein Reaktor mit einer relativ geringen Menge Uran, das größtenteils aus stabilen Regionen bezogen wird, jahrzehntelang betrieben werden kann. Beim derzeitigen Verbrauchsniveau können in vernünftigem Maße gesicherte und rückführbare, bekannte Uranressourcen zu wettbewerbsfähigen Preisen den Bedarf der Industrie zumindest für die nächsten 85 Jahre decken. Deshalb bieten neue Kernkraftwerke in den meisten Industrieländern eine wirtschaftliche Möglichkeit zur Erzeugung von Grundlaststrom.

3.7

Seit 1997 hat die Nuklearindustrie erhebliche Investitionen getätigt. Die Kommission hat erkannt, wie wichtig die Aufrechterhaltung einer technologischen Führungsrolle im Bereich der Kernenergie ist und unterstützt die Weiterentwicklung des fortschrittlichsten Rahmens für deren Nutzung, der auch die Nichtweiterverbreitung, das Abfallmanagement und die Stilllegung kerntechnischer Anlagen erfasst. Seit dem Abschluss des Euratom-Vertrags gehören kerntechnische Sicherheit und Strahlenschutz zu den Prioritäten der Europäischen Gemeinschaft, und sie haben im Zuge der verschiedenen Erweiterungen noch an Bedeutung gewonnen.

3.8

Aufgabe der EU sollte es sein, den modernsten Rechtsrahmen für die Kernenergie für die Mitgliedstaaten, die sich für deren Nutzung entscheiden, im Einklang mit den im Euratom-Vertrag festgelegten höchsten Normen für Sicherheit, Gefahrenabwehr und Nichtverbreitung weiterzuentwickeln. Die Bewirtschaftung von radioaktiven Abfällen und die Stilllegung kerntechnischer Anlagen sollten dabei einbezogen werden.

3.9

Die Kommission schlägt vor, im Weiteren insbesondere folgende Themen zu erörtern:

Anerkennung gemeinsamer Referenzniveaus für die nukleare Sicherheit, die in der EU durchzusetzen sind, wobei auf das umfangreiche Fachwissen der für die nukleare Sicherheit zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten aufgebaut wird;

Einsetzung einer hochrangigen Gruppe für nukleare Sicherheit und Sicherung, die den Auftrag erhält, schrittweise ein gemeinsames Verständnis und schließlich ergänzende europäische Regelungen für nukleare Sicherheit und Sicherung zu entwickeln;

Gewährleistung, dass die Mitgliedstaaten nationale Pläne für die Entsorgung radioaktiver Abfälle aufstellen;

während der Frühphase des RP7 Gründung von Technologieplattformen im Hinblick auf eine engere Koordinierung der Forschung in den Programmen der Einzelstaaten, der Industrie und der Gemeinschaft auf dem Gebiet der zukunftsfähigen Kernspaltung und der Endlagerung in geologischen Formationen;

Überwachung der Empfehlung über die Harmonisierung der einzelstaatlichen Konzepte für die Verwaltung der Stilllegungsfonds im Hinblick darauf, dass Ressourcen in ausreichendem Maß zur Verfügung gestellt werden;

Vereinfachung und Harmonisierung der Genehmigungsverfahren auf der Grundlage einer engeren Koordinierung zwischen den einzelstaatlichen Aufsichtsbehörden mit dem Ziel, die höchsten sicherheitstechnischen Standards zu sichern;

größere Verfügbarkeit von Euratom-Darlehen unter der Voraussetzung, dass die Obergrenzen wie von der Kommission vorgeschlagen aktualisiert werden, um den Erfordernissen des Marktes besser zu entsprechen;

Entwicklung eines harmonisierten Haftungssystems und Einrichtung von Verfahren, damit bei einem durch einen Nuklearunfall verursachten Schaden Mittel zur Verfügung stehen;

neue Impulse für die internationale Zusammenarbeit, insbesondere durch eine engere Kooperation mit der IAEO und der NEA sowie durch bilaterale Abkommen mit Nicht-EU-Ländern und eine neu aufgelegte Unterstützung für Nachbarländer.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA begrüßt den von der Europäischen Kommission vorgelegten Entwurf für das neue hinweisende Nuklearprogramm. Seit der Vorlage des letzten hinweisenden Programms vor zehn Jahren hat sich das energiepolitische Umfeld erheblich verändert. Vor allem in den letzten Jahren haben neue und dramatische Entwicklungen alle drei Elemente der Energiepolitik — Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und vertretbare Preise sowie Umweltüberlegungen, insbesondere Klimawandel — ins Blickfeld gerückt. Die EU hat auf die sich klar abzeichnenden Probleme und Herausforderungen mit Vorschlägen für eine Energiepolitik für Europa reagiert. In diesem Zusammenhang ist es unerlässlich, auch den Bereich Kernenergie zu analysieren und entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. In ihrer Energiepolitik-Mitteilung stellt die Kommission die Kernenergie in den allgemeinen energiepolitischen Kontext und liefert die erforderlichen Informationen für die Debatte über eine Energiepolitik für Europa und ihre Festlegung.

4.2

Im Jahr 2004 schlug der EWSA in seiner Stellungnahme zum Thema „Die Bedeutung der Kernenergie für die Stromerzeugung“ vor, „über die Bedeutung der Kernindustrie in der Praxis — Versorgungssicherheit, Verringerung der CO2-Emissionen, wettbewerbsfähige Preise, Sicherheit, Behandlung der abgebrannten Brennelemente — zu informieren, um der organisierten Zivilgesellschaft die Möglichkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit den Inhalten der darüber geführten Debatte zu geben.“ Das neue hinweisende Nuklearprogramm (PINC) wartet mit den entsprechenden Informationen auf, und der EWSA stimmt der Analyse und Darstellung in der Energiepolitik-Mitteilung der Kommission im Großen und Ganzen zu. Die Kommission hat seines Erachtens die meisten wesentlichen Aspekte herausgegriffen und korrekt beschrieben. Der Ausschuss weist zusätzlich noch auf einige Aspekte der Kernkraft hin, die berücksichtigt werden sollten.

4.3

Der Kernenergie, die 31 % des Strombedarfs und 15 % des gesamten Primärenergieverbrauchs der EU (Stand: 2004) deckt, kommt auf dem Energiemarkt eine maßgebliche Rolle zu. Sie wird auch den Energiezielen der EU umfassend gerecht. Die Kosten von Nuklearstrom sind mittlerweile eindeutig wettbewerbsfähig, insbesondere bei der Erzeugung von Grundlaststrom. Die Außenabhängigkeit ist gering und die Brennstoffbezugsquellen sind diversifiziert und stabil, was die Versorgungssicherheitsanforderungen erfüllt. Die Kernkraft stellt derzeit die größte weitgehend CO2-freie Energiequelle in Europa dar (s. Ziffer 4.8).

4.4

Verbesserungen bei der Energieeffizienz einschl. Kraft-Wärme-Kopplung und dadurch eine Senkung der Nachfrage ist das erste und wichtigste Ziel auf der energiepolitischen Agenda. Gleichzeitig sind umfassende Investitionen in die Stromerzeugung in der EU erforderlich, um alte Anlagen zu ersetzen und womöglich auch einem erhöhten Strombedarf begegnen zu können, falls wirtschaftliche und technologische Entwicklungen zu einem Anstieg des Elektrizitätsanteils an der Gesamtenergienachfrage führen.

4.4.1

Mittel- und langfristig können neue Energietechnologien wie Wasserstofftechnologie, Wärmepumpen, Elektroautos usw. zu einem rascheren Anstieg des Elektrizitätsbedarfs als Anteil an der Gesamtenergienachfrage führen als in den jüngsten Szenarien vorhergesehen wird. Damit könnte die Kernkraft im EU-Energiemix sehr viel wichtiger werden als bisher.

4.5

Der Ausschuss kennt bestehende Pläne zur Verlängerung der Betriebsdauer von Kraftwerken über den Zeitraum einer kommerziellen Nutzung von 30 bis 40 Jahren hinaus. Das Problem der Alterung europäischer Kraftwerke wurde in dem von der Kommission erarbeiteten Dokument nicht vertieft und bedarf einer Ergänzung. Da die Kommission schreibt, dass 'bestimmte finanzielle und ökologische Risiken … in einigen Mitgliedstaaten nach wie vor bei den Regierungen (verbleiben), etwa die Zuständigkeit für die Anlagen für die langfristige Entsorgung und Endlagerung von Abfällen', sind hier zukünftig noch Regelungen zu treffen.

4.6

Diese neuen Investitionen sollten im Idealfall an den Zielen Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Bekämpfung des Klimawandels ausgerichtet werden. In Anbetracht der Eigenschaften und des Potenzials der Stromerzeugung aus anderen Energieträgern ist damit zu rechnen, dass die Laufzeit bestehender Kernkraftwerke verlängert wird und auch entsprechende Investitionen getätigt werden. Der Ausschuss schließt sich diesbezüglich dem Standpunkt der Kommission an.

4.7

Der Kommission zufolge dürften die Uranvorräte unter Zugrundelegung des derzeitigen Verbrauchs noch 85 Jahre reichen. Andere Quellen gelangen zu anderen Einschätzungen und veranschlagen Reichweiten von 85 bis 500 Jahren. Da die Brennstoffverfügbarkeit wichtig für die Energieversorgungssicherheit ist, sollte die Kommission ausführlichere Informationen über die Verfügbarkeit des Kernbrennstoffs vorlegen.

4.8

Beim Vergleich der Umweltauswirkungen verschiedener Energieträger ist es wichtig, die kumulierten Umweltauswirkungen sämtlicher Stadien von der Gewinnung der jeweiligen Rohstoffe über die Produktion, den Transport und die Energieerzeugung bis zur Wiederverwertung und Entsorgung zu berücksichtigen. In einem vom Weltenergierat (WEC) veröffentlichten Bericht (Comparison of Energy Systems Using Life Cycle Assessment. World Energy Council, Juli 2004) werden eine Reihe von Lebenszyklusanalysen zusammengetragen und ausgewertet. Dem Bericht zufolge liegen die je kWh Nuklearstrom verursachten CO2-Emissionen mit 1-5 % des durch Kohleverstromung verursachten CO2-Ausstoßes ebenso niedrig wie bei der Stromerzeugung durch Windkraft, Biomasse und Wasserkraft.

4.9

Es muss also unbedingt der wertvolle Beitrag der Kernkraft zur Vermeidung der Entstehung von Klimagasen berücksichtigt werden. Beim derzeitigen Energiemix werden in der EU durch die Nutzung der Kernenergie jährlich ca. 600 Mio. t CO2-Ausstoß vermieden. Weltweit werden dadurch etwa 2 Mrd. t CO2-Ausstoß vermieden, was dem derzeitigen Gesamt- CO2-Ausstoß von Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich zusammengenommen entspricht. Wenn einige Mitgliedstaaten wie geplant aus der Kernkraft aussteigen, müssen zahlreiche der derzeitigen Kernkraftwerke in Europa durch andere emissionsfreie Energieträger ersetzt werden. Wenn dazu noch Kernkraftwerke am Ende ihrer Laufzeit nicht durch neue Anlagen ersetzt werden, muss mittelfristig der gesamte Kernkraftwerkspark durch andere emissionsfreie Energieträger ersetzt werden.

4.10

Ausgehend von dem Beschluss des Europäischen Rates über die Klimaziele bis und nach 2020 sollte jedwede zusätzliche kohlenstoffarme Energieerzeugungskapazität, seien es nun erneuerbare Energieträger, Kernkraft oder potenziell saubere Kohle, zunächst Energieerzeugungskapazitäten ersetzen, die CO2-Ausstoß verursachen, und entsprechend zur Erhöhung der Gesamtmenge an kohlenstoffarm erzeugtem Strom beitragen. Anders ausgedrückt, wenn nicht zumindest der derzeitige Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung aufrecht erhalten wird, bis völlig neue Energielösungen zur Verfügung stehen, können die Klimaziele und andere energiepolitische Ziele nicht auf wirtschaftlich vertretbare Weise erreicht werden. Dagegen liegt es auf der Hand, dass ein wachsender Anteil an Kernenergie und erneuerbaren Energieträgern eine kosteneffizientere Bekämpfung des Klimawandels ermöglichen würde.

4.11

Der EWSA befürwortet die Internalisierung der externen Kosten bei der Bepreisung aller Energie- und sonstigen Marktaktivitäten. Der ExternE-Studie (3) der Europäischen Kommission zufolge belaufen sich die externen Kosten für eine Kilowattstunde Nuklearstrom auf 0,4 Cent. Die entsprechenden externen Kosten bei der Kohleverstromung werden auf das Zehnfache veranschlagt, bei der Stromgewinnung aus Biomasse ebenfalls auf ein Mehrfaches, bei der Stromerzeugung durch Wind- und Wasserkraft auf den gleichen Wert wie beim Nuklearstrom.

4.12

Die Kommission wirft die grundlegende Frage auf, ob die Kernenergie politische Fördermaßnahmen benötigt. Alle sauberen Technologien sollten gleich behandelt werden. Es müssen Mechanismen gefunden werden, um die Forschungen auf dem Gebiet der neuen Reaktorgeneration und des damit verbundenen Brennstoffkreislaufs voranzubringen. Für vollkommen neue Entwicklungen — Pilotvorhaben — könnte eine finanzielle Unterstützung in Betracht gezogen werden. Die herkömmliche Kernenergie benötigt keine Beihilfen und sollte auch nicht subventioniert werden.

4.13

Die öffentliche Meinung und Wahrnehmung der Kernenergie ist nach Ansicht der Europäischen Kommission ausschlaggebend für die Zukunft der Nuklearpolitik. Der Ausschuss stimmt dem zu, weist jedoch darauf hin, dass die Kernenergie in den verschiedenen Mitgliedstaaten auf sehr unterschiedliche Akzeptanz stößt. Die Information der Öffentlichkeit und die Transparenz der Entscheidungsverfahren muss verbessert werden, denn aus Umfragen geht hervor, dass die Öffentlichkeit in der EU unzureichend über Kernenergiefragen unterrichtet ist. Die Kommission könnte hier eine wichtige Aufgabe übernehmen. Wie der EWSA aber auch schon vielfach betont hat, muss den Bedenken der Öffentlichkeit durch praktische Maßnahmen Rechnung getragen werden.

4.14

Der Ausschuss bekräftigt die anhaltend wichtige Aufgabe der EU, den modernsten Rechtsrahmen für die Kernenergie für die Mitgliedstaaten, die sich für deren Nutzung entscheiden, im Einklang mit den im Euratom-Vertrag festgelegten höchsten Normen für Sicherheit, Gefahrenabwehr und Nichtverbreitung weiterzuentwickeln.

4.15

Das dringendste Problem ist die Entsorgung der radioaktiven Abfälle und insbesondere die Endlagerung abgebrannter Brennstäbe, das zwar technisch, nicht aber politisch gelöst ist. Die Entsorgung ist ein großes Problem hinsichtlich der Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit und die öffentliche Akzeptanz der Atomkraft. Im hinweisenden Nuklearprogramm wird darauf aufmerksam gemacht, dass bisher noch kein Land die vorgeschlagene endgültige Lösung verwirklicht hat. In Finnland konnten insofern Fortschritte erzielt werden, als eine Endlagerstätte ausgewählt wurde, und auch in Schweden und Frankreich schreitet die Auswahl eines Standorts voran.

4.16

Wie die Kommission vertritt auch der Ausschuss den Standpunkt, dass bei der nuklearen und der Strahlungssicherheit — zwei Gebiete, auf denen Europa gute Ergebnisse vorweisen kann — sowie bei der Sicherung der Finanzierung für die Stilllegung von Reaktoren weiterhin ein stimmiges Vorgehen auf EU-Ebene erforderlich ist.

4.17

Das neue Phänomen der Terrorismusbedrohung wird im hinweisenden Nuklearprogramm nicht angesprochen. Es handelt sich aber um eine ernste Gefahr für Kernkraftwerke sowie für viele andere Industrieanlagen und öffentliche Gebäude überall in der Welt. Alle Kernkraftwerke sollten so ausgelegt werden, dass beim Absturz eines großen Passagierflugzeugs keine radioaktive Strahlung aus dem Kraftwerk freigesetzt wird. Durch die technischen Sicherheitsvorkehrungen und durch eine entsprechende Sicherheitskultur muss gewährleistet werden, dass auch innerhalb eines Kraftwerks keinerlei terroristischer Anschlag verübt werden kann. Die Kommission sollte die Initiative ergreifen und in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden und den Betreibern sicherstellen, dass es in jedem Kernkraftwerk geeignete Vorkehrungen zur Abwehr terroristischer Gefahren gibt.

4.18

In den jüngsten heißen und trockenen Sommern rückte auch das Thema einer ausreichenden Wasserführung der Flüsse zur Kühlwasserversorgung von Kondensationskraftwerken in den Blickpunkt. Das Problem trat bislang nur vereinzelt, selten und kurz auf, könnte in einigen Fällen jedoch ernst werden. Die Problematik muss bei der Konstruktion und der Standortwahl von Kraftwerken berücksichtigt werden.

4.19

Problematisch ist auch, dass der Kernenergiebereich nach nahe 20 Jahren eines Beinahe-Moratoriums in Europa bei der Berufswahl und als Forschungsschwerpunkt an Attraktivität eingebüßt hat. Das darauf zurückzuführende mangelnde Interesse seitens Studenten und Experten wird zum Hemmschuh für die Entwicklung der Kernenergie und stellt ein potenzielles Sicherheitsrisiko dar. Der EWSA teilt die Meinung der Kommission, dass Know-how auf den Gebieten Strahlenschutz und Nukleartechnologie für die EU von grundlegender Bedeutung ist und das Augenmerk daher der Bildung, Schulung und Forschung in diesen Bereichen gelten muss. Es muss auch dafür gesorgt werden, dass das Wissen der Generation der Wissenschaftler und Techniker, die den aktuellen Kernkraftwerkspark in Europa gebaut haben, bewahrt und weitergegeben wird, denn in vielen Ländern mangelt es seit Jahren an Expertennachwuchs.

4.20

Die Kommission erinnert daran, dass jeder Mitgliedstaat selbst entscheidet, ob er Kernenergie zur Stromerzeugung nutzt. Der EWSA unterstützt das Recht der Mitgliedstaaten, über die Zusammensetzung ihres Energiemixes mit oder ohne Kernkraft zu entscheiden. Dieses Recht sollte nicht nur von der EU, sondern auch von den anderen Mitgliedstaaten geachtet werden. Jedoch wirken sich die Entscheidungen eines Mitgliedstaats in vielerlei Hinsicht auf die Situation in den anderen Mitgliedstaaten aus, und diese Wechselwirkungen werden sich bei einer größeren Öffnung der Binnenmärkte noch verstärken.

5.   Bemerkungen zu den Vorschlägen für Maßnahmen

5.1

In Kapitel 6.5 „Nächste Schritte“ des hinweisenden Nuklearprogramms schlägt die Kommission verschiedene Themen zur weiteren Erörterung auf EU-Ebene vor (vgl. Ziffer 3.9). Der EWSA möchte sich dazu wie folgt äußern:

5.1.1

Wie die Kommission ist der EWSA der Meinung, dass die gemeinsamen Referenzniveaus für die nukleare Sicherheit auf dem umfangreichen Fachwissen der für die nukleare Sicherheit zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Rahmen einer Zusammenarbeit innerhalb des Verbands der westeuropäischen Aufsichtsbehörden (WENRA) (4) aufgebaut werden sollten. Eine andere Vorgehensweise könnte das derzeitige hohe Sicherheitsniveau in einigen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.

5.1.2

Eine hochrangige Gruppe für nukleare Sicherheit und Sicherung, der Vertreter der zuständigen nationalen Behörden angehören, könnte den Harmonisierungsprozess fördern und seine Vereinbarkeit mit internationalen Übereinkommen für nukleare Sicherheit gewährleisten.

5.1.3

Der EWSA hält es für dringend notwendig, dass diejenigen Mitgliedstaaten, die Kernkraft nutzen, nationale Pläne für die Entsorgung von Brennstäben und radioaktivern Abfällen aufstellen. Die nationalen Pläne können einen rein nationalen, einen multinationalen oder einen zweigleisigen Ansatz enthalten. Jede andere Handlungsweise wäre eine verantwortungslose „Vererbung“ der Verpflichtungen an die nächsten Generationen.

5.1.4

Technologieplattformen haben sich bei der Schaffung öffentlich-privater Partnerschaften für die Entwicklung europäischer strategischer Forschungsagenden bewährt. Der EWSA befürwortet die von der Kommission angeregte Gründung von Technologieplattformen auf dem Gebiet der zukunftsfähigen Kernspaltung und der Endlagerung in geologischen Formationen. Dadurch könnte die Nuklearindustrie für die dringend benötigten jungen Wissenschaftler wieder attraktiv werden.

5.1.5

Um eine umfassende Deckung der gesamten Betriebskosten und faire Voraussetzungen zu gewährleisten, ist es innerhalb der EU und auch auf internationaler Ebene unabdinglich, dass die Betreiber in Form von Stilllegungsfonds angemessene Mittel zurückstellen. Eine vollständig harmonisierte Fondsverwaltung hält der Ausschuss jedoch nicht für erforderlich, solange die Grundsätze einer umfassenden und gesicherten Deckung und der Transparenz eingehalten werden.

5.1.6

Die Einhaltung höchster sicherheitstechnischer Standards und eine Vereinfachung der Genehmigungsverfahren und ihre schrittweisen Harmonisierung auf der Grundlage einer engeren Koordinierung zwischen den einzelstaatlichen Aufsichtsbehörden tun Not, um die langen Vorlaufzeiten für Bauvorhaben übersichtlicher zu machen und dadurch eine genauere Planung und Kostenkalkulation zu ermöglichen. Sicherheitserwägungen müssen absoluten Vorrang haben.

5.1.7

Der EWSA billigt den Vorschlag der Kommission, die Obergrenzen von Euratom-Darlehen zu aktualisieren und die Verfügbarkeit dieser Darlehen zu erhöhen. Grundsätzlich sollten Investitionen in alle Energieformen zu gleichen Bedingungen Zugang zu Darlehen haben, wobei im Fall der nichtnuklearen Energieträger die EIB zuständig ist.

5.1.8

Ein harmonisiertes Haftungssystem und ein Verfahren, das bei einem durch einen Nuklearunfall verursachten Schaden ausreichende Mittel sichert, ohne öffentliche Mittel zu beanspruchen, ist nach Ansicht des EWSA eine weitere Voraussetzung für eine stärkere Akzeptanz der Kernkraft. Das jetzige System (Haftungssumme 700 Mio. $) wird diesem Anspruch nicht gerecht. Das Problem der Versicherung eines äußerst unwahrscheinlichen Unfalls mit potenziell sehr schweren und kostspieligen Schäden muss auf offene, konstruktive und praktische Weise angegangen werden. Eine Möglichkeit wäre ein Versicherungspool.

5.1.9

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, der internationalen Zusammenarbeit, insbesondere durch eine engere Kooperation mit der IAEO und der NEA sowie durch bilaterale Abkommen neue Impulse zu geben. Vor allem der Unterstützung von Nachbarländern sollte Gewicht zukommen.

5.2

Zusätzlich zu diesen Vorschlägen möchte der EWSA das Augenmerk der Kommission bei der Vorbereitung der nächsten Schritte auf folgende Aspekte lenken:

5.2.1

Die Mitgliedstaaten müssen auf den voraussichtlich wieder zunehmenden Bildungs- und Schulungsbedarf auf dem breit gefächerten Gebiet der Kernenergie und -technik sowie Bildungs- und Schulungsmaßnahmen im Bereich nukleare Sicherheit hingewiesen werden. Durch die Bildung wird nicht nur neues Arbeitskräftepotenzial für den Bereich der Kernenergie geschaffen, sondern sie ist auch ein Mittel, um in der Gesellschaft das Bewusstsein für dieses Thema zu schärfen, was von ausschlaggebender Bedeutung für die Bildung der öffentlichen Meinung ist.

5.2.2

Es wäre angebracht, weitere potenzielle Probleme im Zusammenhang mit Investitionen in Kernkraft auf einem offenen Energiemarkt angesichts des Investitionsumfangs und der langen Vorlaufzeiten auszuloten und mögliche marktgestützte Lösungen vorzuschlagen.

5.2.3

Die europäische Nukleartechnologie-Industrie ist weltweit führend, bietet qualitativ hochwertige Beschäftigungsmöglichkeiten und trägt durch ihre ausgezeichneten Sicherheitsstandards zur weltweiten nuklearen Sicherheit bei. Damit diese Führungsposition gehalten werden kann und da die Investitionen in die Kernenergie erwartungsgemäß weltweit steigen dürften, sollte die Kommission die sektorbezogenen Maßnahmen ihres neuen industriepolitischen Konzepts auch auf die Nuklearindustrie einschließlich ihrer Zuliefererindustrien ausrichten.

5.3

Abschließend begrüßt der EWSA die Absicht der Kommission, ihr hinweisendes Nuklearprogramm in kürzeren Abständen zu veröffentlichen, um so ein regelmäßigeres, aktuelles Bild von der Lage in der EU vermitteln zu können.

Brüssel, den 12. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Anhang 2: Nach Ländern aufgeschlüsselte Angaben über gegenwärtige Tätigkeiten des Kernbrennstoffkreislaufs.

(2)  Anhang 1: Siehe Abb. 6 und 7: Alter der KKW und Aufteilung auf die Länder.

(3)  ExternE — Untersuchung zu den durch Stromerzeugung und Verkehr verursachten sozioökonomischen Kosten — Europäische Kommission, 2003.

(4)  (Western European Nuclear Regulatory Authorities).


ANHANG

zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende Änderungsantrage, auf die mindestens ein Viertel der abgegebenen Ja-Stimmen entfiel, wurden im Laufe der Beratungen abgelehnt:

Ziffer 1.1

Wortlaut wie folgt ändern:

Im Jahr 2004 schlug der EWSA in seiner Stellungnahme zum Thema ‚Die Bedeutung der Kernenergie für die Stromerzeugung‘ vor, ‚über die Bedeutung der Kernindustrie in der Praxis — Versorgungssicherheit, Verringerung der CO2-Emissionen, wettbewerbsfähige Preise, Sicherheit, Behandlung der abgebrannten Brennelemente — zu informieren, um der organisierten Zivilgesellschaft die Möglichkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit den Inhalten der darüber geführten Debatte zu geben.‘ Das neue hinweisende Nuklearprogramm (PINC) bietet die einige der entsprechenden Informationen. Der EWSA stimmt der Analyse und Darstellung in der Mitteilung der Kommission in Teilen zu, stellt aber auch fest, dass wichtige Themen nicht erörtert werden (s.u.a. Ziffer 1.6). Die Kommission hat seines Erachtens die wesentlichen Aspekte herausgegriffen und korrekt beschrieben. Der Ausschuss weist zusätzlich noch auf einige Aspekte der Kernkraft hin, die berücksichtigt werden sollten.

Begründung

Ergibt sich aus den anderen Änderungsanträgen sowie aus der Ziffer 1.6. des Entwurfs der Stellungnahme, wo ja darauf hingewiesen wird, dass wichtige Teilaspekte (Terror, Kühlwasser) nicht hinreichend erörtert werden.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen: 49

Nein-Stimmen: 52

Stimmenthaltungen: 11

Ziffer 1.2

Wortlaut wie folgt ändern:

Der Kernenergie, die 31 % des Strombedarfs und 15 % des gesamten Primärenergieverbrauchs der EU (Stand: 2004) deckt, kommt auf dem Energiemarkt eine maßgebliche Rolle zu. Sie wird auch den Energiezielen der EU umfassend gerecht. Die Kosten von Nuklearstrom sind mittlerweile eindeutig wettbewerbsfähig. Die Außenabhängigkeit ist gering und die Brennstoffbezugsquellen sind diversifiziert und stabil, was die Versorgungssicherheitsanforderungen erfüllt. Die Kernkraft stellt derzeit die größte eine der größten weitgehend CO2-freien Energiequellen in Europa dar. Ihre sonstigen Umweltauswirkungen sind begrenzt bzw. unter Kontrolle.

Begründung

Im Kommissionsdokument wird nicht von „der größten“, sondern „von einer der größten“ weitgehend CO2-freien Energiequellen gesprochen. Wir sollten richtig zitieren.

Über die anderen Umweltwirkungen: s. andere Änderungsanträge.

Ergebnis der Abstimmung (Anm.: Die beantragte Streichung des letzten Satzes dieser Textstelle wurde vom Plenum akzeptiert.)

Ja-Stimmen: 57

Nein-Stimmen: 60

Stimmenthaltungen: 3

Ziffer 1.3

Wortlaut wie folgt ändern:

Ausgehend von dem Beschluss des Europäischen Rates über die Klimaziele bis und nach 2020 sollte jedwede zusätzliche kohlenstoffarme Energieerzeugungskapazität, seien es nun erneuerbare Energieträger, Kernkraft oder potenziell saubere Kohle, zunächst Energieerzeugungskapazitäten ersetzen, die CO2-Ausstoß verursachen, und entsprechend zur Erhöhung der Gesamtmenge an kohlenstoffarm erzeugtem Strom beitragen. Der Ausschuss nimmt die Aussagen der Kommissionsmitteilung zur Kenntnis, wonach ‚derzeit … sich über 110 kerntechnische Anlagen innerhalb der EU in verschiedenen Stadien der Stilllegung. (befinden). Den Vorausschätzungen zufolge wird zumindest ein Drittel der 152 KKW, die derzeit in der erweiterten Europäischen Union betrieben werden, bis 2025 still gelegt werden müssen (ohne Berücksichtigung einer eventuellen Betriebszeitverlängerung der KKW)‘. Da andererseits bislang nur der Bau eines neuen Reaktors bei der Kommission angezeigt ist, wird der Anteil der Kernenergie an der Stromproduktion höchst wahrscheinlich stark abnehmen. Dennoch können, dies zeigt eine Studie des Bundeskanzleramtes in Deutschland für die Bundesrepublik, die Klimaziele eingehalten werden, was allerdings weitere Anstrengungen bei Stromeinsparungen, bei der Effizienz und der Nutzung regenerativer Energien voraussetzt. Anders ausgedrückt, wenn nicht zumindest der derzeitige Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung aufrecht erhalten wird, bis völlig neue Energielösungen zur Verfügung stehen, können die Klimaziele und andere energiepolitische Ziele nicht erreicht werden.

Begründung

Ergibt sich aus dem Kommissionstext sowie der genannten Studie.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen: 49

Nein-Stimmen: 65

Stimmenthaltungen: 6

Ziffer 1.7

Wortlaut wie folgt ändern:

Als p Problematisch ist auch , kann es sich für die Mitgliedstaaten, die weiter auf die Atomenergie setzen wollen, erweisen, dass der Kernenergiebereich nach nahezu 20 Jahren eines Beinahe-Moratoriums in Europa bei der Berufswahl und als Forschungsschwerpunkt an Attraktivität eingebüßt hat. Der EWSA teilt die Meinung der Kommission, dass Know-how auf den Gebieten Strahlenschutz und Nukleartechnologie für die EU von grundlegender Bedeutung ist und das Augenmerk daher der Bildung, Schulung und Forschung in diesen Bereichen gelten muss. Hierfür sind primär die Betreiber der Anlagen zuständig.

Begründung

Von einem „Moratorium“ kann einerseits keine Rede sein, und die Verantwortung für Ausbildung etc. liegt primär bei den Unternehmen, nicht beim Staat/bei der Staatengemeinschaft.

Ergebnis der Abstimmung (Es wurde nur die Änderung am Ende der Textstelle zur Abstimmung gestellt, die Änderung am Anfang dieser Ziffer wurde angenommen.)

Ja-Stimmen: 45

Nein-Stimmen: 71

Stimmenthaltungen: 2

Ziffer 3.6.1

Eine neue Ziffer 3.6.1 einfügen:

Was die Verfügbarkeit der Uranressourcen angeht, stellt der Ausschuss fest, dass zwischen der Kommissionsmitteilung und der Zusammenfassung des letzten Red Data Books der IAEO Differenzen existieren. Dort heißt es (wörtlich): ‚Nach den aktuellen Prognosen ist die Versorgungskapazität mit Natururan — einschließlich aller bestehenden, festgelegten, geplanten und potenziellen Abbaustätten auf der Basis identifizierter Vorräte … ausreichend, um den hochgerechneten weltweiten Uranbedarf im Jahr 2010 abzudecken, sofern alle Abbaustättenerweiterungen und Neuerschließungen wie geplant verlaufen und der Abbau überall mit voller Betriebsleistung erfolgt. … Da sekundäre Quellen insbesondere nach 2015 jedoch an Bedeutung abnehmen dürften, gilt es, den Reaktorbedarf zunehmend aus der Erweiterung bestehender und der Erschließung neuer Abbaustätten oder der Nutzung alternativer Kernbrennstoffkreisläufe — beides sind aufwändige und langwierige Unterfangen — zu decken. Als Anreiz zur rechtzeitigen Erschließung der erforderlichen identifizierten Vorräte bedarf es in naher Zukunft einer anhaltend starken Nachfrage nach Uran. Aufgrund der langen Vorlaufzeiten zum Aufspüren und zur Erschließung neuer Ressourcen (üblicherweise 10 Jahre und mehr) kann es zu Engpässen in der Uranversorgung und dadurch sowie aufgrund der zur Neige gehenden sekundären Quellen zu einer kontinuierlichen Erhöhung der Uranpreise kommen.‘ Der Ausschuss erwartet, dass die Kommission hier Aufklärung leistet.

Begründung

Wir sollten die offensichtlichen Differenzen benennen und nicht verschweigen.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen: 49

Nein-Stimmen: 65

Stimmenthaltungen: 5

Ziffer 4.1

Wortlaut wie folgt ändern:

Der EWSA begrüßt nimmt den von der Europäischen Kommission vorgelegten Entwurf für das neue hinweisende Nuklearprogramm zur Kenntnis. Seit der Vorlage des letzten hinweisenden Programms vor zehn Jahren hat sich das energiepolitische Umfeld erheblich verändert. Vor allem in den letzten Jahren haben neue und dramatische Entwicklungen alle drei Elemente der Energiepolitik — Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und vertretbare Preise sowie Umweltüberlegungen, insbesondere Klimawandel — ins Blickfeld gerückt. Die EU hat auf die sich klar abzeichnenden Probleme und Herausforderungen mit Vorschlägen für eine Energiepolitik für Europa reagiert. In diesem Zusammenhang ist es unerlässlich, auch den Bereich Kernenergie zu analysieren und entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. In ihrer Energiepolitik-Mitteilung stellt die Kommission die Kernenergie in den allgemeinen energiepolitischen Kontext und liefert die einen Teil der erforderlichen Informationen für die Debatte über eine Energiepolitik für Europa und ihre Festlegung.

Begründung

Die Berichterstatterin schreibt selbst, dass nicht alle Aspekte diskutiert werden (z.B. Terror etc.).

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen: 50

Nein-Stimmen: 69

Stimmenthaltungen: 2

Ziffer 4.5

Wortlaut wie folgt ändern:

Diese neuen Investitionen sollten im Idealfall an den Zielen Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Bekämpfung des Klimawandels ausgerichtet werden. In Anbetracht der Eigenschaften und des Potenzials der Stromerzeugung aus anderen Energieträgern ist damit zu rechnen, dass nimmt der EWSA die in einigen Mitgliedstaaten laufende Diskussion, die Laufzeit bestehender Kernkraftwerke zu verlängert n wird und auch entsprechende Investitionen zu getätigt en, werden zur Kenntnis. Der Ausschuss schließt sich diesbezüglich dem Standpunkt der Kommission an.

Begründung

Der Antragsteller weiß nicht, an welcher Stelle die Kommission gesagt hat, dass damit „zu rechnen sei“, dass die Laufzeit verlängert wird. Dies ist eine reine Spekulation.

Siehe auch Ziffer 1.5, geändert in der Fachgruppensitzung, wo wir eine Besorgnis bezüglich einer möglichen Verlängerung der Laufzeiten aussprechen.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen: 50

Nein-Stimmen: 67

Stimmenthaltungen: 6

Ziffer 4.6

Am Ende hinzufügen:

Der Kommission zufolge dürften die Uranvorräte unter Zugrundelegung des derzeitigen Verbrauchs noch 85 Jahre reichen. Andere Quellen gelangen zu anderen Einschätzungen und veranschlagen Reichweiten von 85 bis 500 Jahren. Da die Brennstoffverfügbarkeit wichtig für die Energieversorgungssicherheit ist, sollte die Kommission ausführlichere Informationen über die Verfügbarkeit des Kernbrennstoffs vorlegen. Gleichzeitig wird nochmals darauf hingewiesen, dass zur Frage der Verfügbarkeit der Uranressourcen erhebliche Differenzen bestehen.

Begründung

Selbsterklärend.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen: 55

Nein-Stimmen: 68

Stimmenthaltungen: 0

Ziffer 4.8

Wortlaut wie folgt ändern:

Es muss also unbedingt der wertvolle Beitrag der Kernkraft zur Vermeidung der Entstehung von Klimagasen berücksichtigt werden. Beim derzeitigen Energiemix werden in der EU durch die Nutzung der Kernenergie jährlich ca. 600 Mio. t CO2-Ausstoß vermieden. Weltweit werden dadurch etwa 2 Mrd. t CO2-Ausstoß vermieden, was dem derzeitigen Gesamt- CO2-Ausstoß von Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich zusammengenommen entspricht. Wenn einige Mitgliedstaaten wie geplant aus der Kernkraft aussteigen, müssen zahlreiche der derzeitigen Kernkraftwerke in Europa durch andere emissionsfreie Energieträger, durch Energieeffizienzmaßnahmen bzw. durch Sparmaßnahmen ersetzt werden. Wenn dazu noch Kernkraftwerke am Ende ihrer Laufzeit nicht durch neue Anlagen ersetzt werden, muss mittelfristig der gesamte Kernkraftwerkspark durch andere emissionsfreie Energieträger, Effizienz- und Sparmaßnahmen ersetzt werden.

Begründung

Wir müssen über weit mehr nachdenken, als nur einen Stromproduzenten durch einen anderen zu ersetzen. Darauf hat der EWSA mehrfach hingewiesen.

Weitere Anmerkung des Antragstellers: Ich hatte die Berichterstatterin gebeten, die Zahlen bezüglich der CO2-Einsparungen zu belegen, nachdem im Arbeitsdokument nach — mit Quellenangabe — 300 Mio. t genannt wurden. Dies ist leider nicht geschehen!

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen: 61

Nein-Stimmen: 61

Stimmenthaltungen: 2

Ziffer 4.9

Am Ende hinzufügen:

Ausgehend von dem Beschluss des Europäischen Rates über die Klimaziele bis und nach 2020 sollte jedwede zusätzliche kohlenstoffarme Energieerzeugungskapazität, seien es nun erneuerbare Energieträger, Kernkraft oder potenziell saubere Kohle, zunächst Energieerzeugungskapazitäten ersetzen, die CO2-Ausstoß verursachen, und entsprechend zur Erhöhung der Gesamtmenge an kohlenstoffarm erzeugtem Strom beitragen. Anders ausgedrückt, wenn nicht zumindest der derzeitige Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung aufrecht erhalten wird, bis völlig neue Energielösungen zur Verfügung stehen, können die Klimaziele und andere energiepolitische Ziele nicht auf wirtschaftlich vertretbare Weise erreicht werden. Dagegen liegt es auf der Hand, dass ein wachsender Anteil an Kernenergie und erneuerbaren Energieträgern eine kosteneffizientere Bekämpfung des Klimawandels ermöglichen würde. Andererseits belegen Studien (Bundeskanzleramt in Deutschland für die Bundesrepublik), dass die Klimaziele eingehalten werden können, was allerdings weitere Anstrengungen bei Stromeinsparungen, bei der Effizienz und der Nutzung regenerativer Energien voraussetzt.

Begründung

Selbsterklärend.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen: 58

Nein-Stimmen: 65

Stimmenthaltungen: 1

Ziffer 4.11.1

Eine neue Ziffer 4.11.1 einfügen:

Die Kommission stellt dar, dass ‚die Haftung bei Nuklearunfällen in den EU-15-Mitgliedstaaten … von dem System des Pariser Übereinkommens von 1960 geregelt (wird), das ein harmonisiertes, internationales Haftungssystem für kerntechnische Unfälle geschaffen hat und das die Haftung der Betreiber im Falle von kerntechnischen Unfällen auf derzeit rund 700 Millionen $ beschränkt‘. Der EWSA sieht hierin schon eine indirekte Subvention der Atomenergie und fordert dazu auf, die Betreiber zu verpflichten, für alle potenziellen Schäden über eine ausreichende Versicherung auch aufzukommen.

Begründung

In den Sitzungen der Studiengruppe verwies die Berichterstatterin darauf, dass „eine Lösung gefunden werden muss und kann“. Im Text wird dies nicht deutlich. Der Änderungsantrag zielt genau hierauf ab.

Hinweis: Autos werden in Deutschland mit einer Haftpflichtsumme von 100 Mio. € versichert, AKW im Vergleich zu den potenziellen Schäden mit lächerlichen 700 Mio. $!!!!!

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen: 41

Nein-Stimmen: 44

Stimmenthaltungen: 3

Ziffer 4.14

Wortlaut wie folgt ändern:

Das dringendste Problem ist die Entsorgung der radioaktiven Abfälle und insbesondere die Endlagerung abgebrannter Brennstäbe, das zwar technisch, nicht aber politisch gelöst ist. Die Entsorgung ist ein großes Problem hinsichtlich der Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit und die öffentliche Akzeptanz der Atomkraft. Im hinweisenden Nuklearprogramm wird darauf aufmerksam gemacht, dass bisher noch kein Land die vorgeschlagene endgültige Lösung verwirklicht hat. In Finnland konnten insofern Fortschritte erzielt werden, als eine Endlagerstätte ausgewählt wurde, und auch in Schweden und Frankreich schreitet die Auswahl eines Standorts voran.

Begründung

Das Problem ist nirgendwo technisch gelöst.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen: 55

Nein-Stimmen: 69

Stimmenthaltungen: 4


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/62


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 des Rates über die Ratifikation des Übereinkommens der Vereinten Nationen über einen Verhaltenskodex für Linienkonferenzen durch die Mitgliedstaaten oder über den Beitritt der Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen“

KOM(2006) 869 endg. — 2006/0308 (COD)

(2007/C 256/12)

Der Rat beschloss am 20. März 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 80 des EG-Vertrags, um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Am 14. Februar 2007 beauftragte das Ausschusspräsidium die Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft mit der Vorbereitung der Arbeiten.

Aufgrund der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) Frau BREDIMA-SAVOPOULOU zur Hauptberichterstatterin und verabschiedete mit 86 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1

Der Ausschuss stimmt der vorgeschlagenen Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 zu, da diese eine unumgängliche Folge der Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 über eine Gruppenfreistellung für Linienkonferenzen ist. Er hält fest, dass diese beiden Verordnungen zusammen ein Maßnahmenpaket gebildet haben.

1.2

Die Verordnung (EWG) Nr. 954/79 des Rates behandelt den Beitritt der Mitgliedstaaten zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über einen Verhaltenskodex für Linienkonferenzen (im Folgenden „der UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen“ bzw. „der Verhaltenskodex“) bzw. seine Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass der UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen insgesamt von 81 Ländern ratifiziert wurde, einschl. der neuen „Zugpferde“ des weltweiten Handels, d.h. China, Indien, Russland und Brasilien, sowie Australien, Kanada, Japan, Nigeria, Mexiko, Indonesien, Saudi Arabien und Singapur. Er wurde ferner auch von 16 EU-Mitgliedstaaten ratifiziert. Auf Liniendienste entfallen 60 % des Gesamtumsatzes des internationalen Seehandels, der Großteil davon auf den Containertransport. Daher wird eine Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 (ebenso wie der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86) zweifelsohne Auswirkungen nach sich ziehen, die nicht unterschätzt werden dürfen.

1.3

Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission insbesondere auf, den internationalen Rechtsstatus von EU-Linienschifffahrtsunternehmen nach Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 zu klären. Angesichts der Bedeutung einer integrierten EU-Meerespolitik für die Rolle der EU in der Weltwirtschaft und der Schifffahrt (einschl. der EU-Schifffahrt) auf europäischen und internationalen Routen ist nach Auffassung des Ausschusses besondere Vorsicht geboten, wenn es darum geht, eine derartige Aufhebung zu meistern; außerdem müssen ihre Auswirkungen auf europäischer wie auch internationaler Ebene sorgfältig abgewogen werden. In Bezug auf den Kommissionsvorschlag zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 vertritt der Ausschuss die Meinung, dass darin folgende zwei Parameter ausgeklammert werden: Es gilt, a) jedwede Diskriminierung zwischen EU-Linienschifffahrtsunternehmen zu vermeiden, die eine derartige Aufhebung mit sich bringen könnte, (im Einklang mit Artikel 12 EG-Vertrag) und b) die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Linienschifffahrtsunternehmen (einschl. im Kurzstreckenverkehr tätiger Unternehmen) sicherzustellen (im Einklang mit der überarbeiteten Lissabon-Strategie).

1.4

Im Einklang mit seinen früheren Stellungnahmen und den Entschließungen des Europäischen Parlaments fordert der Ausschuss die Europäische Kommission auf, die (politischen, rechtlichen und praktischen) Auswirkungen anzugehen, die eine Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 4056/86 und Nr. 954/79 nach sich ziehen würde, um negativen Folgen für die Interessen der EU-Schifffahrt auf internationaler Ebene vorzubeugen.

1.5

Es wird davon ausgegangen, dass die Leitlinien, in denen die Anwendung der EU-Wettbewerbsregeln auf den Seeverkehr erläutert wird, die nach dem Verbot von Linienkonferenzen auf Routen in die und aus der EU ab 18. Oktober 2008 für die Linienschifffahrtsdienste gelten, es in erster Linie den Linienschifffahrtsunternehmen ermöglichen, eine Selbstbewertung in Bezug auf die Vereinbarkeit ihrer Vereinbarungen den EU-Wettbewerbsvorschriften vorzunehmen. Der Ausschuss ist daher der Auffassung, dass diese Leitlinien wohl kaum ausreichen werden, um die internationalen (politischen, rechtlichen und praktischen) Auswirkungen der Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 4056/86 und Nr. 954/79 zu bewältigen. Er hat jedoch in seinen Stellungnahmen ebenso wie das Europäische Parlament in seinen Entschließungen die Europäische Kommission wiederholt aufgefordert, diese Auswirkungen zu untersuchen und bei der Konzipierung jedweder neuen Regelung zu berücksichtigen. Der Ausschuss möchte daher rechtzeitig zu dem Entwurf für diese Leitlinien zur Anwendung der EU-Wettbewerbsregeln auf den Seeverkehr angehört werden; außerdem sollte er Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

1.6

Der Ausschuss stimmt zwar der Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 zu, versteht allerdings nicht, warum diese so dringend vorgenommen werden muss, ehe noch die internationalen Auswirkungen vor Kurzem angenommener EU-Maßnahmen für die Linienschifffahrt angemessen abgewogen und angegangen wurden.

2.   Einleitung

2.1

Die Container-Linienschifffahrtsindustrie ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der EU. Liniendienste machen im Containerverkehr wertmäßig rund 40 % des Seeweg-Außenhandels der EU-25 aus. Die drei weltweit größten Linienschifffahrtsunternehmen stammen aus Europa, und die Routen zwischen Asien und Europa sowie zwischen Asien und den Vereinigten Staaten sind bei weitem die wichtigsten Handelsrouten (1). Weltweit gibt es derzeit rund 150 Linienkonferenzen, von denen 28 Routen von der EU und in die EU bedienen. Zu den EU-Mitgliedstaaten, in denen Frachtunternehmen Liniendienste anbieten, zählen u.a. Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, das Vereinigte Königreich, die baltischen Länder und Zypern. Laut den aktuellsten verfügbaren Daten (2) entfallen auf Liniendienste einschl. Linienkonferenzen 60 % des Gesamtumsatzes des internationalen Seehandels und 25 % der 5,9 Mrd. Tonnen Fracht, die auf dem Seeweg transportiert werden.

2.2

Ziel dieses Vorschlags ist die Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 des Rates vom 15. Mai 1979 über die Ratifikation des Übereinkommens der Vereinten Nationen über einen Verhaltenskodex für Linienkonferenzen durch die Mitgliedstaaten oder über den Beitritt der Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen. Er resultiert aus der Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 über eine Gruppenfreistellung für Linienkonferenzen aufgrund der Annahme der Verordnung (EG) Nr. 1419/2006 des Rates vom 25. September 2006. Mit letztgenannter Verordnung wurde auch die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 geändert und ihr Anwendungsbereich auf Kabotage und internationale Trampdienste ausgeweitet.

2.3

Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über einen Verhaltenskodex für Linienkonferenzen (Genf, 6. April 1974) wurde unter der Schirmherrschaft der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) mit dem Ziel ausgearbeitet, einen harmonisierten internationalen Rahmen für die Durchführung von Linienkonferenzen zu erstellen. Der UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen wurde angenommen, um dem Interesse der Entwicklungsländer an einer größeren Einbindung ihrer Frachtunternehmer in den Linienfrachtbeförderungsdienst Rechnung zu tragen. Er war das Ergebnis langwieriger multilateraler Verhandlungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern (3). Die in diesem Kodex enthaltene Aufteilungsformel für den Ladungsanteil zwischen Export- und Importland sowie Frachtunternehmen aus Drittländern war dazu gedacht, protektionistischen Tendenzen einen Riegel vorzuschieben. Mit der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 sollten die Mechanismen des Verhaltenskodex mit den Grundsätzen des EG-Vertrags vereinbar gemacht werden.

2.4

Zu den EU-Mitgliedstaaten, die den UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen ratifiziert bzw. diesem beigetreten sind, zählen Belgien, Bulgarien, die Tschechische Republik, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, Malta, Niederlande, Portugal, Rumänien, die Slowakei, Spanien, Schweden und das Vereinigte Königreich. Auch Norwegen ist als EWR-Mitglied dem Kodex beigetreten.

2.5

Im Rahmen der Diskussionen über die Abschaffung des Linienkonferenzsystems in der EU hat das Europäische Parlament in zwei Entschließungen (aus den Jahren 2005 und 2006) Folgendes betont: „Da die Anwendung dieser Verordnung, [mit der die Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 abgeschafft wird (4), eine Rechtskollision mit dem Beitritt bestimmter Mitgliedstaaten zum Verhaltenskodex für Linienkonferenzen der UNCTAD schafft, empfiehlt es sich, dass sich die Mitgliedstaaten daraus zurückziehen, ohne dass ihnen dies jedoch vorgeschrieben werden kann. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, über ein präzises Verfahren zu verfügen, das es ermöglicht, mit etwaigen internationalen Rechtskollisionen umzugehen. […] unterbreitet die Kommission dem Europäischen Parlament eine transparente Übersicht über die Standpunkte von Drittländern (China, USA, Kanada, Japan, Singapur und Indien) in Bezug auf die neue Politik der Europäischen Union für den Linienverkehr (Akzeptanz, Anpassung, Widerstand, negative Folgen usw.) und ihrer Bereitschaft, ihre eigenen Regelungen anzupassen. […] sollte die Kommission die handelsspezifischen und politischen Konsequenzen einer […] Kündigung [des UNCTAD-Verhaltenskodex] gründlich prüfen. […] sollte die Kommission prüfen, ob es notwendig ist, weitere EG-Rechtsvorschriften, wie […] die Verordnung (EWG) Nr. 4055/86 des Rates vom 22. Dezember 1986 (5) zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf die Seeschifffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern, zu ändern oder aufzuheben.“ Ferner „ersucht [das Europäische Parlament] die Kommission (6), die Aufhebung von Artikel 9 der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 zur Durchführung von Verhandlungen im Falle einer Kollision des Gemeinschaftsrechts mit dem Recht von Drittstaaten nicht weiter vorzuschlagen, insbesondere im Hinblick auf die Absicht der Kommission, das Wettbewerbsrecht für die Seeschifffahrt zu überprüfen.“ Entgegen den Empfehlungen des Europäischen Parlaments wurde Artikel 9 jedoch gemeinsam mit der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 aufgehoben; und es fehlt offenbar nach wie vor an der geforderten gründlichen Bewertung der rechtlichen und politischen Auswirkungen der Aufhebung des Linienkonferenzsystems in der EU.

2.6

Der Ausschuss hat sich ebenfalls mit der Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 befasst und zwei einschlägige Stellungnahmen — eine im Jahr 2004 und eine weitere im Jahr 2006 — verabschiedet. Der Ausschuss behielt sich 2006 außerdem eine Stellungnahme dazu vor, ob die vorgeschlagene Abschaffung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 die gewünschte Wirkung haben würde. Er betonte, dass „das […] Linienkonferenzsystem immer noch multi- und bilateralen Vereinbarungen [unterliegt], deren Vertragsparteien die einzelnen Mitgliedstaaten und die Europäische Union sind.“ Der Ausschuss hielt fest, dass „die Europäische Kommission anerkennt, dass infolge dieser Vereinbarungen die Anwendung der sich auf die Gruppenfreistellung für Linienkonferenzen beziehenden Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 4056/86, d.h. Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe b) und c), Artikel 3 bis 8 und Artikel 28, um zwei Jahre verschoben werden sollte, um diese Vereinbarungen mit Drittstaaten aufzukündigen bzw. zu überarbeiten.“ Der Ausschuss war der Ansicht, dass „die Europäische Kommission auch die Interessen der KMU bei der Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 berücksichtigen sollte. KMU sind das Rückgrat der europäischen Wirtschaft und spielen im Zusammenhang mit der überarbeiteten Lissabon-Strategie eine grundlegende Rolle. Die Märkte sollten für sämtliche derzeitige und potentielle künftige Mitbewerber, einschl. kleine und mittlere Schifffahrtsunternehmen, zugänglich bleiben.“ Der Ausschuss bekräftigte abschließend, dass „trotz der möglichen positiven Auswirkungen einer Konsolidierung für die europäische Industrie (Effizienzsteigerung, Skalenwirtschaft, Kosteneinsparungen) Vorsicht geboten sein muss, um zu vermeiden, dass diese Konsolidierung, die der Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 folgen könnte, dazu führt, dass es weniger Teilnehmer, d.h. weniger Wettbewerb auf den einschlägigen Märkten gibt.“

3.   Der Kommissionsvorschlag

3.1

Der Verordnungsvorschlag enthält lediglich zwei Artikel, und zwar Artikel 1 zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 sowie Artikel 2 zum Inkrafttreten der neuen Verordnung am 18. Oktober 2008.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der Ausschuss hat die Wettbewerbsregeln für den Seeverkehr und insbesondere die Frage der Linienkonferenzen seit mehr als 20 Jahren aufmerksam verfolgt. In diesem Zeitraum wurden unterschiedliche Meinungen zu den Vorteilen einer Abschaffung der Gruppenfreistellung für Linienkonferenzen zum Ausdruck gebracht. Aufgrund der Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 durch die Verordnung (EG) Nr. 1419/2006 werden Linienkonferenzen, die EU-Häfen bedienen, dennoch zum 18. Oktober 2008 abgeschafft.

4.2

Die Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 und die Verordnung (EWG) Nr. 954/79 bilden ein Maßnahmenpaket, wobei letztere aufgrund der Ratifizierung des UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen durch einige EU-Mitgliedstaaten erlassen wurde. Daher bedingt die Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 auch die Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79. Aus diesem Grund kann der Ausschuss, der sich ursprünglich gegen die Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 ausgesprochen hat, diese jedoch letztlich zwangsweise akzeptieren musste, gleichzeitig allerdings auch vor ihren Folgen gewarnt hat, der vorgeschlagenen Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 zur Vereinfachung der EU-Rechtsetzung nur zustimmen. Dennoch möchte der Ausschuss wie im Zusammenhang mit der Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/98 erneut betonen, dass etwaige rechtliche und/oder politische (sowie möglicherweise negative) Auswirkungen der vorgeschlagenen Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 ernsthaft untersucht werden müssen. Der Ausschuss hält jedoch fest, dass in dem Vorschlag zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 mögliche politische, rechtliche und praktische Probleme, die aufgrund dieser Aufhebung entstehen könnten, offensichtlich erneut nicht untersucht werden. Der Ausschuss stellt zwar die Notwendigkeit dieser Aufhebung keinesfalls in Frage, da sie aufgrund der Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 unbedingt erforderlich ist, bekräftigt allerdings seinen Standpunkt, dass ihre möglichen Auswirkungen — politischer, rechtlicher und praktischer Natur — von der EU in angemessener Weise angegangen werden sollten.

4.3

Der UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen und das Konzept der Linienkonferenzen werden im Acquis communautaire und anderen von der EU angenommenen Rechtsinstrumente erwähnt. So ist er beispielsweise die Grundlage für die Verordnung (EWG) Nr. 4055/86, die Verordnung (EWG) Nr. 4058/86 (7) und die Verordnung (EG) Nr. 823/2000 über Seeschifffahrtsunternehmen (Konsortien). Er wird außerdem ausdrücklich in einigen bilateralen Vereinbarungen, beispielsweise zwischen der EU und Russland (Art. 39 Abs. 1 Buchst. a) und zwischen der EU und Algerien aus dem Jahr 2005 (Art. 34 Abs. 3), genannt.

4.4

Bei der Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 verwies die Europäische Kommission darauf, dass sie die Ausarbeitung von Leitlinien beabsichtigt, um die Anwendung der EU-Wettbewerbsregeln auf den Seeverkehr einschl. Linienschifffahrtsdienste zu erläutern. In Bezug auf letztere sollten diese Leitlinien Linienbetreiber nach dem 18. Oktober 2008, d.h. dem Datum, ab dem Linienkonferenzen für Routen in die und aus der EU abgeschafft werden, bei der Durchführung einer Selbstbewertung ihrer Kooperationsvereinbarungen in Bezug auf deren Vereinbarkeit mit dem EU-Wettbewerbsrecht (d.h. Artikel 81 und 82 EG-Vertrag) helfen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob diese Leitlinien Lösungsvorschläge für etwaige rechtliche Probleme auf internationaler Ebene hergeben, die durch die Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 entstehen würden. Nach dem Verständnis des Ausschusses ist der Entwurf der Leitlinien derzeit sehr allgemein gehalten und bietet somit nicht die erforderliche Rechtssicherheit für die Schiffsindustrie, von der die Vornahme einer Selbstbewertung erwartet wird. Außerdem scheinen in dem Entwurf auch die internationalen Auswirkungen der Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 4056/86 und Nr. 954/79 ausgeklammert zu sein. Der Ausschuss möchte daher rechtzeitig angehört werden, um weitere Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen und nötigenfalls der Europäischen Kommission mit Rat und/oder Sachverstand bei der Ausarbeitung der endgültigen Leitlinien zur Seite zu stehen.

4.5

Nach Ansicht des Ausschusses lautet die wichtigste Frage, die aufgegriffen werden muss: Wird die vorgeschlagene Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 auch die rechtliche Verpflichtung zur Aufkündigung des UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen nach sich ziehen? Der Ausschuss stellt fest, dass die Europäische Kommission diese Frage in ihrer Begründung des Vorschlags für eine Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 nicht untersucht hat. Die Europäische Kommission scheint jedoch den Standpunkt zu vertreten, dass die EU-Mitgliedstaaten, die Vertragsparteien des Verhaltenskodex sind, rechtlich nicht dazu verpflichtet sind, diesen Kodex aufzukündigen. In diesem Falle sähe die rechtliche Lage nach Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 wie folgt aus: Die EU-Mitgliedstaaten müssen den Verhaltenskodex zwar nicht aufkündigen, können ihn jedoch auf Routen in die und aus der EU nicht länger anwenden; der Kodex behält allerdings auf anderen Kontinenten seine Gültigkeit. Gleichzeitig sind EU-Mitgliedstaaten, die den Verhaltenskodex bislang nicht ratifiziert haben, nach dem 18. Oktober 2008 nicht mehr in der Lage, diesen zu ratifizieren (siehe Begründung und fünfter Erwägungsgrund des Vorschlags für die Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79). Daher kann ein EU-Mitgliedstaat, der nicht Vertragspartei des UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen ist, diesem Kodex jedoch im Hinblick auf die Sicherstellung der Interessen seiner Linienschifffahrtsunternehmen auf Nicht-EU-Routen beitreten möchte, nicht mehr Vertragspartei werden.

4.6

Vor diesem Hintergrund könnte es nach dem 18. Oktober 2008 zu einem rechtlichen Paradoxon kommen: Unternehmen aus EU-Mitgliedstaaten, die den UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen ratifiziert, aber nicht aufgekündigt haben, könnten nach wie vor von den in Artikel 2 Absatz 4 Buchstabe a) und b) sowie in der Entschließung Nr. 2 enthaltenen Bestimmungen über die Rechte von Frachtunternehmen aus Drittländern (so genannte „Cross Traders“) profitieren; Unternehmen aus EU-Mitgliedstaaten, die nicht Vertragspartei des Verhaltenskodex sind und diesen nach dem 18. Oktober 2007 auch nicht mehr ratifizieren bzw. ihm beitreten dürfen, würden hingegen nicht von seinen Bestimmungen profitieren. Daher stellt sich die folgende Frage: Darf ein Vorschlag angenommen werden, der zu einer Diskriminierung zwischen EU-Frachtunternehmen führt, die mit Artikel 12 EG-Vertrag nicht vereinbar ist? Und würde eine derartige Situation nicht die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen in Europa und/oder weltweit beeinträchtigen, was der erneuerten Lissabon-Strategie widerspräche? Würde eine derartige Situation nicht auch die Notwendigkeit eines bereichsübergreifenden Ansatzes für die EU-Politik, insbesondere der Verkehrs- und der Wettbewerbspolitik, in Bezug auf den Seeverkehr aufzeigen, auf den im Grünbuch über eine künftige Meerespolitik der Europäischen Union hingewiesen wurde?

4.7

Der Ausschuss legt der EU ausdrücklich nahe, die internationalen Auswirkungen der Abschaffung des Linienkonferenzsystems nicht zu unterschätzen. Er weist darauf hin, dass in anderen Rechtsordnungen Systeme der „kartellrechtlichen Immunität“ — zumindest vorläufig — beibehalten werden. Einige Drittländer haben Bedenken in Bezug auf die Abschaffung des Linienkonferenzsystems in der EU geäußert. In diesem Zusammenhang sei auf eine vor Kurzem veröffentlichte Stellungnahme des asiatischen Reederforums (ASF) (Busan, Korea, 29. Mai 2007) verwiesen:

„Die Mitglieder haben die jüngsten Entwicklungen in Australien, China, Hongkong, Japan und Singapur zur Kenntnis genommen; sie haben ferner besorgt die Entscheidung der EU, die Gruppenfreistellung für Linienkonferenzen abzuschaffen, zur Kenntnis genommen. Die Delegierten bekräftigen den seit langem vom ASF vertretenen Standpunkt, dass das kartellrechtliche Immunitätssystem für eine gesunde Schiffsindustrie und ihre Fähigkeit, die erforderlichen Investitionen zur Erfüllung der immer größeren Nachfrage nach internationalem Handel freizusetzen, unabdingbar ist und der gesamten Handelsindustrie zu Gute kommt. Es wurde vereinbart, dass Frachtunternehmen kontinuierlich Anstrengungen dahingehend unternehmen sollten, andere in diesem Bereich tätige Akteure wie Reeder und Regierungen für die Bedeutung von Frachtabkommen zur Förderung des Handels zu sensibilisieren. Das ASF hält fest, dass ihre Mitglieder, insbesondere der koreanische Reederverband KSA, der japanische Reederverband JSA und der Reederverband aus Shanghai SSA, schriftliche Eingaben bei der Europäischen Kommission und den zuständigen Stellen gemacht haben, um sich gegen die Abschaffung des kartellrechtlichen Immunitätssystems auszusprechen; in ihrer Antwort an den koreanischen Reederverband KSA hat die Europäische Kommission ausgeführt, dass sie zwar die Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 aufheben werde, allerdings eine Alternative vorbereiten wolle und die Verordnung über Seeschifffahrtsunternehmen (Konsortien) gültig bleibe, da diese eine der beiden Pfeiler des kartellrechtlichen Immunitätssystem sei.“ Der Ausschuss nimmt diese Stellungnahme des ASF als Beispiel für die Notwendigkeit zur Kenntnis, die internationalen Auswirkungen der Abschaffung des Linienkonferenzsystems in der EU auf internationaler Ebene und in einer globalisierten Wirtschaft im Einklang mit ähnlichen Forderungen seinerseits wie auch des Europäischen Parlaments zu bewerten — oder zumindest angemessen abzuwägen.

4.8

Aufgrund dieser Überlegungen ist der Ausschuss der festen Überzeugung, dass diese Frage nicht nur unter dem Blickwinkel des Wettbewerbsrechts geprüft werden kann. Die politische Dimension der Abschaffung des Linienkonferenzsystems in der EU sowie der Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 ganz allgemein und deren seeverkehrspolitische Dimension im Besonderen dürfen nicht unterschätzt werden. Daher kann der Ausschuss nicht verstehen, warum der Kommissionsvorschlag zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 so dringlich ist, da die internationalen Auswirkungen der Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts auf den Seeverkehr sowie insbesondere die Abschaffung des Linienkonferenzsystems bislang nicht entsprechend angegangen wurden, obwohl mehrmals, u.a. auch seitens des Ausschusses, derartige Forderungen erhoben wurden.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Angesichts des Ratifizierungsstandes des UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen weist der Ausschuss darauf hin, dass in der Begründung zum Kommissionsvorschlag zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 13 EU-Mitgliedstaaten als Vertragsparteien des Verhaltenskodex genannt werden, wohingegen in Wirklichkeit jedoch nach der Ratifizierung durch Rumänien, Bulgarien und Malta bereits 16 EU-Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind.

In der Verordnung (EWG) Nr. 954/79 sind bestimmte Vorbehalte zum Schutz der Interessen u.a. von Linienschifffahrtsunternehmen aus Drittländern („Cross Traders“) verankert. In dem Vorschlag zur Aufhebung dieser Verordnung sind jedoch keinerlei derartige Schutzmaßnahmen vorgesehen. In diesem Zusammenhang sollten die Interessen von EU-Linienschifffahrtsunternehmen, die auf Routen zwischen anderen Kontinenten tätig sind (auf die der UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen sehr wohl Anwendung findet), keinesfalls unterschätzt werden. An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass dieser Kodex insgesamt von 81 Ländern ratifiziert wurde, einschl. der neuen „Zugpferde“ des weltweiten Handels, d.h. den BRICS-Ländern China, Indien, Russland und Brasilien, sowie Indonesien, Mexiko, Nigeria, Saudi Arabien, Australien, Kanada, Japan und Singapur.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Siehe Schlussbericht von Global Insight über die Anwendung von Wettbewerbsvorschriften auf die Linienschifffahrt, Oktober 2005.

(2)  Siehe UNCTAD — 2003, Clarksons — 2003.

(3)  ABl. C 157 vom 28.6.2005.

(4)  Entschließung des Europäischen Parlaments A6-0217/2006 vom 22. Juni 2006.

(5)  ABl. L 378 vom 31.12.1986, S. 1.

(6)  Entschließung des Europäischen Parlaments A6-0314/2005 vom 24. Oktober 2005.

(7)  Die Verordnung (EWG) Nr. 4055/86 vom 22. Dezember 1986 (zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf die Seeschifffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern) beruht auf dem UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen. Artikel 4 Absatz 1 Buchstaben a) und b) enthält eine Bestimmung für das Auslaufen bestehender Ladungsanteilvereinbarungen unter direktem Verweis auf den UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen. Die Verordnung (EWG) Nr. 4058/86 vom 22. Dezember 1986 (für ein koordiniertes Vorgehen zum Schutz des freien Zugangs zu Ladungen in der Seeschifffahrt) beruht ebenfalls auf dem UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen. In Artikel 1 sind Maßnahmen für die Beförderung von Linienladungen im Kodex-Verkehr und im Nicht-Kodex-Verkehr vorgesehen. ABl. L 378 vom 31.12.1986, S. 4.


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/66


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Funkfrequenzkennzeichung (RFID)“

(2007/C 256/13)

In einem Schreiben vom 26. Februar 2007 ersuchte die Europäische Kommission den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um eine Stellungnahme zu: „Funkfrequenzkennzeichnung (RFID)“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 19. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr MORGAN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) mit 138 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Funkfrequenzkennzeichnung (RFID) ist eine bedeutsame Technik, die im Laufe der Zeit sehr wichtig werden wird. Ihre heutigen und künftigen Anwendungen verfügen über das Potenzial, eine große Bandbreite von Geschäftsabläufen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor spürbar zu verbessern und dem Einzelnen und Unternehmen großen Nutzen zu bringen. Sie verfügt ferner über das Potenzial, eine großrahmige Entwicklung bei Internetanwendungen anzustoßen und das zu ermöglichen, was eine UN-Agentur als das „Internet der Dinge“ beschrieb. Die RFID-Technik muss jedoch sehr sorgfältig kontrolliert werden, ansonsten besteht die Gefahr der Verletzung der Privatsphäre und der Bürgerrechte sowie der Bedrohung der Sicherheit des Einzelnen und von Unternehmen.

1.2

Der Volltitel der Kommissionsmitteilung lautet „Funkfrequenzkennzeichnung (RFID) in Europa: Schritte zu einem ordnungspolitischen Rahmen“. Die Kommission hat bereits eine umfassende Konsultation durchgeführt, auf die sich diese Mitteilung stützt. Der EWSA ist nun aufgefordert, eine Sondierungsstellungnahme vorzulegen. Auf der Grundlage der Reaktionen auf die Mitteilung wird die Kommission Ende des Jahres eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten veröffentlichen. Rechtsvorschriften, deren Ausarbeitung längere Zeit benötigen würde, folgen später. Daher sollte diese Stellungnahme dann den Schwerpunkt auf den Inhalt dieser Empfehlung legen.

1.3

Die Kommission hat beschlossen, eine RFID-Interessengruppe einzurichten, um sie bei der Formulierung der Empfehlung zu unterstützen. Der EWSA würde sich freuen, wenn er seine Stellungnahme in dieser Interessengruppe vorstellen dürfte.

1.4

Der EWSA begrüßt die von der Kommission in den Bereichen Funkfrequenzen, Normen, Gesundheit, Sicherheit sowie Umwelt vorgeschlagenen Maßnahmen. Der Ausschuss betont, dass dringend ein wirksamer industrieller Beitrag zum Standardisierungsforum erforderlich ist.

