ISSN 1725-2407

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 157

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

48. Jahrgang
28. Juni 2005


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

II   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004

2005/C 157/1

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Europäischer Versicherungsvertrag

1

2005/C 157/2

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Tourismus und Sport: künftige Herausforderungen für Europa

15

2005/C 157/3

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission: Auf dem Weg zu einer europäischen Strategie für Nanotechnologie(KOM(2004) 338 endg.)

22

2005/C 157/4

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Europäische Straßenverkehrsordnung und europäisches Kfz-Register

34

2005/C 157/5

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Förderung des Seeverkehrs sowie der Einstellung und Ausbildung von Seeleuten

42

2005/C 157/6

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Entwurf einer Entscheidung der Kommission über die Anwendung von Artikel 86 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen, die bestimmten Unternehmen als Ausgleich für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse gewährt werden und dem Entwurf einer Richtlinie der Kommission zur Änderung der Richtlinie 80/723/EWG über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen

48

2005/C 157/7

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Befähigungszeugnissen der Mitgliedstaaten für Seeleute und zur Änderung der Richtlinie 2001/25/EG(KOM(2004) 311 endg. — 2004/0098 (COD))

53

2005/C 157/8

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über harmonisierte Binnenschifffahrtsinformationsdienste auf den Binnenwasserstraßen der Gemeinschaft(KOM(2004) 392 endg. — 2004/0123 (COD))

56

2005/C 157/9

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Einrichtung einer Europäischen Fischereiaufsichtsbehörde und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2847/93 zur Einführung einer Kontrollregelung für die Gemeinsame Fischereipolitik(KOM(2004) 289 endg. — 2004/0108 (CNS))

61

2005/C 157/0

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zum Thema Der Europäische Aktionsplan Umwelt und Gesundheit 2004-2010(KOM(2004) 416 endg.)

65

2005/C 157/1

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung humaner Fangnormen für bestimmte TierartenKOM(2004) 532 endg. — 2004/0183 (COD)

70

2005/C 157/2

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 87/328/EWG hinsichtlich der Lagerung von Samen von Rindern für den innergemeinschaftlichen Handel(KOM(2004) 563 endg. — 2004/0188 (CNS))

74

2005/C 157/3

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Den Strukturwandel begleiten: Eine Industriepolitik für die erweiterte Union(KOM(2004) 274 endg.)

75

2005/C 157/4

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen(KOM(2004) 279 endg. — 2004/0084 (COD))

83

2005/C 157/5

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Studie über die Zusammenhänge zwischen legaler und illegaler Migration(KOM(2004) 412 endg.)

86

2005/C 157/6

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu derMitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Zur kontrollierten Einreise von Personen, die internationalen Schutz benötigen, in die EU und zur Stärkung der Schutzkapazität von Herkunftsregionen: Verbesserung des Zugangs zu dauerhaften Lösungen(KOM(2004) 410 endg.)

92

2005/C 157/7

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Das einheitliche Asylverfahren als nächster Schritt zu einem effizienteren Gemeinsamen Europäischen Asylsystem(KOM(2004) 503 endg. — SEK(2004) 937)

96

2005/C 157/8

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang zur Außenhilfe der Gemeinschaft(KOM(2004) 313 endg. — 2004/0099 (COD))

99

2005/C 157/9

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Vervollständigung des Modells einer nachhaltigen Landwirtschaft für Europa durch die Reform der GAP — Reformvorschläge für den Zuckersektor(KOM(2004) 499 endg.)

102

2005/C 157/0

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: Mitteilung der Kommission: Wissenschaft und Technologie: Schlüssel zur Zukunft Europas — Leitlinien für die Forschungsförderung der Europäischen Union(KOM(2004) 353 endg.)

107

2005/C 157/1

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Prüfung des Jahresabschlusses und des konsolidierten Abschlusses und zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates(KOM(2004) 177 endg. — 2004/0065 (COD))

115

2005/C 157/2

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Anhebung der Beschäftigungsquote älterer Arbeitskräfte und des Erwerbsaustrittsalters(KOM(2004) 146 endg.)

120

2005/C 157/3

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Weißbuch zur Überprüfung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 über die Anwendung der EG-Wettbewerbsregeln auf den Seeverkehr(KOM(2004) 675 endg.)

130

2005/C 157/4

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Mehrjähriges Gemeinschaftsprogramm zur Förderung der sichereren Nutzung des Internet und neuer Online-Technologien(KOM(2004) 91 endg. — 2004/0023 (COD))

136

2005/C 157/5

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Erreichbarkeit Europas auf dem Seeweg: Entwicklung und vorausschauende Weichenstellungen

141

2005/C 157/6

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 mit allgemeinen Bestimmungen über die Strukturfonds betreffend die Verlängerung der Dauer des Programms PEACE und die Bereitstellung neuer VerpflichtungsermächtigungenKOM(2004) 631 endg.

147

2005/C 157/7

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1059/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Schaffung einer gemeinsamen Klassifikation der Gebietseinheiten für die Statistik (NUTS) aufgrund des Beitritts der Tschechischen Republik, Estlands, Zyperns, Lettlands, Litauens, Ungarns, Maltas, Polens, Sloweniens und der Slowakei zur Europäischen UnionKOM(2004) 592 endg. — 2004/0202 (COD)

149

2005/C 157/8

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Beziehungen zwischen den Generationen

150

2005/C 157/9

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Koexistenz zwischen gentechnisch veränderten Kulturpflanzen und konventionellen und ökologischen Kulturpflanzen

155

2005/C 157/0

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Europäischer Aktionsplan für ökologische Landwirtschaft und ökologisch erzeugte Lebensmittel(KOM(2004) 415 endg.)

167

DE

 


II Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004

28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Europäischer Versicherungsvertrag“

(2005/C 157/01)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Juli 2003 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Europäischer Versicherungsvertrag“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 10. November 2004 an. Berichterstatter war Herr PEGADO LIZ.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 137 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung: Ziel der Initiativstellungnahme und Begründung

1.1

Für den Abschluss und die Gültigkeit eines Versicherungsvertrags gelten in den nationalen Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten — trotz ihrer gemeinsamen Ursprünge und sehr ähnlicher Strukturen — unterschiedliche Grundprinzipien.

1.2

Da der Versicherungsvertrag mehr Sicherheit in den Geschäftsbeziehungen zwischen Anbietern und Verbrauchern schafft und daher ein wesentlicher Faktor für das Funktionieren des Binnenmarktes ist, besteht die Gefahr, dass durch die unterschiedliche Regelung wesentlicher Aspekte dieses Vertrags in den nationalen Rechtsordnungen die Vollendung des Binnenmarktes behindert und die grenzüberschreitende Vermarktung dieses Finanzinstruments erschwert wird.

1.3

Mit dieser Stellungnahme sollen daher die zuständigen Instanzen auf einzelstaatlicher und gemeinschaftlicher Ebene darauf aufmerksam gemacht werden, dass es notwendig und zweckmäßig wäre:

eine Bestandsaufnahme der Fragen und Probleme vorzunehmen, die die derzeitigen Unterschiede bei den für den Versicherungsvertrag geltenden rechtlichen Definitionen und Bestimmungen sowohl für die Verbraucher als auch für die Vollendung und das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes mit sich bringen;

die gemeinsamen Grundsätze der verschiedenen einzelstaatlichen Regelwerke für Versicherungsverträge und diejenigen Bereiche aufzuzeigen, bei denen rechtstechnisch eine Harmonisierung möglich ist;

über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken und die Modelle, Formeln oder Instrumente vorzuschlagen, die angewandt werden müssen, um für den Versicherungsvertrag die bestmögliche Regelung auf Gemeinschaftsebene zu finden.

1.4

Schon seit der Aufnahme der Vorarbeiten für diese Initiativstellungnahme wurde es als unerlässlich erachtet, Mitglieder der Forschungsgruppe „Restatement of European Insurance Contract Law“ um Prof. Dr. jur. em. Fritz Reichert-Facilides von der Universität Innsbruck, der renommierte Rechtsgelehrte und Versicherungsfachleute aus 15 europäischen Ländern angehören, für die Mitarbeit und Unterstützung zu gewinnen.

1.4.1

Es wurde daher mit großer Befriedigung vermerkt, dass sich Prof. Reichert-Facilides auf die an ihn herangetragene Bitte hin unverzüglich bereit erklärte, als Sachverständiger für den Berichterstatter tätig zu sein, und sogleich einen ersten Beitrag (Position Paper I) verfasste.

1.4.2

Prof. Reichert-Facilides verstarb jedoch während der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

1.4.3

Aufgrund des Interesses, das er zeit seines arbeitsreichen Lebens im Dienste der Wissenschaft dem Thema Versicherungen und seinem „Restatement“-Projekt gewidmet hat, sind ein Hinweis auf seine Arbeit und ein postumer Dank für sein ausgeprägtes Engagement auch als Zeichen der aufrichtigen Trauer und zur Ehrung seines Andenkens an dieser Stelle sicherlich angebracht.

1.4.4.

Es sprechen daher gute Gründe für ein längeres Zitat aus seinem als Einführung für die Vorarbeiten zu dieser Stellungnahme verfassten „Position Paper I“, bei dem es sich um eine seiner letzten Schriften handeln dürfte:

„1.

Die Vielfalt des europäischen Versicherungsvertragsrechts stellt ein schwerwiegendes Hemmnis bei der Verwirklichung eines einheitlichen Versicherungsmarktes dar. Diese Auffassung hat die Forschungsgruppe von Anfang an vertreten. Sie wird auch vom EWSA selbst nachdrücklich verfochten, wie in seiner Initiativstellungnahme ‚Die Verbraucher auf dem Versicherungsmarkt‘ vom 29. Januar 1998 (ABl. C 95 vom 30. März 1998, S. 72; vgl. darin Ziffer 1.6 und Ziffer 2.1.9 Abs. 2). In der Zwischenzeit hat sich scheinbar auch die Kommission dieser Position angeschlossen (s. die ‚Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht — ein Aktionsplan‘ — KOM(2003) 68 endg., ABl. C 63 vom 15. März 2003, S. 1; im Folgenden als ‚Aktionsplan‘ zitiert; vgl. darin z.B. Ziffer 27, 47/48 und 74).

2.

Eine Harmonisierung des Rechts im Allgemeinen und natürlich auch des Versicherungsvertragsrechts im Besonderen kann nur auf der Grundlage einer umfassenden rechtsvergleichenden Untersuchung erfolgen. Die Arbeit unserer Gruppe zielt auf eine Restatement-Lösung ab. Was bedeutet ‚restatement‘? Dieses englische Wort leitet sich von ‚to restate‘ (‚neu oder besser formulieren‘) ab. Als juristisches Fachwort wird ‚restatement‘ in den USA verwendet. Dann bezeichnet es — wie Fachleuten wohl bekannt ist — ein begrenztes Korpus von Rechtsvorschriften, die aus unterschiedlichen, aber im Wesentlichen vergleichbaren Quellen stammen und die im Sinne einer ‚bestmöglichen Lösung‘ systematisiert und vereinheitlicht worden sind. Letzteres ist Aufgabe einer privaten, nichtgesetzgebenden Einrichtung, des American Law Institute. Die semantischen Übereinstimmungen der Quellen in den USA beruhen darauf, dass das (unterschiedliche) Privatrecht der Bundesstaaten eine gemeinsame Basis, das Common Law hat. Hingegen ergeben sich die inhaltlichen Ähnlichkeiten im Versicherungsrecht verschiedener EU-Mitgliedstaaten aus ihrem gemeinsamen Gegenstand, der ‚Versicherung‘. Aus diesem Gegenstand resultieren naturgemäß ähnliche Regelungserfordernisse. Dazu zählen Leitlinien für die Ermittlung einer ‚bestmöglichen Lösung‘ für das Versicherungsvertragsrecht. Zunächst muss der Hauptzweck des gesamten Versicherungsvertragsrechts gebührend berücksichtigt werden: Dieser besteht in der Schaffung eines Rechtsrahmens für die effektive Risikoübernahme durch den Versicherer und damit die Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Versicherungssektors als solchen. Zweitens ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die gegensätzlichen Interessen der Parteien sorgsam abgewogen werden. Entsprechend zu berücksichtigen ist in dieser Hinsicht auch die gegenwärtige Tendenz, dem Versicherungsnehmer ein relativ hohes Schutzniveau zu gewähren.

3.

‚Restatement‘ im Sinne unserer Gruppe bezieht sich hauptsächlich auf verbindliche Vorschriften (bzw. semi-obligatorische Vorschriften zugunsten des Versicherungsnehmers). Hierfür gibt es mehrere Gründe: Es sollte nicht vergessen werden, dass es sich beim Versicherungsvertragsrecht um ein ‚lebendes Recht‘ handelt, das weniger in Gesetzbüchern zu finden ist als in Standard-Geschäftsbedingungen. Dies zu berücksichtigen, bedeutet nicht nur, die Realitäten anzuerkennen, sondern auch den Grundsatz der Vertragsfreiheit zu achten. Andererseits obliegt es dem Gesetzgeber, diese Freiheit zu begrenzen — und zwar aus Gründen des ‚ordre public‘ und des Schutzes des Versicherungsnehmers (oder Dritter, zu deren Gunsten die Versicherung abgeschlossen wird). Besondere Aufmerksamkeit verdienen Vertragsklauseln, die zu einem Verlust des Versicherungsschutzes führen. Das praktische Mittel zur Verwirklichung dieser Ziele ist — in allen europäischen Rechtsordnungen — der Erlass von verbindlichen bzw. semi-obligatorischen Rechtsvorschriften über Versicherungsverträge. — Die Probleme, die sich im Hinblick auf den Binnenmarkt ergeben, werden im Aktionsplan wie folgt beschrieben: Die Mitgliedstaaten haben Vorschriften entwickelt, die in einen Versicherungsvertrag aufgenommen werden können oder nicht aufgenommen werden können; so sehr sich diese Vorschriften unterscheiden, so sehr beeinflussen sie möglicherweise international angebotene Produkte. Tatsache ist, dass die wirkliche Förderung eines Versicherungsbinnenmarkts eine Harmonisierung/Vereinheitlichung dieser Grenzen für die Versicherungsvertragsfreiheit erfordert — was zur Folge hätte, dass alle (Standard-)Verträge, die solchen vereinheitlichen Normen unterliegen, in allen Ländern Europas angeboten und in Konkurrenz treten und damit für eine homogene Marktsituation sorgen würden. Genau darin besteht das Ziel der Forschungsgruppe.

4.

Das Ziel des Rechtsvergleichs (siehe Ziffer 2) spiegelt sich in der Zusammensetzung der Gruppe wider, der Fachleute von 16 nationalen Versicherungsrechtssystemen (innerhalb und außerhalb der EU) angehören.

5.

Es stellt sich die Frage, ob das Restatement die bestehenden nationalen Rechtsvorschriften ersetzen oder ein zusätzliches (derzeit: 16-tes), insbesondere für transnationale Verträge geltendes Modell bilden sollte. Dieses Problem wird im Aktionsplan angeschnitten, der die Diskussion über ein sog. ‚optionelles Instrument‘ eröffnet. Dieses Thema soll im Folgenden aber nicht weiter behandelt werden.

6.

In vergleichenden Untersuchungen im Bereich des Versicherungsvertragsrechts muss dem allgemeinen Vertragsrecht große Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Forschungsgruppe versucht dies zu erreichen, indem sie die sog. Lando/Beale-Prinzipien berücksichtigt und einbezieht. Darüber hinaus arbeitet sie eng mit der Studiengruppe für ein europäisches Zivilrecht (unter der Leitung von Prof. von Bar und Prof. Beale) zusammen. Im Rahmen dieser Kooperation ist die Forschungsgruppe in erster Linie für das Versicherungsvertragsrecht zuständig.“

1.5

Zur Vorbereitung dieser Stellungnahme fanden mehrere Arbeitssitzungen statt, an denen im Bereich Versicherungen und Binnenmarkt tätige Vertreter der Europäischen Kommission sowie Vertreter des Europäischen Versicherungsausschusses (CEA) und des Europäischen Verbraucherverbands (BEUC) teilnahmen, um Eindrücke, Reaktionen und Anregungen zu diesem Thema zu sammeln.

1.6

Außerdem wurde beschlossen, einen Fragebogen zu erstellen und an zahlreiche auf einzelstaatlicher und gemeinschaftlicher Ebene tätige öffentliche und private Vertretungsorganisationen der in diesem Zusammenhang wichtigsten Interessengruppen zu senden und parallel dazu eine Anhörung der wichtigsten Vertreter der betroffenen Interessengruppen (Versicherungsunternehmen, Wirtschaftsunternehmen und andere Anbieter, Verbraucher) sowie von Fachjuristen und Rechtswissenschaftlern aus verschiedenen Bereichen und Rechtssystemen durchzuführen.

1.7

In dieser Stellungnahme sind die Antworten auf den erwähnten Fragebogen sowie die in der Anhörung am 16. April 2004 gesammelten Reaktionen und Anregungen inhaltlich zusammengefasst.

2.   Einige Hintergrundinformationen zu diesem Thema

2.1

Das Thema ist für den EWSA nicht neu. Bereits in der Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Die Verbraucher auf dem Versicherungsmarkt“  (1) wurde auf den „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Versicherungsverträge“  (2) hingewiesen (in dem im Wesentlichen der Versuch unternommen wurde, einige grundlegende Bestimmungen des Versicherungsvertragsrechts zu harmonisieren) und bedauert, dass die Kommission — „obwohl sowohl bei den Versicherungsunternehmen als auch den Verbraucherorganisationen die Meinung vorherrscht, dass insbesondere das Fehlen von Gemeinschaftsvorschriften für Versicherungsverträge (ein Mindestmaß an Harmonisierung des materiellen Rechts) für eine ganze Reihe von Hemmnissen und Problemen verantwortlich ist, die der konkreten Verwirklichung des Binnenmarktes in diesem Bereich entgegenstehen“  (3) — zu diesem Zeitpunkt nicht die Absicht hatte, das Thema wieder aufzugreifen.

2.1.1

Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen hob der Ausschuss als erstes der allgemeinen Hemmnisse, die der konkreten Verwirklichung des Binnenmarktes im Versicherungssektor anerkanntermaßen entgegenstehen, die„fehlende Harmonisierung des materiellen Rechts […], d.h. das Fehlen von Mindestvorschriften für das Versicherungsvertragsrecht in der Europäischen Union“  (4) hervor.

2.1.2

Der Ausschuss wies außerdem darauf hin, dass es „auf Gemeinschaftsebene keinen Rechtsrahmen [gibt], der Mindestbestimmungen hinsichtlich der Transparenz in Versicherungsverträgen — vor allem in Lebensversicherungsverträgen — im Allgemeinen festgelegt bzw. im Besonderen missbräuchliche allgemeine Versicherungsvertragsklauseln charakterisiert oder die Grundsätze von Treu und Glauben sowie des vertraglichen Gleichgewichts speziell für den Versicherungssektor definiert“  (5).

2.1.3

Er brachte die Problematik wie folgt auf den Punkt: „Die unterschiedliche Art und Weise, in der die einzelnen Mitgliedstaaten diese Bereiche geregelt haben, bzw. — sofern sie sie nicht geregelt haben — das Fehlen von Rechtsvorschriften (wodurch die Lösung der Probleme voll und ganz einem Markt überlassen bleibt, in dem der Wettbewerb noch lange nicht vollständig hergestellt ist und die Vertreter einer der Parteien versuchen, sich zum Schaden der anderen Partei zu verbünden) sind die Ursache dafür, dass es für alles in allem identische Probleme innerhalb des Binnenmarktes, insbesondere für grenzüberschreitende Geschäfte, die durch das Entstehen der“ Informationsgesellschaft „immer mehr erleichtert werden, eine Vielfalt von unterschiedlichen Lösungen gibt“  (6).

2.1.4

Nach Untersuchung derjenigen Bereiche, in denen seines Erachtens eine Harmonisierung stattfinden könnte/sollte, wies der Ausschuss zum Schluss der zitierten Stellungnahme die Kommission und die Mitgliedstaaten auf die „Zweckmäßigkeit einer Überarbeitung des Vorschlags für eine Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung aus dem Jahr 1979 vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips“  (7) hin, und forderte die Kommission auf, alle Kräfte zu mobilisieren, um (im Rahmen eines Richtlinienvorschlags) auf Gemeinschaftsebene Mindestvorschriften für Versicherungsverträge festzulegen (8).

2.2

Zum andern weisen sowohl die Verbraucherorganisationen als auch die Verbände der Versicherer schon seit langem auf die Notwendigkeit einer stärkeren Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts hin.

2.2.1

Bereits 1986 wies die European Consumer Law Group auf die Notwendigkeit einer Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts in der Gemeinschaft hin und zeigte im Einzelnen diejenigen Aspekte des Vertragsverhältnisses im Versicherungswesen auf, die ihres Erachtens harmonisiert werden sollten (9).

2.2.2

Auch der Europäische Verbraucherverband (BEUC) dringt schon mindestens seit 1994 auf die Festlegung eines „grundlegenden Rechtsrahmens“, der die wesentlichen Aspekte von Versicherungsverträgen regeln und eine „gemeinsame rechtliche Basis von Mindestvorschriften“ bilden soll.

2.2.3

Ein ähnlicher Standpunkt wurde auch im Dezember 1998 von verschiedenen Verbraucherorganisationen vertreten.

2.2.4

Der Europäische Versicherungsausschuss (CEA) schließlich hat unlängst in einem Kommentar zu der Mitteilung der Kommission über ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht deren Feststellung, dass „die Vielfalt der einzelstaatlichen Bestimmungen über Versicherungsverträge mit Verbrauchern ein Hemmnis für die Entwicklung von grenzüberschreitenden Versicherungsgeschäften darstellt“, als zutreffend bezeichnet und darauf hingewiesen, dass „in Bezug auf den so genannten 'harmonisierten' gemeinschaftlichen Besitzstand die Zahl und Komplexität der Bestimmungen, die in den verschiedenen auf den Versicherungsvertrag anwendbaren Rechtstexten enthalten sind, echte Probleme [hervorrufen]“.

2.2.4.1

Er führt zunächst eine Reihe von Fällen an, wo sich in den verschiedenen geltenden Texten des Gemeinschaftsrechts immer wieder die gleichen Bestimmungen finden oder aber die Bestimmungen ungerechtfertigterweise voneinander abweichen, und bekräftigt abschließend seine Unterstützung für „dieses Projekt der Verbesserung des gemeinschaftlichen Besitzstands“ unter der Voraussetzung, dass dieses Vorhaben nicht ohne eine angemessene Analyse des Kosten-Nutzen-Verhältnisses, eine vollständige Anhörung der betroffenen Parteien sowie eine Konzentration auf die Hindernisse für den Binnenmarkt verfolgt wird (10).

2.3

Die Kommission hat ihrerseits in ihren Mitteilungen zum „Europäischen Vertragsrecht“ (11) und zum Thema „Ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht — Ein Aktionsplan“ (12) in diesem Zusammenhang betont, dass im Rahmen der Finanzdienstleistungen der Bereich der Versicherungsverträge aufgrund der „unterschiedlichen nationalen Regelungen“ nach Auffassung der verschiedenen konsultierten Organisationen zu den problematischsten gehört; es müsse daher die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, dass sich „eine stärkere Konvergenz dieser Regelungen […] als erforderlich erweisen [könnte], um die Notwendigkeit einer stärkeren Vereinheitlichung der nationalen Rechtsvorschriften mit der Notwendigkeit der Erhaltung von Produktinnovation und freier Produktwahl in Einklang zu bringen“, und sogar eine vorrangige „Folgemaßnahme zum Aktionsplan zur Verbesserung der Rechtsetzung“  (13) wäre.

2.4

Das Europäische Parlament — in seiner Entschließung zu der Mitteilung der Kommission in Bezug auf den vorgenannten „Aktionsplan“ — schließlich „bedauert, dass nicht rechtzeitig Maßnahmen zur Schaffung optionaler Instrumente in bestimmten Bereichen wie Verbrauchergeschäfte und Versicherung ergriffen werden, in denen sowohl für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts als auch für die Ausweitung der Geschäfte und des Handels innerhalb der Gemeinschaft erhebliche Vorteile erwachsen könnten“, und vertritt im Folgenden die Auffassung, „dass zur Förderung des grenzüberschreitenden Handels im Binnenmarkt das Gewicht rechtzeitig darauf gelegt werden sollte, die Schaffung eines optionalen Instruments in bestimmten Bereichen wie insbesondere Verbraucherverträge und Versicherung fortzuführen, und fordert deshalb die Europäische Kommission auf, unter Berücksichtigung eines hohen Verbraucherschutzniveaus und der Einbindung angemessener zwingender Rechtsvorschriften, als eine vorrangige Aufgabe ein Opt-in-Instrument in den Bereichen Verbraucherverträge und Versicherungsverträge auszuarbeiten“  (14).

3.   Die Antworten auf den Fragebogen und die Anhörung vom 16. April 2004

3.1

Auf den an verschiedene betroffene Behörden und Organisationen verschickten Fragebogen gingen insgesamt 27 Antworten ein, sowohl von staatlichen Aufsichtsbehörden verschiedener Länder als auch von Interessenvertretungen der Versicherungswirtschaft, der Industrie, des Handels und der Verbraucher.

3.1.1

Die Antworten kamen aus Deutschland, Österreich, Belgien, der Slowakei, Slowenien, Finnland, Frankreich, Liechtenstein, Litauen, Malta, Norwegen, Polen und Schweden.

3.1.2

Die Mitglieder der Forschungsgruppe „Restatement of European Insurance Contract Law“ haben den Fragebogen gemeinsam — in Form eines gemeinsamen Standpunkts — beantwortet.

3.2

Eine deutliche und recht aussagekräftige Mehrheit vertrat folgende Auffassung:

a)

Die fehlende Harmonisierung der zwingenden versicherungsrechtlichen Bestimmungen stellt ein Hemmnis für die grenzüberschreitende Erbringung von Versicherungsdienstleistungen dar. Hierfür wird eine Vielzahl von Beispielen angeführt.

b)

Dies erschwert es zugleich den Kunden, die einen Versicherungsvertrag abschließen wollen, einen ausländischen Versicherer für die Risikodeckung zu finden, wofür es unzählige Beispiele gibt.

c)

Außerdem stellt dies ein Hemmnis für Versicherungsvermittler dar, die ihre Dienste grenzüberschreitend anbieten. Auch hierfür werden verschiedene Beispiele angeführt.

d)

Die Harmonisierung der zwingenden versicherungsrechtlichen Bestimmungen würde es den Versicherern, Verbrauchern und Versicherungsvermittlern ermöglichen, verstärkt grenzüberschreitende Versicherungsgeschäfte zu tätigen.

e)

Der Richtlinienvorschlag der Kommission von 1979/1980 ist nach wie vor eine geeignete Diskussionsgrundlage, muss allerdings mit neuen Bedingungen und nach veränderten Parametern überarbeitet werden, wofür einige der eingegangenen Antworten Beispiele und Anregungen enthalten.

3.3

An der Anhörung nahmen 46 Personen teil, die 36 Organisationen aus 17 Ländern vertraten.

3.4

Die Antworten auf den Fragebogen sowie die Debatten im Rahmen der Anhörungen lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass ein genereller Konsens in folgenden Grundzügen erzielt wurde:

3.4.1

Zwischen den einzelstaatlichen Regelwerken für Versicherungsverträge bestehen deutliche Unterschiede.

3.4.2

Auf EU-Ebene ist ein erhebliches Harmonisierungsdefizit beim Versicherungsrecht festzustellen, das die Verwirklichung des Binnenmarktes in diesem Bereich beeinträchtigt.

3.4.3

Insbesondere für die kleinen und mittleren Versicherungsunternehmen (Einzelverbraucher und KMU) wäre ein gewisses Maß an Harmonisierung wünschenswert/notwendig, um Ungleichheit und Diskriminierung zu verhindern (Massenrisiken).

3.4.4

Bei der Annäherung der Systeme zwecks Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts ist ein schrittweises, nicht zu starres Vorgehen geboten, da die Harmonisierung kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Verwirklichung des Binnenmarktes ist und den Grundsätzen der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit gehorchen muss.

3.4.5

Harmonisiert werden müssen vor allem

die zwingenden Bestimmungen („mandatory rules“),

der allgemeine Teil des Versicherungsvertragsrechts.

3.4.6

Was die Form angeht, kann das Ergebnis der Harmonisierung ein „optionelles“ Vertragsmodell sein, das jedoch — sobald es angewandt wird — in sämtlichen Bestimmungen und Einzelheiten für die Vertragsparteien verbindlich sein muss.

3.4.7

Als Gemeinschaftsinstrument für die Einführung eines solchen Modells muss die Verordnung gewählt werden, um eine Vollharmonisierung zu gewährleisten.

3.4.8

Als Ausgangsgrundlage für die Ausarbeitung dieses Instruments können die Richtlinienvorschläge der Kommission aus den Jahren 1979 und 1980 in der gemäß den Vorschlägen des EP und des EWSA geänderten Fassung dienen; sie müssen jedoch unter Berücksichtigung der Entwicklungen, die seither im Versicherungsrecht stattgefunden haben, gründlich überarbeitet werden.

3.4.9

Diese Harmonisierung, deren Konturen zuvor abgesteckt werden müssen, dürfte zu einem Anstieg der grenzüberschreitenden Versicherungsabschlüsse und einer stärkeren Entwicklung des Binnenmarktes in diesem Bereich beitragen.

3.4.10

Als Rechtsgrundlage für eine derartige Initiative kann Artikel 95 des Vertrags herangezogen werden.

3.5

Im Rahmen der Anhörung und in den Antworten auf den Fragebogen wurden von einigen Seiten auch folgende Argumente vorgetragen:

3.5.1

Die Harmonisierung müsse „fakultativ“ sein und sich auf die Festlegung der Grundkonzepte beschränken.

3.5.2

Die Harmonisierung dürfe lediglich grenzüberschreitende Verträge und natürliche Personen betreffen.

3.5.3

Die Harmonisierung sei kein Allheilmittel, mit dem das Problem des unzulänglichen Entwicklungsstands des Versicherungsbinnenmarktes gelöst werden könne.

3.5.4

Den Versicherungen auf Gegenseitigkeit und den Sozialversicherungseinrichtungen müsse aufgrund ihrer spezifischen Eigenheiten besondere Beachtung geschenkt werden.

4.   Die Notwendigkeit von Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene

4.1   Binnenmarkt und Versicherungswesen

4.1.1   Allgemeine Bemerkungen zu den Beziehungen zwischen Binnenmarkt und Versicherungswesen

4.1.1.1

Der europäische Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist (Artikel 14 Absatz 2 des EG-Vertrags). „Versicherungen“ fallen unter den freien Dienstleistungsverkehr (Artikel 49-55 des EG-Vertrags) oder je nach Fall auch unter die Niederlassungsfreiheit. Versicherungsunternehmen, die ihre Dienstleistungen grenzüberschreitend anbieten oder sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen, machen mit ihren Policen den einheimischen Versicherungsprodukten Konkurrenz.

4.1.1.2

Infolgedessen nehmen die Wahlmöglichkeiten für potenzielle Versicherungsnehmer zu. Im Idealfall sollte die Positivauslese durch die Kunden, die einen Versicherungsvertrag abschließen wollen, die „unsichtbare Hand“ sein, die den Versicherungsbinnenmarkt reguliert.