1.5

Da die Kommission Ende des Jahres ihre Empfehlungen an die Mitgliedstaaten veröffentlichen will, ist anzunehmen, dass sie die Sicherheits- und Datenschutzinfrastruktur in ihrer jetzigen Form akzeptieren wird. Insbesondere weist dies darauf hin, dass die in allen Mitgliedstaaten bereits bestehenden Datenschutzorgane die für den Schutz der Privatsphäre und den Datenschutz im Zusammenhang mit der RFID-Technik zuständigen Behörden werden. Diese Themen stehen im Mittelpunkt dieser Stellungnahme.

1.6

Die Privatsphäre und die Bürgerrechte sind mehreren ernsthaften Bedrohungen ausgesetzt:

RFID-Etiketten können ohne das Wissen desjenigen, der diese Gegenstände erwirbt, in/auf Gegenständen und Dokumenten angebracht werden. Da Funkwellen leicht und einfach Gewebe, Plastik und andere Materialien durchdringen, ist es möglich, in Kleidungsstücke eingenähte oder an in Hand- oder Einkaufstaschen, Koffern u.ä. befindlichen Gegenständen angebrachte RFID-Etiketten zu lesen.

Durch den elektronischen Produktcode könnte jeder Gegenstand auf der Erde seine ganz persönliche und eindeutige Identität erhalten. Die Nutzung eindeutiger Identifikationsnummern könnte zur Schaffung eines globalen Produktregistrierungssystems führen, in dem jeder physische Gegenstand identifiziert und am Verkaufs- oder Übergabeort dem jeweiligen Käufer oder Besitzer zugeordnet wird.

Die Einführung der RFID-Technik erfordert die Schaffung umfangreicher Datenbanken, die Daten von eindeutigen Etiketten enthalten. Diese Aufzeichnungen könnten mit Daten zur persönlichen Identifizierung verknüpft werden, insbesondere da das Speicher- und Datenverarbeitungsvermögen der Computer zunimmt.

Etiketten können aus einer Entfernung gelesen werden, die sich nicht auf die Sichtweite beschränkt, von Lesegeräten, die unsichtbar in nahezu jede Umgebung integriert werden können, in der Menschen zusammenkommen. Lesegeräte können in Bodenfliesen eingebaut, in Teppiche eingewoben, in Türdurchgängen und Regalen versteckt werden, wodurch der Einzelne faktisch nicht wissen kann, wann er oder sie gescannt wird.

Wenn die persönliche Identität mit eindeutigen RFID-Etikettennummern verknüpft wird, können Einzelpersonen ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung geortet oder ihr Profil erstellt werden.

Eine Welt, in der RFID-Lesegeräte ein umspannendes globales Netz bilden, ist durchaus vorstellbar. Für ein solches Netz sind nicht überall Lesegeräte erforderlich. Das System für die Londoner Citymaut kann alle Autos, die in die Innenstadt von London einfahren, mit relativ wenigen, strategisch platzierten Kameras erfassen. Ein Netz strategisch platzierter RFID-Etikettenlesegeräte könnte auf ähnliche Weise aufgebaut werden. Dies darf nicht geschehen!

1.7

Aus diesen Bedrohungen ergeben sich nachstehende Folgerungen:

Nutzer der RFID-Technik müssen ihre Maßnahmen und ihre Vorgehensweise öffentlich machen und es darf keine geheimen Datenbanken mit persönlichen Informationen geben.

Jeder hat das Recht zu erfahren, wenn Produkte im Einzelhandel RFID-Etiketten oder Lesegeräte enthalten. Wenn ein RFID-Etikett im Einzelhandel gescannt wird, muss dies für alle Beteiligten transparent sein.

Nutzer der RFID-Technik müssen bekannt geben, zu welchen Zwecken Etiketten und Lesegeräte eingesetzt werden. Die Sammlung von Informationen sollte sich auf das beschränken, was für den aktuellen Zweck erforderlich ist.

Nutzer der RFID-Technik sind sowohl für die Umsetzung der Technologie als auch für die Einhaltung von Datenschutzvorschriften und diesbezüglichen Leitlinien verantwortlich. Ferner sind sie für die Sicherheit und Integrität des Systems und seiner Datenbanken verantwortlich.

1.8

Es bleibt offen, wie diese Grundsätze in die Praxis umgesetzt werden sollen. Ideal wäre es, wenn jedes Unternehmen, das an Transaktionen zwischen Gewerbetreibenden und Endverbrauchern beteiligt ist, wie z.B. der Einzelhandel, die Fahrschein- und Eintrittskartenausstellung, Zugangskontrollen oder Transportdienstleister, den Kunden eine Art Garantie dafür gäbe, dass diese Grundsätze eingehalten werden, eine Art Kundencharta. Konzeptionell könnte eine solche Charta alle in Ziffer 4.5 aufgeführten Grundsätze für vorbildliche Verfahren in Bezug auf den Datenschutz enthalten. Daneben empfiehlt der EWSA folgende Leitlinien:

a)

Es sollte Händlern verboten werden, Kunden zur Akzeptanz aktiver oder passiver Etiketten in den Produkten, die sie erwerben, zu zwingen. Z.B. könnten Etiketten auf Verpackungsmaterial angebracht oder, wie bei Preisetiketten, entfernbare Etiketten verwendet werden.

b)

Den Kunden sollte es ohne Einschränkung möglich sein, die Etiketten an jedem Gegenstand in ihrem Besitz zu entfernen oder zu deaktivieren.

c)

Die RFID-Technik darf nicht dazu eingesetzt werden, den Aufenthaltsort von Menschen zu orten. Menschen dürfen z.B. nicht über ihre Kleidungsstücke, Waren, Fahrscheine, Eintrittskarten oder andere Gegenstände geortet werden.

d)

Die RFID-Technik darf niemals so eingesetzt werden, dass durch sie die Anonymität aufgehoben oder eingeschränkt wird.

e)

Die zuständige Behörde sollte eindeutig vorgeben, dass c) und d) nur unter außergewöhnlichen Umständen und wenn die Behörde zuvor offiziell informiert wurde zulässig sind.

1.9

Gewisse Ausnahmen zu diesen Leitlinien können erwogen werden, wenn

Privatpersonen von der Option Gebrauch machen, die Etiketten aus persönlichen Gründen aktiviert zu lassen.

Privatpersonen ihre Zustimmung geben, in kritischen Umgebungen — wie etwa hochsicheren öffentlichen und privaten Einrichtungen und Institutionen — geortet zu werden.

Privatpersonen sich entschließen, Anwendungen zu nutzen, mit denen sie auf gleiche Weise orten und identifizieren wie sie bereits über die Nutzung von Mobiltelefonen, Bankkarten, Internetadressen usw. geortet und identifiziert werden.

Solche Ausnahmen sollten der zuständigen Behörde immer gemeldet werden.

1.10

Da die RFID-Technik noch nicht ausgereift ist, ist ihr Potenzial noch nicht vollständig bekannt. Einerseits kann sie unserer technologisierten Zivilisation unvorstellbaren Nutzen bringen, und andererseits kann sie sich zur größten technologischen Bedrohung unserer Privatsphäre und unserer Freiheit entwickeln. Der EWSA ist der Ansicht, dass bei der Entwicklung von RFID-Anwendungen ein strenger Ethik-Kodex eingehalten werden sollte, in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre, die Freiheit und die Datensicherheit, dass aber die Entwicklung von Anwendungen unter der Voraussetzung der erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen weiter verfolgt werden sollte.

1.11

Kurz gefasst: Dort, wo RFID-Anwendungen zugelassen sind, sollte die Umsetzung für alle Beteiligten vollständig transparent sein. Anwendungen für ein besseres Warenmanagement sind generell akzeptabel. Anwendungen, die eine Ortung von Personen beinhalten, sind generell nicht akzeptabel, mit Ausnahme solcher Umgebungen, in denen sich diese Personen nur vorübergehend aufhalten. Anwendungen, die Waren Personen zuordnen, können für Marketingzwecke akzeptabel sein. Anwendungen, die Personen über die von ihnen gekauften Waren identifizieren, sind generell nicht akzeptabel. Einige Anwendungen sind jedoch mit einer freien Gesellschaft nicht vereinbar und sollten niemals zugelassen werden. Das Gebot der Achtung der Privatsphäre und der Wahrung der Anonymität muss im Mittelpunkt der Empfehlung der Kommission an die Mitgliedstaaten stehen.

2.   Was ist RFID und was ist das Besondere an dieser Technik?

2.1

Die Funkfrequenzkennzeichnung (Radio Frequency Identification, RFID) ist eine Technik für die automatische Identifizierung und Datenerfassung mit Hilfe von Funkfrequenzen. Ihr herausragendes Merkmal ist die Möglichkeit, beliebige Gegenstände, Tiere oder sogar Personen mittels Mikrochip mit einer eindeutigen Kennung und anderen Angaben zu versehen, die dann drahtlos ausgelesen werden können.

2.2

Die Etiketten selbst bestehen aus einem elektronischen Schaltkreis, der Daten speichert, und einer Antenne, die die Daten über Funk weitergibt. Mit einem RFID-Erfassungsgerät werden die Etiketten angesprochen, um die gespeicherten Informationen abzurufen. Wenn das Lesegerät Funkwellen aussendet, antworten alle Etiketten, die sich im Erfassungsbereich befinden. Um das Lesegerät zu steuern und die Informationen zu sammeln und zu filtern, ist eine Software erforderlich.

2.3

Es gibt unterschiedliche Arten von RFID-Systemen. Die Etiketten können entweder aktiv oder passiv sein. Aktive Etiketten enthalten eine integrierte Batterie, um die internen Schaltungen zu betreiben und Funkwellen zu erzeugen, sie können auch ohne ein RFID-Erfassungsgerät senden. Passive Etiketten werden mit der Energie der durch das Erfassungsgerät übertragenen Funkwellen betrieben und haben keine eigene Energieversorgung. Etiketten können nur mit Leserechten, aber auch mit Schreib- und Leserechten ausgestattet sein. Nur mit Leserechten ausgestattete Etiketten sind preiswerter in der Herstellung und kommen in den meisten gängigen Anwendungen zum Einsatz.

2.4

Die Reichweite eines RFID-Systems hängt von der Funkfrequenz, der Leistung des Lesegeräts und dem Werkstoff zwischen dem Etikett und dem Lesegerät ab. Sie kann von wenigen Metern bei passiven Systemen bis zu über 100 Metern bei aktiven Systemen reichen.

2.5

Die RFID-Technik befindet sich am untersten Ende der Hierarchie bei der Drahtlostechnologie. Ausgehend von der Entfernung, die das Signal zurücklegt, rangieren Satellitenkommunikationssysteme wie GPS an oberster Stelle. Danach folgen Mobiltelefontechnologien wie GSM und GPRS, dann kommen Signale mit einer kürzeren Reichweite wie Wi-Fi, dann persönliche Netze wie Bluetooth und schließlich die RFID-Technik. Jede dieser Technologien ist für sich allein stehend und eigenständig, so dass beispielsweise keine Gefahr besteht, dass Satellitensysteme RFID-Etiketten lesen könnten. Daten können jedoch mit Geräten wie etwa Mobiltelefonen zwischen den einzelnen Systemen übertragen werden.

2.6

Im Folgenden einige Beispiele für potenzielle Vorteile von RFID-Anwendungen:

Für den Einzelnen kann sie Sicherheit (z.B. Lebensmittelsicherheit, Gesundheitsfürsorge, Kopierschutz), Bequemlichkeit (kürzere Kassenschlangen, eine bessere Gepäckabfertigung an Flughäfen, automatisierte Zahlungsvorgänge) und eine bessere Krankenversorgung bedeuten, insbesondere bei chronischen Krankheiten wie Demenz.

Im Verkehr wird die RFID-Technik voraussichtlich zur Steigerung der Effizienz, Sicherheit und Dienstleistungsqualität für Menschen und Waren beitragen.

Im Gesundheitswesen kann die RFID-Technik eingesetzt werden, um die Versorgungsqualität und die Patientensicherheit zu erhöhen, aber auch um die Einhaltung der Medikation und die Logistik zu verbessern. Es wird daran gearbeitet, einzelne Pillen mit RFID-Etiketten zu versehen.

Im Einzelhandel kann die RFID-Technik helfen, Versorgungsengpässe, Lagerbestände und Diebstahlverluste zu verringern.

In vielen Branchen, die mit Raubkopien zu kämpfen haben, kann der Einsatz der RFID-Technik zur Ortung des Punktes beitragen, an dem illegale Produkte in die Versorgungskette eingeschleust werden.

Ferner wird die Funkfrequenzkennzeichnung voraussichtlich Verbesserungen bei der Sortierung und beim Recycling von Produktteilen und Werkstoffen bringen, was sich positiv auf die Abfallwirtschaft und die nachhaltige Entwicklung auswirken wird.

2.7

Viele Aspekte des Einsatzes der RFID-Technik werden durch den Lebenszyklus von Büchern veranschaulicht. Die schiere Menge an gedruckten Büchern ist für Verlage, für den Vertrieb, für Bibliothekare und Buchhändler ein logistischer Albtraum. Neben der Lieferkettenlogistik müssen die Bücher auch, wenn sie im Regal stehen, weiterhin geortet werden können, damit sie gefunden und ersetzt werden können. Bibliotheken müssen den Verleihzyklus kontrollieren, während die Buchkäufer manchmal nicht genau wissen, wo genau ihre eigenen Bücher stehen. Mit RFID-Etiketten versehene Bücher bieten eine Lösung für all diese Probleme. Die Kontrolle über Leihbücher findet Parallelen in vielen weiteren Anwendungen, bei denen Gegenstände sich in einem Umlaufzyklus befinden oder verliehen werden.

2.8

Um die dieser Technik inhärenten Risiken zu veranschaulichen, im Folgenden ein Auszug einer Patentanmeldung von IBM (20020615758) vom November 2002. Sie betrifft die Identifizierung und Ortung von Personen, die mit RFID-Etiketten versehene Gegenstände benutzen.

„Ein Verfahren und ein System zur Identifizierung und Ortung von Personen mit Hilfe von Gegenständen, die mit RFID-Etiketten versehen sind und die diese Personen mit sich führen. Aufzeichnungen über früher getätigte Käufe für jede Person, die in einem Geschäft einkauft, werden von Terminals am Verkaufsort gesammelt und in einer Transaktionsdatenbank gespeichert. Wenn eine Person mit Produkten, die mit RFID-Etiketten versehen sind, das Geschäft oder einen anderen ausgewiesenen Bereich betritt, scannt ein dort befindlicher Scanner für RFID-Etiketten die Etiketten, die diese Person mit sich trägt, und liest die Informationen auf dem RFID-Etikett. Die gesammelten Informationen der RFID-Etiketten werden mit den in der Transaktionsdatenbank gespeicherten Transaktionsaufzeichnungen nach bekannten Korrelationsalgorithmen abgeglichen. Auf der Grundlage der Ergebnisse der Korrelation können die genaue Identität der Person bzw. bestimmte Charakteristika dieser Person bestimmt werden. Diese Informationen werden genutzt, um die Bewegungen der Person im Geschäft oder anderen Bereichen zu verfolgen.“

Die Patentanmeldung Nummer 20050038718 von American Express ist ähnlich angelegt.

2.9

RFID ist eindeutig mehr als ein elektronischer Strichcode. Die wesentlichen Unterschiede in der oben genannten Patentanmeldung sind folgende:

a)

Das Etikett enthält nicht nur die Beschreibung des Produkts, sondern auch die diskrete Produktkennung, die wiederum den Käufer des Produkts identifizieren kann.

b)

Das Etikett muss kein physischer Mikrochip sein. Die Schaltkreise können direkt auf die meisten Werkstoffe aufgedruckt werden, so auch auf ein Kleidungsstück.

c)

Das Etikett kann nach dem Verkauf aktiviert bleiben, so dass es ständig neu gelesen werden kann.

d)

Die Etikettenlesegeräte befinden sich nicht nur am Verkaufsort, sondern können sich überall befinden, nicht nur in den Geschäftsräumen des jeweiligen Einzelhändlers.

e)

Die Korrelation über eine Datenbank führt neue Dimensionen der Datensammlung, des Datenschutzes und der Datensicherheit ein.

2.10

Darüber, ob ein Etikett nach der Bezahlung an der Kasse aktiviert bleiben sollte oder nicht, lässt sich streiten. Einerseits stellt dies eine Bedrohung der Privatsphäre dar. Andererseits könnte es dem Käufer nutzen. Z.B. könnte ein RFID-Lesegerät zu Hause bei der Ordnung von Weinkellern, Kühl- und Kleiderschränken sowie Bibliotheken helfen. Logischerweise sollte die Wahl daher zwar dem Einzelnen überlassen bleiben, doch müssen die Technik und die Anwendung ihm diese Wahlmöglichkeit auch bieten.

2.11

Die RFID-Technik findet sehr viel mehr Anwendungen als nur als Produktkennzeichnung im Einzelhandel. Auch die EWSA-Zugangsausweise sind mit RFID-Technik ausgestattet. Die Londoner U-Bahn-Gesellschaft setzt relativ umfassend RFID-Karten zum Zahlen und für den Zugang ein. Kreditkarten werden sehr bald mit einem RFID-Chip ausgestattet sein, um so geringwertige Transaktionen ohne Geheimzahl durchführen zu können. RFID-Plaketten werden genutzt, um die Straßenmaut zu erheben sowie zur Fahreridentifizierung. Der Zugang zu Skiliften wird in einigen europäischen Skigebieten über RFID-Plaketten kontrolliert, die in einer Tasche im Skianzug getragen werden. Der Berichterstatter trägt täglich drei RFID-Karten und eine RFID-Plakette mit sich. Sein Hund wird über einen subkutanen RFID-Chip identifiziert. Solche Chips werden weltweit immer stärker eingesetzt, um Tiere zu kenneichnen und die Rückverfolgbarkeit in der Lebensmittelkette sicherzustellen. Bis zur Kennzeichnung von Kriminellen und Problempatienten nach dem Vorbild von Hunden könnte es nur ein kleiner Schritt sein.

2.12

Der im EWSA verwendete Ausweis ist eine unbedenkliche RFID-Anwendung. Mit der Identität wird es sehr viel problematischer, wenn RFID-Etiketten in Arbeitskleidung oder Uniformen eingebaut werden, damit die Bewegungen der betreffenden ständig von Scannern verfolgt werden können, die an allen strategisch wichtigen Punkten auf dem entsprechenden Gelände angebracht sind. Zugegebenermaßen kann dies jedoch in manchen Fällen wünschenswert sein, z.B. aus Sicherheitsgründen. Die Ortung des Aufenthaltsorts einer Person könnte jedoch, wenn sie nicht mit geeigneten Sicherungsvorkehrungen einhergeht, zu einem Eingriff in die Privatsphäre werden, der wohlbegründet und sehr sorgfältig kontrolliert werden muss.

2.13

Über einen bizarren Vorboten künftiger Anwendungen berichtet die britische Zeitung „The Economist“: Die Eintrittskarte zum VIP-Bereich des Baja Beach Club in Barcelona besteht aus einem Mikrochip, der in den Arm des Besuchers eingesetzt wird. Der Chip ist etwas größer als ein Reiskorn und von Glas und Silizium ummantelt; er wird genutzt, um Menschen beim Eingang und beim Bezahlen von Getränken zu identifizieren. Der Chip wird bei lokaler Betäubung von einer Krankenschwester injiziert. Letztlich handelt es sich hierbei um ein RFID-Etikett.

3.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsmitteilung

3.1

RFID ist für die Politik interessant, da sie über das Potenzial verfügt, ein neuer Motor für Wachstum und Beschäftigung zu werden und somit einen kräftigen Beitrag zur Lissabon-Strategie zu leisten, wenn die Hemmnisse, die Innovation im Wege stehen, beseitigt werden.

3.2

Die Kommission führte 2006 eine öffentliche Konsultation zur RFID-Technik durch, in deren Verlauf deutlich wurde, welche Erwartungen aufgrund der von Erstanwendern erzielten Ergebnisse in diese Technik gesetzt werden, aber auch welche Bedenken die Bürger gegen RFID-Anwendungen haben, die eine Identifizierung oder Ortung von Personen erlauben.

3.3

Eine weitere Entwicklung und breite Einführung der RFID-Technik kann auch die Rolle der Informations- und Kommunikationstechnologien bei der Förderung von Innovation und des Wirtschaftswachstums stärken.

3.4

Klare und vorhersehbare rechtliche und politische Rahmenbedingungen sind notwendig, damit diese neue Technik für die Anwender auch akzeptabel ist. Da die RFID-Technik naturgemäß grenzüberschreitend eingesetzt wird, müssen solche Rahmenbedingungen auch einen einheitlichen Einsatz innerhalb des Binnenmarktes sicherstellen.

3.5   Sicherheit, Datenschutz und Ethik

3.5.1

Es gibt ernste Befürchtungen, dass diese grundlegende und überall einsetzbare Technik eine Gefahr für die Privatsphäre darstellen könnte. Die RFID-Technik kann genutzt werden, um Informationen zu sammeln, die dann direkt oder indirekt einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person zugeordnet werden können und dadurch als personenbezogene Daten zu betrachten sind. Außerdem können auf RFID-Etiketten auch personenbezogene Daten gespeichert werden. Weiter könnte die RFID-Technik eingesetzt werden, um die Bewegungen von Personen zu verfolgen oder um von ihnen Verhaltensmuster zu erstellen. Die RFID-Technik ist potenziell eine in das Privatleben eingreifende Technologie. Bedenken wurden laut, dass die Grundwerte und die Privatsphäre verletzt werden könnten und dass sie zu einer stärkeren Überwachung, insbesondere am Arbeitsplatz, führen könnte, was zu Diskriminierung, Ausgrenzung, Viktimisierung und möglichem Arbeitsplatzverlust führen könnte.

3.5.2

Unstrittig ist, dass ein RFID-Einsatz nur dann erfolgen darf, wenn er gesellschaftlich und politisch akzeptiert, ethisch annehmbar und rechtlich zulässig ist. Die RFID-Technik wird nur dann ihre zahlreichen wirtschaftlichen und sozialen Vorteile abwerfen können, wenn wirksame Garantien für die Einhaltung des Datenschutzes, die Wahrung der Privatsphäre und die damit zusammenhängenden ethischen Aspekte gegeben sind, die im Mittelpunkt der Debatte um die öffentliche Akzeptanz der RFID-Technik stehen.

3.5.3

Der Rechtsrahmen der Gemeinschaft für den Datenschutz und die Wahrung der Privatsphäre in Europa ist so angelegt, dass er auch angesichts einer ständigen Innovation Bestand hat. Der Schutz der personenbezogenen Daten ist in der allgemeinen Datenschutzrichtlinie (1) geregelt, die für alle Technologien einschließlich der Funkfrequenzkennzeichnung (RFID) gilt. Die allgemeine Datenschutzrichtlinie wird ergänzt durch die Datenschutzrichtlinie für die elektronische Kommunikation (2). Laut diesen Richtlinien ist es Aufgabe öffentlicher Stellen in den Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass bei der Einführung von RFID-Anwendungen die Rechtsvorschriften über den Datenschutz und die Wahrung der Privatsphäre eingehalten werden. Daher kann es sich als notwendig erweisen, ausführliche Leitlinien für die praktische Einführung von RFID-Anwendungen zu erlassen und besondere Verhaltenskodizes auszuarbeiten.

3.5.4

Im Hinblick auf die Sicherheit sollen gemeinsame Anstrengungen der Branche, der Mitgliedstaaten und der Kommission unternommen werden, um das Verständnis der systemischen Probleme und der entsprechenden Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit einem massiven Einsatz der RFID-Technik und -Systeme zu vertiefen. Ein wichtiger Aspekt bei der Bewältigung dieser Herausforderungen ist die Ausarbeitung und Verabschiedung von Gestaltungskriterien, um Datenschutz- und Sicherheitsrisiken von vornherein auszuschließen, und zwar nicht nur auf technologischer, sondern auch auf organisatorischer Ebene und in den Geschäftsabläufen. Deshalb muss vor einer Auswahl konkreter RFID-Systeme und der Einführung von RFID-Anwendungen eine genaue Kosten-Nutzen-Prüfung in Bezug auf bestimmte Sicherheits- und Datenschutzrisiken durchgeführt werden.

3.5.5

Es gibt Bedenken in Bezug auf die Offenheit und Neutralität der Datenbanken für die eindeutigen Kennungen, die den Kern des RFID-Systems bilden sowie die Speicherung und Verarbeitung der erfassten Daten und deren Nutzung durch Dritte. Dies sind wichtige Fragestellungen im Hinblick auf die Rolle der RFID-Technik als Träger einer neuen Entwicklungswelle im Internet, die möglicherweise dazu führt, dass mehrere Milliarden intelligenter Geräte und eine ausgefeilte Sensortechnik zu einer global vernetzten Kommunikationsinfrastruktur verbunden werden. Diese neue Phase der Internetentwicklung ist das „Internet der Dinge“.

3.5.6

Das System für die Registrierung und Benennung der Kennungen im künftigen „Internet der Dinge“ soll Ausfälle oder eine unbefugte Nutzung des Systems verhindern, die beide verheerende Auswirkungen hätten. Es darf nicht zugelassen werden, dass diese Datenbanken und Benennungssysteme von Einzelnen für ihre Sonderinteressen benutzt werden. In Bezug auf Sicherheit, Ethik und Datenschutz müssen die Bedürfnisse aller Beteiligten beachtet werden — von Privatpersonen bis zu Unternehmen, deren sensible Geschäftsinformationen in RFID-gestützten Geschäftsabläufen stecken können.

3.5.7

Sowohl die Anforderungen der aktiv am Aufbau der RFID-Systeme beteiligten Seiten (z.B. Unternehmen, öffentliche Verwaltungen, Krankenhäuser) als auch der dem System unterworfenen Endnutzer (Bürger, Verbraucher, Patienten, Angestellte) müssen bei der Konzipierung des Systems berücksichtigt werden. Da die Endnutzer typischerweise an der Gestaltungsphase der RFID-Informationssysteme nicht beteiligt sind, wird die Kommission die Ausarbeitung anwendungsbezogener Leitlinien (Verhaltensregeln, gute Praktiken) durch eine Arbeitsgruppe aus Fachleuten aller beteiligten Seiten unterstützen. Ende 2007 wird die Kommission eine Empfehlung zu Grundprinzipien veröffentlichen, die von den Behörden und anderen Beteiligten im Zusammenhang mit der RFID-Nutzung anzuwenden sind.

3.5.8

Zusätzlich wird die Kommission prüfen, welche Vorschriften in den anstehenden Vorschlag zur Änderung der Datenschutzrichtlinie für die elektronische Kommunikation aufgenommen werden sollten, und dabei die Zuarbeiten der künftigen RFID-Interessengruppe, der Artikel-29-Datenschutzgruppe und anderer einschlägiger Initiativen wie der European Group on Ethics in Science and New Technologies (EGE) berücksichtigen. Auf dieser Basis wird die Kommission analysieren, welche zukünftigen gesetzgebenden Maßnahmen für die Einhaltung des Datenschutzes und die Wahrung der Privatsphäre erforderlich sind.

3.5.9

Die Kommission wird genau beobachten, wie sich die weitere Entwicklung hin zum „Internet der Dinge“ vollzieht, bei der die RFID-Technik voraussichtlich eine wichtige Rolle spielen wird. Ende 2008 wird die Kommission eine Mitteilung veröffentlichen, in der sie diese Entwicklung und ihre Auswirkungen analysieren und insbesondere auf die Datenschutz-, Vertrauens- und Governanceprobleme eingehen wird. Sie wird darin eine Bewertung der Handlungsalternativen vornehmen und darauf eingehen, ob für den Datenschutz, die Wahrung der Privatsphäre und die Erreichung der anderen politischen Ziele weitere Vorschriften vorgeschlagen werden müssen.

3.5.10

Bemerkungen zu den Themen Sicherheit, Datenschutz und Ethik sind in Ziffer 4 der Stellungnahme enthalten.

3.6   Weitere politisch relevante Themen im Zusammenhang mit der RFID-Technik

3.6.1

Neben der gesamten Thematik Sicherheit, Privatsphäre und Ethik sind auch Funkfrequenzen, Normen, Gesundheits-, Sicherheits- und Umweltthemen von der RFID-Technik betroffen.

3.6.2

Wichtig ist hierbei die Harmonisierung der Frequenznutzungsbedingungen, um die Mobilität zu erleichtern und die Kosten zu senken. Die Kommission hat vor kurzem eine Entscheidung über RFID-Frequenzen im UHF-Band erlassen (2006/808/EG). Diese Frequenzzuweisung wird in einem Zeitrahmen von drei bis 10 Jahren für angemessen gehalten. Wenn jedoch zusätzliche Frequenzen erforderlich sein sollten, wird die Kommission entsprechend handeln und ihre Befugnis gemäß der Frequenzentscheidung (676/2002/EG) ausüben.

3.6.3

Die zügige Verabschiedung neuer internationaler ISO-Normen und die Harmonisierung regionaler Normen sind für eine reibungslose Einführung der Dienste wichtig. Die einschlägigen europäischen Normungsgremien — das Europäische Komitee für Normung (CEN) und das Europäische Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI) — sind umfassend eingebunden. Die Kommission fordert die europäischen Normenorganisationen auf, in Zusammenarbeit mit der Branche sicherzustellen, dass die Entwicklungsnormen den europäischen Anforderungen entsprechen (vor allem in Bezug auf Datenschutz, Sicherheit, Rechte am geistigen Eigentum und Lizenzierung). Da Industrienormen und geschützte Patente häufig parallel Fortschritte machen, fordert der EWSA die Kommission auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Industrie und die Normierungsgremien zu raschem Handeln zu veranlassen, damit europäische RFID-Anwendungen nicht zu abhängig von teurem geistigem Eigentum aus Drittländern werden.

3.6.4

Aus umweltpolitischer Sicht fallen RFID-Geräte unter die Richtlinien 2002/96/EG über Elektro- und Elektronik-Altgeräte (WEEE) und 2002/95/EG zur Beschränkung der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten (RoHS). Hinsichtlich der Gesundheitsaspekte besteht potenziell das Problem elektromagnetischer Felder (EMF) im Zusammenhang mit RFID-Geräten. Da die durch die Anwendung der RFID-Technik erzeugten elektromagnetischen Felder im Allgemeinen eine geringe Stärke haben, ist davon auszugehen, dass unter normalen Anwendungsbedingungen die Exposition der Öffentlichkeit und der Arbeitnehmer gegenüber RFID-verursachten elektromagnetischen Feldern weit unter den geltenden Grenzwerten bleiben dürfte. Nichtsdestoweniger wird die Kommission vor dem Hintergrund einer weiter zunehmenden Verbreitung von RFID-Geräten in Verbindung mit dem Einsatz drahtloser Technologien fortfahren, die Einhaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen sicherzustellen. Der EWSA teilt diesen Standpunkt.

4.   Bemerkungen

4.1

Da die Kommission Ende des Jahres ihre Empfehlungen an die Mitgliedstaaten veröffentlichen will, ist anzunehmen, dass sie die Sicherheits- und Datenschutzinfrastruktur in ihrer jetzigen Form akzeptieren wird. Insbesondere weist dies darauf hin, dass die in allen Mitgliedstaaten bereits bestehenden Datenschutzorgane die für den Schutz der Privatsphäre und den Datenschutz im Zusammenhang mit der RFID-Technik zuständigen Behörden werden. Diese Themen stehen im Mittelpunkt dieser Stellungnahme.

4.2

Die Kommission kündigt in ihrer Mitteilung u.a. an, dass sie eine RFID-Interessengruppe ins Leben rufen und konsultieren möchte. Der EWSA würde sich freuen, seine Stellungnahme in dieser Gruppe vorstellen zu dürfen.

4.3

Die Privatsphäre und die Bürgerrechte sind durch die RFID-Technik mehreren ernsthaften Bedrohungen ausgesetzt:

a)

RFID-Etiketten können ohne das Wissen desjenigen, der diese Gegenstände erwirbt, in/auf Gegenständen und Dokumenten angebracht werden. Da Funkwellen leicht und einfach Gewebe, Plastik und andere Materialien durchdringen, ist es möglich, in Kleidungsstücke eingenähte oder an Gegenständen, die sich in Hand- oder Einkaufstaschen, Koffern u.ä. befinden, angebrachte RFID-Etiketten zu lesen.

b)

Durch den elektronischen Produktcode könnte jeder Gegenstand auf der Erde seine ganz persönliche und eindeutige Identität erhalten. Die Nutzung eindeutiger Identifikationsnummern könnte zur Schaffung eines globalen Produktregistrierungssystems führen, in dem jeder physische Gegenstand identifiziert und am Verkaufs- oder Übergabeort dem jeweiligen Käufer oder Besitzer zugeordnet wird.

c)

Die Einführung der RFID-Technik erfordert die Schaffung umfangreicher Datenbanken, die Daten von eindeutigen Etiketten enthalten. Diese Aufzeichnungen könnten mit Daten zur persönlichen Identifizierung verknüpft werden, insbesondere da das Speicher- und Datenverarbeitungsvermögen der Computer zunimmt.

d)

Etiketten können aus einer Entfernung gelesen werden, die sich nicht auf die Sichtweite beschränkt, von Lesegeräten, die unsichtbar in nahezu jede Umgebung integriert werden können, in der Menschen zusammenkommen. Lesegeräte können in Bodenfliesen eingebaut, in Teppiche eingewoben, in Türdurchgängen und Regalen versteckt werden, wodurch der Einzelne faktisch nicht wissen kann, wann er oder sie gescannt wird.

e)

Wenn die persönliche Identität mit eindeutigen RFID-Etikettennummern verknüpft wird, können Einzelpersonen ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung geortet oder ihr Profil erstellt werden.

f)

Eine Welt, in der RFID-Lesegeräte ein umspannendes globales Netz bilden, ist durchaus vorstellbar. Für ein solches Netz sind nicht überall Lesegeräte erforderlich. Das System für die Londoner Citymaut kann alle Autos, die in die Innenstadt von London einfahren, mit relativ wenigen, strategisch platzierten Kameras erfassen. Ein Netz strategisch platzierter RFID-Etikettenlesegeräte könnte auf ähnliche Weise aufgebaut werden. Dies darf nicht geschehen!

4.4

Die Kommission hat bereits im 7. Forschungsrahmenprogramm Leitlinien für die ethische Anwendung von Technologien gegeben, die sich auf die Datensicherheit und den Datenschutz auswirken („Leitfaden für Antragsteller“ für Verbundprojekte, S. 54) (3). Die RFID-Technik ist ein herausragendes Beispiel für das sich entwickelnde Verhältnis zwischen Technologie und dem Anspruch auf den Schutz der Privatsphäre bei der Sammlung und Verbreitung von Daten — dieser Schutz wird auch von der Öffentlichkeit erwartet. Probleme im Zusammenhang mit dem Datenschutz entstehen, wenn eindeutig identifizierbare Daten zu einer Person oder Personen in digitaler oder anderer Form gesammelt und gespeichert werden. Eine unzureichende oder nicht vorhandene Freigabekontrolle kann zum Ausgangspunkt von Datenschutzbedenken werden. Am stärksten betroffen von Datenschutzproblemen sind Daten im Gesundheitsbereich, in der Strafjustiz, bei Finanzen, bei der Genetik und der Standortbestimmung. Bei RFID geht es vor allem um die Standortbestimmung.

4.5

In ihrem Datenschutzleitfaden (4) hat die Kommission acht durchsetzbare Grundsätze für vorbildliche Verfahren aufgestellt. Personenbezogene Daten müssen

nach Treu und Glauben und auf rechtmäßige Weise verarbeitet werden,

für eingeschränkte Zwecke erhoben werden,

den Zwecken entsprechen, für die sie erhoben und/oder weiterverarbeitet werden, dafür erheblich sein und nicht darüber hinausgehen,

sachlich richtig sein,

nicht länger als notwendig aufbewahrt werden,

unter Achtung der Rechte der betroffenen Person verarbeitet werden,

sicher sein,

nicht in Drittländer übermittelt werden, die kein angemessenes Schutzniveau aufweisen.

Diese Leitlinien sind für den Datenschutz und die Datensicherheit im Zusammenhang mit RFID-Anwendungen vollkommen geeignet.

4.6

Nach Auffassung des EWSA lauten die grundlegenden Prinzipien für vorbildliche Verfahren wie folgt:

Nutzer der RFID-Technik müssen ihre Maßnahmen und ihre Vorgehensweise öffentlich machen und es darf keine geheimen Datenbanken mit persönlichen Informationen geben.

Jeder hat das Recht zu erfahren, wenn Produkte im Einzelhandel RFID-Etiketten oder Lesegeräte enthalten. Wenn ein RFID-Etikett im Einzelhandel gescannt wird, muss dies für alle Beteiligten transparent sein.

Nutzer der RFID-Technik müssen bekannt geben, zu welchen Zwecken Etiketten und Lesegeräte eingesetzt werden. Die Sammlung von Informationen sollte sich auf das beschränken, was für den aktuellen Zweck erforderlich ist.

Nutzer der RFID-Technik sind sowohl für die Umsetzung der Technologie als auch für die Einhaltung von Datenschutzvorschriften und diesbezüglichen Leitlinien verantwortlich. Ferner sind sie für die Sicherheit und Integrität des Systems und seiner Datenbanken verantwortlich.

4.7

Es bleibt offen, wie diese Grundsätze in die Praxis umgesetzt werden sollen. Ideal wäre es, wenn jedes Unternehmen, das an Transaktionen zwischen Gewerbetreibenden und Endverbrauchern beteiligt ist, wie z.B. der Einzelhandel, die Fahrschein- und Eintrittskartenausstellung, Zugangskontrollen oder Transportdienstleister, seinen Kunden eine Art Garantie gäbe, dass diese Grundsätze eingehalten werden, eine Art Kundencharta. Konzeptionell könnte eine solche Charta alle in Ziffer 4.5 aufgeführten Grundsätze für vorbildliche Verfahren in Bezug auf den Datenschutz enthalten. Daneben empfiehlt der EWSA folgende Leitlinien:

a)

Es sollte Händlern verboten werden, Kunden zur Akzeptanz aktiver oder passiver Etiketten in den Produkten, die sie erwerben, zu zwingen. Z.B. könnten Etiketten auf Verpackungsmaterial angebracht oder, wie bei Preisetiketten, entfernbare Etiketten verwendet werden.

b)

Den Kunden sollte es ohne Einschränkung möglich sein, die Etiketten an jedem Gegenstand in ihrem Besitz zu entfernen oder zu deaktivieren.

c)

Die RFID-Technik darf nicht dazu eingesetzt werden, den Aufenthaltsort von Menschen zu orten. Menschen dürfen z.B. nicht über ihre Kleidungsstücke, Waren, Fahrscheine, Eintrittskarten oder andere Gegenstände geortet werden.

d)

Die RFID-Technik darf niemals so eingesetzt werden, dass durch sie die Anonymität aufgehoben oder eingeschränkt wird.

e)

Die zuständige Behörde sollte eindeutig vorgeben, dass c) und d) nur unter außerordentlichen Umständen und wenn die Behörde zuvor offiziell informiert wurde zulässig sind.

4.8

Gewisse Ausnahmen zu diesen Leitlinien könnten erwogen werden, wenn

Privatpersonen von der Option Gebrauch machen, die Etiketten aus persönlichen Gründen aktiviert zu lassen.

Privatpersonen ihre Zustimmung geben, in kritischen Umgebungen — wie etwa hochsichere öffentliche und private Einrichtungen und Institutionen — geortet zu werden.

Privatpersonen sich entschließen, Anwendungen zu nutzen, mit denen sie auf gleiche Weise orten und identifizieren wie sie bereits über die Nutzung von Mobiltelefonen, Bankkarten, Internetadressen usw. geortet und identifiziert werden.

Solche Ausnahmen sollten der zuständigen Behörde immer gemeldet werden.

4.9

Generell sollte eine Ausnahmeregelung für solche Anwendungen gelten, die Personen oder Waren in Umgebungen orten, in denen sich diese Personen oder Waren nur vorübergehend aufhalten bzw. befinden. Im Luftverkehr könnte Gepäck am Check-in-Schalter mit einem Etikett versehen werden, um die Sicherheit bei der Gepäckabfertigung zu steigern, während RFID-Etiketten bei Fluggästen dazu genutzt werden könnten, die Pünktlichkeit der Flüge zu verbessern und die Sicherheitsverfahren zu beschleunigen. Eine weitere Anwendung könnte die Ortung von Patienten nach der Aufnahme im Krankenhaus sein. Wesentlich für diese Art von Anwendungen wäre die absolute Gewissheit, dass die Etiketten nach Beendigung dieser vorübergehenden Erfahrung beseitigt werden.

4.10

Da die RFID-Technik noch nicht ausgereift ist, ist ihr Potenzial noch nicht vollständig bekannt. Einerseits kann sie unserer technologisierten Zivilisation unvorstellbaren Nutzen bringen, und andererseits kann sie sich zur größten technologischen Bedrohung unserer Privatsphäre und unserer Freiheit entwickeln. Der EWSA ist der Ansicht, dass bei der Entwicklung von RFID-Anwendungen ein strenger Ethik-Kodex eingehalten werden sollte, in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre, die Freiheit und die Datensicherheit, dass aber die Entwicklung von Anwendungen unter der Voraussetzung der erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen weiter verfolgt werden sollte.

4.11

Kurz gefasst: Dort, wo RFID-Anwendungen zugelassen sind, sollte die Umsetzung für alle Beteiligten vollständig transparent sein. Anwendungen für ein besseres Warenmanagement sind generell akzeptabel. Anwendungen, die eine Ortung von Personen beinhalten, sind generell nicht akzeptabel, mit Ausnahme solcher Umgebungen, in denen sich diese Personen nur vorübergehend aufhalten. Anwendungen, die Waren Personen zuordnen, können für Marketingzwecke akzeptabel sein. Anwendungen, die Personen über die von ihnen gekauften Waren identifizieren, sind generell nicht akzeptabel. Einige Anwendungen sind jedoch mit einer freien Gesellschaft nicht vereinbar und sollten niemals zugelassen werden. Das Gebot der Achtung der Privatsphäre und der Wahrung der Anonymität muss im Mittelpunkt der Empfehlung der Kommission an die Mitgliedstaaten stehen.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Richtlinie 95/46/EG zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr.

(2)  Richtlinie 2002/58/EG über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation.

(3)  http://cordis.europa.eu/fp7/dc/index.cfm?fuseaction=UserSite.CooperationDetailsCallPage&call_id=11.

(4)  Datenschutzrichtlinie 95/46/EG Artikel 6.


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/73


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — GALILEO am Scheideweg: die Umsetzung der europäischen GNSS-Programme“

KOM(2007) 261 endg.

(2007/C 256/14)

Die Europäische Kommission beschloss am 16. Mai 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft am 29. Mai 2007 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten beschloss der Ausschuss auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli), Herrn BUFFETAUT zum Hauptberichterstatter zu bestellen, und verabschiedete mit 95 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Ausschuss begrüßt den Realitätssinn und den Mut der Europäischen Kommission, die in ihrer Mitteilung „GALILEO am Scheideweg: die Umsetzung der europäischen GNSS-Programme“ (KOM(2007) 261 endg.) die Konsequenzen aus dem Stillstand der Verhandlungen über den Konzessionsvertrag für das GALILEO-System zu ziehen wusste.

1.2

Er befürwortet uneingeschränkt die Beendigung dieser Verhandlungen, die an einem toten Punkt angelangt sind, und die Durchführung einer Alternativstrategie.

1.3

Er stimmt dem von Rat, Europäischem Parlament und Europäischer Kommission bekundeten Anliegen zu, das GALILEO-Projekt unter Beibehaltung des ursprünglichen Umfangs und Konzepts zum Erfolg zu führen.

1.4

Der Ausschuss ist der Überzeugung, dass das GALILEO-Projekt von strategischer Bedeutung für die Europäische Union ist — ein Projekt, mit dem die Fähigkeit der Union aufgezeigt werden kann, all ihre Kräfte für ein wunderbares menschliches, wissenschaftliches, technisches und wirtschaftliches Abenteuer zu bündeln.

1.5

Seiner Meinung nach hätte eine Aufgabe des GALILEO-Projekts verheerende Folgen für die Europäische Union.

1.6

Der Ausschuss betont, dass das von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Modell ein interessanter und realistischer Vorschlag zur erfolgreichen Abwicklung dieses Projekts ist, und vertritt die Auffassung, dass die Übertragung der Verantwortung und der Finanzierung für die Entwicklungs- und Aufbauphase an die öffentlichen Verwaltung einer realistischen Einschätzung der Situation entspricht.

1.7

Dieses Szenario hat jedoch erhebliche finanzielle Auswirkungen und erfordert gewisse Anstrengungen seitens der öffentlichen Geldgeber. Der Ausschuss unterstreicht daher die Notwendigkeit, die Möglichkeit einer militärischen Nutzung des GALILEO-Systems, insbesondere zu Verteidigungszwecken, durch die EU-Mitgliedstaaten sowie die Erhebung einer geringen Abgabe beim Verkauf der Endgeräte als Beitrag zur finanziellen Ausgewogenheit des Projekts unvoreingenommen zu überdenken.

1.8

Der Ausschuss empfiehlt, schnellstmöglich die Bedingungen und Modalitäten für die Konzessionsvergabe für das EGNOS-System, die regionale europäische Zusatzkomponente des US-amerikanischen GPS-Systems, festzulegen und die Verwirklichung dieses Systems mit derjenigen von GALILEO abzustimmen.

1.9

Der Ausschuss begrüßt die Entscheidung, die europäische Weltraumorganisation (ESA) als Projektträger und öffentlicher Auftragnehmer zu bestimmen.

1.10

Der Ausschuss warnt davor, das GALILEO-Projekt den Zwängen des Grundsatzes des „juste retour“ zu unterwerfen, auch wenn er die durchaus berechtigten Befürchtungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf die wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Entwicklung nachvollziehen kann.

1.11

Der Ausschuss weist darauf hin, dass sich die Fragen der Verwaltung und der Aufteilung der wirtschaftlichen und technischen Zuständigkeit als sehr gefährlich erweisen können, wenn sie schlecht gehandhabt werden, wie die jüngste Vergangenheit von EADS-Airbus gezeigt hat.

1.12

Der Ausschuss fordert die Mitgliedstaaten auf, alles daran zu setzen, das GALILEO-Projekt zum Erfolg zu führen.

2.   Hintergrund

2.1

Fünf Monate nach Veröffentlichung des Grünbuches zu Anwendungen der Satellitennavigation hat die Europäische Kommission eine neue Mitteilung mit dem alarmierenden Titel „GALILEO am Scheideweg: die Umsetzung der europäischen GNSS-Programme“ vorgelegt.

2.2

Dieser drastische Titel wurde aufgrund des Stillstands der Konzessionsverhandlungen gewählt. Denn es konnte keinerlei Einigung mit dem Industriekonsortium erzielt werden, das sich für diese Konzession beworben hatte. Es gab grundlegende Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf das GALILEO-Wirtschaftsmodell.

2.3

Daher sah sich die Europäische Kommission gezwungen, nach einer Reihe von Verzögerungen bei der Umsetzung des GALILEO-Projekts das Scheitern der Verhandlungen zur Kenntnis zu nehmen; es galt, dieses Projekt in wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht neu auszurichten.

2.4

Der Rat Verkehr, Telekommunikation und Energie hatte die Europäische Kommission am 22. März 2007 aufgefordert, die Situation zu bewerten und detaillierte Alternativszenarien für den Konzessionsvertrag einschließlich eines Szenarios für die frühestmögliche Bereitstellung des EGNOS-Satellitennavigationssystems, die regionale europäische Zusatzkomponente des US-amerikanischen GPS-Systems, als Vorläufer für GALILEO vorzulegen.

2.5

Das Europäische Parlament bekräftigte seine Unterstützung für das GALILEO-Projekt, war jedoch erheblich über die wiederholten Verzögerungen bei der Projektentwicklung besorgt und forderte die Europäische Kommission auf, Vorschläge auszuarbeiten, um die Situation wieder ins Lot zu bringen.

2.6

Die Kommissionsmitteilung ist nun die Antwort auf diese doppelte Forderung der Beschlussorgane der Europäischen Union.

3.   Inhalt der Kommissionsmitteilung

3.1

Als ersten wichtigen Punkt fordert die Europäische Kommission den Rat und das Europäische Parlament auf, das Scheitern der gegenwärtigen Konzessionsverhandlungen zur Kenntnis zu nehmen und zu beschließen, dass diese beendet werden sollten. Angesichts des Verhandlungsstillstandes hatte die Europäische Kommission auch kaum eine andere Wahl.

3.2

Sie fordert den Rat und das Europäische Parlament allerdings auf, ihr Engagement für die Errichtung eines unabhängigen Satellitennavigationssystems zu bekräftigen und die Weiterführung des GALILEO-Programms zu befürworten. Das heißt, dass das Scheitern der Konzessionsverhandlungen nicht gleichbedeutend mit der Aufgabe des GALILEO-Projekts sein muss. Die Europäische Kommission will ganz im Gegenteil, dass die strategische Bedeutung von GALILEO für die Europäische Union bestätigt und sein wirtschaftlicher Wert anerkannt wird.

3.3

Die Weiterführung des GALILEO-Programms muss nach Ansicht der Europäischen Kommission in einem Modell erfolgen, das dem derzeitigen Modell entspricht. Die technischen Systemwesensmerkmale müssen unverändert bleiben, d.h. eine Konstellation von 30 Satelliten, die fünf verschiedene Dienste mit ausgezeichneter Signalqualität bietet.

3.4

Es ist daher keinesfalls von einer „GALILEO-Schmalspurvariante“ die Rede.

3.5

Die Europäische Kommission schlägt zwei Alternativszenarien vor:

a.

Szenario A): Anfänglich finanziert und beschafft der öffentliche Sektor ein Betriebssystem mit begrenzten Leistungen. Diese Kerninfrastruktur würde aus insgesamt 18 Satelliten mit zugehörigem Bodensegment bestehen und ausreichende Positionierungsgenauigkeit und Reichweite bieten, um Dienste auf dem Markt einzuführen, es aber noch nicht ermöglichen, Nutzen aus dem technischen Mehrwert von GALILEO zu ziehen.

Die restlichen 12 Satelliten würden anschließend vom Privatsektor im Rahmen eines Konzessionsvertrags in die Umlaufbahn gebracht.

b.

Szenario B): Der öffentliche Sektor finanziert und beschafft das vollständige Betriebssystem mit vollen Leistungen. Diese Infrastruktur würde aus 30 Satelliten mit zugehörigem Bodensegment bestehen und die Bereitstellung aller GALILEO-Dienste für alle potenziellen Nutzer erlauben sowie Vertrauen in die Verlässlichkeit des Designs für den zukünftigen Konzessionär schaffen. Die öffentlich-private Partnerschaft (ÖPP) in Form eines Dienstleistungskonzessionsvertrages wäre für die Betriebs- und Nutzungsaktivitäten des Systems sowie die Wartung der Konstellation aus den 30 Satelliten zuständig. Der Aufbau würde bis Ende 2012 abgeschlossen; der Konzessionsvertrag würde den Zeitraum 2010-2030 decken.

3.6

Die Europäische Kommission empfiehlt die Durchführung von Szenario b) in zwei Schritten:

EGNOS soll 2008 durch eine Sonderkonzession als Vorläufer für Galileo unmittelbar in Betrieb genommen werden, wobei die Betriebsfähigkeit nach Aufbau der vollständigen GALILEO-Konstellation Ende 2012 gesichert sein sollte.

Parallel dazu sollen Verhandlungen geführt und eine ÖPP in Form einer Konzession für die anschließende Betriebsphase von EGNOS und GALILEO für den Zeitraum 2010-2030 eingerichtet werden.

3.7

Die Europäische Kommission fordert den Rat und das Europäische Parlament auf, diese zwei Programme zu unterstützen und eine Reihe von Grundsätzen zu bekräftigen, und zwar:

Das EGNOS-System muss bis 2008 betriebsfähig sein.

Es muss der Beschluss gefasst werden, dass die europäischen GNSS-Programme im Interesse aller Mitgliedstaaten auf der Ebene der Europäischen Union konzipiert, vereinbart, verwaltet und überwacht werden müssen.

Der strategische Charakter von GALILEO muss anerkannt werden.

Die Europäische Weltraumorganisation (ESA) muss als Projektträger und öffentlicher Auftragnehmer im Namen der Europäischen Union bestimmt werden, der nach Weisung und Regeln der Letzteren handelt.

Es muss — wo immer möglich — ein fairer Wettbewerb in das Programm eingeführt werden.

Die öffentliche Verwaltung der europäischen GNSS-Programme muss gestärkt und neu strukturiert werden, indem der Europäischen Kommission die politische Verantwortung und die führende Rolle übertragen wird.

Das Vertrauen der Investoren muss gewonnen werden.

3.8

Für ein derartiges Programm müssen umfassende Finanzmittel mobilisiert werden, und zwar der dem in der Finanziellen Vorausschau für das derzeitige Programm vorhergesehenen Betrag sowie zusätzliche Finanzmittel.

3.9

Im Rahmen der Finanziellen Vorausschau 2007-2013 müssten 2,4 Mrd. EUR bereitgestellt werden, um das derzeitige Modell weiterzuführen und um Maßnahmen zur Risikominderung zu ergänzen. Im Hinblick auf die Beschaffung der ersten vollständigen Satellitenkonstellation (30 Satelliten) mit anschließender ÖPP für die Betriebsphase im Zeitraum 2010-2013 wären 3,4 Mrd. EUR erforderlich.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Es war richtig, dass die Europäische Kommission den Stillstand der Konzessionsvertragsverhandlungen im derzeitigen Rahmen zur Kenntnis genommen und die Notwendigkeit erkannt hat, diese zu beenden. Vorzugeben, dass alles in Ordnung sei, hätte diese missliche Lage nur noch verlängert und die Verwirklichung des GALILEO-Programms nur weiter verzögert.

4.2

Der Rat ist in dieser Frage zu den gleichen Schlussfolgerungen wie die Europäische Kommission gelangt und hat beschlossen, die Verhandlungen zu beenden, um neu durchzustarten. Er hat außerdem den vorrangigen Charakter des GALILEO-Projekts bekräftigt; der Ausschuss begrüßt dies.

4.3

Eine vor Kurzem veröffentlichte Eurobarometer-Studie (von Mai/Juni 2007) zum GALILEO-Programm, die im Auftrag der GD TREN durchgeführt wurde, zeigt indes, dass 80 % der Unionsbürger die Idee eines unabhängigen europäischen Satellitennavigationssystems befürworten; und 63 % sprechen sich für die Bereitstellung zusätzlicher Finanzmittel aus, um das Projekt zum Erfolg zu führen. Die Auswirkungen der Aufgabe des GALILEO-Projekts auf das Image der Europäischen Union werden jedoch sehr unterschiedlich eingeschätzt. So sind 44 % der Befragten der Meinung, dass dies negative Auswirkungen hätte, wohingegen 41 % der Befragten die Ansicht vertraten, dass dies völlig ohne Folgen bliebe.

4.4

Der Ausschuss begrüßt die Unterstützung des Rates und der Unionsbürger für das GALILEO-Projekt, ist seinerseits allerdings der Ansicht, dass die Aufgabe dieses Projekts verheerende Auswirkungen auf das Image der Europäischen Union und das Vertrauen in europäische Vorhaben haben würde. Es wäre ein Zeichen für die Unfähigkeit der Europäischen Union, ein zukunftsträchtiges wissenschaftliches und technisches Projekt zum Erfolg zu führen, mit dem unsere besten Forschungs- Innovations- und Technologietalente mobilisiert und wichtige Marktchancen eröffnet werden könnten.

4.5

Vor diesem Hintergrund bleibt die Kommunikationsmitteilung die Antwort auf so manche Frage schuldig. So wird ein großes Augenmerk auf das EGNOS-System und die Notwendigkeit gelegt, dieses so bald wie möglich in Betrieb zu nehmen, doch klammert die Europäische Kommission die Frage nach dem Systembetreiber aus. Sie merkt lediglich an, dass eine Konzession vergeben wird, geht jedoch in keiner Weise auf die Art der Konzessionsvergabe und mögliche Partner (Unternehmen, Konsortium aus Einrichtungen bzw. Gremien, die mit dem Flugverkehrmanagement betraut sind?) ein. Handelt es sich um einen öffentlichen oder privaten Betreiber? Welche Verfahren sollen für die Umsetzung zur Anwendung kommen? Gibt es Fristen?

4.6

Die Erweiterungssysteme zur Verbesserung der Dienstleistungsqualität von GPS sind regionale Infrastrukturen (neben EGNOS bestehen weitere Systeme in Nordamerika, das so genannte WAAS-System, sowie in Indien). Welche Verbindungen bestehen zwischen diesen regionalen Systemen? Welche internationalen Vereinbarungen sind für sie erforderlich?

4.7

Angesichts der Schwierigkeiten mit dem Konsortium, das sich für die GALILEO-Konzession beworben hatte, müssen ähnliche Probleme in den neuen vorgeschlagenen Modellen unbedingt vermieden werden. Denn hinter den Mitgliedern des Konsortiums zeichneten sich oftmals nationale Vorgaben ab. Zahlreiche der betroffenen Unternehmen sind von der öffentlichen Hand abhängig oder gar staatliche Unternehmen; es wäre daher naiv anzunehmen, dass es sich um ein klassisches „Privatkonsortium“ handelt. Dies kann auch in den neuen Modellen wieder der Fall sein. Im Hinblick darauf muss strikt für einen echten Wettbewerb gesorgt werden.

4.8

Der Ausschuss befürwortet, dass das allgemeine Projektmodell, insbesondere die Palette der angebotenen Dienste, nicht geändert wurde. Der Kommissionsvorschlag ist der sinnvollste Vorschlag, hätte doch eine Änderung des Wirtschaftsmodells des Projekts weitere Verzögerungen, erhöhte Kosten und ein unnötiges Risiko bedeutet.

4.9

Der Ausschuss ist außerdem der Ansicht, dass die Europäische Kommission Recht hatte, folgenden Aspekt hervorzuheben: „Solange das System als ein ziviles System betrieben wird, könnten wesentliche Einnahmen auch von militärischen Nutzern kommen.“ Angesichts der Brisanz dieser Frage sollte seiner Meinung nach die einschlägige Diskussion zwischen den Mitgliedstaaten fortgeführt werden. Die EU-Mitgliedstaaten sollten selbst darüber entscheiden dürfen, ob sie den „öffentlich regulierten Dienst“ mit beschränktem Zugang („Public Regulated Service“) unter Bereitstellung angemessener finanzieller Mittel für militärische Verteidigungszwecke nutzen wollen oder nicht.

4.10

Die Frage der Finanzierung des GALILEO-Projekts ist von grundlegender Bedeutung. Der Ausschuss stellt sich die Frage, ob es nicht zweckdienlich wäre, eine geringe Abgabe beim Verkauf der Endgeräte zu erheben, um so zur Finanzierung von GALILEO beizutragen.

4.11

Der Ausschuss befürwortet zwar die Idee, die Europäische Weltraumorganisation (ESA) als Projektträger und öffentlicher Auftraggeber zu bestimmen, betont jedoch, dass das GALILEO-Projekt damit nicht dem Grundsatz des „juste retour“ unterworfen werden darf; er ist sich jedoch dessen voll bewusst, dass die Abkommen zwischen Staaten im vorherigen Modell das Ergebnis eines subtilen wirtschaftlichen Gleichgewichts zwischen den Mitgliedstaaten war. Er unterstreicht, dass ein derart wichtiges Vorzeigeprojekt der Europäischen Union keinesfalls aus Angst vor den wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Projekts für die wichtigsten teilnehmenden Mitgliedstaaten in Gefahr gebracht werden darf. In diesem Zusammenhang sei auf die Probleme von EADS-Airbus verwiesen, die auf derartige Befürchtungen zurückzuführen sind. Der Wunsch, ein wirtschaftliches Gleichgewicht zwischen den Partnern zu erreichen, ist zweifelsohne berechtigt, doch wäre dieses europäische Vorzeigeprojekt mit seiner industriellen und wissenschaftlichen Dimension und seinen wirtschaftlichen Auswirkungen insgesamt in Frage gestellt, sollte dieser Wunsch zu Verzögerungen oder gar zum Stopp der Verwirklichung des Projekts führen.

4.12

Der Ausschuss geht abschließend davon aus, dass der Wille der Europäischen Kommission, die Grundsätze der „gemeinschaftlichen Verwaltung“ zu wahren, diese dazu gebracht hat, nachdrücklich — allerdings auf wohl wenig diplomatische Weise und unter Unterschätzung der wichtigen Rolle der Europäischen Weltraumbehörde — die politische Oberhoheit über dieses Projekt einzufordern.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/76


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Zweijährlichen Fortschrittsbericht zur EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung“

(2007/C 256/15)

Die Europäische Kommission ersuchte mit Schreiben vom 11. Dezember 2006 an Herrn DIMITRIADIS den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um die Ausarbeitung einer Stellungnahme zum Thema: „Zweijährlicher Fortschrittsbericht zur EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz (Beobachtungsstelle für nachhaltige Entwicklung) nahm ihre Stellungnahme am 8. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr RIBBE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) mit 70 gegen 21 Stimmen bei 10 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Ausschusses

1.1

Der Ausschuss begrüßt, dass mit der auf dem EU-Gipfel im Juni 2006 beschlossenen „neuen“ Nachhaltigkeitsstrategie sichtbar Bewegung in die Diskussion gekommen ist. Besonders die verbindliche Festlegung der Vorlage von zweijährigen Fortschrittsberichten wird dazu beitragen, dass Politik und Gesellschaft konkreter darüber informiert werden, welche positiven Entwicklungen es gibt und wo Umsetzungsprobleme bestehen.

1.2

Der EWSA hat in seinen früheren Stellungnahmen zur Nachhaltigkeit die vorgelegten Dokumente der Kommission, des Rates bzw. des Europäischen Rates im Kern jeweils begrüßt, aber auch kritische Fragen gestellt und teilweise weitgehende, oft von den Institutionen nicht aufgegriffene Vorschläge erarbeitet. Auch dieses Mal kritisiert der EWSA, dass es in den meisten der als prioritär anerkannten Bereichen noch zu unkonkret formulierte Zielsetzungen gibt, ganz besonders aber, dass zu wenig Klarheit über die Instrumente hergestellt wird.

1.3

Der EWSA begrüßt besonders die in der neuen Strategie festgelegten Hauptziele und die Leitprinzipien der Politik und ruft Kommission, Rat und Europaparlament auf, diese ernst zu nehmen und voll zu berücksichtigen.

1.4

Der Ausschuss erhofft sich vom ersten Fortschrittsbericht, der im September 2007 veröffentlicht werden soll, unter anderem genauere Auskünfte darüber,

mit welchen Wirtschaftsinstrumenten die Kommission „die Förderung von Markttransparenz und Preisen, die die realen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Kosten von Waren und Dienstleistungen widerspiegeln (Preise richtig gestalten), bewerkstelligen will“,

wie die Forderung des Europäischen Rates, „als Beitrag zu den EU-Zielen Beschäftigungssteigerung und Umweltschutz weitere Schritte (zu) erwägen, um die Steuerlast vom Faktor Arbeit auf die Faktoren Ressourcen- und Energieverbrauch und/oder Umweltverschmutzung kosteneffizient zu verlagern“, konkret umgesetzt werden soll,

welchen konkreten Zeitplan sich die Kommission steckt, das Ziel des Europäischen Rates umzusetzen, diejenigen Beihilfen schrittweise abzuschaffen, die negative Auswirkungen auf die Umwelt haben; und ob dem Gedanken des EWSA Rechnung getragen werden könnte, diese Mittel zumindest zum Teil in einen „EU-Nachhaltigkeitsfonds“ zu überführen,

wie die Kommission die noch auftretenden offensichtlichen Widersprüchlichkeiten zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei der Nachhaltigkeitspolitik, die z.B. im Verkehrssektor deutlich zu Tage treten (s. Ziffer 4.15 und 4.16), zukünftig vermeiden wird, und

wie mit jenen Mitgliedstaaten umgegangen werden soll, die keine qualifizierten nationalen Nachhaltigkeitsstrategien vorgelegt haben.

1.5

Es ist verständlich, dass dem Bereich Klima und Energie angesichts der sich dramatisch zuspitzenden Klimaauswirkungen ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird. Der EWSA ist aber der Auffassung, dass

dies eine positive Entwicklung ist, aber nicht dazu führen darf, dass andere zentrale Elemente der Strategie vernachlässigt werden;

trotz des bestehenden dringenden politischen Handlungsbedarfs alle Beschlüsse nach den in der neuen Strategie festgelegten „Leitprinzipien der Politik“ gefällt werden sollten; also unter Beteiligung der Bürger, der Unternehmen und der Sozialpartner, unter Nutzung der besten verfügbaren Kenntnisse etc. Der Beschluss im Rahmen des „Energiepaketes“, statt der früher beschlossenen 5,75 % zukünftig 10 % der europäischen Kraftstoffe aus Biomasse herzustellen, ist diesem Prinzip nicht gefolgt. Der EWSA sieht hier potenziell große Probleme, die er in einer eigenen Stellungnahme zum entsprechenden Fortschrittsbericht der Kommission (1) formulieren wird.

2.   Hauptelemente und Hintergrund der Stellungnahme

2.1

Im Jahr 2001 verabschiedete der Europäische Rat in Göteborg die „EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung“. Im Dezember 2005 legte die Kommission eine Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat mit dem Titel „Überprüfung der Strategie für nachhaltige Entwicklung — ein Aktionsprogramm“ (2) vor, in der „weitere konkrete Maßnahmen für die nächsten Jahre“ festgelegt werden sollten.

2.2

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat sich in den letzten Jahren in vielen Stellungnahmen mit der Nachhaltigkeitsstrategie befasst. Dabei hat er immer wieder die hohe Bedeutung einer nachhaltigen Entwicklung für unsere Gesellschaft herausgestellt. Er hat die Ansätze der Kommission im Grundsatz jeweils unterstützt und die Aussagen des Europäischen Rates geteilt, wonach die Nachhaltigkeitsstrategie die übergeordnete Strategie der Union ist, an deren Zielen sich auch die Lissabon-Strategie zu orientieren hat.

2.3

Der EWSA hat aber in seinen Stellungnahmen zum Thema „Nachhaltige Entwicklung“ oftmals auch kritische Anmerkungen formuliert und konstruktive Fragen aufgeworfen, die von der Kommission und dem Rat teilweise bis heute nicht beantwortet worden sind.

2.4

In seiner letzten Stellungnahme zum Thema befasste sich der EWSA mit der o.g. Mitteilung der Kommission vom Dezember 2005. Er kritisierte dabei, dass die Kommission mit ihrem als „ambitiös“ beschriebenen Aktionsprogramm weder der Empfehlung des EWSA vom April 2004 noch ihrem eigenen Versprechen vom Juni 2005 nachgekommen ist. Denn sie hatte, anders als versprochen, wieder keine klaren Ziele benannt, die sie im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie erreichen will.

2.4.1

Der EWSA erinnerte damals daran, dass eine Strategie den Weg zur Erreichung von Zielen beschreibt. Das Fehlen von konkreten Zielen muss zwangsläufig zu Problemen bei der Benennung von Instrumenten führen. Denn wenn man nicht genau weiß, wohin man will, kann man auch nicht festlegen, wie man dorthin kommt. Die Mitteilung ließ folglich nach Auffassung des EWSA mehr Fragen offen, als sie Antworten und Orientierung gab.

2.4.2

Wenn aber weder Ziele noch Instrumente der breiten Bevölkerung bzw. den beteiligten Sozialpartnern vermittelt werden, wenn also Unklarheit darüber herrscht, „was nachhaltige Entwicklung überhaupt konkret ist und wie sich die zukünftige Entwicklung von der heutigen Lebenssituation unterscheiden wird, … (ergeben) sich Ängste und Widerstand potenziell betroffener Sektoren“, schrieb der EWSA bereits in seiner Stellungnahme aus 2004 (3). Der EWSA muss leider feststellen, dass sich in den vergangenen 3 Jahren kaum mehr Klarheit eingestellt hat, was der Glaubwürdigkeit der Nachhaltigkeitspolitik sicher abträglich ist.

2.5

Die im ersten Halbjahr 2006 zuständige österreichische Präsidentschaft sah dies alles vermutlich ähnlich. Sie hat deshalb die Kommissionsmitteilung von 2005 mehr oder weniger beiseite gelegt und ein eigenständig neues Papier erarbeitet, mit dem sich dann auf dem Gipfel im Juni 2006 die Staats- und Regierungschefs befassten. Dieses Papier wurde dann dort auch als „die neue Strategie“ verabschiedet (4).

2.6

In dieser neuen Strategie wird dem EWSA — wohl aufgrund seines bisherigen Engagements zum Thema — eine wichtige Rolle zuerkannt. Gemäß Ziffer 39 soll er zukünftig „eine aktive Rolle bei der Schaffung von Eigenverantwortung spielen, in dem er u.a. als Katalysator zur Stimulierung der Debatte auf europäischer Ebene dient“, und indem er „ferner ersucht (wird), Beiträge zu dem alle zwei Jahre von der Kommission vorzulegenden Fortschrittsbericht zu erstellen“.

2.7

Dieser Verantwortung und diesem Wunsch möchte der EWSA mit dieser Stellungnahme nachkommen. Zunächst werden in der Stellungnahme einige wenige grundlegende generelle Anmerkungen zur „neuen“ Strategie vorgetragen (Absatz 3), danach auf die in der neuen Strategie angesprochenen Themenfelder kurz eingegangen (Absatz 4) und anschließend die Vorstellungen des EWSA zu bestimmten Inhalten des bis zum September 2007 zu erstellenden Fortschrittsberichtes formuliert (Absatz 5).

3.   Generelle Anmerkungen zur „neuen“ Strategie

3.1

Wenn die wichtigste politische Institution der EU eine ihrer Politiken überprüft und erneuert, wie es der Europäische Rat mit der „EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung“ getan hat, dann erwartet die Zivilgesellschaft, dass in dem Papier auch verdeutlicht wird,

warum überhaupt eine Überprüfung notwendig war,

was das Ergebnis dieser Defizitanalyse war, wo also Probleme erkannt worden sind, und

was konkret in Zukunft verändert werden soll, welche Bereiche man also nicht mehr oder anders bearbeiten will bzw. welche Bereiche warum neu hinzukommen, und

wie man z.B. das notwendige Ziel der Integration des Nachhaltigkeitsgedankens in die Arbeit aller Generaldirektionen zu erreichen gedenkt.

3.2

Doch nach Hintergrund und Ergebnis einer solchen Überprüfung sucht man im Dokument leider vergeblich. Es wird einfach eine „neue“ Strategie vorgelegt.