4.1.1.3

Versicherungen stehen aber auch im Zusammenhang mit weiteren Freiheiten: für Prämien und Versicherungserträge gilt der freie Zahlungsverkehr (siehe Artikel 56 des EG-Vertrags). Außerdem sollten Versicherungsnehmern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit gemäß Artikel 18 des EG-Vertrags Gebrauch machen, bei einer Verlegung ihres gewöhnlichen Aufenthaltsortes von einem Hoheitsgebiet in ein anderes keine Nachteile entstehen.

4.1.2   Stand der Harmonisierung des Versicherungsrechts und des Versicherungsvertragsrechts

4.1.2.1

Diese vielfältigen Beziehungen zwischen dem Versicherungswesen (Versicherungsrecht) und den im EG-Vertrag garantierten Freiheiten haben die EU veranlasst, wichtige Sektoren des Versicherungsrechts zu harmonisieren, um das (einwandfreie) Funktionieren des Binnenmarktes zu ermöglichen. Das Versicherungsaufsichtsrecht ist EG- und EWR-weit durch die sogenannten „drei Generationen“ von Richtlinien für den Versicherungssektor sehr stark harmonisiert.

4.1.2.2

Auf der Grundlage dieser Errungenschaften wurde ein System der einheitlichen Zulassung und der Herkunftslandkontrolle eingeführt, wie dies bereits der EuGH in seinem Urteil vom 4. Dezember 1986 (15) vorgesehen hatte. Im Bereich des Versicherungsvertragsrechts beschränkt sich die Harmonisierung jedoch mehr oder weniger auf Fragen des internationalen Privatrechts und des internationalen Verfahrensrechts (16).

4.1.2.3

Das materielle Versicherungsvertragsrecht wurde nur in bestimmten Sektoren und in diesen wiederum nur in ganz bestimmten Fragen harmonisiert. Es gibt z.B. eine ganze Reihe harmonisierter Rechtsvorschriften im Bereich der Kfz-Haftpflichtversicherung (17). Einheitliche Regelungen gibt es auch im Bereich der Rechtsschutzversicherung (18).

4.1.2.4

Der bei weitem größte Teil der Bestimmungen des materiellen Versicherungsvertragsrechts, d.h. der allgemeine Teil mit den für alle Versicherungszweige geltenden Bestimmungen, unterliegt noch nationalem Recht. Angesichts dessen stellt sich unvermeidlich die Frage, ob für das einwandfreie Funktionieren des Versicherungsbinnenmarktes auch eine Harmonisierung im Bereich des Versicherungsvertragsrechts notwendig wäre. Diese Frage wäre zu bejahen, wenn die Unterschiede im Versicherungsvertragsrecht zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten ein Hemmnis für den Binnenmarkt darstellen.

4.2   Das Versicherungsvertragsrecht als Hemmnis für den Binnenmarkt

4.2.1   Derzeitige Situation: Der Versicherungsbinnenmarkt ist nicht vollendet

4.2.1.1

Es liegen empirische Daten vor, die darauf schließen lassen, dass die bisherigen Maßnahmen der Gemeinschaft (19) zwar eine erhebliche Verbesserung bewirkt haben, der Versicherungsbinnenmarkt jedoch noch nicht voll funktioniert (20). Dies gilt z.B. für den freien Dienstleistungsverkehr bei der Absicherung von Massenrisiken, der in Art. 49 ff. des EG-Vertrags verankert und mit den Richtlinien für das Versicherungsrecht angestrebt, jedoch — in Wirklichkeit — weder vom Versicherungsgewerbe noch von den Kunden sonderlich genutzt wird.

4.2.2   Allgemeiner Hintergrund der derzeitigen Situation

4.2.2.1

Die oben beschriebene derzeitige Situation lässt sich besser verstehen, wenn der allgemeine rechtliche Hintergrund bekannt ist. Ein Schlüsselfaktor ist die Tatsache, dass Versicherungen häufig als „Rechtsprodukt“ bezeichnet werden, was darauf hinweist, dass das von einem Versicherungsunternehmen vertriebene Produkt der Versicherungsvertrag selbst ist, der im Wege der Parteiautonomie und im Einklang mit den (zwingenden) vertragsrechtlichen Bestimmungen gestaltet wird.

4.2.2.2

Man müsste sich sicherlich keine Gedanken über das einwandfreie Funktionieren des Binnenmarktes machen, wenn die Parteiautonomie im Versicherungsvertragsrecht den Vertragsparteien die Möglichkeit ließe, Versicherungsprodukte nach ihren beiderseitigen Präferenzen zu gestalten.

4.2.2.3

Versicherungen unterliegen aber in hohem Maße zwingenden Vorschriften (21), die zum Teil zugleich international zwingend sind.

4.2.2.4

Das Produkt eines Versicherers ist erheblich durch das einschlägige Versicherungsvertragsrecht geprägt. So erklärt es sich, dass Unterschiede im Versicherungsrecht zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten ein Hemmnis für den Binnenmarkt bedeuten können. Im Aktionsplan der Kommission für ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht (22) wird das in aller Deutlichkeit ausgesagt und im Folgenden aus der Sicht des Versicherungsunternehmens (Ziffer 4.2.3), des Versicherungsnehmers (4.2.4) und des Versicherungsvermittlers (4.2.5) belegt.

4.2.3   Aus der Sicht des Versicherungsunternehmens

4.2.3.1

Das Produkt eines Versicherungsunternehmens ist die Risikodeckung. Bei der Risikokalkulation, die der Entwicklung seiner Versicherungsprodukte zugrunde liegt, berücksichtigt das Unternehmen das rechtliche Umfeld, in dem das betreffende Produkt angeboten wird. Ein Versicherungsunternehmen, das ein Produkt gemeinschaftsweit im Rahmen ein und derselben Rechtsordnung vertreiben kann, kann ein Risikopooling für die in der EU abgedeckten Risiken vornehmen, ohne dass das unterschiedliche Versicherungsrecht der einzelnen Mitgliedstaaten zu Verzerrungen führt. In diesem Fall werden die Freiheiten des Versicherungsunternehmens durch Unterschiede im Versicherungsrecht nicht beeinträchtigt.

4.2.3.2

Wenn sich hingegen das auf eine Versicherungspolice anwendbare Recht in Abhängigkeit von dem Ort des Vertragsabschlusses ändert, beeinflussen die unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen der einzelnen Mitgliedstaaten die Risikokalkulation und behindern dadurch die Anwendung des Gesetzes der großen Zahlen, auf dem das Versicherungsgeschäft beruht.

4.2.3.3

Versicherungsunternehmen, die ihre Dienstleistungen grenzüberschreitend anbieten, müssten daher ihre Policen in Abhängigkeit von dem jeweils anwendbaren Recht unterschiedlich gestalten und kalkulieren. Dies würde ein gravierendes Hemmnis für den Binnenmarkt bedeuten.

4.2.3.4

Ein kurzer Blick auf die Bestimmungen der Gemeinschaft hinsichtlich des internationalen Privatrechts im Versicherungssektor zeigt, dass ein Versicherungsunternehmen de facto gezwungen ist, seine Policen auf das rechtliche Umfeld desjenigen Mitgliedstaats abzustimmen, in dem es sie anbietet. Gemäß Artikel 7 Absatz 1 Buchstaben a) und h) der zweiten Nichtlebensversicherungsrichtlinie (23) gilt das Recht des Mitgliedstaats, in dem das Risiko belegen ist, während gemäß Artikel 32 Absatz 1 der Lebensversicherungsrichtlinie (24) das Recht des Mitgliedstaats anwendbar ist, in dem die Verpflichtung eingegangen wird. Der Mitgliedstaat, in dem das Risiko belegen ist bzw. die Verpflichtung eingegangen wird, richtet sich in den meisten Fällen nach dem gewöhnlichen Aufenthaltsort des Versicherungsnehmers. (25)

4.2.3.5

Das Versicherungsunternehmen kann dies vermeiden, indem es im Wege der Vereinbarung mit dem Versicherungsnehmer das auf den jeweiligen Versicherungsvertrag anwendbare Recht festlegt (zumeist das Recht desjenigen Mitgliedstaats, in dem es seinen Sitz hat). Durch die Bestimmungen hinsichtlich der Anwendung des internationalen Privatrechts in den Versicherungsrichtlinien wird diese Wahlmöglichkeit jedoch stark eingeschränkt. Die Richtlinien im Nichtlebensversicherungsbereich lassen die freie Rechtswahl nur bei Versicherungsverträgen zur Absicherung von Großrisiken (26) zu. Die Mitgliedstaaten — d.h. der betreffende Mitgliedstaat, in dem das Risiko belegen ist — können eine größere Parteiautonomie einräumen (27). In allen anderen Fällen lassen die Richtlinien nur in begrenztem Maße (28) Parteiautonomie zu, wodurch die beschriebenen Probleme von Versicherungsunternehmen, die ihre Versicherungsverträge grenzüberschreitend anbieten, nicht gelöst werden. Im Bereich der Lebensversicherung kann der Mitgliedstaat, in dem die Verpflichtung eingegangen wird, Parteiautonomie einräumen (29). Davon abgesehen haben die Parteien nur wenig Spielraum bei der Rechtswahl (30).

4.2.3.6

Diese Ausführungen zur Situation des internationalen Versicherungsvertragsrechts der EU machen deutlich, dass der Versicherer bei der Versicherung von Massenrisiken sein Produkt in den meisten Fällen an das rechtliche Umfeld des Mitgliedstaats anpassen muss, in dem der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hat (31). Diese Erschwernis wird noch dadurch verstärkt, dass der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort nach Vertragsabschluss wechseln kann (32).

4.2.3.7

Die einzige Ausnahme im internationalen Versicherungsvertragsrecht der EU ist die Absicherung von Großrisiken im Nichtlebensbereich. In diesem Fall können der Versicherer und der Versicherungsnehmer das anwendbare Recht wählen. Doch selbst im Falle von Großrisikoversicherungen kann ein Gericht des Mitgliedstaats, in dem der Versicherungsnehmer seinen Aufenthaltsort hat (und das gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe b) der Brüssel-I-Verordnung (33) zuständig ist) die Anwendung der zwingenden Vorschriften dieses Staates vorschreiben. (34)

4.2.3.8

Daraus folgt, dass sich Versicherungsunternehmen, zumindest wenn es um Massenrisiken geht, nicht so leicht bereit finden werden, ihre Dienstleistungen grenzüberschreitend anzubieten. Es ließe sich ins Feld führen, dass das Problem durch eine Änderung der Bestimmungen des internationalen Privatrechts zu lösen wäre, denn man könnte davon ausgehen, dass die angeführten Hemmnisse für das Funktionieren des Binnenmarktes sich von selbst auflösen würden, wenn den Vertragsparteien die freie Rechtswahl eingeräumt würde oder — sofern diese freie Wahl ungenutzt bliebe — das Recht des Staates, in dem der Versicherer niedergelassen ist, zur Anwendung käme. Durch eine derartige Änderung würde jedoch der Grundsatz des Versicherungsnehmer- und Verbraucherschutzes im internationalen Privatrecht stark ausgehöhlt: dadurch würde im Versicherungssektor die freie Rechtswahl für Verbraucherverträge auch in solchen Fällen gewährt, in denen der Verbraucher in anderen Sektoren durch Artikel 5 des Übereinkommens von Rom geschützt ist. Außerdem würde das Problem dadurch nicht vollständig gelöst: die Gerichte des Mitgliedstaats, in denen der Versicherungsnehmer seinen Aufenthaltsort hat, würden auch weiterhin ihre international zwingenden Vorschriften anwenden. Vor allem aber hätten die Versicherungsnehmer größte Bedenken, Verträge mit ausländischen Anbietern abzuschließen, wenn klar wäre, dass sie den Schutz ihres nationalen Rechts verlieren und einem ihnen unbekannten ausländischen Versicherungsrecht unterliegen. (35)

4.2.4   Aus der Sicht des Versicherungsnehmers

4.2.4.1

Angesichts der derzeitigen Bestimmungen des internationalen Privatrechts können die Versicherungsnehmer im Prinzip sehr aufgeschlossen für ausländische Versicherungsprodukte sein. Da sie wissen, dass sie (in den meisten Fällen) durch das Recht des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Wohnsitz haben, geschützt sind, spricht nichts gegen den grenzüberschreitenden Abschluss eines Versicherungsvertrags. Aber auch wenn sie das wollten, haben sie de facto keine Möglichkeit, ein ausländisches Produkt zu erwerben: da das Recht ihres Herkunftslandes zur Anwendung kommt, wird jeder abgeschlossene Vertrag mehr oder weniger stark an die Rechtsvorschriften ihres eigenen Landes angepasst werden. Wenn sie trotz alledem ein ausländisches Versicherungsprodukt erwerben wollen, stellen sie fest, dass die ausländischen Versicherer vor einer entsprechenden Risikodeckung zurückschrecken.

4.2.4.2

Derartige Vorbehalte könnten wahrscheinlich, wie schon gesagt, durch eine Änderung der Bestimmungen des internationalen Versicherungsvertragsrecht ausgeräumt werden. (36) Dies würde aber lediglich zur Folge haben, dass die Vorbehalte der Versicherer gegen die Gewährung des Versicherungsschutzes durch mindestens ebenso starke Vorbehalte der Versicherungsnehmer gegen den Erwerb einer ausländischen Versicherungspolice abgelöst würden. Es steht nicht zu erwarten, dass sich auf diese Weise ein Versicherungsbinnenmarkt entwickelt.

4.2.4.3

Es kommt aber noch ein weiterer Aspekt hinzu. Innerhalb des Binnenmarktes kann sich ein Versicherungsnehmer frei bewegen und aufhalten (siehe insbesondere Artikel 18 des EG-Vertrags). Ein Wechsel seines gewöhnlichen Aufenthaltsortes kann jedoch negative Auswirkungen auf seine Versicherungssituation haben. Erstens können die Gerichte des Mitgliedstaats, in den er umzieht, andere international zwingende Vorschriften anwenden, die Auswirkungen auf seine an seinem früheren Wohnsitz erworbenen Versicherungspolicen haben. Zweitens können die Bestimmungen über die Versicherungspflicht eine Deckung erfordern, die von der am früheren Wohnsitz erworbenen Versicherungsdeckung abweicht. Und drittens könnte der Versicherungsnehmer den Wunsch haben, im Rahmen einer einzigen Versicherungspolice Risiken abzudecken, die in verschiedenen Mitgliedstaaten belegen sind.

4.2.4.4

Die derzeitige Rechtslage lässt derartige EU-weite Policen nicht uneingeschränkt zu; statt dessen werden so genannte „Rahmenverträge“ entwickelt, die letzten Endes nichts anderes sind als ebenso viele unterschiedliche Verträge, wie Mitgliedstaaten betroffen sind. Was also fehlt, ist eine transferierbare Police für den 'EU-weit mobilen' Versicherungsnehmer (37), dessen Wohnsitz und Arbeitsplatz immer wieder zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten wechselt.

4.2.5   Aus der Sicht der Versicherungsvermittler

4.2.5.1

Vermittler spielen beim Vertrieb von Versicherungsverträgen eine wichtige Rolle. Bei der Schaffung eines Versicherungsbinnenmarktes kommt ihnen eine Schlüsselfunktion zu. Dies gilt insbesondere für die Versicherungsmakler: Durch die Nutzung ihrer — in den Artikeln 49–55 des EG-Vertrags verbrieften und durch die Richtlinie über Versicherungsvermittler (38) umgesetzten — Dienstleistungsfreiheit tragen sie erheblich zur Schaffung und zum Funktionieren eines Versicherungsbinnenmarktes bei. Insbesondere bei Massenrisiken dürfte eher ein Makler als der Kunde selbst nach Möglichkeiten der Absicherung auf einem ausländischen Versicherungsmarkt suchen.

4.2.5.2

Für einen Makler, der mit dem örtlichen Recht nicht vertraut ist, werden Angaben über einen ausländischen Versicherungsmarkt und dessen Produkte jedoch vermutlich keinen großen Wert haben. Da die auf einem Versicherungsmarkt angebotenen Produkte mit Blick auf das jeweilige örtliche Recht gestaltet werden, kann ein Makler nicht davon ausgehen, dass Inhalt und Preis einer Police im rechtlichen Umfeld seines (ausländischen) Kunden die gleichen sein werden. Makler können daher nicht problemlos ausländische Versicherungsmärkte nutzen, um Massenrisiken abzusichern, sondern müssen individuell Verträge aushandeln. Dies könnte unerschwingliche Transaktionskosten verursachen und dadurch das Funktionieren des Versicherungsbinnenmarktes beeinträchtigen.

4.2.6   Vergleichbare Probleme beim Vertrieb von Versicherungen über Zweigniederlassungen

4.2.6.1

Recht häufig wird argumentiert, dass bei Versicherungen per se eine gewisse geographische Nähe zwischen dem Versicherungsunternehmen und seinen Kunden erforderlich ist. Dies könnte künftig dazu führen, dass grenzüberschreitende Abschlüsse im Versicherungswesen seltener sein werden als in anderen Sektoren (z.B. im Internet-Buchhandel usw.). Im Interesse der Beziehungen zu ihren Kunden könnten es die Versicherungsunternehmen vorziehen, den Vertrieb ihrer Produkte in anderen Mitgliedstaaten über Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften abzuwickeln.

4.2.6.2

Diejenigen, die diesen Standpunkt vertreten, sind nicht prinzipiell gegen die Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts. Sie wollen damit eigentlich nur zeigen, dass sich die Wirkung auf einen relativ geringen Teil von Versicherungsverträgen beschränken wird, die tatsächlich grenzüberschreitend oder mit mobilen Kunden, welche den Wohnsitz zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten wechseln, abgeschlossen werden.

4.2.6.3

In Wirklichkeit wird die Wirkung aber sehr viel stärker zu spüren sein. Wenn Versicherungen in anderen Mitgliedstaaten über Zweigniederlassungen („establishments“) oder gar Tochtergesellschaften vertrieben werden, treten für die Kunden, Versicherungsvermittler und Versicherungsunternehmen dieselben Probleme auf. Die Versicherungsunternehmen müssen ihre Produkte an die örtlichen Bedingungen und das jeweilige rechtliche Umfeld anpassen. Sie müssen ihre Produkte somit umgestalten. Eine in einem bestimmten Mitgliedstaat konzipierte Police kann deshalb nicht über eine Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat verkauft werden, ohne dass aufgrund des unterschiedlichen (rechtlichen) Umfelds erhebliche Änderungen vorgenommen werden müssen. Die Versicherungsvermittler und die Kunden hingegen sehen sich dem Problem gegenüber, dass sie auf ihren jeweiligen Märkten schlicht und einfach keine ausländischen Versicherungsprodukte finden werden.

4.2.6.4

Durch die Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts könnten die Kosten für die Produktentwicklung im Binnenmarkt drastisch gesenkt werden. Versicherungsunternehmen, die in einem anderen Mitgliedstaat Niederlassungen errichten, könnten ihren Aufwand auf die Kundenberatung durch ihre Versicherungsagenten, die Schadensregulierung über ihre zuständigen Regionalbüros usw. reduzieren. Selbst bei der Abwicklung der Tätigkeiten über Tochtergesellschaften könnten innerhalb der Versicherungskonzerne Aufwand und Kosten für die Produktentwicklung geteilt werden.

4.2.6.5

Die Kunden würden dadurch wirklich vom Binnenmarkt profitieren. In einem Binnenmarkt mit einem harmonisierten Versicherungsvertragsrecht könnten sich Innovationen im Versicherungssektor leichter grenzüberschreitend durchsetzen. Die europäischen Kunden hätten Zugang zu ausländischen Versicherungsprodukten.

4.3   Die Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts vor dem Hintergrund der EU-Erweiterung

4.3.1

Am 1. Mai 2004 sind der EU zehn neue Mitgliedstaaten beigetreten, unter denen sich acht Transformationsländer befinden. Als Voraussetzung für den EU-Beitritt musste ihr Versicherungsrecht mit dem Acquis communautaire in Einklang gebracht werden (39). Für das Funktionieren der Versicherungsmärkte in diesen Ländern ist ein zeitgemäßes Versicherungsvertragsrecht unverzichtbar. Einige der neuen Mitgliedstaaten haben bereits zeitgemäße Rechtsvorschriften erlassen, während andere noch entsprechende Maßnahmen ergreifen müssen.

4.3.2

Die Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts dürfte daher im Interesse eines erweiterten Versicherungsbinnenmarktes erstrebenswert sein, da sie zur Modernisierung der Rechtsvorschriften in den neuen Mitgliedstaaten beiträgt und das Entstehen neuer Disparitäten zwischen den nationalen Systemen verhindert. Es dürfte hilfreich sein, wenn die Europäische Kommission die betreffenden Länder so schnell wie möglich informieren würde, falls sie eine Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts plant.

5.   Der Richtlinienvorschlag der Kommission aus dem Jahr 1979

5.1

Wie bereits erwähnt hat die Kommission 1979 einen ersten Richtlinienvorschlag zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (40) vorgelegt. Dieser Vorschlag ging auf das Allgemeine Programm zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit zurück, der auf dem Gebiet der Direktversicherungen die Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften insoweit vorsah, „als die Verschiedenartigkeit dieser Vorschriften zu Nachteilen für die Versicherten und für Dritte führt“  (41).

5.2

In dem genannten Vorschlag wurde die bis dahin durch die bereits bestehenden Versicherungsrichtlinien erzielte Koordinierung als unzureichend eingestuft und die Auffassung vertreten, dass in Anwendung des Vertrags bei Dienstleistungen jede diskriminierende Behandlung untersagt ist, die sich auf die Tatsache gründet, dass ein Unternehmen nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem die Leistung erbracht wird.

5.2.1

Aus diesem Grund wurde eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften in dem Sinne für notwendig erachtet, „einige allgemeine Fragen zu regeln, insbesondere im Zusammenhang mit dem Versicherungsschutz entsprechend der Prämienzahlung, mit der Laufzeit des Vertrages und mit der Stellung der Versicherten, die keine Versicherungsnehmer sind“ wie auch in Bezug auf „die Folgen, die die Verhaltensweise des Versicherungsnehmers bei Abschluss und während der Laufzeit des Vertrages bezüglich der Gefahr- und der Schadensanzeige und seine Haltung gegenüber den im Versicherungsfall zu treffenden Maßnahmen nach sich ziehen“.

5.2.2

Außerdem wurde in dem vorgenannten Vorschlag der Standpunkt vertreten, dass „den Mitgliedstaaten nur dann gestattet werden [kann], für die in dieser Richtlinie geregelten Probleme unterschiedliche Lösungen vorzusehen, wenn dies im Wortlaut der Richtlinie ausdrücklich vorgesehen ist“, da jeder andere Ansatz die mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele in Frage stellen könnte. Damit wurde ein wichtiger Schritt hin zur Harmonisierung in diesem Bereich getan (42).

5.3

Der EWSA hatte sich zu diesem Vorschlag geäußert (43) und einhellig den im Folgenden zusammengefassten Standpunkt vertreten:

a)

er bemängelte, dass sich die Kommission auf die Koordinierung einiger Punkte beschränkt habe, die sie für wesentlich erachtet habe, wobei zu einem späteren Zeitpunkt weitere Vorschriften harmonisiert werden sollten;

b)

er bedauerte, dass keine Unterscheidung zwischen den Massenrisiken einerseits und geschäftlichen bzw. industriellen Risiken andererseits getroffen wurde;

c)

er vertrat die Ansicht, dass auch die Krankenversicherung vom Geltungsbereich ausgeschlossen werden sollte;

d)

er bedauerte, dass die Richtlinie die Fälle von Verträgen, die von in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Versicherern geschlossen werden und bei denen das Risiko in einem Drittland belegen ist, sowie von Verträgen, die von außerhalb der Gemeinschaft ansässigen Versicherungsnehmern eingegangen werden, außer acht ließ;

e)

um einen angemessenen Schutz der Versicherungsnehmer — unabhängig davon, ob es sich um Privatpersonen oder Kleinbetriebe handelt — zu gewährleisten, forderte der Ausschuss insbesondere Bestimmungen zu folgenden Punkten:

1.

Einführung einer Bedenkzeit

2.

Verbot missbräuchlicher Klauseln

3.

ausdrückliche Erwähnung der Ausschlüsse sowie der Fälligkeiten

4.

angemessene Unterrichtung vor Vertragsabschluss

f)

er drängte darauf, das Regressrecht geschädigter Dritter im Rahmen einer ad hoc vorgeschlagenen Richtlinie oder in einer späteren Koordinierungsphase zu behandeln.

5.4

Der EWSA prüfte anschließend die einzelnen Artikel des Vorschlags und gab dazu verschiedene kritische Bemerkungen ab, die bei der Vorbereitung einer Initiative in diesem Bereich auch heute noch gebührende Berücksichtigung verdienen.

5.5

Zu diesem Vorschlag nahm seinerzeit auch das Europäische Parlament Stellung (44) und vertrat insbesondere die Meinung, dass „die Harmonisierung den Versicherungsnehmern unabhängig von der Wahl des anwendbaren Rechts ein ähnliches Maß an Schutz gewährleistet.“

5.5.1

Das EP schlug verschiedene Änderungen vor, insbesondere zum Geltungsbereich der Richtlinie (Wegfall von Ausschlüssen), zu den wesentlichen Elementen des Versicherungsvertrags, zur Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers und den diesbezüglichen Auswirkungen auf die Gültigkeit des Vertrags — und zwar sowohl in Bezug auf die ursprünglichen Umstände als auch deren Änderung während der Laufzeit des Vertrags -, zu den vom Versicherungsnehmer im Schadensfall beizubringenden Beweisen sowie zu den Bedingungen für die Auflösung des Vertragsverhältnisses.

5.5.2

In den Bemerkungen des EP wird seine explizit bekundete Absicht deutlich, „eine gerechte Ausgewogenheit zwischen den Interessen des Versicherers und des Versicherten“ sicherzustellen.

5.6

Im Anschluss daran arbeitete die Kommission eine Änderung zu ihrem Vorschlag aus (45), in dem sie insbesondere die verschiedenen Anregungen und Vorschläge des EWSA und des EP berücksichtigte und erstmals darauf aufmerksam machte, dass „die Koordinierung der Rechtsvorschriften über Versicherungsverträge […] die Erbringung von Dienstleistungen in einem Mitgliedstaat durch Versicherer eines anderen Mitgliedstaats erleichtern [würde]“. Damit wurde die Verwirklichung eines Binnenmarkts im Bereich der Finanzdienstleistungen zum ersten Mal ansatzweise als Ziel formuliert (46).

5.6.1

In diesem Kommissionsvorschlag wurde der 1. Juli 1983 als Termin für das Inkrafttreten der Richtlinie festgelegt. Der Vorschlag wurde jedoch letztendlich niemals angenommen, da es den Mitgliedstaaten an politischem Willen fehlte.

5.7   Inwiefern ist dieser Kommissionsvorschlag von 1979/1980 immer noch aktuell?

5.7.1

Die Antworten, die auf den zu diesem Zweck versandten Fragebogen eingegangen sind, wie auch die Ergebnisse der öffentlichen Anhörung vom 16. April 2004 haben ein grundsätzliches Einvernehmen darüber erkennen lassen, dass dieser mehr als zwanzig Jahre alte Vorschlag nach wie vor als ernstzunehmender Beitrag und gute Ausgangsgrundlage für eine neue Initiative in diesem Bereich zu betrachten ist.

5.7.2

Es wurde aber auch betont, dass der heutige Harmonisierungsbedarf beim Versicherungsvertrag weit über den Vorschlag aus dem Jahr 1980 hinausgeht und dass entsprechenden Vorschlägen für Vorschriften eine fundierte Debatte auf der Grundlage eingehender rechtsvergleichender Untersuchungen vorausgehen muss.

6.   Wege zur Harmonisierung

6.1   Ermittlung optimaler Lösungen durch Rechtsvergleich

6.1.1

Eventuellen Maßnahmen zur Harmonisierung des europäischen Versicherungsvertragsrechts sollten in jedem Fall rechtsvergleichende Vorarbeiten vorausgehen. Im Hochschulbereich sind die entsprechenden Arbeiten schon relativ weit fortgeschritten. Im Bereich des allgemeinen Vertragsrechts wurde ein Rechtsvergleich bereits mit der Vorlage einer Arbeit über die Grundsätze des europäischen Vertragsrechts abgeschlossen. Auf dem Gebiet des Versicherungsvertragsrechts wurden und werden eine Vielzahl von Ergebnissen rechtsvergleichender Untersuchungen veröffentlicht. (47) 1999 gründete der inzwischen verstorbene Professor Reichert-Facilides eine Forschungsgruppe „Restatement of European Insurance Contract Law“. Dieser Gruppe gehören Fachleute auf dem Gebiet des Versicherungsrechts aus verschiedenen Rechtssystemen (innerhalb und außerhalb der EU) an.

6.1.2

Die Leitvorgaben für die Suche nach einer „optimalen Lösung“ im Versicherungsvertragsrecht könnten folgendermaßen aussehen: Erstens sollte dem grundlegenden Zweck des gesamten Versicherungsvertragsrechts — einen Rechtsrahmen für die tatsächliche Risikodeckung durch den Versicherer zu schaffen und damit das einwandfreie Funktionieren des Versicherungsgewerbes zu gewährleisten — Rechnung getragen werden. Zweitens muss sorgfältig auf die ausgewogene Berücksichtigung der kollidierenden Interessen der Parteien geachtet werden. In diesem Zusammenhang muss insbesondere gebührend gewürdigt werden, dass der Trend heutzutage dahin geht, dem Versicherungsnehmer ein relativ hohes Schutzniveau zu gewähren.

6.1.3

Angesichts dieser Überlegungen sollten sich die Bemühungen um die Verbesserung des Versicherungsbinnenmarktes auf die zwingenden Vorschriften konzentrieren. Diese Vorschriften bilden den unverzichtbaren Rahmen für die Parteiautonomie und stellen gleichzeitig — solange sie nicht harmonisiert sind — ein Hemmnis für den Binnenmarkt dar. Der Regelungsbedarf im Versicherungswesen steht daher mit dem Harmonisierungsbedarf eines Versicherungsbinnenmarktes in Einklang.

6.2   Bei Maßnahmen zur Harmonisierung muss ein hohes Schutzniveau für den Versicherungsnehmer sichergestellt werden

6.2.1

Das Versicherungsvertragsrecht — zumindest seine halbzwingenden Vorschriften — soll die schwächere Partei schützen und kann daher von der Funktion her als Verbraucherrecht bezeichnet werden. Der Schutz des Versicherungsnehmers geht jedoch traditionell über das allgemeine Verbraucherrecht hinaus: neben privaten Verbrauchern sind auch Kleinunternehmen beim Abschluss von Versicherungen geschützt.

6.2.2

Bei der Harmonisierung des europäischen Verbraucherrechts muss die EU ein hohes Schutzniveau für die Verbraucher sicherstellen (siehe z.B. Artikel 95 Absatz 3 des EG-Vertrags). Dieser Grundsatz gilt auch für Rechtsakte, die sich auf andere Artikel des EG-Vertrags stützen, in denen der EU Rechtsetzungsbefugnisse eingeräumt werden (auf dem Gebiet des Versicherungsrechts üblicherweise Artikel 47 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 55 des EG-Vertrags). Aufgrund dessen würde durch eine Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts ein hohes Schutzniveau für den Versicherungsnehmer gewährleistet.

6.3   Mindeststandards oder Vollharmonisierung?

6.3.1

Bei der Betrachtung der derzeitigen Probleme mit dem Versicherungsbinnenmarkt wird zweifelsfrei deutlich, dass eine Vollharmonisierung des Versicherungsvertragsrechts notwendig ist. Eine Harmonisierung in Form von Mindeststandards würde es den Mitgliedstaaten ermöglichen, ein höheres Schutzniveau als das europäische Recht vorzugeben, und dadurch neue Hemmnisse für den Versicherungsbinnenmarkt schaffen.

6.3.2

Mindeststandards würden das Funktionieren des Binnenmarktes nicht beeinträchtigen, wenn die derzeitigen Bestimmungen des internationalen Privatrechts durch Bestimmungen ersetzt würden, denen zufolge die Rechtsvorschriften des Sitzlandes des Versicherers zur Anwendung kämen. Auf diese Weise würde jeder Versicherer sein Produkt im Einklang mit den Rechtsvorschriften seines eigenen Mitgliedstaats (unter Einhaltung des europäischen Mindestschutzniveaus) gestalten und auf der Grundlage, dass das Recht des „Herkunftslandes“ gilt, in allen anderen Mitgliedstaaten vertreiben. Der Versicherungsnehmer könnte sich auf die Gewährleistung des Mindestschutzniveaus verlassen, obwohl ausländisches Recht anwendbar wäre.

6.3.3

Eine derartige Verlagerung im internationalen Privatrecht ist jedoch weder wahrscheinlich noch wünschenswert. Zunächst einmal würden die Verbraucher durch eine derartige Änderung von den Versicherungsdienstleistungen im Rahmen des Verbraucherschutzes ausgeschlossen, der in — Artikel 5 des Übereinkommens von Rom vorgesehen ist (dieser Artikel schützt den „passiven“ Verbraucher auch in Bereichen, in denen das materielle Verbraucherrecht harmonisiert ist). Zweitens würde von den Gerichten die Anwendung der zwingenden Bestimmungen des Mitgliedstaats durchgesetzt, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wodurch weiterhin Hemmnisse für den Binnenmarkt bestehen blieben. Drittens muss darauf hingewiesen werden, dass gemäß der Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen ein Versicherer — mit ganz wenigen Ausnahmen — nur vor den Gerichten des Mitgliedstaats klagen kann, in dessen Hoheitsgebiet sein Versicherungsnehmer seinen Wohnsitz hat (siehe Artikel 12 Absatz 1), und sich der Versicherungsnehmer gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe b aller Wahrscheinlichkeit nach auch an diese Gerichte wenden würde.

6.3.4

Eine Verlagerung im internationalen Privatrecht würde daher dazu führen, dass die zuständigen Gerichte in den meisten Fällen ausländisches Recht anwenden müssten. Dadurch würden Rechtsstreitigkeiten in Versicherungssachen selbst dann aufwendiger und kostspieliger, wenn das Versicherungsrecht selbst harmonisiert werden sollte. Ein derartiges Vorgehen ist somit nicht empfehlenswert. Das internationale Privatrecht sollte grundsätzlich unangetastet bleiben und das Versicherungsvertragsrecht voll harmonisiert werden. Damit ist aber nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, das derzeit geltende internationale Privatrecht zu verbessern. Beispielsweise könnte es einem „EU-weit mobilen“ Bürger in Ermangelung eines harmonisierten Versicherungsvertragsrechts erlaubt werden, zwischen dem Recht des Landes, in dem er seinen Wohnsitz hat, und dem Recht des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zu wählen.

6.4   Muss das allgemeine Vertragsrecht harmonisiert werden, um einen Versicherungsbinnenmarkt zu ermöglichen?

6.4.1

Von der Systematik her ist das Versicherungsvertragsrecht in das allgemeine Vertragsrecht eingebettet. Diese Feststellung wirft die Frage auf, ob die mit einer Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts angestrebten Ziele nur in Verbindung mit einer Harmonisierung des gesamten Vertragsrechts (oder zumindest des gesamten allgemeinen Vertragsrechts) oder auch unabhängig davon verwirklicht werden können. Letzteres scheint der Fall zu sein.

6.4.2

Wie bereits oben erwähnt sind es die zwingenden Vorschriften, die ein Hemmnis für den Versicherungsbinnenmarkt darstellen und daher harmonisiert werden sollten. Das allgemeine Vertragsrecht ist jedoch vom Wesen her nicht zwingend. Wenngleich es einige zwingende Bestimmungen gibt, scheinen diese in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten weder so grundlegend verschieden zu sein, dass eine Nichtharmonisierung das Funktionieren des Binnenmarktes beeinträchtigen würde, noch haben sie einen beherrschenden Einfluss auf das Versicherungsprodukt als solches.

6.4.3

Sofern Ausnahmen von dieser Regel festzustellen sind, können die entsprechenden Probleme im Rahmen der Harmonisierung des Versicherungssektors gelöst werden. Eine derartige Bestimmung wurde z.B. bereits in der Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (48) behandelt, die auch für Verbraucherversicherungen gilt (49). Damit ein Versicherungsvertragsgesetz auf Gemeinschaftsebene den Anforderungen des Binnenmarktes gerecht wird, müsste lediglich der Geltungsbereich auf sämtliche Massenrisiken ausgeweitet werden.

6.4.4

Die vorgenannten Argumente richten sich nicht gegen eine Harmonisierung des allgemeinen Vertragsrechts. Die Entscheidung in dieser Frage liegt einzig und allein bei den Gemeinschaftsorganen. Durch die Harmonisierung des allgemeinen Vertragsrechts würde die Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts zweifellos erleichtert. Die vorgetragenen Argumente sollen lediglich zeigen, dass die Ziele einer Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts auch unabhängig davon verwirklicht werden können.

6.5   Schaffung eines optionellen Instruments oder Harmonisierung der nationalen Regelwerke für Versicherungsverträge?

6.5.1   Die Unterschiede zwischen der Harmonisierung der nationalen Regelwerke und einem optionellen Instrument

6.5.1.1

In dem Aktionsplan für ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht wurde die Möglichkeit hervorgehoben, statt einer Harmonisierung oder Vereinheitlichung des einzelstaatlichen Vertragsrechts ein optionelles Instrument zu schaffen. Der Hauptunterschied zwischen diesen beiden Ansätzen ist darin zu sehen, dass ein optionelles Instrument das jeweilige nationale Vertragsrecht unberührt ließe, sobald sich die Vertragsparteien entweder nicht für das optionelle Instrument oder aber dagegen entscheiden, je nachdem welche dieser beiden Möglichkeiten das betreffende Instrument vorsieht. In diesem Fall würden parallele Rechtsordnungen (eine europäische und die nationalen) entstehen, zwischen denen die Parteien wählen könnten.

6.5.1.2

Bei einer Harmonisierung oder Vereinheitlichung des einzelstaatlichen Vertragsrechts würden hingegen die traditionellen Konzepte dieser verschiedenen Regelwerke durch eine europäische Lösung ersetzt. Die Parteien hätten in diesem Fall nicht die Wahl zwischen nationalem und europäischem Recht.

6.5.2   Vor- und Nachteile der beiden Ansätze

6.5.2.1

Unter dem Aspekt des Versicherungsbinnenmarktes ist beiden Lösungen ein offensichtlicher Vorteil gemein: sie beseitigen die rechtlichen Hemmnisse für den europaweiten Vertrieb von Versicherungspolicen und ermöglichen es einem Versicherungsnehmer, sich innerhalb der Gemeinschaft frei zu bewegen, ohne durch das unterschiedliche Versicherungsvertragsrecht verursachte nachteilige Auswirkungen auf seine Police befürchten zu müssen. Somit ist jeder der beiden Ansätze der heutigen Situation vorzuziehen, und die Wahl zwischen beiden Lösungen ist letztendlich keine grundsätzliche, sondern eine politische Frage.

6.5.2.2

Die Harmonisierung des einzelstaatlichen Versicherungsvertragsrechts könnte erheblich problematischer sein als die Schaffung eines optionellen Instruments, da die nationalen „Traditionen“ durch eine europäische Lösung ersetzt werden müssten und sich die führenden juristischen Kreise der einzelnen Länder (sowohl die praktizierenden als auch die in Lehre und Forschung tätigen Juristen) gegen eine Vollharmonisierung sträuben könnten.

6.5.2.3

Ein ambivalenter Faktor ist die Wechselbeziehung zwischen der Intensität des Eingreifens in nationales Recht und der Schnelligkeit, mit der Ergebnisse für den Binnenmarkt erzielt würden. Da ein optionelles Instrument keine Abschaffung der nationalen Rechtsvorschriften bedeuten würde, wäre es als „weicher“ Ansatz einzustufen und dürfte daher für die Märkte leichter zu akzeptieren sein. Andererseits ist zu befürchten, dass ein optionelles Instrument die Akteure im Binnenmarkt (z.B. Versicherungsunternehmen und Versicherungsvermittlern) zu einer abwartenden Haltung veranlassen könnte — statt sich als erster vorzuwagen, würde jeder versuchen, den anderen den Vortritt zu lassen und von den (schlechten) Erfahrungen seiner Konkurrenten zu profitieren. Möglicherweise würde das optionelle Instrument aber auch als günstige Gelegenheit betrachtet, die jeder als erster — über den Internetvertrieb von Versicherungen — am Schopf ergreifen wollte. Die Harmonisierung wiederum würde mit Sicherheit sofort zu Ergebnissen führen, da ihr kein Akteur entgehen könnte. Auf der anderen Seite könnte diese Form des Eingreifens aber als sehr massiv — wenn nicht sogar zu massiv — empfunden werden.

6.5.2.4

Aus technischer Sicht kann gegen das optionelle Instrument eingewandt werden, dass es die Harmonisierung nicht voll und ganz ersetzen kann. Dies lässt sich am Beispiel der Kfz-Haftpflichtversicherung leicht belegen. Die Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Kfz-Haftpflichtversicherung ist für die grundsätzliche Mobilität der EU-Bürger enorm wichtig, da sie bei Unfällen den unverzichtbaren Schutz der Geschädigten sicherstellt. Es liegt auf der Hand, dass der Schutz der Geschädigten nicht davon abhängen darf, ob sich die Vertragsparteien für ein europäisches Instrument entschieden haben. Ein optionelles Instrument könnte die Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften im Bereich der Kfz-Haftpflichtversicherung daher nicht ersetzen.

6.5.2.5

Überdies stellt sich auch die Frage, ob ein optionelles Instrument in einem Bereich wie dem Versicherungsrecht, in dem ein Ungleichgewicht zwischen den Parteien besteht, wirkungsvoll sein kann. Hätten die Parteien wirklich die Wahl oder würde die Wahl einseitig von den Versicherern getroffen, die in ihre allgemeinen Versicherungsbedingungen entsprechende Anwendungs- bzw. Nichtanwendungsklauseln aufnehmen würden?

6.5.2.6

Ob das Ziel eines europäischen Versicherungsvertragsrechts durch die Harmonisierung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder die Schaffung eines optionellen Instruments erreicht wird, ist nicht das vorrangige Problem. Diese Frage muss aber dennoch sorgfältig geprüft werden.

6.6   Festlegung EU-weiter allgemeiner Versicherungsbedingungen?

6.6.1

Und schließlich könnte die Frage gestellt werden, ob anstelle der Harmonisierung der Rechtsvorschriften EU-weit geltende allgemeine Versicherungsbedingungen festgelegt werden könnten. Das Problem, dass die Versicherer sämtliche Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten berücksichtigen müssen, ließe sich durch kollektive, von den EU-Institutionen unterstützte Anstrengungen in dieser Richtung verringern (wenn auch nicht ganz beseitigen).

6.6.2

Ein derartiger Ansatz wäre jedoch nicht zu begrüßen. Zunächst einmal könnten EU-weit geltende allgemeine Versicherungsbedingungen zwar die Unterschiede bei den nationalen Rechtsvorschriften berücksichtigen, aber dennoch weiterhin eine separate Risikokalkulation erfordern und sich möglicherweise nachteilig für mobile EU-Bürger auswirken.

6.6.3

Außerdem würde ein derartiger Ansatz zur Festlegung von Musterbedingungen führen, die den Wettbewerb auf den Versicherungsmärkten beeinträchtigen würden. Es muss daran erinnert werden, dass ein wichtiger Schritt bei der Schaffung eines Versicherungsbinnenmarktes darin bestand, den Mitgliedstaaten jedes Recht auf eine systematische Kontrolle der allgemeinen Versicherungsbedingungen vor deren Markteinführung zu nehmen. (50) Die Folge derartiger Kontrollen sind mangelnde Vielfalt bei den Versicherungsprodukten, weniger Auswahl für den Kunden und dadurch weniger Wettbewerb. Die Festlegung EU-weit geltender allgemeiner Versicherungsbedingungen birgt strukturell dieselbe Gefahr in sich.

7.   Harmonisierungsbereiche

7.1

In den obigen Ausführungen wurde deutlich gemacht, dass die zwingenden Bestimmungen des Versicherungsvertragsrechts harmonisiert werden müssen. Dabei bleibt noch die Frage offen, ob eine Harmonisierung in allen oder nur in bestimmten Bereichen des Versicherungsvertragsrechts notwendig ist.

7.2

Beim Versicherungsrecht wird gemeinhin zwischen einem allgemeinen Teil mit den für alle Versicherungsverträge geltenden Bedingungen und den speziellen Bedingungen für die einzelnen Versicherungszweige unterschieden. Es stellt sich die Frage, ob für die Verwirklichung des Versicherungsbinnenmarktes die allgemeinen Bedingungen, die branchenspezifischen Bedingungen oder beide harmonisiert werden müssten.

7.3

Theoretisch müssen beide harmonisiert werden: sowohl die allgemeinen als auch die branchenspezifischen Bestimmungen beeinflussen das Produkt und behindern dadurch das Funktionieren des Binnenmarktes. So haben z.B. die Bestimmungen betreffend die Zusicherung der Richtigkeit der Angaben, die sich regelmäßig im allgemeinen Teil finden, ebenso großen Einfluss auf die risikoabhängige Prämie in den einzelnen Versicherungszweigen wie z.B. die jeweiligen speziellen Bedingungen für Lebensversicherungen o.ä. Bei der Harmonisierung sollte daher grundsätzlich nicht zwischen den beiden Arten von Bedingungen unterschieden werden.

7.4

Die Harmonisierung könnte jedoch in mehreren Schritten vollzogen werden. In diesem Fall muss eine Prioritätenliste aufgestellt werden. Hierbei dürfte es sich anbieten, den allgemeinen Teil zuerst zu harmonisieren: Viele Versicherungszweige unterliegen keinen speziellen zwingenden Bestimmungen (51), sondern lediglich allgemeinen Bestimmungen nach dem geltenden nationalen Versicherungsrecht. Am vordringlichsten ist daher die Harmonisierung der allgemeinen versicherungsrechtlichen Bestimmungen, soweit es sich um zwingende Bestimmungen handelt. Diese Harmonisierung würde unverzüglich die Schaffung eines Versicherungsbinnenmarktes in sämtlichen Versicherungszweigen ermöglichen, für die keine speziellen zwingenden Rechtsvorschriften gelten. Sobald dieser Vorgang abgeschlossen ist, sollte die Harmonisierung auch auf regulierte Versicherungszweige wie z.B. die Lebens- und Krankenversicherung ausgeweitet werden.

7.5

So könnten z.B. in einem ersten Schritt die folgenden Bestimmungen harmonisiert werden:

a)

Vorvertragliche Verpflichtungen, insbesondere Informationspflichten;

b)

Zustandekommen des Vertrages;

c)

Versicherungspolice, Art, Wirkung und formale Anforderungen;

d)

Dauer, Verlängerung und Beendigung eines Vertrags;

e)

Versicherungsvermittler;

f)

Vergrößerung des Risikos;

g)

Versicherungsprämie;

h)

versichertes Ereignis;

i)

Versicherung zugunsten Dritter.

8.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

8.1

Versicherungen sind in der heutigen Zeit eine wichtige Dienstleistung im Rahmen der Geschäftsbeziehungen sowohl zwischen Unternehmen als auch zwischen Unternehmen und Verbrauchern.

8.2

Für den Abschluss und die Gültigkeit eines Versicherungsvertrags gelten in den nationalen Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten zum Teil unterschiedliche Grundprinzipien.

8.3

Diese Sachlage stellt ein Hindernis für den grenzüberschreitenden Vertrieb dieses Finanzinstruments dar und setzt somit der Verwirklichung des Binnenmarktes in diesem Bereich Grenzen.

8.4

Eine gewisse Harmonisierung der zwingenden Bestimmungen des so genannten „allgemeinen Teils“ des Versicherungsrechts könnte zweifelsohne dazu beitragen, einen großen Teil der Hemmnisse und Schwierigkeiten auszuräumen, denen sich die Versicherungsunternehmen, die Versicherungsvermittler sowie die Versicherten und Versicherungsnehmer — und zwar sowohl Gewerbetreibende als auch Verbraucher — bei der Tätigung grenzüberschreitender Versicherungsgeschäfte gegenübersehen.

8.5

Dies ist der einhellige Standpunkt aller interessierten Kreise, die zu diesem Thema befragt bzw. angehört wurden.

8.6

Hinsichtlich der Form dieser Harmonisierung wird ein schrittweises Vorgehen empfohlen, wobei als erster Schritt ein optionelles Modell eines Versicherungsvertrags eingeführt werden könnte, das jedoch — sobald es angewandt wird — in sämtlichen Bestimmungen und Einzelheiten verbindlich sein muss.

8.7

Bei der Ausarbeitung dieses Modells müssen die Richtlinienvorschläge der Kommission von 1979 und 1980 unter Berücksichtigung der hierzu vorgelegten Bemerkungen und Analysen der verschiedenen interessierten Kreise, der Vertreter der Zivilgesellschaft und der Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten zugrunde gelegt sowie die zwischenzeitlichen Entwicklungen im Sektor gebührend berücksichtigt werden.

8.8

Als Gemeinschaftsinstrument sollte eine Verordnung gewählt und Artikel 95 des Vertrags als Rechtsgrundlage herangezogen werden.

8.9

Aufgrund seiner oben ausgeführten Überlegungen ersucht der EWSA die Kommission, dieses Dossier wieder zu öffnen und Rechtsvergleiche sowie Untersuchungen der einzelstaatlichen Praktiken im Bereich des Versicherungsvertrags in Angriff zu nehmen, die darüber Aufschluss geben, ob die Fortsetzung der Arbeiten zur Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts auf Gemeinschaftsebene notwendig, zweckmäßig und durchführbar ist.

8.10

Hierbei müssen die bereits durchgeführten wissenschaftlichen Arbeiten berücksichtigt werden.

8.11

Der EWSA empfiehlt insbesondere, dass die Kommission die durchgeführten Arbeiten mittels eines Grünbuchs bekannt machen und öffentlich zur Debatte stellen sollte, da dies eine unverzichtbare Voraussetzung für die Ausarbeitung des bestmöglichen Gemeinschaftsinstruments ist.

8.12

Der EWSA ist sich der Tatsache bewusst, dass es nur mit einer klaren politischen Willensbekundung der Mitgliedstaaten — als Impuls für diese Initiative zur Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts — möglich sein wird, die Verwirklichung des Finanzdienstleistungsbinnenmarktes ein entscheidendes Stück voranzubringen.

8.13

Der EWSA appelliert an das Europäische Parlament, sich dieser Initiative anzuschließen und ihr einen gebührenden Stellenwert auf seiner politischen Agenda einzuräumen, indem es erneut für die Harmonisierung der zwingenden Bestimmungen des allgemeinen Teils des Versicherungsvertragsrechts eintritt.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Berichterstatter: Herr Ataíde Ferreira, ABl. C 95 vom 30.3.1998.

(2)  KOM(79) 355 endg., veröffentlicht im ABl. C 190 vom 28.7.1979, geändert durch KOM(80) 854 endg., veröffentlicht im ABl. C 355 vom 31.12.1980: die Stellungnahmen des EWSA und des EP wurden in ABl. C 146 vom 16.6.1980 bzw. C 265 vom 13.10.1980 veröffentlicht. In Ziffer 5 dieser Stellungnahme wird auf diese Dokumente eingegangen.

(3)  Ebd., Ziffer 2.1.9.

(4)  Ebd., Ziffer 2.3.1.1.1.

(5)  Ebd., Ziffer 3.4.

(6)  Ebd., Ziffer 3.6.1.

(7)  Ebd., Ziffer 4.3.6.

(8)  Nach Auffassung des Ausschusses sollten folgende Aspekte in die Richtlinie aufgenommen werden:

„–

vertragliche Mindestinformationen;

eine Liste von Schlüsselbegriffen mit Definitionen;

eine Liste typischer Beispiele für missbräuchliche Versicherungsklauseln;

die Mindestangaben, die in jedem Versicherungsvertrag enthalten sein müssen;

eine Übersicht über die vertraglichen Verpflichtungen, die allen Versicherungsverträgen gemein sein müssen;

die Grundprinzipien und -regeln, denen jeder Versicherungsvertrag gehorchen muss;

ein System der vorläufigen Entschädigung bei Versicherungsfällen im Rahmen der Haftpflicht;

die Verpflichtung, den Prämienbetrag an den Risikowert anzupassen, insbesondere durch eine Senkung der Prämie infolge des automatischen, altersbedingten Wertverlustes des versicherten Objekts;

harmonisierte Mindestfristen für die Bedenkzeit;

die Verpflichtung, dass Versicherungsverträge leserlich und verständlich sein müssen und die allgemeinen und besonderen Versicherungsbedingungen vor Abschluss und Unterzeichnung des Vertrags bekannt zu geben sind.“

Ebd., Ziffer 4.5. Dieser Ansatz wurde in verschiedenen Stellungnahmen des EWSA wieder aufgegriffen und bekräftigt, wie z.B. in der kürzlich verabschiedeten Stellungnahme zu dem Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, Berichterstatter: Herr Levaux, ABl. C 95 vom 23.4.2003.

(9)  „ECLG-Consumer Insurance“, Journal of Consumer Policy (1986), S. 205-228.

(10)  Note des CEA vom 4. Juni 2003.

(11)  KOM(2001) 398 endg. vom 11.7.2001 (ABl. C 255 vom 13.9.2001).

(12)  KOM(2003) 68 endg. vom 12.2.2003.

(13)  Aktionsplan, Punkt 74. Vgl. auch die Punkte 27, 47 und 48 dieses Dokuments.

(14)  Dokument A5-0256/2003, verabschiedet auf der Plenartagung des EP am 2. September 2003, Punkt 11 und Punkt 14.

(15)  Urteil des Gerichtshofes vom 4. Dezember 1986, Sammlung der Rechtsprechung 1986, S. 3755 (Kommission gegen Deutschland).

(16)  Internationales Verfahrensrecht: Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen; ABl. L 12 vom 16.1.2001, S. 1 (letzte Änderung ABl. L 225 vom 22.8.2002, S. 13), Art. 8-14. Internationales Privatrecht: Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 19. Juni 1980, ABl. L 166 von 1980, insbesondere Art. 1 Abs. 3, 4. Richtlinienrecht: Zweite Richtlinie 88/357/EWG des Rates vom 22. Juni 1988 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 73/239/EWG; L 172 vom 4.7.1988, S. 1 (letzte Änderung ABl. L 228 vom 11.8.1992, S. 1), insbesondere. Art. 2 Buchstaben c, d; Art. 3, 5, 7 und 8; Richtlinie 92/49/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Dritte Richtlinie Schadenversicherung); ABl. L 228 vom 11.8.1992, S. 1 (letzte Änderung ABl. L 35 vom 11.2.2003, S. 1), insbesondere Art. 1 Buchstaben a, b; Art. 27, 28, 30, 31; Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen; ABl. L 345 vom 19.12.2002, S. 1; insbesondere Art. 32, 33; zum internationalen Privatrecht siehe Reichert-Facilides/d'Oliveira (eds.), International Insurance Contract Law in the EC, Deventer 1993; Reichert-Facilides (Hg.), Aspekte des internationalen Versicherungsvertragsrechts im EWR, Tübingen 1994.

(17)  Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug- Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht; ABl. L 103 vom 2.5.1972, S. 1 (letzte Änderung ABl. L 8 vom 11.1.1984, S. 17); Zweite Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung; ABl. L 8 vom 11.1.1984, S. 17 (letzte Änderung ABl. L 129 vom 19.5.1990, S. 33); Dritte Richtlinie 90/232/EWG des Rates vom 14. Mai 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug- Haftpflichtversicherung; ABl. L 129 vom 19.5.1990, S. 33; Richtlinie 2000/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Mai 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG des Rates (Vierte Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie); ABl. L 181 vom 20.7.2000, S. 65; eine Fünfte Richtlinie wurde von der Kommission am 7. Juni 2002 vorgeschlagen, KOM(2002) 244 endg. - ABl. C 227 E vom 24.9.2002, S. 387.

(18)  Richtlinie 87/344/EWG des Rates vom 22. Juni 1987 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung; ABl. L 185 vom 4.7.1987, S. 77.

(19)  Siehe 4.1.2.

(20)  Vgl. EUROSTAT.

(21)  Derartige Vorschriften sind absolut zwingend, wenn die Parteien nicht die Möglichkeit haben, im Wege der Vereinbarung von ihnen abzuweichen. Sie sind halbzwingend, wenn sich die Vertragsparteien auf Bedingungen (und nur auf solche) verständigen dürfen, die für den Kunden vorteilhafter sind als die rechtlichen Bestimmungen.

(22)  ABl. C 63 vom 15.3.2003, S. 1-44 (Ziffern 47, 48: „Besonders bei Versicherungsverträgen treten dieselben Probleme auf“).

(23)  Vollständige Angabe siehe Fußnote 20.

(24)  Vollständige Angabe siehe Fußnote 20.

(25)  Siehe Artikel 2 Buchstabe d) der Zweiten Nichtlebensversicherungsrichtlinie; Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe g) der Lebensversicherungsrichtlinie.

(26)  Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe f) der Zweiten Nichtlebensversicherungsrichtlinie (in der durch Art. 27 der Dritten Nichtlebensversicherungsrichtlinie geänderten Fassung; bzgl. der Definition von Großrisiken siehe Artikel 5 Absatz d) Ziffer (i) der Ersten Nichtlebensversicherungsrichtlinie.

(27)  Siehe Artikel 7 Absatz 1 Buchstaben a) und d) der Zweiten Nichtlebensversicherungsrichtlinie.

(28)  Siehe Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b, c und e.

(29)  Siehe Artikel 32 Absatz 1 Satz 2 der Lebensversicherungsrichtlinie.

(30)  Siehe Artikel 32 Absatz 2 der Lebensversicherungsrichtlinie.

(31)  Siehe Aktionsplan der Europäischen Kommission für ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht, ABl. C 63 vom 15.3.2003, S. 1 (Ziffer 48: „Die Formulierung einer einzigen Police, die mit denselben Bedingungen auf verschiedenen europäischen Märkten vertrieben werden könnte, hat sich in der Praxis als unmöglich erwiesen“).

(32)  Obgleich ein solcher Wechsel das anwendbare Recht grundsätzlich nicht berührt, können die Gerichte im Mitgliedstaat des neuen gewöhnlichen Aufenthaltsortes die Anwendung der (international) zwingenden Vorschriften vorschreiben: Gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe b) der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen kann ein Versicherungsnehmer den Versicherer in dem Mitgliedstaat verklagen, in dem er seinen neuen Aufenthaltsort hat. Gemäß Artikel 7 Absatz 2 zweiter Unterabsatz der Zweiten Nichtlebensversicherungsrichtlinie und Artikel 32 Absatz 4 erster Unterabsatz der Lebensversicherungsrichtlinie können die Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats die Anwendung der dort geltenden zwingenden Vorschriften vorschreiben (zwingende Vorschriften des lex fori).

(33)  Vollständige Angabe siehe Fußnote 20.

(34)  Dies kann der Versicherer vermeiden, indem er eine gemäß Artikel 13 Absatz 5 in Verbindung mit Artikel 14 (d.h. Absatz 5) der Verordnung über gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen zulässige Klausel über die gerichtliche Zuständigkeit in den Vertrag aufnimmt, die den Gerichten des Mitgliedstaats, in denen er seinen Sitz hat, die ausschließliche Zuständigkeit einräumt. Bei der Absicherung von Großrisiken stellt sich die Lage für den Versicherer alles in allem vielversprechender dar.

(35)  Siehe Ziffer 4.2.4.

(36)  Siehe 4.2.3.

(37)  Basedow, Die Gesetzgebung zum Versicherungsvertrag zwischen europäischer Integration und Verbraucherpolitik, in: Reichert-Facilides/Schnyder (Hsg.), Versicherungsrecht in Europa – Kernperspektiven am Ende des 20. Jahrhunderts, ZSR 2000 (Beiheft 34) 13 - 30 (S. 20).

(38)  Richtlinie 2002/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Dezember 2002 über Versicherungsvermittlung; ABl. L 9 vom 15. Januar 2003, S. 3.

(39)  Vgl. Heiss, „Expanding the Insurance Acquis to Accession Candidates: From the Europe Agreements to Full Membership“, in: Heiss (ed.), „An Internal Insurance Market in an Enlarged European Union“, Karlsruhe 2002, 11 – 22.

(40)  KOM(79) 355 endg. vom 10. Juli 1979, ABl. C 190 vom 28. Juli 1979, S. 2.

(41)  ABl. vom 15.1.1962, Abschnitt V, Unterabschnitt C, Buchstabe a).

(42)  Dem Text zufolge war eine Harmonisierung insbesondere für folgende Aspekte vorgesehen:

a)

formale Struktur der Versicherungspolice;

b)

Anspruch auf Aushändigung einer Bestätigung über das Bestehen eines Versicherungsvertrags bei Vertragsabschluss sowie die für diese Bestätigung vorgeschriebenen Mindestangaben;

c)

Sprache, in der der Vertrag auszufertigen ist;

d)

Regelungen betreffend die vom Versicherten bei Vertragsabschluss anzuzeigenden gefahrerheblichen Umstände sowie die Folgen bei absichtlicher Nichtangabe oder Falschangabe;

e)

Regelungen betreffend die vom Versicherten während der Laufzeit des Vertrages anzuzeigenden Fakten oder Umstände, die zu einer Erhöhung des Risikos führen könnten, sowie die Folgen bei Nichterfüllung dieser Verpflichtung;

f)

Regelungen betreffend die Beweislast bei Nichterfüllung der vorgenannten Verpflichtungen;

g)

Regelungen betreffend die Prämienzahlungen bei einer Verringerung des Risikos;

h)

Folgen der vollständigen oder teilweisen Nichtzahlung der Prämie für die Gültigkeit des Vertrags;

i)

Verpflichtungen des Versicherungsnehmers im Schadensfall;

j)

Regelungen betreffend die Kündigung des Versicherungsvertrags;

k)

Möglichkeit der Parteien, von den Bestimmungen der Richtlinie abzuweichen, wenn dies für den Versicherten, den Versicherungsnehmer oder den geschädigten Dritten vorteilhafter ist.