3.3

In die Göteborg-Strategie waren, auf Grundlage einer Kommissionsmitteilung, 4 Themenschwerpunkte aufgenommen worden, nämlich

Klimaveränderungen,

Verkehr,

Öffentliche Gesundheit sowie

natürliche Ressourcen.

3.4

Zwei weitere, damals von der Kommission in der Vorlage vorgeschlagene Themen, nämlich „Armutsbekämpfung“ sowie „Überalterung“, fanden nicht Eingang in die Göteborg-Strategie, ohne dass der Europäische Rat dies begründete. Der EWSA kritisierte dies in seiner Stellungnahme vom April 2004 (5) als „inadäquates Signal“. Zudem wurde vielfach kritisiert, dass die Strategie nicht in einem einzigen Papier untergebracht würde und öffentlichkeitswirksam vermittelt werden könnte, und dass die Außendimension gesondert behandelt und dann auch in einem eigenen Dokument festgehalten wurde.

3.5

In der „neuen Strategie“ werden nun 7 zentrale Herausforderungen beschrieben und hierzu operative Ziele und Vorgaben benannt. Dabei handelt es sich um die Bereiche:

Klimaänderung und umweltfreundliche Energie,

nachhaltiger Verkehr,

nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion,

Erhaltung und Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen,

Gesundheit,

soziale Eingliederung, Demografie und Migration sowie

globale Herausforderung in Bezug auf Armut und nachhaltige Entwicklung.

3.6

Dieser Abgleich von ursprünglicher mit neuer Strategie zeigt, dass mit der „neuen Strategie“ im Kern keine Schwerpunktverlagerung verbunden ist. Sie ergänzt lediglich die Themen der Göteborg-Strategie um die schon 2001 in der Kommissionsmitteilung erkannten Problemschwerpunkte („Armutsbekämpfung“ und „Überalterung“) sowie um das Thema „Nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion“.

3.7

Der EWSA kann dies gut nachvollziehen, da sowohl die 2001 aufgegriffenen wie die damals verworfenen Fragestellungen nicht gelöst sind und eine konsequente politische Behandlung dringender denn je ist. Aber genau vor dem Hintergrund bislang unzureichender politischer Maßnahmen ist die Beantwortung der Frage, was eigentlich die neue von der alten Strategie unterscheidet und wie die bisherigen Erfolge der alten Strategie bewertet werden, von Interesse. Wichtig ist diese Frage vor allem deshalb, um nicht den Vorwurf aufkommen zu lassen, mit der Vorlage immer neuer Papiere mehr zur Verwirrung, denn zur politischen Stärkung eines notwendigen Prozesses beizutragen. Der EWSA hat mehrfach darauf hingewiesen, dass sich Nachhaltigkeitspolitik nicht an der Menge der von Verwaltung und Politik produzierten Dokumente, sondern nur an konkret wirksamen Maßnahmen messen lässt.

3.8

Diese neue Strategie beruht auf einem hervorragenden Katalog an Grundsätzen für eine nachhaltige Entwicklung, die zu einem Katalog von Zielen und Maßnahmen für jede der sieben ausgewählten prioritären Bereiche umgearbeitet werden sollen; daneben sind einige Maßnahmen zu Querschnittsthemen sowie die Entwicklung von Verfahren zur Umsetzung und zur Beobachtung der Fortschritte vorgesehen. In dieser Hinsicht stellt die neue Strategie sicherlich eine Verbesserung gegenüber den vorangehenden Strategien dar.

3.9

Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass diejenigen Teile der Strategie, die sich mit Klimawandel und Energie befassen, zurzeit nachdrücklich behandelt werden. Dies ist eine positive Entwicklung, darf aber nicht dazu führen, dass andere zentrale Elemente der Strategie vernachlässigt werden. Die vorliegende Überprüfung der Umsetzung bietet eine gute Gelegenheit, dieser Frage nachzugehen und zu versuchen, der Strategie in all ihren zentralen Bereichen mehr Bedeutung und Schwung zu verleihen. Der Ausschuss möchte einmal mehr betonen, dass es sich bei der nachhaltigen Entwicklung um einen umfassenden integrierten Ansatz handelt und nicht um eine Liste einzelner Optionen, aus der man sich sein „Menü“ zusammenstellen kann. Die im Hinblick auf den Klimawandel gesteckten Ziele und Vorgaben sind sehr eindeutig, präzise und dringlich genug, um wirklich Maßnahmen anstoßen zu können. Die meisten anderen Themen der Strategie zur nachhaltigen Entwicklung sind jedoch zu vage und zeitlich unbestimmt, um den Anstoß zu geben für größere Veränderungen.

3.10

Bandbreite der Strategie. Die sieben Themen in der neuen Strategie stellen gegenüber den unzureichenden vier Themen der vorangehenden Version eine Verbesserung dar. Dennoch bleiben einige wichtige Bereiche noch immer ausgeklammert. Bereits in seiner Sondierungsstellungnahme vom April 2004 (6) hatte der EWSA übrigens gefordert, der Landwirtschaft ein eigenes Kapitel zu widmen. Der Ausschuss wiederholt nun diese Forderung vor dem Hintergrund, dass er mehrfach große Zweifel angemeldet hat, dass eine nachhaltige Landwirtschaft, wie sie das „europäische Agrarmodell“ fordert, unter Weltmarktbedingungen überhaupt erreichbar ist. Seine Skepsis, ob sich die GAP wirklich in die richtige Richtung bewegt, wird dadurch verstärkt, dass die Staats- und Regierungschefs die für den Finanzzeitraum 2007-2013 bereitstehenden Mittel der für die Entwicklung der nachhaltigen Landwirtschaft besonders wichtigen 2. Säule der GAP massiv gekürzt haben. Der EWSA hat dies mehrfach kritisiert und fragt sich, wie diese Entscheidung mit der Politik der nachhaltigen Entwicklung vereinbar sein soll. Eine Abhandlung des Themas „Landwirtschaft“ in der neuen Strategie unter dem Punkt „natürliche Ressourcen“ wird der Problematik nicht gerecht.

3.11

Mit der Frage, ob eine auf globale, offene Märkte ausgerichtete europäische Agrarpolitik nachhaltig sein kann, wird automatisch die generelle Frage nach den globalen Spielregeln bei Produktion und Handel angesprochen. Die WTO ist eine Organisation, die auf Übereinkommen basiert, die den freien Welthandel fördern wollen. Ein freier, liberalisierter Handel muss aber keinesfalls automatisch nachhaltig sein, wie der EWSA mehrfach dargestellt hat. Wie aus einem freien Handel ein mit Nachhaltigkeitsprinzipien verträglicher Handel werden kann, dazu macht die neue Strategie leider keine Aussagen. Dies ist ein großes Manko! Auch hier muss der EWSA leider darauf hinweisen, dass es die Verantwortlichen in der EU bislang versäumt haben, diese von ihm bereits vor 3 Jahren aufgeworfene Frage (7) zu beantworten, auch wenn der EWSA gern konstatiert, dass die EU in den letzten Jahren durchaus bemüht war, über neue Regeln im globalisierten Handel und bei IMF und Weltbank zu verhandeln.

3.11.1

Die globale Dimension ist für eine europäische Nachhaltigkeitsstrategie natürlich von großer Bedeutung, da die europäische Wirtschaft natürlich auch von den Entwicklungen außerhalb unseres Wirtschaftsraumes betroffen ist. Eine EU-Strategie muss deshalb mit einem globalen Ansatz zur nachhaltigen Entwicklung in Einklang stehen und diesen aktiv unterstützen. In der neuen Strategie wird diesem Sachverhalt durch Hinweise auf die Unterstützung der Milleniumsentwicklungsziele, des Kyoto-Protokolls, des UN-Umweltschutzprogramms UNEP und anderer weltweiter Initiativen Rechnung getragen. In der Strategie wird zudem die Notwendigkeit anerkannt, dass „die Globalisierung in den Dienst der nachhaltigen Entwicklung“ gestellt werden muss. Sie enthält einen Hinweis auf den Aktionsplan für nachhaltigen Konsum und nachhaltige Produktion, den die Kommission 2007 erarbeitet. Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass eine weiter reichende Analyse notwendig ist, um überhaupt auf eine Lösung der Probleme der weltweiten Ungleichheit hoffen zu können. Der Wachstumsdrang der Nationen, die sich gerade erst im Prozess der Industrialisierung befinden und die berechtigterweise einen viel höheren Lebensstandard anstreben, wird nahezu mit Sicherheit katastrophale Auswirkungen auf die globalen Ressourcen und Systeme haben. Die Strategie befasst sich daher mit den Belastbarkeitsgrenzen des durch 200 Jahre ungleich verteilte Industrialisierung bereits strapazierten Planeten.

3.11.2

Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission deshalb eine Mitteilung zu Ansätzen zur Verwaltung und Allokation weltweiter gemeinsamer Ressourcen erarbeiten sollte. Diese würde einen langfristigen Rahmen zur Stabilisierung der Konzentration atmosphärischer Treibhausgase auf einem „unbedenklichen“ Niveau durch internationale Beteiligung an einem verbindlichen weltweiten Pool von Emissionsrechten zum Schwerpunkt haben. Nach Ablauf einer vereinbarten Frist, innerhalb deren sich die Pro-Kopf-Emissionen einander angleichen würden, wären diese Rechte gleichmäßig verteilt. Mit einem solchen Ansatz, der bereits vielfach diskutiert wird und als „contraction and convergence“ bekannt ist, können die Auswirkungen sowohl von Bevölkerungswachstum, Industriekapazitäten und Globalisierung als auch die Forderungen nach einer ausgewogenen und konkreten Re-Allokation der Erdatmosphäre als einer gemeinsamen Ressource berücksichtigt werden.

3.12

Eindeutigkeit der Ziele. Nachhaltige Entwicklung ist als Gesamtziel für die Gesellschaft weithin akzeptiert. Damit jedoch von einer Strategie für nachhaltige Entwicklung ein echter Impuls ausgehen kann, muss sie anhand konkreter messbarer Ziele und Vorgaben auf der Grundlage einer strengen Analyse umgesetzt werden. Die neue Strategie enthält zwar eine große Zahl von Zielen und Maßnahmen, setzt diese jedoch nicht in Beziehung zu einer quantifizierten Analyse von Daten und Entwicklungen oder zu einer qualitativen Analyse von Fragestellungen und Problemen. So ist häufig nicht klar, weshalb bestimmte Ziele und Maßnahmen gewählt wurden, wie die entsprechenden Fortschritte bewertet werden sollen und inwiefern sie zu überhaupt zu einer allgemeinen Nachhaltigkeit beitragen können. Die vorliegende Überprüfung sollte die Gelegenheit bieten, all diese Punkte zu verbessern und zu klären, so dass es in Zukunft wirklich möglich sein wird, die Fortschritte systematischer zu beurteilen.

3.13

Nach diesen eher kritischen Anmerkungen möchte der EWSA allerdings auch Positives anmerken. Die „neue Strategie“ formuliert im Vergleich zum im Dezember 2005 vorgelegten „Aktionsprogramm“ der Kommission eindeutig mehr konkrete Zielsetzungen, z.B. bezüglich Begrenzung der klimarelevanten Emissionen oder der Energieeffizienz. Besonders aber die Schlussfolgerungen, die der Europäische Rat bei seiner Tagung im März 2007 speziell zur Klima-, z.T. auch zur Energiepolitik gezogen hat, lassen nun einige Ziele deutlicher werden.

3.14

Instrumente zur Umsetzung der Strategie. Doch auch in der neuen Strategie (wie auch in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom März 2007) wird viel zu wenig deutlich, mit welchen Instrumenten diese nun konkreter formulierten Ziele erreicht werden sollen, welche „Strategie“ folglich eingeschlagen werden wird. Interessant ist aber allemal, dass nun — mehr zwischen den Zeilen — zumindest Andeutungen zu möglichen Instrumenten gefunden werden können. Sie sind zwar dem EWSA noch viel zu unkonkret, doch könnte und sollte der Fortschrittsbericht genutzt werden, um hierzu konkrete Aussagen zu machen und so Abhilfe und Orientierung zu schaffen (s. Ziffer 5).

4.   Spezielle Anmerkungen zur „neuen Strategie“

4.1

In der überarbeiteten Strategie wird betont, dass die Dynamik des Prozesses der Lissabon-Strategie unbedingt in die umfassenderen Ziele der nachhaltigen Entwicklung integriert werden muss. Anschließend wird aber keine ernstzunehmende Analyse darüber vorgenommen, wie sich Wachstums- und Entwicklungsmuster weltweit verändern müssen, um die Welt in Zukunft nachhaltiger zu gestalten. Die Folgen nicht nachhaltiger Entwicklungen werden immer offensichtlicher. Sie äußern sich besonders deutlich in den fatalen Folgen der Klimaveränderungen, aber auch im nach wie vor anhaltenden globalen Rückgang der Biodiversität, in der sich immer stärker öffnenden Schere zwischen Arm und Reich, im absehbaren Schwund der Rohstoffe etc.

4.2

Die Folgen werden dramatische ökonomische Auswirkungen haben. In bestimmten Regionen droht die heutige Wirtschaftsbasis komplett zusammen zu brechen. In der Schweiz geben beispielsweise Banken Investoren, die in die Wintersportinfrastruktur investieren wollen, keine Kredite mehr, wenn der Standort unterhalb von 1 500 m über dem Meeresspiegel liegt. Wie es mit der Landwirtschaft bzw. dem Tourismus im Mittelmeerraum weitergehen wird, wenn es noch heißer und trockener werden sollte, darüber herrscht mehr und mehr größte Unsicherheit.

4.3

Die „öffentlichen Ausgaben, die in der EU für den Schutz der Küstenlinie vor Erosion und Hochwasser getätigt werden, belaufen sich auf schätzungsweise 3,2 Mrd. EUR gegenüber 2,5 Mrd. EUR im Jahr 1986. Studien zufolge wird die Küstenerosion im Zeitraum 1990-2020 jährlich Kosten von durchschnittlich 5,4 Mrd. EUR verursachen“. Mit dieser hohen Summe kann jedoch nur ein Teil der sich abzeichnenden negativen Folgen abgewendet bzw. gemildert werden.

4.4

Es ist fatal: Wir leben in einem Wirtschaftssystem, in dem beispielsweise Krankheitskosten und Umweltschäden, z.B. jene Milliarden, die durch den Sturm Kyrill Anfang 2007 verursacht wurden, gesamtwirtschaftlich gesehen positiv bewertet werden, weil sie ja zur Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes beitragen. Der EWSA begrüßt, dass der Europäische Rat in seiner neuen Strategie endlich — wenn leider auch nur am Rand — beginnt, sich mit diesem Widerspruch stärker zu befassen. Der Europäische Rat hat völlig recht, wenn er in Ziffer 20 seiner neuen Strategie fordert, dass das „Kernsystem der nationalen Einkommensrechnungen ausgeweitet werden (könnte), indem u.a. Bestands- und Flusskonzepte und Nichtlohnarbeit integriert werden, und es könnte weiter durch Satellitenkonten wie Umweltausgaben und Materialflüsse ausgebaut werden“.

4.5

Der EWSA erinnert an dieser Stelle an seine Aussage aus dem Jahr 2004, dass er es „für angebracht hält, im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie durchaus Fragen zu diskutieren, die bislang fast als Tabu angesehen wurden. Eine dieser Fragen ist die des permanenten Wirtschaftswachstums als übergeordnetes Ziel und Kernaspekt aller Politiken“  (8). Der Ausschuss hat damit zum Ausdruck gebracht, dass es nicht um ein rein quantitatives Wachstum gehen kann, sondern dass ein „neuer Wachstumsgedanken“ Platz greifen muss, bei dem qualitative, an Nachhaltigkeitskriterien orientierte Ziele im Vordergrund stehen. Kommission und Rat sollten den vorzulegenden Fortschrittsbericht nutzen,

um einmal zu klären, ob nicht genau am Indikator „Bruttoinlandsprodukt“ als Messlatte für gesellschaftlichen Wohlstand und wirtschaftliche Prosperität auch eine bislang nicht erkannte bzw. ausgesprochene Konfliktlinie zwischen Nachhaltigkeits- und Lissabon-Strategie verläuft, und

um darzustellen, wie konkret ein den Nachhaltigkeitsprinzipien angepasster, neuer „Wohlstandsindikator“ aussehen müsste.

4.6

An vielen Beispielen lässt sich deutlich machen, dass wirtschaftliche und umweltpolitische Fortschritte nicht zwangsläufig zu einem Anstieg des BIP führen müssen, sehr wohl aber Arbeit geschaffen und Umwelt entlastet werden kann. Wenn Energiesparlampen die ineffektiveren normalen Glühbirnen ablösen, so wird weniger Strom verbraucht, das BIP wird sich — auch nach Einrechnung der zu tätigenden Investitionen — dadurch eher verringern. Dennoch wünscht sich der EWSA hier mehr „Wachstum“, wie auch im Bereich der Isolierung von Gebäuden, bei spritsparenden Motoren, energieeffizienten Geräten etc.

4.7

Der Ausschuss begrüßt folglich, dass nun die Kommission Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt als Maßstab gesellschaftlichen Wohlstands untersucht, und bekundet sein großes Interesse an dieser Arbeit.

4.8

Nachhaltige Entwicklung ist — das hat der EWSA bereits häufig betont — nicht zum Nulltarif zu haben. Er hat zudem mehrfach betont, dass es auf makroökonomischer Ebene zu einschneidenden strukturellen Veränderungen kommen muss und kommen wird, gewollt oder ungewollt. Die Aufgabe der Politik sollte es sein, den notwendigen Wandel behutsam einzuleiten, um größere Brüche zu vermeiden und die größten negativen Folgen abzumildern.

4.9

Was die Verantwortung für die Lösung dieser Probleme angeht, so erinnert der Ausschuss mit Blick auf die mikroökonomische Ebene daran, dass nicht nur die Politik gefordert ist, die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen. Auch die Wirtschaft und jeder einzelne Mitbürger sind gefordert. Die Kommission erinnert zu Recht seit mehreren Jahren an die soziale Verantwortung der Unternehmen; und diese Verantwortung umfasst im Zuge des sozialen Dialogs die Bereiche Wirtschaft, Soziales und Umwelt.

4.10

Der Europäische Rat weist in seiner neuen Strategie darauf hin (9), dass diese „… einen umfassenden Rahmen (bildet), innerhalb dessen … sich wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele gegenseitig verstärken können“. Er ist ferner der Ansicht, dass bei allen politischen Entscheidungen der EU im Vorfeld eine „ausgewogene“ Bewertung der sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Dimension der nachhaltigen Entwicklung erfolgen muss, bei der „die externe Dimension der nachhaltigen Entwicklung sowie die Kosten der Untätigkeit berücksichtigt werden“ müssen. Doch sobald es bei der erneuerten Strategie um die Mittel geht, ist nicht mehr von sozialem Dialog, sondern von einem institutionalisierten Dialog zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten auf der einen und „der Wirtschaft“ auf der anderen Seite die Rede, um Leistungsziele für Produkte und Prozesse festzulegen.

4.11

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, die Frage der zu ergreifenden politischen Maßnahmen wirklich breit mit allen gesellschaftlichen Kräften zu diskutieren, die in der neuen Strategie festgelegten „Hauptziele“ und „Leitprinzipen“ immer im Auge zu haben und diese wirklich ernst zu nehmen. Nur dann können mögliche Fehlentwicklungen vermieden, eine breite gesellschaftliche Akzeptanz hergestellt und die Nachhaltigkeit zum wirklichen Handlungsprinzip entwickelt werden.

4.11.1

Ein Beispiel, wie es verfahrenstechnisch nicht gemacht werden sollte, sind die Beschlüsse des Europäischen Rates zu der 10 %-igen Beimischung von Biokraftstoffen im Rahmen der Beschlüsse zum Energiepaket statt der früher beschlossenen 5,75 %. Der EWSA unterstützt ausdrücklich das vom Europäischen Rat gesetzte Ziel, die CO2-Emissionen bis 2020 um 20 bzw. 30 % (je nach Engagement der außereuropäischen Partner) zu reduzieren und erkennt auch die weitergehende Zielsetzung (minus 60 bis 80 % bis 2050) an. Die Beimischung von Biokraftstoffen muss nicht nur dieses Ziel unterstützen, sondern muss auch den anderen Leitprinzipien gerecht werden.

4.11.2

Es sind folglich sowohl die Energie- als auch die Natur- und Umweltbilanzen zu berücksichtigen und die Auswirkungen möglicher Flächenkonkurrenzen (im eigenen Land wie global) zu berücksichtigen. Die sich derzeit verstärkt entwickelnden Diskussionen, beispielsweise über den extrem hohen Einsatz fossiler Energien bei der Produktion der angeblich CO2-freien Biokraftstoffe (10), über deren wirkliche Klimarelevanz (11) oder über die Auswirkungen auf die Lebensmittelproduktion (12) zeigt, dass längst nicht alle „Nachhaltigkeitsfragen“ ausreichend beantwortet sind. Der EWSA wird diesem extrem wichtigen Thema eine gesonderte Stellungnahme widmen.

4.12

Der Ausschuss ist erfreut darüber, dass sich die Diskussion um die wirtschaftspolitischen und die finanziellen Folgen der Nachhaltigkeitsdebatte u.a. durch die Vorlage des Stern-Reports weiter versachlicht hat. Im Stern Report wird bekanntlich errechnet, dass es „nur“ 1 % des BIP bedarf, um beispielsweise die Klimafolgen weitgehend abzuwenden; eine Studie von Vattenfall, die zum Weltwirtschaftsgipfel in Davos vorgelegt wurde, kommt zum Ergebnis, dass es sogar noch „billiger“ ginge. Auch wenn 1 % des BIP ausgedrückt in einer konkreten Geldsumme ein immens hoher Betrag zu sein scheint, so muss dieser in Vergleich gesetzt werden zu anderen Politikbereichen, die ebenfalls viel Geld kosten. Die Realisierung der sog. TINA-Projekte (13) im Verkehrsbereich würde beispielsweise bis 2015 jährliche Investitionen in einer Höhe von rund 1,5 % des BIP allein in den festgelegten Verkehrskorridoren erfordern, wäre also teurer als das, was Stern zur Abmilderung der Klimafolgen errechnet.

4.13

Doch es geht, wie gesagt, nicht nur um Geld, sondern vielfach um strukturelle Veränderungen. Die „neue Strategie“ fordert beispielsweise die „Abkopplung des Wirtschaftswachstums von der Nachfrage nach Verkehrsleistungen mit dem Ziel, die Umweltbelastung zu verringern“. Der EWSA begrüßt dies. Das bedeutet aber auch, dass z.B. die sog. „just in time“ Produktion kritisch hinterfragt werden muss, mit der die Unternehmen ihre Lagerhaltung und die damit verbundenen Kosten aufgegeben und Lastwagen bzw. Güterzüge entsprechend zu rollenden Lagerhallen umfunktioniert haben.

4.14

Der Ausschuss muss aber leider feststellen, dass sich bemerkenswert schnell Diskrepanzen zwischen Anspruch und vermutlicher Wirklichkeit aufzeigen. Denn genau 13 Tage nachdem der Europäische Rat dieses operative Ziel und diese Vorgabe beschlossen hat, hat die EU-Kommission die „Halbzeitbilanz zum Verkehrsweißbuch der Europäischen Kommission von 2001“ (14) vorgelegt. Darin wird für den Zeitraum von 2000-2020 von einer wahrscheinlichen Zunahme des BIP von 52 %, des Straßengüterverkehrs um 55 % und des Luftverkehrs von 108 % gesprochen. Die gewollte Entkopplung findet besonders beim Schienengüterverkehr (+ 13 %) sowie beim Schienenpersonenverkehr (+ 19 %) statt.

4.15

Der EWSA kann nur mit großer Verwunderung feststellen, dass es scheinbar keine Abstimmung zwischen der Erstellung der Halbzeitbilanz zum Verkehrsweißbuch und der neuen Nachhaltigkeitsstrategie gegeben hat, denn dieser offensichtliche Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Politik wird nicht problematisiert. Im Verkehrssektor scheint die Kommission das erste spezifische Ziel, die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Mobilitätszuwachs, quasi aufgegeben zu haben. Die Kommission muss zukünftig alles Erdenkliche tun, um solche Widersprüche gar nicht erst aufkommen zu lassen. Und im Verkehrssektor muss erneut nach Möglichkeiten gesucht werden, wie die Städte und Gemeinden sowie die verschiedenen Aktivitäten so gestaltet werden können, dass die Transport- und Verkehrswege tendenziell kürzer werden, anstatt dass Menschen und Güter zu ihren Zielen immer größere Entfernungen zurücklegen müssen. Hierzu ist eine Anpassung der Steuer- und Raumplanungspolitik sowie eine angemessene Koordinierung auf allen Verwaltungsebenen, von der EU-Ebene bis hin zu den lokalen Behörden erforderlich.

4.16

Die neue Strategie ist, was die Lösung der immer stärker zunehmenden Verkehrsproblematik angeht, eher enttäuschend. Der EWSA muss feststellen, dass die EU energiepolitisch mittlerweile wesentlich konkreter geworden ist, was Lösungen angeht, als im Verkehrsbereich, dessen negativer Einfluss auf Klima und Umwelt- sowie Naturschutz weiter zunehmen wird.

4.17

Die Schlussfolgerung des Europäischen Rates vom März 2007 (15), wonach das Emissionshandelssystem evtl. auf den Land- und Seeverkehr ausgedehnt werden könnte, sollte im Fortschrittsbericht der Nachhaltigkeitsstrategie aufgegriffen und hinsichtlich möglicher Wirkungen — auch im Vergleich zu anderen Instrumenten — bewertet werden.

5.   Inhalte des Fortschrittsberichtes

5.1

Der EWSA begrüßt, dass gemäß Ziffer 33 der neuen Strategie die Kommission zukünftig alle zwei Jahre (zum ersten Mal im September 2007) einen Fortschrittsbericht über die Durchführung der Strategie der nachhaltigen Entwicklung in der EU und in den Mitgliedstaaten vorlegen wird, der auch künftige Prioritäten, Ausrichtungen und Maßnamen enthält. Der EWSA verspricht sich davon, dass bislang offen gebliebene Fragen dadurch beantwortet werden.

5.2

Dies ist gerade bei den eher vage erwähnten Steuerungs- und Wirtschaftsinstrumenten sehr wichtig. So wird beispielsweise in Ziffer 22 angesprochen, dass „für die Förderung von Markttransparenz und Preisen, die die realen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Kosten von Waren und Dienstleistungen widerspiegeln (Preise richtig gestalten), … die geeignetsten Wirtschaftsinstrumente verwendet werden“ sollten. Damit ist man bei der auch vom EWSA mehrfach gestellten Forderung der Internalisierung der externen Kosten und den dazu notwendigen Instrumenten. Der EWSA erinnert daran, dass diese Debatte über viele Jahre hinweg mehr oder weniger erfolglos geführt worden ist. Mit dreijähriger Verspätung hat die Kommission Ende März 2007 ihr Grünbuch „Marktwirtschaftliche Instrumente für umweltpolitische und damit verbundene politische Ziele“ vorgelegt, mit der die Diskussion einen neuen Schub bekommt. Der Ausschuss wird darauf achten, dass im Rahmen der Fortschrittsberichte in diese für die Nachhaltigkeit zentrale Frage endlich Bewegung kommt.

5.3

In Ziffer 23 werden vom Europäischen Rat, also von den Staats- und Regierungschefs, die Mitgliedstaaten aufgefordert, „als Beitrag zu den EU-Zielen Beschäftigungssteigerung und Umweltschutz weitere Schritte (zu) erwägen, um die Steuerlast vom Faktor Arbeit auf die Faktoren Ressourcen- und Energieverbrauch und/oder Umweltverschmutzung kosteneffizient zu verlagern“. Der EWSA begrüßt dies und bittet die Kommission, diesem Kapitel im Fortschrittsbericht breiten Raum zu widmen und konkrete Vorschläge zu unterbreiten, auf welche Art und Weise dies geschehen kann. Dabei müssen sowohl die umweltpolitischen Effekte als auch die Verteilung der Lasten genau untersucht werden, damit nicht gerade die sozial Schwachen durch die Steuerumverteilung besonders betroffen werden.

5.4

Der EWSA begrüßt auch die Ankündigung, bis „2008 einen Fahrplan für die nach Sektoren gegliederte Reform derjenigen Beihilfen vor(zu)legen, die erhebliche negative Auswirkungen auf die Umwelt haben und mit der nachhaltigen Entwicklung nicht vereinbar sind“. Auch unterstützt der Ausschuss das formulierte Ziel, „diese Beihilfen schrittweise abzuschaffen“, wobei er es hilfreich fände, wenn für die schrittweise Abschaffung ein konkreter Zeitplan genannt und gleichzeitig auch geprüft würde, die so eingesparten Mittel ggf. in einen neuen „EU-Nachhaltigkeitsfonds“ zu transferieren, auf den die Mitgliedstaaten zurückgreifen können, wenn eine Maßnahme zur Erhaltung der Umwelt mit unverhältnismäßig hohen Kosten für ihr Budget verbunden ist (Artikel 175 Absatz 5 und Artikel 174 Absatz 1, Nizza-Vertrag).

5.5

Der EWSA hat in seinen früheren Stellungnahmen immer wieder dargestellt, dass es für die Mitbürger, Unternehmen und sonstigen interessierten Stellen wichtig ist, einen klaren Überblick zu haben, was politisch konkret geplant ist und warum. Nur dann werden die Menschen auch bereit sein, diesen notwendigen Prozess aktiv zu begleiten und zu unterstützen. Deshalb ist der Auftrag des Europäischen Rates an die Kommission, „einen allgemein verständlichen Leitfaden zu dieser Strategie (zu) erstellen, der auch bewährte Verfahren und Maßnahmen der Mitgliedstaaten umfasst“ (s. Ziffer 26) richtig. Leider fehlt auch hier ein konkreter Fahrplan, der Fortschrittsbericht sollte darauf eingehen.

5.6

Die Strategie beinhaltet die Verpflichtung, den Politikgestaltungsprozess durch stärkeren Einsatz von Folgenabschätzungen und stärkere Einbindung betroffener Kreise zu verbessern. Der Ausschuss heißt diese Verpflichtung gut und fordert die Kommission sowie die Mitgliedstaaten dazu auf, Erfahrungen mit der Methodik von Folgenabschätzungen im Bereich nachhaltige Entwicklung zu bewerten, und sicherzustellen, dass diese in allen Politik- und Maßnahmenbereichen wirksam angewandt wird.

5.7

Für sehr wichtig hält der EWSA den Ansatz, „eine konkrete und realistische Vision der EU auf ihrem Weg hin zu einer nachhaltigen Entwicklung in den kommenden 50 Jahren (zu) erarbeiten“ (Ziffer 27). Aber auch hier stellt sich die Frage, was bis wann konkret vorgelegt wird. Der Ausschuss fordert schon jetzt, in einer solchen Vision den Blick auch über das Jahr 2060 hinauszurichten. Denn angesichts der im Dokument zur erneuerten Strategie angekündigten Verpflichtungen und Hauptziele (16) sollten die gesellschaftlichen Weichenstellungen auch für ganz langfristige Zeiträume so frühzeitig wie möglich gestellt werden. Der Europäische Rat hat auf seinem Gipfel Anfang März 2007 im Kern damit begonnen, indem er erklärt hat, die „Emissionen bis 2050 gemeinsam um 60 bis 80 % gegenüber 1990 zu verringern“ (17). Einige fossile bzw. nicht regenerierbare Rohstoffe sind sicher länger als 50 Jahre verfügbar, aber dennoch endlich, so dass es richtig ist, bereits heute über eine Politik über den Zeitraum von 50 Jahren hinaus nachzudenken, wenn man es mit dem Aspekt der Generationengerechtigkeit ernst meint.

5.8

Der Ausschuss würde es begrüßen, wenn diese Querschnittsaspekte, die ja auf allen Ebenen der politischen Konzeption (Union und Mitgliedstaaten) einfließen sollen, auch bei den Elementen der Strategie berücksichtigt würden, damit sie wirksam werden. Gleichzeitig wird nicht angegeben, wie das zu gewährleisten ist; vermutlich weil beim aktuellen Stand der Texte, der durch den europäischen Verfassungsentwurf bestätigt wird, die Zuständigkeit der Union in diesem Bereich eine geteilte Zuständigkeit ist und die Mitgliedstaaten für die Finanzierung und Durchführung der Umweltpolitik Sorge tragen (Artikel 175 Absatz 4, Nizza-Vertrag). Die Akteure werden somit nicht präzisiert.

5.9

In der neuen Strategie ist angekündigt, dass jeder Mitgliedstaat einen Vertreter benennen wird, der als Ansprechpartner fungiert. Der EWSA geht davon aus, dass der Fortschrittsbericht Auskunft darüber geben wird, ob diese Nominierung erfolgt ist und wie sich die Zusammenarbeit entwickelt hat.

5.10

Auch sollte der erste Fortschrittsbericht Auskunft darüber geben, ob nun alle Mitgliedstaaten ihre (erste) nationale Strategie fertig gestellt haben, was für Juni 2007 angekündigt war. Für den EWSA stellt sich die Frage, wer diese nationalen Strategien nach welchen Kriterien überprüft und welche Konsequenzen es haben wird, wenn Mitgliedstaaten Strategien nicht fertig gestellt haben oder diese „unqualifiziert“ sind.

5.11

In Ziffer 41 spricht der Europäische Rat von einer „freiwilligen, gegenseitigen Begutachtung“ der nationalen Strategien, die ab 2006 mit einer ersten Gruppe von Mitgliedstaaten beginnen sollte. Der Fortschrittsbericht sollte Auskunft darüber geben, welche Ergebnisse diese Begutachtung ergeben hat und welche Konsequenzen daraus für die europäische Strategie zu ziehen sind.

5.12

Der EWSA erkennt voll und ganz an, dass in vielen Fragen der nachhaltigen Entwicklung die Mitgliedstaaten sowie die regionale und lokale Verwaltungsebene über Kompetenzen verfügen und dass sie für viele Probleme einen eigenen Ansatz und ein eigenes Aufgabenprofil erarbeiten müssen; er ist jedoch der Auffassung, dass, wenn die Fortschritte im Bereich der nachhaltigen Entwicklung auf dem erforderlichen Niveau gehalten werden sollen, auch die Kapazitäten in der Kommission ausgebaut werden müssen, damit die Fortschritte insgesamt verfolgt und dort, wo die Umsetzung in Verzug zu geraten scheint und ein gemeinschaftlicher Ansatz gefragt ist, neue Maßnahmen eingeleitet werden können. Der Ausschuss zweifelt daran, dass allein die Koordinierung und der Austausch bewährter Verfahren ausreichend ist. Er würde es begrüßen, wenn er jedes Jahr die Zusammenstellung der zu prüfenden Ergebnisse der Mitgliedstaaten erhalten könnte.

5.13

Im Rahmen der Strategie wird die Einrichtung bzw. Stärkung der nationalen Räte für nachhaltige Entwicklung empfohlen. Die nationalen Räte spielen bei der Vorbereitung der nationalen Strategien für nachhaltige Entwicklung eine wichtige Rolle und können auch einen Beitrag dazu leisten, in den Mitgliedstaaten Maßnahmen in Gang zu bringen, die Zivilgesellschaft in Maßnahmen zur nachhaltigen Entwicklung einzubeziehen und die Fortschritte zu beobachten. Zu ihren Aufgaben gehört auch die Anwendung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung unter Wahrung eines dynamischen Gleichgewichts zwischen deren wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aspekten. Der Ausschuss kann in Bezug auf diese Empfehlung keine großen Fortschritte erkennen und will dieses Thema zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Jahr untersuchen. Einstweilen regt er an, diese Frage auch im Rahmen der Überprüfung der Umsetzung mit den Mitgliedstaaten zu erörtern.

5.14

Die Mitgliedstaaten und die Kommission sollten auch weiterhin prüfen, wie die Koordinierung von Fragen der nachhaltigen Entwicklung innerhalb ihrer eigenen Strukturen gewährleistet werden kann. Nachhaltige Entwicklung ist ein Querschnitts- und Integrationskonzept, das über die spezifischeren Themen einzelner Abteilungen und Agenturen hinausreichen und diese zuweilen verändern sollte. Die Erfahrung hat gezeigt, dass dies nur möglich ist, wenn es innerhalb einer Regierung eine starke zentrale Einheit zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung gibt, die über das Wissen und die Autorität verfügt, sektions- oder abteilungsspezifische Grundsätze in Frage zu stellen. Der Fortschrittsbericht sollte Auskunft darüber geben, wo die Kommission hier innerhalb ihrer eigenen Dienststellen noch Verbesserungsbedarf sieht. Der EWSA ist sich sicher, dass es einen gibt (vgl. Ziffern 4.15 und 4.16)

5.15

Die Strategie weist sehr zu Recht darauf hin, dass nachhaltige Entwicklung umfassend in den Aufgabenbereich und die Praxis regionaler und kommunaler Verwaltungen auf allen Ebenen integriert werden muss. Einige lokale und regionale Gebietskörperschaften in Europa haben sich hinsichtlich der Einbeziehung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung in ihre Arbeit und der Entwicklung innovativer Antworten auf den Klimawandel und andere Fragen der Nachhaltigkeit in der Vergangenheit besonders hervorgetan. Die Überprüfung der Umsetzung stellt eine günstige Gelegenheit dar, die Fortschritte bei der nachhaltigen Entwicklung auf regionaler und lokaler Ebene zu bemessen und zu prüfen, wie bewährte Praktiken besser bekannt gemacht werden können.

5.16

In Ziffer 45 wird davon gesprochen, in 2011 zu entscheiden, wann eine „Überprüfung“ der Nachhaltigkeitsstrategie notwendig ist. Der EWSA kann diesem Verfahren nicht zustimmen. Wenn sich im Rahmen der Fortschrittsberichte zeigt, dass Europa auf dem Weg zur Nachhaltigkeit Probleme hat, dann stimmt die Strategie (der Weg zur Erreichung des Ziels) nicht. Und dann ist eine Überprüfung direkt notwendig, nicht erst im Jahr 2011.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  KOM(2006) 845 endg.

(2)  KOM(2005) 658 endg. vom 13.12.2005.

(3)  ABl. C 117 vom 30.4.2004, Seite 22, Ziffer 2.2.1.

(4)  Rat der Europäischen Union, Dokument 10917 vom 9.6.2006: „Überprüfung der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung — Die erneuerte Strategie“.

(5)  ABl. C 117 vom 30.4.2004.

(6)  ABl. C 117 vom 30.4.2004.

(7)  ABl. C 117 vom 30.4.2004, u.a. Ziffern 0.8 und 6.4 ff.

(8)  ABl. C 117 vom 30.4.2004, Seite 22, Ziffer 2.3.9.

(9)  S. Ziffer 8.

(10)  83 % des Energiegehaltes von Ethanol, das aus Mais hergestellt wird, stammt aus fossilen Energien.

(11)  Hoher Lachgasanteil bei der Rapsproduktion (Studie liegt noch vor der Sommerpause, also bis zum Plenum vor).

(12)  Siehe Mexiko: Unruhen wegen steigender Preise von Tortillas, da der Mais verstärkt in die Tanks der Autos fließt.

(13)  TINA = Transport Infrastructure Needs Assessment.

(14)  KOM(2006) 314 endg.

(15)  S. Ziffer 35.

(16)  Nämlich „künftige Generationen“ zu befähigen, „ihre Bedürfnisse zu befriedigen“, „soziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt“ zu wahren und einen „hohen Lebensstandard“ und „Vollbeschäftigung“ zu gewährleisten und die angeführten Leitprinzipien, nämlich „Ausrichtung der Politik der Europäischen Union auf den Menschen, durch Förderung der Grundrechte, Bekämpfung aller Arten von Diskriminierung und Beitrag zur Armutsminderung und zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung“, umzusetzen.

(17)  S. Schlussfolgerungen Ziffer 30.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Ausschusses

Folgende Änderungsanträge, die mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen als Ja-Stimmen auf sich vereinigen konnten, wurden abgelehnt:

Ziffer 2.4

Wie folgt ändern:

„2.4

In seiner letzten Stellungnahme zum Thema befasste sich der EWSA mit der o.g. Mitteilung der Kommission vom Dezember 2005. Er kritisierte dabei, dass die Kommission mit ihrem als ‚ambitiös‘ beschriebenen Aktionsprogramm weder der Empfehlung des EWSA vom April 2004 noch ihrem eigenen Versprechen vom Juni 2005 nachgekommen ist, Denn sie hatte, anders als versprochen, wieder keine klaren Ziele zu benennen benannt, die sie im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie erreichen will.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 35

Nein-Stimmen: 61

Stimmenthaltungen: 4

Ziffer 2.4.1

Wwie folgt ändern:

„2.4.1

Der EWSA erinnerte damals daran, dass eine Strategie den Weg zur Erreichung von Zielen beschreibt. Das Fehlen von konkreten Zielen, die angesichts der geforderten Berücksichtigung der unterschiedlichen Aspekte der Nachhaltigkeit nur schwer zu setzen sind, muss zwangsläufig zu Problemen bei der Benennung von Instrumenten führen. Denn wenn man nicht genau weiß, wohin man will, kann man auch nicht festlegen, wie man dorthin kommt. Die Mitteilung ließ folglich nach Auffassung des EWSA mehr Fragen offen, als sie Antworten und Orientierung gab.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 34

Nein-Stimmen: 63

Stimmenthaltungen: 3

Ziffer 3.11

Wie folgt ändern:

„3.11

Mit der Frage, ob eine auf globale, offene Märkte ausgerichtete europäische Agrarpolitik nachhaltig sein kann, wird automatisch die generelle Frage nach den globalen Spielregeln bei Produktion und Handel angesprochen. Die WTO ist eine Organisation, die auf Übereinkommen basiert, die den freien Welthandel fördern wollen. Ein freier, liberalisierter Handel muss aber keinesfalls automatisch nachhaltig sein, wie der EWSA mehrfach dargestellt hat. Wie aus einem freien Handel ein mit Nachhaltigkeitsprinzipien verträglicher Handel erreicht werden kann, dazu macht die neue Strategie leider keine Aussagen. Dies ist ein großes Manko! Auch hier muss der EWSA leider darauf hinweisen, dass es die Verantwortlichen in der EU bislang versäumt haben, diese von ihm bereits vor 3 Jahren aufgeworfene Frage zu beantworten, auch wenn der EWSA gern konstatiert, dass die EU in den letzten Jahren durchaus bemüht war, über neue Regeln im globalisierten Handel und bei IMF und Weltbank zu verhandeln.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 35

Nein-Stimmen: 63

Stimmenthaltungen: 8

Ziffer 3.11.2

Ziffer streichen

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 38

Nein-Stimmen: 63

Stimmenthaltungen: 3

Ziffer 4.2

Wie folgt ändern:

„4.2

Die Folgen werden könnten dramatische ökonomische Auswirkungen haben. In bestimmten Regionen ist droht die heutige Wirtschaftsbasis gefährdet komplett zusammen zu brechen. In der Schweiz geben beispielsweise Banken Investoren, die in die Wintersportinfrastruktur investieren wollen, keine Kredite mehr, wenn der Standort unterhalb von 1 500 m über dem Meeresspiegel liegt. Wie es mit der Landwirtschaft bzw. dem Tourismus im Mittelmeerraum weitergehen wird, wenn es noch heißer und trockener werden sollte, darüber herrscht mehr und mehr größte Unsicherheit.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 41

Nein-Stimmen: 57

Stimmenthaltungen: 3

Ziffer 4.4

Wie folgt ändern:

„4.4

Es ist fatal: Wir leben in einem Wirtschaftssystem, in dem Es ist ein hinlänglich bekanntes Problem, beispielsweise dass Krankheitskosten und in einigen Fällen Umweltschäden, z.B. jene Milliarden, die durch den Sturm Kyrill Anfang 2007 verursacht wurden, gesamtwirtschaftlich gesehen positiv bewertet werden, weil sie ja zur Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes beitragen, während andere bedeutende Aktivitäten nicht in das BIP einfließen. Der EWSA begrüßt, dass der Europäische Rat in seiner neuen Strategie endlich — wenn leider auch nur am Rand — beginnt, sich mit diesem Widerspruch stärker zu befassen. Der Europäische Rat hat völlig recht, wenn er in Ziffer 20 seiner neuen Strategie fordert, dass das ‚Kernsystem der nationalen Einkommensrechnungen ausgeweitet werden (könnte), indem u.a. Bestands- und Flusskonzepte und Nichtlohnarbeit integriert werden, und es könnte weiter durch Satellitenkonten wie Umweltausgaben und Materialflüsse ausgebaut werden‘.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 35

Nein-Stimmen: 56

Stimmenthaltungen: 8

Ziffer 4.10

Wie folgt ändern:

„4.10

Der Europäische Rat weist in seiner neuen Strategie darauf hin, dass diese ‚… einen umfassenden Rahmen (bildet), innerhalb dessen … sich wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele gegenseitig verstärken können‘. Er ist ferner der Ansicht, dass bei allen politischen Entscheidungen der EU im Vorfeld eine ‚ausgewogene‘ Bewertung der sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Dimension der nachhaltigen Entwicklung erfolgen muss, bei der ‚die externe Dimension der nachhaltigen Entwicklung sowie die Kosten der Untätigkeit berücksichtigt werden‘ müssen. Doch sobald es bei In der erneuerten Strategie um die Mittel geht, ist jedoch hinsichtlich der Festlegung von Leistungszielen für Produkte und Prozesse nicht mehr von sozialem Dialog, sondern von einem institutionalisierten Dialog zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten auf der einen und ‚der Wirtschaft‘ auf der anderen Seite die Rede, um Leistungsziele für Produkte und Prozesse festzulegen.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 41

Nein-Stimmen: 55

Stimmenthaltungen: 3

Ziffer 4.14

Wie folgt ändern:

„4.14

Doch es geht, wie gesagt, nicht nur um Geld, sondern vielfach um strukturelle Veränderungen. Die ‚neue Strategie‘ fordert beispielsweise die ‚Abkopplung des Wirtschaftswachstums von der Nachfrage nach Verkehrsleistungen mit dem Ziel, die Umweltbelastung zu verringern‘. Der EWSA begrüßt dies. Das bedeutet aber auch, dass z.B. die sog. ‚just in time‘ Produktion kritisch hinterfragt werden muss, mit der die Unternehmen ihre Lagerhaltung und die damit verbundenen Kosten aufgegeben und Lastwagen bzw. Güterzüge entsprechend zu rollenden Lagerhallen umfunktioniert haben.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 39

Nein-Stimmen: 56

Stimmenthaltungen: 6

Ziffer 4.16

Wie folgt ändern:

„4.16

Der EWSA kann nur mit großer Verwunderung feststellen, dass es scheinbar keine Abstimmung zwischen der Erstellung der Halbzeitbilanz zum Verkehrsweißbuch und der neuen Nachhaltigkeitsstrategie gegeben hat, denn dieser offensichtliche Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Politik wird nicht problematisiert. Im Verkehrssektor scheint die Kommission das erste spezifische Ziel, die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Mobilitätszuwachs, quasi aufgegeben zu haben. Die Kommission muss zukünftig alles Erdenkliche tun, um solche Widersprüche gar nicht erst aufkommen zu lassen. Und im Verkehrssektor muss erneut nach Möglichkeiten gesucht werden, wie die Städte und Gemeinden sowie die verschiedenen Aktivitäten so gestaltet werden können, dass die Transport- und Verkehrswege tendenziell kürzer werden, anstatt dass Menschen und Güter zu ihren Zielen immer größerer Entfernungen zurücklegen müssen. Hierzu ist eine Anpassung der Steuer- und Raumplanungspolitik sowie eine angemessene Koordinierung auf allen Verwaltungsebenen, von der EU-Ebene bis hin zu den lokalen Behörden erforderlich.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 36

Nein-Stimmen: 63

Stimmenthaltungen: 4


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/86


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Statistiken zu Pflanzenschutzmitteln“

KOM(2006) 778 endg. — 2006/0258 (COD)

(2007/C 256/16)

Der Rat beschloss am 16. Mai 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 285 Absatz 1des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 8. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr VAN OORSCHOT.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) mit 138 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt die Verordnung über Statistiken zu Pflanzenschutzmitteln als ein Instrument für die Messung der Fortschritte bei der Verwirklichung der Rahmenrichtlinie (1) für den nachhaltigen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in den Mitgliedstaaten.

1.2

Der EWSA bedauert, dass nur die gewerbliche Nutzung in der Landwirtschaft Teil der Verordnung über Statistiken zu Pflanzenschutzmitteln ist und der potenziell umweltbelastende Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf verhärteten Böden außer Acht gelassen wird.

1.3

Der EWSA verweist nachdrücklich darauf, dass bei der Verknüpfung von Daten über die Verwendung von Pestiziden mit Angaben über den Rückstandshöchstgehalt nicht nur die Menge der verwendeten Mittel und die behandelte Anbaufläche, sondern auch die Daten über den Ertrag der Pflanzen von Bedeutung sind. Um die Verknüpfung von Daten über die Verwendung von Pestiziden mit bestehenden Gemeinschaftsstatistiken über pflanzliche Erzeugnisse und insbesondere über die Erträge zu gewährleisten, muss die Verwendung dieser Statistiken über pflanzliche Erzeugnisse ausdrücklich in die Verordnung aufgenommen werden.

2.   Vorschlag der Kommission

2.1

Zweck dieser Verordnung ist es, einen Rahmen für die Erstellung von Gemeinschaftsstatistiken über das Inverkehrbringen und den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu schaffen, indem alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden, regelmäßig detaillierte Statistiken zu erstellen. Damit die Vergleichbarkeit dieser Statistiken zwischen den Mitgliedstaaten und auf Gemeinschaftsebene gewährleistet ist, legt die Verordnung den Erfassungsbereich der Statistiken fest, der auf die gewerbliche Nutzung in der Landwirtschaft begrenzt werden wird, und stellt harmonisierte Regeln für die Erhebung und Zusammenstellung der Daten auf.

2.2

Diese Statistiken sind wesentlich für die Schätzung der Gefährdung der menschlichen Gesundheit und der Umwelt durch den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und für die Messung der Fortschritte bei der Verwirklichung der Ziele für den nachhaltigen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln.

2.3

Der Nutzen dieser Maßnahmen sollte im Lichte der gesamten Rahmenrichtlinie gesehen werden. Allgemeines Ziel der Durchführung der Maßnahmen der Rahmenrichtlinie ist es, Verbesserungen im Bereich Umwelt und Gesundheit oder sonstigen Nutzen für die Gesellschaft zu erzielen, z.B. die Verringerung der externen Kosten der Verwendung von Pflanzenschutzmitteln durch eine nachhaltigere Verwendung von Pestiziden. Fortschritte können nur anhand zuverlässiger Daten und relevanter Indikatoren gemessen werden. Auf nationaler oder Gemeinschaftsebene kann von dieser Verordnung durch bessere Informationen über den Einsatz von Pestiziden, z.B. durch verbesserte Überwachungssysteme und gezieltere und effektivere Politiken, direkter Nutzen erwartet werden. Darüber hinaus wird dadurch, dass in ganz Europa amtliche Statistiken zur Verfügung stehen, der Markt transparenter werden, was die Wettbewerbsfähigkeit der Pestizidindustrie verbessern dürfte.

3.   Bestehender Rechtsrahmen

3.1

Verordnung (EG) Nr. 396/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Februar 2005 über Höchstgehalte an Pestizidrückständen in oder auf Lebens- und Futtermitteln pflanzlichen und tierischen Ursprungs und zur Änderung der Richtlinie 91/414/EWG des Rates.

3.2

Verordnung (EG) Nr. 852/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über Lebensmittelhygiene, insbesondere Anhang I Teil A Nummer 9, die die Lebensmittelunternehmer, die Pflanzenerzeugnisse erzeugen oder ernten, dazu verpflichtet, Buch über die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln und Bioziden zu führen.

3.3

Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik.

3.4

Richtlinie 91/414/EWG des Rates vom 15. Juli 1991 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln, z. Z. in Überarbeitung.

4.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags

4.1

Mit der vorgeschlagenen Verordnung werden ein Rechtsrahmen sowie harmonisierte Regeln für die Erhebung und Verbreitung von Daten über das Inverkehrbringen und die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln festgelegt. Die Mitgliedstaaten werden insbesondere angewiesen:

die Datenerhebungen regelmäßig durchzuführen (jährlich für das Inverkehrbringen, alle fünf Jahre für die Verwendung von Pestiziden),

wie die Daten zu erheben sind: dies kann anhand repräsentativer Erhebungen, statistischer Schätzverfahren auf der Grundlage von Sachverständigengutachten oder Modellen, anhand einer Meldepflicht für die Vertriebskette für Pflanzenschutzmittel, einer Meldepflicht für die gewerblichen Anwender, anhand von administrativen Quellen oder einer Kombination dieser Mittel erfolgen,

wie die Datenübermittlung an die Kommission zu erfolgen hat.

4.2

Ferner wird die Kommission mit der Aufgabe betraut, einige technische Aspekte anzupassen sowie die Kriterien für die Qualitätsbewertung und das Format für die Datenübermittlung festzulegen.

5.   Allgemeine Bemerkungen

5.1

Der EWSA begrüßt die Verordnung über Statistiken zu Pflanzenschutzmitteln als ein Instrument für die Messung der Fortschritte bei der Verwirklichung der Ziele der Rahmenrichtlinie für den nachhaltigen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in den Mitgliedstaaten.

6.   Besondere Bemerkungen

6.1   Gewerbliche Nutzung außerhalb der Landwirtschaft

6.1.1

Aus Überwachungsdaten der niederländischen Trinkwasserindustrie geht hervor, dass 50 % der Fälle, in denen es zu Überschreitungen der Trinkwassernorm kommt, auf den nicht landwirtschaftlichen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf verhärteten Böden zurückzuführen sind.

6.1.2

Über die Statistikverordnung lässt sich der Gesamteinsatz außerhalb der Landwirtschaft grob schätzen, indem von der in einem Jahr auf den Markt gebrachten Gesamtmenge eines Mittels die in der Landwirtschaft gewerblich genutzte Gesamtmenge des betreffenden Mittels abgezogen wird.

6.1.3

Nach Ansicht des EWSA ist diese Ableitung der Nutzung außerhalb der Landwirtschaft für eine korrekte Bewertung der Politik, die sich aus der Rahmenrichtlinie ergibt, zu ungenau.

6.1.4

Deshalb plädiert der EWSA dafür, die Statistikverordnung neben der Erhebung von Daten über die gewerbliche Nutzung von Pflanzenschutzmitteln in der Landwirtschaft für die Erhebung von Daten über die gewerbliche Nutzung in der Forstwirtschaft und auf verhärteten Böden sowie die nicht gewerbliche Nutzung zu verwenden.

6.2   Statistikverordnungen und Daten über den Rückstandshöchstgehalt

6.2.1

Der EWSA verweist nachdrücklich darauf, dass bei der Verknüpfung von Daten über die Verwendung von Pestiziden mit Angaben über den Rückstandshöchstgehalt (MRL) nicht nur die Menge der verwendeten Mittel und die behandelte Anbaufläche, sondern auch die Daten über den Ertrag der Pflanzen von Bedeutung sind. Eine gleiche Menge an Pflanzenschutzmitteln auf gleicher Anbaufläche führt bei niedrigerem Ertrag zu geringerer ökologischer Effizienz und erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Überschreitung des MRL.

6.2.2

In Anhang II des Vorschlags wird auf die Verordnung (EWG) Nr. 571/88 zur Durchführung von Erhebungen der Gemeinschaft über die Struktur der landwirtschaftlichen Betriebe verwiesen. Mit diesem Verweis soll sichergestellt werden, dass sowohl für die Erhebungen über Betriebsstrukturen als auch für die Daten über die Nutzung von Pflanzenschutzmitteln dieselbe Klassifizierung der Pflanzen verwendet wird. Dadurch lassen sich Statistiken über die Nutzung von Pflanzenschutzmitteln effektiv mit Statistiken über den Ertrag pflanzlicher Erzeugnisse verknüpfen.

6.2.3

Der EWSA erkennt an, dass der Verweis auf die Verordnung Nr. 571/88 die Möglichkeit eröffnet, Daten über die Nutzung von Pflanzenschutzmitteln mit Daten über den Ertrag der entsprechenden pflanzlichen Erzeugnisse zu verknüpfen. Um den Gebrauch dieser Möglichkeit zu gewährleisten, muss die Verwendung der betreffenden Statistiken über pflanzliche Erzeugnisse und insbesondere über die Erträge bei der Analyse von Daten über die Nutzung von Pflanzenschutzmitteln in der Verordnung ausdrücklich genannt werden.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Aktionsrahmen der Gemeinschaft für den nachhaltigen Einsatz von Pestiziden“ (KOM(2006) 373 endg.).


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/88


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Innovation: Auswirkungen auf den industriellen Wandel und die Rolle der EIB“

(2007/C 256/17)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 6. Juli 2006, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu erarbeiten: „Innovation: Auswirkungen auf den industriellen Wandel und die Rolle der EIB“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 20. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr TÓTH, Mitberichterstatter Herr CALVET CHAMBON.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) mit 138 Stimmen gegen 1 Stimme bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Nach Prüfung der Zusammenhänge zwischen Innovation und industriellem Wandel sowie der zahlreichen damit verbundenen europäischen und einzelstaatlichen Initiativen hat der EWSA beschlossen, im Rahmen seiner Initiativstellungnahme, diejenigen Aspekte des Innovationssystems zu untersuchen, die die direkte kommerzielle Umsetzung der Forschungsergebnisse sowie die Stärkung und das nachhaltige Wachstum der europäischen Industrie und Wirtschaft fördern können, und dazu Empfehlungen abzugeben.

1.2

Der EWSA hält es für beachtenswert, dass der Erfolg der Innovation in vielen Ländern und Regionen eng mit der Offenheit der Gesellschaft und des Bildungswesens zusammenhängt. Insofern als Innovation in unserem Jahrhundert nicht nur in der Wirtschaft, sondern in allen Tätigkeitsbereichen nicht nur existiert, sondern sich sogar als entscheidend erweist, können die Humanressourcen eindeutig zu einem Wachstumsfaktor werden. Nach Ansicht des EWSA wird dieser Faktor als Entwicklungskatalysator immer entscheidender, weshalb die Innovation — entsprechend den Kriterien für lebenslanges Lernen — vor allem auf einer breiten Bildungs- und Ausbildungsgrundlage stehen muss, indem der gleichberechtigte Zugang zu einer quelloffenen und inhaltsoffenen Wissensbasis genutzt wird.

1.3

In Unternehmen sollten Synergien zwischen Innovation und „humaner“ Wissensindustrie geschaffen werden, die nicht nur als Grundlage, sondern auch zur Entfaltung der Innovation dienen. Gleichzeitig müssen Verfahren gefunden werden, damit sich das Beschäftigungssystem in flexibler Form entsprechend dem industriellen Wandel entwickelt und die dafür erforderlichen finanziellen Voraussetzungen gegeben sind.

1.4

Der EWSA hält es für sehr wichtig, Sichtbarkeit, Präsenz und positive Rückmeldungen bezüglich erfolgreicher Innovationsinitiativen in der Öffentlichkeit zu stärken. Die gesellschaftliche Innovation spielt für die gesamte Innovationskette eine Schlüsselrolle. Die nicht technologische Innovation, wie z.B. neue Geschäftsmodelle, bessere Planung oder die qualitative Entwicklung von Arbeitsorganisation und Kompetenzen, ist mindestens genauso wichtig wie die technologische Innovation. Die Innovation von Organisationsentwicklung und Organisation ist normalerweise erforderlich, um die Möglichkeiten der technologischen Innovation optimal zur Geltung zu bringen.

1.5

Die Sozialpartner sowie die Akteure und Einrichtungen der organisierten Zivilgesellschaft spielen bereits heute eine sehr wichtige Rolle bei der Vermittlung, Verstärkung und Rezeption der Modernisierungsbotschaften der Innovation, aber diese Funktion sollte noch verstärkt werden, indem auch die Konzeption der strategischen Prioritäten und der Politik mit einbegriffen werden.

1.6

Der EWSA ist davon überzeugt, dass es für die Lösung des europäischen Paradoxes — nach dem unsere Stärke im Bereich der Grundlagenforschung liegt, wir jedoch bei der praktischen, kommerziellen Nutzung der erreichten Ergebnisse im Rückstand sind — zweckmäßig ist, den Schwerpunkt auf die Änderung der Ausgabenstruktur, statt auf die Erhöhung des für FuE-Ausgaben vorgesehenen BIP-Anteils zu legen. Während im Ausgabenbereich größere Anstrengungen erforderlich sind, bedürfen auch die neuen Ansätze verstärkter Aufmerksamkeit.

1.6.1

In den Mitgliedstaaten der EU ist bei FuE nach wie vor häufig die Angebotsseite vorherrschend: das Angebot der Forschungsergebnisse aus dem Bereich F&E übersteigt die Nachfrage der Unternehmer. Durch die Verringerung der Unternehmensrisiken, die Verbesserung der Forschungsbedingungen in Unternehmen, die Änderung des unternehmerischen Umfelds und die Förderung der Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, wissenschaftlichen Instituten sowie Unternehmen muss die Nachfrage erhöht werden.

1.6.2

Um die nachhaltige Innovationsfähigkeit der Unternehmen zu steigern, sind aufeinander abgestimmte Anstrengungen in den Bereichen Finanzierung, F&E, Industrie, Steuer- und Bildungswesen, Umweltschutz sowie Medien und Kommunikation erforderlich, und zwar gleichermaßen auf europäischer wie auf nationaler und regionaler Ebene.

1.6.3

Es sollte die in den Mitgliedstaaten bereits in die Praxis umgesetzte Lösung erwogen werden, dass Unternehmen, die selbst Entwicklungen durchführen bzw. derartige Aufträge an Forschungseinrichtungen vergeben, die Möglichkeit haben, im Wege von Ausschreibungen zusätzliche Haushaltsmittel oder private Mittel zu erhalten.

1.7

Der EWSA unterstreicht, dass die Anerkennung und der Schutz des geistigen Eigentums in der EU immer weniger den steigenden Anforderungen des globalen Wettbewerbs entsprechen. Die Bedeutung der Veröffentlichung von wissenschaftlichen Leistungen und die Rolle der darauf beruhenden Bewertung — die Bedeutsamkeit des „Wissenschaftsmarkts“ — wird auch weiterhin anerkannt, wobei für die kommerzielle Nutzung von Forschungsergebnissen und ihre Patentierung, die Geltendmachung der Rechte an geistigem Eigentum und das verstärkte Eintreten für die Gemeinschaftsinteressen mehr Aufmerksamkeit und umfassende Maßnahmen erforderlich sind. Neben der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts hält es der EWSA für wichtig, dass die Mitgliedstaaten prüfen, mit welchen politischen Instrumenten sie den Schutz der Rechte an geistigem Eigentum weiterentwickeln, diesen auf die institutionelle Überwachung der Patentnutzung ausdehnen und gleichzeitig die EU-interne Zusammenarbeit verbessern können.

1.8

Der EWSA ist überzeugt, dass es, um die Innovation in den Vordergrund zu stellen und eine dynamische Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung zu erreichen, unabdingbar ist, Managementfunktionen für strategische Innovation zu schaffen und für die entsprechende Schulung von Forschern und Unternehmensfachleuten zu sorgen. Besonders wichtig ist es, dass beim eLearning durch die Integration der Informations- und Kommunikationstechnologien in den Unterricht (1) der Ausbildung in Innovationsmanagement, einem Anreizsystem hierzu und der Schaffung der entsprechenden organisatorischen Bedingungen große Aufmerksamkeit gewidmet wird.

1.9

Nach Ansicht des EWSA gilt es, sich im Interesse der Innovation darum zu bemühen, dass die Schwerpunktachsen von industriellem Wandel sowie Aus- und Weiterbildung einander entsprechen und auch in der Ausbildung rechtzeitig auf Erfordernisse und Veränderungen des Marktes reagiert werden kann. Es ist darauf hinzuwirken, dass — neben der Freizügigkeit der Forscher — das Innovationsmanagement hinreichend mobil ist und eine breit angelegte Zusammenarbeit zwischen den Managern der für Innovation zuständigen Einrichtungen sowie der Wissenschafts- und Technologieparks entstehen kann.

1.10

Der EWSA erkennt denjenigen Lenkungs- und Organisationsstrukturen, die in der Lage sind, den Technologietransfer effizienter zu gestalten, eine besondere Rolle bei der Förderung des industriellen Wandels zu. Die Industrie-, Wissenschafts- und Technologieparks sowie die Technologiezentren stellen außerordentlich wichtige Instrumente dafür dar, dass die erforderliche Beratung und Unterstützung sowie die notwendigsten Laboratorien zur Verfügung stehen, damit kleine und mittlere Unternehmen gegründet werden, sich ansiedeln, Positionen als Zulieferer erlangen (erobern) und mit den fortgeschrittenen Technologien Schritt halten können. Um für die Unternehmen relativ kostengünstig und unter Gewährleistung eines hohen Niveaus die für Innovation nötigen Voraussetzungen zu schaffen, damit sie die logistischen Aufgaben mit Hilfe der Informations- und Kommunikationstechnologien wahrnehmen können, ist es in immer höherem Maße erforderlich, dass die Einrichtungen für Technologietransfer als Netzwerk arbeiten. Es ist wichtig, dass die Europäische Kommission in vielfältiger Form für die Weiterentwicklung dieser Strukturen Sorge trägt, insbesondere durch die Förderung der Entwicklung von Zentren für wissenschaftliche Technologie (für Wettbewerbsfähigkeit) und Wissenszentren. Den die Universitäten, Wissenschafts- und Technologieparks, Gründungs- und Technologiezentren umfassenden wissenschaftlichen Zentren (für Wettbewerbsfähigkeit) sollte bei der Geltendmachung der Entwicklungsprioritäten der EU eine herausragende Rolle zugedacht bzw. auf ihre Gründung gedrängt werden.

1.11

Der EWSA ist der Ansicht, dass sich die von der EU nachdrücklich hervorgehobenen Ziele — wie die Bestrebung im Rahmen der Lissabon-Strategie, Europa in absehbarer Zeit zum weltweit wettbewerbsfähigsten Raum zu machen — in der Haushaltsdebatte und vor allem in den dazu angenommenen Zahlen nicht widerspiegeln. Die Europäische Kommission verwendet erhebliche Mittel auf die Programme für FuE, aber deren Rolle und Gewicht wächst nicht im gewünschten Maß. Diese Programme würden ihre Funktion dann wirklich effizient erfüllen, wenn sich ihre Wirkung in den Mitgliedstaaten vervielfachen würde und sie den Gegebenheiten der einzelnen Länder entsprechende Programme nach sich ziehen würden, was jedoch nicht der Fall ist. Der EWSA hält es für erforderlich, dass die Europäische Kommission ihr Innovationssystem überprüft und die Mitgliedstaaten darin unterstützt, dass die von ihnen unternommenen Anstrengungen besser aufeinander abgestimmt werden und die Multiplikatorfunktion der FuE-Ressourcen mit besonderem Augenmerk auf die Entwicklungsprioritäten der EU verstärkt durchgesetzt wird.

1.12

Im Hinblick auf Finanzierungsfragen begrüßt der EWSA die vielfältigen Anstrengungen der Europäischen Investitionsbank (EIB-Gruppe) im Interesse der Stärkung der europäischen Wirtschaftskraft und Innovationsfähigkeit sowohl auf der Nachfrage- als auch auf der Angebotsseite. Der EWSA weist darauf hin, dass es sich hier nur um ein Element des Finanzierungsinstrumentariums handelt: der EU-Haushalt muss die Ressourcen für Innovation in dem in der Lissabon-Strategie festgelegten Maß sicherstellen. Darüber hinaus ist auch ein proportional vergleichbarer Beitrag aus den Haushalten der Mitgliedstaaten und Regionen erforderlich.

1.13

Nach Auffassung des EWSA hat die Tätigkeit der EIB-Gruppe angesichts der bisherigen Erfahrungen einen fundamentalen Multiplikatoreffekt. Gerade deshalb ruft der EWSA die EIB-Gruppe dazu auf, diesen Multiplikatoreffekt ständig zu überprüfen und aufmerksam zu verfolgen und sich mit der Europäischen Kommission sowie den anderen Geldinstituten im Allgemeinen mit dem Ziel abzustimmen, einen maximalen Multiplikatoreffekt zu erreichen.

1.14

Nach Meinung des EWSA verfügt die EIB-Gruppe über enorme Möglichkeiten als Bank des öffentlichen Sektors, aber auch als Dienstleister. Der EWSA empfiehlt der EIB-Gruppe, ihre Tätigkeit im Bereich der Verwaltung von Finanzfonds über die Gemeinschaftsressourcen hinaus auf Finanzressourcen des Privatmarkts auszudehnen.

2.   Ein innovationsfreundliches, modernes Europa

2.1

In der Mitteilung KOM(2006) 589, die die Europäische Kommission anlässlich des am 20. Oktober 2006 unter finnischem Vorsitz in Lahti abgehaltenen informellen Treffens der europäischen Staats- und Regierungschefs veröffentlichte, werden auf zahlreichen Gebieten Fragen zu den Auswirkungen der Innovation auf den Wandel der Industriestruktur angesprochen. Laut der Mitteilung verfügen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten über zahlreiche Trümpfe im Bereich Innovation, leiden jedoch auch unter verschiedenen Widersprüchen: Sie erfinden und führen Innovationen durch, aber verwandeln ihre Innovationen nicht in neue Produkte, Arbeitsplätze und Markenzeichen; zudem entstehen zahlreiche kleine, außerordentlich innovative Betriebe, die jedoch nicht ohne weiteres zu großen, weltweit erfolgreichen Unternehmen werden; darüber hinaus brachte die Umsetzung von Innovationen in bestimmen Branchen, wie der Telekommunikation (IKT), deutliche Produktivitätsvorteile, während dies anderswo — wie sich anhand von Beispielen belegen lässt — nicht der Fall war. Ohne durchdachte und leicht zu handhabende Rechtsvorschriften können Innovation und industrieller Wandel in den Bereichen Patentanmeldung und geistiges Eigentum nicht reibungslos vonstatten gehen. Zu diesem Zweck sollte der Verordnungsvorschlag des Rates zum Gemeinschaftspatent vom 1. August 2000 überprüft werden, um ihn (insbesondere im Zusammenhang mit Zwangslizenzen und mit den Gründen für das Erlöschen des EU-Patentschutzes) besser an die sich schnell entwickelnden Wirtschaftsverhältnisse anpassen zu können. Dazu ist es erforderlich, die unterschiedliche industrielle und/oder kommerzielle Anwendung der angemeldeten Patente zu vereinfachen sowie geeignete Verfahren zu finden, um das geistige Eigentum an von einzelnen Akteuren — Forschern, leitenden Angestellten, Ingenieuren — oder von Gruppen eingeführten Innovationen anzuerkennen, selbst wenn diese einer Unternehmens- oder Verwaltungsstruktur angehören, zu der die betreffende Innovation nicht passt.

2.2

Die Innovation wirkt sich dann optimal auf den industriellen Wandel aus, wenn das harmonisierte System der Instrumente von Unternehmen, Branchen, Regionen, Mitgliedstaaten und Union funktioniert und den an den Prozessen beteiligten Unternehmen, Arbeitnehmern, wissenschaftlichen Institutionen, Bildungseinrichtungen und sonstigen Organisationen von Interessenträgern leicht zugängliche und nutzerfreundliche Instrumente bietet.

2.3

Für Unternehmen gibt es insbesondere folgende innovationsfördernde — proaktive — Instrumente: (i) strategisches Innovationsmanagement, (ii) strategisches Personalmanagement, (iii) Kompetenzentwicklung, (iv) Anwendung neuer Methoden zur Arbeitsorganisation und (v) Innovationsvereinbarungen auf Unternehmensebene. Der Übergang von der statischen zu einer dynamischeren Arbeitsorganisation, bei der der Schwerpunkt darauf gelegt wird, den Sachverstand und die Fähigkeiten der einzelnen Arbeits- und Fachkräfte zu berücksichtigen und aufzuwerten, und diese bei ihren Entscheidungen für lebenslanges Lernen und/oder zwischen den verschiedenen Formen der Umschulung zu unterstützen, kann nur dazu beitragen, dass Wissen und Innovation sowie innovative Ideen zunehmen und ihre Entstehung gang und gäbe wird.

2.4

Für die Bewältigung des Wandels stehen den Unternehmen in erster Linie folgende — aktive — Förderinstrumente zur Verfügung: (i) Kompetenzevaluierung und individuelle Karrierepläne, (ii) Outsourcing von Dienstleistungen, (iii) Weiterbildung und Umschulung sowie (iv) Tarifverträge und Sozialpläne zur Unternehmensumstrukturierung.

2.5

Auf sektoraler und regionaler Ebene lässt sich vor allem der Einsatz folgender proaktiver Instrumente ins Auge fassen: (i) Clusterbildung, (ii) Innovationsnetzwerke und -partnerschaften, (iii) Wissenschafts- und Technologie- sowie Industrieparks und Innovationszentren, (iv) regionale Innovationsstrategien und Entwicklungspläne sowie Institutionen für ihre Umsetzung, (v) Wissensregionen.

2.6

Die Europäische Kommission prüft ständig, in welchen Sektoren die europäische Innovation am erfolgreichsten ist.

2.7

Davon abgesehen weist der EWSA darauf hin, dass bei keinem Sektor die plötzliche Steigerung der Innovationsfähigkeit und der Anstieg des Mehrwertanteils auszuschließen ist. Jede innovative Idee, die auf neue Verfahren für die Materialnutzung, auf die Entwicklung von Technologien und neuen Produkte sowie die Entstehung von neuer Qualität und Mehrwert abzielt, sollte gefördert werden.

2.8

Die Wirkung der Innovation lässt sich von den Regierungen der Mitgliedstaaten vor allem durch die Harmonisierung ihrer jeweiligen nationalen Beschäftigungs-, Industrie-, Innovations-, Umwelt-, Bildungs- und Handelspolitik sowie durch die Zusammenarbeit in der gesamten öffentlichen Verwaltung proaktiv fördern. Dabei ist der zusätzliche Nutzen einer mit den Sozialpartnern und den Akteuren der organisierten Zivilgesellschaft eingerichteten Partnerschaft offenkundig. Auf nationaler Ebene sind ferner angezeigt: (i) Untersuchungen und ein Prognosesystem für die Erschließung neuer Möglichkeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen, (ii) Weiterbildungs- und Umschulungsprogramme, (iii) eine Strategie für lebenslanges Lernen, (iv) günstige Bedingungen im Rahmen der Arbeitsmarktregelung für Kompetenzaufbau und Mobilität.

2.9

Eine besonders wichtige und spezifische Katalysatorfunktion kann den grenzüberschreitenden innovativen Formen der Zusammenarbeit in den Bereichen Innovation und industrieller Wandel zukommen. Hierunter fallen die Gemeinsamen Technologieinitiativen, die Nanotechnologie, innovative Arzneimittel, Wasserstoff- und Kraftstoffzellen, integrierte Computersysteme, Raum- und Luftfahrt sowie die globale Überwachung von Umwelt und Sicherheit. Darüber hinaus sollte auf die Bedeutung der Europäischen Technologieplattformen hingewiesen werden und wie wichtig es ist, sie weiterzuentwickeln. Besonders sinnvoll wäre es zum Beispiel, die Erfahrungen mit der bereits etablierten „Europäischen Stahltechnologieplattform“, der „Plattform für saubere Kohle“ sowie der „Waterborne-Plattform“ bei einem breiten Publikum zu verbreiten.

2.10

Auf Ebene der EU-Institutionen sollten die folgenden Elemente in koordinierter und proaktiver Form genutzt und weiterentwickelt werden: (i) die Lissabon-Strategie, (ii) die Strategie für nachhaltige Entwicklung, (iii) die Partnerschaft für Wachstum und Entwicklung, (iv) der (branchenspezifische und branchenübergreifende) europäische soziale Dialog, (v) Gemeinschaftsprogramme für FuE, Innovation, Beschäftigung und lebenslanges Lernen, (vi) die EU-Regionalpolitik, (vii) der Europäische Sozialfonds (ESF) und der Europäische Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE), (viii) die Europäische Beobachtungsstelle für den Wandel sowie (ix) ein europäisches Prognosesystem für neue Möglichkeiten zur Arbeitsplatzschaffung.

2.11

Die Initiative zur Einrichtung eines Europäischen Technologieinstituts ist vielversprechend (2). Im Rahmen dieser Stellungnahme ist darauf hinzuweisen, dass zurzeit der Funktionsrahmen des Instituts entsteht und die Anfangsphase am besten dazu geeignet ist, sicherzustellen, dass das Institut wirklich dazu beiträgt, dass aus der Innovation Produkte und Arbeitsplätze hervorgehen.

2.12

Von den Initiativen der Europäischen Kommission ist die am 21. November 2006 veröffentlichte Mitteilung „Wege zu einer wirksameren steuerlichen Förderung von FuE“ (KOM(2006) 728 endg.) hervorzuheben.

2.13

Vergleichbare Bedeutung kommt der Initiative der Europäischen Kommission zur Förderung von FuE und Innovation sowie zu den Bestimmungen für staatliche Beihilfen zu (3).

2.14

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stimmt darin überein, dass es außerordentlich wichtig ist: (i) bei den künftigen strategischen Technologien eine Führungsrolle für die EU zu begründen, (ii) konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Beziehungen zwischen Hochschulen, Forschung und Unternehmen erheblich zu intensivieren, (iii) die Rahmenbedingungen zu entwickeln.

2.15

Bei den allgemeinen Rahmenbedingungen ist folgenden Elementen besondere Aufmerksamkeit zu widmen: (i) dem Binnenmarkt, (ii) der Finanzierung der Innovation, (iii) dem Recht an geistigem Eigentum im 21. Jahrhundert und (iv) der Förderung der Außenhandels- und Außenwirtschaftsbeziehungen der EU-Unternehmen sowie ihres Zugangs zu Drittstaatmärkten.

2.16

Überdies müssen auch die Erhebungen zu den einzelnen Branchen baldmöglichst durchgeführt werden, um möglichst günstige branchenspezifischen Bedingungen zu schaffen. Hierbei sollte folgenden Elementen besondere Aufmerksamkeit zuteil werden: (i) den Aspekten im Zusammenhang mit den KMU, (ii) dem Beitrag zur Umsetzung der Lissabon-Strategie und (iii) der Vernetzung der Regionen.

3.   Die Rolle der Gruppe der Europäischen Investitionsbank (EIB)

3.1

Der EWSA weist darauf hin, dass die gesamte Palette der Finanzierungsinstrumente und der abgestimmte Einsatz dieser Instrumente erforderlich sind, um die günstigsten Auswirkungen der Innovation im Zusammenhang mit dem industriellen Wandel zu erzielen. Alle geeigneten Produkte des Geld- und Kapitalmarkts müssen zur Verfügung stehen, unabhängig davon, ob sie von einem klassischen Finanzunternehmen, den Behörden einer Region oder eines Mitgliedstaats oder der Europäischen Union geschaffen wurden. Während des gesamten Innovationsprozesses bis zu seinem vollständigen Abschluss müssen Finanzierungsinstrumente verfügbar sein und Ressourcen bereitgestellt werden, um das technologische Angebot bzw. die Nachfrage des Marktes („push/market pull“) zu stimulieren. Im Zusammenhang mit der umfassenden Frage der Finanzierung wird in dieser Stellungnahme einer der Schlüsselakteure, die Gruppe der Europäischen Investitionsbank, herausgegriffen, die die Instrumente der Europäischen Investitionsbank (EIB) und des Europäischen Investitionsfonds (EIF) miteinander verknüpft.

3.2

Als primäres Ziel haben sich die EIB und der EIF die Steigerung der europäischen Wirtschaftskraft und die Innovation gesetzt. Zur Verwirklichung dieses Ziels, das einen Beitrag zur Lissabon-Strategie und zur europäischen Aktion für Wachstum darstellt, sollen zweckmäßige Mechanismen genutzt und entwickelt werden. Die EIB trägt in erster Linie mit der Initiative „Innovation 2010“ (i2i) dazu bei, Europa innovativer und wettbewerbsfähiger zu machen: Im Laufe des Jahrzehnts sollen für die Unterstützung von Investitionsprojekten in ganz Europa in den Bereichen Bildung und Ausbildung, Forschung, Entwicklung und Innovation (FEI), fortgeschrittene Informations- und Kommunikationstechnologie (einschließlich audiovisueller Dienste und ihrer Inhalte) sowie Online-Dienste 50 Mrd. EUR an Krediten bereitgestellt werden.

3.2.1

Die Mittelbindungen für die seit 2000 unterstützten i2i-Projekte erreichten Ende 2006 schätzungsweise 46 Mrd. EUR, was zeigt, dass das für 2010 gesetzte Ziel von 50 Mrd. EUR übererfüllt werden könnte. Zudem erhöhte die EIB durch die — nicht nur zu Forschungs- und Entwicklungszwecken nutzbare — Fazilität für strukturierte Finanzierungen (SFF) ihre Kapazitäten zur Finanzierung von Investitionen, um auch für innovative Spitzenprodukte, -verfahren und -systeme Finanzressourcen bereitzustellen. Dabei geht es um die Unterstützung von Projekten und Projektträgern, bei denen das Kreditrisiko höher ist, da die Projekte keine Investition darstellen. Zur Finanzierung der von den KMU konzipierten Investitionstätigkeiten stellt die EIB zusammen mit geeigneten Finanzintermediären Kreditlinien bereit.

3.2.2

Ferner werden innovative Transaktionen entwickelt, u.a. Mechanismen mit Risikoteilung und/oder mit den EIB-Produkten verknüpfte nationale oder regionale Unterstützungsinstrumente, die den spezifischen Bedürfnissen der KMU entsprechen. Der EIF konzentriert sich durch die Bereitstellung von Investitionskapital und Garantien besonders auf KMU. Die Maßnahmen des EIF ergänzen die den KMU durch die EIB gewährte Unterstützung.

3.2.3

Hinsichtlich des Zugangs von KMU zu Krediten sind die negativen Folgen des Basel-II-Abkommens herauszustellen. Im Allgemeinen sind in diesem Abkommen spezifische Pflichten für das Bankwesen festgelegt, z.B. die Pflicht der Banken zur Durchführung eines Ratings für jedes KMU, das einen Kredit beantragt. Damit ein solches Rating berechnet werden kann, müssen KMU jetzt sehr viel umfangreichere quantitative, aber auch qualitative Informationen bereitstellen. Die KMU, die über kein Informationssystem des Typs ERP (Enterprise Resource Planning) verfügen, werden nicht in der Lage sein, alle erforderlichen Informationen zu liefern. Die weitaus meisten KMU besitzen keine ERP-Systeme, die sehr kostspielig sind. Deshalb kommen sie für Kredite zu günstigen Bedingungen nicht in Frage, was ihrer Entwicklung abträglich ist. Die EIB und die Europäische Kommission werden deshalb aufgefordert, aufmerksam zu bleiben und die Zugangsmöglichkeiten der KMU zu den von ihnen benötigten Finanzmitteln sowie das Verhältnis zwischen diesen Möglichkeiten und den Folgen des Basel-II-Abkommens zu kontrollieren.

3.3

Die Unterstützung der Innovation durch die EIB-Gruppe erfordert die Entwicklung neuer und am Risikoprofil der Operationen orientierter Finanzierungsmodalitäten und Produkte. Um den Mehrwert und die Synergien zwischen den Finanzierungsinstrumenten der Gemeinschaft zu erhöhen, werden parallel dazu neue gemeinsame Initiativen der EIB-Gruppe und der Europäischen Kommission ins Leben gerufen und zwar durch den Aufbau von Partnerschaften im Rahmen von mit EU-Haushaltsmitteln finanzierten Programmen, wie das 7. Rahmenprogramm (FP7) und das Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (CIP). Derartige gemeinsame Initiativen beschränken sich weder auf die ab 2007 bestehende Finanzierungsfazilität mit Risikoteilung (RSFF) noch auf die neuen Initiativen, die der EIF im Rahmen des CIP eingeleitet hat, aber diese letztgenannten Beispiele sind besonders anschaulich.

3.4   Die Finanzierungsfazilität mit Risikoteilung

3.4.1

Die Finanzierungsfazilität mit Risikoteilung (RSFF) ist eine neue und innovative Initiative, die die Europäische Kommission und die Europäische Investitionsbank gemeinsam eingerichtet haben, um in Europa — in erster Linie vom Privatsektor durchgeführte — Investitionen in Forschung, Technologienentwicklung und Demonstration sowie Innovation zu unterstützen, indem entsprechende Kreditgarantien für mit größerem Risiko verbundene europäische Projekte im Bereich Innovation gewährt werden. Mit dem neuen System sollen bessere Zugangsmöglichkeiten zur Schuldenfinanzierung für Aktivitäten angeboten werden, die mit einem überdurchschnittlich hohen Risiko behaftet sind; das Risiko tragen die Europäische Gemeinschaft und die EIB gemeinsam mit den Trägern der Projekte für Forschung, Entwicklung und Innovation. Die im Rahmen der RSFF durch die EIB gewährte Unterstützung wird den europäischen Forschern als Ergänzung zu den Fördermitteln aus dem FP7 zur Verfügung stehen.

3.4.2

Die RSFF, die nach demselben Regelungsrahmen funktionieren wird wie die SSF, soll aus zwei Kapiteln bestehen, von denen die Europäische Kommission (FP7) das eine und die EIB das andere finanziert, wobei für den Zeitraum 2007-2013 jeweils maximal 1 Mrd. EUR veranschlagt sind. Die FP7-Ressourcen sollen für die Finanzierung von Forschungs-, Entwicklungs- und Demonstrationsprojekten genutzt werden, die EIB-Mittel hingegen auch für die ergänzende Finanzierung von Innovationsprojekten. Durch die Bereitstellung von bis zu 2 Mrd. EUR aus diesen beiden Kapiteln für die Finanzierung von Risikokapital lassen sich in größerem Maße Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsprogramme mit überdurchschnittlich hohem Risiko finanzieren. Das bedeutet, dass die EIB voraussichtlich in der Lage sein dürfte, im Rahmen einer ergänzenden Finanzierung bis zu 10 Mrd. EUR an Fördermitteln bereitzustellen und so einen Multiplikatoreffekt zu erzielen. Mit der RSFF sollen europäische Forschungsvorhaben, wie das Europäische Strategieforum für Forschungsinfrastrukturen (ESFRI), die Europäische Technologieplattform, gemeinsame Technologievorhaben oder auch im Rahmen der Agentur für die Koordinierung der europäischen Forschung (EUREKA) initiierte Projekte, unterstützt werden.

3.4.3

Ausgehend vom Gedanken des zwischen der Gemeinschaft, der EIB und den Begünstigten geteilten Risikos stellt die RSFF ein zusätzliches Instrument für die Finanzierung von Forschung, Entwicklung und Innovation dar, bietet dadurch sowohl dem Privatsektor als auch der Forschergemeinschaft eine große Fülle von Möglichkeiten und ergänzt die Palette der bereits für die Finanzierung von Forschung, Entwicklung und Innovation zur Verfügung stehenden Instrumente. Die RSFF ermöglicht der EIB die Ausarbeitung von Finanzprodukten, die die Marktmängel entsprechend den Bedürfnissen der jeweiligen Branche und des jeweiligen Projektträgers ausgleichen, wodurch der Kreis der potenziellen Begünstigten erweitert wird. Die RSFF wird unabhängig von ihrer Größe und ihrem Status jeder Rechtsperson zugänglich sein, insbesondere großen und mittelgroßen Unternehmen (mid-caps), KMU, Forschungsinstituten, Hochschulen, Kooperationsstrukturen, Gemeinschaftsunternehmen und Projektgesellschaften (Special Purpose Vehicles). Durch Vereinbarungen zur Risikoteilung mit dem Bankensektor wird die RSFF zur Verbesserung der Gesamtkapazitäten der Finanzakteure beitragen, Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsaktivitäten, vor allem in den Tätigkeitsbereichen der KMU, zu unterstützen.

3.4.4

Auf dem Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ im Juli 2006 wurde beschlossen, für die RSFF bis zur Halbzeitbewertung des 7. Rahmenprogramms erst einmal 500 Mio. EUR zu bewilligen, damit diese Fazilität schnell gestartet werden kann und dabei über eine kritische Masse am Finanzmitteln verfügt. Bis 2013 können in Abhängigkeit der Ergebnisse der Halbzeitbewertung und der Einschätzung der potenziellen Nachfrage nach diesem neuen Instrument weitere 500 Mio. EUR aus dem Gemeinschaftshaushalt bereitgestellt werden. Während die allgemeinen Bedingungen für den Einsatz der Mittel und die Regeln für die Verwaltung der RSFF, einschließlich der Kriterien für die Förderfähigkeit, der Regelung und der Verteilung des Risikos zwischen den Institutionen, in den Programmen „Zusammenarbeit“ und „Kapazitäten“ des 7. FP festgelegt sind, werden die genauen Maßnahmen durch eine bilaterale Vereinbarung zwischen der Europäischen Kommission und der EIB geregelt, die am 5. Juni 2007 unterzeichnet wurde.

3.5   Innovationsförderung durch den EIF

3.5.1

Der EIF führt die ihm von seinen Aktionären (EIB, Europäische Kommission) oder von Dritten (auf Ebene der Mitgliedstaaten) anvertrauten Aufträge zur Unterstützung der Innovation und Finanzierung von KMU entsprechend den Zielen der Gemeinschaft aus. Ende 2006 beliefen sich die Transaktionen des EIF auf insgesamt 15 Mrd. EUR, von denen 11,1 Mrd. EUR für Garantien und 3,7 Mrd. EUR für Operationen mit Risikokapital aufgewendet wurden.

3.5.2

Die Lissabon-Strategie, durch die die Wettbewerbsfähigkeit der EU erhöht werden soll, stellt einen der wichtigsten Motoren für die Tätigkeit des EIF (der die einzige Einrichtung der EU für die Finanzierung von KMU ist) dar. Durch die Investition von 3,7 Mrd. EUR in 244 Risikokapitalfonds hat der EIF dazu beigetragen, den bestehenden Innovationsrückstand aufzuholen, indem er einen Multiplikatoreffekt erzielte, der Finanzierungen in Höhe von etwa 20 Mrd. EUR zugunsten von KMU und schnell wachsenden neuen Unternehmen (darunter einige Welterfolge wie Skype, Bluetooth/Cambridge Silicon Radio oder Kelkoo) nach sich zog. In den Schlussfolgerungen des europäischen Ratsvorsitzes von März 2005 ruft der Europäische Rat den EIF auf, seine Tätigkeit zugunsten der Finanzierung von Technologietransfers zu diversifizieren. 2006 wurden die ersten Technologietransferoperationen für Lizenzierungen und Spin-off-Aktivitäten unterzeichnet.

3.5.3

Im Rahmen der neuen Finanziellen Vorausschau wird der EIF für die Verwaltung des Programms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation zuständig sein und als einer der Hauptakteure der Initiative JEREMIE fungieren. Mit diesen beiden Programmen sollen die Finanzierung von KMU und das Finanz-Engineering verbessert werden.

3.5.3.1

Das Programm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation, das eines der wichtigsten Instrumente der EU für KMU und Innovation darstellt, sorgt für Risikokapital (einschließlich der Finanzierung von Aktivitäten im Rahmen von Technologietransfer, Netzwerken von Einzelinvestoren (Business Angels) und der Ökoinnovation) sowie für Garantiemechanismen für KMU.

3.5.3.2

Im Rahmen der Initiative JEREMIE (Joint European Resources for Micro to Medium Enterprises — gemeinsame europäische Ressourcen für kleinste bis mittlere Unternehmen) können die nationalen und regionalen Behörden die Finanzmittel aus dem EFRE in Form von maßgeschneiderten marktorientierten Finanzinstrumenten, wie Eigenmittel, Risikokapital, Garantien oder Kredite, einsetzen. Die Initiative JEREMIE wurde konzipiert, um die Finanzierungen des EFRE durch das Aufbringen ergänzender Mittel zu optimieren und gleichzeitig ihre Durchführung durch einen flexibleren Regelungsrahmen zu vereinfachen. 2007 dürften die aufgestockten Mittel des EIF die Ressourcen des Programms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation sowie von JEREMIE ergänzen; den Schätzungen nach werden bis 2013 mehr als eine Million von KMU von den Finanzinstrumenten des EIF profitiert haben.

3.5.3.3

Da sie über einen hohen Multiplikatoreffekt (1 EUR aus dem Gemeinschaftshaushalt bringt den KMU durch Garantien bis zu 50 EUR) und eine starke Katalysatorfunktion gegenüber den Finanzakteuren (insbesondere Risikokapitalfonds) verfügen, sind die Finanzinstrumente der Gemeinschaft als ein Beispiel für vorbildliche Verfahrensweisen im Rahmen der Lissabon-Agenda anzusehen. Damit technologische Anwendungen im Rahmen des Programms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation vermehrt zum Tragen kommen, sollten gezielt Universitäten und KMU anvisiert und der Schwerpunkt verstärkt auf die Projektfinanzierung, die Propagierung von Maßnahmen zur Bestimmung von geistigem Eigentum, Genehmigungen und ihre Ausstellung, Kooperationsvereinbarungen sowie den daraus erwachsenden Nutzen gelegt werden. Mit Hilfe der Initiative JEREMIE muss eine erfolgreiche Durchführung garantiert werden, ähnlich wie bei den Regelungen für Finanzierungen und staatliche Beihilfen.

3.5.4

2006 haben sich die EIB und der EIF auf gemeinsame Operationen geeinigt, insbesondere zur Verknüpfung von Kreditlinien der EIB mit Garantien des EIF für innovative KMU. Wahrscheinlich werden derartige Operationen in Zukunft weiterentwickelt werden, vor allem im Rahmen von JEREMIE.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  „Der Beitrag des IT-gestützten lebenslangen Lernens zur Wettbewerbsfähigkeit, zum industriellen Wandel und zur Entwicklung des Sozialkapitals in Europa“, CCMI/034, 13.9.2006.

(2)  KOM(2006) 604 endg.

(3)  Verordnung (EG) Nr. 364/2004 der Kommission vom 25. Februar 2004 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 70/2001, ABl. L 63 vom 28.2.2004.


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/93


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Beschäftigung für vorrangige Bevölkerungsgruppen (Lissabon-Strategie)“

(2007/C 256/18)

Am 14. September 2006 beschloss (bestätigt am 26. Oktober 2006) der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 31 seiner Geschäftsordnung (im Rahmen der Arbeiten des EWSA, eingeleitet auf Ersuchen des Europäischen Rates vom 23./24. März 2006) einen Informationsbericht zu erarbeiten: „Beschäftigung für vorrangige Bevölkerungsgruppen (Lissabon-Strategie)“.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 15. März 2007 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, diesen Informationsbericht in eine Initiativstellungnahme umzuwandeln.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Juni 2007 an. Berichterstatterin war Herr GREIF.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 12. Juli 2007) mit 122 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

In der vorliegenden Stellungnahme wird dargelegt, dass die ambitionierten Beschäftigungsziele von Lissabon quantitativ — wenn auch mit deutlichen und stets zu berücksichtigenden Unterschieden zwischen den Ländern — nur bedingt erreicht wurden. Auch was die Qualität der Beschäftigung betrifft, ergibt sich ein widersprüchliches Bild: Erfreulichen Beispielen guter Praxis in der Beschäftigungspolitik einzelner Mitgliedstaaten, die es nach Ansicht des EWSA in Zukunft systematischer zu sammeln und auszuwerten gilt, stehen EU-weit nach wie vor ernüchternde Fakten gegenüber:

Obwohl die Arbeitsplätze EU-weit in der Mehrzahl weiterhin Standardarbeitsverhältnisse sind, ist festzuhalten, dass die in den letzten Jahren zu beobachtenden Beschäftigungszuwächse insbesondere bei Frauen in hohem Maß aus einem Plus an Teilzeitarbeitsplätzen resultieren, bei älteren Arbeitnehmern weiterhin ein eklatanter Mangel an adäquaten Arbeitsplätze vorherrscht und insbesondere bei Jugendlichen eine starke Zunahme atypischer (nicht standardisierter) Beschäftigungsformen feststellbar ist, wovon einige rechtlich und sozial nicht ausreichend abgesichert sind.

Die Integrationschancen am Arbeitsmarkt haben sich für benachteiligte Gruppen kaum verbessert (abzulesen an der bleibend hohen Langzeitarbeitslosigkeit sowie an vergleichsweise hohen Arbeitslosenquoten insbesondere bei Jugendlichen und gering Qualifizierten sowie geringen Beschäftigungsquoten v.a. bei Älteren); auch für sozial ausgegrenzte Gruppen bleibt die Arbeitsmarktsituation weiterhin äußerst problematisch.

1.2

Vor diesem Hintergrund ist es dem Ausschuss wichtig, bei laufenden Debatten zum Flexicurity-Konzept festzuhalten, dass jede generelle Definition, Maßnahmen zur Anpassungsfähigkeit der Unternehmen und Arbeitnehmer stets mit einem hohen Maß an sozialer Sicherung, aktiver Arbeitsmarktpolitik, Aus- und Weiterbildung sowie Zugang zu sozialen Diensten verknüpfen muss.

1.3

Der EWSA ruft dazu auf, im Rahmen nationaler Sozial- und Beschäftigungspolitiken hinsichtlich der in dieser Stellungnahme besprochenen prioritären Gruppen am Arbeitsmarkt folgenden Punkten künftig erhöhte Bedeutung beizumessen:

Maßnahmen zur Förderung der Eingliederung Jugendlicher in den Arbeitsmarkt, mit dem Ziel, ihnen eine erste Anstellung zu verschaffen, die auch Zukunftsaussichten bietet;

verstärkte Bekämpfung zahlreicher weiterhin bestehender Diskriminierungen und Benachteiligungen aufgrund des Alters, des Geschlechts bzw. aufgrund von Behinderung oder ethnischer Herkunft, insbesondere beim Bildungszugang sowie beim Zugang zum und Verbleib am Arbeitsmarkt;

Steigerung der Arbeitsmarktsicherheit und Verhinderung von „Prekaritätsfallen“ u.a. indem sichergestellt wird, dass Arbeitslose nicht gezwungen werden, Jobs ohne Absicherung anzunehmen, Schwarzarbeit bekämpft wird und die Ausnutzung befristet beschäftigter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verhindert wird;

Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsplatzqualität und Schutz der Arbeitnehmer vor Diskriminierung;

vermehrte Investitionen in Qualität und altersgerechte Ausgestaltung der Arbeitsplätze;

Investitionen im Bereich der Aus- und Weiterbildung und des lebensbegleitenden Lernens sowie Abbau bestehender Diskrepanzen zwischen angebotenen und den am Arbeitsmarkt nachgefragten Qualifikationen;

Modernisierung und Verbesserung, und überall dort, wo dies notwendig ist, der sozialen Absicherung nicht-standardisierter Beschäftigungsformen;

Abbau von geschlechtsspezifischer Segmentierungen am Arbeitsmarkt, vor allem über effektive Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie (insbesondere Ausbau umfassender Kinderbetreuungseinrichtungen sowie Unterstützungsangebote für Pflegebedürftige und deren Familien, u.a. in Form ganztägiger Einrichtungen für diese Personen);

Abbau von Hindernissen für Personen mit Betreuungspflichten beim (Wieder) Eintritt und Verbleib am Arbeitsmarkt und Anreize zur vermehrten Beteiligung von Vätern an Betreuungsaufgaben;

Ausbau angemessener Anreize und Unterstützungsleistungen für Unternehmen zur vermehrten Anstellung Jugendlicher sowie älterer Arbeitnehmer mit besonderen Problemen am Arbeitsmarkt.

1.4

Für sozial ausgegrenzte Gruppen sind darüber hinaus besondere Maßnahmen notwendig:

etwa der Aufbau von Transitarbeitsmärkten mit angemessenen Anreizen für Unternehmen zur vermehrten Anstellung bei gleichzeitiger Unterstützung der Betroffenen bei der Überwindung der Probleme, die ihre soziale Ausgrenzung bedingen (wobei ungewollte Mitnahmeeffekte ebenso auszuschließen sind wie Wettbewerbsverzerrungen);

Beschäftigungsinitiativen im Non-Profit-Bereich, insbesondere in der Gemeinwirtschaft, kommt hier eine besondere Rolle zu. Entsprechende Förderungen im Rahmen arbeitsmarktpolitischer Budgets sind sicherzustellen.

1.5

Der EWSA weist mit Nachdruck darauf hin, dass in zahlreichen EU-Ländern die Umsetzung der in dieser Stellungnahme skizzierten Prioritäten vermehrte beschäftigungspolitische Anstrengungen notwendig macht und deren entsprechende budgetäre Deckung sichergestellt werden muss.

So werden auf nationaler und europäischer Ebene alle Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik wenig erfolgreich sein, wenn sie in den Budgetplanungen der Mitgliedstaaten nicht entsprechend berücksichtigt werden.

Hier stellt der EWSA bei zahlreichen Ländern ein Auseinanderklaffen von Vorschlägen zu arbeitsmarktpolitischen Initiativen — etwa im Rahmen ihrer Nationalen Reformpläne — und budgetärer Deckung fest (1).

Positive Ländererfahrungen sollten in den nationalen Aktionsprogrammen bessere Berücksichtigung finden und der ESF 2007-2013 muss entsprechend genutzt werden.

1.6

Der EWSA hat in diesem Zusammenhang bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass diese budgetäre Deckung eines günstigen makroökonomischen Umfelds bedarf, das auf eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik zur Überwindung der lang andauernden Konjunkturschwächen ausgerichtet sein muss (2).

1.7

In zahlreichen Mitgliedstaaten sind die an die Arbeitskosten gebundenen Sozialbeiträge auf ein Niveau gestiegen, das sich negativ auf die Schaffung von Arbeitsplätzen auswirken kann. In manchen Fällen kann die Arbeitsaufnahme aufgrund geringer Differenzen zwischen Erwerbseinkommen nach Steuern und dem Niveau der Sozialtransfers unattraktiv sein. Es gilt solche so genannten Arbeitslosigkeitsfallen zu vermeiden, ohne die finanzielle Absicherung der Sozialsysteme zu gefährden. Der EWSA stimmt in diesem Zusammenhang mit den Empfehlungen der Hochrangigen Gruppe über die Zukunft der Sozialpolitik in der erweiterten Union überein, die Finanzierungsbasis für die sozialen Sicherungssysteme zu verbreitern und somit die Abgabenbelastung gleichmäßiger auf alle Produktionsfaktoren zu verteilen, um den Faktor Arbeit zu entlasten (3).

1.8

Was die bevorstehende Überarbeitung der Beschäftigungspolitischen Leitlinien im Jahr 2008 betrifft, so hält der EWSA in mehreren der in dieser Stellungnahme angesprochenen Feldern eine stärkere Prioritätensetzung und Konkretisierung für erforderlich.

Der EWSA spricht sich in diesem Sinn für mehr Verbindlichkeit bei der Festschreibung von Zielvorgaben auf europäischer Ebene aus, um den Mitgliedstaaten einen klaren Rahmen mit eindeutigen Verpflichtungen aufzuerlegen. Für den EWSA erfordert die Kontrolle der innerstaatlichen Umsetzung eine stärkere Rolle der Kommission bei der Beschäftigungsstrategie.

Der EWSA spricht sich darüber hinaus für weitere Nachbesserungen bei den Zielvorgaben aus, vor allem bei der Jugendbeschäftigung und im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit (wie etwa eine Reduktion der Frist von sechs Monaten zur Aktivierung Arbeit bzw. Lehrstellen suchender Jugendlicher), bei der Forcierung der Gleichstellung, hinsichtlich der Förderung behinderter Menschen und bei der Integration von Zuwanderern;

Der EWSA möchte dadurch erreichen, dass die Nationalen Reformprogramme hinsichtlich der Beschäftigungspolitik in Zukunft ambitionierter ausfallen werden und eine qualitative Verbesserung hinsichtlich zeitlicher Vorgaben, Verantwortlichkeit, Verbindlichkeit und finanzieller Grundlage festgestellt werden kann. In diesem Zusammenhang regt der EWSA an, Überlegungen hinsichtlich konkreter Ziele zur Bindung entsprechender Haushaltsmittel für Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik in den einzelnen Mitgliedstaaten anzustellen.

Der EWSA wird die hier skizzierten notwendigen Adaptionen der Beschäftigungspolitischen Leitlinien ab 2009 in einer gesonderten Stellungnahme aus seiner Sicht darlegen.

2.   Hintergrund

2.1

In seinen Schlussfolgerungen vom 23./24. März 2006 hat der Europäische Rat den EWSA ersucht, im Vorfeld zum Frühjahrsgipfel 2008 einen „zusammenfassenden Bericht zur Unterstützung der Partnerschaft für Beschäftigung und Wachstum“ vorzulegen und dabei u.a. die Priorität „Mehr Beschäftigung für vorrangige Bevölkerungsgruppen“ ins Auge zu fassen. Der EWSA legt dazu die folgende Initiativstellungnahme vor, die unter Einbindung der Expertise nationaler Wirtschaft- und Sozialräte erstellt wurde.

2.2

Der EWSA hat stets betont, dass die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum im Rahmen der Lissabon-Strategie kein Selbstzweck sind, sondern auch dazu führen sollen, die hohe Arbeitslosigkeit in der EU abzubauen, Vollbeschäftigung anzustreben, die Systeme der sozialen Sicherung auf eine stabilere Grundlage zu stellen und den Schutz vor sozialer Ausgrenzung zu gewährleisten (4).

2.3

Im Bereich der Beschäftigungspolitik sollten in diesem Sinn von der Lissabon-Strategie neue Impulse für die Europäische Beschäftigungsstrategie ausgehen und somit die Erwerbsbeteiligung erhöht und die Qualität der Arbeit verbessert werden. Lissabon strebt nicht alleine mehr Beschäftigung an. Es ging auch um eine Verbesserung der Qualität der Arbeitsplätze. Investitionen in Humankapital, Forschung, Technologie und Innovation wird folgerichtig ebensolche Priorität eingeräumt wie arbeitsmarkt- und strukturpolitischen Maßnahmen (5).

2.4

Der EWSA wird in der vorliegenden Stellungnahme seine Analyse zur Entwicklung am europäischen Arbeitsmarkt sowie seine politischen Empfehlungen auf jene Zielgruppen konzentrieren, für die der Rat die Mitgliedstaaten zuletzt mehrfach mit Dringlichkeit aufgefordert hat, besondere Maßnahmen vorzusehen, um

die Situation junger Menschen am Arbeitsmarkt zu verbessern und die Jugendarbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren;

Strategien für aktives Altern zu verwirklichen, damit es für ältere Menschen möglich wird, länger im Erwerbsleben zu verbleiben;

entschlossen die Beschäftigung von Frauen zu fördern und insgesamt für Männer wie für Frauen eine bessere Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Privatleben zu ermöglichen;

die Eingliederung behinderter Menschen sowie deren nachhaltigen Verbleib am Arbeitsmarkt zu verbessern;

die Erwerbsbeteiligung und Arbeitsmarktchancen von Zuwanderern und ethnischen Minderheiten zu erhöhen.

2.5

Der EWSA wird entlang dieser Zielgruppen jeweils ein Maßnahmenbündel präventiver und aktiver (Wieder-)Eingliederungsmaßnahmen vorschlagen, die im Rahmen der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten eine erhöhte Berücksichtigung finden sollten. Auch sozial ausgegrenzte Gruppen, die in vielen Fällen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, werden thematisiert. Darauf aufbauend werden politische Empfehlungen formuliert, u.a. hinsichtlich der bis zum Frühjahrsgipfel 2008 zur Überarbeitung anstehenden Beschäftigungspolitischen Leitlinien.

3.   Erwerbsquoten, Arbeitslosigkeit und Beschäftigung — Bestandsaufnahme (6)

3.1

Erstmals seit 2001 gibt es 2005 und 2006 in der EU ein Beschäftigungswachstum und einen merklichen Rückgang der Arbeitslosenrate (von 9,0 % in 2004 auf 7,9 % in 2006). Mit einem Wachstum von 0,6 % hebt sich die Dynamik der Beschäftigungsquote bei Frauen in höherem Maß als bei Männern von der Stagnation vergangener Jahre ab. Dieser erfreuliche Trend setzte sich 2007 fort (7).

3.2

Trotzdem bleibt ernüchternd festzuhalten:

Die Fortschritte hinsichtlich der Lissabonner und Stockholmer Zwischenziele sind langsam und wurden im Jahr 2005 nicht erreicht, weder was die allgemeine Beschäftigungsrate von 67 % (2005: 63,8 %) betrifft, noch jene bei Frauen von 57 % (2005: 56,3 %). Immer offensichtlicher ist, dass die Zielvorgaben für 2010 in zahlreichen Mitgliedstaaten wie auch in der Gemeinschaft insgesamt nicht zu erreichen sein werden.

Obgleich Vollzeitarbeitsplätze EU-weit weiterhin die vorrangige Beschäftigungsform sind, ist festzuhalten, dass die in den letzten Jahren zu beobachtenden Beschäftigungszuwächse — insbesondere bei Frauen — in hohem Maß aus einem Plus an Teilzeitarbeitsplätzen resultieren (was sich an deutlich geringeren Zuwächsen in Vollzeitäquivalenten zeigt, die in einigen Mitgliedstaaten sogar rückläufig sind).

Am deutlichsten ist der Beschäftigungszuwachs in den letzten Jahren noch im Bereich der Älteren zu bemerken. Trotzdem liegt auch die Beschäftigungsquote Älterer weit unter den Zielvorgaben (55-64 im Jahresschnitt 2005 bei nur 42,5 %). Lediglich 9 EU-Länder haben das Ziel von 50 % erreicht (große Differenz zwischen Frauen und Männern: Zielerreichung für Männer in 17, für Frauen lediglich in 4 Ländern: Skandinavien und Estland).

Die Jugendarbeitslosenrate bleibt in 2005 mit 18,5 % im EU-25-Durchschnitt weiterhin in etwa doppelt so hoch wie die Gesamtarbeitslosigkeit.

Trotz genereller Verbesserungen in mehreren Mitgliedstaaten, insbesondere in jenen mit sehr hohen Arbeitslosenquoten, verharrt die Arbeitslosigkeit EU-weit mit knapp unter 8 % weiterhin auf hohem Niveau und ist in einigen Ländern sogar gestiegen.

Regionale Unterschiede in den Beschäftigungsquoten sind in einigen Mitgliedstaaten (insbesondere unter Betrachtung von Vollzeitäquivalenten) weiterhin groß. Die Anzahl der Personen, die heute in der EU 27 in Regionen mit einer Arbeitslosenrate von mehr als 15 % leben, ist mit den Erweiterungsschritten merklich gestiegen.

Für sozial ausgegrenzte Gruppen bleibt die Arbeitsmarktsituation weiterhin äußerst problematisch.

Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen am Arbeitsmarkt bleibt trotz partieller Fortschritte weiterhin ein langer Weg zu den ambitionierten Beschäftigungszielen von Lissabon.

3.3

Umso mehr, als die Beschäftigungsentwicklung darüber hinaus folgende — in ihrem Ausmaß zwischen den Ländern und Sektoren zum Teil stark variierende — Charakteristika und Tendenzen aufweist:

Die Integrationschancen am Arbeitsmarkt haben sich für benachteiligte Gruppen kaum verbessert (abzulesen an der bleibend hohen Langzeitarbeitslosigkeit sowie an vergleichsweise hohen Arbeitslosenquoten insbesondere bei Jugendlichen und gering Qualifizierten sowie geringen Beschäftigungsquoten v.a. bei Älteren).

Obwohl die Arbeitsplätze in der EU weiterhin mehrheitlich Standardarbeitsverhältnisse sind, weisen Kenndaten auf eine starke Zunahme atypischer (nichtstandardisierter) Beschäftigungsformen hin, wovon einige rechtlich und sozial nicht ausreichend abgesichert sind. Insgesamt nimmt der Anteil befristeter Beschäftigungsverhältnisse zu, wobei insbesondere Jugendliche überdurchschnittlich betroffen sind. Werkverträge, Zeitarbeit und Scheinselbständigkeit (8), sowie geringfügige und sozialrechtlich schlechter gestellte Beschäftigungsverhältnisse weisen Steigerungsraten auf, wenn auch die Situation stark zwischen den Mitgliedstaaten variiert. Insgesamt nimmt die Prekarität zu, besonders bei benachteiligten Gruppen. Nur wenn sie frei gewählt und abgesichert sind, können solche Beschäftigungsformen als „Brücke“ in den regulären Arbeitsmarkt dienen.

In zahlreichen Mitgliedstaaten sind die Jobunsicherheiten v.a. im niedrigen Qualifikationssegment, insbesondere für Schulabbrecher und Personen ohne Berufsausbildung, gewachsen. Auf Grund des Ungleichgewichtes zwischen nachgefragten und angebotenen Qualifikationen gestaltet sich der Einstieg in den Arbeitsmarkt ebenso wie die Rückkehr aus der Arbeitslosigkeit in den Beruf hier besonders schwierig.

Menschen mit Betreuungspflichten haben es nach wie vor schwer, einen stabilen und zufrieden stellenden Arbeitsplatz zu finden.

Behinderte gehören weiterhin in hohem Maß zur Gruppe der vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen. Laut den neuesten europäischen Daten sind lediglich 40 % der Menschen mit Behinderungen berufstätig. Noch beunruhigender sind die Zahlen, die Menschen mit schweren Behinderungen betreffen.

Darüber hinaus gibt es eine hohe Anzahl von Personen, deren Marginalisierung auf Ursachen wie Suchtkrankheiten, Überschuldung oder Obdachlosigkeit zurückgeht und deren Integration in den Arbeitsmarkt besonderer Maßnahmen zur sozialen Eingliederung bedarf.

Die Arbeitsbedingungen und Arbeitsmarktchancen von Zuwanderern und Menschen mit Migrationshintergrund sind in den meisten Mitgliedstaaten prekärer als die der restlichen Bevölkerung. Besonderes Augenmerk ist hier auch der Gruppe der Roma zuzuwenden, die mit der Erweiterung um Rumänien und Bulgarien zur größten Minderheit Europas geworden sind und deren Arbeitsmarktsituation (mit Arbeitslosenquoten von teilweise 70-90 %) aus vielfältigen Gründen geradezu besorgniserregend ist. Der EWSA wird dazu im Rahmen einer gesonderten Initiative Stellung beziehen).

3.4

Der Zuwachs des informellen Sektors mit unsicheren Beschäftigungsbedingungen und oftmals niedrigen Einkommen birgt die Gefahr, dass Gruppen, die den Übergang in den Regelarbeitsmarkt nicht schaffen, langfristig dequalifiziert werden. Diese (datenmäßig schwer zu erfassende) Entwicklung ist nicht nur für die Betroffenen mit hohen Unsicherheiten verbunden, sondern führt auch zu hohen Steuerausfällen und setzt letztlich auch die Nachhaltigkeit des Produktionspotenzials in der EU aufs Spiel.

4.   Rahmen schaffen für Wachstum und mehr und bessere Beschäftigung

4.1

Seit Jahren dominieren europäische Politikempfehlungen, wonach strukturelle Probleme der Institution des Arbeitsmarktes für die Probleme am Arbeitsmarkt verantwortlich zeichnen. In zahlreichen EU-Ländern wurde der beschäftigungspolitische Schwerpunkt einseitig auf den Abbau allgemeiner arbeitsrechtlicher Standards, die Verschärfungen von Anspruchsvoraussetzungen und Leistungskürzungen im Sozialbereich sowie auf Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen gelegt.

4.2

Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik wie beispielsweise Förderung der Beschäftigungsfähigkeit, Beseitigung von Qualifikationsdefiziten und Schwerpunktprogramme zur Integration benachteiligter Gruppen in den Arbeitsmarkt sind dagegen in vielen Ländern nicht in ausreichendem Maß durchgeführt worden, wenn auch einige Länder mit niedrigen Ausgaben diese seit 1995 erhöht haben. In der Mehrzahl der Länder (für die Daten vorliegen) sank der Anteil „aktiver“ Ausgaben an den Gesamtausgaben für Arbeitsmarktpolitik („passive“ und „aktive“ Unterstützungsleistungen) in den letzten Jahren sogar. Es ist von hoher Bedeutung, dass die Mittel für Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik entsprechend den Herausforderungen sichergestellt und zugleich die Effizienz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen gesteigert sowie deren Fokussierung auf die jeweiligen Zielgruppen sichergestellt werden.

4.3

Der EWSA hat in diesem Zusammenhang bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Strukturreformen letztlich nur in einem günstigen makroökonomischen Umfeld erfolgreich sein können, das auf Überwindung der lang andauernden Konjunkturschwäche und eine Verstetigung des Wachstums ausgerichtet ist (9). Dafür braucht es auf nationaler und EU-Ebene ein Bekenntnis zu einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik mit entsprechenden geld-, fiskal- und wirtschaftspolitischen Voraussetzungen:

Die Europäische Zentralbank sollte insbesondere in ihrer Zinspolitik entsprechend ihres Vertragsmandats bei gegebener Preisstabilität einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsaufbau leisten. Hohen Beschäftigungszuwachs wird es erst bei einem stetigen Wirtschaftswachstum über dem mittelfristigen Produktivitätswachstum geben.

So muss der erweiterte Spielraum unter dem reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt ausgenutzt werden, um den EU-Ländern konjunkturelles Gegensteuern zu ermöglichen und budgetären Freiraum für sozial verträgliche Strukturreformen und ein angemessenes Niveau an öffentlichen Investitionen zu schaffen.

Die Lissabonziele geben die Richtung an, in die Investitionen fließen müssen: Ausbau der Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur, Klimaschutz, Forschungs- und Entwicklungsoffensive, flächendeckende Kinderbetreuung, Förderung der Aus- und Weiterbildung, aktive Arbeitsmarktpolitik und Qualität der Arbeitsplätze. Dabei sollten die Nationalen Reformprogramme so konzipiert sein, dass sie ein europaweit koordiniertes Programm zur Stärkung der wirtschaftlichen Dynamik ergeben, zu dem alle Akteure auf nationaler und EU-Ebene ihren Beitrag leisten.

5.   Effektive Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit

5.1

Die Jugendarbeitslosigkeit gehört weiterhin zu den beschäftigungspolitischen „hot spots“ in der EU. Sie liegt in allen EU-Ländern oberhalb der Gesamtarbeitslosenquote und ist in den meisten EU-Ländern mindestens doppelt so hoch wie in der Gesamtwirtschaft. In einigen EU-15 Ländern ebenso wie in mehreren neuen EU-Ländern ist die Lage noch problematischer. Jobunsicherheiten sind in mehreren Mitgliedstaaten auch im höheren Qualifikationssegment gestiegen.

5.2

Der Erwerbseinstieg erfolgt zunehmend über alternative Beschäftigungsformen mit teilweise weit unsichereren arbeits- und sozialrechtlichen Bedingungen. Die Grenzen zwischen Arbeit im formellen und informellen Sektor verschwimmen zunehmend. Für gewisse Gruppen von Jugendlichen, etwa solchen mit niedrigen Qualifikationen, Migrationshintergrund oder solchen, die aus benachteiligten Bevölkerungsschichten kommen, gestaltet sich der Übergang in eine Regelbeschäftigung zunehmend schwierig. Das Risiko des Verharrens am Rande der Erwerbsgesellschaft steigt insbesondere bei Überschneidung mehrerer dieser Charakteristika.

5.3

Hier geht es darum, möglichst allen jungen Menschen Zukunftsperspektiven abseits prekärer Beschäftigung zu geben. Diese Frage hat auch demografische Aspekte: Die ökonomische Lage Jugendlicher hat wesentlichen Einfluss auf die Bereitschaft zur Familiengründung. In diesem Sinn ist zu begrüßen, dass die EU-Kommission in ihrem Frühjahrsbericht neben der weiteren Verbesserung der Qualifikation eine Verstärkung aktiver arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen fordert und insbesondere auf eine deutlich rascher einsetzende Unterstützung für Arbeit suchende Jugendliche sowie die Beseitigung struktureller Probleme beim Übergang von der Ausbildung zur Beschäftigung drängt

5.4

Als positive Beispiele können hier bewährte Modelle der Kombination berufsnaher, am Bedarf der Betriebe ausgerichteter Ausbildungssysteme mit schulischer Lehrausbildung in einzelnen Mitgliedstaaten (Deutschland, Österreich, tlw. die Niederlande) gelten. Zahlreiche Untersuchungen heben die Qualität dieser so genannten „Dualen Berufsausbildung“ hervor und schreiben ihr wesentliche Bedeutung für einen leichteren Übergang von der Schule in den Beruf und damit für geringere Differenzen zwischen der Jugendarbeitslosigkeit und der allgemeinen Arbeitslosenquote zu.

5.5

Aktive und präventive Maßnahmen im Bereich Aus- und Weiterbildung zur Verbesserung der Beschäftigungschancen Jugendlicher (10):

Gewährleistung hochwertiger Qualifikation von der Erstausbildung bis zur beruflichen und berufsbegleitenden Ausbildung, um möglichst reibungslos am Arbeitsmarkt Fuß fassen und kontinuierlich verbleiben zu können, wobei hier nicht nur die öffentliche Hand, sondern die Wirtschaft selbst in die Pflicht zu nehmen ist;

frühzeitige aktive Betreuung von Lehrstellen und Arbeitsplatz suchenden Jugendlichen (ggf. bereits nach 4 Monaten), verstärkte Schwerpunktprogramme sowie individuelle Förderung und Coaching zur Integration von Problemgruppen, wie langzeitarbeitslose Jugendliche sowie Schul- und Lehrabbrecher u.a. über gemeinnützige Beschäftigungsprojekte und Ausbildungsförderung;

Ausbau flächendeckender, leicht zugänglicher Berufsorientierungs- und Informationsmöglichkeiten für junge Frauen und Männer auf allen Ebenen der Ausbildung; entsprechende Qualitätsverbesserung und personelle Ressourcenausstattung der Arbeitsmarktverwaltungen);

Abbau bestehender Diskrepanzen zwischen angebotenen und den am Arbeitsmarkt nachgefragten Qualifikationen; Steigerung der Leistungsfähigkeit der primären Bildungssysteme (u.a. Senkung der Schulabbrecherquote, Kampf gegen Analphabetismus), sowie Erhöhung der Durchlässigkeit zwischen Lehrausbildung und weiterführender Ausbildung; Abbau geschlechtsspezifischer Segregation in der Berufsorientierung;

Implementierung von Maßnahmen, die sicherstellen, dass befristete Beschäftigung und Arbeitsstellen mit geringer sozialer Absicherung vorübergehende Phänomene für Jugendliche bleiben.

6.   Verbesserte Integrationsperspektiven für Zuwanderer

6.1

In den meisten EU-Ländern hat sich an der Diskriminierung von Zuwanderern und ihren Familienangehörigen auf dem Arbeitsmarkt wenig geändert. Sie sind weiterhin in Branchen mit schlechten Einkommens- und Arbeitsbedingungen überrepräsentiert, haben ein weit höheres Risiko, arbeitslos zu werden und verharren in hohem Maß in Arbeitsverhältnissen, die durch geringe Absicherung, erhebliche Gesundheitsrisiken, mangelnde Sicherheit und (in einzelnen Ländern) eingeschränkten Tarifschutz gekennzeichnet sind.

6.2

Besonders bedenklich ist die „Vererbung“ dieser prekären Arbeitsmarktposition von der ersten Zuwanderergeneration auf folgende auch durch massive schulische Benachteiligungen. Jugendliche mit Zuwanderungshintergrund zählen in den meisten Mitgliedstaaten zu den Gruppen mit den größten Jobunsicherheiten und den höchsten Risken, an den Rand des Regelarbeitsmarktes gedrängt zu werden.

6.3

Der EWSA hat bereits mehrfach dargelegt, dass er Arbeitsmigration gerade auch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung in der EU für notwendig erachtet und dafür positive Beispiele in mehreren Mitgliedstaaten etwa in Spanien und Irland aufgezeigt. Dies muss allerdings stets mit Perspektiven einer entsprechenden Integrationspolitik in den Mitgliedstaaten, v.a. auch was die Beschäftigung betrifft, in Einklang gebracht werden (11). Die Situation hinsichtlich der Zuwanderung variiert in den Mitgliedstaaten erheblich, ebenso wie die ergriffenen integrationspolitischen Maßnahmen u.a. in der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik. Besondere Aufmerksamkeit sollten die Mitgliedstaaten auf die Situation von Asylsuchenden richten, die häufig besonderen Benachteiligungen ausgesetzt sind.

6.4

Schwerpunkte zur Verbesserung der Integration von Zuwanderern:

Besonderes Augenmerk ist auf individuelle (vor)schulische Förderung und frühzeitige Investition in sprachliche und berufsnahe Qualifikation zu legen, Vermeidung von Benachteiligungen beim Berufseinstieg (v.a. durch möglichst frühe Beseitigung von Sprachbarrieren) sowie Erleichterung der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse für Migranten;

„Integrations-Mainstreaming“ in der gesamten Sozial- und Arbeitsmarktpolitik (u.a. Erhöhung interkultureller Kompetenzen bei Behörden und in der Arbeitsmarktverwaltung sowie Unterstützung von Betrieben, insbesondere KMU); entsprechende europäische und nationale Dotierung von Maßnahmen zur Förderung der Integration;

Beseitigung institutioneller Hemmnisse und Diskriminierung beim Arbeitsmarktzugang in den Mitgliedstaaten (z.B. Verkürzung von Wartefristen beim Erhalt von Arbeitsgenehmigungen — insbesondere für Asylsuchende (12)) sowie Verhinderung von Lohndumping bei gleichzeitiger Stärkung der Integrationsperspektiven in der europäischen Einwanderungspolitik (Verhinderung einer Zuwanderungspolitik, die Integration erschwert, indem sie temporäre Migration und somit prekäre Arbeitsformen und Marginalisierung fördert);

Verbesserung der Datenlage hinsichtlich des Zusammenhanges von Migrationshintergrund und Segregation sowie Diskriminierung am Arbeitsmarkt (13);

vorbeugende Maßnahmen und Sanktionen sowie Partnerschaften zwischen den Sozialpartnern und den öffentlichen Behörden auf nationaler Ebene, zur Bekämpfung von Schwarzarbeit, um Sozialdumping und Wettbewerbsverzerrungen insbesondere im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Arbeitskräftebewegungen zu verhindern.

7.   Chancen zur Beschäftigung Älterer nutzen

7.1

Die zentrale Antwort auf die demografische Herausforderung kann nur lauten: gezielte Wachstumspolitik und Erhöhung der Beschäftigung. Das erforderliche Arbeitskräftepotenzial ist in ausreichendem Maß vorhanden. Doch das Beschäftigungspotenzial älterer Arbeitnehmer (+ 55) ist EU-weit nach wie vor unzureichend genutzt.

7.2

Das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit steigt rapide mit dem Alter. Im EU-25 Durchschnitt liegt die Langzeitarbeitslosigkeit bei Älteren (50-64) bei über 60 %. Vor diesem Hintergrund muss dafür gesorgt werden, dass ältere Arbeitnehmer auch faktisch die Chance haben, eine Beschäftigung zu finden und diese längerfristig auszuüben.

7.3

Wesentliche Ursachen des vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben sind gesundheitlicher Verschleiß durch belastende Arbeitsbedingungen, hohe Arbeitsintensität, frühzeitige Entlassungen älterer Arbeitnehmer, mangelnde Fortbildung sowie fehlende (Wieder) Beschäftigungsmöglichkeiten. Anstrengungen, die Erhöhung der Erwerbsquoten älterer Menschen in erster Linie durch Eingriffe in die Altersversorgungssysteme zu lösen, die auf Verschlechterung der Zugangsbedingungen und Anspruchsberechtigungen hinauslaufen, gehen an der Sache vorbei.

7.4

Nur eine bewusste Politik des „aktiven Alterns“ inklusive umfassender Partizipationsmöglichkeiten an Weiterbildungsmaßnahmen und lebensbegleitendem Lernen kann zur nachhaltigen Steigerung der Beschäftigungsquote Älterer führen. Den sozialverträglichen Weg, wie unter Einbindung der Sozialpartner ein funktionierender Arbeitsmarkt für Ältere mit hoher Stabilität der Beschäftigung ebenso wie ein hohes Maß an Erwerbsfähigkeit und Erwerbstätigkeit Älterer geschaffen werden kann, zeigen erfolgreiche Modelle in nordischen Mitgliedstaaten (in erster Linie das integrierte Maßnahmenpaket im Rahmen des nationalen Aktionsprogramms für Ältere in Finnland) auf.

7.5

Kernelemente eines konsequenten Umbaus in Richtung alternsgerechte Arbeitswelt (14):

umfassende Beratung und Begleitung Arbeit Suchender sowie offensive Vermittlungsunterstützung (u.a. geförderte Beschäftigung, Eingliederungsbeihilfen, gemeinnützige Sozialprojekte) und, wo notwendig, Rehabilitationsmaßnahmen zur dauerhaften Wiedereingliederung; entsprechende Dotierung aktiver Arbeitsmarktpolitik zur langfristigen Planungssicherheit für die Arbeitsverwaltungen;

Schaffung sozialverträglicher Anreize zum späteren Rentenantritt sowie dort wo möglich oder erwünscht Ausbau attraktiver Modelle zum gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in die Altersversorgung innerhalb der öffentlichen Rentensysteme (u.a. Weiterentwicklung von Altersteilzeitmodellen);

Maßnahmen, die darauf abzielen, physisch und psychisch länger im Erwerbsleben verbleiben zu können, in erster Linie Verringerung des Leistungsdrucks in den Betrieben und alternsgerechte Gestaltung der Arbeitsbedingungen (u.a. Anreize zum Ausbau des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz, flächendeckende betriebliche Programme zur Gesundheitsförderung und Prävention sowie zum Arbeitnehmerschutz);

stärkere Beteiligung Älterer an Weiterbildung (Qualifikationsoffensive 40+, Anreize zum Abbau mangelnder Partizipation an innerbetrieblicher Weiterbildung insbesondere gering Qualifizierter);

bewusstseinsbildende Maßnahmen zugunsten älterer Arbeitnehmer (Würdigung des Werts von Erfahrungswissen und Transfer der im Erwerbsleben erworbener Kompetenzen an jüngere Arbeitnehmer) sowie Beratung und Unterstützung von Unternehmen insbesondere KMU bei der vorausschauenden Personalplanung und Entwicklung alternsgerechter Arbeitsorganisation.

8.   Verbesserungen bei der Beschäftigung von Frauen

8.1

Obwohl Frauen in den letzten 30 Jahren beim formalen Qualifikationsniveau deutlich aufgeholt haben, besteht nach wie vor weit verbreitet keine Chancengleichheit am Arbeitsmarkt. Frauen verbleiben in hohem Maß in traditionellen Dienstleistungssektoren sowie Industriesektoren mit traditionell hohem Anteil an Frauenbeschäftigung. Frauen können ihre Bildungsabschlüsse im Hinblick auf die berufliche Stellung deutlich schlechter verwerten. Die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie ist nach wie vor unvergleichlich schwerer herzustellen als für Männer.

8.2

Der Anteil an Teilzeitbeschäftigung ist in allen Altersgruppen weit höher als bei Männern. Die Zunahme von Teilzeitbeschäftigung, die bei freier Entscheidung und unter Bedingungen, die zu keiner Sackgasse hinsichtlich der Einkommens- und Arbeitsmarktchancen führen, an sich zu begrüßen ist, stellt in den meisten Mitgliedstaaten weiterhin einen Hauptfaktor geschlechtsspezifischer Arbeitsmarktsegmentierung dar.

8.3

Die Einkommensdifferenzen von Frauen und Männern sind nach wie vor in fast allen Berufsgruppen und unabhängig vom Status am Arbeitsmarkt groß. Besonders negativ wirken sich längerfristige Berufsunterbrechungen aufgrund von Betreuungspflichten und Pflegetätigkeiten auf Aufstiegschancen, Einkommen und soziale Ansprüche aus. Während Männer weiterhin mit progressiven Steigerungen mit zunehmendem Alter rechnen können, stagnieren Fraueneinkommen genau in jenen Altersgruppen, in denen sie aufgrund von Kindern ihren Beruf unterbrechen oder auf Teilzeitbeschäftigung umsteigen.

8.4

Dass dies auch anders geht und „Gender Mainstreaming“ in der Arbeitsmarktpolitik mehr als ein Schlagwort sein kann, ist insbesondere an Dänemark oder Schweden zu studieren. Hier sind die Einkommensunterschiede weit geringer, die Erwerbsquoten von Frauen und der Deckungsgrad bei Kinderbetreuungsplätzen — insbesondere für Kinder unter 2 Jahren — weit höher als in anderen Mitgliedstaaten der EU. Ein anderes positives Beispiel stellen die Niederlande dar. Hier existieren hohe Frauenerwerbsquoten bei sehr hoher Teilzeitbeschäftigung, die größtenteils freiwillig ausgeübt wird.

8.5

Eckpunkte zur Lösung von Strukturproblemen der Frauenbeschäftigung (15):

Maßnahmen zur Beseitigung bestehender Diskriminierungen am Arbeitsmarkt und struktureller Ursachen geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede, insbesondere Förderung der eigenständigen sozialen Absicherung von Frauen, v.a. über Maßnahmen zum Abbau geringfügiger, nicht abgesicherter Teilzeitbeschäftigung sowie zur verbesserten Regulierung von Teilzeitbeschäftigung (etwa Ausdehnung des Rechtes auf Teilzeit für Eltern mit Anspruch auf Rückkehr zu Vollzeit, Abbau der mangelnden Integration in innerbetriebliche Weiterbildungsprogramme);

massiver Ausbau flächendeckender Versorgung mit qualitativ hochwertigen und erwerbsfreundlichen außerhäuslichen Betreuungsmöglichkeiten von Klein- und Schulkindern, die auch allgemein bezahlbar sind; Beiträge zur effektiven Förderung partnerschaftlicher Teilung von Betreuungspflichten (v.a. Anreize zur Erhöhung der Väterbeteiligung);

Beseitigung familienpolitischer Maßnahmen mit starken Anreizen zum Ausstieg aus dem Erwerbsleben bzw. zur längeren Unterbrechung mit nachfolgend erschwerten Chancen zum adäquaten Wiedereinstieg; „Karenzfinanzierung“ darf sich nicht nachteilig auf den Einkommensverlauf auswirken, keinen zusätzlichen Anreiz zum Berufsausstieg von Frauen liefern und keine neuen Hemmnisse für eine partnerschaftliche Teilung der Kinderbetreuung aufbauen;

arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Förderung des Wiedereinstiegs nach der Elternzeit (u.a. auch Unterstützungen von Initiativen zur Selbständigkeit) sowie Maßnahmen gegen Dequalifizierung und Einkommensverlust (u.a. flexible Modelle der Weiterbildung während der Elternzeit bzw. der Weiterbeschäftigung mit geringerer Stundenzahl);

familiengerechte Gestaltung der Arbeitszeit (u.a. Möglichkeiten zur Mitgestaltung der Arbeitszeit durch Eltern von Klein- und Schulkindern, Vereinbarungen zu Teleworking, sowie Rechtsansprüche zur variablen Arbeitszeitgestaltung von Personen mit Pflegeverpflichtungen).

9.   Förderung der Chancen Behinderter am Arbeitsmarkt

9.1

Behinderte gehören weiterhin in hohem Maß zur Gruppe der vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen. Arbeitnehmer mit Behinderungen müssen mit größerer Wahrscheinlichkeit mit Niedriglohnarbeitsplätzen vorlieb nehmen und werden oft hinsichtlich des Zugangs zu Schulungsmöglichkeiten und des beruflichen Aufstiegs diskriminiert. Angesichts der Tatsache, dass 15 % der EU-Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter eine Behinderung irgendeiner Art haben, sowie der niedrigen Beschäftigungsquote dieser Gruppe würde eine Erhöhung der Beschäftigungsquote behinderter Menschen maßgeblich dazu beitragen, die Ziele der Lissabon-Strategie zu erreichen.

9.2

In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA das Kommissionsdokument „Einbeziehung der Behindertenthematik in die Europäische Beschäftigungsstrategie“ (16), das einen positiven Ausgangspunkt darstellt, um die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt voranzubringen, und darauf aufmerksam macht, dass die Integration in den Arbeitsmarkt das beste Mittel zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung ist. Der Ausschuss verweist darauf, dass die meisten dieser Menschen die Behinderung während ihres Berufslebens erleiden, jedoch nur wenigen die Möglichkeit geboten wird, zu einer entsprechend ihrer Behinderung angepassten Beschäftigung zurückzukehren. Positiv herauszustellen sind in diesem Bereich beispielsweise die in Großbritannien existierende strenge Anti-Diskriminierungsgesetzgebung, die mit Beschwerdemechanismen gekoppelt ist und das dänische Beispiel, das Arbeitsmarktflexibilität mit gleichzeitig ausreichender sozialer Sicherung sowie einem hohen Grad an Aus- und Weiterbildung verknüpft.

9.3

Vorrangige Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung für Menschen mit Behinderung (17):

Anpassung der Steuer- und Sozialleistungssysteme, so dass eine Beschäftigung und der Wechsel in eine Erwerbstätigkeit attraktiv werden, z.B. durch erwerbsabhängige Sozialleistungen (In-Work-Benefits); zusätzlich sollte jedoch nach einer Versuchsperiode der Berufstätigkeit eine Rückkehr zur Inanspruchnahme der Behindertenrente möglich sein;

Entwicklung, Umsetzung und Unterstützung aktiver Arbeitsmarktprogramme (insbesondere Rehabilitationsmaßnahmen) speziell für Menschen mit Behinderungen sowie Maßnahmen zur Erleichterung des Wechsels von geschützter Beschäftigung zum regulären Arbeitsmarkt (z.B. Zuschneiden von Informations- und Mitteilungsaktionen auf behinderte Arbeitsuchende);

angemessene Gestaltung der Arbeitsstellen für behinderte Menschen und Förderung positiver Maßnahmen speziell für Arbeitsnehmer, die ihre Behinderung während ihres Berufslebens erlitten haben; ferner sollten die Gewährung von Freistellungszeiten kombiniert mit beruflicher Fortbildung, die Anpassung der Arbeitsstellenbeschreibungen oder alternative Aufgaben in Betracht gezogen werden;

Gewährung zusätzlicher Unterstützung für Arbeitsnehmer mit Behinderungen sowie Fürsorgeleistungen für behinderte Menschen, damit Arbeitnehmer, die ein behindertes Familienmitglied haben, ihrer Beschäftigung weiter nachgehen können.

Brüssel, den 12. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Siehe dazu die EWSA-Stellungnahme vom 17.5.2006 zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Rates über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten“, Berichterstatter: Herr GREIF (ABl. C 195 vom 18.08.2006).

(2)  Siehe hierzu den Bericht der Hochrangigen Gruppe über die Zukunft der Sozialpolitik in der erweiterten Europäischen Union von Mai 2004.

(3)  Idem.

(4)  Siehe dazu u.a. die EWSA-Sondierungsstellungnahme vom 13.9.2006 zu dem Thema „Qualität des Arbeitslebens, Produktivität und Beschäftigung im Kontext von Globalisierung und demographischem Wandel“, Berichterstatterin: Frau ENGELEN-KEFER, (ABl. C 23.12.2006).

(5)  Siehe dazu u.a. die EWSA-Initiativstellungnahme vom 9.2.2005 zu dem Thema „Beschäftigungspolitik: Rolle des EWSA nach der Erweiterung und in der Perspektive des Lissabonner Prozesses“, Berichterstatter: Herr GREIF (ABl. C 221 vom 8.9.2005).

(6)  Siehe dazu diverse Grafiken im Anhang.

(7)  Employment in Europe 2006.

(8)  Siehe Grünbuch „Ein modernes Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“, KOM(2006) 708 endg.

(9)  Siehe u.a. die EWSA-Stellungnahme vom 11.12.2003 zum Thema „Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2003-2005“, Berichterstatter: Herr DELAPINA, (ABl. C 80 vom 30.3.2004) sowie die EWSA-Stellungnahme vom 17.5.2006 zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Rates über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten“, Berichterstatter: Herr GREIF (ABl. C 195 vom 18.8.2006).

(10)  Siehe dazu die EWSA-Stellungnahmen: „Mitteilung der Kommission an den Rat über europäische Politiken im JugendbereichDie Anliegen Jugendlicher in Europa aufgreifenUmsetzung des Europäischen Pakts für die Jugend und Förderung der aktiven Bürgerschaft“, (vom 26.10.2005) Berichterstatterin: Frau VAN TURNHOUT (ABl. C 28 vom 3.2.2006); „Mitteilung der KommissionSozialpolitische Agenda“ (vom 13.7.2005), Berichterstatterin: Frau ENGELEN-KEFER (ABl. C 294 vom 25.11.2005); „Vorschlag für einen Beschluss des Rates über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (gemäß Artikel 128 EG-Vertrag)“ (vom 31.5.2005), Berichterstatter: Herr MALOSSE (ABl. C. 286 vom 17.11.2005).