Die Richtlinie sollte für alle Direktversicherungen außer der Lebensversicherung gelten, mit Ausnahme der folgenden Versicherungszweige:

a)

Schienenfahrzeug-Kasko

b)

Luftfahrzeug-Kasko

c)

See-, Binnensee- und Flussschifffahrts-Kasko

d)

Transportgüter

e)

Luftfahrzeughaftpflicht sowie See-, Binnensee- und Flussschifffahrtshaftpflicht

f)

Kredit und Kaution aufgrund der bei diesen Versicherungszweigen bestehenden Besonderheiten.

(43)  Berichterstatter: Herr DE BRUYN, (ABl. C 146 vom 16.6.1980)

(44)  ABl. C 265 vom 13.10.1980.

(45)  KOM(80) 854 endg. vom 15.12.1980, veröffentlicht in ABl. C 355 vom 31.12.1980.

(46)  Der neue Kommissionsvorschlag sah im Einzelnen Folgendes vor:

a)

den Ausschluss der Krankenversicherung, wie vom EWSA vorgeschlagen;

b)

genauere Einzelheiten zu den Verfahrensweisen für die Kündigung des Vertrags, wobei verstärkt die Möglichkeit vorgesehen wurde, Verträge in geänderter Form weiterzuführen, statt sie schlicht und einfach zu kündigen;

c)

eine genauere Fassung der Beweislastregelungen.

(47)  Vgl. Basedow/Fock (Hg.), Europäisches Versicherungsvertragsrecht, Tübingen, Band I und II 2002, Band III 2003; Reichert-Facilides (ed.), Insurance Contracts, in: International Encyclopedia of Comparative Law (Veröffentlichung in Vorbereitung).

(48)  Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen; ABl. L 95 vom 21.4.1993, S. 29.

(49)  Gegebenenfalls könnte eine spezielle Auflistung missbräuchlicher Klauseln im Versicherungssektor aufgenommen werden; vgl. hierzu die Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Die Verbraucher auf dem Versicherungsmarkt“ (CES 116/98 vom 19. Januar 1998) und die von der Kommission in Auftrag gegebene (Vertrag AO-2600/93/009263) und vom Zentrum für Verbraucherrecht der Universität Montpellier koordinierte Studie über missbräuchliche Klauseln in bestimmten Versicherungsverträgen, sowie die jüngsten Vorschläge der Kommission zum Verbraucherkredit (KOM(2002) 443 endg.).

(50)  Siehe Artikel 29 der Dritten Nichtlebensversicherungsrichtlinie und Artikel 34 der Lebensversicherungsrichtlinie.

(51)  Viele der branchenspezifischen Bestimmungen, die sich in den nationalen versicherungsrechtlichen Vorschriften finden, sind nicht zwingend und daher an sich kein Hemmnis für den Binnenmarkt.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/15


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Tourismus und Sport: künftige Herausforderungen für Europa“

(2005/C 157/02)

Der Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 29. Januar 2004 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Tourismus und Sport: künftige Herausforderungen für Europa“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 10. November 2004 an. Berichterstatter war Herr PESCI.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15. Dezember 2004 mit 144 gegen 1 Stimme bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

Vorbemerkung

Die Entwicklung der Menschen, Städte und Völker erfolgt durch den Austausch und die Wahrung gemeinsamer positiver Werte, die sich an der Achtung der Mitmenschen orientieren und gegenseitiges Verständnis, Toleranz, Gastfreundschaft und gegenseitige Bereitschaft zum Austausch von Erfahrungen und Perspektiven fördern.

In einer immer dynamischeren Gesellschaft mit tiefgreifenden sozialen, geopolitischen und technologischen Umwälzungen, in der sich die Wertvorstellungen mindestens ebenso schnell weiterentwickeln müssen wie die materielle Entwicklung, ist es als grundlegend zu betrachten, alle großen und kleinen Gelegenheiten wahrzunehmen, um diese Werte zu bekräftigen und zu verbreiten.

Tourismus und Sport sind Bereiche, die sich für diese Aufgabe von Natur aus eignen. Sie sind vollwertige wirtschaftliche, aber auch soziale und kulturelle Erscheinungen, sind eng miteinander verbunden und teilen einige Grundwerte wie intellektuelle Neugier, Bereitschaft zu Veränderungen, Wissbegier und faire Auseinandersetzung.

Tourismus und Sport können darüber hinaus dazu beitragen, die in der Strategie von Lissabon gesteckten Ziele zu erreichen, nämlich Europa bis 2010 zur wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaft der Welt zu machen. Die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung dieser beiden Sektoren kann die Volkswirtschaften der EU-Länder ankurbeln.

Dieser Beitrag gewinnt nach der Annahme des Vertrags über eine Verfassung für Europa, in dem der Tourismus erstmals als Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft anerkannt wird, noch weiter an Bedeutung. Der EWSA betrachtet dieses Ergebnis als grundlegenden ersten Schritt in Richtung einer europäischen Politik der Entwicklung, Förderung und Koordinierung des Tourismus und begrüßt die Aufnahme des Artikels über Sport in den genannten Verfassungsvertrag.

1.   Einleitung

1.1

Tourismus und Sport sind zwei Bereiche, die künftig eine immer wichtigere Rolle für das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen in Europa spielen. Ihre Schlüsselrolle wird weltweit einmütig anerkannt.

1.2

Die Staaten und Gesellschaften setzen immer stärker auf diese beiden Bereiche als wichtige Kanäle zur Verbreitung positiver Werte und Botschaften und zur Entwicklung ökologisch und sozial nachhaltiger Volkswirtschaften.

1.3

Seit jeher zieht der Sport Massen von Erwachsenen und Kindern an, die Sportveranstaltungen aufsuchen und dieselbe Begeisterung verspüren.

1.4

Der Tourismus bietet heute ein komplettes Angebot an Sportaktivitäten, die v.a. in den letzten Jahren großen Erfolg haben und zur Neubelebung von Gebieten mit teilweisem oder starkem wirtschaftlichen Niedergang beitragen (1).

1.5

Einige Sportveranstaltungsorte sind auch zu Fremdenverkehrszielen geworden und umgekehrt. Diese beiden Eigenschaften haben sich immer stärker miteinander verbunden und bieten einander neue Angebote und Wachstumschancen.

1.6

Dies hat die Fähigkeit der einzelnen Orte verbessert, nicht nur jüngere und ältere, sondern auch Menschen mit verschiedenen Behinderungen anzuziehen, die so in ihren Ferien auf neue und befriedigendere Weise sportliche Erfahrungen erleben können.

1.7

2002 wurden in Europa 411 Mio. ausländische Touristen gezählt, was sich mit über 5 % auf das BIP auswirkt und einem Anteil von fast 58 % am weltweiten Tourismus entspricht. Die Weltorganisation für Tourismus (WTO) prognostiziert jedoch, dass der Anteil Europas am weltweiten Tourismusmarkt bis 2020 auf 46 % zurückgeht, wenngleich sich die Zahl der Touristen fast verdoppelt, weil neue Wettbewerber auftreten.

1.8

Im Rahmen der vorliegenden Stellungnahme hat der EWSA in Rom eine öffentliche Anhörung zum Thema „Tourismus und Sport: künftige Herausforderungen für Europa“ veranstaltet, an der hochrangige italienische und europäische Vertreter des Tourismus- und Sportsektors sowie die für Tourismus und für Sport zuständigen Referatsleiter der Europäischen Kommission teilgenommen haben. Diese Veranstaltung erwies sich als wertvoller Moment des Austauschs und brachte viele Anregungen und Gedankenanstöße hervor (2).

1.9

Auf der Grundlage dieser öffentlichen Anhörung in Rom und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der diesjährige von der WTO veranstaltete Welttourismustag (27. September 2004) unter dem Motto „Sport und Tourismus: zwei vitale Kräfte für gegenseitiges Verständnis, Kultur und gesellschaftliche Entwicklung“ stand, hat der EWSA einige Überlegungen für eine integriertere künftige Politik für Untersuchungen und Maßnahmen in diesen beiden Bereichen angestellt.

1.10

Nachdem im Jahr 2004 bereits die Fußball-Europameisterschaft in Portugal und die XXVII. Olympischen Spiele und Paralympics in Griechenland ausgetragen wurden, werden in den nächsten fünf Jahren in Europa einige weitere Sportveranstaltungen von Weltrang mit enormen Touristenströmen und wirtschaftlichen Auswirkungen stattfinden. Besucherströme quer durch ganz Europa werden eine einmalige Chance für alle Reiseziele des Kontinents bieten.

2.   Tourismus und Sport: künftige Herausforderungen für Europa

2.1

In den nächsten Jahren werden daher die Medien der ganzen Welt ihre Aufmerksamkeit längere Zeit auf Europa richten. Bei all diesen Gelegenheiten (3) wird die EU im Mittelpunkt der Kommunikation über verschiedene Kanäle und auf verschiedenen Ebenen stehen. Zumindest im großen Rahmen wird also auch in politischer, soziokultureller, touristischer und natürlich sportlicher Hinsicht über Europa gesprochen werden.

2.2

Diese Zeit der großen Sportveranstaltungen muss daher für die europäischen Gesellschaften nicht nur eine wirtschaftliche Chance, sondern auch ein Anlass zum Nachdenken und zum Austausch über kulturelle und soziale Werte im Hinblick auf Wachstum und nachhaltige Entwicklung sein.

2.3

Es ist offensichtlich, welche Tragweite Bildungsmaßnahmen für die Bevölkerung der Mitgliedstaaten und der Welt haben, die im Zuge dieser Veranstaltungen entwickelt und verbreitet werden können. Besondere Aufmerksamkeit ist dabei der Jugend und den gesellschaftlich weniger integrierten Menschen, wie beispielsweise den Behinderten zu widmen.

2.4

Hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit im Tourismusbereich können die kommenden Jahre mit ihren sportlichen Großveranstaltungen von Weltrang eine wichtige Chance für Europa bieten, um Marktentscheidungen zu entwickeln und umzusetzen, die auf die Attraktivität der Aufnahmestrukturen und die Nachhaltigkeit der angebotenen Dienstleistungen abzielen.

2.5

Der EU gehören mittlerweile 25 Staaten mit insgesamt 450 Mio. Einwohnern an, für die dieses große Einzugsgebiet beträchtliche Vorteile bietet. Denn durch diese Größe gibt es mehr erreichbare Reiseziele, mehr an Mobilität interessierte Bürger, Athleten und Veranstaltungen, die es so rasch wie möglich in die Programme und Kreisläufe Europas zu integrieren gilt.

3.   Tourismus und Sport: ein Doppelbegriff mit strategischer Bedeutung für Europa

3.1

Fremdenverkehr ist eine Industrie, die den Frieden und die Integration zwischen den Völkern fördert und ihre Koexistenz bei Toleranz und gegenseitiger Achtung ermöglicht.

3.2

Der Fremdenverkehr hat gezeigt, dass er zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Millionen Menschen auf der Welt beitragen kann und eine ausgewogenere und solidarischere Wirtschaftsentwicklung fördert.

3.3

Er hat erhebliche Auswirkungen auf die Beschäftigung. Europaweit sind über 2 Mio. Unternehmen in dieser Branche tätig, die mehr als 8 Mio. Personen beschäftigen, ganz zu schweigen von der indirekten Schaffung von Arbeitsplätzen.

3.4

Die Tourismusbranche ist nämlich ein branchenübergreifender Wirtschaftszweig, der mehr Arbeitsplätze als andere Sektoren schaffen kann.

3.5

Sie ist jedoch auch eine Branche, die besonders anfällig ist für negative Wirtschaftsentwicklungen, internationale Krisen und saisonbedingte Gegebenheiten, welche die Schaffung langfristiger Arbeitsplätze erschweren. Dennoch konnte sie sich insgesamt immer recht gut behaupten, indem sie vielfältige Angebote liefert, die durch ihre Unterschiedlichkeit ein System bilden, das strukturell und durch die Umstände bedingte Schwierigkeiten ausgleichen und auffangen kann.

3.6

Die Herausforderung der nächsten Jahre besteht darin, im ganzen Europa der 25 einen sozial und wirtschaftlich stabilen Rahmen zu schaffen und aufrechtzuerhalten und dabei jede Art sozialer Ausgrenzung auszuschalten. Tourismus und Sport müssen ebenso wie Kultur und Bildung für alle konkret nutzbar und zugänglich sein und einen erleichterten Zugang für die sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen vorsehen.

3.7

Die Europäische Kommission hat diesen Weg in ihrer Mitteilung „Zusammenarbeit für die Zukunft des Tourismus in Europa“ (November 2001) (4) und in ihrer Mitteilung „Grundlinien zur Nachhaltigkeit des europäischen Tourismus“ (November 2003) (5) vorgezeichnet. Nun geht es darum, konkret umzusetzen, was in diesen Dokumenten steht.

3.8

Die Entwicklung eines hochwertigen Fremdenverkehrs muss jedoch mit anderen Produktions- und/oder Freizeitsektoren der Gesellschaft kombiniert werden. Der Sport, ein echtes Reservoir an Werten, Kulturen, Regeln und Idealen, ist die ideale Ergänzung für nachhaltiges Wachstum auf allen Ebenen.

3.9

Sport ist wie der Fremdenverkehr heute eine wesentliche Freizeitaktivität und somit ein Motor für sozialen Fortschritt und Wirtschaftsentwicklung mit großem Potenzial.

3.10

Die Werte, die der Sport vermittelt, gehen bekanntlich auf die ersten Olympischen Spiele im 8. Jh. v. Chr. in Griechenland zurück und sind immer noch hochaktuell; ihnen wird in der Bildungspolitik für Jugendliche immer mehr Bedeutung beigemessen.

3.11

Die wirtschaftliche Dimension des Sports hat in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Große Sportveranstaltungen sind wichtige gemeinschaftsfördernde Erlebnisse und übermitteln Botschaften und Werte in die ganze Welt und an alle Altersgruppen.

3.12

Sportveranstaltungen haben auch zu neuen Formen des Tourismus geführt, die die traditionellen Ferien mit der Möglichkeit verbinden, einen bestimmten Sport auszuüben. Großveranstaltungen fungieren in diesem Sinne als Katalysatoren und veranlassen die Menschen, neue Sportarten auszuprobieren.

3.13

Der Sport nutzt einerseits die Fremdenverkehrsdienste und -infrastrukturen, erzeugt andererseits aber auch Fremdenverkehr, was wiederum ein großer Nutzen für Sportveranstaltungen an den verschiedenen Reisezielen ist. Man denke nur an die Zahl von Menschen, die zu einer Fußball-Weltmeisterschaft oder einer Olympiade reisen, und v.a. an den Image-Gewinn, der sich daraus für das Gastgeberland ergeben kann.

3.14

Die vorliegende Stellungnahme berücksichtigt v.a., wenn auch nicht nur, sportliche Großveranstaltungen, da diese den Reisezielen gewöhnlich den größten kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Nutzen und Image-Gewinn verschaffen.

3.15

Unter großer Sportveranstaltung wird hier im allgemeinen, nicht ausschließlichen Sinne ein Ereignis verstanden, das einen erheblichen Zustrom von Übernachtungstouristen mit sich bringt, das also die Fremdenverkehrswirtschaft am Zielort aktiviert.

3.16

So ein Großereignis kann Gelegenheit bieten, Werte, Verhaltensweisen und Praktiken deutlich zu machen, die dann auch bei den zahlreichen kleineren Veranstaltungen auf lokaler Ebene erlebt und entwickelt werden können (6).

3.17

Die komplexe Beziehung zwischen Tourismus und Sport ist als umfangreiches Geflecht zu sehen, das auch soziale, kulturelle und ökologische Aspekte umfasst. Urlauber suchen heute immer stärker integrierte Ferien, die ihnen sowohl Erholung als auch Kultur und Sport bieten.

4.   Auf institutioneller Ebene

4.1

In den letzten Jahren bildete Art. 3 Buchst. u) des EG-Vertrags die einzige Rechtsgrundlage für eine gemeinschaftliche Tourismuspolitik; darin war ein allgemeiner Bezug auf Maßnahmen im Tourismusbereich enthalten. Angesichts eines Bereichs mit so starken wirtschaftlichen Auswirkungen in vielen EU-Ländern war dies eine eindeutige Beschränkung für eine wirkliche europäische Tourismuspolitik.

4.2

Der Tourismus ist nämlich ein sehr übergreifender Bereich, der fast alle Produktions- und Dienstleistungssektoren umfasst und wirksame Skalenerträge benötigt, nicht nur bei der Organisation des Tourismus vor Ort, sondern auch im politischen Entscheidungsprozess, der dem Tourismus eine bestimmte Ausrichtung gibt.

4.3

V.a. ab 1999 stieß der Tourismus bei den EU-Institutionen jedoch auf neues und wachsendes Interesse (7). Der EWSA hat diese neue Tendenz aktiv verfolgt und begrüßt die Einfügung eines eigenen Artikels zum Tourismus in die europäische Verfassung sehr (8).

4.4

Dieses Ergebnis setzt der langen und bisweilen schädlichen Vernachlässigung des Tourismus ein Ende und ist die erforderliche Voraussetzung für eine institutionelle Gleichstellung und Integration des Sektors in die EU-Politiken.

4.5

Der EWSA hofft, dass der Tourismus von nun an auf wirklich gezielte und spezifische europäische Maßnahmen, Programme und Initiativen zählen kann. Er wünscht diesbezüglich, dass eine zentrale Stelle auf EU-Ebene geschaffen wird, und zwar nach dem Beispiel der für verschiedene Bereiche zuständigen europäischen Agenturen (9).

4.6

Jedenfalls ist es begrüßenswert, dass die EU sich bereits auf eine Tourismuspolitik ausrichtet, die nachhaltige Entwicklung in all ihren Formen anstrebt (10).

4.7

Die europäische Sportpolitik beruht auf einigen grundlegenden Dokumenten, darunter der Europäischen Charta für Sport von 1992, dem Vertrag von Amsterdam, in dem die gesellschaftliche Bedeutung des Sports verankert wurde, und der Erklärung im Anhang zum Vertrag von Nizza, in dem die Zuständigkeit der EU für Sport festgeschrieben wurde.

4.8

U.a. dank dem Impuls durch die Ratstagung von Nizza wurde der Sport in dem im Juni 2004 angenommenen Verfassungsvertrag gebührend berücksichtigt, wo ihm ein eigener Artikel gewidmet ist (11).

4.9

Zur Hervorhebung der sozialen und erzieherischen Bedeutung des Sports hat die Kommission das Jahr 2004 zum „europäischen Jahr der Erziehung durch Sport“ ausgerufen. Dadurch soll die Aufmerksamkeit auf den Sport gelenkt werden, und es sollen Projekte zur Ausbildung, Sensibilisierung und Entwicklung in Schulen und ähnlichen Einrichtungen in der ganzen EU finanziert werden.

4.10

Im Rahmen dieser Initiative wurde auch, wenn auch mit beschränkten Mitteln, die Mobilität der Schüler/Studenten gefördert, damit sie Orte fern ihrer Heimat besuchen, also auf Entdeckungsreise gehen und dabei gleichzeitig ihren Lieblingssport ausüben können.

4.11

In den nächsten Jahren müssen wir uns der Herausforderung stellen, Tourismus, Sport und Kultur miteinander zu integrieren, um zum Wiederaufschwung der europäischen Wirtschaft beizutragen und ein höheres Maß an sozialem Wohlergehen für alle zu erreichen.

4.12

Dies ist prioritär angesichts der bereits angesprochenen Ziele der Strategie von Lissabon, bei deren Verfolgung jedoch auch die veränderte Wirtschaftslage der EU-Länder berücksichtigt werden muss, um nachhaltiges und dauerhaftes Wachstum und Entwicklung zu gewährleisten.

4.13

Die Ausarbeitung dieser innovativen Strategie, die auf eine horizontale Integration von Tourismus, Sport und Kultur abzielt, auf europäischer Ebene kann durch spezifische Workshops (auch im Rahmen des europäischen Forums für Tourismus oder eines europäischen Forums für Sport) erfolgen oder auch durch die Förderung innovativer Initiativen (z.B. Schüleraustausch, Sensibilisierungskampagnen zur Einbeziehung von „Sporttouristen“ in das kulturelle und gesellschaftliche Leben des Veranstaltungsortes oder auch Kurse zur Ausbildung neuer Kompetenzen usw.). In diesem Rahmen müssen in erster Linie sowohl die Zivilgesellschaft als auch privatwirtschaftliche Partner einbezogen werden.

4.14

Die rechtliche Anerkennung der beiden Bereiche Tourismus und Sport im europäischen Verfassungsvertrag stellt einen großen Fortschritt zur Erreichung dieser Ziele dar, insbesondere zur Förderung und Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit der in diesen beiden Bereichen tätigen europäischen Unternehmen.

5.   Sicherheit und Waffenruhe während der Olympiade

5.1

In den kommenden Jahren finden wie gesagt zahlreiche Sportveranstaltungen statt, die von Millionen Menschen aus der ganzen Welt besucht werden.

5.2

Angesichts dieser Massenbewegungen, sportlichen Großveranstaltungen und der damit verbundenen umfassenden Berichterstattung in den Medien stellt sich eindringlich die Frage der Sicherheit. Sie muss verantwortungsvoll angegangen werden, ohne Panikmache, wobei alle erforderlichen Vorbeugungs- und Überwachungsmaßnahmen vorzusehen sind, um einen reibungslosen Ablauf aller Sportveranstaltungen zu gewähren.

5.3

Zusammenarbeit und präventive Erarbeitung gemeinsamer Interventionsstrategien sind in dieser Hinsicht entscheidende Elemente für die Organisation sportlicher Großveranstaltungen.

5.4

Die Sicherheit muss daher im Mittelpunkt der Strategien zur Organisation der Veranstaltungen in den kommenden Jahren stehen und v.a. auf Vorbeugung beruhen.

5.5

Die Vereinten Nationen haben auf ihrer Vollversammlung am 6. September 2000 eine Erklärung verabschiedet, in der es unter Ziffer 10 heißt: „Wir fordern die Mitgliedstaaten auf, jetzt und in Zukunft individuell und kollektiv die Waffenruhe während der Olympiade einzuhalten und das Internationale Olympische Komitee (IOC) bei seinen Bemühungen zu unterstützen, den Frieden und das Verständnis zwischen den Menschen durch Sport und das olympische Ideal zu fördern.“

5.6

Im gleichen Sinne haben sich unlängst sowohl der Europäische Rat (am 12. Dezember 2003) in Brüssel als auch das Europäische Parlament (am 1. April 2004) geäußert. Insbesondere hat das EP die Einsetzung einer internationalen Stiftung für die Einhaltung der Waffenruhe während der Olympiade durch das IOC begrüßt, eine Einrichtung, welche die Ideale des Friedens und Verständnisses durch Sport weiter fördern soll.

5.7

Der EWSA hat in seinem Beitrag zur Sicherheitsdebatte betont, die Waffenruhe während der Olympiade müsse als „universelle Botschaft“ für alle weltweiten Sportveranstaltungen der nächsten Jahre gelten. Der EWSA erklärt, der Sport könne dazu beitragen, eine Kultur des Dialogs zu verbreiten, und vielerlei Gelegenheiten zu Treffen bieten.

6.   Integrierte Nachhaltigkeit

6.1

Wie bereits erwähnt bestehen komplexe Beziehungen zwischen Tourismus und Sport, die sich sozial, wirtschaftlich und ökologisch auswirken. Diese Komplexität ist noch stärker bei sportlichen Großveranstaltungen.

6.2

Die Organisation solcher Veranstaltungen muss sich daher an allen Grundsätzen der soziokulturellen, wirtschaftlichen und ökologischen Nachhaltigkeit ausrichten. Auch für Sport und Sportveranstaltungsorte müssen die Leitlinien für die Nachhaltigkeit im Tourismus gelten, die von der Europäischen Kommission in ihrer unlängst veröffentlichten o.g. Mitteilung „Grundlinien zur Nachhaltigkeit des europäischen Tourismus“  (12) und vom EWSA in seiner Stellungnahme „Ein für alle zugänglicher und sozial nachhaltiger Tourismus“  (13) vertreten werden.

6.3

Aus sozialer und kultureller Sicht müssen Sportveranstaltungen insbesondere eine Gelegenheit zur Aufwertung der Identitäten und zum Austausch zwischen Kulturen darstellen. Daher wird vorgeschlagen, Initiativen und touristische/sportliche Veranstaltungen zu unterstützen, die mehrere Regionen verschiedener europäischer Länder einbeziehen (nach dem Vorbild des Interreg-Programms).

6.4

Aus sozioökonomischer Sicht wird hervorgehoben, dass der lokalen Bevölkerung als einem Hauptbeteiligten der Veranstaltung größte Beachtung geschenkt werden muss. Bei der Planung aller Dienstleistungen und Infrastrukturen muss die mögliche künftige Nutzung durch die Einwohner berücksichtigt werden. Die lokale Bevölkerung muss auch der Bezugspunkt für die Schaffung von Arbeitsplätzen und Ausbildungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit solchen Veranstaltungen sein.

6.5

Hinsichtlich der nicht nur ökologischen Nachhaltigkeit sind bereits Modelle entwickelt worden, um die Belastbarkeit der Reiseziele und der damit verbundenen Dienstleistungen zu messen. Es wird empfohlen, solche Modelle auch bei Sportveranstaltungen zu verbreiten und anzuwenden und dabei wie gesagt einen integrierten Ansatz zu verfolgen, der sowohl die gesellschaftliche als auch die wirtschaftliche und die ökologische Perspektive berücksichtigt.

6.6

Modelle zur Planung, Organisation und Entwicklung solcher Veranstaltungen müssen daher definiert und unterstützt werden, um den Nutzen und den geschaffenen Mehrwert zu maximieren, v.a. zugunsten der austragenden Region und ihrer Bevölkerung, die ja auch die negativen Auswirkungen erleidet und nur selten messbare Gewinne aus solchen Veranstaltungen zieht.

6.7

Große Sportveranstaltungen können eine Gelegenheit sein, Kompetenzen und Know-how auf hohem Niveau zu entwickeln, die touristischen/sportlichen Reisezielen auch mittel- und langfristig nützlich sind, was die Kultur der Aufnahme auswärtiger Gäste und die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, anbelangt. Außerdem können solche Veranstaltungen der Verbreitung bewährter Praktiken im Rahmen der Integration zwischen Tourismus und Sport dienen.

6.8

Die Organisation komplexer Veranstaltungen erfordert eine vorherige Aufzeichnung möglicher Konflikte zwischen Einwohnern und Besuchern über die Verwendung der Mittel, der Dienstleistungen, der Räume und ihrer Qualität.

6.9

Von grundlegender Bedeutung ist die „Governance“-Arbeit zwischen unterstützenden Einrichtungen, Veranstaltern, lokalen Vertretungen, Vertretungen der Endnutzer, Vertretungen der sozialen Interessen und allgemein gesagt zwischen allen Betroffenen.

6.10

Sportveranstaltungen müssen sowohl vom Veranstaltungsort als auch vom Gastgeberland mittel- und langfristig geplant werden. Dabei sind insbesondere die Auswirkungen solcher Veranstaltungen auf das Gesamtbild des Reiseziels/Veranstaltungsorts zu berücksichtigen.

6.11

Bekanntlich wird die Entwicklung des Tourismus häufig dadurch behindert, dass er saisonbedingt ist; Sportveranstaltungen dienen jedoch auch der Unterstützung einer Politik zur Förderung des saisonunabhängigen Tourismus und der Tourismuswirtschaft, zur Einkommensverbesserung und zur Schaffung sicherer langfristiger Arbeitsplätze.

6.12

Es sollten Maßnahmen zur Beobachtung der laufenden und künftigen Erfahrungen getroffen und unterstützt werden, um zur Definition eines Modells von Erfahrungen für eine Planung und Organisation von Sportveranstaltungen beizutragen, wobei die o.g. sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Aspekte berücksichtigt werden müssen. Von besonderem Interesse scheint eine Untersuchung der nachherigen Nutzung der Anlagen, Strukturen und Dienstleistungen zu sein, die für eine spezifische Veranstaltung geschaffen wurden.

6.13

Allgemein gesagt besteht die Möglichkeit, die im europäischen Mehrjahresprogramm für eine nachhaltige Entwicklung des Tourismus enthaltenen Maßnahmen, Aktionen und Empfehlungen umzusetzen, indem eine Agenda 21 auch für den Sport und für Veranstaltungsorte geschaffen wird.

6.14

Bewährte Praktiken und positive Erfahrungen bei der Planung und Organisation von touristischen/sportlichen Veranstaltungen müssen systematisiert, verbreitet und zusammengelegt werden, um eine bestmögliche Durchführung der nächsten Großveranstaltungen in der EU zu erleichtern.

7.   Tourismus, Sport und Ausbildung

7.1

Im Rahmen der Sport- und Tourismuspolitiken muss das Bildungs- und Ausbildungsziel auf allen Ebenen gestärkt werden.

7.2

Dies ergibt sich auch aus der Erklärung zum Sport in der Anlage zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates im Dezember 2000 in Nizza, in der es heißt, „Die Gemeinschaft muss (...) die sozialen, erzieherischen und kulturellen Funktionen berücksichtigen, die für den Sport so besonders charakteristisch sind, damit die für die Erhaltung seiner gesellschaftlichen Funktion notwendige Ethik und Solidarität gewahrt und gefördert werden.“

7.3

Die Integration und Förderung der positiven Werte, die Tourismus und Sport gemeinsam haben, können Bevölkerungen, Orte und Staaten miteinander verbinden.

7.4

Die Reihe von Veranstaltungen, die 2004 begonnen hat, gewinnt angesichts des folgenden Ziels noch mehr an Bedeutung: die Vermittlung von Ausbildungselementen durch Großveranstaltungen mit enormer Öffentlichkeitswirkung und Wirkung auf die Institutionen.

7.5

Durch die EU-Erweiterung um zehn Staaten wird diese Chance noch verstärkt. Das Bildungsziel der Kenntnisse über die EU und ihre Völker sowie ein gegenseitiger Austausch von Werten wie Sportlichkeit, Fairness und Wettbewerb können auf die neuen Mitgliedstaaten ausgedehnt und von ihnen geteilt werden, wenn die Massenmedien dazu genutzt werden.

7.6

Als zentrale Wertvorstellungen, die es zu entwickeln und zu verbreiten gilt, können auch Toleranz, Öffnung, Gastfreundschaft und die Bereitschaft zwischen Völkern und Volksgruppen, aufeinander zuzugehen, betrachtet werden. Die Umsetzung dieser Wertvorstellungen in der EU erfordert einerseits eine entsprechende schulische Ausbildung sowie eine Erwachsenenbildung für alle im Tourismus und Sport Beschäftigten und andererseits einen intensiven Erfahrungsaustausch, den es zu fördern gilt. Die Touristen verbinden mit ihren Reisen auch Erwartungshaltungen hinsichtlich der oben genannten Wertvorstellungen.

7.7

Besondere Aufmerksamkeit muss bei Sport- und Tourismusveranstaltungen der Verbreitung der Vorstellung geschenkt werden, dass alle Bevölkerungsgruppen das Recht haben, die verschiedenen Sportarten auszuüben und an den verschiedenen Sportveranstaltungen teilzunehmen, insbesondere die schwächsten Bevölkerungsgruppen: Jugendliche, Ältere und Menschen mit Behinderungen.