(11)  Siehe dazu die EWSA-Stellungnahme vom 10.12.2003 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über Einwanderung, Integration und Beschäftigung“, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS (ABl. C 80 vom 30.3.2004).

(12)  Siehe dazu die EWSA-Stellungnahme vom 28.11.2001 zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten“, Berichterstatter: Herr MENGOZZI (ABl. C 48 vom 21.2.2002).

(13)  Eurostat arbeitet gegenwärtig an einem Ad-hoc-Modul über die Beschäftigungssituation von Einwanderern und ihrer Nachkommen, das in die Datenerhebung 2008 eingehen soll. Ziel ist es, bei der Europäischen Arbeitskräfteerhebung Personen ausländischer Abstammung besser zu berücksichtigen.

(14)  Siehe dazu die EWSA-Stellungnahme vom 15.12.2004 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen:“ Anhebung der Beschäftigungsquote älterer Arbeitskräfte und des Erwerbsaustrittsalters, Berichterstatter: Herr DANTIN (ABl. C 157 vom 28.6.2005).

(15)  Siehe dazu die EWSA-Stellungnahme vom 13.9.2006 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010“, Berichterstatterin: Frau ATTARD (ABl. C 318 vom 23.12.2006) sowie die EWSA-Stellungnahme vom 29.9.2005 zur „Armut unter Frauen in Europa“, Berichterstatterin: Frau KING (ABl. C 24 vom 31.1.2006).

(16)  EMCO/II/290605.

(17)  Siehe dazu die EWSA-Stellungnahme vom 20.4.2006 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der RegionenSituation behinderter Menschen in der erweiterten Europäischen Union: Europäischer Aktionsplan 2006-2007“, Berichterstatterin: Frau GREIF (ABl. C 185 vom 8.8.2006) sowie die EWSA-Sondierungsstellungnahme vom 17.1.2007 zur „Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen“, Berichterstatter: Herr JOOST, ABl. C 93 vom 27.4.2007.


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/102


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts und Sozialausschusses zum Thema „Rolle der Sozialpartner/Vereinbarung von Beruf, Familie und Privatleben“

(2007/C 256/19)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss erhielt am 13. Februar 2007 ein Befassungsschreiben vom künftigen portugiesischen Ratsvorsitz zum Thema „Rolle der Sozialpartner/Vereinbarung von Beruf, Familie und Privatleben“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr CLEVER.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) mit 145 Ja-Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Hintergrund

1.1

Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben sich im Rahmen der Lissabon-Strategie darauf verständigt, bis 2010 die Erwerbstätigenquote von Frauen auf 60 Prozent zu steigern. Dieses Ziel wurde in den integrierten Leitlinien (Leitlinie 17), die als zentraler Bestandteil des neuen Steuerungsmechanismus der Lissabon-Strategie im Jahr 2005 verabschiedet wurde, bestätigt.

1.2

Die Lissabon-Strategie wird ihre ambitionierten Ziele im Hinblick auf Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit schneller und nachhaltiger erreichen, wenn es trotz des demografisch bedingten Rückgangs der Menschen im erwerbsfähigen Alter gelingt, die Zahl der Beschäftigten in der EU im kommenden Jahrzehnt weiter zu steigern und ihre Qualifikation zu verbessern. Die Chancen, beides durch eine deutlich höhere Beschäftigungsrate der Frauen zu erreichen, sind günstig, weil die jetzt nachwachsende Generation junger Frauen ihre stärkere Einbindung in Erwerbstätigkeit wünscht und auch deutlich besser ausgebildet ist. Noch bestehende Hindernisse in diesem Zusammenhang gilt es abzubauen.

1.3

Um das Ziel zu erreichen, einigten sich die EU-Mitgliedstaaten unter anderem darauf,

entschlossene Maßnahmen zur Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und zur Reduzierung geschlechtsspezifischer Unterschiede bei Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Entgelt zu ergreifen und

eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben anzustreben und zugängliche und erschwingliche Betreuungseinrichtungen für Kinder und sonstige betreuungsbedürftige Personen bereitzustellen (Leitlinie 18).

1.4

Der portugiesische Ratsvorsitz hat den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum Thema „Rolle der Sozialpartner/Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben“ gebeten.

1.5

Die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben ist aus Sicht der europäischen Sozialpartner ein wichtiger Beitrag, um Wirtschaftswachstum, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit in Europa zu erreichen.

1.6

Darüber hinaus ist die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben eine der Prioritäten der Europäischen Kommission im Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern, die im März 2006 verabschiedet wurde (1). Zur besseren Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben nennt die Kommission im Fahrplan drei Schwerpunkte:

1.

Flexible Arbeitszeitregelungen sowohl für Frauen als auch für Männer

2.

Ausbau der Betreuungsangebote

3.

Bessere Vereinbarkeit sowohl für Frauen als auch für Männer.

1.7

Mit der im Fahrplan bereits angekündigten Mitteilung „Die demografische Zukunft Europas: Von der Herausforderung zur Chance“ hat die EU-Kommission die erste Sozialpartnerkonsultation zur Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben am 12. Oktober 2006 — nach Artikel 138 (EGV) — eingeleitet.

1.8

Im ersten Teil der Konsultation hebt die Kommission die Bedeutung des Themas Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben hervor. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen muss, gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und dem daraus resultierenden Druck auf die sozialen Sicherungssysteme, verbessert werden. Darüber hinaus wird die Rolle der Vereinbarkeit im Zusammenhang mit der Erreichung der von der Kommission gesetzten Ziele von Lissabon hervorgehoben.

1.9

Die europäischen Sozialpartner heben in ihren jeweiligen Antworten an die Kommission die Bedeutung des Themas Vereinbarkeit von Familie und Beruf, gerade im Kontext der noch nicht zufrieden stellenden Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen und einer immer älter werdenden Bevölkerung hervor. Die Umsetzung der vom Rat in Barcelona 2002 gesetzten Ziele zum Ausbau der Kinderbetreuung werden darin ausdrücklich unterstützt, Einvernehmen zwischen den Sozialpartnern besteht auch darüber wie die Meinung, dass die drei im Fahrplan für die Gleichstellung genannten Schwerpunkte zielführend sein können. Darüber hinaus betonen die Sozialpartner, dass die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben und die Frage der Chancengleichheit von Frauen und Männern im Arbeitsleben, gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung, einen zentralen Stellenwert in der politischen Debatte bekommen muss. Besonderes Augenmerk muss dabei auch auf die Überwindung von vorhandenen Rollenstereotypen zwischen den Geschlechtern gelegt werden, ohne deren Änderung Fortschritte nur schwer zu erzielen sein werden.

1.10

Die Sozialpartner (BUSINESSEUROPE/UEAPME, CEEP und EGB) (2) ihrerseits haben zur Verbesserung der Chancengleichheit von Frauen und Männern im Berufsleben im Jahr 2005 den Aktionsrahmen zur „Gleichstellung von Frauen und Männern“ (3), verabschiedet. Zu den vier Kernbereichen, zu denen die nationalen Sozialpartner bis 2010 Aktionen durchführen werden, zählt ausdrücklich auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der Ministerrat liegt daher richtig, wenn er die Organisation der Arbeitszeiten, die für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf von großer Bedeutung sind, den Sozialpartnern zuweisen will, um zu praxisnahen Lösungen für alle Beteiligten zu kommen.

1.11

Indem sie zu besseren Arbeitsbedingungen beitragen, können die Sozialpartner die Lebenssituation von Familien verbessern. In diesem Zusammenhang kommt ihnen eine Schlüsselrolle zu. Der Aktionsrahmen ist einer der Beiträge der Sozialpartner zur Umsetzung der Lissabon-Strategie. Angesichts der Tatsache, dass die Ursachen für noch existierende Unausgewogenheiten auf den Arbeitsmärkten komplex sind und in einem wechselseitigen Zusammenhang stehen, sind die europäischen Sozialpartner davon überzeugt, dass für eine erfolgreiche Beseitigung der Probleme eine integrierte Strategie erforderlich ist, um die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist hierbei eine der wichtigsten Stellschrauben.

1.12

Obwohl das Engagement mancher Unternehmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den letzten Jahren gestiegen ist, so dass Familienfreundlichkeit zu einem festen Bestandteil der Personalpolitik und Unternehmensphilosophie geworden ist, wie die erste gemeinsame Bilanz der Sozialpartnervereinbarung zeigt, die die Sozialpartner im Februar 2007 veröffentlicht haben, müssen noch vorhandene Defizite von Unternehmen, Sozialpartnern und Mitgliedstaaten weiter abgebaut werden (4).

1.13

Die Idee der Chancengleichheit am Arbeitsplatz, die Einführung von Initiativen zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Schaffung eines Modells der Unternehmensführung im Zeichen der Chancengleichheit gehören zum Konzept der sozialen Verantwortung von Unternehmen (CSR), das diese veranlassen soll, eine gute Praxis zu pflegen und ihren Arbeitnehmern gegenüber verantwortlich zu handeln.

2.   Situationsanalyse

2.1

Die Familienstrukturen haben sich durch gesellschaftlichen Wandel stark ausdifferenziert. Eine auf die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben zielende Politik muss alle bestehenden Lebensformen berücksichtigen (z.B. Alleinerziehende, Patchwork-Familien (in die jeder Partner Kinder aus einer früheren Ehe einbringt), Ledige, geschiedene Eltern, Adoptiveltern, erwerbstätige Studierende, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften, Alleinstehende). Der wachsende Anteil älterer und hoch betagter Menschen steigert zudem den Bedarf nach Pflegedienstleistungen in und außerhalb der Familie.

2.2

Frauen sind im Gegensatz zu Männern parallel zu ihrem Beruf immer noch stärker in die Organisation von Haushalt und Familie eingebunden und befinden sich daher häufig in einer Situation von Stress und permanenter Überlastung, hiervon sind auch Bäuerinnen und Frauen, die selbstständig sind, betroffen. Frauen fühlen sich durch diese Rahmenbedingungen oft gezwungen, eine Teilzeittätigkeit, die mit einem geringeren Einkommen, einer schlechteren Altersversorgung und schlechteren Aufstiegschancen verbunden ist, anzunehmen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist daher auch ein wichtiges Instrument, um die Gleichstellung von Frauen und Männern, aber auch von Frauen mit und ohne Kinder, im Berufsleben zu erreichen.

2.3

Gerade weil die zugrunde liegenden Probleme und ihre Lösungsmöglichkeiten aber nicht nur von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat, sondern auch von Region zu Region, ja von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich sind, gibt es keine Patentlösungen, die für alle gleichermaßen gelten sollen. Der EWSA sieht in diesem Zusammenhang eine wichtige Lösungskompetenz bei den Sozialpartnern. Die Sozialpartner können auf Grund ihrer vorhandenen Strukturen in den einzelnen Ländern den Alltag von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch ihr Engagement im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf maßgeblich beeinflussen.

2.4

Obgleich die Entscheidung für oder gegen Kinder grundsätzlich privater Natur ist, ebenso die Entscheidung, für Verwandte oder andere besonders nahe stehende Personen, Betreuungs- und Pflegeleistungen bei Krankheit, Behinderungen oder im Alter in der Familie zu erbringen, wird von solchen Entscheidungen aber auch die Gesellschaft als Ganzes betroffen. Der wachsende Mangel an Kindern ist gleichbedeutend mit einem späteren Mangel an Fach- und Führungskräften, Kunden, Mitarbeitern, Unternehmern, Wissenschaftlern und Forschern und hat somit negative Konsequenzen für die gesamte Gesellschaft (5). Daher kommt dem Staat bei folgenden Faktoren besondere Verantwortung zu:

materielle finanzielle Unterstützung, Geldleistungen, Anerkennung bei der Altersversorgung),

unterstützende Infrastruktur (Kinderbetreuung, Ganztagsschulen, Angebote für außerschulische Betreuung und Ferienbetreuung und Freizeitprogramme, die von Freiwilligenorganisationen angeboten werden, Hilfsangebote, z.B. für ambulante Pflegedienste),

angemessene Elternzeit für Mütter und Väter (auch im Zusammenhang mit Adoptionen),

familienfreundliche Arbeitswelt.

2.5

Flexible Arbeitszeitregelungen sind aus Sicht der Kommission wichtig, um das gesamte Potenzial der Erwerbsbevölkerung auszuschöpfen, daher müssen sie Frauen und Männern gleichermaßen offen stehen — hierbei ist ein Rechtsrahmen hilfreich. Trotzdem erzeugt die Tatsache, dass bei weitem mehr Frauen als Männer derartige Regelungen nutzen, ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern, das negative Auswirkungen auf die Position der Frauen am Arbeitsplatz und auf ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit hat. Männer sollten daher stärker als bisher ermutigt werden, Familienpflichten zu übernehmen, vor allem durch Anreize für Eltern- und Vaterurlaub, um die Lasten der unbezahlten Arbeit im Haus und die Betreuung der Kinder und Angehörigen fair und partnerschaftlich mit den Frauen zu teilen.

3.   Rollenbilder

3.1

Mit dem gesellschaftlichen Wandel haben sich parallel zum stark gestiegenen Qualifikationsniveau von Frauen auch deren Rollenbilder und Lebensvorstellungen gewandelt. Junge Frauen in Europa verfügen heute über eine bessere Qualifikation als junge Männer und sehen eine Berufstätigkeit als festen Bestandteil ihrer Lebensplanung an. Das gestiegene Qualifikationsniveau der Frauen müsste auch dazu führen, dass sich die Unterschiede im durchschnittlichen Lohnniveau von Frauen und Männern verringern werden. Die derzeitigen Verdienstunterschiede ergeben sich großenteils aus dem hohen Anteil der Frauen, die in Teilzeit beschäftigt sind, längeren Berufsunterbrechungen und einer damit verbundenen kürzeren Berufserfahrung, dem geringeren Anteil von Frauen in Führungspositionen und der geringeren Qualifikation von älteren Frauen. Auch wenn die tarifvertragliche Eingruppierung sicherstellt, dass Frauen und Männer für gleiche Arbeit und einen gleichen Qualifikationshintergrund gleichen Lohn erhalten, bleibt aber immer noch das Lohngefälle bestehen. Darüber hinaus ist es für die Wahlfreiheit des individuellen Lebensentwurfs erforderlich, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Frauen und Männern die Möglichkeit geben, sich für den Lebensentwurf zu entscheiden, der ihren eigenen Vorstellungen entspricht, ohne mit einer positiven oder negativen gesellschaftlichen Wertung dieser Entscheidung konfrontiert zu werden.

3.2

Zu den Rahmenbedingungen, die maßgeblich die Gestaltung der Lebensentwürfe mitgestalten, gehört neben der jeweiligen Infrastruktur in der Kinderbetreuung eines Landes auch die gesellschaftliche Einstellung, sowohl zu erwerbstätigen Müttern als auch zu Vätern die sich der Familienarbeit widmen. Wie sich die Sozialpartner in diesen Fragen verhalten, prägt entscheidend auch die gesellschaftliche Einstellung mit. Die Erfahrungen aus den skandinavischen Ländern und Deutschland haben gezeigt, dass es hilfreich sein kann, finanzielle Transferleistungen, wie zum Beispiel Teilbeträge des Elterngeldes nur dann einer Familie zukommen zu lassen bzw. die Transferleistungen zu erhöhen, wenn sich auch der Vater für einen gewisse Zeit um die Betreuung seines Kindes kümmert. Die Väter erhalten hierdurch einen rechtlichen Rahmen, um sich für einen begrenzten Zeitraum leichter der Kindererziehung widmen zu können. Mütter erhalten durch diese Regelung die Chance, früher ins Berufsleben zurückzukehren.

3.3

Der EWSA betont, dass es nicht ausreichen wird, einzelne Stellschrauben zu verändern, um die Doppelbelastung von Frauen im Beruf der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Privatleben zu verändern. Ziel muss es vielmehr sein, die grundsätzliche Aufteilung unbezahlter außerbetrieblicher Arbeit, wie Kindererziehung, Pflege von Angehörigen, Organisation des Haushaltes zwischen Männern und Frauen neu zu gestalten. Die Männer müssen zu einer echten partnerschaftlichen Lastenteilung gebracht werden. Dies erfordert einen tief greifenden Bewusstseins- und Strukturwandel.

4.   Unterstützungsmaßnahmen der Sozialpartner zur Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Privatleben auf betrieblicher Ebene

4.1

Die demografische Entwicklung und die damit verbundenen Veränderungen haben sowohl für die Arbeitnehmer als auch für die Arbeitgeber große Auswirkungen. Die Sozialpartner haben auf allen Ebenen eine wichtige Hilfsfunktion, um die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben zu verbessern.

4.2

Eine Personalpolitik, die die betrieblichen Belange ebenso wie für jede Arbeitnehmerin und jeden Arbeitnehmer elementare außerbetriebliche Aufgaben und familiäre Verantwortungen und private Belange berücksichtigt und fair austariert, ist die Basis für eine erfolgreiche Vereinbarkeitspolitik in den Unternehmen. Dazu gehört als Grundvoraussetzung, die von den einzelnen Mitgliedstaaten bereitgestellt werden sollte:

eine gute, den bestehenden Bedarf deckende Infrastruktur im Bereich der Betreuung von Kindern — den ganz jungen ebenso wie den heranwachsenden — sowie

ein ausreichendes und qualitativ gutes Angebot an Dienstleistungen für die Betreuung und Pflege von älteren oder behinderten Menschen,

faire Arbeitszeitbedingungen,

Maßnahmen, die sicherstellen, dass Beurlaubungen oder Teilzeitarbeit zur Betreuung von Minderjährigen und abhängigen Personen die künftigen Leistungen nicht beeinträchtigen, und

qualifiziertes und auf gerechte Weise entlohntes Personal.

Von einer flächendeckenden Infrastruktur profitieren die Arbeitnehmerschaft, die Unternehmen sowie Staat und Gesellschaft gleichermaßen.

4.3

Die Palette, der zum Teil auch zwischen den Sozialpartnern vereinbarten personalpolitischen Instrumente, die in den Unternehmen umgesetzt werden können reicht von

der Einführung innovativer, aber nicht nachteiliger Arbeitszeitmodelle (Stückelung der Arbeitszeit, Ausübung mehrerer Minijobs), Telearbeit, Sabbaticals und Arbeitszeitkonten,

Rechtssicherheit von Festanstellungen,

Kontaktangeboten der Unternehmen während der Elternzeit,

Unterstützungsmaßnahmen bei der Organisation der Kinderbetreuung, in Form von Betriebskindergärten, Ankauf von Belegplätzen, finanziellen Unterstützungsmaßnahmen bis zur

Unterstützung bei der Pflege älterer Angehöriger oder pflegebedürftiger Angehöriger,

Unterstützung bei Maßnahmen zur persönlichen Entwicklung,

Unterstützung bei der Wiedereingliederung nach Beurlaubungen oder Teilzeitarbeit zur Betreuung von Minderjährigen und abhängigen Personen.

4.4

Hiermit wird auch dem Ziel Rechnung getragen, durch maßgeschneiderte und hoch variable, auf die Interessen der Unternehmen wie der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ausgerichtete Teilzeitarbeitsmodelle es allen Beteiligten zu erleichtern, Beruf, Familie und Privatleben besser miteinander vereinbaren zu können. Diesem Ziel dient es nicht, wenn Teilzeitarbeit nicht auf Basis freiwilliger Entscheidungen gewählt wird. Der EWSA hält es für dringend erforderlich, dass die männlichen Arbeitnehmer Teilzeitangebote verstärkt annehmen, wenn es aufgrund der Situation in der Familie erforderlich ist, dass ein Elternteil Teilzeit arbeitet. Dadurch können sie in der Praxis zum Ausdruck bringen, dass die außerbetrieblichen Verpflichtungen in der Partnerschaft und der Familie nicht allein Aufgabe der Frauen, sondern verantwortlich geteilt und gemeinsam wahrgenommen werden sollten.

4.5

Die Sozialpartner können helfen, Antworten darauf zu finden, wie Eltern das Lebensmodell umsetzen können, das sie sich wünschen. In der betrieblichen Praxis haben sich auch spezielle Kontaktangebote auf freiwilliger Basis für Mütter in der Elternzeit in Form von Urlaubs- und Krankenvertretungen, oder auch die Einladung zu Betriebsfesten als sinnvoll erwiesen, damit es Müttern erleichtert wird, nach einer Familienphase wieder an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Der EWSA weist darauf hin, dass die Schutzvorschriften, die es für Schwangere und Mütter und Väter in Elternzeit gibt, zwingend eingehalten werden müssen und auch nicht durch indirekte Diskriminierungen umgangen werden dürfen.

4.6

Des Weiteren können Eltern von einer Unterstützung bei der Organisation der Kinderbetreuung profitieren. Diverse Unternehmen bieten ihren Beschäftigten Angebote im Bereich der Vermittlung von Tagesmüttern und Krippenplätzen und der Notfallbetreuung im Krankheitsfalle des Kindes an. Einige Unternehmen versuchen auch durch gezielte Maßnahmen, wie die Bereitstellung eines Urlaubstages an dem Geburtstag des Kindes, männliche Mitarbeiter dazu zu ermutigen, Familienarbeit zu übernehmen und mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Unternehmen, die sich so verhalten, verdienen Unterstützung. Dennoch werden Eltern in der Praxis in den meisten Fällen nicht unterstützt. Mit einem solchen Verhalten — erst recht, wenn es sogar rechtswidrig ist — schadet sich ein Unternehmen selbst, da es sich negativ auf das Betriebsklima und die Motivation der Mitarbeiter auswirkt.

4.7

Der EWSA verweist auf wissenschaftliche Untersuchungen der Prognos AG, denen zu Folge sich die Umsetzung von Maßnahmen, die gezielt auch dem Familien- und Privatleben dienende berechtigte Belange der Arbeitnehmerschaft fördern, in Unternehmen betriebswirtschaftlich rechnen, da diese personalpolitischen Instrumente die Fehlzeiten senken und die Mitarbeiterbindung sowie die Motivation und die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten erhöhen. Zusätzlich stärkt eine solche Personalpolitik die Arbeitsplatzattraktivität, insbesondere wenn sie auch den Arbeitnehmerinnen mit Familienpflichten den Aufstieg und Verbleib in Führungsfunktionen erleichtern. Eine solche Unternehmenskultur sichert zudem ein gutes Betriebsklima und wirkt als ein positiver Standortfaktor in der jeweiligen Region.

4.8

Der EWSA weist darauf hin, dass im Zusammenhang mit der Einführung von flexiblen Arbeitszeitmodellen der Flexicurity-Ansatz berücksichtigt werden sollte. Im Kontext der Lissabon-Strategie bietet Flexicurity einen integrierten Arbeitsmarktreformansatz, der notwendige oder gewünschte Flexibilitäten fördert und diese gleichzeitig mit dem erforderlichen Maß an Sicherheit und Planbarkeit für alle Beteiligten verbindet. Zwischen den Sozialpartnern ausgehandelte Flexibilität muss auf eine Win-win-Situation für Unternehmen und Arbeitnehmer(innen) abzielen. Den Anpassungserfordernissen der Unternehmen an Markterfordernisse soll ebenso Rechnung getragen werden, wie dem steigenden Flexibilisierungsinteresse der Arbeitnehmer, zum Beispiel im Hinblick auf die Gestaltung ihrer Arbeitszeit, um familiären oder anderen außerbetrieblichen Belangen des Privatlebens besser Rechnung tragen zu können; dabei muss die Sicherheit der Arbeitsverhältnisse weiter gewährleistet bleiben und Prekarität vermieden werden. Zielführend sind hier individuelle und bedarfsgerechte Lösungen, die in der Regel von den Sozialpartnern ausgehandelt werden. Der EWSA betont, dass in der Flexicurity-Debatte der unterschiedlichen Betroffenheit der Geschlechter mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muss (6).

4.9

Die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben ist umso erfolgreicher, je stärker die einzelnen Instrumente zur Vereinbarkeit in der betrieblichen Realität gelebt werden. Der Umsetzung auf nationaler Ebene muss daher größtmögliche Bedeutung geschenkt werden.

4.10

Der EWSA sieht von Sozialpartnern mitgetragene Unternehmenswettbewerbe als ein mögliches geeignetes Instrument an, familien- und frauenfreundliche Beispiele öffentlich zu kommunizieren und zur Nachahmung zu empfehlen. Neue innovative Instrumente, wie

die Einrichtung von Spielzimmern für Mitarbeiterkinder,

Betriebskindergärten bis hin zu einem

Generationennetzwerk im Unternehmen, das ehrenamtliche Dienste, wie das Erledigen von Behördengängen und Einkäufen von pensionierten Mitarbeitern für junge Mitarbeiter mit Familienverantwortung koordiniert,

werden durch Unternehmenswettbewerbe einer breiten Öffentlichkeit präsentiert.

4.11

Dabei ist es einsichtig, dass der Vielzahl kleiner oder mittlerer Unternehmen, die die Mehrheit der Unternehmen in der EU stellen, die Mittel für solch attraktive Angebote fehlen; deshalb sind spezifische Steueranreize zu erwägen. Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen sind die engeren sozialen Kontakte ein Garant dafür, dass sich die Beteiligten auf individuelle, ganz praxis- und zeitnahe Lösungen für die einzelnen Mitarbeiter verständigen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass sich in einer Region mehrere kleinere Unternehmen mit den lokalen Körperschaften, Bürgervereinigungen und nichtstaatlichen Organisationen für gemeinsame Angebote zusammenschließen, um zum einen sich selbst als Unternehmen und zum anderen ihren regionalen Standort aufzuwerten.

5.   Praxisnahe Initiativen auf regionaler und lokaler Ebene

5.1

Um die Rahmenbedingungen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben ganz praktisch und realitätsnah zu verbessern, ist es besonders hilfreich, wenn die unterschiedlichsten lokalen Akteure zu einem aufeinander abgestimmten Verhalten kommen. Deshalb ermutigt der EWSA die Sozialpartner zu Initiativen auf regionaler und lokaler Ebene, um engagierte Akteure (Unternehmer, Betriebsräte, Elternkreise, Glaubensgemeinschaften, Sportvereine, Kommunalvertreter usw.) in Städten und Gemeinden zusammenzubringen, mit dem Ziel, das lokale Lebensumfeld so miteinander abgestimmt zu gestalten, dass betriebliche, familiäre und private Belange bestmöglich vereinbart werden können. Veränderungen vor Ort bewirken unmittelbare praktische Unterstützung für alle Beteiligten. Der Aktionsbereich unterschiedlichster lokaler Akteure ist extrem vielfältig und offen für alle Formen kreativer Ideen. Einige konkrete Beispiele, die aber beliebig ergänzt werden können:

der Aufbau einer städtischen Website, die über gezielte Angebote für Familien informiert;

die Einrichtung von Datenbanken zur Vermittlung von Kinderbetreuungsplätzen;

Großelternservicestellen, die junge Familien ohne Großeltern und ältere Menschen ohne Familien zusammenbringen;

eine Schulwegbetreuung;

Unterstützung von Freiwilligenorganisationen und Freiwilligen, die sich in ihrer Freizeit um die Betreuung von Kindern kümmern,

Workshops über familienfreundliche Stadtentwicklung, um die Abwanderung von jungen Familien zu stoppen;

Mentoringprogramme für Familienväter, die in Teilzeit arbeiten;

die Umgestaltung von Schulbusplänen, die es Eltern erleichtern, ihren Arbeitsbeginn mit dem Schulbeginn besser zu koordinieren;

die Flexibilisierung von Kindergartenöffnungszeiten;

Unternehmensveranstaltungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, bei denen Unternehmen ihre familienfreundliche Personalpolitik der Öffentlichkeit vorstellen;

Kinderfreundlichkeitsprüfung für alle kommunalen Entscheidungen.

6.   Kinderbetreuungseinrichtungen und Pflege älterer Angehöriger

6.1

Der EWSA weist darauf hin, dass in dem zweiten Fortschrittsbericht der EU-Kommission zur Umsetzung der Lissabon-Strategie, der Mitte Dezember 2006 (7) vorgelegt wurde, darauf verwiesen wird, dass in mehreren Mitgliedstaaten die Verfügbarkeit bezahlbarer Kinderbetreuungen ein Problem ist. Die Mitgliedstaaten werden daher aufgefordert, gemäß ihren eigenen Zielen mehr Kinderbetreuungen von hoher Qualität anzubieten, die für alle zugänglich sind.

6.2

Darüber hinaus hat der Europäische Rat 2002 in Barcelona (8) beschlossen, dass in den Mitgliedsländern bis zum Jahr 2010 für 90 % der Kinder zwischen drei Jahren und dem Schuleintritt und für 33 % der Kinder unter drei Jahren ein Betreuungsplatz zur Verfügung stehen sollte.

6.3

Gerade auch im Zusammenhang mit den veränderten Rollenbildern von Frauen und Männern ist es wichtig, dass die Sozialpartner verdeutlichen, dass die kindliche Entwicklung durch eine Berufstätigkeit der Mutter oder durch eine Familienarbeit des Vaters nicht negativ beeinflusst wird.

6.4

Vor dem Hintergrund der großen Variationsbreite an Betreuungsplätzen für unter 3-Jährige in den einzelnen Mitgliedsländern empfiehlt der EWSA mit Nachdruck, dass sich jeder Mitgliedstaat hinsichtlich der Betreuungsinfrastruktur für Kinder unter drei Jahren konkret quantifizierte Ziele setzt. Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten, sollte im Minimum für 33 % aller Kinder unter drei Jahren bis zum Jahr 2010 ein Platz in einer Kindertageseinrichtung oder bei einer qualifizierten Tagesmutter vorhanden sein.

6.5

Der EWSA sieht es als notwendig an, dass der Ausbau der Kinderbetreuung in den EU-Mitgliedstaaten einen höheren Stellenwert als bisher erhält und durch politische Maßnahmen weiter forciert und unterstützt wird.

6.6

Mit der Stellungnahme „Die Familie und die demografische Entwicklung“ (9) hat der EWSA ausführlich auf den demografischen Wandel in der Europäischen Union und dessen Konsequenzen für die Familien hingewiesen. Der Anstieg der Lebenserwartung kann für viele Menschen einen Gewinn an Lebensqualität bedeuten. Die steigende Lebenserwartung wird aber auch dazu führen, dass sich immer mehr Menschen zukünftig neben dem Beruf um die Pflege älterer Angehöriger kümmern werden müssen. Der Ausbau von Dienstleistungen im Bereich der Pflege sollte daher verstärkt in den Blickpunkt rücken, um pflegende Angehörige zu entlasten.

6.7

Aufgabe der Sozialpartner in diesem Themenfeld kann es sein, über Instrumente, die sich in der Praxis bereits bewährt haben, zu informieren. Hierzu können zum Beispiel eine kurzfristige Anpassung der Arbeitszeiten an den häufig plötzlich eintretenden Pflegefall gehören; eine pflegeerleichternde Arbeitsplatzausstattung, d.h. der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin ist telefonisch erreichbar und hat Zugang zu Computern und Internet, um Betreuungsangelegenheiten regeln zu können und die Bereitstellung von Informationsmaterial über die organisatorischen, finanziellen und rechtlichen Aspekte der Pflegesituation.

7.   Ausblick

7.1

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben unausweichlich mit der Verwirklichung der Chancengleichheit verbunden ist und diese Vereinbarkeit durch die von den Sozialpartnern diesbezüglich angestrebten Ziele, sobald sie erreicht sind, gefördert wird. Damit sie eine Selbstverständlichkeit wird, sollten Bildungsprogramme für Kinder zeigen, dass die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben normal und notwendig ist.

7.2

Der EWSA bittet den Rat, das Europäische Parlament und die Kommission, die in dieser Sondierungsstellungnahme gemachten Vorschläge bei ihrer zukünftigen Arbeit zu berücksichtigen und mitzutragen, um die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben in Europa weiter zu verbessern.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  KOM(2006) 92 endg.

(2)  BUSINESSEUROPE (ehemals UNICE) ist der Dachverband der europäischen Arbeitgeber- und Industrieverbände, UEAPME ist der europäische Verband des Handwerks und der KMU, CEEP ist der Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft, der EGB ist der europäische Gewerkschaftsbund.

(3)  http://ec.europa.eu/employment_social/news/2005/mar/gender_equality_en.pdf.

(4)  Siehe die EWSA-Sondierungsstellungnahme vom 14.3.2007 zu dem Thema „Überalterung der Bevölkerung: Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Haushalte“, Berichterstatterin: Frau FLORIO (ABl. C 161 vom 13.7.2007).

(5)  Siehe dazu die EWSA-Sondierungsstellungnahme vom 14.3.2007 zum Thema „Die Familie und die demografische Entwicklung“, Berichterstatter: Herr BUFFETAUT (ABl. C 161 vom 13.7.2007).

(6)  Siehe dazu die EWSA-Sondierungsstellungnahme vom 12.7.2007 zum Thema „Flexicurity (die Dimension der internen FlexibilitätTarifverhandlungen und Sozialer Dialog als Instrumente der Arbeitsmarktregulierung und -reform)“, Berichterstatter: Herr JANSON (ABl. C 97 vom 28.4.2007).

(7)  KOM(2006) 816 endg., „Mitteilung der Kommission für die Frühjahrstagung des Europäischen RatesUmsetzung der erneuerten Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung ‚Ein Jahr der Ergebnisse‘“.

(8)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes: Europäischer Rat von Barcelona am 15./16. März 2002.

(9)  Siehe dazu die EWSA-Sondierungsstellungnahme vom 14.3.2007 zum Thema „Die Familie und die demografische Entwicklung“, Berichterstatter: Herr BUFFETAUT (ABl. C 161 vom 13.7.2007).


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/108


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Flexicurity (die Dimension der internen Flexibilität — Tarifverhandlungen und Sozialer Dialog als Instrumente der Arbeitsmarktregulierung und -reform)“

(2007/C 256/20)

Mit Schreiben vom 13. Februar 2007 ersuchte der portugiesische Ratsvorsitz den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr JANSON.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) mit 163 gegen 2 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt das Ersuchen des portugiesischen Ratsvorsitzes um Erarbeitung einer Stellungnahme zum Thema „Flexicurity“, da es in der einschlägigen Debatte bisher fast ausschließlich um die Erhöhung der externen Flexibilität und um die Möglichkeiten, durch den Ausbau von Arbeitsmarktmaßnahmen bzw. Sozialschutzbestimmungen einen Ausgleich dafür zu schaffen, gegangen ist. Das Augenmerk sollte aber auf andere Aspekte gerichtet werden, damit letztlich Situationen entstehen können, die für alle Beteiligten von Vorteil sind.

1.2

Der EWSA weist nachdrücklich darauf hin, dass die Rolle der Sozialpartner aufgewertet werden muss. Die Sozialpartner sollten die Hauptakteure in jeglicher Flexicurity-Debatte und vorrangige Konsultationspartner der Europäischen Kommission sein. Die Kommission hätte Anhörungen — insbesondere der europäischen Sozialpartner bezüglich der europäischen Definition des Flexicurity-Konzepts — mehr Bedeutung beimessen sollen.

1.3

Die Stärkung des Systems der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene ist für jegliche Diskussion über Flexicurity erforderlich. Es bedarf eines starken und lebendigen Sozialen Dialogs, an dem die Sozialpartner aktiv beteiligt sind und in dessen Rahmen sie über die Konzipierung und Gestaltung der Flexicurity verhandeln, sie beeinflussen und verantworten sowie die Umsetzung bewerten können.

1.4

Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten bestrebt sein, die Diskussionen über mögliche Reformen, die auf der Grundlage des Flexicurity-Konzepts durchgeführt werden, mit einer Stärkung und Modernisierung der Arbeitsbeziehungen auf allen Ebenen zu verbinden. Der EWSA fordert deshalb eine engere Verknüpfung zwischen der Flexicurity-Debatte und dem Ausbau des Sozialen Dialogs auf allen Ebenen sowie den Tarifverhandlungen auf den jeweiligen Ebenen, wobei die Vielfalt der Systeme der Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedstaaten zu achten ist. Das Konzept der Flexicurity sollte für eine ausgewogene Förderung sowohl der Flexibilität als auch der Sicherheit sorgen. Das Flexicurity-Konzept steht nicht für eine einseitige und ungerechtfertigte Beschneidung der Arbeitnehmerrechte, die vom EWSA abgelehnt wird.

1.5

Der EWSA stellt fest, dass diese Debatte aufgrund der zentralen Rolle der Sozialpartner bei der schrittweisen Ausgestaltung der Flexicurity-Politik auf europäischer Ebene weder vom Inhalt des europäischen Sozialen Dialogs noch von der weiteren Entwicklung des Sozialen Dialogs selbst getrennt werden kann.

1.6

Der EWSA hebt hervor, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten der Gleichstellung von Frauen und Männern und der Solidarität zwischen den Generationen im Bereich der Flexicurity größere Aufmerksamkeit schenken sollten. Frauen, ältere Arbeitnehmer und Jugendliche sind auf dem Arbeitsmarkt in puncto Flexibilität und Sicherheit oft im Nachteil — ein Aufschließen dieser Gruppen muss daher angestrebt werden.

1.7

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten und die Kommission auf zu prüfen, wie die Anpassungsfähigkeit im Wege der internen Flexibilität verbessert werden kann, sodass diese zu einer entwicklungsfähigen und akzeptablen Dimension der Flexicurity ausgestaltet werden kann. Interne Flexibilität kann ausschlaggebend für die Verbesserung von Produktivität, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit sein und somit zum Erreichen der Ziele der Lissabon-Strategie beitragen. Für die Arbeitnehmer kann sie überdies ganz wesentlich zur besseren Vereinbarkeit von Arbeit und sonstigen Tätigkeiten oder Aufgaben beitragen und die Qualität ihrer Beschäftigungsverhältnisse verbessern. Eine Voraussetzung für all dies ist ein Rahmen von Rechtsvorschriften zur Gewährleistung des Beschäftigungs- und Gesundheitsschutzes sowie der Stabilität und Sicherheit für die Arbeitnehmer. Ein mit effizienten Wiedereingliederungs- und aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen verbundener Beschäftigungsschutz ist für die Anpassungsfähigkeit und Sicherheit sowohl der Unternehmen als auch der Arbeitnehmer von entscheidender Bedeutung.

1.8

Nach Auffassung des EWSA sollte ein Ausgleich zwischen Arbeitszeitflexibilität und Arbeitnehmerschutz angestrebt werden; dies kann am besten durch Bestimmungen bewerkstelligt werden, die in Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern und nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten festgelegt werden. Verhandlungen über die Arbeitszeitflexibilität müssen sich auf ein solides Rechtsumfeld, gut funktionierende soziale Einrichtungen und beschäftigungsfreundliche soziale Sicherungssysteme stützen können.

1.9

„Funktionale Flexibilität“ ist ein Schlüsselthema für Tarifverhandlungen zwischen den Sozialpartnern. Im Wege dieser Verhandlungen kann ein Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der Unternehmer und der Arbeitnehmer gefunden, eine Feinabstimmung vorgenommen und ein angemessener Ausgleich für verbesserte Qualifikationen festgelegt werden.

1.10

Die funktionale Flexibilität erfordert eine ständige Verbesserung der fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, die sich auf eine gut funktionierende Bildungs- und Ausbildungsinfrastruktur stützen muss. Auch wenn sich in der Vergangenheit zahlreiche Verantwortliche zum Konzept des lebenslangen Lernens bekannt haben, bleibt in der Praxis noch viel zu tun.

2.   Hintergrund

2.1

Der portugiesische Ratsvorsitz hat den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum Thema „Flexicurity“ ersucht, in der Folgendes behandelt werden sollte:

1)

die Dimension der internen Flexibilität;

2)

die Tarifverhandlungen und die Rolle des Sozialen Dialogs als Instrumente der Arbeitsmarktregulierung und -reform.

2.2

Mehrere beschäftigungspolitische Leitlinien (2005-2008) könnten als Grundlage für die Flexicurity-Debatte dienen. Auf der Frühjahrstagung des Europäischen Rates 2006 erging ein Appell an die Mitgliedstaaten, sich des entscheidenden Problems der Flexicurity (des Gleichgewichts zwischen Flexibilität und Beschäftigungssicherheit) anzunehmen. Die Mitgliedstaaten wurden aufgerufen — entsprechend ihrer jeweiligen Arbeitsmarktlage — bei ihren Reformen des Arbeitsmarkts und der Sozialpolitik ein integriertes Konzept des Gleichgewichts zwischen Flexibilität und Beschäftigungssicherheit zu verfolgen.

2.3

Auf zwei Sozialgipfeln im Zusammenhang mit den Tagungen des Europäischen Rates im Dezember 2006 und im März 2007 wurde das Thema „Flexicurity“ erörtert.

2.4

Die Kommission hat eine Sachverständigengruppe eingesetzt, die Wege zur Flexicurity, d.h. bestimmte Dimensionen der Flexibilität und der Sicherheit im Arbeitsleben vorschlagen soll. Ausgehend von dieser Grundlage legt die Kommission im Juni 2007 eine Mitteilung zur Flexicurity — einschließlich einer Reihe allgemeiner Grundsätze — vor. Im Dezember 2007 sollen die allgemeinen Prinzipien in die neuen Beschäftigungsleitlinien für 2008 aufgenommen werden. Das Grünbuch „Ein moderneres Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ (1), dessen Empfehlungen an anderer Stelle wiedergegeben werden, behandelt auch das Thema Flexicurity unter dem besonderen Blickwinkel des Arbeitsvertrags.

2.5

Der EWSA möchte auch die einschlägige wichtige Arbeit der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Dubliner Stiftung) hervorheben, die zentrale Merkmale der Flexicurity definiert hat.

3.   Dimensionen der Flexicurity-Strategien

3.1

a)

Mit „Flexicurity-Strategien“ sind Strategien gemeint, durch die verschiedene Formen der Arbeitsmarktflexibilität und -sicherheit miteinander in Einklang gebracht werden sollen; dadurch sollen die Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer und Unternehmen verbessert, gleichzeitig aber auch Stabilität und Schutz vor Risiken gewährleistet werden. Es folgen einige Beispiele für Formen der Flexibilität und der Sicherheit:

Beispiele für Formen der Flexibilität

Externe numerische Flexibilität

Anpassung des Beschäftigungsvolumens durch einen Austausch mit dem externen Arbeitsmarkt, einschließlich Entlassungen, Zeitarbeit und befristeter Arbeitsverträge

Interne numerische Flexibilität

Zeitweilige Anpassung des Arbeitspensums innerhalb eines Unternehmens, einschließlich atypischer Arbeitszeiten und Zeitkonten

Interne funktionale Flexibilität

Organisation der Flexibilität in einem Unternehmen durch Ausbildung, Multifunktionalität (multi-tasking) und Arbeitsplatzrotation (job-rotation), die auf der Fähigkeit der Arbeitnehmer beruhen, mehrere Aufgaben und Tätigkeiten zu übernehmen

Finanzielle Flexibilität

Abstufung des Grund- und Zusatzlohns entsprechend der Leistung des Arbeitnehmers bzw. des Unternehmens

Beispiele für Formen der Sicherheit

Arbeitsplatzsicherheit

Sicherheit aufgrund von Beschäftigungsschutzvorschriften usw., die willkürliche Kündigungen durch den Arbeitgeber untersagen

Beschäftigungssicherheit

Angemessene Beschäftigungsmöglichkeiten durch hohe Beschäftigungsfähigkeit z.B. durch Aus- und Weiterbildung

Einkommenssicherheit

Gewährleistung angemessener und stabiler Einkommen

Kombinationssicherheit

Möglichkeit eines Arbeitnehmers/einer Arbeitnehmerin, seinen/ihren Beruf mit unentgeltlichen Tätigkeiten oder Aufgaben zu vereinbaren

b)

Aus der Debatte auszuklammern ist die Rechtssicherheit des Arbeitsvertrags, dessen Klauseln wegen seiner Rechtsnatur vor Gericht einklagbar sind. Diese Sicherheit beinhaltet das Fortbestehen des ebenfalls zum Wesenskern des Vertrags gehörenden Beschäftigungsverhältnisses mit all dem, was es für den Arbeitnehmer im Hinblick auf Wahrung und Anwendung aller Sozialschutzrechte mit sich bringt.

3.2

Entsprechend den Vorgaben der Kommission sowie angeregt durch bestimmte Aspekte des dänischen Beispiels drehte sich die europäische Flexicurity-Debatte bisher vornehmlich um die Erhöhung der externen Flexibilität sowie die Möglichkeit, durch verstärkte Arbeitsmarktmaßnahmen bzw. Sozialschutzbestimmungen einen Ausgleich für eine solche Steigerung zu schaffen. Nutzen und Nachteile der externen Flexibilität sind ein Thema, an dem die Auffassungen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden oft auseinander gehen. Wie die OECD (2) unlängst feststellte, wirken sich Beschäftigungsschutzvorschriften nur unerheblich auf die Gesamtbeschäftigungsrate aus. Zudem hat die ILO nachgewiesen, dass eine positive Korrelation zwischen Beschäftigungsdauer und Produktivität (siehe Anhang) besteht.

3.3

Mit dieser Stellungnahme soll die Flexicurity-Debatte in dreierlei Hinsicht ausgeweitet werden. Erstens soll in der Stellungnahme darauf hingewiesen werden, dass die Rolle der Sozialpartner in dieser Debatte und bei den Arbeitsmarktreformen im Allgemeinen aufgewertet werden muss. Zweitens drängt der Ausschuss darauf, in der Flexicurity-Debatte die auf dem Arbeitsmarkt zwischen Frauen und Männern bestehenden Unterschiede und dabei die Gruppe der jungen Menschen stärker zu berücksichtigen, da die Frage der Gleichstellung bisher weitgehend ausgespart worden ist. Obwohl die meisten Frauen und Männer mehr Flexibilität durch Teilzeitarbeit wegen der Erleichterung der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben befürworten, sind Frauen auf dem Arbeitsmarkt in puncto Flexibilität und Arbeitsplatzsicherheit oft im Nachteil — daher muss eine Aufwärtskonvergenz mit Männern angestrebt werden (3). Drittens hält es der EWSA für wichtig, eine derartige Ausweitung durch die Ermittlung alternativer Wege zur Erzielung der Anpassungsfähigkeit, zur Erleichterung des lebenslangen Lernens, zur Produktivitätsverbesserung und zur Innovationsförderung — wesentliche Aspekte des Lissabon-Prozesses — zu erreichen. Diese Themen hat der Ausschuss bereits in seiner Stellungnahme über die Beschäftigungsleitlinien (4) aufgegriffen. Daher wird in dieser Stellungnahme das Thema der externen Flexibilität nicht erörtert, vielmehr wird der Schwerpunkt auf die Verbesserung der Anpassungsfähigkeit durch interne Flexibilität gelegt.

3.4

Flexicurity ist für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) angesichts ihrer Relevanz für die Beschäftigung von besonderer Bedeutung. Folglich müssen künftige Politiken der Mitgliedstaaten im Bereich der Flexicurity Bestimmungen enthalten, die den Bedürfnissen der KMU und ihrer Arbeitnehmer Rechnung tragen.

3.5

Der EWSA betont, dass die Grundlage aller Flexicurity-Modelle durch einen Sozialstaat, der ein hohes Sozialschutzniveau garantieren kann, eine Kostenübernahme durch mit ausreichenden Mitteln ausgestattete öffentliche Dienste sowie einen stabilen Rechtsrahmen für Tarifverhandlungen und den Sozialen Dialog gebildet wird. Allgemeine Sozialsysteme können die Mobilität verbessern, indem sie gewährleisten, dass Arbeitnehmer durch Veränderungen, die ihren Arbeitsplatz betreffen, nicht schlechter gestellt werden. Ein stabiler Rechtsrahmen für Tarifverhandlungen und den Sozialen Dialog bietet starken Sozialpartnern die Möglichkeit, in wesentlichen Arbeitsmarktfragen zu einer Einigung zu gelangen.

4.   Flexicurity und Sozialpartner

4.1

Flexicurity führt zu Festlegung des Gleichgewichts zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Bezug auf ihre Rechte und Pflichten. Der Soziale Dialog und Tarifverhandlungen sind Kerninstrumente bei der Gestaltung und Umsetzung jeglicher Arbeitsmarktreform, d.h. auch des Flexicurity-Konzepts. Deshalb unterstreicht der EWSA, dass die Sozialpartner Protagonisten einer jeden Flexicurity-Debatte auf allen Ebenen sind. Die Sozialpartner sollten bei der Bestimmung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Flexibilität und Sicherheit immer häufiger eine entscheidende Rolle spielen und dadurch zur Verbesserung und Legitimierung der Regeln des Arbeitsmarkts beitragen.

4.2

Was die europäische Ebene betrifft, so erkennt der EWSA die Tatsache an, dass die Kommission die Sozialpartner über ihre Pläne hinsichtlich dieser Debatte informiert hat. Er ist jedoch der Auffassung, dass die Kommission in diesem Fall insbesondere der Anhörung der europäischen Sozialpartner bezüglich der europäischen Definition des Flexicurity-Konzepts mehr Bedeutung hätte beimessen sollen. Ohne die enge Einbeziehung und das Engagement der Sozialpartner wird es schwierig sein, jede wie auch immer geartete Flexicurity-Strategie umzusetzen.

4.3

In seiner Stellungnahme zum dänischen Flexicurity-System (5) äußerte der EWSA folgende Ansicht: „An der Gestaltung des dänischen Flexicurity-Systems konnten die Sozialpartner an zentraler Stelle mitwirken; sie wurden sowohl in die Entscheidungsprozesse als auch in die Umsetzung der Berufsbildungspolitik und die Umsetzung der Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt miteinbezogen. […] Die Rolle der Sozialpartner ist […] auf die historische Entwicklung zurückzuführen […] Eine größere Partizipation und Mitsprache der Sozialpartner kann sich somit bei den Bemühungen um Wettbewerbs- und Anpassungsfähigkeit als gesellschaftlich nutzbringend erweisen.“

4.4

In seiner Stellungnahme zum europäischen Sozialmodell (6) stellte der EWSA fest: „Was die Grundarchitektur des europäischen Sozialmodells betrifft, lässt sich die tragende Rolle der Sozialpartner in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht hoch genug einschätzen. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei der Regulierungsfunktion der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände im Rahmen von Kollektiv- und Tarifverträgen zu.“

4.5

Die Flexicurity-Agenda sollte deshalb nicht „von oben herab“ festgelegt — also von der Kommission definiert und von den Regierungen der Mitgliedstaaten diskutiert — werden. Die Sozialpartner müssen über die Konzipierung und Gestaltung der Flexicurity verhandeln, sie beeinflussen und verantworten sowie die Umsetzung bewerten können. Da Flexicurity mit dem Sozialen Dialog und den Tarifverhandlungen in engem Zusammenhang steht, verdeutlicht die Flexicurity-Debatte auch diesbezügliche Mängel. Diese Mängel sollten zeitgleich mit der Vorlage der Flexicurity-Agenda angegangen werden. Der EWSA fordert somit eine engere Verknüpfung zwischen der Flexicurity-Debatte und dem Ausbau des Sozialen Dialogs auf allen Ebenen sowie der Tarifverhandlungen auf den entsprechenden Ebenen, wobei die Vielfalt der Systeme der Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedstaaten zu achten ist.

4.6

Der Soziale Dialog auf EU-Ebene ist einzigartig in der Welt, da er den Sozialpartnern im sozialen Bereich das Recht auf die Vereinbarung von Rechtsvorschriften einräumt. In den letzten Jahren hat der Soziale Dialog an Autonomie gewonnen. Die Sozialpartner haben das Recht, Themen von allgemeinem Interesse, die für ein besseres Funktionieren des europäischen Arbeitsmarkts relevant sind, aufzugreifen. Der EWSA stellt fest, dass diese Diskussion — aufgrund der wesentlichen Rolle der Sozialpartner bei der schrittweisen Ausgestaltung der Flexicurity-Politik auf europäischer Ebene — weder vom Inhalt des europäischen Sozialen Dialogs noch von der weiteren Entwicklung des Sozialen Dialogs selbst getrennt werden kann. Die Sozialpartner haben in ihrem mehrjährigen Arbeitsprogramm vereinbart, nicht nur bestimmte Aspekte der Flexicurity zu untersuchen, sondern auch auf eine Verständigung über die Instrumente des europäischen Sozialen Dialogs hinzuwirken (7). Zu diesem Punkt äußert sich der EWSA in der Stellungnahme zum Thema „Beschäftigungsfähigkeit und Unternehmergeist — die Rolle der Zivilgesellschaft, der Sozialpartner und der regionalen und lokalen Einrichtungen unter Berücksichtigung des Gender Mainstreamings“ (8).

4.7

In den Mitgliedstaaten gibt es auf allen Ebenen zahllose Beispiele für die Schlüsselrolle der Sozialpartner bei der Steigerung der Flexibilität wie auch der Sicherheit für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Tarifverhandlungen an sich sind nicht nur ein Sicherheitsfaktor für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern ermöglichen auch ein vereinbartes Maß an Flexibilität. In einem Umfeld, das durch zunehmenden Wettbewerbsdruck gekennzeichnet ist, finden Aspekte wie erhöhte interne Flexibilität, verbesserte Aufstiegsmöglichkeiten und verstärkte Rechte im Bereich des lebenslangen Lernens immer häufiger Berücksichtigung. In den Mitgliedstaaten, in denen der Soziale Dialog aufgrund schwacher Arbeitsbeziehungen unzureichend ist, sind die Arbeitnehmer zu sehr den Marktkräften auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt und es besteht oftmals zu wenig Schutz. Der Ausbau und die Modernisierung der Systeme der Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedstaaten sollte in diesen Ländern deshalb Hand in Hand mit einer Diskussion über Flexicurity einhergehen.

4.8

Der EWSA möchte in diesem Zusammenhang eine Reihe von Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern herausstellen:

Dänemark: Tarifvereinbarungen, durch die obligatorische Kündigungsfristen eingeführt wurden, um Arbeitnehmern eine bessere Vorbereitung auf eine neue Arbeitsstelle zu ermöglichen;

Schweden: Tarifvereinbarungen auf Branchenebene, durch die von den Unternehmen finanzierte und von den Sozialpartnern gemeinsam verwaltete Fonds für „berufliche Übergangsphasen“ geschaffen wurden. Diese Fonds ermöglichen Arbeitnehmern, die die Kündigung erhalten haben, die Teilnahme an Bildungsmaßnahmen, erteilen Berufsberatung oder verschaffen bezahlte Praktika in anderen Firmen — selbst dann, wenn die Arbeitnehmer formal noch bei dem Unternehmen, das die Kündigung ausgesprochen hat, angestellt sind;

Spanien: Eine dreiseitige Vereinbarung über die Einschränkung des Einsatzes befristeter Arbeitsverträge, die auf dem Grundsatz beruht, dass ein zu hoher Anteil befristeter Arbeitsverträge nicht im gemeinsamen Interesse von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist;

Deutschland: Tarifvereinbarungen mit der Möglichkeit zur flexiblen Gestaltung der Arbeitszeit- und Arbeitsorganisation in einem begrenzten Rahmen, ausgefüllt und umgesetzt unter Mitbestimmung der betrieblichen Interessenvertretungen.

Der EWSA ist auch der Auffassung, dass die von den europäischen Sozialpartnern geschlossenen Vereinbarungen über befristete Arbeitsverträge, Elternurlaub, Teilzeit- und Telearbeit usw. Teil eines Flexicurity-Konzepts sind, das zur Sicherheit und Flexibilität von Arbeitnehmern und Arbeitgebern beiträgt.

4.9

Damit die Sozialpartner im Hinblick auf die Erreichung eines sozial akzeptablen Gleichgewichts zwischen Flexibilität und Sicherheit über zentrale Arbeitsmarktfragen verhandeln können, muss es einen einzelstaatlichen Rechtsrahmen geben, der die Sozialpartner motiviert, eigene Beiträge zu leisten und Flexicurity-Fragen effektiv anzugehen. Beschäftigungsschutzvorschriften und ein solider Rechtsrahmen können es den Sozialpartnern ermöglichen, Abkommen zur Förderung des Engagements von Arbeitnehmern, ihrer Mitarbeit und ihrer Bereitschaft zur Weiterbildung auszuhandeln, was sich auf die Gesamtbeschäftigung und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit positiv auswirkt. Die Beiträge der Sozialpartner gewährleisten, dass sowohl die Interessen der Unternehmen als auch die Interessen der Arbeitnehmer Beachtung finden. Ein mit effizienten Wiedereingliederungs- und aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen verbundener Beschäftigungsschutz ist für die Anpassungsfähigkeit und Sicherheit sowohl der Unternehmen als auch der Arbeitnehmer von entscheidender Bedeutung.

4.10

Die Sozialpartner könnten dazu beitragen, die geregelte Mobilität zu fördern und den Arbeitsplatzwechsel attraktiv zu gestalten. Sie können an der Organisation der kollektiven und vereinbarten Kontrolle der beruflichen Chancen und Rechte mitwirken. Dies würde nach Auffassung des EWSA Aufsplitterungstendenzen entgegenwirken und die Eingliederung verbessern.

5.   Gleichheit der Geschlechter, Solidarität zwischen den Generationen und Flexicurity

5.1

Arbeitsmarktflexibilität und Sicherheit betreffen Männer und Frauen auf unterschiedliche Weise. Frauen befinden sich häufiger in einer prekären und unsicheren, von übermäßiger Flexibilität geprägten Arbeitssituation. Übermäßige Flexibilität, die in manchen Fällen das Risiko prekärer und unsicherer Arbeitsplätze birgt, muss durch eine geeignete Form der Sicherheit ausgeglichen werden. Außerdem haben Frauen aufgrund des Fortbestehens traditioneller Geschlechterrollen mehr Aufgaben im Bereich der Betreuung von Kindern und älteren Menschen sowie mehr Schwierigkeiten, berufliche und außerberufliche Tätigkeiten unter einen Hut zu bringen. Hinzu kommt, dass es trotz Antidiskriminierungsgesetzen weiterhin ein Lohngefälle zwischen Frauen und Männern gibt und Frauen oft einen geringeren Anspruch auf Sozialleistungen (einschließlich Rentenzahlungen) haben. Kurzum: Frauen sind häufiger von den negativen Seiten der Flexibilität betroffen.

5.2

Der EWSA betont, dass die Debatte über Flexicurity eine wichtige geschlechterspezifische Dimension umfassen muss — ein Aspekt, der in der bisherigen Diskussion weitgehend außer Acht gelassen wurde. Es ist wichtig, die Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt durch die Prüfung von Flexibilitäts- und Sicherheitsaspekten zu verbessern und sichere Arbeitsplätze zu fördern, Frauen in die Systeme der sozialen Sicherheit aufzunehmen und Einrichtungen besser zu unterstützen, die die Vereinbarkeit beruflicher und außerberuflicher Tätigkeiten möglich machen. Ein weiterer diskussionswürdiger Aspekt ist die Verteilung der Betreuungs- und Haushaltsaufgaben zwischen Frauen und Männern. In seiner Stellungnahme zum Thema „Die Rolle der Sozialpartner im Bereich der Vereinbarung von Beruf, Familie und Privatleben“ hat der EWSA seine Position zu diesen Fragen im Hinblick auf den portugiesischen Ratsvorsitz weiterentwickelt (9).

5.3

Flexicurity hat nicht nur eine geschlechtsbezogene, sondern auch eine generationenbezogene Dimension. Die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer ist niedriger als die der Erwerbsbevölkerung im Allgemeinen. Darüber hinaus sind junge Menschen in vielen Mitgliedstaaten mit einer unsicheren Beschäftigungssituation konfrontiert, die sich durch hohe Arbeitslosigkeit, befristete Arbeitsverträge, ungenügende soziale Absicherung und Arbeit unter dem Qualifikationsniveau auszeichnet.

5.4

Der EWSA (10) hat bereits betont, dass jeder Mensch eine seiner Ausbildung und seinen Berufserfahrungen entsprechende Arbeit ohne Diskriminierung aufgrund des Alters ausüben können sollte und dass die Mitgliedstaaten die Richtlinie zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (2000/78/EG) umsetzen und anwenden müssen. Der EWSA hat auch eine Politik zur Förderung hochwertiger Arbeitsplätze gefordert, um mehreren Generationen von Bürgerinnen und Bürgern während ihres gesamten Arbeitslebens Orientierungshilfen und Ausbildungsmaßnahmen zu bieten. Das impliziert eine proaktive Rolle der Sozialpartner und aller relevanten wirtschaftlichen und sozialen Akteure auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene.

5.5

Die europäischen Sozialpartner haben einen Aktionsrahmen für die Gleichstellung von Frauen und Männern festgelegt, der auch in der Flexicurity-Debatte herangezogen werden kann. Dieser Aktionsrahmen sieht vier Prioritäten vor: Umgang mit Geschlechterrollen, Förderung von Frauen als Entscheidungsträgerinnen, Förderung der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben und Beseitigung des geschlechterspezifischen Lohngefälles.

5.6

Bei den im vorhergehenden Abschnitt dargelegten Erwägungen wie auch im Dialog zwischen den Sozialpartnern sollte dem Problem von Arbeitnehmern mit Behinderungen und jungen Studierenden die gleiche Bedeutung beigemessen werden.

6.   Flexicurity und interne Flexibilität

6.1

Interne Flexibilität ist in der Flexicurity-Debatte ein bisher kaum berücksichtigtes Thema. Die interne Flexibilität umfasst die Aspekte Arbeitszeitflexibilität und funktionale Flexibilität und verbessert die Anpassungsfähigkeit. Dies ist eine der Fragen, bei denen die Sozialpartner über umfangreiche Erfahrungen mit der Aushandlung von Tarifverträgen, die zu positiven Ergebnissen geführt haben, verfügen. Die interne Flexibilität ist ein Schlüsselfaktor bei der Förderung von Produktivität, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit und kann damit zur Verwirklichung der Lissabon-Ziele beitragen. Sie ist auch ein möglicher wichtiger Faktor, der es Arbeitnehmern erlaubt, ihren Beruf mit anderen Tätigkeiten und Aufgaben besser unter einen Hut zu bringen, und der zu einer besseren Qualität ihrer Arbeit beiträgt. In beiden Fällen kann sie Stabilität und Planungssicherheit schaffen. Die interne Flexibilität kann jedoch auch ausufern, was dann zu schlechten Arbeitsbedingungen und unsicheren Arbeitsverhältnissen führt, ein Gleichgewicht zwischen beruflichen und außerberuflichen Tätigkeiten erschwert oder sogar negative Folgen für die Qualität von Waren und die Erbringung von Dienstleistungen für die Verbraucher hat. Deshalb ist diese Form der Flexibilität nur wünschenswert, wenn sie das Ergebnis von Tarifverhandlungen ist und im Rahmen von Rechtsvorschriften zur Gewährleistung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sowie der Stabilität und Sicherheit für die Arbeitnehmer ausgestaltet wird. Die Umsetzung einer am Verhandlungstisch vereinbarten internen Flexibilität innerhalb eines solchen Rechtsrahmens ist ein praktischer Ansatz, der zum Ziel hat, die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit mit der Verbesserung der Qualität der Beschäftigung und des Arbeitslebens zu verbinden.

6.2   Arbeitszeitflexibilität

6.2.1

„Arbeitszeitflexibilität“ bezieht sich auf die Verteilung der in Tarifvereinbarungen und/oder gesetzlich festgelegten normalen Wochenarbeitszeit über einen längeren Zeitraum. Sie kann Unternehmen dadurch zugute kommen, dass sie Möglichkeiten eröffnet, Nachfrage- oder Personalschwankungen auszugleichen und Kapitalinvestitionen uneingeschränkt zu nutzen, z.B. durch den Einsatz von Überstunden, Gleitzeit in festgelegten Zeitabschnitten oder Schichtarbeit. Auf diese Weise kann die Arbeitszeitflexibilität die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit fördern.

6.2.2

Arbeitszeitflexibilität kann sich auch auf die Verteilung der Arbeitszeit während des gesamten Berufslebens einer Person und auf die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben (nicht aber auf die Länge der Standard-Arbeitswoche) beziehen. Arbeitnehmer können auch von solchen Formen der Arbeitszeitflexibilität profitieren, indem ihnen die Möglichkeit eingeräumt wird, berufliche und außerberufliche Tätigkeiten und Aufgaben auf positive Weise zu verbinden, z.B. mittels Gleitzeitsystemen, Arbeitszeitkonten, Eltern- oder Bildungsurlaub, eines Wechsels zwischen Vollzeit- und Teilzeitarbeit.

6.2.3

Nach Auffassung des EWSA sollte es vermieden werden, die Arbeitszeitflexibilität allein zum Nutzen der Unternehmen auszuweiten und dabei den notwendigen Schutz der Arbeitnehmer außer Acht zu lassen (11). So sollten Arbeitszeitmodelle „[…] auch den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an mehr Zeitsouveränität und insbesondere auch der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie entgegen[kommen]. Außerdem ermöglichen sie die Achtung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der von wesentlicher Bedeutung ist.“ (12)

6.2.4

Zu diesem Zweck sollte nach Einschätzung des EWSA ein Gleichgewicht zwischen Arbeitszeitflexibilität und Arbeitnehmerschutz angestrebt werden, und zwar am besten durch Regeln, die in Tarifverhandlungen festgelegt wurden. In diesem Sinne hat sich der EWSA bereits in einer früheren Stellungnahme geäußert: „Deshalb ist die Ausgestaltung der Arbeitzeitregeln in Tarifverträgen von grundlegendem Interesse für die Sozialpartner, die in diesen Fragen große Sachkenntnis und Erfahrung besitzen.“ (13)

6.2.5

Derartige Verhandlungen über die Arbeitszeitflexibilität erfordern einen angemessenen Verhandlungsrahmen sowie einen soliden Rahmen an Rechten und die Unterstützung durch soziale Einrichtungen. Dazu gehören Rechtsvorschriften, die Stabilität und Schutz für Arbeitnehmer und Sozialschutz für Teilzeitkräfte gewährleisten sowie Elternurlaubsregelungen und die Schaffung von Kinder- und Altenbetreuungseinrichtungen erleichtern. Es ist wichtig, dass die Rechtssetzung flexibel und neutral ist und es den Sozialpartnern dadurch ermöglicht, angemessene Lösungen zu finden.

6.3   Funktionale Flexibilität

6.3.1

Unter „funktionaler Flexibilität“ wird die optimale Nutzung der Fähigkeit der Arbeitnehmer zur Wahrnehmung unterschiedlicher Arbeitsaufgaben verstanden, die durch Arbeitsplatzrotation (job rotation), Arbeitserweiterung (job enlargement) und Arbeitsbereicherung (job enrichment) erreicht werden kann. Die funktionale Flexibilität kann im Interesse der Unternehmen sein, da sie es diesen ermöglicht, die Tätigkeit der Arbeitnehmer den Nachfrage- und Personalschwankungen anzupassen sowie die Humanressourcen und Kapitalinvestitionen produktiver einzusetzen. Sie kann aber auch im Interesse der Arbeitnehmer sein, da sie deren Möglichkeiten der persönlichen Entwicklung, des Lernens und der Beschäftigungsfähigkeit, ihre Arbeitszufriedenheit und ihre Einkommenssituation verbessert.

6.3.2

Die funktionale Flexibilität kann ein wichtiger Faktor bei der Verwirklichung der Lissabon-Ziele der Verbesserung von Produktivität, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit sein. Wie u.a. die Dubliner Stiftung nachgewiesen hat, wirkt sich die funktionale Flexibilität positiv auf die Entwicklung und den Erhalt von Kompetenzen aus, was wiederum einen positiven Einfluss auf die Produktivität hat (14).

6.3.3

Die funktionale Flexibilität erfordert jedoch sichere Beschäftigungsverhältnisse, menschenwürdige Arbeitsbedingungen, Mitsprache und Formen der Zusammenarbeit. Der EWSA vertrat bereits in einer früheren Stellungnahme die Auffassung, dass „sichere Arbeitsplätze und gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen sowie Formen der Arbeitsorganisation, die den Beschäftigten mehr Handlungsspielräume bei der Arbeit einräumen, ein wichtiger Faktor zur Steigerung von Produktivität und damit der Innovationsfähigkeit [sind] […]“ (15). In derselben Stellungnahme stellte er auch fest: „Kooperative Arbeitsformen mit flachen Hierarchien und größerer Arbeitsautonomie wie Gruppen- und Teamarbeit ermöglichen es, die Kenntnisse und Fähigkeiten der Menschen umfassend zu nutzen und tragen zugleich den gestiegenen Flexibilitätsanforderungen in der Wirtschaft Rechnung. Gute Arbeitsbedingungen und Formen der Arbeitsorganisation, die Handlungsspielräume und Beteiligungsmöglichkeiten eröffnen, sind zugleich eine wesentliche Voraussetzung zur Verbesserung der Arbeitsproduktivität und Stärkung der Innovationsfähigkeit der Unternehmen“ (16).

6.3.4

Die Dubliner Stiftung hat allerdings auch darauf hingewiesen, dass die funktionale Flexibilität zu mehr Arbeitsdruck und Stress führen kann. Sie betont deshalb, dass ein Gleichgewicht zwischen Anforderungen und Kontrolle am Arbeitsplatz gefunden werden muss, um einer chronischen Erschöpfung der Arbeitnehmer vorzubeugen (17).

6.3.5

Ein Grundelement der Strategie zur Förderung der funktionalen und der internen Flexibilität im Allgemeinen sollte das lebenslange Lernen sein. Die Bedeutung des lebenslangen Lernens für die Verbesserung der Kompetenzen, der Karrieremöglichkeiten und der Produktivität von Arbeitnehmern wird in einer Reihe kürzlich verabschiedeter Stellungnahmen des EWSA herausgestellt (18). Die funktionale Flexibilität erfordert eine ständige Verbesserung der fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, die sich auf eine gut funktionierende Bildungs- und Ausbildungsinfrastruktur stützen muss. Auch wenn sich in der Vergangenheit zahlreiche Verantwortliche zum Konzept des lebenslangen Lernens bekannt haben, bleibt in der Praxis noch viel zu tun.

6.3.6

Auch funktionale Flexibilität ist ein zentrales Thema für Tarifverhandlungen zwischen den Sozialpartnern. Im Rahmen solcher Verhandlungen können die Bedürfnisse der Unternehmen und der Arbeitnehmer ausbalanciert und eine Feinabstimmung vorgenommen sowie ein angemessener Ausgleich für verbesserte Qualifikationen festgelegt werden.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  KOM(2006) 708 endg., Grünbuch „Ein moderneres Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ und Stellungnahme des EWSA vom 30.5.2007 zum Thema „Modernisierung des Arbeitsrechts“, SOC/246, Berichterstatter: Herr Retureau, ABl C 175 vom 27.7.2007.

(2)  „OECD-Beschäftigungsausblick 2006: Mehr Arbeitsplätze, höhere Einkommen“.

(3)  Derzeit erarbeitete Stellungnahmen zum Thema „Rolle der Sozialpartner/Vereinbarung von Beruf, Familie und Privatleben“, SOC/271, Berichterstatter: Herr Clever, und zum Thema „Beschäftigungsfähigkeit und Unternehmergeist — die Rolle der Zivilgesellschaft, der Sozialpartner und der regionalen und lokalen Einrichtungen unter Berücksichtigung des Gender Mainstreamings“, SOC/273, Berichterstatter: Herr Pariza Castaños.

(4)  Stellungnahme des EWSA vom 31.5.2005 zum Thema „Beschäftigungspolitische Leitlinien 2005-2008“, Berichterstatter: Herr Malosse, ABl. C 286 vom 17.11.2005.

(5)  Stellungnahme des EWSA vom 17.5.2006 zum Thema „Flexicurity nach dänischem Muster“, Berichterstatterin: Frau Vium, ABl. C 195 vom 18.8.2006.

(6)  Stellungnahme des EWSA vom 6.7.2006 zum Thema „Sozialer Zusammenhalt: Ein europäisches Sozialmodell mit Inhalt füllen“, Berichterstatter: Herr Ehnmark (ABl. C 309 vom 16.12.2006).

(7)  Das mehrjährige Arbeitsprogramm der Sozialpartner 2006-2008 umfasst eine gemeinsame Untersuchung der widrigsten Herausforderungen für die europäischen Beschäftigungsmärkte.

(8)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Beschäftigungsfähigkeit und Unternehmergeist — die Rolle der Zivilgesellschaft, der Sozialpartner und der regionalen und lokalen Einrichtungen unter Berücksichtigung des Gender Mainstreamings“, SOC/273, Berichterstatter: Herr Pariza Castaños.

(9)  Derzeit erarbeitete Stellungnahme zum Thema „Rolle der Sozialpartner/Vereinbarung von Beruf, Familie und Privatleben“, Berichterstatter: Herr Clever.

(10)  Stellungnahme des EWSA vom 14.3.2007 zum Thema „Überalterung der Bevölkerung: Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Haushalte“ ECO/186, (Berichterstatterin: Frau Florio), ABl. C 161 vom 13.7.2007.

(11)  Vgl. Stellungnahme des EWSA vom 11.5.2005 zu der Änderung der Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, Ziffer 3.4, Berichterstatterin: Frau Engelen-Kefer, ABl. C 267 vom 27.10.2005.

(12)  Ebd., 3.6.

(13)  Stellungnahme des EWSA vom 1.7.2004 zum Thema „Überprüfung der Richtlinie 93/104/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung“, Ziffer 2.2.6, Berichterstatter: Herr Hahr, ABl. C 302 vom 7.12.2004.

(14)  http://eurofound.europa.eu/ewco/2004/02/NL0402NU03.htm.

(15)  Stellungnahme des EWSA vom 13.9.2006 zum Thema „Qualität des Arbeitslebens, Produktivität und Beschäftigung im Kontext von Globalisierung und demographischem Wandel“, Ziffer 1.3, Berichterstatterin: Frau Engelen-Kefer, ABl. C 318 vom 23.12.2006.

(16)  Ebd., Ziffer 1.4.

(17)  http://eurofound.europa.eu/ewco/2004/02/NL0402NU03.htm.

(18)  Stellungnahme des EWSA zum „Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen“, Berichterstatterin: Frau Herczog, ABl. C 195 vom 18.8.2006 und Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ausbildung und Produktivität“ (Sondierungsstellungnahme), Berichterstatter: Herr Koryfidis, ABl. C 120 vom 20.5.2005.


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/114


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Beschäftigungsfähigkeit und Unternehmergeist — Die Rolle der Zivilgesellschaft, der Sozialpartner und der regionalen und lokalen Einrichtungen unter Berücksichtigung des Gender Mainstreamings“

(2007/C 256/21)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss erhielt am 13. Februar 2007 vom künftigen portugiesischen Ratsvorsitz ein Befassungsschreiben zu obenerwähnter Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr PARIZA CASTAÑOS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) mit 141 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Vorschläge des EWSA

1.1

Die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern in der Unternehmenswelt und auf dem Arbeitsmarkt ist ein ernstes Problem der gesamten europäischen Gesellschaft, d.h. der Männer ebenso wie der Frauen, Unternehmen, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, der Regierungen, Sozialpartner und der Zivilgesellschaft. Nach Ansicht des EWSA ist es an der Zeit, den Gleichstellungspolitiken einen neuen Impuls zu geben, und zwar durch aktive Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt, zur Förderung unternehmerischer Initiative und im Bereich der Organisation des gesellschaftlichen Lebens.

1.2

Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist eine grundlegende Herausforderung für die Zukunft Europas. Deshalb schlägt der Ausschuss vor, die Geschlechterdimension in der Lissabon-Agenda zu stärken und bei der Halbzeitüberarbeitung der integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung folgende Aspekte in die Sozialagenda und die nationalen Reformprogramme aufzunehmen:

1.2.1

Die Mitgliedstaaten sollen den europäischen Pakt für die Gleichstellung der Geschlechter zielstrebig voranbringen und in den nationalen Reformprogrammen eine nationale Gleichstellungsbeauftragte benennen.

1.2.2

Neue spezifische Zielvorgaben für die Gleichstellung der Geschlechter in den Beschäftigungspolitiken unter Angabe qualitativer und quantitativer Indikatoren, da es von vorrangiger Bedeutung ist, dass mehr Frauen unternehmerische Initiative ergreifen, dass sie eine Beschäftigung haben und die Qualität ihrer Beschäftigung verbessert wird.

1.2.3

Genaue Zielvorgaben zum Abbau der Geschlechterstereotype (insbesondere in Schulbüchern), die die unternehmerische Initiative von Frauen einschränken.

1.2.4

Verbesserung der Politikgestaltung: eine angemessene Mitwirkung der Sozialpartner und zivilgesellschaftlichen Organisationen, insbesondere auf lokaler und regionaler Ebene. Die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften müssen aktiv an den nationalen Reformprogrammen mitwirken.

1.2.5

Größere Transparenz bei den öffentlichen und privaten Arbeitsagenturen zur Förderung der Gleichstellung und Beseitigung der Diskriminierung bei der Einstellungspolitik.

1.2.6

Verpflichtung der Aufsichtsbehörden im Finanzdienstleistungssektor um sicherzustellen, dass von Unternehmerinnen gestellte Kreditanträge ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geprüft werden. Notwendig sind auch staatliche Beihilfen für den Kreditzugang, insbesondere für Erstunternehmerinnen.

1.2.7

Klare Zielvorgaben für die Förderung des Zugangs von Frauen und Männern zu allen Berufen in der Hochschullehre und Berufsbildung bei gleichzeitiger Überwindung der kulturellen Stereotype.

1.2.8

Unterstützung und Förderung der Sozialpartner, insbesondere auf sektoraler, lokaler und regionaler Ebene, um im Zuge von Tarifverhandlungen und sozialem Dialog das Geschlechterungleichgewicht zu beseitigen, durch das die Frauen in Unternehmen zweitrangige Positionen besetzen.

1.2.9

Die Gleichstellungsprogramme und Fördermaßnahmen, welche die Sozialpartner vereinbaren und in zahlreichen Unternehmen und Branchen umsetzen, müssen ausgedehnt und von den nationalen, regionalen und lokalen Regierungen unterstützt werden, und zwar auch durch EU-Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds.

1.2.10

Die gemeinschaftlichen Leitlinien müssen die nationalen Ziele für Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen durch präzise Indikatoren unterstützen.

1.2.11

Auf lokaler und regionaler Ebene müssen spezifische Programme für den Beschäftigungszugang und für die Gründung von Unternehmen durch Frauen mit Migrationshintergrund und aus Minderheitengruppen aufgestellt werden.

1.2.12

Erforderlich sind außerdem spezifische Programme und Zielvorgaben für Frauen mit Behinderungen.

1.2.13

Die nationalen Reformprogramme für die Rentenberechnungssysteme müssen verhindern, dass zahlreiche Frauen ihre Rentenansprüche aufgrund von Teilzeitarbeit und durch z.B. familiäre Verpflichtungen bedingte Unterbrechungen ihrer beruflichen Laufbahn verlieren bzw. eine bedeutend niedrigere Rente beziehen. Die Ehegatten von Unternehmern müssen über einen angemessenen Rechtsstatus verfügen.

1.2.14

Die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften sind gehalten, mit den Unternehmen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zusammenzuarbeiten, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten.

1.2.15

Aufgrund der Alterung der heutigen Unternehmergeneration werden zahlreiche Firmenübergaben — insbesondere von KMU — Frauen den Zugang zu Führungspositionen eröffnen. Es ist unabdingbar, diesem Führungswechsel mittels nationaler oder lokaler Bestimmungen, die die Firmenübernahmen durch Frauen begünstigen, den Weg zu ebnen. Auf europäischer Ebene erscheint es angezeigt, diesen Sachverhalt zu untersuchen und eine Bestandsaufnahme der flankierenden Fördermaßnahmen vorzunehmen.

2.   Einleitung

2.1

Die künftige portugiesische EU-Präsidentschaft hat den EWSA ersucht, eine Sondierungsstellungnahme zum Thema „Beschäftigungsfähigkeit und Unternehmergeist — die Rolle der Zivilgesellschaft, der Sozialpartner und der regionalen und lokalen Einrichtungen unter Berücksichtigung des Gender Mainstreamings“ zur Vorbereitung der Arbeiten im Rahmen ihrer Präsidentschaft zu erarbeiten.

2.2

Der EWSA begrüßt den Vorschlag des portugiesischen Ratsvorsitzes, den Konsultationsprozess für die neuen integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung 2008-2010 dadurch zu stärken, dass das Gender Mainstreaming und seine Anwendung durch die Zivilgesellschaft, die Sozialpartner, die lokalen und regionales Einrichtungen und die Regierungen miteinbezogen wird; denn das Gender Mainstreaming, die Gleichstellung von Männern und Frauen, ist eine Herausforderung für die gesamteuropäische Gesellschaft.

2.3

Im Vertrag heißt es unmissverständlich, dass zu den Zielen der EU auch die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, eines hohen Beschäftigungsgrades und der Gleichstellung von Männern und Frauen gehört.

2.4

Die Gleichstellung von Männern und Frauen ist einer der Grundsätze der Europäischen Union, die im Vertrag und in der Grundrechtecharta verankert sind. Die Institutionen und Organe der EU sind verpflichtet, die Diskriminierung von Frauen zu bekämpfen und die Gleichstellung durch entsprechende Rechtsvorschriften und ordnungspolitische Maßnahmen zu fördern.

2.5

Die EU verfügt über einen umfassenden Besitzstand im Bereich der Gleichstellungspolitik. Im Zusammenhang mit der Beschäftigungspolitik und dem Arbeitsrecht sind zwei Richtlinien hervorzuheben: die Richtlinie 2002/73/EG zur „Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen“ und die Richtlinie 2004/113/EG „zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen“.

2.6

Der EWSA hat in den letzten Jahren verschiedene Stellungnahmen verabschiedet (1), die einen Beitrag leisten sollen zur Entwicklung des gemeinschaftlichen Besitzstandes, zur besseren Rechtsetzung und zur Qualität der Gleichstellungspolitik. Der Ausschuss hat die Europäische Beschäftigungsstrategie unterstützt und die erfolgreichen Anstrengungen um Lösung der nationalen und lokalen Probleme im Rahmen eines europaweit koordinierten gemeinsamen Konzeptes gewürdigt. Nach Ansicht des Ausschusses ist es erforderlich, diese Anstrengungen durch vermehrte Maßnahmen und eine bessere Koordinierung zu intensivieren.

2.7

Der EWSA möchte die bislang ergriffenen politischen Maßnahmen bewerten, bewährte Praktiken hervorheben und einige neue Initiativen vorschlagen, damit die Frauen in Europa unternehmerische Initiative entwickeln und auf dem Arbeitsmarkt aktiver werden. Diese Stellungnahme ist Teil der Debatten zur Bewertung und Überarbeitung der Lissabon-Agenda, und die Vorschläge können im Rahmen der Überarbeitung der integrierten Strategie für Wachstum und Beschäftigung und der künftigen nationalen Reformprogramme umgesetzt werden.

3.   Die Lissabon-Agenda

3.1

Die Lissabon-Strategie plädiert für die Erreichung von Vollbeschäftigung in Europa durch Erhöhung der Qualität und Produktivität am Arbeitsplatz und Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, begleitet von einer besseren Politikgestaltung im Rahmen einer an die persönlichen Entscheidungen der Männer und Frauen angepassten Wissensgesellschaft. Erstmals wird eine quantitative Bewertungsgrundlage zur Erreichung der Gleichstellung im Wirtschaftsleben geschaffen, demzufolge die Beschäftigungsquote von Frauen im Jahr 2010 bei 60 % liegen soll.

3.2

Der EWSA arbeitet auf Ersuchen des Europäischen Rates mit den nationalen WSR bei der Umsetzung der Lissabon-Strategie (2) zusammen.

3.3

Trotz der guten Ergebnisse hat die Erfahrung gezeigt, dass die Reformbemühungen im Rahmen der Lissabon-Strategie intensiviert werden müssen, um die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an der Gründung von Unternehmen und am Zugang zur Beschäftigung zu gewährleisten.

3.4

Gleichwohl haben Frauen in Europa nicht dieselben unternehmerischen Chancen wie Männer und auch nicht dieselben Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Diese Erblast sozialer und kultureller Stereotype aus der Vergangenheit hat zur Folge, dass die Beschäftigungsquote von Frauen insgesamt niedriger ist als die von Männern und der Arbeitsmarkt weiterhin gespalten bleibt. In der Regel gehen Frauen einer präkereren und weniger qualifizierten Beschäftigung mit niedrigen Löhnen nach und haben größere Schwierigkeiten bei der Weiterentwicklung ihrer beruflichen Qualifikationen; Unternehmerinnen wird der Zugang zu Krediten erschwert.

3.5

Vor diesem Hintergrund erachtet es der EWSA für notwendig, die Gleichstellungsdimension in der Lissabon-Strategie zu stärken, indem die gemeinschaftlichen und nationalen Ziele dahingehend nachgebessert werden, dass mehr Frauen unternehmerische Initiative ergreifen, dass sie eine Beschäftigung haben und die Qualität ihrer Beschäftigung verbessert wird. Unter Qualität wird hier eine größere berufliche Diversifizierung, Lohngleichheit, höhere Stabilität und Zugang zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg verstanden.

3.6

Im Anschluss an die Halbzeitüberprüfung billigte der Rat im März 2005 den „Neubeginn für die Strategie von Lissabon“, dessen grundlegende Neuerung darin besteht, dass nicht mehr ausschließlich quantitative Ziele im Mittelpunkt stehen, sondern Politiken und die für die Erreichung der Zielvorgaben erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen. Prioritäten sind u.a. die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen. Voraussetzung dafür ist, mehr Menschen an das Erwerbsleben heranzuführen und die Sozialschutzsysteme zu modernisieren, die Anpassungsfähigkeit von Erwerbstätigen und Unternehmen zu steigern, die Flexibilität und Sicherheit der Arbeitsmärkte zu erhöhen und die Investitionen in das Humankapital durch bessere Bildung und Qualifikation zu steigern (3).

3.7

In dieser neuen Lissabon-Agenda wird auch darauf hingewiesen, wie wichtig eine gute Politikgestaltung dank einer wirkungsvolleren politischen Arbeitsweise ist, die für alle Beteiligten, die Mitgliedstaaten, Unionsbürger, Parlamente, Sozialpartner, Zivilgesellschaft und sämtliche Gemeinschaftsinstitutionen im Interesse einer gemeinsamen Vorstellung von Fortschritt und Chancen in der Zukunft verbindlich ist. Nach Ansicht des EWSA sollte die Gestaltung der Lissabon-Agenda dadurch verbessert werden, dass die Zivilgesellschaft, die Sozialpartner und die lokalen und regionalen Einrichtungen stärker einbezogen werden.

3.8

Der EWSA hält es für wichtig, dass die Sozialpartner möglichst frühzeitig in die Ausarbeitung der Leitlinien einbezogen und zu den Aspekten konsultiert werden, die die Einbeziehung der Geschlechterkriterien betreffen.

3.9

Die integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung 2005-2008, auf deren Grundlage die nationalen Reformprogramme der Mitgliedstaaten erstellt werden, stärken das Wesensmerkmal der Geschlechtergleichstellung im Hinblick auf die Erreichung der festgelegten Prioritäten, indem spezifische Maßnahmen für die Beschäftigung von Frauen und die Gleichstellung in allen Maßnahmen kombiniert werden (4).

3.10

Wie bereits in seiner Stellungnahme zu den integrierten Leitlinien für Beschäftigung formuliert, ist es nach Ansicht des EWSA erstaunlich, dass die Leitlinien keine spezielle integrierte Leitlinie zum Thema Gleichberechtigung von Mann und Frau enthalten, obwohl die Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt einer der Hauptpunkte der Lissabon-Strategie ist (5).

3.11

Die Bilanz des Gemeinschaftsprogramms von Lissabon und der nationalen Reformprogramme (6) macht deutlich, dass die Politiken der Chancengleichheit von Männern und Frauen durch Maßnahmen untermauert werden müssen, die die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit ermöglichen.

3.12

Im Gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2006/2007 wird die rasche Zunahme der Beschäftigungsquote bei Frauen begrüßt und erwartet, dass die Zielquote von Lissabon erreicht werden kann (7). Gleichwohl wird darauf hingewiesen, dass es „in den meisten Mitgliedstaaten (…) in den Durchführungsberichten keine Hinweise mehr auf spezifische Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung von Frauen oder zur Reduzierung geschlechterspezifischer Unterschiede (gibt), mit der Ausnahme von Maßnahmen zur Erweiterung des Zugangs zu Kinderbetreuungseinrichtungen. Einige Mitgliedstaaten (AT, BE, DK, DE, ES, IE, IT, LU, PT, UK) haben nationale Ziele für die Zahl der Plätze in Betreuungseinrichtungen für Kinder vorgegeben, aber nur wenige berichten über Fortschritte bei der Erreichung des europäischen Ziels für die Kinderbetreuung. Insgesamt kommt man hier nur langsam voran. Aktionen, bei denen es darum geht, die Kinderbetreuung durch einen Höchstgebührensatz oder verringerte Kosten erschwinglicher zu machen, werden nur in AT, DK, FI, IE, MT und NL hervorgehoben. Auf die Vorstellung, dass die Rolle von Männern bei der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben erweitert werden muss, wird nicht eingegangen. SI hat eine Kampagne eingeleitet, um Männer zu größerer Aktivität im Familienleben zu veranlassen, LT hat Vätern neue Möglichkeiten eröffnet, einen bezahlten Vaterschaftsurlaub zu nehmen, und CZ, DE und EL werden die Möglichkeiten für Väter erweitern, Elternurlaub zu nehmen.“

4.   Der Europäische Pakt für die Gleichstellung der Geschlechter und der „Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern“

4.1

Der „Europäische Pakt für die Gleichstellung der Geschlechter“ (8), der im März 2006 vom Europäischen Rat geschlossen wurde, ist ein qualitativer Fortschritt, da er sämtliche Mitgliedstaaten auf das gemeinsame Ziel verpflichtet, den Anteil der Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen und die Gleichstellung von Frauen und Männern voranzutreiben.

4.2

Der „Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010“ (9) legt sechs Schwerpunkte für EU-Maßnahmen vor: gleiche wirtschaftliche Unabhängigkeit für Frauen und Männer; Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben; ausgewogene Repräsentanz in Entscheidungsprozessen; Beseitigung aller Formen geschlechterbezogener Gewalt; Beseitigung von Geschlechterstereotype; Förderung der Gleichstellung in Außen- und Entwicklungspolitik.

4.3

Mit dem Ziel, die Gleichstellung von Frauen und Männern zu verbessern, werden in dem Fahrplan verschiedene wichtige Aktionsschwerpunkte aufgestellt, und die Kommission verpflichtet sich, die Fortschritte in diesem Bereich genau zu überwachen.

4.4

In seiner Stellungnahme zu dem „Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010“ begrüßt der Ausschuss den politischen Willen der Kommission, die Gleichstellung von Frauen und Männern in ihrem Arbeitsprogramm für den Zeitraum 2006-2010 weiterhin als eine Priorität zu behandeln und betont, dass alle einschlägigen Akteure in die Umsetzung der diesbezüglichen Schwerpunkte eingebunden werden müssen (10).

4.5

Ferner hat der EWSA auch die Gründung des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen unterstützt (11).

4.6

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass der Zeitpunkt gekommen ist, der Gleichstellungspolitik neue Impulse zu verleihen, sei es durch neue, aktive Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt, sei es bei Unternehmensgründungen oder der Organisation des gesellschaftlichen Lebens. In verschiedenen Mitgliedstaaten werden neue Gesetze verabschiedet, um eine echte Gleichstellung von Männern und Frauen in der Politik, in den gesellschaftlichen Organisationen und in den Unternehmen, sowohl unter den Arbeitnehmern als auch in den Führungsebenen und Verwaltungsräten zu verwirklichen. Der EWSA befürwortet generell diese Reformen, die aktive Maßnahmen auf der Grundlage eines angemessenen Rechtsrahmens umfassen, der einen wirkungsvollen Arbeitsschutz gewährleistet und ein unerlässliches Maß an Stabilität und Sicherheit bietet.

5.   Die Empfehlungen des EWSA: Die Gleichstellungsdimension in der Agenda von Lissabon verstärken

5.1

Die Ungleichgewichte und Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in der Unternehmerwelt und auf dem Arbeitsmarkt bilden in allen europäischen Gesellschaften ein schwerwiegendes Problem für Männer ebenso wie für Frauen, Unternehmen, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, Regierungen, Sozialpartner und die Zivilgesellschaft. Die Gleichstellung von Mann und Frau ist eine grundlegende Herausforderung für die Zukunft Europas.

5.2

Der EWSA unterstützt die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. März 2007 zum Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010 (12), vor allem Punkt 17, in dem es heißt: „… fordert die Mitgliedstaaten auf, in die nationalen Aktionspläne für Beschäftigung und soziale Integration Maßnahmen aufzunehmen bzw. die Maßnahmen zu verstärken, durch die der gleichberechtigte Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt, gleicher Lohn für gleiche Arbeit und Unternehmertum von Frauen gefördert werden“, und Punkt 20, wo es heißt:„… fordert die Mitgliedstaaten auf, im Rahmen der Umsetzung der Lissabon-Strategie eine nationale Gleichstellungsbeauftragte zu benennen, deren Aufgabe es ist, an der Ausarbeitung und Überprüfung der jeweiligen nationalen Pläne sowie an der Überwachung ihrer Umsetzung teilzunehmen, um die Einbeziehung von Gender Mainstreaming und Gender Budgeting in die in diesen Plänen festgelegten politischen Maßnahmen und Ziele zu fördern“.

5.3

Der EWSA hält es für dringend erforderlich, in die neuen nationalen Reformpläne die Verpflichtung für die Mitgliedstaaten aufzunehmen, eine nationale Gleichstellungsbeauftragte zu ernennen.

5.4

In den Beschäftigungsleitlinien müssen konkrete Ziele festgelegt und präzise Qualitäts- und Mengenindikatoren aufgestellt werden, um zwischen den Mitgliedstaaten die Fortschritte zugunsten einer reellen Gleichstellung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt und bei Unternehmerinitiativen vergleichen zu können.

5.5

Der EWSA ist der Ansicht, dass europaweit den Frauen, die in ländlichen Gebieten in der Landwirtschaft tätig sind und von ihr abhängen und nur eine geringe Ausbildung aufweisen, stärkere Aufmerksamkeit zukommen und ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt gefördert werden muss.

5.6

Unter dem Vorwand der Subsidiarität versuchen einige Regierungen, die Auflagen der Gemeinschaft bezüglich der nationalen Reformpläne abzuschwächen. Der EWSA ist aber der Auffassung, dass die integrierten Beschäftigungsleitlinien insgesamt so flexibel sind, dass die Mitgliedstaaten Lösungen finden können, die ihren Erfordernissen am besten entsprechen.

5.7

Ferner ist der EWSA der Ansicht, dass der Gemeinschaftscharakter der Agenda von Lissabon und der integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung — bei Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes — gestärkt werden muss. In seiner Stellungnahme zum Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010 hieß es: „Der Ausschuss erkennt an, dass zur Förderung der Frauenbeschäftigung gemeinsame Prioritäten bei der Koordinierung der Beschäftigungspolitiken erforderlich sind; die Kommission muss bei der Bewertung der nationalen Reformprogramme sicherstellen, dass geschlechtsspezifische Ungleichbehandlungen prioritär angegangen und die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden“  (13).

5.8

Das Management der europäischen Beschäftigungsstrategie wurde verbessert, aber der EWSA hält die Situation noch nicht für vollkommen befriedigend. Die Zusammenarbeit zwischen Kommission, Mitgliedstaaten und Sozialpartnern, den Organisationen, die auf dem Gebiet der Gleichstellung tätig sind, und den Organisationen der Zivilgesellschaft muss noch intensiviert werden, damit eine angemessene Mitwirkung auf allen Ebenen und in allen Entscheidungsphasen gewährleistet wird.

5.9

Der EWSA hält eine stärkere Beteiligung der Bürger an der europäischen Beschäftigungsstrategie für erforderlich. Die Mitwirkung der Sozialpartner und Organisationen der Zivilgesellschaft an diesen Maßnahmen muss erleichtert werden, damit sie auf allen Ebenen — Gemeinschaft, Staat, Regionen und Kommunen — vermittels angemessener Verfahrensweisen mitarbeiten können. Für einen Erfolg der Strategie von Lissabon ist eine Verbesserung des Managements und des Mehrwerts des aktiven Einsatzes der Sozialpartner, der Zivilgesellschaft und der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften nötig.

5.10

Was die Beschäftigung angeht, ist es die lokale Ebene, auf der die Auswirkungen der Umsetzung der Politik am stärksten spürbar sind; deshalb ist dabei die Rolle der lokalen und regionalen Behörden sowie der Sozialpartner entscheidend für die Umsetzung der politischen Maßnahmen. Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt nach den Grundsätzen der Gleichheit erfordert eine gründliche und praxisnahe Kenntnis der Eigenschaften und Bedürfnisse der Frauen sowie des wirtschaftlichen und sozialen Kontextes der jeweiligen Region, weshalb es unerlässlich ist, dass die lokalen und regionalen Institutionen an der Diagnose, Konzeption, Ausführung und Bewertung der Maßnahmen beteiligt werden.

5.11

Zwar haben die Frauen in den vergangenen Jahren beim Zugang zu den Universitäten (59 % der Personen mit Hochschulabschluss sind Frauen (14)) viel Terrain gewonnen, aber die Studienabschlüsse weisen immer noch starke Stereotype auf. Denn von 10 diplomierten Frauen hat nur eine ein technisches Diplom, während es bei Männern vier sind. Fast die Hälfte der diplomierten Frauen schließt mit einem Diplom in Pädagogik, Geisteswissenschaften, Kunstgeschichte und Gesundheitswesen, während es bei Männern weniger als ein Viertel ist. Der EWSA empfiehlt den Schulbehörden, generelle Förderungsmaßnahmen zu ergreifen, damit die geschlechtsbezogenen Stereotypen überwunden werden und sich Frauen und Männer für Berufe entscheiden, in denen ihr Geschlecht jeweils unterrepräsentiert ist.

5.12

Die Politik der Vereinbarkeit von Beruf und Familie trägt zu einer Verbesserung der Lebensqualität sowohl von Frauen als auch Männern bei. Sie hilft allen, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren und dort zu bleiben und das gesamte Potenzial ihrer Arbeitskraft zu nutzen. Diese Politik muss gleichermaßen Frauen und Männern zugute kommen.

5.13

Der EWSA (15) erinnert die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtung gegenüber dem europäischen Pakt zugunsten der Gleichstellung von Mann und Frau und empfiehlt der Kommission, von den Mitgliedstaaten zu fordern, dass sie in die nationalen Reformpläne stärkere Verpflichtungen zugunsten der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Männer und Frauen aufnehmen. Ferner erinnert er daran, dass es sich um eine Aufgabe der Gesellschaft insgesamt handelt, weshalb die Mitverantwortung aller Teile, auch der Unternehmen, gewährleistet werden muss.

5.14

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie darf allerdings nicht mit bestimmten Maßnahmen der Familienpolitik verwechselt werden, die eine Beschäftigung behindern und mit starken Anreizen einen Ausstieg aus dem Berufsleben oder seine lange Unterbrechung mit entsprechend verringerten Chancen auf eine angemessene Wiedereingliederung begünstigen.

5.15

Es müssen wirkungsvollere Maßnahmen zur Förderung der Wiedereingliederung von Frauen und Männern in die Arbeitswelt nach dem Mutterschaftsurlaub oder dem Ausstieg aus dem Beruf wegen der Betreuung pflegebedürftiger Personen — ohne Verlust der Qualifikationen und Einkommen — entwickelt werden. Solche Maßnahmen könnten unter anderem die Entwicklung von flexiblen Modellen der Weiterbildung in der Zeit der Abwesenheit oder die Fortsetzung der Berufstätigkeit bei verringerter Arbeitszeit sein. Diesbezüglich sei auf die Europäische Rahmenvereinbarung zur Telearbeit hingewiesen, die von den gesellschaftlichen Akteuren (EGB, UNICE/UEAPME und CEEP) erzielt wurde und in der die Telearbeit und ihr Anwendungsbereich, die Freiwilligkeit, die Beschäftigungsbedingungen, der Datenschutz, Privatsphäre, Ausrüstung, Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz, die Arbeitsorganisation, die Aus- und Weiterbildung, die kollektiven Rechte sowie die Umsetzung und das Follow-up der Telearbeit definiert werden.

5.16

Die NRO spielen eine wichtige Rolle bei der Förderung der Gleichstellung zwischen Männern und Frauen in Europa; sie entwickeln Kampagnen im Bereich der politischen Ideen und kulturellen Werte und entfalten soziale Tätigkeiten zur Verbesserung der Chancen vieler Frauen. Auch wirken viele Frauen bei diesen NRO mit, die gegenüber den lokalen und regionalen Einrichtungen unterschiedliche Frauengruppen vertreten und unterstützt werden müssen.

5.17

Die Frauen unter den Zuwanderern oder aus Minderheiten haben besondere Schwierigkeiten, Unternehmen zu gründen oder unter Bedingungen der Gleichstellung auf den Arbeitsmarkt zu kommen; deshalb müssen dafür in den neuen Beschäftigungsleitlinien besondere Ziele aufgestellt werden.

5.18

Der EWSA hat sich in verschiedenen Stellungnahmen für eine gemeinschaftliche Zuwanderungspolitik der Union ausgesprochen, sowie dafür, dass die Bekämpfung der Diskriminierungen und die Integrationspolitik zu vorrangigen Zielen der europäischen Regierungen gemacht werden. Diese Politiken müssen den Gleichstellungsaspekt mit umfassen, damit die zugewanderten Frauen oder solche aus ethnischen oder kulturellen Minderheiten unternehmerisch tätig werden oder sich in den Arbeitsmarkt unter Gleichstellungsbedingungen eingliedern können.

5.19

Auch Frauen mit Behinderungen haben größere Schwierigkeiten, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren und Unternehmen zu gründen. Der EWSA schlägt vor, in die neuen Leitlinien und die nationalen Reformpläne das Ziel der Eingliederung solcher Frauen in den Arbeitsmarkt mit spezifischen Indikatoren aufzunehmen.

5.20

Der EWSA empfiehlt den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften, Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen mit Behinderungen aufzustellen, und den Sozialpartnern, im Rahmen der Tarifvereinbarungen und Arbeitsabläufe Gleichstellungsstrategien zu verfolgen.

5.21

Der Europäische Sozialfonds ESF hat über die Initiative EQUAL und im Rahmen der Strategie von Lissabon wertvolle neue Ansätze entwickelt, um den Unternehmergeist und die Beschäftigungsfähigkeit von Frauen mit Behinderungen zu fördern. Diese Erfahrungen könnten insbesondere von den Regierungen auf lokaler und regionaler Ebene für eine Weiterentwicklung im Rahmen der Tätigkeiten des ESF für den neuen Programmzeitraum 2007-2013 genutzt werden, um neue Initiativen für die Förderung des Zugangs dieser Gruppen von Frauen mit besonderen Schwierigkeiten zum Arbeitsmarkt zu fördern.

6.   Beschäftigungsfähigkeit

6.1

Seit der Lancierung der Strategie von Lissabon wurden 6 von 8 Millionen Arbeitsplätzen, die in der EU geschaffen wurden, von Frauen besetzt. Im Jahr 2005 erreichte die Beschäftigungsquote bei Frauen 56,3 % (+1,1 %) gegenüber 71 % bei den Männern (+0,6 %). Die Beschäftigungsquote von Frauen, die älter als 55 Jahre sind, ist rascher gestiegen als bei Männern und erreichte 33,7 % (16).

6.2

Die Arbeitslosigkeit nimmt ab: 8,8 % im Jahr 2005 insgesamt, beziehungsweise 0,9 % bei Frauen und 7,9 % bei Männern. Trotz der günstigen Entwicklung bei der allgemeinen Beschäftigungsquote von Frauen in Europa wird ihr Potenzial noch nicht vollständig genutzt. Zeichen dafür sind die geringeren Erwerbs- und Beschäftigungsquoten bei Frauen, die größere Arbeitslosenquote, mehr instabile Beschäftigungsverhältnisse, eine starke geschlechtsspezifische Trennung nach Wirtschaftszweigen und Berufen, ungleiche Entlohnung und Schwierigkeiten (dies sowohl bei Frauen als auch bei Männern), Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren.

6.3

Auch wenn die Beschäftigungsquote von Frauen (sie soll im Jahr 2010 60 % betragen) verwirklicht werden kann (wenngleich nicht in allen Ländern), darf nicht vergessen werden, dass dieser Prozentsatz sowohl Teilzeitbeschäftigungen als auch flexible Arbeit und Zeitarbeit umfasst, die großenteils von Frauen verrichtet werden, und zwar nicht immer freiwillig, sondern häufig als Folge der ungleichen Verteilung der familiären Aufgaben zwischen Männern und Frauen.

6.4

Auf dem Arbeitsmarkt bestehen zwischen Männern und Frauen weiterhin große Unterschiede bei den Aufgaben und eine große Segmentierung, vor allem was die Beschäftigungsmodalitäten in den Wirtschaftszweigen und ausgeübten Berufen angeht. Diese Unterschiede betreffen sowohl die beschäftigten Frauen als auch diejenigen, die Arbeit suchen. Folglich müssen neue politische Maßnahmen entwickelt werden, die an den Ursachen für das Ungleichgewicht zum Nachteil der Frauen auf dem Arbeitsmarkt ansetzen.

6.5

Auch wenn es darum geht, eine der Qualifikation angemessene Beschäftigung zu finden, haben es Frauen schwerer als Männer. Der Aspekt der Vereinbarkeit von Beruf und Familie erschwert noch weiter den Zugang zum und den Verbleib im Arbeitsmarkt, der sich für Frauen unvergleichlich schwieriger gestaltet als für Männer.

6.6

Der EWSA begrüßt die Gleichstellungspläne, die die Sozialpartner in zahlreichen Unternehmen mit dem Ziel angenommen haben, die Integration von Frauen, ihren Verbleib in den Unternehmen, ihr Ausbildungsniveau und ihre berufliche Laufbahn zu verbessern und Diskriminierungen zu bekämpfen. Die Behörden, vor allem auf lokaler und regionaler Ebene, müssen diese Gleichstellungspläne unterstützen.

6.7

Der Europäische Soziale Dialog, für den die Sozialpartner zuständig sind, spielt bei der Entwicklung der Gleichstellungsperspektive der Strategie von Lissabon eine große Rolle. Der EWSA weist auf die Bedeutung des Aktionsrahmens zur Gleichstellung von Frauen und Männern hin, den die europäischen Sozialpartner im Jahre 2005 (17) vereinbart haben, und der in Branchen und auf nationaler Ebene entwickelt wird.

6.8

Das jüngste Rahmenabkommen im Bereich Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz (18) ist ein Beispiel für vorbildliche Verfahren, das der EWSA unterstützen möchte. Auch einige Ausschüsse für den sektoralen Dialog sind dabei, einen geschlechterspezifischen Ansatz zu übernehmen. Der Ausschuss empfiehlt der Kommission eine aktivere Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern, um diese Ziele zu erreichen.

6.9

Tarifverhandlungen entsprechend den einzelstaatlichen Gesetzen und Verfahrensweisen sind ein Merkmal des europäischen Sozialmodells. Die Sozialpartner der verschiedenen Bereiche verhandeln und arbeiten Abkommen aus, um die Beschäftigungssicherheit und -flexibilität durch Fortschritte auf dem Gebiet der Löhne und Gehälter, der Arbeitsorganisation und der beruflichen Ausbildungs- und Qualifizierungssysteme zu verbessern.

6.10

Die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen, die dazu führt, dass Frauen an zweiter Stelle stehen, muss über Tarifverhandlungen in den Unternehmen und Sektoren beseitigt werden. Der EWSA ist deshalb der Ansicht, dass Tarifverhandlungen und der soziale Dialog grundlegende Instrumente sind, um die Gleichstellungspläne in den europäischen Unternehmen auszuweiten. Für Europa, die Mitgliedstaaten, die Unternehmen wie auch die Gesellschaft insgesamt ist es notwendig, dass die Diskriminierung am Arbeitsplatz, der viele Frauen aufgrund kultureller und sozialer Stereotype ausgesetzt sind, endgültig verschwindet.

6.11

Das Prinzip der gleichen Entlohnung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer — Artikel 141 des EG-Vertrags, „Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen“ — bedeutet, dass bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit jede Art von geschlechtsspezifischer Diskriminierung im Zusammenhang mit Lohnaspekten und -bedingungen zu beseitigen ist. Frauen verdienen jedoch pro Arbeitsstunde durchschnittlich 15 % weniger als Männer (Unterschied beim mittleren Bruttostundenlohn zwischen Männern und Frauen) (19). Diese Lohndiskriminierung ist in allen Branchen und vor allem den obersten Berufskategorien zu finden.

6.12

Der EWSA spricht sich dafür aus, die Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen, die bereits Bestandteil der integrierten Leitlinien der Gemeinschaft ist, durch die Evaluierung genauer Indikatoren zu verstärken.

6.13

Um die Lohndiskriminierungen zu beseitigen, ist es erforderlich, dass die Sozialpartner der verschiedenen Bereiche aktiv zusammenarbeiten. So vertrat der Ausschuss in seiner Stellungnahme zum Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010 die Ansicht,„dass die einzelstaatlichen Regierungen, die nationalen Gleichbehandlungsstellen und die Sozialpartner aller Mitgliedstaaten die eindeutige Verpflichtung haben, dafür zu sorgen, dass die von ihnen eingerichteten Arbeitsentgeltsysteme nicht zu einer Lohndiskriminierung zwischen Frauen und Männern führen“  (20).

6.14

Die öffentlichen Arbeitsagenturen spielen für das gute Funktionieren des Arbeitsmarktes eine wesentliche Rolle. Sie müssen sich für die Förderung aktiver Maßnahmen einsetzen, die es ermöglichen, dass arbeitslose Frauen über Ausbildungs- und Orientierungsprogramme für die Beschäftigung Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Um die bestehenden Rechtsvorschriften angemessen anzuwenden, schlägt der EWSA vor, dass die öffentlichen und privaten Arbeitsagenturen Verhaltenskodizes ausarbeiten, um zu gewährleisten, dass die Arbeitsangebote und die Auswahlverfahren für Frauen nicht diskriminierend sind.

6.15

Auf transparenter gestalteten Arbeitsmärkten gibt es mehr Gleichstellung zwischen den Geschlechtern. So ist die Erwerbsquote von Frauen im öffentlichen Sektor u.a. deshalb höher, weil in den Auswahlverfahren die Kompetenzen der Bewerberinnen und Bewerber bewertet werden und es besser gelingt, die diskriminierenden, auf Geschlechterstereotype beruhenden Vorurteile auszuschalten.

6.16

Frauen werden in den Rentenberechnungssystemen in vielen Fällen benachteiligt, da diese Systeme an die Berufslaufbahnen gekoppelt sind. Viele in Teilzeit arbeitende Frauen mit unterbrochenen Beschäftigungszeiten oder in prekären Arbeitsverhältnissen haben große Schwierigkeiten, eine Rente zu beziehen bzw. die Rente fällt in solchen Fällen sehr gering aus. Der EWSA schlägt der Kommission und den Mitgliedstaaten vor, diese Situationen, die die Chancengleichheit der Frauen auf dem Arbeitsmarkt beeinträchtigen, über die Methode der offenen Koordinierung für die Reformen der Rentensysteme entsprechend zu berücksichtigen und nach gerechteren Lösungen zu suchen.

6.17

Die berufliche Weiterbildung ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Männer und Frauen ihre beruflichen Aktivitäten auf zukunftsfähige Weise weiterentwickeln. Der EWSA schlägt deshalb vor, dass die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern Weiterbildungsprogramme aufstellen, die sich im Rahmen der beschäftigungspolitischen Maßnahmen und der Chancengleichheit an Unternehmerinnen und Arbeitnehmerinnen wenden.

6.18

Der EWSA möchte auf den aktiven Beitrag hinweisen, den die Sozialpartner zur Überwindung der Schwierigkeiten von Frauen in der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt leisten. In Gewerkschaftsorganisationen und Arbeitgeberverbände treten viele Frauen ein, die in diesen Gremien entscheidende Anstöße zu aktiven Maßnahmen und Gleichstellungsplänen geben. Ihre Zahl ist jedoch nach wie vor niedrig, und sie müssen viele Hürden überwinden, um auf Führungsebenen zu gelangen.

7.   Unternehmergeist

7.1

Der Anteil der Unternehmerinnen ist nach wie vor gering: Frauen stellen 30 % der Unternehmerschaft in der EU und 37 % der Selbstständigen (21).

7.2

Auch bei der Gründung von Unternehmen sind Frauen aufgrund der kulturellen und sozialen Stereotype und Schranken, der Ausrichtung der Bildungs- und Ausbildungsgänge sowie der zusätzlichen Schwierigkeiten mit der für unternehmerische Vorhaben erforderlichen Finanzierung mit einer größeren Zahl von Hindernissen konfrontiert. Nach der eigentlichen Unternehmensgründung weist jedoch nichts darauf hin, dass Frauen mit der Konsolidierung ihrer Unternehmen weniger erfolgreich sind als Männer.

7.3

Der EWSA schlägt allen politischen und sozialen Akteuren vor, ihre Anstrengungen zu intensivieren, um den Unternehmergeist unter Frauen in Europa zu fördern und die alten sozialen Stereotype — nach der Devise: „Die Welt der Unternehmen ist eine Männerdomäne und die Arbeitszeiten sind mit einem Familienleben unvereinbar“ — aus der Gesellschaft zu beseitigen. Diese sozialen Stereotype stellen Frauen, die einer selbstständigen Tätigkeit nachgehen oder ein Unternehmen gründen wollen, vor zahlreiche kulturelle und soziale Hürden.

7.4

Im Aktionsplan für eine Europäische Agenda für unternehmerische Initiative (22) werden einige Maßnahmen zur Förderung des Unternehmergeists vorgeschlagen, die die EU und die politischen Entscheidungsträger aller Mitgliedstaaten ergreifen müssen. So wird in dem Plan u.a. auf die Notwendigkeit einer zielgerichteten Unterstützung für Frauen verwiesen. In den Fortschrittsberichten über die Erfüllung der wichtigsten Ziele und Maßnahmen der Europäischen Charta für Kleinunternehmen wird auf diese Frage jedoch nicht Bezug genommen (23). Der EWSA ist der Meinung, dass die Jahresberichte konkrete Informationen darüber enthalten sollten, welche Fortschritte auf europäischer Ebene und in den Mitgliedstaaten mit der Unterstützung von Unternehmerinnen erzielt worden sind, um so den Austausch von nachahmenswerten Verfahren und von Kenntnissen zu erleichtern.

7.5

Die unternehmerische Initiative von Frauen und Männern in Europa muss gefördert werden (24). Der EWSA verabschiedete 2006 eine Stellungnahme (25) zu der Mitteilung der Kommission „Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft: Förderung des Unternehmergeistes in Unterricht und Bildung“. Darin ging es um die Bedeutung von Unternehmerinnen, die unternehmerischen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Frauen sowie die Tatsache, dass unternehmerische Initiative eine Schlüsselkompetenz für Wachstum, Beschäftigung und Selbstverwirklichung ist. In der Stellungnahme wird betont, dass die Herausbildung von Unternehmergeist ein lebensbegleitender Lernprozess ist und daher Bestandteil der Lehrpläne sein muss.

7.6

Der EWSA empfiehlt, in die nationalen und regionalen Lehrpläne auf Sekundar- und Hochschulebene die Erziehung zu unternehmerischem Denken und Handeln (Methoden der Unternehmensführung, Datenverarbeitungssysteme usw.) aufzunehmen, insbesondere für Schülerinnen, und Maßnahmen zur Erhöhung der Zahl der Unternehmerinnen zu ergreifen.

7.7

Ziel ist es, zu erreichen, dass Frauen die gleichen Zugangschancen zur Unternehmenswelt haben wie Männer und dass alle bestehenden Diskriminierungen beseitigt werden. Die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften müssen unterstützen, dass Frauen — als Faktor der Gleichstellung und auch des wirtschaftlichen und sozialen Wachstums auf lokaler Ebene — die Freiheit zu unternehmerischer Initiative wahrnehmen können.

7.8

Es sollten Hilfsmaßnahmen ergriffen werden, damit Unternehmerinnen die Finanzdienstleistungen und Kredite, die sie benötigen, auch in Anspruch nehmen können. Die Banken müssen spezifische Kleinstkreditprogramme für Unternehmerinnen anbieten. Finanzeinrichtungen müssen es vermeiden, Unternehmerinnen zu diskriminieren, denn derzeit sind Frauen mit größeren Hindernissen konfrontiert als Männer, um die Finanzierung zu erhalten, die sie für die Weiterentwicklung ihrer unternehmerischen Tätigkeiten, das Wachstum ihres Unternehmens sowie die Entwicklung von Innovationsprogrammen und Ausbildungs- und Forschungsaktivitäten benötigen.

7.9

Die Informationen über die Möglichkeiten einer Finanzierung durch die Strukturfonds müssen erweitert werden, um innovative Formeln wie die Schaffung flexibler Finanzierungsinstrumente auszuloten, die Beihilfen mit Kleinstkrediten und Garantien kombinieren.

7.10

Die Gemeinschaftsfonds zur Förderung des Unternehmergeists, die von den nationalen und regionalen Regierungsebenen verstärkt und verwaltet werden, müssen transparent sein, damit es den von Frauen gegründeten kleinen und mittleren Unternehmen leicht gemacht wird, diese Fonds zu nutzen. Die nationalen und regionalen Regierungsebenen müssen den Unternehmerinnen in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaftsorganisationen während der gesamten Gründungsphase die entsprechenden Einrichtungen, Finanzhilfen und Fachkenntnisse zur Verfügung stellen.

7.11

Der EWSA möchte aus den Beispielen mit Modellcharakter den in Frankreich eingerichteten „Garantiefonds für die Gründung, Übernahme oder Weiterentwicklung von Unternehmen, die auf Initiative von Frauen gegründet wurden“ herausgreifen. Dieser Fonds soll Frauen, die ein Unternehmen gründen, übernehmen oder weiterentwickeln möchten, den Zugang zur Finanzierung erleichtern und wurde eingerichtet, um Frauen bei der Überwindung der Hürden zu helfen, mit denen sie beim Zugang zu Bankkrediten konfrontiert sind. Er wird über eine private Organisation — das Institut für die Entwicklung der Sozialwirtschaft — verwaltet und von verschiedenen Einrichtungen, darunter dem Europäischen Sozialfonds, finanziert.

7.12

Kleinunternehmen müssen von staatlicher Seite stärker unterstützt werden, denn die meisten Unternehmerinnen vertreten die Ansicht, dass die Steuerpolitik aufgrund der Inkohärenz in den einschlägigen Rechtsvorschriften eines der größten Hemmnisse für die Entwicklung der Unternehmen darstellt.

7.13

Wenn Personen ihr eigenes Unternehmen gründen, können sie im Prinzip frei über ihre Zeit verfügen, und deshalb entwickeln immer mehr Frauen und Männer eine selbstständige Tätigkeit und unternehmerische Initiative. In der Praxis stoßen Unternehmerinnen jedoch auf mehr Hindernisse als ihre männlichen Pendants, wenn es darum geht, Arbeits- und Familienleben besser zu vereinbaren.

7.14

In ganz Europa gibt es zahlreiche Beispiele für nachahmenswerte Verfahren, um die Rolle von Frauen in Unternehmerorganisationen auf den verschiedenen Ebenen zu fördern; es wurden auch Vereinigungen von Unternehmerinnen gegründet. Darüber hinaus entwickeln auch die Industrie- und Handelskammern (26) viele positive Initiativen, die der EWSA befürwortet.

7.15

Der EWSA unterstützt die Arbeit des Europäischen Netzes zur Förderung weiblichen Unternehmertums (WES). Dessen Hauptziel ist es, die Öffentlichkeitswirkung von Unternehmerinnen zu verstärken und mit Elementen wie dem Austausch von Informationen zu den Themen Finanzierung, Ausbildung, Netze, Beratung, Forschung und Statistik ein günstiges Umfeld zu schaffen.

7.16

Sozialwirtschaftliche Unternehmen — Genossenschaften, Vereine auf Gegenseitigkeit, Vereinigungen oder Stiftungen — werden aufgrund ihrer Wesensmerkmale von Frauen häufig zur Weiterentwicklung ihres Unternehmergeists genutzt, da es Frauen dort leichter haben als in anderen Arten von Unternehmen, ihre beruflichen Ziele zu erreichen.

7.17

Aufgrund ihrer sozialen Zielsetzung sind sozialwirtschaftliche Unternehmen der Arbeitsmarktintegration von Frauen sehr förderlich und sollten daher von den lokalen und regionalen Regierungsebenen bei ihrer großen sozialen Aufgabe unterstützt werden.

7.18

Die meisten der als Mitunternehmerinnen tätigen Ehefrauen arbeiten häufig in Teilzeit. Fragen im Zusammenhang mit Mutterschaftsurlaub und Kinderbetreuung sowie Scheidung oder Tod des Ehepartners sind sehr spezifische Problemstellungen, die sich von denen unterscheiden, mit denen Männer konfrontiert sind. In vielen Mitgliedstaaten gibt es denn auch keinen angemessenen Rechtsstatus.

7.19

Auch die aus den Sozialschutzsystemen erwachsenden Unterschiede sind von Bedeutung. So müssen konkrete Maßnahmen auf dem Gebiet des Sozialschutzes, der Ausbildung und der Unterstützung bei der Unternehmensgründung durch Frauen entwickelt werden. In Bezug auf den Sozialschutz von Unternehmerinnen und Mitunternehmerinnen bestehen in manchen Ländern verschiedene Statusmöglichkeiten, die Unternehmerinnen in Anspruch nehmen können, z.B. „mitarbeitende Ehefrau“, „beschäftigte Ehefrau“ und „assoziierte Ehefrau“. Der EWSA schlägt der Kommission vor, eine Diskussion anzustoßen, um den Sozialschutz von Unternehmerinnen zu verbessern.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Stellungnahme des EWSA vom 13.9.2006 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010“. Berichterstatterin: Frau. ATTARD (ABl. C 318 vom 23.12.2006).

Stellungnahme des EWSA vom 14.12.2005 zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zum Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle (2007) — Beitrag zu einer gerechten Gesellschaft“. Berichterstatterin: Frau HERCZOG (ABl. C 65 vom 17.3.2006).

Stellungnahme des EWSA vom 29.9.2005 zum Thema „Armut unter Frauen in Europa“. Berichterstatterin: Frau KING (ABl. C 24 vom 31.1.2006).

Stellungnahme des EWSA vom 28.9.2005 zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen“. Berichterstatterin: Frau ŠTECHOVÁ (ABl. C 24 vom 31.1.2006).

Stellungnahme des EWSA vom 2.6.2004 zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zur Festlegung der Leitlinien für die zweite Runde der Gemeinschaftsinitiative EQUAL für die transnationale Zusammenarbeit zur Förderung neuer Methoden zur Bekämpfung aller Formen der Diskriminierung und Ungleichheit in Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt — „Freizügigkeit guter Konzepte“. Berichterstatter: Herr SHARMA (ABl. C 241 vom 28.9.2004).

Stellungnahme des EWSA vom 15.12.2004 zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen“. Berichterstatter: Herr SHARMA (ABl. C 157 vom 28.6.2005).

Stellungnahme des EWSA vom 10.12.2003 zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Förderung von Organisationen, die auf europäischer Ebene im Bereich Gleichstellung von Frauen und Männern tätig sind“. Berichterstatterin: Frau WAHROLIN (ABl. C 80 vom 30.3.2004).

Stellungnahme des EWSA vom 14.2.2006 zum „Anteil von Frauen in Entscheidungsgremien der wirtschaftlichen und sozialen Interessengruppen der Europäischen Union“. Berichterstatter: Herr ETTY (ABl. C 88 vom 11.4.2006).

Stellungnahme des EWSA vom 3.6.2004 zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen“. Berichterstatterin: Frau CARROLL (ABl. C 241 vom 28.9.2004).

(2)  Siehe die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 22./23. März 2005 und die verschiedenen Arbeiten, insbesondere die Schlusserklärung der Sitzung der Präsidenten und Generalsekretäre der einzelstaatlichen WSR und des EWSA am 25.11.2005 in Paris.

http://eesc.europa.eu/lisbon_strategy/eesc_documents/index_fr.asp.

(3)  Zusammenarbeit für Wachstum und Arbeitsplätze — Ein Neubeginn für die Strategie von Lissabon — KOM(2005) 24 endg.

(4)  Integrierte Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung (2005-2008) — KOM(2005) 141 endg.

(5)  Stellungnahme des EWSA vom 31.5.2005 zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Rates über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (gemäß Artikel 128 EG-Vertrag)“. Berichterstatter: Herr. MALOSSE (ABL. C 286 vom 17.11.2005).

(6)  KOM(2006) 30 endg.

(7)  Gemeinsamer Beschäftigungsbericht 2006/2007 in der vom Rat (Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz) auf seiner Tagung vom 22. Februar 2007 angenommenen Fassung, die dem Europäischen Rat auf seiner Tagung am 8./9. März 2007 vorgelegt werden soll.

(8)  Schlussfolgerungen der Präsidentschaft, 7775/1/06/REV 1.

(9)  KOM(2006) 92 endg.

(10)  Stellungnahme des EWSA vom 13.9.2006 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010“. Berichterstatterin: Frau ATTARD (ABl. C 318 vom 23.12.2006).

(11)  Stellungnahme des EWSA vom 28.9.2005 zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen“. Berichterstatterin: Frau ŠTECHOVÁ (ABl. C 24 vom 31.1.2006).

(12)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. März 2007 zum Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010 (2006/2132(INI)).

http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2007-0063+0+DOC+XML+V0//DE.

(13)  Siehe Ziffer 2.3.3.1.3 der Stellungnahme des EWSA vom 13.9.2006 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010“. Berichterstatterin: Frau ATTARD (ABl. C 318 vom 23.12.2006).

(14)  KOM(2007) 49 endg.

(15)  Arbeitsdokument der Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft zum Thema „Rolle der Sozialpartner/Vereinbarung von Beruf, Familie und Privatleben“, Berichterstatter: Herr CLEVER.

(16)  Gemeinsamer Beschäftigungsbericht 2006/2007, siehe:

http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/07/st06/st06706.de07.pdf.

(17)  http://ec.europa.eu/employment_social/news/2005/mar/gender_equality_en.pdf (nur auf Englisch).

(18)  http://ec.europa.eu/employment_social/emplweb/news/news_de.cfm?id=226.

(19)  KOM(2007) 49 endg.

(20)  Vgl. Ziffer 1.2 der Stellungnahme des EWSA vom 13.9.2006 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010“, Berichterstatterin: Frau ATTARD (ABl. C 318 vom 23.12.2006).

(21)  Ein Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010. KOM(2006) 92 endg. vom 1.3.2006.

http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0092de01.pdf.

(22)  Aktionsplan: Europäische Agenda für unternehmerische Initiative.

http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2004/com2004_0070de02.pdf.

(23)  http://ec.europa.eu/enterprise/enterprise_policy/charter/docs/charter_de.pdf.

(24)  Der EWSA erarbeitet derzeit eine Stellungnahme zum Thema „Unternehmergeist und Lissabon-Agenda“.

(25)  Stellungnahme des EWSA vom 16.7.2006 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft: Förderung des Unternehmergeistes in Unterricht und Bildung“, Berichterstatterin: Frau JERNECK (ABl. C 309 vom 16.12.2006).

(26)  Siehe http://www.eurochambres.eu/women_onboard/index.htm.


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/123


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Gesundheit und Migration“

(2007/C 256/22)

Mit Schreiben vom 14. Februar 2007 ersuchte der künftige portugiesische Ratsvorsitz den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum „Gesundheit und Migration“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr SHARMA, Mitberichterstatterin Frau CSER.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) mit 109 gegen 3 Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

Gegenstand dieser Stellungnahme ist das Verhältnis zwischen Gesundheit und Migration und somit nicht eine Debatte über die Migration per se. Migration spielt eine wichtige Rolle für die Wirtschaft der EU. Es handelt sich um einen fortlaufenden Prozess, in den ein erheblicher und wachsender Teil der Bevölkerung der EU und der Weltbevölkerung eingebunden ist.

Es ist wichtig, dass Migranten und ihren Familien durch die Politik der EU und deren Mitgliedstaaten Gesundheitsschutz auf hohem Niveau gewährt wird. Dazu sind Maßnahmen in zahlreichen Politikbereichen erforderlich, einschließlich Beschäftigung, Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz, Bildung, sozialer Schutz sowie Gesundheitsförderung und -fürsorge.

In dieser Stellungnahme wird auf zahlreiche Gesundheitsprobleme von Migranten und Auswirkungen für die öffentliche Gesundheit verwiesen, wodurch ein Handlungsbedarf für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union entsteht.

1.1   Empfehlungen

Eine menschenwürdige (1) und gerechte (2) Globalisierung muss auf universellen und gemeinsamen Werten fußen, im Sinne der Achtung der Menschenrechte und der Wahrung eines hohen Maßes an Gesundheitsschutz und Nahrungssicherheit für alle Bevölkerungsgruppen, insbesondere für die schwächsten; weitere Grundlagen sollten kulturelle und sprachliche Vielfalt sowie der Austausch und die umfassende Verbreitung von Wissen für alle sein.

Bezugnehmend auf universelle Menschenrechte gibt der EWSA folgende Empfehlungen ab:

1.1.1

Es sollten Treffpunkte und Informationszentren für Migranten eingerichtet werden, um ihnen den Zugang zu Informationen über Fragen der Gesundheits- und Sozialfürsorge zu erleichtern. Diese Informationen sollten von in diesen Zentren beschäftigten Angehörigen der gleichen Migrantengemeinschaft erteilt werden, und die Zentren sollten Brennpunkte der Zusammenarbeit zwischen den Behörden, den im Bereich der Migration tätigen nichtstaatlichen Organisationen und den entsprechenden Einrichtungen im Aufnahmeland sein.

1.1.2

Die Mitgliedstaaten und die Europäische Union als Ganzes sollten die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen in Fragen der Gesundheit von Migranten intensivieren, und die auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene auftretenden Probleme wie die Vorzüge sollten beobachtet und bewertet werden.

1.1.3

Nationale Programme zur Förderung der öffentlichen Gesundheit sollten unter Berücksichtigung von Minderheitskulturen ins Bildungswesen vorgesehen werden.

1.1.4

Ein besonderer Ausgleichsfonds sollte eingerichtet werden; weiterhin sollten Maßnahmen für Ausbildung, Rückkehr und eine Zusammenarbeit zwischen Aufnahme- und Herkunftsländern vorgesehen werden.

1.1.5

Der Zugang zu ärztlicher Versorgung und Gesundheitsvorsorge sollte als Menschenrecht für alle in der EU lebenden Menschen ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus gewährt werden, denn dies steht im Einklang mit der Charta der Grundrechte, die den Zugang zu gesundheitlicher Vorsorge und ärztlicher Versorgung garantiert.

1.1.6

Es sollten Vertraulichkeitsregelungen zwischen Patienten und medizinischen Einrichtungen eingeführt werden (wo es keine diesbezüglichen Regelungen gibt), damit gewährleistet wird, dass Dritten gegenüber keine Informationen über den Einwandererstatus der betreffenden Person offen gelegt werden und somit Migranten nicht vor der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe und Versorgung zurückschrecken, insbesondere wenn es sich um irreguläre Migranten handelt.

1.1.7

Die Mitgliedstaaten und die Europäische Union sollten zusammenarbeiten, um die Datenerfassung und Forschung zum Thema Migration und Gesundheit in der gesamten EU zu verbessern.

1.1.8

Die Gesundheit sollte als wesentlicher Aspekt der Migration angesehen werden.

1.1.9

In Folgenabschätzungen zu Fragen der Gesundheit sollten die möglichen Auswirkungen der Gesundheitspolitik und der Maßnahmen in den sonstigen Politikbereichen auf die Gesundheit von Migranten bewertet werden.

1.1.10

Mitgliedstaaten, die traditionell über spezialisierte Gesundheitsdienste im Bereich der Tropenmedizin verfügen, müssen allen in der EU ansässigen Personen ihr Fachwissen zur Verfügung stellen und weiterhin qualifizierte Forschung zur Behandlung von Tropenkrankheiten, insbesondere Malaria, betreiben.

1.1.11

Es sind verbesserte Mechanismen zur Bewertung und Befriedigung der Gesundheitsbedürfnisse aller Kategorien von Migranten frühestmöglich nach ihrer Einreise erforderlich. Zudem ist eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten notwendig, um auf die unmittelbaren Bedürfnisse von Migranten eingehen zu können, die nach der Einreise dringende medizinische Betreuung benötigen, insbesondere durch Dolmetschleistungen.

1.1.12

Die Gesundheit von Migranten am Arbeitsplatz sollte Priorität haben. Diesbezüglich sollten die Sozialpartner und zuständigen Behörden zusammenarbeiten, um zu gewährleisten, dass in Bereichen, in denen Migranten häufig beschäftigt werden, hohe Standards für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz eingehalten werden. Auch sollten in Zusammenarbeit mit den Diensten auf kommunaler Ebene Programme zur Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz weiterentwickelt werden, um so noch besser auf die Bedürfnisse zugewanderter Arbeitnehmer und ihrer Familien einzugehen.

1.1.13

Ferner sollten Gesundheitsförderprogramme für Schulen als eine Möglichkeit angesehen werden, auf Gesundheitsbedürfnisse von Migrantenkindern eingehen zu können. Der Gesundheit von Migrantenkindern ist besondere Priorität beizumessen. Die vorschulischen und schulischen Gesundheitsdienste müssen den Bedürfnissen aller Kinder mit den verschiedensten Hintergründen gerecht werden, d.h. auch den Kindern aus Migrantenfamilien; besondere Aufmerksamkeit sollte hierbei Neuzuwanderern gewidmet werden.

1.1.14

Es sollten Gesundheitsversorgungs- und -vorsorgedienste geschaffen werden, die kulturellen Besonderheiten Rechnung tragen, ohne beim Verbot der genitalen Verstümmelung von Mädchen und Frauen Zugeständnisse zu machen.

1.1.15

Für die Fachkräfte des Gesundheitswesens sollten regelmäßig Schulungen und berufliche Fortbildungen stattfinden, damit sie auf die sich verändernden Gesundheitsbedürfnisse von Migrantengruppen eingehen können.

1.1.16

Die Einstellung von in Entwicklungsländern ausgebildeten Gesundheitsfachkräften sollte nach einem Konzept der gemeinsamen Entwicklung erfolgen, das ihre Rückkehr nach einem vorübergehenden Aufenthalt erleichtert oder dem Herkunftsland, in dem die Ausbildung stattgefunden hat, eine Entschädigung anbietet. Die Kommission muss nach bewährten Verfahrensweisen bezüglich der ethischen Anwerbung medizinischen Personals aus Drittländern Ausschau halten und dabei die Unterbreitung eines Vorschlags für einen EU-Verhaltenskodex ins Auge fassen.

1.1.17

Die Rolle der Gesundheitsaufsichtsbehörde sollte ausgeweitet und der Austausch bewährter Verfahrensweisen gefördert werden; in diesem Zusammenhang sollten die EU-Organe und Einrichtungen eine koordinierende Funktion übernehmen.

1.1.18

Stärkung des interkulturellen Dialogs und mehr Aufmerksamkeit für Gesundheitszustand und Gesundheitsfürsorge (3).

1.1.19

Der EWSA bekräftigt erneut seine früheren Empfehlungen, dass die Mitgliedstaaten die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz der Rechte von Migranten umsetzen sollten (4).

2.   Hintergrund

2.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt das beständige Interesse des portugiesischen Ratsvorsitzes an der Untersuchung des Themas öffentliche Gesundheit und Migration. Der deutsche, der portugiesische und der slowenische Ratsvorsitz vertreten folgende übereinstimmende Position: „Die Gesundheitspolitik hat große Bedeutung, da eine bessere Vorbeugung und eine grenzüberschreitende Gesundheitsvorsorge den Bürgern Europas unmittelbaren Nutzen bringen.“ (5)

Die drei Vorsitze haben sich verpflichtet, ihre Arbeit dahingehend fortzusetzen, dass die Ungleichheiten bei Migranten beim Zugang zur Gesundheitsfürsorge abgebaut werden. Ferner wurde vereinbart, ein breites Spektrum von Gemeinschaftstätigkeiten zu unterstützen, die zur Erreichung eines hohen Gesundheitsniveau für alle Bürgerinnen und Bürger beitragen, wobei Gesundheitsförderung, Krankheitsvorbeugung, Innovation und der Zugang zur Gesundheitsfürsorge im Mittelpunkt stehen sollen.

2.2

Der EWSA hat bereits eine Reihe von Stellungnahmen zum Thema reguläre und irreguläre Migration verabschiedet (6), deshalb stehen im Mittelpunkt dieser Stellungnahme Fragen der Gesundheit. Wir fordern den portugiesischen Ratsvorsitz und sonstige beteiligte Akteure auf, auch auf unsere vorhergehende Arbeit im Bereich Migration Bezug zu nehmen.

3.   Einleitung

3.1

Zu Fragen der Gesundheit und Migration wurde bereits viel veröffentlicht, und diese Stellungnahme stützt sich auf das jüngste Dokument, das im Rahmen des Programms zur Politikanalyse und Forschung für die Weltkommission für internationale Migration (Carballo & Mboup, September 2005) verfasst wurde. Auf weitere Quellen wird in der Stellungnahme verwiesen.

3.2

Die Weltgesundheitsorganisation definiert den Begriff Gesundheit als den „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheit oder Gebrechen“. Dieser Stellungnahme liegt die Auffassung zu Grunde, dass „Gesundheit“ im Sinne dieser Definition ein Menschenrecht ist.

3.3

Die Gesundheit von Migranten und Flüchtlingen ist aus zahlreichen Gründen ein wichtiges Thema. Dazu zählen:

allgemeine Menschenrechte und Achtung der Menschenwürde;

das Ausmaß von Todesfällen, Krankheiten und Gesundheitsrisiken unter bestimmten Migranten, insbesondere irregulären;

die Gesundheitsrisiken, denen zahlreiche Migranten, die in ein anderes Land auswandern, ausgesetzt sind;

beschränkter Zugang zu Sozial- und Gesundheitsdiensten;

Risiken, die für die übrige Bevölkerung entstehen, und

Nachteile für die Herkunftsländer infolge der Abwanderung von Gesundheitsfachkräften.

4.   Ausmaß des Problems und betroffene Bereiche

4.1

Schätzungen zufolge migrieren jährlich weltweit über 200 Millionen Menschen auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen, davon mindestens 30-40 (7) Millionen inoffiziell. Die Zahl der Migranten weltweit entspräche dem Land mit der fünftgrößten Bevölkerung der Welt (8). Der Anteil der Frauen unter den Migranten betrug im Jahr 2005 weltweit 49,6 %. In Europa halten sich zwischen 7 und 8 Millionen Migranten ohne gültige Ausweispapiere auf (9).

4.2

Für diese Sondierungsstellungnahme betrachtet der Ausschuss das Thema Migration und Gesundheit überwiegend unter dem Gesichtspunkt der Einwanderung von Bürgern aus Drittstaaten in die EU. Gegenwärtig leben in der EU etwa 18 Millionen Bürgerinnen und Bürger aus Drittstaaten. Ferner gibt es eine erhebliche Zahl im Ausland geborener Bürger sowie illegaler bzw. irregulärer Migranten. Der Großteil der Migranten ist jedoch legal in die EU eingewandert.

4.3

Der Anteil Asylsuchender an der insgesamt eingewanderten Bevölkerung ist relativ gering, und die Zahl der Asylbewerber ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Dies ist jedoch eher auf die Politik der EU als auf einen allgemeinen Rückgang der Zahl Schutz suchender Menschen zurückzuführen.

 

2006

2005

2004

2003

2002

Asylanträge in der EU

266 270

350 103

421 236

532 300

640 347

Zahl der bewilligten Anträge

38 857

46 742

35 872

41 823

59 705

Bewilligte Anträge in %

22,71

20,55

13,36

12,4

14,73

In den letzten Jahren ist die legale und illegale Einwanderung in eine Reihe von Ländern Südeuropas, darunter Portugal, Spanien und Italien, gestiegen. Viele der Einwanderer kommen aus Nordafrika oder aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahara, aus Lateinamerika, Asien und den Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).