7.8

In der bereits zitierten Erklärung zum Sport in der Anlage zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates 2000 in Nizza heißt es weiter, „Körperliche und sportliche Betätigung ist für Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen eine hervorragende Möglichkeit für die Entfaltung der Persönlichkeit, für Rehabilitation, soziale Integration und Solidarität (...)“.

7.9

Solche Maßnahmen zugunsten der schwächsten Bevölkerungsgruppen müssen von staatlichen und lokalen Institutionen, Landesverbänden, Sportverbänden, Sportvereinen, Amateurvereinen und Schulen vorangetrieben werden.

7.10

Gerade die Schule eignet sich bestens zur Verbreitung positiver Werte und des gegenseitigen Kennenlernens, denn das Zusammenwirken von Sport, Tourismus und Ausbildung kann am besten genutzt werden, wenn damit schon im Schulalter begonnen wird.

7.11

Daher wird vorgeschlagen, die Mobilität und den Austausch von Schülern und Studenten durch die Veranstaltung von Sportbegegnungen, die auch das Wissen erweitern und Einblick in die lokale Situation und Kultur geben, weiterhin zu fördern.

7.12

Auch wird vorgeschlagen, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken, insbesondere beim Informationsaustausch über bewährte Praktiken, und Sporttouristen in das kulturelle und soziale Leben des Veranstaltungsortes einzubeziehen, dadurch jede Art von Gewaltausbrüchen und Intoleranz zu bekämpfen und stattdessen Gelegenheiten zum gegenseitigen Voranbringen zu fördern.

7.13

Auch scheint es interessant festzustellen, ob Kurse zum Erwerb neuer Kompetenzen im Bereich der Organisation touristischer/sportlicher Veranstaltungen zweckmäßig wären, in denen alle Elemente des sozialen Wachstums, der integrierten Nachhaltigkeit, der Kommunikation und des Marketing im Zusammenhang mit dem Tourismus behandelt werden.

8.   Schlussbemerkungen

8.1

Tourismus und Sport können als Laboratorien für Entwicklung, Austausch und gemeinsame positive Werte wie Achtung vor anderen, gemeinsames Wissen, Toleranz und gegenseitige Akzeptanz dienen. Es sind zwei Bereiche, die sich von Natur aus für diese Aufgabe eignen, und ihre Rolle gewinnt besondere Bedeutung in einer immer dynamischeren Gesellschaft mit tiefen soziokulturellen, geopolitischen und technologischen Umwälzungen.

8.2

Außerdem können Tourismus und Sport stark zur Erreichung der in der Strategie von Lissabon festgelegten Ziele beitragen. Die wachsende wirtschaftliche Bedeutung dieser zwei Bereiche könnte zu einem wirklichen Schwungrad für die Wirtschaft in der EU werden, v.a. wenn alle Gelegenheiten voll ausgeschöpft würden, Kompetenzen in diesen beiden Bereichen auszubauen und zu verbreiten.

8.3

Die Aufnahme des Tourismus und des Sports in die Endfassung der europäischen Verfassung stellt für diese beiden Sektoren eine historische Wende dar. Der EWSA hofft nun auf bedeutsame Maßnahmen in diesen beiden Bereichen auf EU-Ebene und schlägt vor, die offene Koordinierungsmethode anzuwenden, um den Austausch von Kapazitäten und Kenntnissen und den Meinungsaustausch auf europäischer Ebene zu gewährleisten.

8.4

Tourismus und Sport sind zwei komplexe, uneinheitliche Sektoren, die nur schwer zusammen untersucht werden können und in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht schwer vergleichbar sind. Der EWSA schlägt daher vor, eine gemeinsame europäische Beobachtungsstelle und eine Datenbank einzusetzen, die in der Lage sind, Kenntnisse und bewährte Praktiken zur Entwicklung dieser beiden Sektoren zu sammeln, zusammenzustellen und in den Mitgliedstaaten zu verbreiten.

8.5

Darüber hinaus wünscht der EWSA, dass die EU Studien und Untersuchungen fördert, die eine vergleichende Analyse der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen von Tourismus und Sport auf europäischer Ebene ermöglichen.

8.6

Die Verbreitung einer Kultur des Zugangs zu Tourismus und Sport für alle und die Ausarbeitung von Politiken zur Unterstützung dieser Kultur muss bei allen Entwicklungsmaßnahmen zugunsten dieser beiden Sektoren Priorität genießen, wobei sowohl die schwächeren Bevölkerungsgruppen, d.h. Jugendliche, Ältere und Menschen mit Behinderungen, als auch die Bevölkerungsschichten mit geringer Kaufkraft zu berücksichtigen sind. In diesem Sinne wünscht der Ausschuss eine Sensibilisierungskampagne, um das Bewusstsein zu verbreiten, dass Zugänglichkeit und Nachhaltigkeit Voraussetzungen sind, die zu einer größeren Wettbewerbsfähigkeit auf dem Markt führen.

8.7

Es wird vorgeschlagen, eine europäische Agentur für Tourismus zu schaffen, um die Besonderheiten dieses Sektors zu bewahren, Schwachstellen zu analysieren, mögliche Entwicklungen aufzuzeigen und innovative Instrumente für nachhaltiges Wachstum festzustellen, die in die EU-Strukturmaßnahmen integriert werden können.

8.8

Tourismus und Sport sind vielfältige und komplexe Bereiche mit hohen Entwicklungspotenzialen. In der vorliegenden Stellungnahme wird eine horizontale Integration dieser Bereiche auf europäischer Ebene befürwortet, damit diese Potenziale sowohl in wirtschaftlicher und sozialer als auch in kultureller Hinsicht konkret ausgeschöpft werden können. Der EWSA hebt darüber hinaus hervor, dass bei der Umsetzung der geforderten Maßnahmen ständig auf ihre Nachhaltigkeit unter den o.g. Aspekten wie auch in ökologischer Hinsicht geachtet werden muss.

8.9

Diese Stellungnahme wird vom EWSA als „Erklärung von Rom über Tourismus und Sport“ bezeichnet; dadurch soll sie bei allen einschlägigen Veranstaltungen des Bereichs Tourismus und Sport auf europäischer Ebene leichter identifiziert und verbreitet werden können.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Typisches Beispiel für diese Entwicklung ist die Stadt Turin, die dank den nächsten Olympischen Winterspielen und der Paralympics 2006 verlassene Industriegebiete neu belebt und neue Gebiete am Stadtrand erschließt, was allen Bereichen der lokalen Wirtschaft zugute kommt.

(2)  Öffentliche Anhörung zum Thema „Tourismus und Sport: künftige Herausforderungen für Europa“ am 22. April 2004 in Rom am Sitz des CNEL (Nationalrats für Wirtschaft und Arbeit).

(3)  Vgl. Fußnote 3.

(4)  KOM(2001) 665 endg.

(5)  KOM(2003) 716 endg.

(6)  Lokale Meisterschaften in verschiedenen Sportarten, Wettkämpfe zwischen Schulen und zwischen Amateuren, regionale, universitäre u.a. Sportveranstaltungen.

(7)  Angefangen beim europäischen Aktionsplan für Beschäftigung im Tourismus von 1999 bis zur Mitteilung der Kommission „Zusammenarbeit für die Zukunft des Tourismus in Europa“ vom 13. November 2001, der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. Mai 2002, der Entschließung des Rates über die Zukunft des europäischen Tourismus vom 21. Mai 2002 und schließlich der Mitteilung der Kommission „Grundlinien zur Nachhaltigkeit des europäischen Tourismus“ vom November 2003.

(8)  Art. I-16 und Art. III-281.

(9)  Z.B.: Europäische Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln, Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, Europäische Umweltagentur usw.

(10)  Der EWSA beteiligte sich an dieser Entwicklung durch seine Initiativstellungnahme „Ein für alle zugänglicher und sozial nachhaltiger Tourismus“ (ABl. C 32 vom 5.2.2004), die einen Beitrag für künftige Maßnahmen darstellt.

(11)  Art. I-16 und Art. III-282, Abschnitt 4.

(12)  KOM(2003) 716 endg.

(13)  ABl. C 32 vom 5.2.2004.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/22


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission: „Auf dem Weg zu einer europäischen Strategie für Nanotechnologie“

(KOM(2004) 338 endg.)

(2005/C 157/03)

Die Europäische Kommission beschloss am 12. Mai 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen: Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zu einer europäischen Strategie für Nanotechnologie“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 10. November 2004 an. Berichterstatter war Herr PEZZINI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15. Dezember 2004 mit 151 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Vorwort

1.1

Der EWSA ist sich der Tatsache bewusst, dass folgende Stellungnahme ein teilweise neues Themengebiet behandelt, dessen Terminologie oft kaum bekannt oder zumindest kaum benutzt wird. Aus diesem Grunde sah man sich gehalten, eine kurze Begriffsbeschreibung voranzustellen und den Stand der Forschung sowie der Anwendung der Nanotechnologie in Amerika und Asien zu beschreiben.

1.2

Inhalt der Stellungnahme

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

2.   Terminologie

2.1

Nano: Ist der milliardste Teil eines Ganzen. Da wir in unserem Fall von Maßen sprechen, benutzen wir „Nano“ als milliardsten Teil des Meters.

2.2

Mikro: Bezeichnet den millionsten Teil eines Ganzen. In unserem Fall den millionsten Teil des Meters.

2.3

Nanowissenschaften: Die Nanowissenschaften stellen bezüglich der Grundstruktur und der Zusammensetzung von Materie auf der atomaren und molekularen Ebene einen neuen Ansatz der traditionellen Wissenschaften dar (Chemie, Physik, elektronische Biologie ...). Es sind dies die Wissenschaften, die die Möglichkeiten der Atome in den einzelnen Disziplinen untersuchen. (1)

2.4

Nanotechnologien: Dies sind Technologien, die es erlauben, Atome und Moleküle so zu manipulieren, dass neue Oberflächen und Objekte entstehen. Diese erlangen durch die anders geartete Zusammensetzung und die neue Anordnung der Atome besondere Eigenschaften, die im täglichen Leben nutzbar sind. (2) Es sind dies also die Technologien eines Milliardstel Meters.

2.5

Neben der oben gegebenen Definition ist es angebracht, eine vom wissenschaftlichen Standpunkt aus prägnantere hinzuzufügen. Nanotechnologie ist ein multidisziplinärer Ansatz zur Schaffung von Materialien, Ordnungen und Systemen durch die Kontrolle der Materie auf der nanometrischen Ebene.

2.6

Nanomechanik: Für die Beschaffenheit eines Objekts werden die Maße bereits wichtig, wenn die Maßeinheit von einem Nanometer auf einige Dutzend Nanometer wechselt (es handelt sich um Objekte, die aus einigen Dutzend bis zu einigen Tausend Atomen bestehen). Auf dieser Ebene der Dimensionen hat ein aus 100 Eisenatomen bestehendes Objekt völlig andere physikalisch-chemische Eigenschaften als ein anderes, aus 200 solcher Atome bestehendes Objekt, auch wenn beide mit den gleichen Atomen hergestellt worden sind. Analog dazu weist ein Festkörper aus Nanopartikeln völlig andere mechanische und elektromagnetische Eigenschaften auf als ein traditioneller Festkörper derselben chemischen Zusammensetzung. Diese Eigenschaften hängen von den Eigenschaften der einzelnen Einheiten ab, aus denen sich ein Festkörper zusammensetzt.

2.7

Dies ist eine grundlegende wissenschaftliche und technologische Neuerung, die unseren Zugang zur Gestaltung und Bearbeitung von Materialien in allen Wissenschafts- und Technologiefeldern verändern wird. Die Nanotechnologie ist also keine neue Wissenschaft, die sich zu Chemie, Physik oder Biologie hinzugesellt, sondern eine neue Art, Chemie, Physik oder Biologie zu betreiben.

2.8

Aus dem oben Gesagten geht hervor, dass ein Material oder ein nanostrukturiertes System aus nanometrisch dimensionierten Einheiten gebildet ist (die aus einzelnen Atomen konstruierten Strukturen, an die wir herkömmlicherweise gewöhnt sind, sind nicht mehr relevant) und daher mit besonderen Eigenschaften ausgestattet ist, die sich in komplexe Strukturen einfügen. Es ist also klar, dass die produktiven Muster, die auf der Verbindung einzelner Atome oder Moleküle, die alle gleich sind, beruhen, verändert und ersetzt werden durch Ansätze, in denen die Maße einen grundlegenden Parameter darstellen.

2.9

Um sich das Revolutionäre der Nanotechnologien im ganzen Umfang deutlich zu machen, kann man sich vorstellen, dass es etwa das Gleiche wäre, wenn ein neues Periodensystem der Elemente gefunden würde, welches nur viel größer und komplizierter wäre als das uns bekannte, und dass die von den Zustandsdiagrammen auferlegten Beschränkungen (z.B. die Möglichkeit, zwei Stoffe zu vermischen) überwunden werden könnten.

2.10

Es handelt sich also um Bottom-up-Technologien, durch die man von der Dynamik einzelner Funktionen zu einem Ganzen gelangt. Sie finden ein immer weiteres Anwendungsfeld unter anderem in folgenden Feldern: Gesundheit, Informationstechnologien, Materialwissenschaft, verarbeitende Industrie, Energie, Sicherheit, Weltraumforschung, Optik, Akustik, Chemie, Ernährung, Umwelt.

2.11

Auf Grund dieser Anwendungsgebiete, von denen einige bereits möglich sind und von den Bürgern genutzt werden (3), ist es realistisch zu behaupten, dass „die Nanotechnologien die Lebensqualität, die Wettbewerbsfähigkeit der verarbeitenden Industrie und die nachhaltige Entwicklung beachtlich verbessern werden können.“  (4)

2.12

Mikroelektronik. Ein Teilbereich der Elektronik, der sich mit der Entwicklung von integrierten Schaltkreisen beschäftigt, die in einem „einzigen Bereich eines Halbleiters“, in sehr kleinen Maßeinheiten verwirklicht werden. Heutzutage ist die mikroelektronische Technologie in der Lage, einzelne Komponenten in der Größenordnung von weniger als 0,1 Mikrometer oder 100 Nanometer zu konstruieren. (5)

2.13

Nanoelektronik. Ist die Wissenschaft, die sich mit der Erforschung und der Herstellung von Schaltkreisen beschäftigt, die mit Hilfe von Technologien und verschiedenen Materialien aus „Silizium“ geschaffen werden und die nach grundsätzlich anderen Prinzipien wie die heutigen funktionieren. (6)

2.13.1

Die Nanoelektronik ist dabei, ein Hauptgebiet der Nanotechnologien zu werden. Etwa so, wie sich Elektronik heute in allen Bereichen der Wissenschaft und industriellen Verfahren befindet. (7)

2.13.2

Die Entwicklung der elektrischen/elektronischen Bauteile ist sehr schnell erfolgt. Im Laufe weniger Jahrzehnte hat sich, angefangen mit den Röhren, aus dem Halbleiter der Chip und der Mikrochip entwickelt, um heute zum Nanochip zu gelangen, dessen Bestandteile jeweils aus wenigen hundert Atomen bestehen. In einem Nanochip können Informationen enthalten sein, die 25 Bänden der Encyclopaedia Britannica entsprechen. (8)

2.13.3

Die Wissenschaftler und Hersteller von elektronischen Teilen waren sich früh darüber im klaren, dass der Informationsfluss um so schneller wird, je kleiner der Chip ist. (9) Die Nanoelektronik erlaubt es also, Informationen sehr schnell in extrem reduzierten Räumen zu verwalten.

2.14

Das Rastertunnelmikroskop: Dieses Instrument hat seinen Erfindern den Nobelpreis eingebracht und wird auch als „Linse des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet. Es dient dazu, die Materie auf der atomaren Ebene zu „sehen“. Dies funktioniert folgendermaßen: Die Mikroskopspitze wird parallel zu einer Oberfläche verschoben. Die Elektronen der Oberfläche (nicht die Atome) verschieben sich durch den Tunneleffekt von der Oberfläche zur Spitze. Auf diese Weise entsteht Strom. Dieser wird um so intensiver, je kleiner die Distanz zwischen Oberfläche und Spitze ist. Dieser Strom wird mittels einer Höhenberechnung umgewandelt und erlaubt es, die Topografie der Oberfläche eines Materials auf nanometrischer Ebene zu erhalten.

2.14.1

Der Tunneleffekt: Ein Teilchen, das sich in einem Loch befindet und eine bestimmte Energie hat, kann in der klassischen Mechanik nicht aus ihm herauskommen — zumindest wenn die gegebene Energie nicht ausreicht, um über die „Ränder“ des Loches zu springen. In der Quantenmechanik hingegen ist die Situation durch die „Heisenbergsche Unschärferelation“ sehr unterschiedlich. Wenn das Teilchen in dem Loch gefangen ist, wäre die Unschärfe seiner Verortung sehr gering und folglich die Unschärfe seiner Geschwindigkeit sehr hoch. Also gibt es eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass das Teilchen über eine ausreichende Energie verfügt, um aus dem Loch zu entkommen, auch wenn seine durchschnittliche Energie nicht ausreichen würde, um das Hindernis zu überwinden. (10)

2.15

Kohlenstoff-Nanoröhren: Diese sind das Ergebnis einer besonderen Anordnung von Kohlenstoffatomen. Nanoröhren gehören zu den stabilsten und leichtesten Materialien, die heute bekannt sind. Sie sind sechsmal leichter und hundertmal stabiler als Stahl. Sie haben einen Durchmesser von einigen Nanometern, und ihre Länge beträgt sogar weitaus mehr als mehrere Mikron. (11)

2.16

Selbstzusammensetzung von Makromolekülen: Dies ist ein Vorgang, der in den Laboratorien angewandt wird, um die Natur zu imitieren: „Alles, was lebt, ist Selbstzusammensetzung“. Durch das Verfahren der Selbstzusammensetzung werden Schnittstellen zwischen den elektronischen Kreisläufen und biologischem Gewebe geschaffen und eine Verbindung von Informatik und Biologie angestrebt. Das Ziel, das den Wissenschaftlern schon in naher Zukunft zu liegen scheint, ist es, dem Tauben Gehör und dem Blinden Sehvermögen geben zu können. (12)

2.17

Biomimetik:  (13) Die Wissenschaft, die die Gesetze untersucht, welche der in der Natur vorkommenden molekularen Zusammensetzung zugrunde liegen. Das Wissen um diese Gesetze könnte es erlauben, künstliche Nanomotoren herzustellen, die auf den gleichen Prinzipien basieren, wie sie in der Natur vorkommen. (14)

3.   Einleitung

3.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Klarheit, mit der die Mitteilung über die Nanotechnologien verfasst wurde, teilt die Gründe, die die Kommission veranlasst haben, frühzeitig gute Vorschläge zu diesem Thema zu unterbreiten, und begrüßt die zahlreichen Publikationen, darunter die CD-Roms, die sich sowohl an ein Expertenpublikum wie an die Jugend richten.

3.1.1

Insbesondere die CD-Roms stellen mit ihrem pädagogischen Ansatz einen ausgesprochen nützlichen Bildungsträger dar, um die erforderlichen Informationen über die Nanotechnologien einem breiten, bisweilen nicht vorgebildeten und oftmals jungen Publikum zu vermitteln.

3.2

Der EWSA meint, dass dieses Thema, da es zu neuen und fruchtbaren Entdeckungen in vielen Lebensbereichen der Bürger führen kann, in einer möglichst für alle verständlichen Sprache verbreitet werden muss. Außerdem müssen sich die Forschungen zu neuen Produkten an den Bedürfnissen und Forderungen der Verbraucher orientieren, die für die Probleme der nachhaltigen Entwicklung sensibilisiert sind.

3.2.1

Eine besondere Rolle könnten auch die Journalisten und die Herausgeber der Massenmedien, insbesondere der Fachpresse einnehmen, die an erster Stelle die Nachrichten von den Erfolgen der Forscher verbreiten, die dafür sorgen, dass die Wissenschaft konkrete Ergebnisse liefert.

3.2.2

Die derzeitigen Entwicklungsindikatoren zu Nanotechnologien konzentrieren sich hauptsächlich auf vier Aspekte: 1. Veröffentlichungen (15); 2. Patente; 3. Unternehmensgründungen (Start-ups); 4. Umsatz. Bei den Veröffentlichungen hält die EU den ersten Platz mit einem Prozentanteil von 33 %, gefolgt von den USA mit 28 %. Die genauen Prozentzahlen für China liegen nicht vor, aber es scheint, dass auch in diesem Land die Zahl der Veröffentlichungen steigt. Bei den Patenten haben die USA den ersten Platz mit 42 % inne, gefolgt von der EU mit 36 %. Was die Unternehmensgründungen angeht, so sind unter 1.000 wirklichen Nanotechnikbetrieben 600 in den USA entstanden und 350 in der Europäischen Union. Die Umsatzzahlen zeigen einen globalen Anstieg von momentan 50 Mrd. € auf ca. 350 Mrd. 2010, um bis 2015 auf 1.000 Mrd. € anzusteigen. (16)

3.3

Die Nanotechnologien und -wissenschaften sind nicht nur ein neuer Ansatz in den Natur- und Materialwissenschaften, sondern vor allem auch eines der vielversprechendsten und wichtigsten multidisziplinären Instrumente zur Schaffung von hochinnovativen Produktionssystemen und Erfindungen sowie Anwendungen mit einer Vielzahl von Einsatzgebieten in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft.

3.3.1

Auf der Ebene der Nanometrik entwickeln herkömmliche Materialien Eigenschaften, die verschieden sind von denen ihrer makroskopischen Gegenstücke, und erlauben so die Herstellung von Systemen mit besserer Funktionalität und Leistung. Das vollkommen Neue bei der Nanotechnologie besteht darin, dass sich, wenn man die Dimensionen eines Materials verringert, seine physikalischen und chemischen Eigenschaften verändern. „Dies erlaubt es, Produktionsstrategien zu entwickeln, die dem Ansatz der Natur bei der Schaffung komplexer Systeme ähnlich sind — mit einem rationellen Energieverbrauch und einer Minimalisierung der benötigten Rohstoffe sowie der anfallenden Abfälle.“  (17)

3.3.2

Die mit der Nanotechnologie verbundenen Produktionsprozesse müssen also von einem neuen Ansatz ausgehen, der diese neuen Eigenschaften umfassend berücksichtigt und gewährleistet, dass sie dem wirtschaftlichen und dem sozialen System Europas den größten Nutzen bringen.

3.4

Der nanotechnologische Ansatz durchdringt alle Produktionssektoren. Gegenwärtig wird in folgenden Teilbereichen bereits bei einigen Produktionsabläufen Nanotechnologie angewandt: in der Elektronik (18), der Chemie (19), der Pharmazeutik (20), der Mechanik (21), der Autoindustrie, der Luft- und Raumfahrt (22) und der verarbeitenden Industrie (23) und der Kosmetikbranche.

3.5

Mithilfe der Nanotechnologien kann die Europäische Union durch die Entwicklung der Wissensgesellschaft die Verwirklichung der auf der Tagung des Europäischen Rates in Lissabon gesteckten Ziele entscheidend voranbringen und Europa zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Raum der Welt machen. Dabei soll sich dieser Raum durch Umweltbewusstsein, Zusammenhalt, durch eine Welle von Unternehmensgründungen, durch besser qualifizierte Arbeit sowie durch neue Berufsbilder und Ausbildungsgänge auszeichnen.

3.6

Im Bereich der Nanotechnologien scheint Europa nach Auffassung der Kommission eine günstige Ausgangsposition zu haben, die sich jedoch in handfeste Wettbewerbsvorteile für die europäische Industrie und die europäische Gesellschaft niederschlagen muss, um angesichts der hohen notwendigen Forschungsinvestitionen eine ordentliche Kapitalrendite gewährleisten zu können.

3.6.1

Das Grundproblem besteht darin, die strategische Bedeutung dieser Technologien zu erkennen, die für breite Bereiche der Wirtschaft und der Gesellschaft relevant sind. Genauso wichtig ist es, eine wirklich integrierte Politik im Bereich der Nanotechnologien und –wissenschaften zu entwickeln, der erhebliche Mittel zugewiesen werden und die vom Privatsektor, der Industrie, der Finanzwelt und dem Bildungssektor voll und ganz unterstützt wird.

4.   Zusammenfassung des Kommissionsvorschlags

4.1

Mit der Mitteilung über Nanotechnologie möchte die Kommission auf institutioneller Ebene zum Nachdenken über eine Gemeinschaftsinitiative anregen, für die folgende Ziele gelten:

Erhöhung der Investitionen und Koordinierung der FuE, um die industrielle Nutzung von Nanotechnologien auszubauen und gleichzeitig ein sehr hohes Wissenschafts- und Wettbewerbsniveau beizubehalten;

Entwicklung einer wettbewerbsfähigen FuE-Infrastruktur („High-Tech-Zentren“), die dem Bedarf von Industrie und Forschungseinrichtungen Rechnung trägt;

Förderung der interdisziplinären Aus- und Weiterbildung von Forschungspersonal mit verstärkter unternehmerischer Denkweise;

Gewährleistung vorteilhafter Bedingungen für Technologietransfer und Innovation, damit die europäische Spitzentechnologie im Bereich FuE Produkte und Verfahren kreiert, die zur Schaffung von Wohlstand beitragen;

frühzeitige Einbeziehung gesellschaftlicher Überlegungen in den FuE-Prozess;

entschlossene Behandlung aller potenziellen Risiken für die öffentliche Gesundheit, Sicherheit, Umwelt und Verbraucher durch Erfassung der notwendigen Daten zur Risikobewertung, deren Integration in jeden Schritt des Lebenszyklus nanotechnologischer Produkte, Anpassung vorhandener und ggf. Entwicklung neuer Methoden;

Abrundung der obigen Maßnahmen durch entsprechende Zusammenarbeit und geeignete Initiativen auf internationaler Ebene.

4.2

Im Einzelnen schlägt die Kommission vor, folgende Aktivitäten zu entwickeln:

Schaffung eines Europäischen Forschungsraums für Nanotechnologie;

Entwicklung qualitativ hochwertiger Infrastrukturen für die Grundlagen- und die angewandte Forschung und Hochschulstrukturen, die den Unternehmen, insbesondere den KMU, offen stehen;

Förderung von Investitionen in die Humanressourcen auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten;

Stärkung der industriellen Innovationstätigkeit, der Patentsysteme, der Metrologie und Standardisierung, der Regulierung und des Schutzes von Sicherheit, Gesundheit, Umwelt, außerdem der Verbraucher und der Investoren im Sinne einer verantwortungsvollen Entwicklung;

Festigung eines von Vertrauen und permanentem, offenem Dialog geprägten Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Gesellschaft;

Aufrechterhaltung und Intensivierung einer starken und strukturierten internationalen Zusammenarbeit, die über Nomenklaturen, akzeptierte Verhaltenskodizes und eine gemeinsame Strategie zur Vermeidung des Ausschlusses von den nanotechnologischen Entwicklungen verfügt;

strategische Koordinierung und integrierte Projekte auf Gemeinschaftsebene, die mit angemessenen finanziellen und humanen Ressourcen ausgestattet sind.

5.   Die wichtigsten Entwicklungen in Amerika, Asien und Ozeanien

5.1

Um die Tätigkeiten der vielzähligen im Bereich Nanotechnologien aktiven amerikanischen Agenturen zu koordinieren, wurde in Amerika 2001 ein Programm zur Grundlagen- und Anwendungsforschung angestoßen. Diese Nationale Nanotechnologie-Initiative (NNI) hat für das Haushaltsjahr 2005 eine Finanzierung von über einer Milliarde US-Dollar erhalten — damit wurde der Anfangshaushalt von 2001 verdoppelt. Diese Finanzmittel wurden im Einzelnen für Folgendes verwandt: Grundlagen- und Anwendungsforschung, für High-Tech-Zentren und Infrastruktur sowie für die Bewertung und Feststellung der Auswirkungen auf die Gesellschaft, insbesondere unter Gesichtspunkten der Ethik, des Rechts, der öffentlichen Sicherheit und des Gesundheitswesens, aber auch der Entwicklung von Humanressourcen.

5.1.1

Die NNI finanziert zehn Bundesagenturen direkt und koordiniert einige andere. Die National Science Foundation (NSF), das Amt für Wissenschaft (Office of Science) des Energieministeriums (DOE — Department of Energy), das Verteidigungsministerium und das Nationale Gesundheitsinstitut (NIH) wurden alle mit stark erhöhten Finanzmitteln explizit für die Nanotechnologie gefördert. Insbesondere das DOE hat gewaltige Summen investiert und konnte fünf große Infrastrukturmaßnahmen umsetzen, nämlich die Forschungszentren für die „Nano“-Ebene, die allen wissenschaftlichen Forschern offen stehen. Das Programm für Nanotechnologie des Verteidigungsministeriums wurde im Laufe der Jahre durch verschiedene Beiträge erheblich aufgestockt, unter anderem auch durch von der US-Armee eingeforderte Dienste.

5.1.2

Derartig große Fortschritte wurden durch die Verabschiedung eines Grundlagengesetzes zur amerikanischen Politik bezüglich der Nanotechnologie im Dezember 2003 ermöglicht: „21st Century Nanotechnology Research and Development Act“. Durch dieses Gesetz wurde unter anderem ein Nationales Amt zur Koordinierung der Nanotechnologie mit folgendem Auftrag geschaffen:

Neubestimmung der Ziele, der Prioritäten und Bewertungsparameter;

Koordination zwischen den Agenturen und den anderen Aktivitäten auf US-Bundesebene;

Investitionen in die FuE-Programme, in die Nanotechnologie und damit verbundene Wissenschaften;

Einrichtung von interdisziplinären Zentren zur nanotechnologischen Forschung auf der Grundlage des Wettbewerbs an verschiedenen geografischen Orten und ggf. mit Beteiligung des Staates oder des industriellen Sektors;

Beschleunigung der Entwicklung von Anwendungen im privaten Sektor, insbesondere bei Unternehmensgründungen;

Ausbildung und berufliche Qualifikation sicherstellen, um eine technologische und technische Kultur der Nanowissenschaften hervorzubringen und dann zu festigen;

Beachtung der ethischen, rechtlichen und ökologischen Aspekte bei der Entwicklung der Nanotechnologien und Veranstaltung von „Konsenskonferenzen“ und Debatten mit den Bürgern und der Zivilgesellschaft darüber;

Förderung des Informationsaustauschs zwischen Wissenschaft und Industrie, dem Staat, der Zentralregierung und den Regierungen der Regionen;

Einrichtung eines Plans zur Benutzung der föderalen Programme entwickeln, wie z.B. das „Small Business Innovation Research Program“ und das „Small Business Technology Transfer Research Program“, um ein engmaschiges Netz nanotechnologischer Entwicklungen im gesamten — auch kleineren — unternehmerischen Umfeld zu schaffen.

5.1.3

Zur Unterstützung des genannten Gesetzes hat das Nationale Institut für Standardisierung und Technologie (NIST) ein Programm speziell für die Entwicklung der Produktion im Nanotechnologiebereich aufgestellt. Dieses konzentriert sich auf: Messtechnik, Zuverlässigkeit und Qualitätsstandards, Kontrolle der Produktionsverfahren und bessere Herstellungspraktiken. Dank „Manufacturing Extension Partnership“ können die Ergebnisse des genannten Programms auch auf die KMU ausgedehnt werden.