4.4

Auch wenn die Einwanderer generell gesünder als andere Menschen ihrer Herkunftsländer sind, können sie größere gesundheitliche Probleme als die durchschnittliche Bevölkerung des Aufnahmelands haben. Dies ist auf eine Reihe von Gründen zurückzuführen, z.B.:

psychologischer und sozialer Stress (aufgrund der unbekannten Kultur, der Illegalität, des neuen Umfelds, fehlender Sprachkenntnisse, des Mangels an Vertrauen und an Informationen sowie psychischer Gesundheitsprobleme);

Risiken, denen sie in ihrem Herkunftsland ausgesetzt waren;

Armut und gefährliche Arbeitsbedingungen;

schlechter Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu Informationen über Gesundheits-, Gesundheitsförderungs- und Vorsorgedienste;

zusätzliche Risiken in den Aufnahmeländern;

Wohnbedingungen.

4.5

Einwanderer aus mehreren Gebieten leiden häufiger an übertragbaren Krankheiten sowie an chronischen Krankheiten wie psychischen Problemen, koronaren Herzkrankheiten, Atemwegserkrankungen und Diabetes.

4.6

Irreguläre Migranten, einschließlich deren Familien und insbesondere Kinder, haben größere gesundheitliche Probleme als Migranten mit regulärem Status, die auf Gesundheitsrisiken bei der Einreise, die schlechteren wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen sowie den unzureichenden Zugang zu den Diensten zurückzuführen sind.

5.   Unterschiedliche Migrationsarten

5.1   Freiwillige Migration

5.1.1

Wirtschaftliche Faktoren sind die Hauptauslöser für die Migration nach Europa, weitere wichtige Migrationsgründe sind die Flucht vor Konflikten und Verfolgung. Menschen migrieren aus unterschiedlichen Beweggründen an andere Orte und werden dies auch in Zukunft tun. Während manche beabsichtigen, sich an einem anderen Ort niederzulassen und ein neues Leben zu beginnen, wollen andere ausreichend Geld verdienen, um anschließend nach Hause zurückzukehren.

5.1.2

Bestimmte Migranten begeben sich legal in ein anderes Land, um dort für eine befristete Zeit zu arbeiten, andere wiederum reisen illegal ein, finden jedoch eine Arbeit und bleiben für eine unbestimmte Zeit. Beide dieser Gruppen können gesundheitlichen Problemen ausgesetzt sein, die oft mit der nationalen Politik und der Haltung der gesellschaftlichen Gruppen gegenüber Migranten sowie Faktoren verbunden sind, die im weiteren Sinne Einfluss auf die Gesundheit haben, z.B. Bildung, Beschäftigung und Wohnverhältnisse.

5.1.3

Als eine der wichtigsten Migrationsformen wird zunehmend die zirkuläre Migration angesehen (10). Wird diese gut gesteuert, kann sie zur Regulierung des Angebots an und der Nachfrage nach Arbeitskräften auf internationaler Ebene und somit zu einer effizienteren Verteilung verfügbarer Ressourcen und zum Wirtschaftswachstum beitragen. Diese Migrationsform ist möglicherweise eine Antwort auf das Erfordernis, dass die EU eine glaubwürdige Alternative zur illegalen Einwanderung bieten muss.

5.2   Erzwungene Migration

5.2.1

Erzwungene Migration hat ernsthafte und weit reichende Auswirkungen auf die Gesundheitsfürsorge. Jedes Jahr sind Menschen gezwungen, ihr eigenes Land zu verlassen, und werden Flüchtlinge, die unter UN-Schutz stehen. Millionen von Menschen sind gezwungen, ihre Häuser zu verlassen, jedoch in ihrem Land zu bleiben.

5.2.2

Oft müssen Menschen riesige Geldbeträge für Hilfe bei der Grenzüberquerung bezahlen, was zu finanziellen Notlagen führt. Migranten leben in Angst und können von Arbeitgebern leicht ausgenutzt werden. Frauen werden häufig vergewaltigt und sexuell ausgebeutet.

5.2.3

Menschenhandel ist ein Verbrechen, durch das grundlegende Menschenrechte verletzt und Leben zerstört werden. Er wird als moderne Form der Sklaverei gewertet. Schätzungen zufolge beträgt die Zahl der Menschen, die in einer Form der erzwungenen Abhängigkeit leben, jährlich 12 Millionen (nach Angaben der ILO), während über eine Millionen Menschen wie Waren zum Zweck der Prostitution oder Zwangsarbeit verkauft werden. Nach Angaben des Außenministeriums der USA sind 80 % der betroffenen Menschen Frauen und Mädchen und bis zu 50 % Minderjährige. Aus den Angaben geht auch hervor, dass der Menschenhandel in den meisten Fällen zum Zweck der sexuellen Ausbeutung erfolgt.

5.2.4

Die Menschenhändler erzielen durch den Menschenhandel erhebliche Gewinne. Schätzungen zufolge handelt es sich hierbei um jährlich 10 Milliarden US-Dollar (11). (iii: UNICEF)

5.3   Internationaler Reiseverkehr

5.3.1

Angaben der Welttourismusorganisation zufolge waren im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts 30 % der Unternehmen des Dienstleistungsgewerbes weltweit für den internationalen Tourismus tätig, und es wird geschätzt, dass bis 2020 die Zahl der Einreisen von Touristen 1,55 Mrd. übersteigen wird. Davon werden 0,4 Milliarden Langstreckenreisen über ökologische Zonen hinweg antreten.

5.3.2

Schätzungsweise reisen jährlich 14 Millionen Menschen aus den Industrieländern in tropische Gegenden nach Afrika, Asien, Lateinamerika sowie auf die Pazifischen Inseln. Eine erhebliche Zahl von ihnen kehrt mit einer Krankheit zurück, die einer Behandlung bedarf. Die häufigste Krankheit ist Diarrhö, aber auch Malaria stellt für die Länder, in die Touristen zurückkehren, in Bezug auf Diagnose, Behandlung und Kosten ein verbreitetes Problem dar.

5.3.3

Ohne entsprechende Schutzmaßnahmen laufen Touristen Gefahr, sich mit Hepatitis-A und sexuell übertragbaren Krankheiten, darunter auch HIV/AIDS, zu infizieren.

6.   Auswirkungen von Migration auf die Gesundheit und öffentliche Gesundheit

6.1   Politik

6.1.1

In vielen EU-Ländern werden das Recht auf Einreise, die Dauer des Aufenthalts und die Umstände, unter denen das Land verlassen werden muss, durch eine eigene Ausländerpolitik regelt. Insgesamt ist diese Politik eher beschränkend als nachgiebig und macht Migration kompliziert. Dadurch kann ein soziales und wirtschaftliches Umfeld entstehen, das sich nachteilig auf die Gesundheit von Migranten auswirkt.

6.1.2

Die Auffassungen zur öffentlichen Gesundheit und zu Gesundheitsuntersuchungen unterscheiden sich in den einzelnen Ländern ebenso wie die Konzepte bezüglich des Zugangs zu Gesundheits- und Sozialdiensten. Es scheint jedenfalls an umfassenden Informationen zu fehlen, die einen Vergleich einzelstaatlicher Verfahren erlauben.

6.2   Daten

6.2.1

Nur in wenigen EU-Ländern werden regelmäßig Daten zur Gesundheit von Migranten erfasst, so dass es schwierig ist, verlässliche Angaben über die Erfahrungen und Bedürfnisse bezüglich ihrer Gesundheit zu liefern. In vielen Ländern sind die Gesundheitserfassungssysteme nicht so konzipiert, dass der Migrationshintergrund der Patienten erfasst werden kann.

6.2.2

Während in einigen Ländern diese Daten erfasst werden, konzentriert man sich in anderen auf die Herkunftsregionen oder ethnische Gruppen. Möglicherweise geht aus den Angaben nicht deutlich hervor, ob es sich um Einwanderer oder Nachkommen von Einwanderern handelt. In machen Fällen werden die Personen nur nach ihrer ethnischen Herkunft beschrieben, es wird jedoch nicht unterschieden, ob z.B. Kinder mit eingewandert sind oder ob es sich um nach der Einwanderung geborene Kinder von Migranten handelt.

6.2.3

Ferner ist die Zahl der irregulären und somit nicht erfassten Migranten unbekannt, die u.U. zögern werden, Leistungen der Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen, wenn sie sie benötigen.

6.2.4

Außerdem ist es möglich, dass Migranten Gesundheitsbehörden gegenüber nur unwillig Auskunft über ihren Migrantenstatus geben, wenn diese zu ihrem Nachteil verwendet werden könnte. Dies trägt zusätzlich dazu bei, dass zu wenig zuverlässigen Angaben verfügbar sind.

6.2.5

Das ablehnende Verhalten kann auch auf kulturelle und religiöse Gründe zurückzuführen sein. Ferner fehlt es in den Behörden und Gesundheitsfürsorgeeinrichtungen an entsprechendem Wissen. Man ist dort nicht vorbereitet, auf die speziellen Bedürfnisse der Migrantinnen und Migranten einzugehen. Aus den genannten Gründen gibt es nur unzureichende Informationen zu Migranten und ihrem Gesundheitszustand.

6.3   Migration und psychosoziales Wohlbefinden

6.3.1

Sowohl für irreguläre Migranten als auch für Migranten mit regulärem Status werden die mit der Sprache, Kultur und Politik des Aufnahmelands verbundenen Probleme durch die Angst vor dem Unbekannten verschärft (siehe Tizon 1983). Weitere Probleme wie

Trennung von Familien, Partnern und Kindern,

Ausnutzung durch den Arbeitgeber,

sexuelle Ausbeutung,

Angst und Heimweh,

fehlende Integration in die einheimischen Bevölkerungsgruppen,

physische oder psychische Gesundheitsprobleme

haben Auswirkung auf die Gesundheit einzelner Personen und ganzer Personengruppen.

6.4   Migration und psychische Gesundheit

6.4.1

Untersuchungen zeigen (12), dass einige Migrantengruppen in Europa die höchsten Erkrankungsraten für Schizophrenie, die höchsten Suizidraten, ein hohes Vorkommen von Drogen- und Alkoholmissbrauch sowie eine starke Gefährdung hinsichtlich Depressionen und Angstzuständen aufweisen. Aus dieser Studie geht auch hervor, dass für diese Gruppen kein angemessener Zugang zur Gesundheits- und Sozialfürsorge besteht.

6.4.2

Als Faktoren, die den psychischen Gesundheitszustand von Migranten beeinträchtigen, wurden beispielsweise festgestellt: Änderungen bezüglich der Ernährung, Familie und sozialen Unterstützung sowie der Kultur, Sprache und des Klimas; Feindseligkeit, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit seitens der einheimischen Bevölkerung; Flucht vor Krieg und dessen Grauen und Qualen, Verlust der Familie und sexueller Missbrauch.

6.4.3

Aus der Studie geht hervor, dass zwei Drittel der Flüchtlinge Angstzustände oder Depressionen sowie Symptome von Störungen wie etwa häufig auftretende Alpträume und Panikattacken, erfahren.

6.4.4

Der ohnehin mangelhafte Zugang zu Behandlungen, Hilfe und Unterstützung für diese Störungen ist besonders für Asylbewerber und Migranten ohne Ausweispapiere erschwert, die diese Dienste am meisten benötigen.

6.5   Migration und körperliche Gesundheit

6.5.1

Alle Menschen haben eine Art gesundheitlichen „Fußabdruck“, der von ihrer Herkunft und der sozialen Umgebung, in der sie leben, bestimmt wird. Im Allgemeinen wandern Wirtschaftsmigranten aus ärmeren Ländern in wohlhabendere Länder aus, demzufolge sind ihre Gesundheitsprofile eher durch ärmere Verhältnisse bestimmt.

6.6   Übertragbare Krankheiten

6.6.1

Die Unterstützung für Migranten, die an HIV/AIDS oder Tuberkulose leiden, ist unbeständig und mit Problemen bezüglich der Kultur, Sprache und Religion sowie des rechtlichen und wirtschaftlichen Status von Migranten verbunden. Für die junge Generation sowie Frauen und Mädchen besteht ein höheres Risiko der Infizierung mit HIV/AIDS.

6.6.2

Es wird keine einheitliche Politik im Bereich der Gesundheitskontrolle verfolgt und sogar die Untersuchungen, die vor Ort vor der Einwanderung durchgeführt werden, unterscheiden sich. Ungesicherten Angaben zufolge sind die Reaktionen auf die örtlichen Gesundheitsuntersuchungen sehr unterschiedlich. Einige Gesundheitsfürsorgeeinrichtungen berichten, dass 50 % der zu nachfolgenden Untersuchungen bestellten Personen nicht erscheinen, und sie erklären dies durch Kommunikationsprobleme, Angst vor den Behörden und fehlendes Verständnis für die gebotenen Leistungen. Der EWSA hat zur Kenntnis genommen, dass EU-Kommissar Kyprianou das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) ersucht hat, einen EU-Aktionsplan zur Bekämpfung von Tuberkulose vorzulegen. Der Plan soll im Herbst 2007 veröffentlicht werden und die Lage in den einzelnen Mitgliedstaaten berücksichtigen.

6.6.3

Zwischen 1995 und 2005 war in der EU ein stetes Ansteigen der gemeldeten Tuberkulose-Fälle zu verzeichnen. In dem jüngsten Epidemiologischen Bericht des ECDC wird darauf verwiesen, dass 30 % aller in den 25 Ländern gemeldeten Fälle „ausländischen Ursprungs“ sind (vi: The First European Communicable Disease Epidemiological Report, Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, 2007). Es muss allerdings auch eingeräumt werden, dass die Migranten häufig in Gebieten untergebracht sind, wo schlechte Unterkunftsbedingungen mit engen Wohn- und Arbeitsräumen und dem damit verbundenen Risiko von Atemwegsinfektionen herrschen. Auch unter Obdachlosen ist der Anteil von Migranten wahrscheinlich überdurchschnittlich hoch.

6.6.4

In Bezug auf HIV/AIDS enthält der EU-Bericht „AIDS & MobilityHIV/AIDS Care & Supports for Migrants and Ethnic Minority Communities in Europe“ (vii: EU — herausgegeben von Clark K & Broring G) Angaben der Länder zu folgenden Themen:

einzelstaatliche Politik,

Zugang zu Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen,

Versorgungs- und Unterstützungsdienste.

6.6.5

In dem Bericht wird die Tatsache hervorgehoben, dass die Situation von Migranten (in Bezug auf Zahl, ethnischen Hintergrund und epidemiologische Aspekte) sowie die Reaktionen der Gesellschaft auf diese in ganz Europa sehr unterschiedlich sind.

6.6.6

Es besteht die Möglichkeit, dass Menschen aus Teilen der Welt mit hohen HIV-Raten bereits infiziert einreisen könnten. In der Tat sind 47 % aller zwischen 1997 und 2005 in der EU festgestellten heterosexuell übertragenen HIV-Infektionen auf Personen aus Ländern mit hoher HIV-Prävalenz zurückzuführen.

6.6.7

Umgekehrt scheint das Infektionsrisiko von Migranten aus Ländern mit einer niedrigen HIV-Prävalenz keinesfalls höher (eventuell sogar niedriger) zu sein als das von Staatsbürgern des Aufnahmelandes.

6.7   Nichtübertragbare Krankheiten

6.7.1

Chronische Krankheiten wie die koronare Herzkrankheit (KHK), die chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD), Schlaganfall und Diabetes sind fast überall auf der Welt ein großes Problem für die Gesundheitsfürsorgedienste und Ursache für ungefähr die Hälfte der jährlichen Todesfälle.

6.7.2

Die koronare Herzkrankheit ist die häufigste Todesursache. Sie hat zudem die größten Auswirkungen in Bezug auf Behandlung und Kosten sowie auf die Betroffenen, auf ihre Fürsorgepersonen und die sie umgebende Gemeinschaft. KHK-Fälle bei Einwanderern können auf ethnische Prädisposition, Ernährung und Stress zurückzuführen sein. In Großbritannien scheinen Männer aus Asien anfälliger für KHK zu sein als andere (viii: Baljaran & Raleigh, 1992; McKeigue & Sevak, 1994, BMJ 2003).

Sowohl bei Männern als auch bei Frauen südasiatischer Herkunft ist eine 30-40 % höhere Sterberate aufgrund KHK zu verzeichnen als bei anderen Personengruppen (ix: Balajaran, 1991).

6.7.3

Daten aus Großbritannien verweisen darauf, dass bei Einwanderern aus der Karibik die Zahl der Schlaganfälle doppelt so hoch ist wie bei der „weißen“ Bevölkerung (x: Stewart 1999). In Schweden wurde unter finnischen Einwanderern, die zu falscher Ernährung und Alkoholkonsum neigen, ein hoher Anteil an Übergewichtigkeit und KHK gemeldet (xi: Jarhult et.al 1992).

6.8   Erbkrankheiten

6.8.1

Die Migration von Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt kann auch zur Verlagerung des Vorkommens genetischer Krankheiten führen. So ist die Verbreitung der Sichelzellenanämie und Thalassämie in Folge der Migration aus Afrika, der Karibik und den Mittelmeerstaaten offensichtlich größer geworden. Die Sichelzellenanämie ist in der EU relativ verbreitet und betrifft in Großbritannien jährlich 6 000 Erwachsene und zwischen 75 bis 300 Säuglinge und Kleinkinder (xii: Karmi 1995). Auch unter Migranten in Portugal wurde eine starke Verbreitung der Sichelzellenanämie festgestellt (xiii: Carrerio et al, 1996).

6.8.2

Thalassämie ist eine vererbte Blutkrankheit, die ihren Ursprung im Mittelmeerraum hat und in Großbritannien unter ethnischen Minderheiten aus dem Nahen Osten und Zypern festgestellt wurde. Ferner gibt es Anhaltspunkte, dass diese Krankheit auch bei Personen mit Herkunft aus Pakistan, China und Bangladesch vorkommt.

6.8.3

Diese Krankheiten erfordern spezielle Diagnosen und Beratungsdienste, die nicht immer verfügbar sind.

6.9   Berufskrankheiten

6.9.1

Migranten üben in der Regel Berufe mit niedrigen Qualifikationsanforderungen aus, die für die lokale Bevölkerung nicht mehr attraktiv sind. Einige dieser Tätigkeiten, insbesondere im Bergbau, in der Asbest-, Chemie- oder Schwerindustrie, sind mit Gesundheitsrisiken verbunden. In der Landwirtschaft wird ein Zusammenhang darin gesehen, dass Beschäftigte, die Pestiziden und anderen Chemikalien ausgesetzt sind, häufig an Depressionen und Kopfschmerzen leiden und es bei Frauen oft zu Fehlgeburten kommt.

6.9.2

Bei hoch qualifizierten, qualifizierten bzw. als Fachkräfte abgewanderten Migranten sowie zirkulären Migranten tritt sehr häufig arbeitsbedingter Stress auf, da sie im Vergleich zu den einheimischen Beschäftigten schlechtere Bedingungen (unterschiedliche Rechte usw.) haben. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit haben sie jedoch keine Wahl (13).

6.10   Unfälle

6.10.1

In Europa ist die Zahl der Arbeitsunfälle unter Migranten etwa doppelt so hoch wie unter den sonstigen Beschäftigten (xiv: Bollini & Siem, 1995). In Deutschland ist die Zahl der Unfälle unter Migranten gewöhnlich hoch, insbesondere unter Beschäftigten in Industriebranchen mit unzureichenden Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen (xv: Huismann et al, 1997). Weitere Angaben aus Deutschland deuten darauf hin, dass Migrantenkinder der Altergruppe 5 bis 9 Jahre häufiger durch Verkehrsunfälle und andere Unfälle verletzt werden als deutsche Kinder derselben Altersgruppe (xvi: Korporal & Geiger, 1990). In den Niederlanden scheinen Kinder türkischer und marokkanischer Herkunft stärker von Hausunfällen, einschließlich Vergiftungen und Verbrennungen, sowie Verkehrsunfällen betroffen zu sein (xvii: de Jong & Wesenbeek, 1997).

6.11   Reproduktive Gesundheit

6.11.1

Bei bestimmten Migrantengruppen wie etwa Männern, die von ihren Ehepartnerinnen getrennt sind, treten häufiger sexuell übertragbare Krankheiten auf. In vielen EU-Ländern sind Erkrankungen in Verbindung mit einer Schwangerschaft unter Migrantenfrauen stärker verbreitet als bei einheimischen Frauen. Die Raten der Schwangerschaftsabbrüche sind bei Migrantenfrauen tendenziell höher. In Barcelona bitten im Vergleich zu spanischen Frauen doppelt so viele eingewanderte Frauen um einen Schwangerschaftsabbruch. In einer Studie des Internationalen Zentrums für Migration und Gesundheit (ICMH) in Genf wird berichtet, dass die Abtreibungsrate bei illegal eingewanderten Frauen dreimal so hoch ist wie die Rate bei einheimischen Frauen vergleichbaren Alters (xviii: Carballo et al, 2004).

6.11.2

In Großbritannien haben Neugeborene asiatischer Mütter im Vergleich zu anderen ethnischen Gruppen gewöhnlich ein niedrigeres Geburtsgewicht und das Risiko der perinatalen und postnatalen Sterblichkeit liegt ebenfalls höher. Bei Kindern von Frauen aus der Karibik liegt die postneonatale Sterblichkeitsrate über dem Durchschnitt. In Belgien und Deutschland wird über hohe Raten perinataler Sterblichkeit und eine hohe Säuglingssterblichkeit im Zusammenhang mit Migrantinnen aus Marokko und der Türkei berichtet. Niedrige Geburtsgewichte und Probleme während der Entbindung werden bei Frauen aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara sowie aus Mittel- und Südamerika festgestellt.

6.11.3

Kinder von Migranten nehmen Vorsorgeleistungen wie etwa Schutzimpfungen seltener in Anspruch.

6.12   Hindernisse für den Zugang zu und die wirksame Nutzung von Gesundheitsfürsorgediensten durch Migranten

6.12.1

Migranten erfahren rechtliche, psychosoziale und wirtschaftliche Probleme beim Zugang zur Gesundheitsfürsorge. Ein offensichtliches Problem sind die Sprachbarrieren, ebenso die Kosten der Gesundheitsfürsorge, da für Migranten mit geringen Einkommen sogar sehr geringe Zuzahlungen ein erhebliches Hindernis sein können. Für irreguläre Migranten und Asylbewerber, die auf die Bearbeitung ihrer Anträge warten, bestehen in vielen Ländern rechtliche Beschränkungen bezüglich der Fürsorge.

6.12.2

Ferner sind die öffentlichen Gesundheitsdienste häufig nicht auf die spezifischen Gesundheitsprobleme von Migranten eingestellt, und es fehlt ihnen an der notwendigen Sensibilität und Fachkenntnis für eine erfolgreiche Behandlung von Menschen, die unter Umständen deutlich andere Auffassungen von Gesundheit und eine andere Einstellung zu Krankheit, Schmerz und Tod haben, sowie auf ihre Art Symptome beschreiben, mit der Krankheit umgehen und ihre Erwartungen gegenüber dem Arzt zum Ausdruck bringen.

6.12.3

Diese Lage könnte sich außerdem durch die Komplexität des hoch entwickelten und differenzierten Gesundheitswesens in den Mitgliedstaaten noch verschlechtern.

6.12.4

Die Organisation von Krankheitsvorbeugung und Gesundheitsförderung für Migranten ist oft unzureichend. Dies gilt sowohl für pränatale Untersuchungen als auch für Impfprogramme und weitere Formen der Vorbeugung und Früherkennung, einschließlich Kontrolluntersuchungen. Bislang wurden bei Präventionsprogrammen nur selten kulturbezogene Ansätze berücksichtigt, bei denen auf die verschiedenen Migrantengruppen eingegangen wird.

6.12.5

Die hohen Preise bestimmter Gesundheitsfürsorgeleistungen und die Kosten von Medikamenten sind für die meisten Migranten eine hohe Belastung. Diese Umstände können dazu führen, dass eine Behandlung nicht rechtzeitig verlangt wird, dass verschriebene Behandlungsmaßnahmen nicht eingehalten oder Medikamente nicht eingenommen werden. Dies führt zu einem unermesslichen Anwachsen menschlichen Leids sowie zu steigenden wirtschaftlichen Kosten für die Gesellschaft insgesamt.

6.13   Fachkräfte des Gesundheitswesens

6.13.1

Die Tendenz, immer mehr Gesundheitsfachkräfte aus armen Ländern in der EU und anderen Industrieländern einzustellen, ist eine weitere Herausforderung mit wachsender Bedeutung. Setzt sich dieser Prozess ungesteuert fort, so kann für die Entwicklung des Gesundheitswesens in den Herkunftsländern (denen die Fachkräfte verloren gehen) ein beträchtlicher Schaden entstehen und die nachhaltige Ausbildung von Ärzten und Krankenpflegepersonal in diesen Ländern kann in Gefahr geraten. Die Abwanderung ausgebildeter Gesundheitsfachkräfte aus ressourcenarmen Herkunftsländern bedeutet einen erheblichen Verlust der in die Ausbildung von Gesundheitspersonal getätigten Investitionen (14). Zur Bewältigung dieses Problems müssen neue Lösungen, wie etwa ein besonderer Ausgleichfonds, Ausbildungsmaßnahmen und Rückkehranreize, gefunden werden. Das Beispiel Großbritanniens und Irlands, wo sichergestellt wird, dass der Staatliche Gesundheitsdienst den Grundsatz der ethischen Anwerbung von Fachkräften anwendet, ist weithin als bewährte Verfahrensweise anerkannt. Die Mitgliedstaaten müssen gewährleisten, dass solche Verfahren angenommen und von Beschäftigungsagenturen des Gesundheitswesens, privaten Gesundheitseinrichtungen sowie öffentlichen Gesundheitsdiensten angewendet werden.

6.13.2

Gesundheitsfachkräfte (besonders Krankenpflegepersonal und Ärzte) spielen eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung und Verbesserung der Gesundheitsfürsorge für Migranten. Die Mitgliedstaaten müssen gewährleisten, dass Gesundheitsfachkräfte in der Lage sind, den Gesundheitsbedürfnissen von Migranten gerecht zu werden und die mit der Kultur, Religion sowie dem Lebensstil zusammenhängenden Faktoren zu verstehen, die Einfluss auf die Gesundheitsgewohnheiten dieser spezifischen Bevölkerungsgruppen haben. Dies ist erforderlich, um Migranten den Zugang zu entsprechenden Gesundheitsfürsorgediensten zu gewährleisten, die auch kulturellen Besonderheiten Rechnung tragen.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Siehe Stellungnahme des EWSA vom 31.5.2007 zum Thema „Herausforderungen und Möglichkeiten für die EU im Zuge der Globalisierung“ (Sondierungsstellungnahme), Berichterstatter: Herr MALOSSE, Mitberichterstatter: Herr NILSSON, ABl. C 175 27.7.2007.

(2)  ILO, „A Fair Globalization“, 2004.

(3)  Siehe Stellungnahme des EWSA vom 20.4.2006 zu dem „Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs (2008)“ — KOM(2005) 467 endg. — 2005/0203 (COD), Berichterstatterin: Frau CSER (ABl. C 185 vom 8.8.2006).

(4)  Die 1990 verabschiedete Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen ist im Juli 2003 in Kraft getreten. Sie ergänzt das ILO-Übereinkommen über Wanderarbeitnehmer von 1949 (Nr. 97) und das ILO-Übereinkommen über Wanderarbeiter (ergänzende Bestimmungen) von 1975 (Nr. 143). Die drei Übereinkommen bilden zusammen einen Rahmen für den Umgang mit den Rechten von Wanderarbeitern und mit Problemen der illegalen Migration. Sie sind in einem breiteren politischen Kontext zu sehen, der auch die jüngst verabschiedeten UN-Übereinkommen zur Bekämpfung von illegalem Handel, Schmuggel und Ausbeutung umfasst, z.B. die UN-Konvention gegen die transnationale organisierte Kriminalität und das Protokoll zu diesem betreffend Prävention, Verhinderung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels (2000) sowie das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, Luft- und Seeweg (2000), das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes bezüglich des Verkaufs von Kindern, Kinderprostitution und Kinderpornographie (2000), sowie die bereits 1951 verabschiedete Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und das Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. Obwohl diese Übereinkommen bis heute von verhältnismäßig wenigen Ländern oder gegebenenfalls regionalen Wirtschaftsorganisationen ratifiziert wurden (mit Ausnahme der Flüchtlingsübereinkommen), können wesentliche Elemente dieser Instrumente Teil einer umfassenderen Agenda werden.

(5)  Rat der Europäischen Union, Achtzehnmonatsprogramm des deutschen, des portugiesischen und des slowenischen Vorsitzes, Brüssel, 21. Dezember 2006.

(6)  Siehe folgende Stellungnahmen des EWSA:

Stellungnahme vom 13.9.2006 zum Thema „Die Einwanderung in die EU und die Integrationspolitik: Die Zusammenarbeit zwischen den regionalen und lokalen Gebietskörperschaften und den Organisationen der Zivilgesellschaft“, Berichterstatter: Herr Pariza Castaños (ABl. C 318 vom 23.12.2006).

Stellungnahme vom 15.12.2005 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament — Das Haager Programm: Zehn Prioritäten für die nächsten fünf Jahre — Die Partnerschaft zur Erneuerung Europas im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ — KOM(2005) 184 endg., Berichterstatter: Herr Pariza Castaños (ABl. C 65 vom 17.3.2006).

Stellungnahme vom 20.4.2006 zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zu Gemeinschaftsstatistiken über Wanderung und internationalen Schutz“ — KOM(2005) 375 endg. — 2005/0156 (COD), Berichterstatterin: Frau Sciberras (ABl. C 185 vom 8.8.2006).

(7)  Bericht der Vereinten Nationen „Trends in Total Migrant Stock: The 2003 Revision“.

(8)  Statistikbehörde US Census Bureau, IDB — Rank Countries by Population,

http://www.census.gov/ipc/www/idbrank.html.

(9)  Die „Informationsquelle Migration“,

http://www.migrationinformation.org/Feature/display.cfm?id=336.

(10)  Mitteilung zum Thema Zirkuläre Migration vom 16. Mai 2007.

(11)  The New Global Slave Trade (Der neue globale Sklavenhandel), Ethan B. Kapstein, aus „Foreign Affairs“, November/Dezember 2006.

(12)  M.G. Carta, M Bernal, MC Harday und JM Abad: Migration and mental health in Europe 2005 (Migration und psychische Gesundheit in Europa 2005).

(13)  „Who Cares? Women Health Workers in the Global Labour Market“ (Wen kümmert's? Weibliche Gesundheitsfachkräfte auf dem globalen Arbeitsmarkt), herausgegeben von Kim Van Eyck, PhD, 2005.

(14)  Kim Van Eyck ed., 2005, Who cares?, UNISON UK: PSI.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgender Änderungsantrag, auf den mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen als Ja-Stimmen entfiel, wurde im Verlauf der Beratungen abgelehnt (und wird hier gemäß Artikel 54 Ziffer 3 der Geschäftsordnung wiedergegeben):

Ziffer 1.1.8

Ersatzlos streichen:

„1.1.8

Nationale Programme zur Förderung der öffentlichen Gesundheit sollten unter Berücksichtigung von Minderheitskulturen ins Bildungswesen aufgenommen werden.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 44

Nein-Stimmen: 51

Stimmenthaltungen: 11


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/131


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Euregios“

(2007/C 256/23)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Januar 2006 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zu erarbeiten: „Euregios“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 21. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr ZUFIAUR.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 11. Juli) mit 108 Stimmen bei einer Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Hintergrund

1.1   Definition

1.1.1

Euregios sind dauerhafte Strukturen für die grenzübergreifende Zusammenarbeit zwischen direkt benachbarten regionalen und lokalen Gebietskörperschaften beiderseits einer Staatsgrenze.

1.1.1.1

Zu den Wesensmerkmalen (1) von Euregios und ähnlichen Strukturen zählt u.a., dass sie

keine neue Verwaltungs- oder Regierungsebene sind, sondern eine Plattform für den Austausch und die grenzübergreifende, „horizontale“ Zusammenarbeit zwischen lokalen und regionalen Behörden und so eine stärkere „vertikale“ Zusammenarbeit zwischen den lokalen bzw. regionalen Gebietskörperschaften, den nationalen Regierungen und den europäischen Institutionen fördern;

ein Zusammenschluss von lokalen und regionalen Gebietskörperschaften beiderseits einer Staatsgrenze sind, der in manchen Fällen über eine parlamentarische Versammlung verfügt;

ein grenzübergreifender Zusammenschluss mit einem ständigen Sekretariat, einem Fach- und Verwaltungsmitarbeiterstab und eigenen Ressourcen sind;

in manchen Fällen eine privatrechtliche Einrichtung auf der Grundlage von gemeinnützigen Verbänden oder Stiftungen dies- oder jenseits einer Staatsgrenze im Einklang mit den jeweiligen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und in anderen Fällen eine Einrichtung nach öffentlichem Recht auf der Grundlage von zwischenstaatlichen Verträgen sind, die u.a. für die Einbindung der Gebietskörperschaften und ihre Zusammenarbeit Sorge trägt;

vielfach nicht nur durch ihre geografischen oder politisch-administrativen Grenzen definiert sind, sondern auch gemeinsame wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wesensmerkmale teilen.

1.1.2

Es gibt zahlreiche unterschiedliche Bezeichnungen für die verschiedenen Euregios: Euregio, Euroregion, Europaregion, Großregion, Regio u.a.

1.2   Ziele

1.2.1

Euregios und ähnliche Strukturen (2) streben in erster Linie die grenzübergreifende Zusammenarbeit an; jede hat ihre eigenen Prioritäten, die sich nach den jeweiligen regionalen und geografischen Besonderheiten richten. In der Anfangsphase bzw. im Falle von Arbeitsgemeinschaften, die zu ganz speziellen Zwecken eingerichtet wurden, wird vor allem auf die Förderung des gegenseitigen Verständnisses, den Aufbau kultureller Beziehungen sowie die Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit abgezielt. Euregios, die über stärker integrierte Strukturen und Eigenmittel verfügen, haben sich hingegen ehrgeizigere Ziele gesetzt: Sie befassen sich mit Fragen aller Art, die mit der grenzübergreifenden Zusammenarbeit zu tun haben, d.h. mit der Förderung gemeinsamer Interessen in den verschiedensten Bereichen bis hin zur Konzipierung und Durchführung grenzübergreifender Programme und konkreter Projekte.

1.2.2

Die grenzübergreifenden Tätigkeiten betreffen nicht nur die soziale und wirtschaftliche Entwicklung und die kulturelle Zusammenarbeit, sondern auch andere Bereiche von gemeinsamem Interesse für die grenznahe Bevölkerung, insbesondere die Bereiche Soziales, Gesundheit, Aus- und Weiterbildung, Forschung und Entwicklung, Abfallwirtschaft, Umweltschutz und Landschaftspflege, Tourismus und Freizeitwirtschaft, Naturkatastrophen, Verkehr und Kommunikationsinfrastruktur.

1.2.3

Die Euregios werden als geeigneter Rahmen für die Verwirklichung der Freizügigkeit und die Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts in der EU angesehen, da kooperative Verfahrensweisen in den Grenzregionen zur Anwendung kommen, mit denen Kompetenzkonflikte vermieden werden.

1.2.4

Sie tragen von unten und aus dem Alltagsleben heraus dynamisch zum Aufbau und zur Integration der Europäischen Union bei.

1.2.5

Die grenzübergreifende Zusammenarbeit führt zu neuen Wegen dafür, wie gemeinsame Problemstellungen organisatorisch und praktisch gelöst werden können, wie z.B. interregionale Gewerkschaftsverbände, die Zusammenarbeit zwischen Unternehmerverbänden und Handelskammern, die Einrichtung eines Wirtschafts- und Sozialrates auf Euregio-Ebene o.Ä.

1.2.6

Von der Arbeit eines solchen Gremiums auf Euregio-Ebene konnte sich die mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme beauftragte Studiengruppe dank der Einladung des Wirtschafts- und Sozialausschusses der Großregion (3) zu einer Anhörung am 13. Februar 2007 in Luxemburg selbst ein Bild machen.

1.3   Historische Entwicklung

1.3.1

Der Europarat mit Sitz in Straßburg ist die europäische Organisation, die sich seit Jahrzehnten mit Euregios und der grenzübergreifenden Zusammenarbeit im Allgemeinen befasst.

1.3.2

Die ersten Erfahrungen mit der grenzübergreifenden Zusammenarbeit wurden Ende der 40er Jahre gemacht. Das BENELUX-Abkommen aus dem Jahr 1948 war eine erste Initiative zur Überwindung der Trennlinien entlang von Staatsgrenzen. Die Euregio wurde 1958 in dem Gebiet um das niederländische Enschede und das deutsche Gronau gegründet. Kurz darauf wurden auch außerhalb der damaligen Europäischen Gemeinschaft, und zwar in Skandinavien, verschiedene Initiativen ins Leben gerufen, wie die Region Öresund, die Region Nordkalott und die Region Kvarken über die Grenzen Dänemarks, Finnlands, Norwegens und Schwedens hinweg.

1.3.3

Zwischen 1975 und 1985 wurde eine Reihe von Arbeitsgemeinschaften (ARGE) zwischen Regionen verschiedener Länder eingerichtet (beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft des Jura CTJ oder die Arbeitsgemeinschaft der Pyrenäen CTP), die jedoch nur über einen begrenzten Handlungsspielraum verfügten.

1.3.4

Die regionale grenzübergreifende Zusammenarbeit und die Einrichtung von Euregios finden seit 1990 verstärkt Zuspruch (4). Diese Entwicklung wurde u.a. durch folgende Faktoren begünstigt:

die Fortschritte in der europäischen Integration, insbesondere mit der Errichtung des Binnenmarktes, der Einführung des Euro und der Erweiterung der EU;

die verstärkte Dezentralisierung und Regionalisierung in Europa;

die Intensivierung der grenzübergreifenden Arbeit;

die, wenn auch begrenzte, Anerkennung der Rolle der Regionen in den Beschlussfassungsprozessen der europäischen Institutionen;

der Start von Gemeinschaftsinitiativen für die grenzübergreifende Zusammenarbeit, wie z.B. INTERREG.

1.3.5

Mit den letzten Erweiterungsrunden von 15 auf nunmehr 27 Mitgliedstaaten hat sich die Zahl der Grenzregionen erheblich erhöht und die Palette ihrer Wesensmerkmale stark erweitert. Konkret ist die Zahl der NUTS-II-Grenzregionen um 38 gestiegen, und die Grenzen haben jetzt eine Gesamtlänge von 14 300 km anstelle von 7 137 km.

1.3.6

Das Europäische Parlament vertrat in seiner Entschließung (5) von Dezember 2005 die Auffassung, dass die grenzübergreifende Zusammenarbeit für die europäische Kohäsion und Integration von grundlegender Bedeutung ist, und forderte die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission auf, den Einsatz von Euroregionen zu fördern und zu unterstützen. Die grenzübergreifende Zusammenarbeit wurde auch in den Entwurf für einen europäischen Verfassungsvertrag aufgenommen (Artikel III-220).

1.4   Arten der Zusammenarbeit

1.4.1

In der Gemeinschaftsinitiative INTERREG III zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen Regionen hat die Europäische Kommission drei Arten der Zusammenarbeit unterschieden:

A — Grenzübergreifende Zusammenarbeit

Ziel der grenzübergreifenden Zusammenarbeit ist die wirtschaftliche und soziale Integration durch die Umsetzung gemeinsamer Entwicklungsstrategien und die Durchführung eines strukturierten Austausches zwischen den Partnern beiderseits der Grenze.

B — Transnationale Zusammenarbeit

Ziel der transnationalen Zusammenarbeit zwischen nationalen, regionalen und lokalen Behörden ist es, durch die Bildung größerer Gruppen europäischer Regionen, sog. Makroregionen, ein höheres Maß an territorialer Integration zu erreichen.

C — Interregionale Zusammenarbeit

Ziel der interregionalen Zusammenarbeit ist die Intensivierung des Informations- und Erfahrungsaustausches, ohne dass es sich dabei unbedingt um Grenzregionen handeln muss.

Die Euregios gehören insbesondere zum Typ A, immer stärker jedoch auch zum Typ B.

2.   EU-Kontext

2.1

In jüngster Zeit wurde der allgemeine Rahmen für die Arbeit der Euregios durch die Vorlage verschiedener Gemeinschaftsvorschläge gestärkt. Im ersten Halbjahr 2006 wurden einige wichtige Entscheidungen mit Auswirkungen auf die grenzübergreifende Zusammenarbeit durch das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union angenommen.

2.2   Finanzielle Vorausschau

2.2.1

Die Europäische Kommission hat ihren ursprünglichen Vorschlag für die Überarbeitung der finanziellen Vorausschau für den Zeitraum 2007-2013 (6) im Jahr 2004 vorgelegt, in dem sie das Ausgabenniveau für eine Union mit 27 Mitgliedstaaten für diesen Zeitraum mit 1,14 % des BNE veranschlagt hat. Angesichts der wichtigen Herausforderungen, denen sich die Europäische Union stellen muss, hat sich der Ausschuss in seiner diesbezüglichen Stellungnahme (7) für eine Anhebung der Eigenmittelobergrenze auf 1,30 % des BNE (also mehr als die früheren 1,24 %) ausgesprochen. Der Europäische Rat hat im Dezember 2005 die Gesamtausgaben für den Zeitraum 2007-2013 auf 1,045 % des BNE festgelegt. Nach Verhandlungen zwischen dem Rat und dem Europäischen Parlament beläuft sich der endgültige Vorschlag nunmehr auf 864,316 Mrd. EUR, d.h. 1,048 % des BNE.

2.2.2

Diese deutliche Kürzung wirkt sich auf die Maßnahmen zugunsten des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts aus, für die anstelle von 0,41 % des BNE in der EU der 15 nur mehr 0,37 % des BNE in der EU der 27 zur Verfügung stehen. Und dies gerade in einer Zeit, in der aufgrund des Beitritts der neuen Mitgliedstaaten und anderer Herausforderungen wie der Globalisierung, denen sich die EU stellen muss, eine Aufstockung und keinesfalls eine Kürzung der Mittel notwendig wäre.

2.2.3

Im Zusammenhang mit der europäischen territorialen Zusammenarbeit sind für das neue Ziel 3 rund 8,72 Mrd. EUR (d.h. 2,44 % der insgesamt für den Zusammenhalt vorgesehenen 0,37 % des BNE) veranschlagt im Vergleich zu den 13 Mrd. EUR, die die Europäische Kommission in ihrem ursprünglichen Vorschlag gefordert hatte. Einem Mehr an Aufgaben wird also ein Weniger an Mitteln gegenüberstehen.

2.2.4

Die finanzielle Unterstützung der EU für die grenzübergreifende Zusammenarbeit wurde zwar im Vergleich zum Zeitraum 2000-2006 erhöht, doch ist aufgrund der Kürzungen im Vergleich zum ursprünglichen Vorschlag der Europäischen Kommission eine engere Zusammenarbeit zwischen den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften und eine stärkere Nutzung öffentlich-privater Partnerschaften erforderlich. Die veranschlagten Mittel betreffen nach der Aufnahme der zwölf neuen Mitgliedstaaten nunmehr eine größere Zahl an Grenzregionen, insbesondere in Mittel- und Osteuropa.

2.3   Neue Verordnungen

2.3.1

Die Europäische Kommission hat im Juli 2004 Vorschläge für die Strukturfonds für den Zeitraum 2007-2013 vorgelegt, mit denen ein Ziel „Konvergenz“ anstelle des bisherigen Ziels 1, ein Ziel „Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“ anstelle von Ziel 2 und ein neues Ziel 3 „Europäische territoriale Zusammenarbeit“ festgelegt werden, in dem den Maßnahmen im Bereich der grenzübergreifenden Zusammenarbeit ein größerer Stellenwert eingeräumt wird.

2.3.2

So wird insbesondere das neue Ziel 3 (8), das sich auf die Erfahrungen aus der Gemeinschaftsinitiative INTERREG stützt, der Förderung einer ausgewogenen Integration innerhalb der Europäischen Union durch die Unterstützung der grenzübergreifenden, transnationalen und interregionalen Zusammenarbeit gewidmet sein.

2.3.3

Der Ausschuss hat 2005 mehrere einschlägige Stellungnahmen zur Reform der Strukturfonds sowie des Kohäsionsfonds verabschiedet (9). Der Rat und das Europäische Parlament haben die neuen Verordnungsvorschläge 2006 (10) angenommen.

2.4   Kohäsionspolitik: Strategische Leitlinien

2.4.1

Die Mitteilung der Europäischen Kommission zu den strategischen Leitlinien für die Kohäsionspolitik (11) wurde nach Annahme der verschiedenen Strukturfondsverordnungen ebenfalls gebilligt. In dieser Mitteilung wird die Bedeutung des neuen Ziels 3 „Europäische territoriale Zusammenarbeit“ in seinen drei Ausrichtungen bekräftigt: grenzübergreifende, transnationale und interregionale Zusammenarbeit.

2.4.2

Das neue Ziel der Zusammenarbeit dient der Förderung einer stärkeren Integration des EU-Gebiets und einer Verringerung des „Grenzschrankeneffekts“ durch grenzübergreifende Zusammenarbeit und den Austausch bewährter Praktiken.

2.4.3

Die strategischen Leitlinien für die europäische Kohäsionspolitik sollen

a)

die Anziehungskraft der Regionen im Hinblick auf den Ausbau der Investitionstätigkeit stärken,

b)

Innovation und Unternehmergeist fördern und

c)

Arbeitsplätze schaffen. Und schließlich sollen sie besonders der territorialen Dimension in der Kohäsionspolitik Rechnung tragen.

2.4.4

Staatsgrenzen stehen bekanntermaßen der Entwicklung des gesamten Gemeinschaftsraums oft im Wege, wodurch das volle Wettbewerbspotenzial der EU beschnitten wird. Eines der wichtigsten Ziele der grenzübergreifenden Zusammenarbeit in der EU ist daher die Beseitigung des „Grenzschrankeneffekts“ zwischen den Mitgliedstaaten sowie die Schaffung von Synergien, um gemeinsame Lösungen für gemeinsame Probleme zu finden.

2.4.5

Die Kohäsionspolitik sollte sich vorrangig auf Maßnahmen konzentrieren, die einen Mehrwert für grenzübergreifende Tätigkeiten bedeuten, wie z.B. Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Grenzgebieten durch Innovation, Forschung und Entwicklung, sowie die Verbindung immaterieller (Dienstleistungs-) oder materieller (Verkehrs-) Netze zwecks Stärkung einer grenzübergreifenden Integration und damit auch der europäischen Identität; die Förderung der Mobilität und der Transparenz des grenzübergreifenden Arbeitsmarktes, eine grenzübergreifende Wasserwirtschaft und ein grenzübergreifender Hochwasserschutz, die Entwicklung des Tourismus, die Stärkung der Einbindung der sozioökonomischen Interessengruppen, die Aufwertung des kulturellen Erbes, eine bessere der Raumplanung usw.

2.5   Neue Rechtsgrundlage für die territoriale Zusammenarbeit

2.5.1

Rückblickend gesehen, hat das Fehlen eines einheitlichen europarechtlichen Rahmens für die grenzübergreifende Zusammenarbeit die Entwicklung einschlägiger Maßnahmen in diesem Bereich gebremst.

2.5.2

Die Europäische Kommission hat 2004 die Errichtung europäischer Verbünde für grenzüberschreitende Zusammenarbeit (EVGZ) vorgeschlagen, eine Bezeichnung, die in dem endgültigen Kommissionsvorschlag von „grenzüberschreitend“ in „territorial“ geändert wurde.

2.5.3

In der am 31. Juli 2006 angenommenen Verordnung (12) werden folgende Punkte anerkannt:

Es bedarf geeigneter Maßnahmen zur Reduzierung der Schwierigkeiten, vor welchen die Mitgliedstaaten und insbesondere die Regionen und die lokalen Behörden bei der Durchführung und Verwaltung der Aktionen der territorialen Zusammenarbeit im Rahmen der unterschiedlichen nationalen Vorschriften und Verfahren stehen.

Zur Überwindung der Hindernisse für die territoriale Zusammenarbeit bedarf es eines Instruments der Zusammenarbeit auf gemeinschaftlicher Ebene, um im Gebiet der Gemeinschaft einen Kooperationsverbund mit eigener Rechtspersönlichkeit unter der Bezeichnung „Europäischer Verbund für territoriale Zusammenarbeit“ (EVTZ) zu gründen.

Die territoriale Zusammenarbeit sollte gemäß dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsprinzip geschaffen werden. Gemäß dem ebenda genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Verordnung nicht über das für die Erreichung ihrer Ziele erforderliche Maß hinaus, da die Errichtung eines EVTZ fakultativ ist und im Einklang mit der Verfassungsordnung der jeweiligen Mitgliedstaaten erfolgt.

3.   Wirtschaftliche Integration und territorialer und sozialer Zusammenhalt

3.1   Integration und Spezialisierung

3.1.1

In den bisherigen großen Mitgliedstaaten ist ein großer Teil der Wirtschaftstätigkeit in zentralen Landesteilen und vielfach in der Hauptstadt und größeren Städten geballt. In jedem Land hat sich eine gewisse wirtschaftliche Spezialisierung unter den Regionen entwickelt.

3.1.2

Die europäische Integration fördert die Schaffung neuer Räume für die Zusammenarbeit, wie beispielsweise die Euregios. Mit der europäischen Integration findet die regionale Spezialisierung nicht mehr nur innerhalb der einzelnen Staaten, sondern immer stärker auf gesamteuropäischer Ebene statt. Die Grenzen zwischen den einzelnen Staaten sind keine unüberbrückbare Schranke für Handel und Austausch mehr. Dadurch wird der Aufbau neuer Beziehungen zwischen Regionen, auch mit unterschiedlichem Entwicklungsstand, in den verschiedenen Mitgliedstaaten erleichtert, die allerdings gemeinsame Ziele im Rahmen einer immer stärkeren Spezialisierung auf europäischer Ebene verfolgen.

3.1.3

Eine derartige Zusammenarbeit ist insbesondere in Bereichen notwendig, in denen eine Tätigkeit in einem begrenzten Handlungsumfeld ausgeübt und durch den Grenzeffekt stärker beeinträchtigt wird, wie beispielsweise im Fall der KMU.

3.1.4

Nach Meinung des Ausschusses sollten die Euregios umfassend zu den Zielen der Politik für den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt der EU beitragen. Die vorrangigen Ziele in dem neuen Vorschlag für eine Territorialpolitik der Europäischen Union lauten dementsprechend Konvergenz, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Schaffung neuer Arbeitsplätze, insbesondere in den weniger entwickelten Regionen sowie in den Regionen, die neuen Herausforderungen im Bereich der Spezialisierung gegenüberstehen.

3.2   Wettbewerbsfähigkeit

3.2.1

Die Euregios ermöglichen Kosteneinsparungen. Grundsätzlich bedeutet die Einrichtung einer Euregio größere Märkte (Einsparungen durch Agglomeration), Komplementarität der Produktionsfaktoren und stärkere Anreize für Investitionen. So können bestimmte Innovations- und Entwicklungsinvestitionen durchaus eine direkte Wirkung in einem Radius von 250-500 Kilometern entfalten. Auch wenn einige Euregios diesen Resonanzradius noch übertreffen, so gilt für die meisten doch ein Radius von 50 bis höchstens 100 Kilometern.

3.2.2

Die Euregios sind von grundlegender Bedeutung, um in bestimmten Bereichen eine ausreichende kritische Masse zu erreichen, die wiederum eine Reihe von Investitionen in wesentliche Dienste ermöglicht, die ohne grenzübergreifende Zusammenarbeit gar nicht erbracht werden könnten.

3.2.3

Die grenzübergreifende Zusammenarbeit zwischen lokalen und regionalen Gebietskörperschaften kann verschiedene öffentliche Dienstleistungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit bieten:

Informations-, Kommunikations-, Energie- und Verkehrsnetze sowie weitere grenzübergreifende Infrastrukturen;

öffentliche Dienstleistungen wie Schulen, Krankenhäuser und Notfalldienste;

Einrichtungen und Dienste zur Förderung der privaten Wirtschaftstätigkeit, einschl. der Entwicklung des Handels, des Unternehmergeistes und der Zusammenarbeit von grenzübergreifenden Unternehmen, sowie zur Förderung der Schaffung neuer Arbeitsplätze und der Mobilität der Arbeitnehmer.

3.3   Kohäsion: Schwierigkeiten des grenzübergreifenden Arbeitens

3.3.1

Der Großteil der Euregios setzt sich aus Regionen zusammen, die sich in ihrem Entwicklungsniveau ähneln. Es gibt allerdings auch Euregios, die Regionen mit unterschiedlichem Entwicklungsstand umfassen. Ein Zweck der Euregios ist es, wirtschaftliche und andere Tätigkeiten zu fördern, die die Unterschiede zwischen den Regionen mindern. Daher ist ein stärkeres Engagement der betreffenden Mitgliedstaaten und der EU von grundlegender Bedeutung.

3.3.2

In Grenzregionen werden die sozialen Investitionen in grundlegende Dienstleistungen oftmals in geringerem Umfang im Vergleich zu dem, was in den zentraler gelegenen Regionen eines Landes investiert wird, vorgenommen. Dies ist häufig darauf zurückzuführen, dass Randgebiete in den Zentren der Beschlussfassung weniger wahrgenommen werden. Dies geht oft mit einer unzureichenden Verfügbarkeit hochwertiger, diversifizierter und rentabler Dienstleistungen einher, insbesondere für besonders schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen (Kinder, Einwanderer, Familien mit geringer Kaufkraft, Menschen mit Behinderungen, chronisch Kranke u.a.).

3.3.3

Die Euregios können von großem Nutzen für die Entwicklung derartiger Dienstleistungen sein und so dazu beitragen, diese Bevölkerungsgruppen durch einen grenzübergreifenden Ansatz besser zu schützen. Sie können außerdem den Abbau eines Großteils der rechtlichen, verwaltungstechnischen und finanziellen Hürden und Ungleichheiten fördern, die der Entfaltung ihrer Bürger im Wege stehen. Sie tragen ferner dazu bei, historische Vorurteile auszuräumen, eine gemeinsame Betrachtungsweise zu finden und für ein besseres gegenseitiges Verständnis ihrer jeweiligen Unterschiede zu sorgen.

3.3.4

Die Rechtslücken und die unzureichende Rechtsangleichung in Bezug auf die Freizügigkeit von Grenzgängern konnten bislang nur teilweise durch den Acquis communautaire und den Europäischen Gerichtshof geschlossen werden. Angesichts der immer größeren Zahl von Grenzgängern hat sich dies zu einem relevanten Faktor auf europäischer Ebene ausgewachsen, insbesondere im Steuerwesen und im Bereich der sozialen Sicherheit und der Sozialdienste, in denen nach wie vor unterschiedliche Definitionen und Handhabungsweisen von Konzepten wie des Aufenthaltsortes, der familiären Verhältnisse und der Rückerstattung von Gesundheitsausgaben, der Doppelbesteuerung sowie weitere bürokratische Hürden bestehen (13).

4.   Die grenzübergreifende Zusammenarbeit — ein Mehrwert für die europäische Integration

4.1   Grenzen überwinden

4.1.1

Die Notwendigkeit, über Integrationshindernisse hinwegzukommen, ist Teil des Alltags der Bürgerinnen und Bürger in den Grenzregionen. Es geht nicht darum, die Souveränität der Staaten einzuschränken oder zu verletzen, sondern eine wirksame Zusammenarbeit in allen Lebensbereichen über alle Grenzen hinweg zu ermöglichen, um die Lebensbedingungen für die Bürger zu verbessern und das Europa der Bürger Wirklichkeit werden zu lassen.

4.1.2

Die innergemeinschaftlichen Grenzen haben ihre Bedeutung als echte Schranken großteils verloren, doch es bestehen nach wie vor wirtschaftliche, soziokulturelle, verwaltungstechnische und rechtliche Unterscheide, die insbesondere an den Außengrenzen der EU zu spüren sind. Daher ist es das Ziel der grenzübergreifenden Zusammenarbeit, gemeinsame Strukturen, Verfahren und Instrumente zu finden, mit denen die administrativen und normativen Hürden abgebaut und die historisch trennenden Faktoren beseitigt werden können und die Nachbarschaft zu einem Faktor für Mobilität, Wirtschaftsentwicklung und sozialen Fortschritt werden kann. In einem Wort: es gilt, die grenzübergreifenden Regionen zu „Gebieten gemeinsamen Wohlstands“ zu machen.

4.2   Mehrwert

4.2.1

Dank der grenzübergreifenden Zusammenarbeit und ihrer Verwirklichung in Form von Euregios können nicht nur Konflikte vermieden, Katastrophen bewältigt und Barrieren in den Köpfen überwunden, sondern auch die Entwicklung beiderseits der Grenze deutlich verbessert werden. Dieser Mehrwert kann in der Politik, im institutionellen Gefüge, in der Wirtschaft, im sozialen Bereich, in der Kultur und in der europäischen Integration festgemacht werden. Die grenzübergreifende Zusammenarbeit ist ein wertvoller Beitrag zur Förderung des Zusammenlebens, der Sicherheit und der europäischen Integration. Sie ist ein sehr wirkungsvolles Mittel, um die gemeinschaftlichen Grundsätze von Subsidiarität, Partnerschaft sowie wirtschaftlichem, sozialem und territorialem Zusammenhalt umzusetzen und die vollständige Eingliederung neuer Mitgliedstaaten in die EU zu fördern.

4.2.2

Diese dauerhaften Strukturen der grenzübergreifenden Zusammenarbeit ermöglichen die aktive und nachhaltige Einbindung der Bürger und der Behörden wie auch länderübergreifender politischer und sozialer Gruppen und fördern das gegenseitige Verständnis und den Aufbau einer vertikalen und horizontalen Partnerschaft ausgehend von den unterschiedlichen Strukturen und Zuständigkeiten in den betreffenden Ländern. Sie ermöglichen darüber hinaus die Verwaltung grenzübergreifender Programme und Projekte oder Mittel aus unterschiedlichen Quellen (EU-, staatliche oder Eigenmittel sowie Mittel von Dritten). Nach Ansicht des Ausschusses hat die gemeinsame Entwicklung derartiger Initiativen bessere Aussichten auf Erfolg, wenn die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle übernimmt.

4.2.3

In sozioökonomischer Hinsicht ermöglichen diese Strukturen der grenzübergreifenden Zusammenarbeit die Mobilisierung des Potenzials aller Akteure (Handelskammern, Verbände, Unternehmen, Gewerkschaften, soziale und kulturelle Einrichtungen, Umweltorganisationen, Tourismusverbände usw.), die Öffnung der Arbeitsmärkte und die Harmonisierung der beruflichen Qualifikationen, die Förderung der Wirtschaftsentwicklung und der Schaffung neuer Arbeitsplätze durch Maßnahmen in anderen Bereichen, wie Infrastruktur, Verkehr, Tourismus, Umwelt, Bildung, Forschung und KMU-Zusammenarbeit.

4.2.4

Im soziokulturellen Bereich liegt der Mehrwert der grenzübergreifenden Zusammenarbeit in der ständigen Verbreitung des allgemeinen Wissens, also einer Verbreitung sozusagen in Form eines „grenzübergreifenden Kontinuums“, das in unterschiedlichen Veröffentlichungen und Formaten aufgegriffen werden kann. Auf diese Weise können auch Netze von Einrichtungen angesprochen werden, die ihrerseits als Multiplikatoren agieren, beispielsweise Bildungseinrichtungen, Umweltschutzorganisationen, Kulturverbände, Bibliotheken und Museen. Die grenzübergreifende Zusammenarbeit trägt außerdem zur Chancengleichheit und zur guten Beherrschung der Sprache des Nachbarlandes einschl. örtlicher Dialekte bei — beides grundlegende Elemente der grenzübergreifenden regionalen Entwicklung und Grundvoraussetzungen für die Kommunikation.

4.2.5

Eine derartige grenzübergreifende Zusammenarbeit in Form dauerhafter Strukturen, wie es Euregios sind, bringt aufgrund der Komplementarität der grenzübergreifenden Programme und Projekte, der freigesetzten Synergien, der gemeinsamen Forschung und Innovation, der Schaffung dynamischer und stabiler Netze, des Austausches von Erfahrungen und bewährter Verfahren, der indirekten Auswirkungen des Wegfalls der Grenzen sowie der grenzübergreifenden, effektiven Verwaltung der zur Verfügung stehenden Ressourcen einen zusätzlichen Nutzen für die nationalen Maßnahmen.

4.3   Hindernisse

Allerdings gibt es nach wie vor bestimmte Umstände, die die grenzübergreifende Zusammenarbeit behindern (14). Zu nennen sind hier u.a.:

rechtliche Einschränkungen für grenzübergreifende Tätigkeiten der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften aufgrund der einzelstaatlichen Gesetzgebung;

unterschiedliche Strukturen und Befugnisse der einzelnen Verwaltungsebenen beiderseits der Grenze;

fehlendes politisches Engagement, insbesondere auf nationaler Ebene, zur Aufhebung dieser Einschränkungen, beispielsweise durch nationale Regelungen oder bilaterale Abkommen;

fehlender gemeinsamer Rahmen im Steuerwesen und im Bereich der sozialen Sicherheit sowie fehlende Anerkennung von Hochschuldiplomen und Berufsbefähigungsnachweisen;

unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen beiderseits der Grenze;

sprachliche, kulturelle und psychologische Barrieren, insbesondere Vorurteile und historische Gegnerschaften zwischen den Völkern.

4.4   Allgemeine Grundsätze der grenzübergreifenden Zusammenarbeit

4.4.1

Mittels zahlreicher Beispiele aus ganz Europa kann eine Reihe allgemeiner Grundsätze für den Erfolg der grenzübergreifenden Zusammenarbeit ausgemacht werden:

Bürgernähe: Die Menschen in den Grenzregionen wollen die Zusammenarbeit, um die Schwierigkeiten zu überwinden, denen sie gegenüberstehen, oder um ihre Lebensbedingungen zu verbessern.

Einbindung der politischen Entscheidungsträger (auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene): Sie ist für eine gute grenzübergreifende Zusammenarbeit von grundlegender Bedeutung.

Subsidiarität: Die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften haben bewiesen, dass sie für die Verwirklichung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit am besten geeignet sind, auch wenn die Zusammenarbeit mit der nationalen Regierung unerlässlich ist.

Partnerschaft: Die Einbindung aller Akteure beiderseits der Grenze ist notwendig, um gemeinsame Ziele zu erreichen.

Gemeinsame Strukturen: Gemeinsame Strukturen mit gemeinsamen Ressourcen (technische Mittel, Verwaltungs-, Finanz- und Beschlussfassungsinstrumente) sind der Garant für eine dauerhafte Tätigkeit und eine kontinuierliche Weiterentwicklung wie auch für die Ausübung bestimmter Befugnisse, die Verwaltung von Programmen (einschl. europäischer Programme), die Konsensfindung über die Grenzen hinweg und die Abwendung nationaler Egoismen.

5.   Entwicklung kooperativer Entscheidungsstrukturen

5.1   Neue Räume erfordern neue Entscheidungsstrukturen

5.1.1

Die Euregios sind territoriale Einheiten, in denen neue Modelle der Zusammenarbeit innerhalb des öffentlichen und des privaten Sektors wie auch zwischen diesen beiden Sektoren für die Festlegung neuer vernetzter Politiken mit einer stärkeren Einbindung aller wirklich Betroffenen umgesetzt werden.

5.1.2

Das Konzept der Governance als Lenkungssystem kann als stärker partizipativ und horizontal ausgerichtete Form des Regierens im Vergleich zu den herkömmlichen, stärker hierarchisch und vertikal ausgerichteten Formen angesehen werden. Im Fall der Euregios ist die Governance besonders komplex und interessant, da es hier darum geht, gemeinsame Lösungen für gemeinsame Probleme zu finden.

5.1.3

Die Euregios tragen in immer stärkerem Maße zu dem für die europäische Governance unerlässlichen Subsidiaritätsaspekt in der europäischen Politik zur Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts bei.

5.1.4

Der EWSA vertritt in diesem Zusammenhang die Ansicht, dass Euregios und ähnliche Strukturen einen wesentlichen Beitrag zur Vertiefung des europäischen Integrations- und Einigungsprozesses leisten sollten.

5.1.5

Die Einrichtung von Euregios erfordert ihrerseits eine Zusammenarbeit zwischen institutionellen und gesellschaftlichen Akteuren, die von oftmals sehr unterschiedlichen Traditionen und Denkweisen geprägt sind. Dass man Nachbar ist, bedeutet nicht automatisch, dass man stärker zusammenarbeitet. Daher sind die Institutionen und die Organisationen der Zivilgesellschaft auch von grundlegender Bedeutung in der horizontalen Governance.

5.1.6

Die Teilnahme von Vertretern der wirtschaftlichen und sozialen Bereiche an der Verwaltung der Euregios erfordert die Schaffung eines entsprechenden institutionellen Rahmens. Es sind Wege zu finden, die Organisationen der Zivilgesellschaft in die Konzipierung und Durchführung der politischen Maßnahmen, die auf unterschiedlichen Ebenen der Zusammenarbeit in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten gesetzt werden, einzubinden. Die Teilnahme der sozialen Akteure am EURES-Netz in grenzübergreifenden Bereichen ist ein wichtiger konkreter Schritt für die Umsetzung dieses Grundsatzes.

6.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

6.1

Die Annahme der Verordnung über den Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) und die Aufnahme eines neuen Zieles für die territoriale Zusammenarbeit hat neue Möglichkeiten für das Handeln der Euregios eröffnet. Denn einerseits wird damit ein gemeinschaftliches Rechtsinstrument für die grenzübergreifende Zusammenarbeit geschaffen und andererseits den Mitgliedstaaten auf ihren verschiedenen Ebenen die Möglichkeit an die Hand gegeben, sich an der territorialen grenzübergreifenden Zusammenarbeit zu beteiligen. Außerdem bedeutet der Schritt von der „grenzübergreifenden“ hin zur „territorialen Zusammenarbeit“, dass die Euregios ihren Handlungsspielraum über die eigentlichen Bereiche der Zusammenarbeit auf der lokalen Ebene und in benachbarten Gebietskörperschaften hinaus auf die integrierte Entwicklung umfassenderer Gebiete mit gemeinsamem Synergie- und Entwicklungspotenzial ausweiten können.

6.2

Daher ist die von den Euregios geförderte territoriale Zusammenarbeit aus Sicht des EWSA ein grundlegendes Element, um die europäische Integration voranzubringen, die durch die Staatsgrenzen bedingte wirtschaftliche, soziale und kulturelle Kluft zu verringern und den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt zu stärken. Der Ausschuss spricht sich daher dafür aus, der grenzübergreifenden territorialen Zusammenarbeit in der kommenden Debatte über die endgültige Fassung des neuen EU-Vertrags besonderes Augenmerk zu widmen.

6.3

Damit die europäische territoriale Zusammenarbeit die durch die vorgenannten Reformen geschaffenen Erwartungen auch wirklich erfüllen kann, ist nach Auffassung des Ausschusses eine stärkere Beteiligung der Mitgliedstaaten und ihrer nachgeordneten Gebietskörperschaften an der Entwicklung der Euregios erforderlich. Hierfür wären einzelstaatliche Strategien für die territoriale Zusammenarbeit im Gemeinschaftsrahmen notwendig. Die Mitgliedstaaten müssten außerdem insbesondere zur Lösung der dringlichsten Probleme der Bevölkerung in den Grenzregionen beitragen, die in der Regel in den Bereichen Arbeitsmarkt, Gesundheit, Sozialschutz, Bildung und Verkehr zu finden sind.

6.4

Nach Meinung des Ausschusses wäre für eine bessere Wirksamkeit der Maßnahmen der territorialen Zusammenarbeit und in Anwendung des Subsidiaritätsprinzips eine Ausweitung der direkten Verwaltung der grenzübergreifenden und in bestimmten Fällen auch transnationalen Projekte, die mit EU- oder staatlichen Mitteln finanziert werden, durch die EVTZ erforderlich.

6.5

Damit die Euregios zu „Gebieten gemeinsamen Wohlstands“ werden, müsste ferner der private Unternehmensbereich (einschließlich der Sozialwirtschaft) stärker in grenzübergreifende Entwicklungsinitiativen eingebunden werden, wobei der Bedeutung der KMU als Rückgrat des Produktionsgeflechts und für die Schaffung von Arbeitsplätzen Rechnung zu tragen ist.

6.6

Nach Ansicht des Ausschusses sind die Euregios wie auch die EVTZ, die gemäß der Verordnung Nr. 1082/2006 eingerichtet werden, eine beispielhafte Verwirklichung der Grundsätze des europäischen Regierens, die die Europäische Kommission in ihrem Weißbuch 2001 erläutert hat. Die Wirksamkeit der grenzübergreifenden Tätigkeiten und Maßnahmen und der territorialen Zusammenarbeit ganz allgemein hängt somit von einer echten „Partnerschaft“ zwischen allen beteiligten territorialen und sozioökonomischen Akteuren ab. In diesem Sinne sollten nach Ansicht des Ausschusses Mechanismen für die Teilnahme der repräsentativen Einrichtungen der organisierten Zivilgesellschaft in die Projekte der territorialen Zusammenarbeit konzipiert werden.

6.7

Der Ausschuss spricht sich insbesondere dafür aus, dass das EURES-Netz zu einem europäischen Instrument weiterentwickelt wird, das eine zentrale Mittlerfunktion zwischen Nachfrage und Angebot auf dem Arbeitsmarkt übernimmt. Der grenzübergreifende Bereich ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Erprobungsfeld. Daher bedauert der Ausschuss den seit Jahren festzustellenden Trend zu einer „Renationalisierung“ der Verwaltung des EURES-Netzes und plädiert für dessen echte grenzübergreifende Verwaltung. Im Übrigen hat EURES neben seiner Mittlerfunktion auf dem Arbeitsmarkt auch eine wichtige Rolle als Impulsgeber für den sozialen Dialog in angrenzenden transnationalen Bereichen.

6.8

Die Organisationen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens haben eine unbestritten wichtige Funktion für die europäische Integration. In dieser Hinsicht begrüßt der Ausschuss die Ansätze zu einem Agieren über nationale Grenzen hinweg, u.a. in Form der interregionalen Gewerkschaftsverbände, der verschiedenen Arten der transnationalen Zusammenarbeit und des Zusammengehens zwischen Unternehmerverbänden, Handelskammern, Forschungszentren und Hochschulen oder der Gründung interregionaler Wirtschafts- und Sozialräte. Solche Ansätze müssen gestärkt und weiterentwickelt werden, wofür der Ausschuss seine Unterstützung anbietet, soweit ihm dies möglich ist.

6.9

Die Euregios spielen aus Sicht des Ausschusses sowohl für die Wirtschaftsentwicklung wie auch die Sicherheit der Bürger und die soziale Integration eine wichtige Rolle in den Grenzregionen mit Drittländern und können eine noch wichtigere Rolle übernehmen. Daher spricht er sich dafür aus, dass diese Art von Einrichtungen und ihre Arbeit Gegenstand der Nachbarschafts- und Heranführungspolitik der EU werden.