5.1.4

Das obengenannte Gesetz sieht auch die Institution einer Informationsstelle vor. Sie hat den Auftrag:

sich um die Vermarktung der Nanotechnologie, den Technologietransfer und die Anwendung der neuen Konzepte in Markt- und Militärprodukten zu kümmern,

die bewährtesten vermarktbaren Praktiken staatlicher und privater Universitäten und Laboratorien, aufzuzeigen.

5.1.5

Geplant ist auch ein amerikanisches Zentrum für die Vorbereitung auf die Nanotechnologie. Es soll die Aufgabe haben, Studien zu den ethischen, rechtlichen, schulischen, ökologischen und beschäftigungspolitischen Auswirkungen der Nanotechnologie zu erstellen, zu koordinieren, zu sammeln und zu verbreiten. Darüber hinaus soll es die Problematiken, die eventuell negative Auswirkungen haben könnten, prognostizieren.

5.1.6

Schließlich wird der vom Gesetz vorgesehene organisatorische Rahmen durch die Einrichtung eines Zentrums für Hersteller von Nanowerkstoffen abgerundet. Dieses ist verantwortlich für die Unterstützung, Erstellung, Koordination und Erforschung der neuen Verarbeitungstechnologien sowie das Sammeln und die Verbreitung von Ergebnissen mit dem Ziel, diese leichter an die amerikanische Industrie zu übermitteln.

5.1.7

Das Gesetz legt sich außerdem die jeweilige Finanzausstattung der wichtigsten US-Bundesagenturen und Ministerien, wie NSF, DOE, NASA und NIST, im Zeitraum 2005-2008 fest. (24)

5.2

Nach der Ankündigung der amerikanischen Initiative NNI gab es im asiatischen und pazifischen Raum in der Wissenschaftspolitik zur technologischen Forschung und Entwicklung grundlegende Änderungen. Es wurden Entschlüsse mit dem Ziel gefasst, der Region eine Spitzenposition bei der Nanotechnologieentwicklung zu verschaffen. Letztere sind in vielen Ländern Asiens und des Pazifiks zur „Priorität der Prioritäten“ geworden und dies mit einem Gesamtfinanzvolumen 2003 von über 1,4 Mrd. USD: von dieser Summe entfallen 70 % auf Japan. Aber es werden auch bedeutende Investitionen in China, Südkorea, Taiwan, Hongkong, Indien, Malaysia, Thailand, Singapur und nicht zu vergessen Australien und Neuseeland gemeldet.

5.3

Seit Mitte der achtziger Jahre hat Japan verschiedene mehrjährige Programme (über 5-10 Jahre) im Bereich der Nanowissenschaft und der Nanotechnologie verabschiedet. Im Jahr 2003 hat das FuE-Programm über Nanotechnologie und Nanowerkstoffe 900 Mio. USD erreicht, verschiedene die Nanotechnologie berührende Themen sind allerdings auch in anderen Programmen der Biowissenschaft, Umwelt und Informationsgesellschaft vorhanden: dadurch beliefen sich 2003 die Fonds, die für den Bereich zur Verfügung stehen, auf fast 1,5 Milliarden USD mit einem Zuwachs von etwa 20 % im Jahr 2004. Auch der private Sektor Japans ist mit den zwei großen Handelsunternehmen Mitsui & Co und der Mitsubishi Corporation sehr präsent. Starke Investitionen in die Nanotechnologie werden von den großen japanischen Unternehmen getätigt: NEC, Hitachi, Fujitsu, NTT, Toshiba, Sony, Sumitono Electric, Fuji Xerox und anderen.

5.3.1

China hat für die Nanotechnologie im aktuellen Fünfjahresplan für 2001-2005 Ausgaben von etwa 300 Millionen USD vorgesehen. Nach dem chinesischen Minister für Wissenschaft und Technologie sind etwa 50 Universitäten, 20 Institute und über 100 Unternehmen in dem Bereich tätig. Um eine angemessene Plattform für die Kommerzialisierung der Nanotechnologie zu gewährleisten, wurden zwischen Peking und Schanghai ein Ingenieurszentrum und ein Industriepark für Nanotechnik errichtet. Außerdem hat die chinesische Regierung 33 Millionen USD für die Einrichtung des nationalen Forschungszentrums für Nanowissenschaft und –technologien bereitgestellt mit dem Ziel, die wissenschaftliche Forschung in diesem Bereich besser bündeln zu können.

5.3.2

Die Chinesische Akademie der Wissenschaften (CAS) hat 2002 das Casnec (Zentrum für nanotechnologisches Ingenieurwesen der CAS mit einem Gesamtfinanzvolumen von 6 Mio. USD) als Plattform zur Beschleunigung der Vermarktung von Nanowissenschaften und Nanotechnologien gegründet. In Hongkong sind die beiden Hauptfinanzierungsquellen der Nanotechnik der Grant Research Council und der Innovation and Technology Fund mit einem im Zeitraum 1998-2002 genutzten Gesamtfinanzvolumen von 20,6 Mio. USD. Die Hong Kong University of Science and Technology (HKUST) und das Polytechnikum haben 2003-2004 ihre eigenen Nanotechnikzentren mit fast 9 Mio. USD unterstützt.

5.3.3

In Australien und Neuseeland hat der Australia Research Council (ARC) seine Finanzquellen für wettbewerbsfähige Projekte in fünf Jahren verdoppelt. Dabei hat er in unterschiedlichen Regionen die Errichtung von acht Elitezentren im Programm, um Themengebiete wie Quantencomputertechnologie, Quantenatomoptik, Photovoltaik, fortgeschrittene Photonik und fortgeschrittene optische Systeme zu vertiefen.

5.3.4

Das neuseeländische MacDiarmid Institute for Advanced Materials and Nanotechnology seinerseits koordiniert die Forschung und die berufliche Fortbildung in der Materialwissenschaft und der Nanotechnologie von Neuseeland. Dies auf der Grundlage einer starken Zusammenarbeit zwischen den Universitäten und verschiedenen Partnern — unter anderem der Industry Research Ltd. (IRL) und dem Institute of Geological and Nuclear Sciences (IGNS).

5.3.5

Das MacDiarmid Institute konzentriert seine Aktivitäten auf folgende Bereiche: Nanoingenieurstechnik für Werkstoffe, Optoelektronik (25), Superleiter, Kohlenstoff-Nanoröhren, komplexe Leicht- und Flüssigmaterialien, Tast- und Bildsysteme und schließlich neue Materialien zum Speichern von Energie.

6.   Allgemeine Bemerkungen

6.1

Die starke weltweite Expansion der Nanotechnologie sowohl in Amerika als auch in Asien und Ozeanien zeigt, dass die Zeit für eine systematische und koordinierte europäische Aktion mehr als reif ist. Diese Aktion muss die gemeinschaftliche und nationale Finanzierung der Grundlagen- und Anwendungsforschung gewährleisten und außerdem für eine schnelle Übertragung auf neue Produkte, Prozesse und Dienstleistungen sorgen.

6.2

Eine gemeinsame europäische Strategie sollte folgende Elemente umfassen:

Steigerung der gemeinsamen Anstrengungen auf dem Gebiet der Forschung und technologischen Entwicklung (FuE) im Bereich des Aufbaus des europäischen Innovations- und Forschungsraums;

Intensivierung der Interaktionen zwischen der Industrie und der Welt der Wissenschaft (der Forschung, der Ausbildung sowie der weiterführenden Bildung);

beschleunigte Entwicklung industrieller und multisektoraler Anwendungen und des sozioökonomischen, rechtlich-normativen sowie fiskal- und finanzpolitischen Umfeldes, in das sich Unternehmensgründungen und innovative Berufsbilder einfügen müssen;

Einhaltung ethischer Grundsätze, Gewährleistung von Umweltschutz sowie Sicherheit und Gesundheit während des gesamten Lebenszyklus der wissenschaftlichen Anwendungen; Berücksichtigung der Beziehungen zur Zivilgesellschaft; Beachtung der Bestimmungen in puncto Messtechnik und technische Normierung;

verstärkte gemeinschaftliche Koordinierung der Maßnahmen und Initiativen, der Strukturen und der Netzwerke der Akteure, damit diese die gegenwärtige Stellung im Wettbewerb in Bezug auf die wissenschaftliche, technologische und anwendungsorientierte Entwicklung halten und ausbauen können;

sofortige Einbeziehung der neu beigetretenen Staaten in den Studien- und Anwendungsprozess der Nanotechnologie durch gezielte Maßnahmen und Ausschöpfung der im EFRF und im ESF (26) vorgesehenen finanziellen Mittel. (27)

6.3

Die Schaffung einer erheblichen kritischen Masse von hohem Mehrwert muss zur Entstehung und Weiterentwicklung einer gemeinsamen Strategie führen. Die Fertigungsindustrien und die Dienste, insbesondere kleinerer Betriebsgrößen, sollten einerseits bei der Entwicklung ihrer Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit auf die Ergebnisse einer solchen Strategie zurückgreifen und andererseits ihre eigenen Beiträge einbringen können, indem sie transeuropäische Exzellenznetze unter Einbeziehung von Universitäten, öffentlichen und privaten Forschungszentren sowie Finanzinstituten einsetzen.

6.4

Die Entwicklung dieser Strategie muss eng mit der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden sein. Das bedeutet, dass der wichtige Beitrag dieser Strategie, den sie nicht nur im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit einer wissensbasierten europäischen Wirtschaft, sondern insbesondere auch in puncto Gesundheit, Umwelt und Sicherheit sowie Lebensqualität der Unionsbürger zu leisten hat, auf stichhaltigen Begründungen beruhen muss. Das heißt, dass man sich auch um die Nachfrage der Bürger, der Unternehmen und der Organisationen nach Nanotechnologien kümmern muss, weil es vor allem darauf ankommt, auf solche Nachfragen konkrete Antworten zu geben.

6.5

Die Mobilisierung der gesamten Gesellschaft für die Einführung der Nanotechnologien muss mittels eines transparenten und sicheren Entwicklungsprozesses der Nanotechnologien gewährleistet werden. Dieser umfasst den ganzen Verlauf der Grundlagenforschung bis zur Anwendung der Ergebnisse, ihrer Demonstration und der Entwicklung marktfähiger innovativer Produkte und Dienste. Hierfür sind eindeutige und für alle Bürger verständliche Vereinbarungen erforderlich, durch die bewiesen wird, dass Überwachung und laufende Risikobewertung während des gesamten Nutzungs- und Entsorgungszyklus dieser aus der neuen Technologie entwickelten Produkte gewährleistet sind.

6.6

Im Unterschied zum Ausbreitungsverlauf anderer neuer Technologien soll durch die Schaffung eines guten Klimas zwischen Wissenschaft und Gesellschaft die Entstehung von Schranken oder Entwicklungshemmnissen für die Nanotechnologien verhindert werden.

6.7

Sowohl der Aufbau europäischer Strukturen als auch die Entwicklung neuer interdisziplinärer wissenschaftlicher und universitärer Profile sind von ebenso großer Bedeutung. Auch aus diesen Gründen muss das volle Vertrauen der Steuerzahler und der politischen Entscheidungsträger gewonnen werden, sie müssen die großen Möglichkeiten der nanotechnologischen Revolution erkennen.

6.8

Die Entwicklung der Nanotechnologien ist deshalb nicht nur für intellektuelle und wissenschaftliche Kreise, sondern auch und vor allem für die Gesellschaft insgesamt eine große Herausforderung, da Phänomene, deren naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten auf Makro-Ebene bekannt sind, auf Nano-Ebene verändert, vergrößert, verringert oder beseitigt werden. Dies kann — mitunter dramatische — Auswirkungen auf den Anwendungsbereich haben und zur Entwicklung neuer Herstellungstechniken, neuer Ansätze, unterschiedlicher Arten der Dienstleistungserbringung und neuer Berufsbilder in der Betriebsführung führen.

6.8.1

Dieser rasche Wandel setzt eine Strategie für die Schaffung und/oder die Umschulung von Führungskräften voraus, die in der Lage sind, diesen Wandel zu gestalten, eine neue Handhabung dieses Prozesses zu verwirklichen, die Entstehung neuer Berufsbilder zu fördern und die weltweit „hellsten Köpfe“ anzulocken.

6.9

Die unlängst von der Kommission vorgelegte finanzielle Vorausschau für die Jahre 2007-2013 muss überprüft und im Bereich der Mittelzuweisung verändert werden, um den Herausforderungen dieser neuen technologischen Revolution gerecht zu werden. So hat der Kongress der Vereinigten Staaten allein für das Haushaltsjahr 2004 über 700 Mio. Euro für diesen Bereich bewilligt. Den Schätzungen der US-Bundesbehörde zur Förderung der Grundlagenforschung (National Science Foundation — NSF) zufolge betrugen die zivilen Investitionen im Bereich der verschiedenen staatlichen Einrichtungen im Jahr 2003 weltweit über 2,7 Mrd. Euro. Sie teilen sich folgendermaßen auf:

ca. 700 Mio. Euro auf die USA (dazu kommen noch weitere 250 Mio. Euro, die vom US-Verteidigungsministerium verwaltet werden);

720 Mio. Euro auf Japan;

weniger als 600 Mio. Euro auf Europa (inklusive Schweiz);

ca. 720 Mio. Euro auf die übrigen Länder der Welt.

6.10

Das weltweite Wachstum der Industrieproduktion im Bereich der Nanotechnologien wird auf etwa 1 000 Mrd. Euro für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre veranschlagt, was einen Bedarf an neuen, für diesen Sektor qualifizierten Humanressourcen von über zwei Millionen Arbeitskräften nach sich zieht.

6.10.1

Auch unter dieser Prämisse wird die Gültigkeit des Grundsatzes bestätigt, „die Nanotechnologien sind ein Fortschritt für die Beschäftigungsstrategie (28)“: die Entwicklung einer Wissensgesellschaft lässt sich tatsächlich vor allem durch die Fähigkeit einschätzen, wie sie sich in den neuen Bereichen der Schaffung von Arbeitsplätzen und des Fortschritts mit Einfühlungsvermögen und Bewusstsein einfügt.

6.11

Die Aufstockung der finanziellen und humanen Ressourcen in der EU und ihre gemeinschaftliche Koordinierung sind folglich von grundlegender Bedeutung für eine erfolgreiche Gemeinschaftsstrategie in diesem Sektor.

6.12

Die Erfahrung in Asien und Amerika hat gezeigt, dass ein integrierter Ansatz bei den verschiedenen, die Entwicklung dieses Sektors direkt oder indirekt betreffenden Maßnahmen unerlässlich ist, um den Bedarf an Unternehmensgründungen, neuer Ausbildungsgänge und eines neuen Rahmens für Recht, Regelungen und technische Normierung proaktiv angehen zu können.

6.13

Wie in den vielen bis jetzt durchgeführten Studien (29) hervorgehoben wurde, erlauben die Nanotechnologien die Herstellung, Behandlung und Positionierung von Partikeln, wobei gleichzeitig ein umfassender proaktiver technologischer Ansatz und wettbewerbsfähige Verarbeitungs- und Produktionskosten gewährleistet werden.

6.14

Langfristig wird die Wissenschaft Instrumente zur Montage von Nano-Objekten liefern können, die komplexe Systeme bilden und Funktionen ausführen, welche die einzelnen Komponenten nicht durchführen können. Dies ist jedoch das Fernziel, dessen Marktreife noch nicht abgeschätzt werden kann, das indes unbedingt mit entsprechenden Fördermaßnahmen angestrebt werden muss.

6.15

Einige „intelligente“ Materialien (30) sind bereits verwirklicht worden und stehen den Verbrauchern zur Verfügung:

Langlebige Materialien für die Autoindustrie, Luft- und Raumfahrt,

Schmiermittel mit hohem Wirkungsgrad,

Nanopartikel zur Verminderung von Reibung,

Oberflächenbehandlung für mechanische Teile,

Extrem kleine Intelligent Sticks mit einer Speicherkapazität von bis zu 1 000MB, (31)

Flexible CDs, die mehr als zwanzig Stunden Musik enthalten können,

Selbstreinigende Oberflächen von Geweben, Keramik oder Glas, (32)

Scheiben mit elektrisch einstellbarer Transparenz,

Hitzebeständige Scheiben, sogar für sehr hohe Temperaturen,

Nanostrukturierte Bleche, die kratzfest und korrosionsbeständig sind,

Diagnosesysteme,

Besondere Schutzlacke, die für den Gebrauch an Mauern und Gebäuden geeignet sind,

Schutzlacke für Mauern, Eisenbahnwagons und andere Objekte gegen das Beschmutzen durch Graffiti.

6.15.1

Neben den oben beschriebenen sind bereits viele neue Anwendungen nutzbar oder kurz vor der Fertigstellung und werden dann sehr bald Teil des täglichen Lebens. Sie bezeichnen somit eine Evolution und/oder Revolution in der „Domotik“ (33) und tragen auf diese Weise zur Verbesserung der Lebensqualität der Bürger bei.

6.16

Durch die Biomimetik, die die Möglichkeiten untersucht, elektronische Kreisläufe an biologisches Gewebe anzuschließen, wird es in naher Zukunft möglich sein, das Gehör in hörgeschädigten Organismen neu zu stimulieren oder sehgeschädigten Organismen das Augenlicht wieder zu schenken.

6.16.1

Im Labor wurden bereits verschiedene Arten Mikromotoren (34) verwirklicht, die im Stande sind, ein vorgegebenes Ziel zu erreichen, wie z.B. eine infizierte Zelle zu eliminieren, damit sie keine anderen Zellen anstecken kann. Heutzutage werden bei Eingriffen gegen kranke auch gesunde Zellen getroffen und verursachen so häufig großen Schaden an den Organen.

6.16.2

Die durch die Wissenschaft angewandte Technik ist schon heute in der Lage, zahlreiche konkrete Ergebnisse hervorzubringen, die direkt im täglichen Leben nutzbar seien könnten, auch wenn die Kosten im Moment noch hoch sind. Damit die Kosten tragbar werden, ist es notwendig, dass das Wissen um die neuen Möglichkeiten zum kulturellen Allgemeingut von Allen wird, und dadurch eingefahrene Abläufe und Gewohnheiten geändert werden können, da diese in den meisten Fällen Veränderungen behindern und verzögern.

6.17

Die Textil-, Bekleidungs- und Schuhbranche ist in ihrer traditionellen Produktionsform in der gesamten Europäischen Union auch deshalb in der Krise, weil sie durch die Konkurrenz aus Ländern in die Krise gedrängt wurde, in denen auf fundamentale Arbeitsrechte keine Rücksicht genommen wird und weder die Kosten für Umweltzerstörung noch jene für die Hygiene und Sicherheit am Arbeitsplatz eingerechnet werden.

6.17.1

Intelligente und/oder technische Gewebe, die mit Hilfe von nanotechnologischen Pulvern erzeugt wurden, finden in vielen europäischen Ländern Verbreitung und verzeichnen einen Zuwachs von etwa 30 % pro Jahr. Unter diesen kommt den entwickelten Geweben eine besondere Rolle bei der Sicherheit in allen ihren Aspekten zu: von der Straßenverkehrssicherheit bis zur Umweltverschmutzung, bei Chemikalien, bei allergenen Produkten, bei Witterungseinflüssen usw. (35)

6.18

Aufgrund der Nanotechnologien kommt es derzeit auch in der Medizin zu grundlegenden Veränderungen, insbesondere im Bereich der Diagnose und Frühbehandlung schwerer Tumorerkrankungen und altersbedingter neuro-degenerativer Krankheiten. Zweckdienlich eingesetzte Nanopartikel können als Indikatoren für eine hocheffiziente Ermittlung von Infektionsträgern oder besonderen Stoffwechselprodukten dienen bzw. als Arzneiträger genutzt werden, die in besonderen Zonen oder von lokal sehr begrenzten Krankheiten befallenen Organen eingesetzt werden. Derartige Systeme kommen bereits in verschiedenen Versuchen zum Einsatz.

7.   Besondere Bemerkungen

7.1

Die nanotechnologische Herangehensweise an neue Materialien besteht darin, neue Funktionen durch den Gebrauch von Bauteilen aus dem nanometrischen Bereich zu erschaffen. Ein eindrucksvolles Beispiel stammt aus der Produktions- und Transformationstechnik von langlebigen und leistungsfähigen Materialien in den Sektoren der Automobilindustrie und der Luftfahrt — also in Sektoren, in denen sich Europa in einer besseren Position als seine Hauptkonkurrenten befindet. Es wurde ausführlich gezeigt, dass die nanostrukturierten Systeme die Reibung zwischen zwei in Kontakt befindlichen Oberflächen signifikant mindern können und somit also auch ihre Abnutzung verringern.

7.1.1

Als Beispiel — das die verschiedenen Bereiche der Anwendung von Nanotechnologien in Produkten sicherlich nicht erschöpfend abdeckt — kann die Entwicklung von aus Nanopartikeln bestehenden Oberflächen und Materialien zur Verringerung der Reibung und der Abnutzung genannt werden. Diese Systeme nehmen bei der Entwicklung von neuen Industrieprozessen mit hoher Effizienz und geringer Beeinträchtigung der Umwelt eine grundlegende Rolle ein. Etwa 25 % der weltweit verbrauchten Energie geht durch Reibungsverluste verloren. (36) Die auf die Abnutzung von mechanischen Teilen zurückführbaren Verluste liegen bei 1,3 bis 1,6 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) eines industrialisierten Landes. Die Kosten, die durch Reibung, Abnutzung und Schmierung entstehen, werden auf um die 350 Mrd. € pro Jahr geschätzt. Sie verteilen sich auf die folgenden Sektoren: Landverkehr (46,6 %), Prozesse der industriellen Produktion (33 %), Energieversorgung (6,8 %), Luftfahrt (2,8 %), häuslicher Verbrauch (0,5 %), anderes (10,3 %). (37)

7.1.2

Neue technologische Plattformen müssen also auf der Grundlage von Ansätzen geschaffen werden, die den Besonderheiten der Nanotechnologien Rechnung tragen und besonders der Tatsache, dass die Funktionen und Dimensionen übereinstimmen beziehungsweise die Kontrolle der Dimensionen mit der Kontrolle der Funktionen übereinstimmt. Das Beispiel Schmiermittel ist erhellend: Wenn in eine Oberfläche nanometrische Teilchen von passendem Ausmaß eingefügt werden, braucht man keine Schmiermittel mehr zu benutzen, weil diese Funktion dank der neuen Dimensionen bereits durch die Nanopartikel erfüllt wird.

7.1.3

Die nanostrukturierten, d.h. Teile mit nanometrischen Dimensionen enthaltenden Materialien und Verkleidungen sind im Stande, die oben beschriebenen Prozentsätze bedeutend zu senken. Zum Beispiel kann eine Verminderung des Reibungsfaktors um 20 % im Getriebe eines Pkw den Energieverlust um 0,64 % bis 0,80 % verringern. Dies würde allein im Verkehrssektor zu einer Ersparnis von 26 Mrd. € im Jahr führen.

7.1.4

Die Kontrolle und die ingenieurstechnische Veränderung der Oberflächen stellt eine Schlüsseltechnologie für nachhaltiges Wachstum dar. Ein Bericht des britischen Ministeriums für Handel und Industrie führt den Stand der Industrie bei der Oberflächenveränderung im Zeitraum 1995-2005 und 2010 aus. (38) Aus dem Bericht geht hervor, dass sich der britische Markt für Modifizierungsprozesse an Oberflächen 1995 auf ca. 15 Mrd. € belief und die Produktion von Gütern im Wert von etwa 150 Mrd. € umfasste, hiervon 7 Mrd. verbunden mit der Entwicklung von Technologien für den Schutz von Oberflächen vor Abnutzung. Für diesen Sektor werden für 2005 im Vereinigten Königreich etwa 32 Mrd. € prognostiziert, mit einer Auswirkung auf Industrieprozesse für etwa 215 Mrd. €.

7.1.5

Die Hochrechnung dieser Zahlen auf den europäischen Markt beläuft sich auf 240 Mrd. € für Oberflächenbehandlungen mit einer Auswirkung auf andere Produktionssektoren von etwa 1.600 Mrd. €.

7.2

Der industrielle Fortschritt muss, um von den Nanotechnologien zu profitieren, (39) auf der Fähigkeit begründet sein, dafür zu sorgen, traditionelle Herstellungsverfahren und Technologien (top-down) mit innovativen Verfahren auf bereits existierenden oder noch zu schaffenden Plattformen zusammenzubringen, die die Möglichkeit bieten, neue Teile auf der nanometrischen Ebene zu schaffen, zu verändern und zu integrieren.

7.2.1

Ein auf der Governance beruhender Ansatz ist von grundsätzlicher Bedeutung. Neben allgemeinen, an die Verbraucher gerichteten Initiativen müssten gezielte Initiativen mit Blick auf die Branchenverbände, die lokalen Verwaltungen und den Non-Profit-Sektor entfaltet werden, um wirtschaftliche, politische und soziale Netzwerke einzubeziehen. Dabei könnten Kompetenzzentren eine wichtige Rolle spielen (40), die Voraussetzungen für eine verbesserte Koordinierung zwischen lokalen und gemeinschaftlichen Initiativen schaffen und ein günstiges Klima für Innovationen im Nanotechnologiebereich erzeugen. In diesem Bereich müssten auch Initiativen zur Abschätzung der Folgen der Nanotechnologie für Gesundheit und Umwelt angesiedelt werden. Ferner wäre eine Verbindung der von der EU geförderten Maßnahmen (top-down) mit Initiativen, die auf der lokalen Ebene entstanden sind und gefördert werden (bottom-up), sinnvoll.

7.3

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss möchte bekräftigen, dass er sich des erheblichen Entwicklungspotenzials der Nanowissenschaften und –technologien im Zusammenhang mit der Lissabon-Strategie bewusst ist. Eine Zusammenfassung der Wissenschaften auf der Grundlage der materiellen Einheit der Natur auf Nanoebene bedeutet, neue Grundlagen für die Integration des Wissens, der Innovation, der Technologie und der Entwicklung zu legen.

7.4

Die Koordinierungsversuche auf europäischer Ebene haben die zersplitterte Lage trotz der mit dem sechsten Forschungsrahmenprogramm unternommen Anstrengungen bei weitem nicht überwinden können. Dabei scheint man sich auf die Rationalisierung des Ressourceneinsatzes zu konzentrieren. Wenngleich die Grundlagenforschung und die Entwicklung neuer industrieller Verfahren stark unterstützt werden, zeigt sich die Förderung und die Unterstützung von Initiativen, die zur Entwicklung massenproduktionsfähiger Technologien führen, unzureichend. In noch geringerem Maße wurde die Entwicklung einer europäischen Governance in diesem Bereich zu Wege gebracht.

7.5

Eine wirksame Koordinierung auf der Ebene der Mitgliedstaaten ist von grundlegender Bedeutung. Diese wurde bislang aber insbesondere in der Umsetzung von Forschungsergebnissen nicht praktiziert. Die Unternehmen — insbesondere KMU — zahlreicher europäischer Länder haben mit folgenden Schwierigkeiten zu kämpfen:

das Fehlen grundlegender Kenntnisse über die Nanowissenschaften und –technologien;

das Fehlen von Berufsbildern, die den Bedürfnissen der Unternehmen entsprechen;

Unfähigkeit, die Auswirkungen der neuen Technologien auf technologische Prozesse und den Markt abschätzen zu können;

Schwierigkeiten bei der Beschaffung und Bewertung von Rohstoffen in Nanostruktur;

Unfähigkeit, die nanotechnologischen Prozesse in herkömmliche Produktionsverfahren einzubauen;

Schwierigkeiten bei der Einschätzung der Marktentwicklung für Nanoprodukte;

unzureichende Verbindungen zu den Universitäten und den Innovationszentren.

7.6

Der EWSA hält es für sehr wichtig, durch die Forschung ein nutzbares System im Bereich der öffentlichen Gesundheit und des täglichen Lebens der Bürger zu schaffen, immer dem Prinzip der „mimesis“ folgend — der Nachahmung der Natur.

7.7

Der EWSA nimmt erfreut die Gründung des thematischen Netzes „Nanoforum“ (41) zur Kenntnis und hofft, dass die vom Netz veröffentlichten Publikationen in alle Sprachen der Mitgliedsländer übersetzt und dort verbreitet werden. Die in den Publikationen verwandte Sprache muss so einfach wie möglich und für ein breites Publikum zugänglich gestaltet werden. Die Universitäten und Forschungszentren müssen in Stande gesetzt werden, die Ergebnisse des thematischen Netzes nutzen zu können.

7.7.1

Darüber hinaus ist der EWSA überzeugt, dass die von der Hochrangigen Gruppe initiierte Plattform Nanoelektronik für die europäische Technologie (42) um so mehr Erfolg haben wird, je eher sie in ständigem Austausch mit der Kommission dafür Sorge tragen kann, dass es keine unnützen und kostspieligen Dopplungen in der Forschung gibt.

7.8

Auch ist es die Meinung des EWSA, dass in der EU die Investitionen in diesen Sektoren von den drei Milliarden € heute auf acht Milliarden bis 2008 ansteigen müssen. Dies unter regelmäßiger Kontrolle durch die Kommission unter den folgenden Aspekten:

Zunahme der Marktanteile,

öffentliche und private Investitionen in die Forschung,

Zunahme der Anzahl von Studenten, die Nanotechnologiestudien betreiben.

8.   Schlussfolgerungen

8.1

Der Ausschuss stimmt mit den Schlussfolgerungen des Rates (Wettbewerb) vom 24. September 2004 in Bezug auf die bedeutende Rolle und das Potenzial der Nanowissenschaften und -technologien vollkommen überein. Aus den bisher erzielten Ergebnissen ist zu folgern, dass es wichtig ist, das Wissen zu vertiefen und Instrumente zu bauen, die es erlauben, Eingriffe an Atomen vorzunehmen, um neue Strukturen zu erzeugen und die Charakteristik der existierenden zu verändern.

8.2

In diesem Zusammenhang empfiehlt der Ausschuss die sofortige Umsetzung einer gemeinsamen, integrierten und verantwortungsvollen Strategie auf europäischer Ebene, insbesondere für: die Entwicklung von gemeinsamen Anstrengungen auf dem Gebiet der FTE, der wissenschaftlichen und technologischen Demonstration und Ausbildung; die Wechselwirkungen zwischen der Industrie und der Wissenschaft; eine beschleunigte Entwicklung industrieller und multisektoraler Anwendungen und eine verstärkte gemeinschaftliche „offene Koordinierung“ der Politiken, Maßnahmen, Strukturen und Netzwerke der Akteure. Im Rahmen dieser Strategie muss von Anfang an und während des gesamten Lebenszyklus auch auf internationaler Ebene die Einhaltung ethischer Grundsätze, die Gewährleistung von Umweltschutz, Gesundheit und Sicherheit der wissenschaftlichen Anwendungen sowie eine angemessene technische Normung sichergestellt werden.

8.3

Der Ausschuss betont mit Nachdruck, dass eine solche Strategie eng mit der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden sein muss. Dabei muss sie nicht nur im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft, sondern insbesondere auch in puncto Gesundheit, Umwelt und Sicherheit sowie Lebensqualität der Unionsbürger positive Beiträge leisten.

8.3.1

Der Ausschuss hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass es wichtig ist, von Anfang an eine verantwortungsvolle und nachhaltige Entwicklung der Nanotechnologien zu gewährleisten, um den gerechtfertigten Erwartungen der Zivilgesellschaft in den Bereichen Umweltschutz, Gesundheit, Ethik, Industrie und Wirtschaft entsprechen zu können.

8.3.2

Der Ausschuss spricht sich für eine beträchtliche Erhöhung der Mittel für die Grundlagenforschung aus, denn Spitzenleistungen in Technologie und Industrie beruhen stets auf jenen in der Wissenschaft.

8.3.3

Das in Barcelona festgelegte Ziel von 3 %  (43) sollte verwirklicht werden, wobei ein angemessener Teil dieser Mittel für den Bereich der Nanowissenschaften, der Entwicklung ihrer Anwendungen und der Konvergenz der Nano-, Bio-, Informations- und Wissenstechnologien verwendet werden sollte.

8.3.4

Die von der Kommission unlängst vorgelegte finanzielle Vorausschau für die Jahre 2007-2013 muss überprüft und im Bereich der Mittelzuweisung verändert werden, um den Herausforderungen dieser neuen, nanotechnologischen Revolution gerecht zu werden.

8.3.5

Die erstrebenswerte Mittelerhöhung muss in der Zuweisung einer angemessenen Finanzausstattung im kommenden siebten Rahmenprogramm ihren Ausdruck finden. Die Höhe des Betrags sollte sich auf jeden Fall an anderen Ländern ausrichten, beispielsweise den USA.

8.4

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass Europa einen ehrgeizigen Aktionsplan annehmen sollte, dem ein konkreter Fahr- und Zeitplan beiliegt und der auf einem integrierten Ansatz beruht. Dadurch sollte die notwendige Zustimmung aller gesellschaftlichen Akteure zu einer gemeinsamen Vision gewonnen werden. Diese sollte über eindeutige und transparente Ziele verfügen und Antworten auf die Notwendigkeiten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts, der Verbesserung der Lebensqualität sowie der Sicherheit und Gesundheit aller geben.

8.5

Nach Auffassung des Ausschusses müssen technologische Plattformen mit erheblicher kritischer Masse und von hohem europäischem Mehrwert errichtet werden, die die öffentlichen und privaten (Wissenschaft, Industrie, Finanzen, Verwaltung) Akteure vereinen, die in den verschiedenen spezifischen Anwendungsbereichen tätig sind.

8.6

Der Ausschuss bekräftigt die Dringlichkeit der Errichtung europäischer Infrastrukturen auf hoher Ebene und des Ausbaus der Kompetenzzentren. Die Ansiedlung und Spezialisierung solcher Zentren sollte in enger Zusammenarbeit zwischen den europäischen Institutionen und lokalen Akteuren erfolgen. Dadurch können einheitliche Industrieregionen für eine bestimmte gebietsbezogene Warenausrichtung ausgemacht werden, die eventuell schon über konsolidierte FuE-Einrichtungen mit einer gewissen kritischen Masse verfügen.

8.6.1

Die Kompetenzzentren sollten die Kapazitäten zur Durchführung und Umsetzung qualitativ hochwertiger, anwendungs- und innovationsorientierter Forschungsarbeit garantieren, und zwar unter Einsatz von Nanotechnologien, insbesondere in den Bereichen Nanoelektronik, Nanobiotechnologie und Nanomedizin.

8.7

In so einem heiklen Bereich ist es vor allem notwendig, den Forschern Sicherheiten und Urheberrechte zu bieten. Es ist die Überzeugung des EWSA, dass es gelingen muss, das Problem der Patente in einer klaren und befriedigenden Weise zu lösen, um den Erfolg bei der angewandten Nanotechnologieforschung zu garantieren. Es ist jedoch erforderlich, unverzüglich für die Schaffung eines „Nano-IPR-Helpdesks“ auf europäischer Ebene zu sorgen, um den Bedürfnissen der Wissenschaftler, Unternehmen und Forschungszentren zu entsprechen.

8.8

Die Kommission muss im Einverständnis mit den Mitgliedstaaten die Anstrengungen intensivieren und eingehende Studien von Universitäten und Forschungszentren fördern, damit in einem so innovativen Feld mit einfachen Verfahren und geringen Kosten der Weg zum Patent erreichbar scheint.

8.8.1

In Bezug auf die internationale Zusammenarbeit müsste die Arbeit an der Sicherheit und Standardisierung von Maßnahmen und Verfahren zusammen mit Drittländern vorangetrieben werden. Besondere Aufmerksamkeit sollte China geschenkt werden, da dort im Bereich der Nanotechnologien beträchtliche Investitionen getätigt werden. Im Übrigen betreiben auch die USA und Japan in diesem Bereich eine sehr aggressive Politik (so sei an die zwischen China und Kalifornien getroffene Vereinbarung zur Entwicklung von High-Tech-Zentren für Nanotechnologie im biomedizinischen Bereich erinnert).

8.8.2

Der EWSA meint, dass außerdem Anstrengungen unternommen werden müssen (beispielsweise mit Hilfe der im Dezember 2003 eingeleiteten Wachstumsinitiative), um die Anzahl der Nanotechunternehmen in der Union zu erhöhen. Zu diesem Zweck muss der Austausch zwischen den Universitäten, den nanotechnologischen Innovationszentren und den Unternehmen beständig gefördert und verbessert werden.

8.8.3

Es sind Aktionen erforderlich, die darauf abzielen, auf den Nanotechnologien basierende Industrieprozesse (von der Nanotechnologie bis zur Nanofertigung) zu entwickeln — sowohl für Groß- als auch für Kleinunternehmen. Dem Beispiel der USA (Einrichtung eines Plans zur Nutzung der Bundesprogramme wie z.B. des „Small Business Innovation Research Program“ und des „Small Business Technology Transfer Research Program“) sollte auf europäischer Ebene gefolgt werden, um ein engmaschiges Netz nanotechnologischer Entwicklungen im gesamten — auch kleineren — unternehmerischen Umfeld zu schaffen.

8.8.4

Eine wichtige Rolle kann von den Berufsverbänden auf nationaler und lokaler Ebene gespielt werden. Einige Aktionen zur „intensiven“ Sensibilisierung könnten in Zusammenarbeit mit der GD Forschung und der GD Unternehmen gefördert werden — unter Einbeziehung aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteure nach dem in Triest entstandenen Modell der bewährten Praktiken. (44)

8.8.5

Ein wichtiges Instrument auf europäischer Ebene könnte nach Auffassung des Ausschusses die Errichtung einer europäischen Informationsstelle (45) (Clearing-House) sein, wodurch Folgendes erleichtern würde:

die Vermarktung der Nanotechnologie, der Technologietransfer und die Anwendung der neuen Konzepte in Markt- und Militärprodukten,

die Verbreitung der bewährtesten vermarktbaren Praktiken staatlicher und privater Universitäten und Laboratorien.

8.9

Neben den europäischen Plattformen und in Beziehung zu diesen müssten einige weltumspannende Plattformen gegründet werden. Diese stellten eine Verbindung zu den Ländern der UNO her und wären im Stande, die mit folgenden Themen verbundene Probleme zu meistern:

Patente

Ethische Regeln

Erzielen eines sozialen Konsens

Umweltpolitische Fragen

Nachhaltige Entwicklung

Verbraucherschutz

8.10

Die Europäische Investmentbank (EIB) müsste auch durch konkrete Maßnahmen des Europäischen Investmentfonds (EIF) zinsgünstige Kreditrahmen schaffen, die zusammen mit Kreditinstituten auf Unternehmenskredite spezialisierten regionalen Finanzgesellschaften, Wagniskapitalgesellschaften und „Bürgschaftsgenossenschaften“ verwaltet würden, um die Gründung sowie die Entwicklung von Unternehmen, die ihre Produktion auf Nanotechprodukte konzentrieren, zu fördern.

8.10.1

Positive Erfahrungen, die in der Vergangenheit beste Ergebnisse erbracht haben, sollten wie das Programm Wachstum und Umwelt, auch wenn es mehr um den Bereich Umwelt ging, nachgeahmt werden, um das Wachstum der neuen, auf Nanotechnologie beruhenden Produktionen zu fördern. (46)

8.11

Die Forschung und ihre Auswirkung auf Produkte müssen so ausgelegt sein, dass vor allem die Forderungen der Bürger berücksichtigt werden und dabei eine nachhaltige Entwicklung angestrebt wird. In diesem Bereich müssten Initiativen zur Abschätzung der Folgen der Nanotechnologie für Gesundheit und Umwelt angesiedelt werden, wobei eine Verbindung der von der EU geförderten Maßnahmen (top-down) mit Initiativen, die auf der lokalen Ebene entstanden sind und gefördert werden (bottom-up), sinnvoll wäre.

8.12

Der Dialog mit der Öffentlichkeit muss wissenschaftlich begründet und konstant geführt werden. Die neuen Technologien, die aus dem Gebrauch von Atomen entstehen, müssen transparent dargestellt werden und dem Bürger die Sicherheit geben keine Gefahrenpotenziale für die Gesundheit oder die Umwelt zu enthalten. Die Geschichte lehrt, dass die Ängste und Befürchtungen gegenüber neuen Produkten meist aus Unkenntnis entstanden und nicht der Realität entsprachen.

8.12.1

Auch aus diesem Grund wünscht der EWSA ein anhaltendes und direktes Verhältnis zwischen den Forschungsergebnissen und den allgemein anerkannten ethischen Prinzipien, für die ein Dialog auf internationaler Ebene notwendig ist.

8.13

Vor allem in der Phase des Aufbaus und der Entwicklung von Technologieplattformen (47) muss den neuen Ländern der Europäischen Union besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, damit ihnen sowohl eine massive Präsenz als auch eine direkte Anbindung an die europäischen Exzellenzzentren garantiert wird.

8.14

Der EWSA meint, dass die Koordinierung der Forschung im weiten Feld der Nanowissenschaft — wobei die Grundlagenforschung allerdings in den Händen des dafür zu schaffenden unabhängigen European Research Council ESR liegen soll — weiterhin in Händen der Kommission bleiben muss, damit diese gemeinsam mit dem Parlament und dem Rat den europäischen Bürgern einen bestmöglichen Mehrwert einschließlich einer stärker verbreiteten, engmaschigeren und objektiveren Nutzung der Forschungsergebnisse garantieren kann.

8.15

Der Ausschuss ersucht die Kommission, ihm alle zwei Jahre einen Bericht über die Fortschritte im Bereich der Nanotechnologien vorzulegen, damit er die Fortschritte des angenommenen Aktionsplans bewerten und gegebenenfalls Änderung- und Aktualisierungsvorschläge unterbreiten kann.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Interview mit dem Kommissionsmitglied BUSQUIN (Zusammenfassung in IP/04/820 vom 29. Juni 2004).

(2)  Ebd.

(3)  Vgl. Punkt 6.15 der Schlussfolgerungen.

(4)  Vgl. Fußnote 1.

(5)  Zentrum für Mikro- und Nanoelektronik am Polytechnikum in Mailand, Prof. Alessandro Spinelli.

(6)  Ebd.

(7)  Die Investitionen in die Nanoelektronik belaufen sich heute auf 6 Mrd. €, die sich wie folgt verteilen: ? für Nano und Mikro, ? für die Diagnostik, ? für die Materialien (Quelle: Europäische Kommission, GD Forschung).

(8)  Quelle: Europäische Kommission, GD Forschung, 2003.

(9)  Vgl. Punkt 3.3.1.

(10)  Tullio REGGE: „Il vuoto dei fisici (Die Leere der Physiker)“, L'astronomia (die Astronomie), Nr. 18, September-Oktober 1982.

(11)  Quelle: Europäische Kommission, GD Forschung 2003.

(12)  Einige Experimente sind schon fortgeschrittenen. Es ist bereits gelungen, einen „Informationsaustausch“ an der Schnittstelle zwischen dem Neuron einer Schnecke und einem elektronischen Chip herzustellen.

(13)  Von Griechisch mimesis – das Nachahmen der Natur.

(14)  Z.B. die selbständige Fortbewegung der Spermatozoen.

(15)  Es handelt sich um eine quantitative, nicht qualitative Angabe; eine genauere Untersuchung, wie die von der britischen Royal Society angegebene, wäre zweckmäßig.

(16)  Quelle: Europäische Kommission, GD Forschung.

(17)  Quelle: Universität von Mailand, Fakultät für Physik. Interdisziplinäres Zentrum für nanostrukturierte Materialien und Schnittstellen.

(18)  Vgl. „Technology Roadmap for Nanoelectronics“, IST-Programm „Neue und zukünftige Technologien“ der Europäischen Kommission, 2. Ausgabe 2000.

(19)  Nanostrukturierte Zusätze in Polymeren, Lacken, Schmierstoffen.

(20)  Nanostrukturierte Träger von Wirkstoffen, Diagnosesysteme.

(21)  Oberflächenbehandlungen von mechanischen Teilen, um die Dauerhaftigkeit und die Leistung zu erhöhen.

(22)  Bereifung, Gestellmaterialien, Kontroll- und Überwachungssysteme.

(23)  Technische und intelligente Stoffe.

(24)  Die finanziellen Mittel in der mehrjährigen Vorausschau des Gesetzes vom 3.12.2003 teilen sich wie folgt:

(a)

National Science Foundation

(1)

USD 385 000 000 in 2005;

(2)

USD 424 000 000 in 2006;

(3)

USD 449 000 000 in 2007;

(4)

USD 476 000 000 in 2008.

(b)

Department of Energy

(1)

USD 317 000 000 im Haushaltsjahr 2005;

(2)

USD 347 000 000 im Haushaltsjahr 2006;

(3)

USD 380 000 000 im Haushaltsjahr 2007;

(4)

USD 415 000 000 im Haushaltsjahr 2008.

(c)

National Aeronautics and Space Administration

(1)

USD 34 100 000 in 2005;

(2)

USD 37 500 000in 2006;

(3)

USD 40 000 000 in 2007;

(4)

USD 42 300 000 in 2008.

(d)

National Institute of Standards and Technology

(1)

USD 68 200 000 in 2005;

(2)

USD 75 000 000 in 2006;

(3)

USD 80 000 000 in 2007;

(4)

USD 84 000 000 in 2008.

(e)

Environmental Protection Agency

(1)

USD 5 500 000 im Haushaltsjahr 2005;

(2)

USD 6 050 000 im Haushaltsjahr 2006;

(3)

USD 6 413 000im Haushaltsjahr 2007;

(4)

USD 6 800 000 im Haushaltsjahr 2008.

(25)  Optoelektronik: technische Anwendung, die die Bereiche Optik und Elektronik kombiniert und sich mit Vorrichtungen zur Umwandlung von elektrischen in optische Signale oder umgekehrt befasst (CD-Spieler, Lasersysteme u.a).

(26)  EFRF (Europäischer Fonds für Regionalentwicklung): einer der Strukturfonds, die im Rahmen der Achse IV (lokale Entwicklungssysteme) zur Finanzierung von Infrastruktur und Geräten für die Forschung genutzt werden können.

ESF (Europäischer Sozialfonds): ein weiterer Strukturfonds, der im Rahmen der Achse III (Humanressourcen) zur Finanzierung der Ausbildung von Forschern und der Weiterbildung von Unternehmern genutzt werden kann.

(27)  Die CD-Roms und die jüngsten Publikationen der GD Forschung zeigen eine Fülle von europäischen Forschungszentren und ihren jeweiligen Spezialisierungen. Für weitere Informationen:

http://cordis.lu/nanotechnology.

(28)  In Bezug auf die Entwicklung als Mittel zur Steigerung und Verbesserung der Beschäftigung vgl. die Prozesse von Luxemburg (1997), Cardiff (1998), Köln (1999) und Lissabon (2000).

(29)  Europäische Kommission, GD Forschung.

(30)  Es handelt sich um nanostrukturierte Oberflächen, die andere Charakteristika aufweisen als die traditionellen.

(31)  Es handelt sich hierbei um ausgesprochen nützliche Instrumente, die in der Lage sind, unzählige Daten, Fotografien und Musik zu speichern.

(32)  Die besondere Strukturierung von mit bestimmten Atomtypen angereicherten Oberflächen hindert Schmutz und Staub in direkten Kontakt mit dem Gewebe, der Keramik oder dem Glas zu kommen.

(33)  Vom Lateinischen domus: die Wissenschaft, welche die Evolution des Hauses in allen Aspekten untersucht.

(34)  An der Universität Grenoble hat man bereits mit einer Vielzahl verschiedener Arten von Mikromotoren auf Grundlage von Kinesin experimentiert.

(35)  Vgl. Stellungnahme CESE 967/2004 (ABl. C 302 vom 7.12.2004) und Studien der Universitäten Gent und Bergamo (Textilindustrie).

(36)  Quelle: Oakridge National Laboratory, USA.

(37)  Ebd.

(38)  A. Matthews, R. Artley and P. Holiday, 2005 Revisited: The UK Surface Engineering Industry to 2010, NASURF, Dera, 1998.

(39)  NB: Es gibt keinen industriellen Fortschritt der Nanotechnologien, sondern einen Fortschritt, der von den Nanotechnologien profitiert.

(40)  vgl. u.a. die Erfahrungen von SERVITEC (Zentrum für technologische Dienstleistungen) im Technologiepark Dalmine, Bergamo (Italien).

(41)  Das Netz Nanoforum besteht aus: Institute of Nanotechnology (UK) als Koordinator; UDI Technologiezentrum (DE); CEA-LETI (FR); CMP Científica (ES); Nordic Nanotech (DK); Malsch Technovaluation (NL).

http://www.nanoforum.org.

(42)  Vgl. die vorangehende Fußnote: Bericht „Vision 2020“, veröffentlicht am 29. Juni 2004.

(43)  3 % des europäischen Bruttosozialprodukts sollen seitens der öffentlichen Hand (von den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft) sowie insbesondere seitens der Industrie für Forschung und Entwicklung aufgewandt werden.

(44)  Am Nanoforum in Triest nahmen 2003 über 1 000 Personen teil.

(45)  CFR, Amerikanische Rechtsvorschriften über Nanotechnologie vom Dezember 2003.

(46)  Das Programm Wachstum und Umwelt wurde vom EIF in Zusammenarbeit mit verschiedenen europäischen Finanzinstituten geleitet und hat durch Kofinanzierung und zinsgünstige Kredite dazu beigetragen, die Umweltaspekte von Kleinst-, Klein- und mittleren Betrieben zu verbessern.

(47)  Vgl. Ziffer 6.3.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/34


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Europäische Straßenverkehrsordnung und europäisches Kfz-Register“

(2005/C 157/04)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 29. Januar 2004, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Europäische Straßenverkehrsordnung und europäisches Kfz-Register“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 5. Oktober 2004 an. Berichterstatter war Herr PEGADO LIZ.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 147 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung: Ziel der Stellungnahme und Begründung

1.1

Der EWSA gab am 29. Januar 2004 dem Antrag der Fachgruppe TEN statt, eine Initiativstellungnahme zu einer europäischen Straßenverkehrsordnung auszuarbeiten.

1.2

Der freie Personenverkehr ist eine im Vertrag verankerte Grundfreiheit (1) und die Abschaffung der Binnengrenzen ein erklärtes (2), durch die Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union (3) noch stärker gefördertes Ziel der Gemeinschaft, die zudem im Verkehrsbereich eine gemeinsame Politik (4) verfolgt. Eine Annäherung der Straßenverkehrsvorschriften erscheint daher dringend geboten, insbesondere auch wegen der Auswirkungen auf die Verwirklichung des Binnenmarktes (5).

1.3

Ein Grund mehr ist das bekanntlich sehr hohe Personen- und Güterverkehrsaufkommen auf der Straße im Europa der 15 und seine exponentielle Zunahme während der letzten Jahre.

Aus den neuesten statistischen Daten kann insbesondere Folgendes geschlossen werden:

im Jahr 2001 betrug die Zahl der Erwerbstätigen im Landverkehr 3,9 Millionen;

der Straßengüterverkehr ist seit 1970 um 120 % gestiegen und macht mittlerweile 45 % des gesamten Verkehrsaufkommens aus;

der Straßenpersonenverkehr ist seit 1970 um 128 % gestiegen und macht 86,8 % des gesamten Personenverkehrsaufkommens aus;

der Umsatz (nach den Daten für 2000) aus dem Straßenpersonenverkehr (55,455 Mrd. Euro) und dem Straßengüterverkehr (220,787 Mrd. Euro) beläuft sich auf 49 % des gesamten Umsatzes im Verkehrswesen (566,193 Mrd. Euro) (für Griechenland liegen keine Zahlen vor) (6).

1.4

Der Straßenpersonen- und -güterverkehr unterliegt einer Vielzahl nationaler Rechtsvorschriften, die sich sogar hinsichtlich ihrer Grundkonzepte und der grundlegenden Bestimmungen für das Führen von Kraftfahrzeugen unterscheiden.

1.4.1

Zugleich sind verschiedene internationale Abkommen mit unterschiedlichen Geltungsbereichen und teilweise kollidierenden Bestimmungen in Kraft.

1.4.2

Infolge dieser Systemvielfalt unterliegt ein Fahrer schon auf einer ganz normalen Fahrt im Kraftfahrzeug durch Europa verschiedenen Rechtssystemen mit unterschiedlichen und mitunter widersprüchlichen Vorschriften.

1.4.3

Diese Situation hat sich durch die jüngste EU-Erweiterung — d.h. durch den Beitritt neuer Mitgliedstaaten, wo ebenfalls eigene Bestimmungen für das Führen von Kraftfahrzeugen gelten — besonders verschärft.

1.5

Mit dieser Initiativstellungnahme soll die Kommission bewogen werden, die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer Rechtsetzungsinitiative zur Vereinheitlichung der Straßenverkehrsvorschriften in der EU (jedoch mit einigen Ausnahmeregelungen) zu prüfen, indem im Rahmen einer rechtsvergleichenden Untersuchung die Unterschiede in den Regelwerken der Straßenverkehrsordnungen der Mitgliedstaaten herausgestellt und mögliche Lösungen für ihre Harmonisierung auf EU-Ebene aufgezeigt werden.

1.6

Da es für unverzichtbar erachtet wurde, im Zuge der Vorbereitung einer derartigen Initiative die wichtigsten interessierten Kreise (Vertreter der Autofahrerorganisationen, der Automobilindustrie und der Regulierungsbehörden) zu konsultieren, wurde gleichzeitig mit der zweiten Sitzung der Studiengruppe am 17. Mai 2004 eine öffentliche Anhörung mit Betroffenen veranstaltet.

1.6.1

Als Diskussionsgrundlage und zum Sammeln von Informationen wurde ein Fragebogen ausgearbeitet und den Teilnehmern vorgelegt.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1

Die Idee, eine universell gültige Straßenverkehrsordnung zu schaffen, ist keineswegs neu. Insbesondere in Europa gab es bereits frühere Initiativen, die in diese Richtung zielten, wie z.B. der bereits auf dem VIII. Internationalen Juristischen Kongress zu Verkehrsfragen (7) bekundete Wunsch nach einer Kodifizierung dieses Bereichs.

2.2

Auch auf dem 38. Deutschen Verkehrsgerichtstag im Januar 2000 wurde vom Arbeitskreis IV die Auffassung vertreten, dass die Harmonisierung der europäischen Straßenverkehrsvorschriften ein wichtiges Ziel sei (8).

2.3

Die Kommission hat mit dem gleichen Ziel verschiedene Initiativen auf den Weg gebracht, ohne sich jedoch bislang die Idee einer europäischen Straßenverkehrsordnung voll zu eigen gemacht zu haben (9).

2.4

Besonders zu erwähnen sind die Schlussfolgerungen einer unlängst von der Generaldirektion Energie und Verkehr der Kommission veröffentlichten Studie, in denen die Gründe herausgestellt werden, die für die Harmonisierung der Straßenverkehrsvorschriften und der Maßnahmen zu ihrer wirksamen Durchsetzung auf dem Wege künftiger Rechtsetzungsinitiativen auf EU-Ebene sprechen (10).

2.5

Der EWSA hat seinerseits in verschiedenen Stellungnahmen auf die Notwendigkeit hingewiesen, den „freien Fahrzeugverkehr in der Union“ zu fördern, wobei zugleich „die nationalen Behörden […] in die Pflicht genommen [sind], die verschiedenen einzelstaatlichen Bestimmungen abzuschaffen, die es den Inländern erschweren, in anderen Mitgliedstaaten zugelassene Fahrzeuge zu führen (11).

3.   Kurzer Abriss des auf internationalen Übereinkommen beruhenden Rechts und seines Geltungsbereichs

3.1

Das internationale Straßenverkehrsrecht ist in verschiedenen Abkommen geregelt, von denen das Pariser Abkommen von 1926, das Genfer Abkommen von 1949 und das Wiener Übereinkommen von 1968 hervorzuheben sind.

3.2

Das Internationale Abkommen über Kraftverkehr, das am 24. April 1926 in Paris von 40 Staaten mit dem Ziel geschlossen wurde, den internationalen Tourismus zu fördern, ist derzeit in mehr als 50 Ländern in Kraft.

3.2.1

Dieses Abkommen regelt im Wesentlichen Folgendes:

a)

die technischen Mindestanforderungen für Kraftfahrzeuge sowie für die Zulassungskennzeichen, die Beleuchtung und die Unterscheidungszeichen für die Kenntlichmachung in anderen Ländern;

b)

die Ausstellung und Gültigkeit der internationalen Zulassungsscheine für Kraftfahrzeuge, die freie Zulassung zum Verkehr in allen anderen Vertragsstaaten gewähren;

c)

die Anerkennung bestimmter nationaler Führerscheine sowie die Festlegung der Merkmale internationaler Führerscheine; diese gelten in denjenigen Vertragsstaaten, in denen die nationalen Führerscheine nicht anerkannt werden, wobei letztere jedoch mitgeführt werden müssen;

d)

die Festlegung von einigen (sechs) Zeichen für die Kennzeichnung gefährlicher Stellen, die die Vertragsstaaten auf ihren Straßen verwenden müssen;

e)

die Schaffung eines Systems für die Mitteilung von Auskünften über die Inhaber von internationalen Zulassungsscheinen oder internationalen Führerscheinen, wenn deren Kraftfahrzeug an einem schweren Unfall beteiligt war oder sie sich einer Zuwiderhandlung gegen nationale Verkehrsvorschriften schuldig gemacht haben.

3.2.2

Dieses Abkommen hat zwar die Zollverfahren erleichtert, aber die Fahrzeugführer nicht von der Verpflichtung entbunden, die jeweiligen nationalen Straßenverkehrsvorschriften zu kennen und einzuhalten.

3.2.3

Auf der anderen Seite war das Inkrafttreten des Abkommens von seiner Ratifizierung durch die einzelnen Unterzeichnerstaaten und der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde abhängig. In der Regel gilt das Abkommen lediglich im Mutterland, während es in anderen in irgendeiner Form von dem betreffenden Staat verwalteten Gebieten nur durch eine ausdrückliche Erklärung wirksam wird.

3.3

Mit dem Abkommen über den Straßenverkehr , das am 19. September 1949 von 17 Staaten geschlossen wurde und heute in mehr als 120 Ländern in Kraft ist, wurde in den Unterzeichner- und Beitrittsstaaten das Abkommen von 1926 aufgehoben.

3.3.1

In diesem Abkommen, in dem die Grundprinzipien des früheren Abkommens im Einklang mit der Entwicklung der Automobilindustrie weiter ausgestaltet wurden, wurde eine zunehmende Sorge um die Straßenverkehrssicherheit deutlich.

3.3.2

Es wurden keine Verkehrszeichen verankert, sondern lediglich festgelegt, dass die Staaten ihre Verkehrszeichen vereinheitlichen und deren Verwendung auf das absolute Minimum beschränken müssen.

3.3.3

In dem Abkommen werden nur wenige Verkehrsvorschriften festgelegt, und abgesehen von den Regelungen betreffend die Vorsichtsmaßnahmen an Kreuzungen sowie die Vorfahrt und Beleuchtung enthält es keine größeren Neuerungen.

3.3.4

Für das Inkrafttreten dieses Abkommens galten die gleichen Bedingungen wie oben beschrieben, und seine Harmonisierungswirkung wurde dadurch eingeschränkt, dass die Staaten nicht zur Anwendung aller Bestimmungen verpflichtet waren und auch die Änderungen zu dem Abkommen ablehnen konnten.

3.4

Das Übereinkommen über den Straßenverkehr , das am 8. November 1968 in Wien von 37 Staaten unterzeichnet wurde, ist derzeit in rund 100 Staaten in Kraft. Mit der Ratifizierung dieses Übereinkommens und der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunden wurden zwischen den jeweiligen Vertragsstaaten untereinander die Abkommen von 1926 und 1949 außer Kraft gesetzt.

3.4.1

Es handelt sich hierbei um das bisher umfassendste Abkommen über die Verkehrsregelung, der ein 30 Artikel enthaltendes Kapitel mit Bestimmungen für die verschiedenen Manöver gewidmet ist, die den wesentlichen Kern moderner Straßenverkehrsordnungen bilden. Das Übereinkommen von 1968 geht über die minimalistischen Zielsetzungen der früheren Abkommen hinaus, die sich auf Verkehrskreuzungen und die diesbezüglichen Verkehrszeichen beschränkten. Es legte nicht nur die Grundsätze fest, die die Fahrzeugführer bei riskanten Manövern beachten müssen (z.B. Überholen, Fahrtrichtungsänderung, Vorsichtsmaßnahmen gegenüber Fußgängern), sondern regelte auch Dinge wie Halten und Parken, Ein- und Aussteigen von Fahrgästen, Fahren in Tunneln — summa summarum alle Standardsituationen im Straßenverkehr.

3.4.2

Es ging insofern weiter als die früheren Abkommen, als die Unterzeichner- und Beitrittsstaaten verpflichtet wurden, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die in ihrem Hoheitsgebiet geltenden Verkehrsregeln in ihrem sachlichen Gehalt mit den in Kapitel II enthaltenen Bestimmungen übereinstimmen, was den Vorteil mit sich bringt, dass die Führer von Fahrzeugen bei Fahrten in anderen Vertragsstaaten mit dem wesentlichen Inhalt der Verkehrsregeln vertraut sind.

3.4.3

Es wurde jedoch die Möglichkeit offengelassen, dass die Staaten Änderungen zum Übereinkommen ablehnen.

3.5

Anhand dieser Übersicht ist unschwer zu erkennen, dass im mittlerweile bereits um 10 neue Mitgliedstaaten erweiterten Unionsgebiet drei internationale Abkommen in Kraft sind, allerdings nicht in allen Staaten gleichermaßen (12). Die Europäische Union ist daher noch weit von einer Harmonisierung der Straßenverkehrsvorschriften entfernt, insbesondere da zu den Bestimmungen dieser Abkommen noch 25 nationale Rechtsvorschriften hinzuzurechnen sind, die sich ständig ändern (13).

3.6

Einige Hemmnisse wurden bereits bzw. werden derzeit beseitigt, z.B. durch die Abschaffung der Binnengrenzen, die Angleichung der Zulassungsbedingungen für Fahrzeuge und Fahrzeugbauteile sowie die gegenseitige Anerkennung der Führerscheine und die Harmonisierung der einschlägigen Bedingungen. Getan werden muss jedoch noch etwas beim wesentlichen Kern des Straßenverkehrs: bei den Verkehrsregeln und den Verkehrszeichen.