6.10

In Anbetracht des im Rahmen der grenzübergreifenden Zusammenarbeit gesammelten reichen Erfahrungsschatzes (einige Beispiele sind im Anhang dieser Stellungnahme dargelegt) und der Tatsache, dass selbst andere Euregios kaum darüber Bescheid wissen, ist der Ausschuss der Auffassung, dass die Ausarbeitung eines einschlägigen „Leitfadens für bewährte Verfahren“ seitens der Europäischen Kommission, in dem auch Beispiele bestehender ÖPP aufgegriffen werden, sehr zweckdienlich wäre.

6.11

Die Bewertung einer so facettenreichen Frage wie der hier erörterten kann nicht in einer einzigen Stellungnahme vorgenommen werden. Der Ausschuss hält es daher für angebracht, diese Thematik (die territoriale grenzübergreifende Zusammenarbeit und die sie tragenden Strukturen) in weiteren Stellungnahmen zu Themen von grenzübergreifendem, gemeinsamem Interesse, wie Arbeitsmarkt, Tourismus, Entwicklungspole u.a., zu behandeln.

Brüssel, den 11. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Siehe AGEG: „Praktisches Handbuch zur grenzübergreifenden Zusammenarbeit“, 2000.

(2)  Mit „Euregio“ sind im Folgenden auch weitere ähnliche Strukturen mitgemeint.

(3)  Saarland — Lothringen — Großherzogtum Luxemburg — Rheinland-Pfalz — Wallonische Region — Französische Gemeinschaft Belgiens — Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens.

(4)  Derzeit gibt es mehr als 168 Euregios und ähnliche Strukturen. Rund die Hälfte aller Regionen der EU-Mitgliedstaaten ist Teil einer Euregio.

(5)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 1. Dezember 2005 zu der Rolle der „Euroregionen“ bei der Entwicklung der Regionalpolitik.

(6)  KOM(2004) 101 endg.

(7)  EWSA-Stellungnahme zu der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: „Unsere gemeinsame Zukunft aufbauen — Politische Herausforderungen und Haushaltsmittel der erweiterten Union — 2007-2013“, ABl. C 74 vom 23.3.2005, S. 32.

(8)  KOM(2004) 495 endg., Artikel 6: Europäische territoriale Zusammenarbeit.

(9)  EWSA-Stellungnahmen zu den „(…) allgemeinen Bestimmungen“ der Fonds, zum „Kohäsionsfonds“, zum „Europäischen Fonds für regionale Entwicklung“ sowie zu dem „Europäischen Verbund für grenzüberschreitende Zusammenarbeit“, ABl. C 255 vom 14.10.2005, S. 76, 79, 88 und 91.

(10)  ABl. L 210 vom 31.7.2006.

(11)  KOM(2005) 299 endg. und KOM(2006) 386 endg., vom Rat am 5. Oktober 2006 angenommen.

(12)  ABl. L 210 vom 31.7.2006.

(13)  Die künftige Beobachtungsstelle für Beschäftigung des EWSA könnte eine Folgestellungnahme zur Problematik der Arbeit in Grenzregionen und der grenzübergreifenden Beschäftigung ausarbeiten.

(14)  Siehe EWSA-Stellungnahme zum Thema „Bewältigung des industriellen Wandels in grenzüberschreitenden Regionen nach der Erweiterung der Europäischen Union“ vom 21. April 2006, ABl. C 185 vom 8.8.2006.


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/138


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Beziehungen zwischen der EU und Zentralamerika“

(2007/C 256/24)

In seiner Plenartsitzung am 17. Januar 2007 beschloss der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Die Beziehungen zwischen der EU und Zentralamerika“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 14. Juni 2007 an. Berichterstatter war Herr SOARES.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 12. Juli) mit 63 Ja-Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA ist bereits seit Jahren der Auffassung, dass die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika Teil eines über Handelsbeziehungen hinausgehenden strategischen Ansatzes sind, denn sie zeigen den Willen Europas, bei der Realisierung eines Gesellschaftsmodells, das auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte, Frieden und Solidarität zwischen den Völkern beruht, als aktiver Partner zu fungieren (1).

1.2

Ferner sind die Beziehungen zu Lateinamerika und zur Karibik geschichtlich betrachtet viel mehr als nur die Suche nach einem wirtschaftlichen oder geostrategischen Partner. Die Völker Lateinamerikas haben zu Europa seit langem kulturelle, politische, soziale, sprachliche und emotionale Verbindungen und teilen dieselbe Weltsicht, was außerordentlich zu schätzen ist und in dem beginnenden Verhandlungsprozess nicht vergessen werden darf.

1.3

Nach Aufnahme der Verhandlungen zwischen der EU und Zentralamerika über den Abschluss eines Assoziierungsabkommens zwischen diesen beiden Weltregionen ist es nach Auffassung des EWSA dringend nötig, dass sich alle Anstrengungen darauf konzentrieren, rasch ein beispielhaftes Abkommen zu erzielen, das beide Seiten zufrieden stellt und zugleich als Vorbild für die derzeitigen und künftigen Verhandlungen mit Lateinamerika und der Karibik dienen kann, da es die gegenseitigen Vorteile einer strategischen Partnerschaft mit der Europäischen Union achtet. Hierbei handelt es sich um Vorteile, die weit über den Handelsaustausch hinaus reichen müssen, da sie auf den Grundlagen des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, einer nachhaltigen Entwicklung der Region, der Rechtsstaatlichkeit sowie der Achtung der Würde aller Menschen beruhen.

1.4

Der EWSA hofft, dass die Verhandlungen die zentralamerikanischen Regierungen veranlassen, ihren Dialog mit der organisierten Zivilgesellschaft ihres Landes zu intensivieren. Ein demokratischer und transparenter Dialog, der auf konkreten, beiderseitig respektierten Vorschlägen beruht. Der EWSA fordert daher den Beratenden Ausschuss des Systems für Zentralamerikanische Integration (CC-SICA) auf, weiterhin auf möglichst einvernehmliche Abkommen hinzuarbeiten, die die Haltung der gesamten zentralamerikanischen Zivilgesellschaft zu den Verhandlungen widerspiegeln und die für das Follow-up des gesamten Prozesses erforderlichen Zusagen ermöglichen.

1.5

Der EWSA empfiehlt, bei den Verhandlungen folgende Aspekte zu berücksichtigen:

1.5.1

die erforderliche Stärkung der organisierten Zivilgesellschaft Zentralamerikas, insbesondere durch die institutionelle Stärkung des CC-SICA als beratenden Organs des SICA. Die EU muss darauf hinwirken, dass ihre Verhandlungspartner stärker anerkennen, welch grundlegende Rolle der CC-SICA für eine erfolgreiche regionale Integration gespielt hat und spielen muss, und diesem Organ entsprechend dem von der Kommission in dem Dokument zur regionalen Zusammenarbeit vorgegebenen Ziel finanzielle Unterstützung gewähren;

1.5.2

die Einführung von Sozialklauseln, die nötig sind, damit das Assoziierungsabkommen der Gesamtheit der Gesellschaft zugute kommt und zu einem entscheidenden Faktor für die Konsolidierung der Demokratien, für die Bekämpfung der Armut, der sozialen Ausgrenzung und der Arbeitslosigkeit sowie für die Entwicklung eines Wirtschaftsmodells wird, das die Ungleichheiten nicht noch verstärkt oder vertieft. Das Abkommen soll auch dazu dienen, den sozialen Zusammenhalt zu erhöhen und die biologische Vielfalt zu wahren (in diesem Sinne sollte das Abkommen Tausende von Kleinbauern berücksichtigen, die eine umweltverträglichere Landwirtschaft betreiben möchten). Besondere Aufmerksamkeit verdient während der Aushandlung und der anschließenden Umsetzung des Assoziierungsabkommens die uneingeschränkte Einhaltung der internationalen Arbeitsnormen der ILO durch die Regierungen;

1.5.3

das Bestehen eines Allgemeinen Präferenzsystems als einseitiges Instrument der Europäischen Union zur Unterstützung der ärmsten Staaten, weshalb die handelspolitischen Aspekte des Abkommens für die zentralamerikanischen Staaten vorteilhafter sein müssen als es dieses — bereits ziemlich positive — System schon vorsieht;

1.5.4

die die organisierte Zivilgesellschaft muss regelmäßig und rechtzeitig relevante Informationen erhalten, um die Verhandlungen institutionell verfolgen zu können. Dies umfasst auch die Möglichkeit, dass vor den Verhandlungsrunden Konsultationen stattfinden, damit der Standpunkt der organisierten Zivilgesellschaft berücksichtigt wird; auch sollten Foren für ein breiteres gesellschaftliches Publikum veranstaltet werden, damit alle Bürger den Fortgang dieser Verhandlungen genau verfolgen können. Diesbezüglich muss als zentrales Element der Mitwirkung der Zivilgesellschaft die Schaffung eines Gemischten Ausschusses zur Begleitung der Verhandlungen in Betracht gezogen werden, der in institutionalisierter Weise tätig wird, alle Verhandlungen verfolgt und als Vermittler zwischen den Verhandlungspartnern und der Zivilgesellschaft insgesamt dienen kann.

1.5.5

Damit schließlich sämtliche Aspekte des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und Zentralamerika unter echter Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft verhandelt werden, empfiehlt der EWSA, dass der Gemischte Beratende Ausschuss EWSA/CC-SICA, der in Artikel 52 Absatz 4 der politischen Vereinbarung zwischen den beiden Regionen vorgesehen ist, unmittelbar nach der Unterzeichnung des Abkommens tätig werden kann — mit der Aufgabe, die Umsetzung des Abkommens zu beobachten.

2.   Einleitung

2.1

Die Beziehungen zwischen der EU und Zentralamerika insgesamt sind bislang nicht sehr intensiv, wenngleich sich die EU entscheidend für die Befriedung und Demokratisierung der Region einsetzte und einen interministeriellen Dialog — den Ministerdialog von S. José 1984 — startete, der noch heute ein Meilenstein für die Region ist.

2.2

2003 unterzeichneten die EU und Zentralamerika ein Abkommen über die Konsolidierung des politischen Dialogs und der Zusammenarbeit. Im Mai 2006 wurde auf dem 4. Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EU, Lateinamerikas und der Karibik der Wille bekundet, möglichst rasch Fortschritte in Richtung auf ein Assoziierungsabkommen zu erzielen (2).

2.3

Der Wiener Erklärung zufolge, die im April 2006 auf dem 4. Treffen der Zivilgesellschaft EU/Lateinamerika und Karibik verabschiedet wurde, sollten sich die Assoziierungsvereinbarungen zwischen der EU und Lateinamerika sowie der Karibik nicht auf Handels- und Wirtschaftsfragen beschränken, sondern müssen auch politische, kulturelle und soziale Aspekte berücksichtigen, um zu einem stärkeren sozialen Zusammenhalt zu gelangen.

2.4

In dem Protokoll über die Zusammenarbeit zwischen dem EWSA und dem CC-SICA werden als Leitlinien für die Arbeit der beiden Institutionen festgelegt das „Engagement für die Aufnahme des sozialen Dialogs in das künftige Assoziierungsabkommen EU/Zentralamerika“ und die „Unterstützung der Initiative zur Schaffung eines Gemischten Beratenden Ausschusses der Zivilgesellschaft beider Weltregionen im institutionellen Rahmen des künftigen Assoziierungsabkommens“. Der erfolgreiche Abschluss eines Assoziierungsabkommens hängt sehr stark davon ab, dass die organisierte Zivilgesellschaft beider Regionen die Verhandlungen effektiv begleiten kann und in der Lage ist, die gesamte Gesellschaft über die Fortschritte, die Schwierigkeiten und die Erfolge zu unterrichten.

3.   Eine neue Etappe in den Beziehungen EU/Zentralamerika

3.1

Derzeit konkretisieren sich die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Zentralamerika im politischen Dialog und der Zusammenarbeit sowie in den Handelsbeziehungen, die die EU in den 70er Jahren durch das Allgemeine Präferenzsystem förderte, zu dem inzwischen noch eine Sonderregelung mit Anreizen für nachhaltige Entwicklung und ordentliche Governance — einschließlich der Bekämpfung des Drogenhandels — (SPG+) hinzugekommen ist.

3.2

Die EU ist nach den USA (46 %) der zweitgrößte Handelspartner Zentralamerikas mit 12 % des Gesamthandels. Was jedoch die Entwicklungshilfe und -zusammenarbeit anbelangt, ist die EU der größte Geldgeber Zentralamerikas mit Haushaltsmitteln in Höhe von 563,2 Mio. EUR im Zeitraum 2002-2006, zu denen noch 74,5 Mio. EUR im Rahmen des Memorandums zwischen der Kommission und dem Generalsekretariat des SICA sowie über 279 Mio. EUR Katastrophenhilfe hinzukommen, letztere hauptsächlich infolge des Hurrikans Mitch und des anschließenden Erdbebens in El Salvador. Die EU hat für die Jahre 2007-2013 eine Aufstockung ihrer Entwicklungshilfe auf 840 Mio. EUR zugesagt, und auch der Umfang der europäischen Direktinvestitionen in Zentralamerika nimmt weiter zu.

3.3

Jedoch gehen die Beziehungen zwischen der EU und Zentralamerika weit über Handel und Zusammenarbeit hinaus und beruhen auf einer umfassenderen strategischen Sicht, die so sensible Bereiche wie Sicherheit und Terrorbekämpfung, Umweltschutz und Aufbau eines Modells für nachhaltige Entwicklung, Migration und ihre notwendige Steuerung zum Nutzen sowohl der Herkunfts- als auch der Aufnahmeländer der Migranten sowie die Einführung einer neuen Weltwirtschaftsordnung auf der Grundlage einer verantwortungsvollen Regierungsführung unter Achtung der Menschenrechte sowie der wirtschaftlichen und sozialen Rechte umfasst.

3.4

Der im Mai 2006 in Wien gefasste Beschluss, Verhandlungen mit Zentralamerika über den Abschluss eines Assoziierungsabkommens aufzunehmen, ist schon für sich allein genommen eine Herausforderung und Chance, die nicht verpasst werden darf.

3.5

Da die europäische Strategie für den Abschluss von Assoziierungsabkommen auf einem interregionalen Dialog beruht, muss analysiert werden, wie fortgeschritten die Integration der Region Zentralamerika ist.

3.5.1

Die Integration Zentralamerikas ist schon ein altes Projekt, das bis auf die Unabhängigkeit der zentralamerikanischen Staaten zurückgeht. Dieses Projekt hat durch das Protokoll von Tegucigalpa von 1991 und den Vertrag über die wirtschaftliche Integration Zentralamerikas von 1993 an Aktualität gewonnen.

3.5.2

Zwar besteht ein mehrheitlicher Konsens über die regionale Integration, doch werden bislang kaum Fortschritte erzielt, weil sich die politischen Beschlüsse nur schwer konkret umsetzen lassen, weil erhebliche wirtschaftliche Schwächen bestehen oder auch, weil es an regionaler Solidarität mangelt. Dennoch kann man sagen, dass die Integration seit 2002 deutlichere Züge anzunehmen scheint (3).

3.5.3

Behindert wird der Integrationsprozess jedoch dadurch, dass die regionalen Institutionen zu schwach sind und daher keine supranationalen Beschlüsse gefasst werden können; dadurch, dass sich die Volkswirtschaften der Länder dieser Region unterschiedlich entwickeln; sowie dadurch, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen fast nicht an der Beschlussfassung und an der Sensibilisierung für die Vorteile der regionalen Integration beteiligt sind; diese Faktoren erschweren entschlossenere Fortschritte im Integrationsprozess.

3.5.4

Trotz der Schwierigkeiten stimmen jedoch einige Faktoren optimistisch im Hinblick auf den regionalen Integrationsprozess, insbesondere die gemeinsame Tradition und Kultur der betreffenden Länder, das Vorhandensein eines relativ stabilen und verantwortungsvollen rechtlichen und institutionellen Rahmens sowie die empfundene und bekräftigte Notwendigkeit, einige Institutionen zu reformieren (PARLACEN (4)), um in den Strategien zur Einführung regionaler Politiken größere Effizienz erreichen zu können. Zuversichtlich und vertrauenserweckend stimmen auch die Bewusstwerdung und die stärkere Mitwirkung der Zivilgesellschaft.

3.5.5

In den jüngsten Sitzungen des Gemischten Ausschusses EU/Zentralamerika im April 2007 sagten die zentralamerikanischen Regierungen zu, bis zum Abschluss der Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen einen Rechtsrahmen für die Schaffung der zentralamerikanischen Zollunion mit entsprechendem Durchführungszeitplan vorzulegen, was ein wichtiger und entscheidender Schritt in Richtung zentralamerikanische Integration und Möglichkeit eines Abkommens zwischen den beiden Weltregionen ist.

3.6

Der nun beginnende Verhandlungsprozess bietet eine außerordentliche Chance zur Nutzung beiderseitiger Vorteile in verschiedenen Bereichen, die ausgeschöpft werden können und müssen. Darunter sind beispielsweise folgende Aspekte zu nennen:

3.6.1

Entwicklung und Stärkung der Zollunion und Abschaffung der Wirtschafts- und Zollbarrieren zwischen den Ländern der Region, eine von der EU unterstützte Politik, die einen starken Beitrag dazu leisten kann, dass die zentralamerikanischen Volkswirtschaften einander ergänzen und ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber ihren derzeitigen und potenziellen Wirtschaftspartnern steigern. Dies erleichtert etwaige europäische Investitionen in der Region und sogar die Umsetzung der Entwicklungszusammenarbeit;

3.6.2

ein stärkerer und harmonischerer sozialer Zusammenhalt festigt die noch jungen zentralamerikanischen Demokratien, wodurch Konfliktpotenzial entschärft, die Rechtssicherheit erhöht und ein Austausch zwischen den beiden Weltregionen, der auf klaren, gemeinsam beschlossenen und respektierten Regeln beruht, ermöglicht wird. Wie mehrere Studien der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) belegen, hängt die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Länder zu einem guten Teil vom erreichten Niveau des sozialen Zusammenhalts ab. Daher muss die organisierte Zivilgesellschaft in den ganzen Verhandlungsprozess einbezogen werden;

3.6.3

ein weiterer Bereich von Interesse für beide Weltregionen ist die Erarbeitung vorbeugender Maßnahmen gegen Naturkatastrophen, um Zentralamerika weniger anfällig zu machen. Diese Region ist Naturkatastrophen ausgeliefert, die zahlreiche Menschenleben kosten und die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Millionen Menschen verschlechtern. Diesem Umstand sollte in den Verhandlungen Rechnung getragen werden, indem vorbeugende Maßnahmen und Katastrophenschutzvorkehrungen getroffen werden. Gleichzeitig würden diese Maßnahmen die Aufgabe der Hilfe im Katastrophenfall erleichtern und die Kosten der solidarischen internationalen Hilfe verringern;

3.6.4

und schließlich sei — ohne Anspruch auf Vollständigkeit — hervorgehoben, dass die EU und Zentralamerika die gleichen Interessen haben, wenn es darum geht, die Umwelt und die Artenvielfalt durch Politiken, Programme und konkrete Maßnahmen dringend zu schützen. Wenn die Verhandlungen Anreize schaffen für einen vernünftigen Umgang mit natürlichen Ressourcen, für die Ablehnung umweltschädlicher Verfahren und Produkte, für die Achtung der Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte der Landarbeiter(innen) sowie für die Ausweisung von Naturschutzgebieten, so wird das Assoziierungsabkommen einen wertvollen Beitrag leisten, der nicht nur beiden Weltregionen zugute kommt, sondern auch ein Muster für eine Assoziierung neuen Typs darstellt, das in anderen Verhandlungen als Beispiel dienen kann.

4.   Die politische, wirtschaftliche und soziale Lage in Zentralamerika

4.1

Die Länder Zentralamerikas gehören zu den ärmsten Lateinamerikas und weisen erhebliche Mängel bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung auf, was den sozialen Zusammenhalt jedes einzelnen dieser Länder und der gesamten Region — bedingt durch die starke Armut und eine sehr ungleiche Vermögensverteilung — insgesamt stark beeinträchtigt.

4.2

Es handelt sich um eine Region (mit Ausnahme von Costa Rica), in der demokratische Prozesse erst jüngst begonnen haben und die langjährige Diktaturen und bewaffnete Konflikte mit nachhaltigen Auswirkungen erlebt hat. Folgende Hindernisse stehen ihrer Entwicklung im Wege:

a)

noch immer schwach ausgeprägte Demokratien mit unzureichendem Schutz der Grundrechte, Straflosigkeit für Verbrechen, Korruption, mangelnde Transparenz von Regierung und Verwaltung bei ökonomischen und politischen Entscheidungen usw.;

b)

Schwäche der Wirtschaft, vor allem aufgrund mangelnder Wettbewerbsfähigkeit der verschiedenen Länder und ihrer Abhängigkeit von den Konjunkturen der Weltmärkte;

c)

schwacher sozialer Zusammenhalt, vor allem aufgrund hoher Armut und unzureichender Vermögensverteilung, die es den ärmsten Bevölkerungsschichten nicht gestattet, am Wirtschaftswachstum teilzuhaben, sondern sie zu alternativen Überlebensformen wie Auswanderung oder sozialer Gewalt zwingt;

d)

vielfältige Umweltprobleme, einerseits aufgrund von Naturkatastrophen in dieser Region (Erdbeben, Überschwemmungen, anhaltende Dürren) und andererseits aufgrund der bedenkenlosen Ausbeutung der Bodenschätze. Nach Feststellungen des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) zählen zu den Faktoren, die die Umweltprobleme in Zentralamerika verstärken, unter anderem der ungeordnete und nahezu planlose Verstädterungsprozess, die Übernutzung der Wasserressourcen, die exzessive Verwendung von Pestiziden in der Landwirtschaft und die Waldrodungen.

4.3

In wirtschaftlicher Hinsicht erfuhr die zentralamerikanische Region ein Wachstum, das allerdings nicht ausreicht, um die sozialen Probleme zu lösen. In den vergangenen Jahren betrug die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate in der Region zwischen 3,2 % und 3,5 %. Aber die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der zentralamerikanischen Volkswirtschaften — mit Ausnahme von Costa Rica und El Salvador — weist diesen Ländern auf der Skala der Wettbewerbsfähigkeit, die vom World Economic Forum für das Jahr 2006 aufgestellt wurde, die hinteren Plätze zu: 53. (Costa Rica), 61. (El Salvador) 75. (Guatemala) 93. (Honduras) und 95. (Nicaragua) — auf einer Skala von 125 Staaten.

4.4

In sozialer Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass die zentralamerikanische Gesellschaft sehr komplex und vielfältig ist und Eingeborenengemeinschaften sowie eine nicht unbedeutende Gruppe von afrikanisch-stämmigen Einwohnern umfasst, die im allgemeinen marginalisiert, wenn nicht gar vergessen sind.

4.5

Die Eingeborenengemeinschaften werden gewöhnlich mit den armen ländlichen Gebieten in Verbindung gebracht, wobei häufig die Wanderungsbewegung in die Städte aufgrund der stets schlechter werdenden wirtschaftlichen Situation auf dem Lande vergessen wird, die zu einer Zunahme des Armutsgürtels um die Städte beiträgt.

4.6

Die afrikanischstämmigen Einwohner, die in allen Ländern außer El Salvador anzutreffen sind, haben nicht die erforderliche politische und gesellschaftliche Beachtung erfahren und sind Opfer von rassischen, beruflichen und sozialen Diskriminierungen.

4.7

Die soziale Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, die von sämtlichen sozioökonomischen Indikatoren angezeigt wird, ist ein Sachverhalt, der schon wegen seines Umfangs nicht übersehen werden kann. Sowohl an der Arbeitslosigkeit als auch an den prekären Jobs, an der Qualität der Arbeit oder der Höhe erhaltenen Lohnes und an der besonders hohen Schulabbrecherquote von Mädchen ist zu erkennen, dass die Lage der Frauen in der zentralamerikanischen Gesellschaft äußerst nachteilig, ja geradezu dramatisch ist, zumal ein hoher Anteil unter ihnen aus verschiedenen Gründen auch Haushaltsvorstand ist.

4.8

Dass keine aktualisierten, zuverlässigen und vergleichbaren Daten über die Situation der Frauen und Mädchen vorliegen, scheint zu belegen, dass dieser Frage nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt wird, obwohl die Regierungen der Region die internationalen Übereinkommen unterzeichnet und ratifiziert haben, so das einschlägige ILO-Übereinkommen oder das UN-Übereinkommen gegen jede Art von Diskriminierung von Frauen. Die Gewalt gegen Frauen (in ihren verschiedenen Formen, von häuslicher Gewalt bis zu Gewalt am Arbeitsplatz) ist weiterhin sehr besorgniserregend, trotz der Bemühungen der Frauenbewegungen.

4.9

Die Armut, die mit Ausnahme von Costa Rica praktisch die Hälfte der Bevölkerung oder mehr betrifft, das Gewicht des informellen Arbeitsmarktes, der etwa 40 % ausmacht, die mehr als ungenügenden Haushaltsmittel für soziale Belange wie Gesundheit und Bildung und die Arbeitslosigkeit sind Merkmale einer Region, die man vor Augen haben muss, um eine Vorstellung von dem Mangel an sozialem Zusammenhalt zu erhalten, der dort herrscht.

4.10

Auch muss hervorgehoben werden, dass es im Allgemeinen keine Politik der Achtung der Menschenrechte gibt. Insbesondere werden die Rechte der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften nicht respektiert, wenngleich die verschiedenen zentralamerikanischen Länder zahlreiche ILO-Übereinkommen ratifiziert haben, wodurch die Verantwortung der Regierungen für die Wahrung dieser Rechte natürlich zunimmt. Die Ausübung der Bürger- und Gewerkschaftsrechte in dieser Region kann in vielen Fällen schwere persönliche Nachteile mit sich bringen, ja sogar das Leben kosten.

5.   Kriterien, die es im Zusammenhang mit einem Assoziierungsabkommen EU/Zentralamerika zu berücksichtigen gilt

5.1

Bei der Vorgehensweise zur Konkretisierung des künftigen Assoziierungsabkommens müssen einige zu berücksichtigende Kriterien hervorgehoben werden, die nach Auffassung des EWSA nicht nur grundlegende Elemente für den Erfolg dieses Abkommens, sondern auch Teil einer umfassenderen Strategie für ganz Lateinamerika sein müssen.

5.2

Asymmetrien. Ein erstes Element, das es zu berücksichtigen gilt, sind die enormen Asymmetrien zwischen den beiden Weltregionen in vielerlei Hinsicht: Fläche, Bevölkerung, BIP, Handelsbeziehungen, wirtschaftliche und soziale Entwicklung.

5.2.1

So starke Asymmetrien zwischen den beiden Regionen machen Ausgleichsmaßnahmen erforderlich, damit das Assoziierungsabkommen erfolgreich sein kann und dazu beiträgt, dass die Handels- und Kooperationspolitiken kohärent sind und sich hinsichtlich ihrer Ziele nicht unterscheiden.

5.3

Förderung des sozialen Zusammenhalts. Dies muss eines der zentralen Kriterien des geplanten Abkommens sein, nicht nur, weil der soziale Zusammenhalt für die EU in ihren Beziehungen zu Drittstaaten ein strategisches Element ist, sondern auch, weil er der Schlüssel für die eigene Entwicklung der zentralamerikanischen Region ist, die mit enormen Problemen der Armut und sozialen Ausgrenzung zu kämpfen hat.

5.3.1

Daher müssen bei der Umsetzung von Sozialpolitiken in ausreichendem Umfang die erforderlichen Maßnahmen getroffen werden — in den Bereichen Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit, aber u.a. auch im Bereich der Steuern, damit die ganze Gesellschaft von der Wirtschaftsentwicklung profitieren und die durch das Assoziierungsabkommen eröffneten Chancen nutzen kann.

5.4

Stärkung der Demokratie und der Institutionen. Angesichts einer so vielfältigen und durch Armut, langjährige Diktaturen und Bürgerkriege so zerrissenen Gesellschaft wie in Zentralamerika muss das Abkommen eine Chance darstellen, die Demokratie, insbesondere die partizipative Demokratie, und ihre Institutionen zu stärken.

5.4.1

Ganz unterschiedliche Einrichtungen, die sich für Menschenrechte, Rechte der Eingeborenen oder Afrikanischstämmigen, die Rechte der Frauen, der Arbeitnehmer oder den Umweltschutz engagieren, fordern eine stärkere Beteiligung an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Beschlussfassung, stoßen aber auf Schwierigkeiten, Gehör zu finden und als vollwertige Partner akzeptiert zu werden. Das Abkommen muss ein Faktor sein, der die Beteiligung und Anerkennung dieser Einrichtungen fördert.

5.4.2

Im konkreten Fall des CC-SICA, des gemäß Artikel 12 des Protokolls von Tegucigalpa eingesetzten Beratungsorgans, muss seine Rolle als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft anerkannt und unterstützt werden, indem ihm die Logistik- und Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt werden, die er für die Erfüllung seiner Aufgabe braucht.

5.4.3

Der EWSA anerkennt den CC-SICA als seine Partnerinstitution und hat mit ihm im April 2006 ein Abkommen geschlossen, das auf dem gemeinsamen Engagement für die Prinzipien Demokratie, Menschenrechte, wirtschaftliche und soziale Rechte sowie auf dem Willen zur Beteiligung am Dialog und an der Schaffung engerer Wirtschafts- und Kooperationsverbindungen zwischen der EU und dem SICA beruht.

5.5

Stärkung der regionalen Integration. Die regionale Integration darf nicht nur als europäische Forderung im Hinblick auf den Abschluss eines Handelsabkommens betrachtet werden, sondern ist auch als eine Chance für die Länder Zentralamerikas zu sehen, damit sie ihre Wirtschaftsschwächen angehen und die Synergien nutzen, die durch die regionale Integration zustande kommen können.

5.5.1

Man darf diese Frage jedoch auch nicht maximalistisch betrachten. Die regionale Integration ist ein Prozess, der Zeit, Unterstützung und ständige Anstrengung erfordert. In diesem Sinne muss das Abkommen eine Reihe von Mechanismen vorsehen (unter anderem die Einrichtung von Zollausgleichsfonds und Fonds für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt), die die regionale Integration der zentralamerikanischen Region antreiben, unterstützen und erleichtern.

5.6

Dem Assoziierungsabkommen eine soziale Dimension verleihen. Das Assoziierungsabkommen enthält drei eng miteinander verbundene Pfeiler — Politik, Handel und Zusammenarbeit -, die alle gleich wichtig sind, weshalb in den Verhandlungen nicht jener Pfeiler überbewertet werden sollte, der sich als der komplexeste und schwierigste herausstellt.

5.6.1

Im Rahmen des Pfeilers „Politik“ muss das Assoziierungsabkommen konkrete Maßnahmen zur Unterstützung der good governance eine soziale Dimension mit dem Ziel eines möglichst starken sozialen Zusammenhalts sowie Klauseln zur Berücksichtigung der Rolle der Frauen, des Schutzes der Menschenrechte, der Arbeitnehmerrechte, der Umwelt, der Eingeborenen und der Einwohner mit afrikanischen Vorfahren enthalten.

5.6.2

Behandelt werden muss auch die Situation der Auswanderung aus Zentralamerika, deren Folgen für die Entwicklung der Länder der Region widersprüchlich sein können (Geldüberweisungen aus dem Ausland; Akademiker- und Arbeitskräfteabwanderung). Bei der Behandlung dieser Frage müssen die Würde und die Rechte der Zentralamerikaner, die in der EU leben und arbeiten, gebührend geachtet werden.

5.6.3

Im Rahmen des Pfeilers „Zusammenarbeit“ muss das Assoziierungsabkommen die Weitergewährung, ja Aufstockung der gemeinschaftlichen Entwicklungshilfen für die Region und die Überwindung ihrer politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Schwächen vorsehen. Vorgesehen werden kann — und muss nach dem Dafürhalten des EWSA — die Unterstützung für Institutionen, die auf Themen wie ILO, UNESCO oder WHO spezialisiert sind und die Entwicklung heikler Themen analysieren.

5.6.4

Wenn die EU die Erwartungen der zentralamerikanischen Länder erfüllen will — die ja schon Erfahrung mit anderen internationalen Abkommen haben (insbesondere dem mit den USA geschlossenen Zentralamerikanischen Freihandelsabkommen CAFTA) -, muss sie beweisen, dass das angestrebte Assoziierungsabkommen umfassendere Ziele verfolgt und mit einer umfassenden sozialen Vision einhergeht, die sich von den Grundprinzipien der EU leiten lässt und ein Wirtschaftsmodell beinhaltet, das in der Lage ist, zu einer nachhaltigen Entwicklung der Region zu führen.

6.   Empfehlungen des EWSA

In Anbetracht der obigen Punkte spricht sich der EWSA für folgende Empfehlungen aus:

6.1

Das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und den zentralamerikanischen Staaten muss eine politische Priorität der Union darstellen, da es für die biregionale Politik der EU mit anderen Partnern in Lateinamerika von strategischer Bedeutung ist;

6.2

das Abkommen muss alle seine Bestandteile — Politik, Handel und Zusammenarbeit — gleichwertig behandeln;

6.3

es ist zu berücksichtigen, dass sich unter den Verhandlungspartnern die ärmsten Staaten Lateinamerikas befinden und dass die enormen Asymmetrien zwischen den beiden Regionen dazu zwingen, die Kooperationsprogramme zu verstärken, um etwaige negative Folgen zu vermeiden und eine Handelsöffnung zu erreichen, die auf diese Tatsachen abgestimmt ist;

6.4

im Assoziierungsabkommen müssen Maßnahmen vorgesehen werden, die die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen steigern und Rechtssicherheit für Investitionen gewährleisten; auch müssen darin Ausgleichsinstrumente vorgesehen werden, um den naturgegebenen Schwierigkeiten zu begegnen, die die Schaffung eines zentralamerikanischen Binnenmarktes aufgrund der Asymmetrien zwischen den Volkswirtschaften dieser Region verursacht;

6.5

das Abkommen muss maßgeblich zu einer Stärkung des sozialen Zusammenhalts in der Region beitragen, indem seine Vorteile sich nicht nur für die ohnehin Privilegierten, sondern für die gesamte Bevölkerung bemerkbar machen;

6.6

es muss eine arbeitsrechtliche Dimension vor allem in Bezug auf die Normen der ILO enthalten; das Assoziierungsabkommen muss dazu beitragen, dass die Unterzeichner die Grundsätze und Werte beachten, die in der Verfassung der ILO und in ihren wichtigsten Instrumenten für den sozialen Bereich verankert sind, wie z.B. in der Erklärung über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit (1998), der Dreiseitigen Grundsatzerklärung zu multinationalen Unternehmen und Sozialpolitik (1977, geändert 2000) und der Entschließung der Internationalen Arbeitskonferenz betreffend die gewerkschaftlichen Rechte und ihre Beziehungen zu den bürgerlichen Freiheiten (1970);

6.7

es muss eine deutliche soziale Dimension haben, die nicht nur Arbeitnehmerfragen umfasst, sondern auch den Umweltschutz, und mit der ein Gesamtfortschritt für die Region und ihre Völker erzielt wird;

6.8

es sind besonders die schwächsten Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen, als da sind die Frauen, die Eingeborenen und die afrikanisch-stämmigen Einwohner;

6.9

das Abkommen muss die erforderlichen Mechanismen für eine effektive Mitwirkung der Zivilgesellschaft vom Beginn der Verhandlungen an bis zu ihrer Umsetzung vorsehen;

6.10

in diesem Sinne sind die Hilfen für die beratenden Gremien der organisierten Zivilgesellschaft zu verstärken, insbesondere für den CC-SICA, das institutionelle Organ für die Integration der zentralamerikanischen Region, damit sie über die erforderlichen personellen, logistischen und finanziellen Mittel zur Erfüllung ihrer Aufgabe verfügen können;

6.11

es muss umgehend ein Gemischter Ausschuss zur Begleitung der Verhandlungen geschaffen werden, der sich aus Mitgliedern des EWSA und des CC-SICA zusammensetzt und in den im beiderseitigen Einvernehmen noch weitere Organisationen Vertreter entsenden können, wenn deren Beteiligung als nützlich und relevant für die Analyse des Verhandlungsprozesses betrachtet wird;

6.12

und schließlich muss mit den Erörterungen zwischen CC-SICA und EWSA über die Zusammensetzung, Aufgaben und Form der Umsetzung des künftigen Gemischten Beratenden Ausschusses begonnen werden, dem institutionellen Beratungsorgan des künftigen Assoziierungsabkommens.

Brüssel, den 12. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  „Sozialer Zusammenhalt in Lateinamerika und der Karibik“ (ABl. C 110 vom 10.4.2004), „Beziehungen EU/Mexiko“; „Die Beziehungen zwischen der EU und der Andengemeinschaft“ (ABl. C 309 vom 16.12.2006).

(2)  Unter Punkt 31 der Schlusserklärung des Gipfeltreffens von Wien heißt es: „Unter Hinweis auf das gemeinsame strategische Ziel der Erklärung von Guadalajara und angesichts der positiven Ergebnisse der mit Zentralamerika durchgeführten gemeinsamen Bewertung der regionalen Wirtschaftsintegration begrüßen wir den Beschluss der Europäischen Union und Zentralamerikas, Verhandlungen über ein Assoziationsabkommen und die Schaffung einer Freihandelszone aufzunehmen.“

(3)  Die Exporte der zentralamerikanischen Länder untereinander haben zwischen 1995 und 2002 um etwa 60 % zugenommen (Informe Centroamericano 2004, IDB).

(4)  Zentralamerikanisches Parlament.


27.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 256/144


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Förderung des Unternehmergeistes der Frauen im Europa-Mittelmeerraum“

(2007/C 256/25)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Januar 2007, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Förderung des Unternehmergeistes der Frauen im Europa-Mittelmeerraum“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 14. Juni 2007 an. Berichterstatterin war Frau ATTARD.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 437. Plenartagung am 11./12. Juli 2007 (Sitzung vom 12. Juli) mit 130 Ja-Stimmen bei 1 Gegenstimme und 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt das uneingeschränkte Engagement der Europäischen Union und der Mittelmeerstaaten für die Partnerschaft Europa-Mittelmeer. Entsprechend dem Fünfjahresprogramm der Europäischen Kommission (1) unterstützt er insbesondere die Vorschläge zur Entwicklung von Maßnahmen, die die Emanzipation der Frauen fördern. Er schlägt vor, zweckgebundene Mittel bereitzustellen, um diejenigen Länder im Europa-Mittelmeerraum finanziell zu unterstützen, in denen Anreize für positive Maßnahmen geschaffen werden, die auf die konkrete Verbesserung der rechtlichen Stellung der Frau abzielen.

1.2

Der EWSA fordert, dass die in den Schlussfolgerungen der ersten Ministerkonferenz Europa-Mittelmeer zum Thema „Stärkung der Rolle der Frauen in der Gesellschaft“ vorgesehenen Prüfmechanismen eine sorgfältige Begleitung und Bewertung der Entwicklung des Unternehmergeistes von Frauen gewährleisten und dass Maßnahmen zur Förderung seiner Weiterentwicklung ergriffen werden.

1.3

Der EWSA tritt nachdrücklich dafür ein, dass im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) besondere Maßnahmen und Ziele zur Förderung des Unternehmergeistes von Frauen in die Nationalen Aktionspläne aufgenommen werden.

1.4

Der EWSA empfiehlt, dass in der ENP mehr Gelder für die Entwicklung des Unternehmergeistes von Frauen und für die technische Unterstützung der Unternehmensgründungen von Frauen bereitgestellt werden.

1.5

Der EWSA begrüßt die Initiativen der GD Unternehmen und Industrie sowie des Amts für Zusammenarbeit EuropeAid (2), da sie sich gezielt an Unternehmer in Europa und in den Partnerländern des Mittelmeerraums richten. Er ruft die Europa-Mittelmeer-Partner dazu auf, vergleichbare Maßnahmen zu ergreifen und den Bedürfnissen dieser Regionen über die mit den Mittelmeer-Partnerländern ausgehandelten Aktionspläne gerecht zu werden.

1.6

Der EWSA begrüßt die Einrichtung des Ad-hoc-Ausschuss für Frauenrechte innerhalb der Parlamentarischen Versammlung Europa-Mittelmeer (EMPA). Er fordert diesen Ausschuss auf, Maßnahmen zum Ausbau der derzeitigen unternehmerischen Tätigkeiten von Frauen vorzuschlagen und zukunftsorientierte, nachhaltige Initiativen zu fördern, mit denen dem globalen Wettbewerb begegnet werden kann.

1.7

Der EWSA empfiehlt, dass Frauen bei der Umsetzung der Europa-Mittelmeer-Charta für Unternehmen (3) als besondere Zielgruppe behandelt werden.

1.8

Es sollten Anstrengungen unternommen werden, damit eine angemessene Zahl junger Männer und Frauen an den Europa-Mittelmeer-Programmen für junge Menschen teilnehmen und auch eine aktivere Rolle darin übernehmen können.

1.9

Der EWSA begrüßt die Initiative der Europa-Mittelmeer-Jugendplattform, ein Europa-Mittelmeer-Netzwerk für Jugendgruppen, die sich mit Gleichstellungsfragen beschäftigen (4), sowie ein Europa-Mittelmeer-Netzwerk für junge Unternehmer (5) einzurichten.

1.10

Nach Auffassung des EWSA kann der Unternehmergeist von Frauen durch die interministerielle Zusammenarbeit und die Einbindung weiterer Akteure — Vertreter von Finanzinstituten, Durchführungseinrichtungen, Industrievertreter, Sachverständige und Kapitalgeber — in den Meinungsaustausch über vorrangige Bereiche sowie durch die erleichterte Übertragung bestehender Unternehmen auf Frauen wirksamer gefördert werden.

1.11

Der EWSA dringt darauf, nichtstaatliche sowie wirtschaftliche und soziale Organisationen, die die wirtschaftliche Tätigkeit von Frauen fördern, durch öffentlich-private Partnerschaften zu unterstützen.

1.12

Der EWSA ruft die Europa-Mittelmeer-Partner dringend auf, eine Konferenz zum Thema Unternehmerinnen im Europa-Mittelmeerraum zu veranstalten, um einschlägige Fragen zu erörtern und Vorschläge zu unterbreiten, wie Frauen zur Bewältigung der allgemeinen Herausforderungen dieser Region beitragen können.

1.13

Der EWSA bekräftigt seine Auffassung, dass die Förderung des Unternehmergeistes der Frauen im Europa-Mittelmeerraum eine wichtige Rolle für den Aufbau einer aktiven und dynamischen Wirtschaft spielt, die für die Globalisierung gerüstet ist.

1.14

Nach Ansicht des EWSA ist die Stärkung des unternehmerischen Umfeldes von Frauen eine Voraussetzung für einen Zugang zu den Märkten dieser Region und der EU-Mitgliedstaaten.

1.15

Der EWSA plädiert dafür, zur Bewältigung künftiger Herausforderungen, vor die Unternehmerinnen gestellt sein können, weitere Untersuchungen durchzuführen, um die besonderen Bedürfnisse innerhalb jedes Landes zu ermitteln

1.16

Der EWSA stellt fest, dass sich eine Reihe von Einrichtungen — GEM, Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), Weltbank — mit dem Europa-Mittelmeerraum unter dem Aspekt Unternehmergeist befasst. Gleichwohl empfiehlt der Ausschuss eine Plattform zur besseren Kommunizierung der Arbeitsergebnisse an die Adresse der verantwortlichen Politiker; sie soll Informationen für die Kleinstunternehmen und die KMU im Europa-Mittelmeerraum zusammentragen und verbreiten und könnte folgende Tätigkeitsschwerpunkte haben:

a.

Bereiche, in denen Unternehmerinnen auf besondere Schwierigkeiten stoßen;

b.

Förderung und Ausbau von Programmen für Unternehmerinnen;

c.

Entwicklung von Verfahrensweisen betreffend den Rechtsstatus mitarbeitender Ehepartner/Lebensgefährten und ihre soziale Absicherung;

d.

Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Absicherung und der rechtlichen Stellung von Unternehmerinnen.

1.17

Im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) empfiehlt der Ausschuss Folgendes:

Vorrangige Förderung von Infrastrukturinvestitionen und Strategien zur Verbesserung des Zugangs von Männern und Frauen zu neuen IKT;

leichterer Zugang zu IKT-Infrastruktur und Ausbildung für Unternehmensgründerinnen zwecks zielorientierter Vermarktung ihrer Produkte über geeignete Vertriebskanäle, zumal die IKT zu einer besseren Vermarktung beitragen könnten;

stärkere Teilhabe von Frauen an der Maßnahmengestaltung, Entwicklung und Konzeption von IKT durch Einrichtung eines Dialogs mit IKT-Unternehmen und anderen Akteuren zur Eröffnung von Wegen der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Handelns.

Der EWSA fordert das in Tampere eingerichtete ständige Hochschulforum Europa-Mittelmeer (6) nachdrücklich auf, der Geschlechterdimension in seinen Initiativen — vor allem im Bereich des Unternehmergeistes — Vorrang einzuräumen.

1.18

Der EWSA empfiehlt, dem Einfluss der Massenmedien und insbesondere des Fernsehens auf die Thematik Unternehmergeist und Frauen besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

2.   Empfehlungen für einen speziellen Mechanismus zur Förderung des Unternehmergeistes der Frauen im Europa-Mittelmeerraum

2.1

Für einen größeren Beitrag der Frauen zu Wachstum und Entwicklung bedarf es spezifischer politischer Maßnahmen und Programme. Einige dieser Maßnahmen könnten in einem Aktionsplan mit einem klaren Zeitrahmen und genauen Evaluierungsverfahren definiert werden, der u.a. folgende Maßnahmen umfassen sollte:

1.

Verfahren zum Aufbau von Kapazitäten und Hilfsprogramme, um Frauen zu ermutigen, über ihr Lebens- und Arbeitsumfeld und darüber nachzudenken, wie sie mit ihren eigenen Fähigkeiten aktiv an der Gestaltung dieses Umfelds teilnehmen können. Dazu gehört die Möglichkeit, die Gründung von Selbsthilfegruppen zu fördern;

2.

Investitionen in soziale Infrastrukturen und Dienste zur Unterstützung von Frauen in der Arbeitswelt und bei selbstständiger Erwerbstätigkeit;

3.

Definition von herkömmlicher unternehmerischer Tätigkeit, KMU und selbstständiger Erwerbstätigkeit;

4.

Gleichstellung der von Frauen und der von Männern geführten Unternehmen jeder Größe;

5.

rechtliche Gleichstellung, damit Frauen Geschäftsdokumente unterzeichnen und Eigentum haben können;

6.

maßgeschneiderte Schulungskurse für Unternehmerinnen; diese Schulung könnte auch Mentorenprogramme, die Einrichtung von Berufsverbänden und Rechts- und Steuerberatung umfassen;

7.

Entwicklung von „Beteiligungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit“, Wirtschaftssubjekten, deren Mitglieder Eigentümer von KMU sind und die als Bürgen gegenüber den Banken auftreten;

8.

Umsetzung spezieller Programme zur Förderung der Unternehmensgründung durch Frauen mit Migrationshintergrund und Angehörige von Minderheiten;

9.

Mechanismen zur Information und Unterstützung der Gründung von sozialwirtschaftlichen Unternehmen und Genossenschaften;

10.

Zusammenarbeit und gemeinsames Networking mit EU-Partnerorganisationen zur Bestimmung jener Strukturen und Mechanismen einschließlich der bewährten Verfahren, die sich anderswo bereits als zweckmäßig erwiesen haben;

11.

Bildungsmaßnahmen zur Förderung des Unternehmergeistes vom Kindesalter an (7). Unternehmergeist ist als lebenslanger Lernprozess zu sehen, der bereits in der Grundschule einsetzen muss und dazu beitragen kann, dass Menschen in der Lage sind, in den unterschiedlichen Lebenssituationen flexibler zu sein;

12.

stärkere Einbeziehung von Frauen in die Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen und in allen Bereichen, d.h. auf Regierungsebene, in den Gebietskörperschaften und im Justizbereich;

13.

Öffnung des Vergabewesens für KMU und insbesondere für Unternehmen im Besitz von Frauen zur Stimulierung des Wachstums der Betriebe;

14.

Festlegung gesonderter Ziele zur Geschlechtergleichstellung im Bereich der Beschäftigungspolitik einschließlich der Definierung qualitativer und quantitativer Indikatoren, da nur so sichergestellt werden kann, dass mehr Frauen Unternehmen gründen, Arbeitsplätze geschaffen werden und die Qualität dieser Arbeitsplätze verbessert wird (8).

3.   Stand der Dinge und Herausforderungen

3.1

Es ist wichtig, dass die Rechte der Frauen nicht als isoliertes Thema ohne Beziehung zum Beitrag der Frauen zur wirtschaftlichen Entwicklung behandelt werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sich alle Sozialpartner darauf festlegen, den Zusammenhang zwischen Menschenrechten, Demokratie, Entwicklung und Frauenrechten anzuerkennen. Die Beseitigung der Hemmnisse für die Selbstkompetenz der Frauen aufgrund von traditionellen, kulturellen und Familiengesetzen sollte Vorrang haben.

3.2

Hinsichtlich der Geschlechterungleichheit in der Bildung und Beschäftigung im Europa-Mittelmeerraum sind gemeinsame Bemühungen erforderlich, um ein Umfeld zu schaffen, in dem Frauen ihre unternehmerische Tätigkeit ausbauen können.

3.3

Die Analphabetenrate der Frauen in der MENA-Region (Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas) schwankt zwar von Land zu Land, ist jedoch mit durchschnittlich 42 % immer noch äußerst hoch, während die durchschnittliche Analphabetenrate der Männer 21 % beträgt. In den letzten 20 Jahren hat sich jedoch eine positive Entwicklung hin zu einem — von Land zu Land unterschiedlich ausfallenden — gleichberechtigten Zugang zur Bildung herauskristallisiert. In jedem Land gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen der Alphabetisierungsrate der jungen weiblichen Bevölkerung (15-24 Jahre) und der über 24 Jahre alten weiblichen Bevölkerung (9).

3.4

In den letzten 10 Jahren haben die Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen zugenommen, da sie über eine bessere Schul- und Berufsbildung verfügen und Sektoren mit der stärksten Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften — z.B. soziale Dienste, Bildung und Gesundheit sowie die Dienstleistungsberufe — gewachsen sind. Nur 32 % der Frauen im erwerbsfähigen Alter arbeiten außer Haus oder bemühen sich um eine derartige Tätigkeit. In der herkömmlichen Gesellschaft gehen Mädchen zwar zur Schule, werden jedoch nicht ermutigt, einen Beruf auszuüben.

3.5

Das Bildungswesen muss zu unternehmerischen Initiativen und Risikobereitschaft ermuntern. Besonders wichtig ist hier ein nationaler Bildungsplan zur Verbesserung der Qualität der schulischen Grundbildung und zur Beseitigung des Analphabetentums unter Frauen, insbesondere unter benachteiligten und behinderten Frauen.

3.6

Gewiss ist es wichtig, die Menschen in bürgerschaftlichen Fragen zu bilden und stärker für die sozialen, politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Ansprüche von Frauen zu sensibilisieren, doch müssen auch die Kapitalgeber und die anderen Akteure über die Bedürfnisse von Unternehmerinnen aufgeklärt werden.

3.7

Die geschlechtsspezifische Voreingenommenheit muss als ein wesentliches Problem im gesellschaftlichen und politischen Kontext sowie in Zusammenhang mit der Gesamtentwicklung des Wirtschaftswachstums der Region eingestuft werden. Die besondere Rolle und Stellung, die die Gesellschaft den Frauen durch das traditionelle Familienrecht — auch Personal Status Code genannt (PSC, Kodex der persönlichen Stellung) — zuweist, diskriminiert diese. Der Rechtsstatus von Frauen, der ihre Teilhabe am wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen, bürgerschaftlichen und kulturellen Leben regelt, bleibt einer der größten Hemmschuhe, wenngleich 190 Länder, einschließlich des arabischen Raums, die Milleniumerklärung (10) unterzeichnet haben.

3.8

Kleine traditionelle geschäftliche Tätigkeiten von Frauen müssen ins Blickfeld gerückt und gefördert werden. Hierzu zählen auch unbezahlte Tätigkeiten von Frauen innerhalb der Familie und traditionelle Arbeiten. Durch Schulungs- und Unterstützungsmaßnahmen sollte die Entwicklung und Modernisierung zahlreicher handwerklicher Tätigkeiten und Kleinbetriebe gefördert werden, sodass eine beschäftigungswirksame Produktion vermarktbarer Erzeugnisse zur wirtschaftlichen Emanzipation der Frauen beiträgt.

3.9

Den größten Beitrag leisten Frauen in der Landwirtschaft. In ländlichen Gebieten, in denen viele Frauen Analphabetinnen sind oder nur wenige Jahre eine Schule besucht haben, ist der Zugang zu Bildungsmitteln stark beschränkt (11). Oftmals fehlt ihnen das Wissen und das Selbstvertrauen, um ihre eigene Lage und die ihrer Familie zu verbessern. Daher benötigen sie integrierte Programme, die persönliche Emanzipation, berufliche Bildung, Schulungen in unternehmerischer Tätigkeit und Vermittlung grundlegender Geschäftskenntnisse sowie Unterstützung bei der Konzeption tragfähiger Geschäftspläne und beim Zugang zu Start-up-Darlehen und Krediten für die Gründung von Mikrounternehmen in ihrem Dorf umfassen. Schulungsprogramme sollten Frauen des ländlichen Raums Möglichkeiten bieten, Initiativen in der Landwirtschaft und in anderen Sektoren miteinander zu verbinden, und sollten ferner gewährleisten, dass ihre nichtlandwirtschaftliche Tätigkeit von den Männern ihrer Gemeinschaft unterstützt wird.

3.10

Wichtig ist die Gründung kleiner Genossenschaften, die Unternehmerinnen unterstützen.

3.11

Wichtig ist ferner die Förderung bereits tätiger Unternehmerinnen, damit sie neue Bereiche erschließen, in denen Frauen die wirtschaftliche Initiative für den Ausbau nichttraditioneller Geschäftstätigkeiten ergreifen und dabei auch ihre Kompetenzen in den Bereichen Werbung, Marketing und Preisfestlegung sowie hinsichtlich der gezielten Auswahl ausländischer Märkte ausbauen können.

3.12

Die Schaffung von Möglichkeiten für die Entwicklung der Wirtschaftstätigkeit von Frauen erfordert gute Kenntnisse der derzeitigen und künftigen wirtschaftlichen und sozialen Lage in den einzelnen Regionen.

3.13

Notwendig ist die Einbeziehung aller Interessenträger, um Hemmnisse für Frauen zu beseitigen und spezielle Maßnahmen und Programme aufzulegen, damit Frauen stärker zu Wachstum und Entwicklung beitragen können.

3.14

Der Zugang zu Finanzmitteln ist von grundlegender Bedeutung. Die Kreditplafonds müssen erhöht werden, um Kleinst- und Kleinunternehmen zur Expansion und zu Eigeninvestitionen zu animieren. Der Staat und die Geldgeber könnten den offiziellen Kreditinstituten Anreize für diese Projekte bieten. Die politischen Entscheidungsträger sollten stets bedenken, dass sich Organisation, Finanzierung, Produktivität und Wachstumspotenzial von KMU und Kleinstunternehmen unterscheiden.

3.15

Anreize für neue Geschäftsvorhaben und für Unternehmensansiedlungen sollten einen effizienteren Mikrokreditsektor sowie Handelsbanken umfassen, die angemessene und realistische Darlehensbedingungen anbieten.

3.16

Marketing- und Werbemessen in der Region und in den EU-Mitgliedstaaten können Möglichkeiten für exportorientierte Initiativen, insbesondere im Fertigungssektor, bieten.

3.17

Die Zukunft der Frauen im Europa-Mittelmeerraum ist im wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und familiären Gesamtzusammenhang zu sehen. Ohne Wirtschaftswachstum und eine Steigerung der Beschäftigungsquote werden Frauen auch künftig in einem ungerechten Konkurrenzkampf mit Männern diskriminiert.

3.18

Es müssen spezielle Maßnahmen und Programme aufgelegt werden, damit Frauen stärker zu Wachstum und Entwicklung beitragen können.

3.19

Speziell auf Unternehmerinnen zugeschnittene Strategien können ihnen Chancen eröffnen, traditionelle Wirtschaftsstrukturen aufzubrechen und mehr in ein eigenes Unternehmen zu investieren.

3.20

Sämtliche Initiativen müssen durch Untersuchungen gestützt werden, in denen die besonderen Bedürfnisse jedes Landes ermittelt sowie die Stärken und Schwächen von Frauen mit Hilfe einer Einteilung in unterschiedliche Altersgruppen und spezieller Sektorstudien beleuchtet werden.

3.21

Notwendig sind die Erfassung und Evaluierung einzelstaatlicher Maßnahmen für Unternehmensgründungen, Information/Beratung, Finanzierung, Weiterbildung, Mentoring und Networking im Hinblick auf die Ermittlung und den Nord-Süd- und Süd-Süd-Austausch bewährter Verfahren im Europa-Mittelmeerraum. Die Fortschritte in den Europa-Mittelmeer-Partnerländern müssen fortlaufend begleitet werden, um eine Entwicklung hin zur uneingeschränkten Teilhabe der Frauen am Wirtschaftsleben ihres Landes zu gewährleisten.

3.22

Über länderübergreifende Programme im Europa-Mittelmeerraum können Unternehmerinnenverbände Erfahrungen und bewährte Verfahren austauschen — ein effektiver Weg zur Entwicklung unternehmerischer Tätigkeiten und Fähigkeiten.

3.23

Franchising kann sich als nützlich erweisen, um Frauen über die selbstständige Führung eines Kleinbetriebs zu Selbstbestimmung zu befähigen. Es ermöglicht eine Risikominderung beim Start eines neuen Projekts, da der Franchisenehmer sich auf bewährte Methoden und Fähigkeiten stützen kann. Wichtig ist ferner, dass die Leistungsfähigkeit der Ressourcenzentren gesteigert wird. Benötigt wird ein speziell auf die Erfordernisse der Unternehmen abgestimmter Ausbau der Kapazitäten, bei dem erfolgreiche Verfahren und Programme anderer Länder als Vorbild dienen können.

3.24

In neuen Bereichen wie IKT-Diensten, F&E, Medienmanagement und Erstellung innovativer Medienprogramme sowie neuen Nischen in der Tourismusbranche können Frauen sich neue unternehmerische Tätigkeitsfelder erschließen.

3.25

IKT tragen zu Produktivität, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung bei. Dieser Sektor muss im Europa-Mittelmeerraum auf jeden Fall ausgebaut werden, damit diese Region weltweit wettbewerbsfähig sein kann. Beim Aufbau der notwendigen Infrastruktur muss ein Zugang für alle gewährleistet sein, damit die digitale Kluft — gerade unter Frauen und in Bevölkerungsschichten mit hoher Analphabetenrate — nicht noch größer wird. Der Zusatznutzen der IKT-Entwicklung wird die unternehmerischen Kompetenzen von Männern wie von Frauen steigern.

3.26

Das Onlineportal der GD Unternehmen und Industrie der Europäischen Kommission zum Thema Unternehmergeist der Frauen (12) kann dem Austausch vorbildlicher Verfahren und der Vernetzung förderlich sein.

3.27

Es können offizielle Arbeitsplätze in Kinderbetreuungseinrichtungen geschaffen werden, die Frauen unter anderem die Vereinbarung von Beruf und Familie erleichtern.

3.28

Hilfs- und Informationsdienste zur Selbstständigkeit von Frauen vermindern den Immigrationsdruck. Auf diese Weise können Arbeitsplätze in den Herkunftsländern wie auch in den Gastländern geschaffen werden.

4.   Barcelona-Prozess und ENP

4.1

Die Europäische Nachbarschaftspolitik zielt auf die Förderung der wirtschaftlichen Integration zwischen der EU und ihren Partnern ab. Im Rahmen der ENP für 2007-2013 wurde die Mittelzuweisung für die Mittelmeerpartner um 32 % auf 12 Milliarden EUR aufgestockt. Der Förderung der wirtschaftlichen Tätigkeit von Frauen wurde jedoch nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt.

4.2

Auf der Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung Europa-Mittelmeer (EMPA) am 16./17. März 2007 hat der EWSA den Status eines ständigen Beobachters mit Rederecht in sämtlichen EMPA-Sitzungen erhalten. Dies ist eine große Chance für den EWSA, sich für die Förderung der wirtschaftlichen Tätigkeit von Frauen einzusetzen.

4.3

Auf der Ersten Ministerkonferenz Europa-Mittelmeer zum Thema „Stärkung der Rolle der Frauen in der Gesellschaft“ im November 2006 in Istanbul (13) wurde die Verpflichtung eingegangen, den Unternehmergeist von Frauen zu fördern — durch Verbesserung des Zugangs von Frauen zu Grundbesitz, Finanzmitteln, Märkten, Informationen, Schulungen und Netzwerkbildung — und Anreize für Finanzinstitute zu schaffen, auf die Bedürfnisse von Frauen abgestimmte Produkte und insbesondere Mikrokredite anzubieten.

5.   Die Europa-Mittelmeer-Charta für Unternehmen

5.1

Auf der Fünften Europa-Mittelmeer-Konferenz am 4. Oktober 2004 in Caserta (Italien) haben die Industrieminister ein Arbeitsprogramm für die industrielle Zusammenarbeit 2005-2006 gebilligt. Ein Vorschlag lautete, Wissen und Erfahrungen im Bereich der unternehmerischen Erziehung auszutauschen.

5.2

Infolge dieser Beratungen hat die Generaldirektion Unternehmen und Energie der Europäischen Kommission die Europa-Mittelmeer-Charta für Unternehmen (14) lanciert, die von neun Mittelmeerpartnern angenommen wurde. Einer ihrer wichtigsten Grundsätze ist der Aufbau einer Gesellschaft im Europa-Mittelmeerraum, die über das Bildungssystem auf allen Ebenen — Stichwort: lebenslanges Lernen — den Unternehmergeist der jungen Menschen wie der Erwachsenen fördert. Allerdings wird darin nicht gesondert auf die Herausforderungen abgehoben, mit denen Unternehmerinnen konfrontiert sind.

5.3

Die Charta bietet ein wirksames Instrument zur Verbesserung der Voraussetzungen für eine unternehmerische Tätigkeit. Bei der Umsetzung der Charta war die Förderung des Unternehmergeistes der Frauen jedoch weder ein Schlüsselprinzip noch eines der Ziele.

5.4

Das Arbeitsprogramm für die industrielle Zusammenarbeit im Europa-Mittelmeerraum 2007-2008 beruht zwar auf dem bislang Erreichten und fördert Maßnahmen für eine effektivere Umsetzung, zielt aber auch nicht ausdrücklich auf die Förderung des Unternehmergeistes von Frauen ab.

5.5

Einige Initiativen der Europäischen Kommission können als Beispiele für vorbildliche Verfahren und Wissenstransfer zwischen den europäischen und den Mittelmeerländern dienen (15).

6.   Die Rolle der Zivilgesellschaft

6.1

Die organisierte Zivilgesellschaft spielt eine wichtige Rolle bei der Emanzipation der Frauen, ihrer Teilhabe an der öffentlichen Sphäre und ihrer Vertretung sowie bei der Förderung ihrer unternehmerischen Tätigkeit.

6.2

Ausgehend von einer fest verwurzelten Tradition der Fürsorge für benachteiligte Menschen — unter anderem für Frauen mit Behinderungen und Frauen mit geringem oder gar keinem Zugang zu Einrichtungen der allgemeinen und beruflichen Bildung — wäre es sinnvoller, die vorhandenen Ressourcen für Schulungen in Managementkompetenzen und für finanzielle Unterstützung einzusetzen.

6.3

Durch öffentlich-private Partnerschaften können nichtstaatliche sowie wirtschaftliche und soziale Organisationen das Wirtschaftswachstum effektiv stimulieren (16) und zur Entwicklung von Tätigkeiten beitragen, aus denen Einnahmen erwirtschaftet werden können.

6.4

Erfahrene nichtstaatliche sowie wirtschaftliche und soziale Organisationen können auch im Bereich der Schulung und Anerkennung tätig werden, um die Geschlechterungleichheit in der Bildung zu überwinden.

7.   Die Rolle des EWSA

7.1

Dem EWSA kommt eine wichtige Rolle zu, wenn es darum geht, die Mitwirkung der Zivilgesellschaft an der Umsetzung der Europa-Mittelmeer-Politik hinsichtlich der Integration von Frauen ins wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben zu gewährleisten (17).

7.2

Der EWSA trug zu der Thematik Frauen und Beschäftigung mit einem Bericht bei, der in der 21. Sitzung des Gemischten Beratenden Ausschusses EU/Türkei am 13./14. Juli 2006 (18) vorgelegt wurde, und wird einen Bericht zum Thema Frauen und Unternehmergeist für seine nächste Sitzung erarbeiten, die im November 2007 in der Türkei stattfindet.

7.3

In der Schlusserklärung des Gipfeltreffens Europa-Mittelmeer der Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbarer Einrichtungen (vom 15. bis 17. November 2006 in Ljubljana, Slowenien) (19), verpflichteten sich die Teilnehmer, ihre Initiativen zur Integration von Frauen ins wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben fortzusetzen und dabei insbesondere ihren Unternehmergeist zu stärken.

7.4

Des Weiteren begrüßt der EWSA, dass die Minister anerkannt haben, wie wichtig es ist, die Rolle der Zivilgesellschaft zu fördern und ihre Handlungsmöglichkeiten durch eine bessere Interaktion zwischen den Regierungen und Parlamenten auf der einen Seite und zivilgesellschaftlichen Organisationen, Frauenorganisationen, Jugendverbänden, Gewerkschaften, Unternehmens- und Berufsverbänden auf der anderen Seite in Zusammenarbeit mit nationalen, regionalen und lokalen Verwaltungen auszubauen.

7.5

Als Teil des Barcelona-Prozesses hat die EU eine Reihe von Programmen auf den Weg gebracht, von denen sich einige direkt an die jungen Menschen des Europa-Mittelmeerraumes richten. Der EWSA hat einen Informationsbericht zum Thema „Unterstützung für junge Menschen in den Europa-Mittelmeer-Partnerländern“ vorgelegt, in dem er sich auch mit der Förderung des Unternehmergeistes von Frauen beschäftigt (20).

8.   Schlussfolgerung

8.1

Die Europäische Kommission sollte eine Folgenabschätzung der ENP-Maßnahmen einschließlich der MEDA-Programme sicherstellen und darin auch systematisch Gleichstellungsfragen berücksichtigen. Der Beitrag der Frauen zum Unternehmergeist im Europa-Mittelmeerraum ist entscheidend für die Bewältigung der wirtschaftlichen Herausforderungen der Globalisierung. Ein positiver Schritt ist das von der Europäischen Kommission aufgelegte Regionalprogramm für die MENA-Region zur Förderung der Rolle der Frauen im Wirtschaftsleben. Es sollten Maßnahmen für die Anhörung einschlägiger Vertreter der Zivilgesellschaft, einschließlich nichtstaatlicher Frauenorganisationen, in sämtlichen Projektphasen von der Planung, Durchführung, Bewertung bis hin zur Begleitung ergriffen werden, um die Erreichung der gesteckten Ziele zu gewährleisten.

Brüssel, den 12. Juli 2007

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  http://ec.europa.eu/comm/external_relations/euromed/barcelona_10/docs/10th_comm_en.pdf.

(2)  http://ec.europa.eu/europeaid/index_en.htm.

(3)  http://ec.europa.eu/enterprise/enterprise_policy/ind_coop_programmes/med/doc/f1949_en.pdf.

(4)  http://www.cesie.org/cms/index.php?option=com_content&task=view&id=70&Itemid=85.

(5)  REX/222 — Informationsbericht „Unterstützung für junge Menschen in den Europa-Mittelmeer-Partnerländern“, CESE 642/2006 fin.

(6)  http://www.medainstitute.fi/?navi=360&lang=2.

(7)  Siehe Stellungnahme des Ausschusses zu der Förderung des Unternehmergeistes in Unterricht und Bildung, Berichterstatter: Herr JERNECK.

(8)  Siehe Stellungnahme des Ausschusses zum Thema „Beschäftigungsfähigkeit und Unternehmergeist — die Rolle der Zivilgesellschaft, der Sozialpartner und der regionalen und lokalen Einrichtungen unter Berücksichtigung des Gender Mainstreamings“, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS.

(9)  Zentrale Datenbank der Weltbank (April 2006).

(10)  Hijab, Nadia, 2001 Laws, Regulations and Practices impeding Women's Economic Participation in the Mena Region, shadow report, submitted to the World Bank, April (Gesetze, Verordnungen und Verfahren als Hemmnisse der wirtschaftlichen Teilhabe der Frauen in der MENA-Region, Parallelbericht an die Weltbank, April).

(11)  Economic Empowerment of Rural Palestinian Women — MEDA programme, EuropeAid — January 2006 — December 2007 — A joint Palestinian, Israeli and European Development project (Wirtschaftliche Emanzipation palästinensischer Frauen im ländlichen Raum — MEDA-Programm, Januar 2006 — Dezember 2007 — Ein gemeinsames palästinensisches, israelisches und europäisches Entwicklungsprojekt).

(12)  http://ec.europa.eu/enterprise/entrepreneurship/craft/craft-women/womenentr_portal.htm.

(13)  http://ec.europa.eu/comm/external_relations/euromed/women/docs/conclusions_1106.pdf.

(14)  http://ec.europa.eu/enterprise/enterprise_policy/ind_coop_programmes/med/doc/f1949_en.pdf.

(15)  http://ec.europa.eu/enterprise/entrepreneurship/craft/craft-women/women-dgentr-active.

http://ec.europa.eu/enterprise/entrepreneurship/craft/craft-women/database-women.htm.

(16)  file://E:\PPP for women entrepreneurship.htm, 8.3.2007.

(17)  „Die Rolle der Beratungsorgane und Berufsverbände bei der Umsetzung der Partnerschaftsabkommen und im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik“.

(18)  Gemischter Beratender Ausschuss EU/Türkei.

(19)  http://www.europarl.europa.eu/intcoop/empa/home/final_declaration_ljubljana_112006_en.pdf.

(20)  Informationsbericht „Unterstützung für junge Menschen in den Europa-Mittelmeer-Partnerländern“.