3.7

Für die anderen Länder erleichtern die Abkommen zwar die Zollverfahren und das Führen von Fahrzeugen im Unionsgebiet, aber die Angehörigen von Drittstaaten, die die Europäische Union bereisen, haben es mit ebenso vielen unterschiedlichen Straßenverkehrsordnungen zu tun wie die Union Mitgliedstaaten zählt.

4.   Einige augenfällige Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften

4.1

Ein kurzer Rechtsvergleich zeigt klar und deutlich, dass zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften für den Verkehr in wichtigen Bereichen erhebliche Unterschiede bestehen, die nicht nur echte Hemmnisse für die Freizügigkeit darstellen, sondern auch die Sicherheit von Menschen und Gütern gefährden und zur hohen Unfallhäufigkeit in der EU beitragen dürften.

4.2

In der nachfolgenden Aufstellung wurden insbesondere — wenn auch nicht ausschließlich — die Feststellungen der bereits erwähnten Studie der Kommission herangezogen, in der ein Großteil dieser Aspekte eingehend untersucht wurde (14).

4.3

Stellvertretend für eine Vielzahl von Beispielen sind im Folgenden nur einige besonders signifikante und alarmierende Unterschiede bei den rechtlichen Regelungen für alltägliche Verkehrssituationen dargestellt:

Geschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften auf Straßen mit baulicher Trennung der Fahrtrichtungen

BE

120 km/h

PT

90 km/h

UK

70 MPH (112 km/h)

Schwere Ordnungswidrigkeit

BE

+ 10 km/h

PT

+ 30 km/h

Alkohol

SE

0,2

UK

0,8

Verpflichtung zur Ausrüstung von Leichtfahrzeugen mit einem Erste-Hilfe-Kasten

EL

Ja

FR

Nein

Rote + gelbe Ampelphase: Vorbereitung auf das Anfahren

DK/FI

Ja

NL/ES

Nein

Verpflichtung, Radfahrern im Kreisverkehr Vorfahrt zu gewähren

DE

Ja

PT

Nein

Vorfahrt für öffentliche Verkehrsmittel beim Anfahren an Haltestellen

ES

Ja

IT

Nein

Verpflichtung zum Fahren mit Licht außerhalb geschlossener Ortschaften auch am Tag

IT

Ja

LU

Nein

Parkverbotsschild

IE

Weißer Grund mit rotem Rand

Übrige Staaten

Blauer Grund mit rotem Rand

Aussteigeverbot zur Fahrbahnseite hin

PT

Ja

IE

Nein

4.4

Wie die bereits erwähnte Studie im Einzelnen gezeigt hat, sind derartige Unterschiede aber auch in weiteren Bereichen festzustellen, wie z.B. bei den Anforderungen für die Erteilung der Fahrerlaubnis, den Straßenverkehrszeichen, der obligatorischen Sicherheitsausstattung, Fußgängerüberwegen, Vorfahrtsregelungen, Beleuchtungsvorschriften, Ein- und Aussteigen von Insassen, Benutzung besonderer Fahrspuren, Überholen, Fahrzeugklassen, Bereifungstypen, Benutzung von Anhängern und auch bei der Art der Verkehrszeichen. In der Studie sind insgesamt 45 Unterschiede bei den grundlegenden, im täglichen Straßenverkehr geltenden Vorschriften aufgeführt.

4.5

Wenn bereits allein beim Wortlaut der grundlegenden Straßenverkehrsvorschriften signifikante Unterschiede bestehen, so ist die Situation bei der Auslegung und Durchsetzung der Vorschriften in den einzelnen Mitgliedstaaten noch problematischer; dies ist nicht allein auf die unterschiedliche Bewertung von Verstößen, sondern auch auf die sehr unterschiedlichen Sanktionen zurückzuführen.

5.   Kurzzusammenfassung der Anhörung vom 17. Mai 2004

5.1

An der öffentlichen Anhörung am 17. Mai 2004 nahmen Vertreter der verschiedenen Interessenverbände der Autofahrer, der Automobilindustrie, der Verkehrssicherheits- und Unfallverhütungsorganisationen, der Europavertretung von AIT & FIA sowie der TIS-PT teil, die für die Koordinierung der obengenannten Studie (15) verantwortlich war. Dank ihrer wertvollen Beiträge, die die Standpunkte der wichtigsten Interessengruppen der Zivilgesellschaft widerspiegeln, konnten verschiedene Aspekte, die für diese Stellungnahme von Belang sind, näher beleuchtet und geklärt werden.

Zusätzlich zu diesen mündlichen Ausführungen beantworteten verschiedene Organisationen den ihnen vorgelegten Fragebogen.

5.2

Den mündlichen und schriftlichen Ausführungen ist insgesamt zu entnehmen, dass dieser Vorstoß des EWSA mit dem Ziel einer gemeinschaftsweiten Harmonisierung der Straßenverkehrsvorschriften von den Teilnehmern inhaltlich generell gebilligt und als sinnvoll empfunden wird. Desgleichen haben einige Teilnehmer signalisiert, dass sie eine Annäherung der Registrierungs- und Zulassungssysteme für Kraftfahrzeuge für denkbar und wünschenswert halten.

5.3

In diesem Zusammenhang wurden insbesondere folgende Standpunkte vertreten:

a)

Der EU-Rahmenbeschluss vom 8. Mai 2003 über die europaweite Anerkennung und Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen für Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr setzt voraus, dass die Straßenverkehrsregeln europaweit vereinheitlicht werden.

b)

Parallel dazu müssen die Verfahrensvorschriften für die Festsetzung und Vollstreckung der Geldstrafen und Geldbußen sowie die Möglichkeiten zur Einlegung von Rechtsmitteln in den verschiedenen Mitgliedstaaten berücksichtigt werden.

c)

Die Vorschriften für das Führen von Kraftfahrzeugen sind in den einzelnen Mitgliedstaaten in wesentlichen Bereichen sehr unterschiedlich, was für Autofahrer außerhalb ihres Herkunftslandes ein erhöhtes Gefährdungspotenzial am Steuer bedeutet.

d)

Wesentliche Unterschiede — zusätzlich zu den in der Studie der Beraterfirma TIS-PT genannten — bestehen in folgenden Bereichen:

Promillegrenzen;

Geschwindigkeitsbeschränkungen;

Verkehrszeichen und Handzeichen der Verkehrspolizisten sowie Straßenmarkierungen;

Strafen für Ordnungswidrigkeiten und Verfahrensvorschriften für ihre Vollstreckung;

geforderte Sicherheitsausstattung.

e)

Bei der legislativen Annäherung mit dem letztendlichen Ziel, die Verkehrsvorschriften auf Gemeinschaftsebene zu vereinheitlichen, muss schrittweise vorgegangen werden.

f)

Eine Vollharmonisierung scheint nur bei bestimmten wesentlichen und grundlegenden Aspekten unmittelbar möglich zu sein.

g)

Diese müssten sich unbedingt auf Folgendes erstrecken:

Straßenverkehrssicherheit unter den verschiedenen Blickwinkeln;

Pflichtausstattung für Kraftfahrzeuge (z.B. Reservebirnen, Warndreiecke, Mobiltelefone mit Freisprecheinrichtung, Airbags usw.);

Verkehrszeichen und Straßenmarkierung;

Kriterien für die Erteilung der Fahrerlaubnis;

einheitliche Strafpunkte in der Führerscheinkartei;

Art der Strafen für schwerere Ordnungswidrigkeiten.

h)

Als Matrix für diese legislative Annäherung sollte das Wiener Übereinkommen zugrunde gelegt werden.

i)

Vor der Unterbreitung eines Vorschlags müssen Kosten-/Nutzenrechnungen derselben Art durchgeführt werden, wie sie bereits für einige Verkehrssektoren bzw. für einige Initiativen im Bereich der Straßenverkehrssicherheit vorliegen (16).

j)

Ganz besondere Aufmerksamkeit muss der wirksamen Durchsetzung der Verkehrsvorschriften, der Überwachung ihrer Einhaltung und der Bestrafung von Verstößen gewidmet werden.

5.4

Als Aspekte, die parallel und ergänzend zu Initiativen in diesem Bereich berücksichtigt werden müssen, wurden insbesondere folgende genannt:

a)

Vereinheitlichung der automatisierten Mautsysteme für Autobahnen und Brücken (17);

b)

Normierung der Definitionen für Gewichte und Abmessungen von Fahrzeugen und diesbezügliche Beschränkungen;

c)

Festlegung des Mindestausbildungsniveaus der Fahrer je nach Fahrzeugtyp;

d)

Vermittlung vertiefter Kenntnisse über Erste-Hilfe- und Notrettungsmaßnahmen im Rahmen der vorgenannten Fahrausbildung;

e)

Festlegung von Mindestqualitätsanforderungen für den Bau von Straßenverkehrsinfrastrukturen;

f)

Verkehrserziehungs- und Unfallverhütungskampagnen auf den verschiedenen Ebenen des Bildungswesens und auch für Erwachsene.

6.   Geltungsbereich und Umfang einer europäischen Straßenverkehrsordnung

6.1

Als Ergebnis der in Ziffer 5 beschriebenen Anhörung wurde somit der Wunsch nach dem Beginn einer Harmonisierung der Straßenverkehrsvorschriften deutlich, die sich jedoch nicht nur auf den Verkehr an sich beschränken, sondern z.B. auch auf die Straßenverkehrsinfrastrukturen und die Sicherheit erstrecken soll.

6.2

Die Europäische Union hat zeit ihres Bestehens unzählige Rechtsetzungsakte im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr erlassen: Führerschein, Typgenehmigung von Fahrzeugen und deren Bauteilen, Beförderungsvorschriften, Kfz-Versicherung usw. Nun geht es darum, einheitliche Verkehrsregeln festzulegen, was zugleich weiteren Zwecken dienen könnte, insbesondere der Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit, da die Verkehrsteilnehmer genau und sicher wüssten, wie sie sich im Straßenverkehr zu verhalten haben.

6.3

Das Wiener Übereinkommen von 1968 ist wie gesagt der umfassendste Text in Bezug auf den Straßenverkehr, in dem das Bemühen um Vollständigkeit zu erkennen ist und der sich durch die Besonderheit auszeichnet, dass er als ein internationales, von den meisten europäischen Ländern unterzeichnetes Instrument die Aufforderung an die Vertrags- und Beitrittsstaaten enthält, ihre staatlichen Rechtsvorschriften an den Text des Übereinkommens anzupassen. Da dieses Übereinkommen derjenige Rechtstext ist, der den europäischen Ländern am besten bekannt ist und bei ihnen auf die breiteste Zustimmung trifft, könnte es als Grundlage für eine erweiterte Debatte über eine europäische Straßenverkehrsordnung dienen.

6.4

Es wird daher vorgeschlagen, die Vorschriften für das Führen von Kraftfahrzeugen zu harmonisieren, die den wesentlichen Kern moderner Straßenverkehrsordnungen bilden. Es handelt sich hierbei u.a. um folgende Arten von Bestimmungen:

a)

allgemeine Vorschriften für das Führen von Fahrzeugen, Anfahren und Fahrtposition, mehrspurige Verkehrswege und das Fahren in Kolonnen, Kreuzungen, Abzweigungen und Kreisverkehre, Abstand zu Seitenstreifen und Gehwegen, Geschwindigkeit und Abstand zwischen Fahrzeugen;

b)

Zeichen der Fahrer;

c)

Fahrgeschwindigkeit (nicht notwendigerweise Beschränkungen der Höchstgeschwindigkeit);

d)

Vorfahrt, allgemeine Regelung, an Kreuzungen, Abzweigungen, Kreisverkehren und zwischen Fahrzeugen;

e)

Überholen;

f)

Fahrtrichtungsänderung;

g)

Rückwärtsfahren;

h)

Wenden;

i)

Halten und Parken;

j)

Kapazität und Abmessungen der Fahrzeuge, Personen- oder Güterbeförderung, Ein- und Aussteigen von Fahrgästen, Be- und Entladen;

k)

Beleuchtung der Fahrzeuge und Vorschriften für die Benutzung der Beleuchtung;

l)

Noteinsätze und Befahren von besonderen Verkehrswegen (z.B. Autobahnen und gleichgestellte Verkehrswege, Bahnübergänge sowie Fahrwege, die bestimmten Schienenfahrzeugen oder anderen Fahrzeugen vorbehalten sind);

m)

Alkohol und psychotrope Substanzen;

n)

Benutzung von Sicherheitsausstattung (Sicherheitsgurte und Rückhaltesysteme für Kinder);

o)

obligatorische Dokumente;

p)

Verhalten bei Unfällen und Pannen;

q)

Festlegung einheitlicher Vorschriften für die verschiedenen Kategorien von Benutzern öffentlicher Verkehrswege, insbesondere für die Führer von Motorrädern, vier- und dreirädrigen Krafträdern, Mopeds und Fahrrädern mit Hilfsmotor, für die Benutzer von Inline-Skates und Skateboards sowie für Fahrer mit Behinderungen;

r)

Fußgängerverkehr und diesbezügliche Vorsichtsmaßnahmen der Führer von Fahrzeugen;

s)

besondere Vorschriften für die Führer von Kraftfahrzeugen im Zusammenhang mit öffentlichen Verkehrsmitteln sowie Sondertransporten und Sonderfahrzeugen;

t)

Tiere auf der Fahrbahn.

6.5

Zur Ergänzung und Verdeutlichung dieser Verkehrsvorschriften sowie für Ausnahmeregelungen müssen entsprechende Verkehrszeichen geschaffen werden, die durch vielfältige Hinweise zur Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit beitragen. So ist auch eine Vereinheitlichung bei den Verkehrsschildern notwendig, sowohl in Bezug auf ihre Form, ihren Inhalt und ihren Anbringungsort als auch ihre hierarchische Stellung im Verhältnis zu den Verkehrsvorschriften, wobei darauf zu achten ist, dass sie im Hinblick auf ihre Zahl und ihre Sichtbarkeit besser eingesetzt werden.

6.6

Zu den Verkehrszeichen gehören jedoch nicht nur die Verkehrsschilder. Harmonisierungsbedarf besteht auch bei den Handzeichen der Verkehrspolizisten, den Lichtzeichen und Verkehrsampeln, den Zeichen der Fahrzeugführer und den Straßenmarkierungen.

6.7

Da die Nichtbeachtung der Verkehrsvorschriften und Verkehrszeichen eine Ordnungswidrigkeit darstellt, sind einheitliche Bestimmungen betreffend die Verfahren für die Überwachung notwendig, insbesondere Geschwindigkeits- und Alkohol- bzw. Drogenkontrollen. Vor allem ist es aber notwendig, dass sich die Mitgliedstaaten darauf verständigen, welche unerlaubten Handlungen als Ordnungswidrigkeiten einzustufen sind, um zu vermeiden, dass ein Tatbestand in dem einen Mitgliedstaat eine Ordnungswidrigkeit darstellt, in einem anderen aber nicht. Es geht somit um eine einheitliche Definition von Ordnungswidrigkeiten.

6.8

Infolgedessen müssen vereinfachte Mechanismen geprüft und festgelegt werden, die eine einheitliche Auslegung einer europäischen Straßenverkehrsordnung sicherstellen, da die Verfahren für Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr rasch abgewickelt werden müssen, weil ansonsten die Vorschriften ihre Wirksamkeit verlieren (im Grunde ist ein vereinfachtes Verfahren für die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung unterbreiteten Fragen notwendig).

7.   Ein einheitliches Kfz-Kennzeichen auf Gemeinschaftsebene

7.1

Da auch sowohl die Anforderungen als auch die Instrumente und Verfahren für die Zulassung von Kraftfahrzeugen in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich sind, wurde in der Anhörung auch die Möglichkeit eines europäischen Kfz-Kennzeichens erörtert; diese Option wurde von verschiedenen Seiten positiv bewertet.

7.2

Desgleichen wurde das Für und Wider eines europäischen Zentralregisters für Kraftfahrzeugbesitz abgewogen, in dem auch die wichtigsten Angaben zu Abgaben, Steuern und sonstigen Kosten, die für Kraftfahrzeuge und die jeweilige Besitzform/Nutzungsweise anfallen, aufgezeichnet werden könnten. Hierbei wurden die Vorteile herausgestellt, die eine derartige Lösung für den innergemeinschaftlichen Handel mit Kraftfahrzeugen, die Betrugs- und Diebstahlsbekämpfung in diesem Bereich sowie die Ahndung der Verkehrsvergehen von Verkehrsteilnehmern aus anderen Mitgliedstaaten hätte.

7.3

Nach Auffassung des Ausschusses sind die notwendigen Voraussetzungen gegeben, um auf die Einführung eines gemeinsamen Registers nicht für die Eigentümer oder Halter, sondern für die Kraftfahrzeuge selbst hinzuarbeiten, wobei auf die Erfahrungen zurückgegriffen werden sollte, die bereits mit dem Informationssystem für die Zulassungsnummer und die Halterfeststellung im Rahmen der Kfz-Versicherung (Dritte Richtlinie) gesammelt wurden.

7.4

Die hierdurch verbesserten Möglichkeiten, ein Fahrzeug in jedem beliebigen Mitgliedstaat zu kaufen, zu versichern und zuzulassen, tragen entscheidend zur Zunahme des grenzüberschreitenden Handels mit Kraftfahrzeugen, zu mehr Mobilität für die Bürger und für den Tourismus und zur Entwicklung des Binnenmarktes bei (18).

7.5

Zum anderen erscheint ein einheitliches europäisches Kfz-Zulassungssystem nicht allein deshalb äußerst wünschenswert, weil es sich ohne allzu hohe Kosten verwirklichen lässt, indem in einem ersten Schritt die Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den bestehenden nationalen Kfz-Registern verstärkt wird, sondern auch weil es enorme Vorteile dahingehend mitbringt, dass dadurch die Rechtsansprüche an dem Fahrzeug (Eigentumsrecht oder eine andere Rechtsstellung) genau bekannt werden, Rechtssicherheit beim Handel mit Fahrzeugen garantiert wird, Diebstahl und Betrug bekämpft werden und die in jedem beliebigen Mitgliedstaat begangenen Verkehrsvergehen leichter überwacht und bestraft werden können.

8.   Rechtsgrundlage und geeignetes Gemeinschaftsinstrument

8.1

Der EWSA ist der Meinung, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Richtlinie zur Mindestharmonisierung das geeignetste Rechtsinstrument wäre, um eine Initiative des in diesem Fall gebotenen Umfangs umzusetzen.

8.2

Bei der Wahl der Rechtsgrundlage für dieses Instrument müssen sein Beitrag zur Verwirklichung des Binnenmarktes und zur Verbesserung der Freizügigkeit der Unionsbürger im Unionsgebiet berücksichtigt werden.

9.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

A)   Zu einer europäischen Straßenverkehrsordnung

9.1

Der EWSA ist der Meinung, dass ein gewisses Maß an Harmonisierung der Straßenverkehrsvorschriften nicht allein ein wirksames Mittel ist, um die Verwirklichung des Binnenmarktes zu beschleunigen, sondern auch den Kraftfahrzeugverkehr sicherer macht.

9.2

Diese Harmonisierung kann nach Ansicht des Ausschusses außerdem maßgeblich zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr und zur Unfallverhütung beitragen und dadurch bessere Rahmenbedingungen für die Freizügigkeit der Unionsbürger schaffen.

9.3

Nach Auffassung des EWSA sind die notwendigen Voraussetzungen gegeben, um mit den Vorarbeiten für eine Rechtsetzungsinitiative auf Gemeinschaftsebene mit den obengenannten Zielsetzungen und unter Berücksichtigung der in dieser Stellungnahme aufgeführten Standpunkte und Schwierigkeiten zu beginnen.

9.4

Der EWSA hält es zum gegenwärtigen Zeitpunkt für ratsam, als einen ersten Schritt hin zu einer europäischen Straßenverkehrsordnung eine Richtlinie zur Mindestharmonisierung in Erwägung zu ziehen, die sich auf das Wiener Übereinkommen stützt und in der die grundlegenden Verkehrsvorschriften und Verkehrszeichenregelungen, die Bedingungen für die Erteilung der Fahrerlaubnis sowie die verschiedenen Arten von Verstößen und die entsprechenden Strafen festgelegt werden.

B)   Zu einem gemeinsamen Kfz-Register auf Gemeinschaftsebene

9.5

Der EWSA vertritt darüber hinaus den Standpunkt, dass durch die Schaffung eines gemeinsamen Kfz-Registers auf Gemeinschaftsebene, in dem die Kraftfahrzeuge selbst erfasst werden, die Rechtssicherheit bei der Benutzung von Kraftfahrzeugen aufgrund ihrer leichteren Rückverfolgbarkeit erheblich verbessert werden könnte.

9.6

Er ist außerdem der Ansicht, dass in einem bindenden Gemeinschaftsinstrument die Grundlagen für die Schaffung eines gemeinsamen Kfz-Register definiert werden könnten, wobei es sehr hilfreich wäre, auf die Erfahrungen zurückzugreifen, die bei der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen staatlichen Stellen bereits gesammelt wurden.

9.7

Der EWSA fordert die Kommission daher auf, die vorbereitenden Untersuchungen zu veranlassen, die im Sinne einer Kosten-/Nutzenrechnung für die verschiedenen zu harmonisierenden Bereiche unverzichtbar sind.

C)   Fazit

9.8

Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission mit Hilfe eines „Grünbuchs“ eine öffentliche Debatte über das in dieser Stellungnahme behandelte Thema einleitet, um auf diesem Wege die Standpunkte und Kommentare einer größtmöglichen Zahl von interessierten Parteien zu sammeln.

9.9

Er dringt allerdings auch darauf, dass die Kommission in der Zwischenzeit die bereits laufenden Studien fortsetzt, die auf eine stärkere Harmonisierung der mit dem Führen von Kraftfahrzeugen generell verbundenen Aspekte sowie eine verbesserte Sicherheit der Fahrzeuge abzielen.

9.10

Der EWSA macht die Mitgliedstaaten darauf aufmerksam, dass es notwendig und zweckmäßig ist, Maßnahmen für eine engere Zusammenarbeit und Abstimmung im Bereich der Straßenverkehrsvorschriften, der Unfallverhütung und Unfallhilfe sowie der Entschädigung der Opfer zu ergreifen.

9.11

Der EWSA hofft, dass das Europäische Parlament seine Initiative uneingeschränkt unterstützen und an die Kommission und den Rat appellieren wird, die entsprechenden Schritte zur Verwirklichung der genannten Ziele zu unternehmen.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Artikel 39 ff. EG-Vertrag.

(2)  Artikel 2 vierter Spiegelstrich und Artikel 61 ff. EG-Vertrag.

(3)  Protokoll Nr. 2 zum EG-Vertrag.

(4)  Artikel 70 ff. EG-Vertrag.

(5)  Artikel 95 ff. EG-Vertrag.

(6)  Vgl. „EU. Energy and Transport in figures“, GD Energie und Verkehr in Zusammenarbeit EUROSTAT (2003).

(7)  Dott. Argante Righetti, Procuratore Pubblico, Bellinzona – Ticino, Criteri di applicazione delle norme di circolazione per i veicoli stranieri in caso di difformità fra la Convenzione di Ginevra e la legislazione interna degli Stati aderenti, Automobile Club di Perugia, 8.-10. September 1961.

(8)  Dieses Thema wird voraussichtlich sowohl auf den 5. Europäischen Verkehrsrechtstagen im Oktober 2004 in Trier als auch auf dem 1. Europäischen Straßenkongress vom 24. bis 26. November 2004 in Lissabon, der unter dem Motto „Mobilität im erweiterten Europa: die Herausforderungen und Aufgaben des Straßenverkehrssektor“ steht, zur Sprache kommen.

(9)  In diesem Zusammenhang sind folgende Texte zu nennen: der Rechtsakt des Rates vom 17. Juni 1998 zur Ausarbeitung des Übereinkommens über den Entzug der Fahrerlaubnis (ABl. C 216 vom 10.7.1998), die Verordnung (EG) Nr. 2411/98 des Rates vom 3. November 1998 über die Anerkennung des Unterscheidungszeichens des Zulassungsmitgliedstaats von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern im innergemeinschaftlichen Verkehr (ABl. L 299 vom 10.11.1998), die Richtlinien 1999/37/EG vom 29. April 1999 und 2003/127/EG vom 23. Dezember 2003 über Zulassungsdokumente für Fahrzeuge (ABl. L 138 vom 1.6.1999 und ABl. L 10 vom 16.1.2004), die Entschließung des Rates vom 26. Juni 2000 zur Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit (ABl. C 218 vom 31.7.2000), die Empfehlung der Kommission vom 6. April 2004 zu Durchsetzungsmaßnahmen im Bereich der Straßenverkehrssicherheit (ABl. L 111 vom 17.4.2004), die Entscheidung der Kommission vom 23. Dezember 2003 über die technischen Vorschriften zur Ausführung von Artikel 3 der Richtlinie 2003/102/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz von Fußgängern und anderen ungeschützten Verkehrsteilnehmern (ABl. L 31 vom 4.2.2004), die Richtlinie 2004/11/EG vom 11. Februar 2004 über Geschwindigkeitsbegrenzungseinrichtungen und vergleichbare Geschwindigkeitsbegrenzungssysteme für bestimmte Kraftfahrzeugklassen (ABl. L 44 vom 14.2.2004), die Entscheidung der Kommission vom 2. April 2004 zur Durchführung der Richtlinie 72/166/EWG des Rates in Bezug auf die Kontrolle der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. L 105 vom 14.4.2004), der Vorschlag vom 21. Oktober 2003 über den Führerschein (KOM(2003) 621 endg.), der Vorschlag für eine Richtlinie über die Aufstellung gemeinsamer Regeln für bestimmte Beförderungen im Güterkraftverkehr (KOM(2004) 47 endg. vom 2.2.2004) und der Vorschlag für eine Verordnung betreffend den Zugang der in den Mitgliedstaaten für die Ausstellung von Zulassungsbescheinigungen für Fahrzeuge zuständigen Dienststellen zum Schengener Informationssystem (KOM(2003) 510 endg. vom 21.8.2003). Dieses Ziel der Information wird auch mit den Regelungen Nr. 39, 60, 62, 71, 73, 78, 101 und 103 der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (ECE/UNO) verfolgt (ABl. L 95 vom 31.3.2004).

(10)  „Comparative Study of Road Traffic Rules and corresponding enforcement actions in the Member States of the European Union“, erstellt von TIS.PT, Consultores em Transportes, Inovação e Sistemas, S.A und im Februar 2004 abgeschlossen.

(11)  Vgl. Stellungnahme ABl. C 110 vom 30.4.2004 zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen hinsichtlich des Zugangs der in den Mitgliedstaaten für die Ausstellung von Zulassungsbescheinigungen für Fahrzeuge zuständigen Dienststellen zum Schengener Informationssystem (KOM(2003) 510 endg.), Berichterstatter: Herr BARROS VALE. Vgl. ebenfalls u.a. die Stellungnahme ABl. C 112 vom 30.4.2004 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie über den Führerschein, Berichterstatter: Herr SIMONS, sowie die Stellungnahme ABl. C 108 vom 30.4.2004 zu der Mitteilung der Kommission „Informations- und Kommunikationstechnologien für sichere und intelligente Fahrzeuge“, Berichterstatter: Herr RANOCCHIARI.

(12)  So gilt z.B. zwischen Portugal und Deutschland das Abkommen von 1926, zwischen Portugal und Belgien das von 1949, zwischen Deutschland und Belgien das von 1968. Die Bandbreite wird noch größer, wenn die Staaten mitbetrachtet werden, die sich auf den EU-Beitritt vorbereiten. Weitere Beispiele: zwischen Deutschland, Irland und den Niederlanden gilt das Abkommen von 1926, zwischen den Niederlanden, Portugal und Schweden das von 1949, zwischen Finnland, Italien, Österreich und Lettland das von 1968. Diese Vielfalt kommt dadurch zustande, dass einige Staaten dem neuesten Abkommen beitreten, andere nicht. Wenn zwei oder mehr Länder dem neuesten Abkommen beitreten, sind die früheren Abkommen zwischen diesen Ländern untereinander nicht mehr rechtskräftig, gelten jedoch weiterhin in den Beziehungen mit denjenigen Ländern, die dem neuesten Abkommen nicht beigetreten sind.

(13)  Z.B. wird in Portugal eine generelle Überarbeitung der Straßenverkehrsordnung derzeit abgeschlossen, in Italien wurde damit begonnen.

(14)  Vgl. die in Fußnote 10 angeführte Studie.

(15)  Siehe Ziffer 2 und 4.

(16)  Vgl. den Bericht des European Transport Safety Council zum Thema „Cost Effective EU Transport Safety Measures“ (2003) sowie den Schlussbericht „Cost-Benefit Analysis of Road Safety Improvements“ der ICF Consulting, Ltd, London, vom 12. Juni 2003.

(17)  Vgl. Richtlinie 2004/52/EG vom 29. April 2004 über die Interoperabilität elektronischer Mautsysteme in der Gemeinschaft (ABl. L 166 vom 30.4.2004).

(18)  Einige Mitglieder der Studiengruppe halten es für möglich, bereits jetzt eine Regelung zu schaffen, die den grenzüberschreitenden Kauf und die grenzüberschreitende Zulassung von Kraftfahrzeugen in all denjenigen Fällen ermöglicht, in denen sich Personen aus beruflichen Gründen vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaaten aufhalten bzw. sich in regelmäßigen Abständen dort aufhalten müssen.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/42


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Förderung des Seeverkehrs sowie der Einstellung und Ausbildung von Seeleuten“

(2005/C 157/05)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 29. Januar 2004, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Förderung des Seeverkehrs sowie der Einstellung und Ausbildung von Seeleuten“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 5. Oktober 2004 an. Berichterstatter war Herr Chagas.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 137 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Im Jahr 1996 veranstalteten die Europäische Kommission und der irische Ratsvorsitz in Dublin eine internationale Konferenz mit dem Titel „Sind die Seeleute der Europäischen Union vom Aussterben bedroht?“. Die Konferenz kam zu der Erkenntnis, dass europäische Seeleute für eine nachhaltige Zukunft des europäischen Schifffahrtsektors von grundlegender Bedeutung sind. Es wurden zahlreiche Vorschläge für den Wiederaufbau eines ausreichenden Bestandes an hochqualifizierten Seeleuten gemacht. Im gleichen Jahr legte die Kommission in ihrer Mitteilung „Auf dem Wege zu einer neuen Seeverkehrsstrategie“ (1) eine Analyse der Lage vor. Ihre Überlegungen flossen auch in eine Entschließung vom 24. März 1997 über eine neue Strategie zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Schifffahrt der Gemeinschaft (2) ein. Der Ministerrat der Europäischen Union schloss sich der Mitteilung der Kommission an und bekräftigte unter anderem, dass wirksame Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung von Seeleuten aus der Gemeinschaft notwendig seien.

1.2

In ihrer Mitteilung über die Ausbildung und Einstellung von Seeleuten (3) wies die Kommission darauf hin, dass das Angebot an gut ausgebildeten Seeleuten, vor allem an Offizieren, in den beiden letzten Jahrzehnten stark abgenommen hat. Seit Anfang der 1980er Jahre ist sowohl die Gesamtflotte der EU geschrumpft als auch die Zahl der EU-Seeleute deutlich zurückgegangen. Eine Ausnahme bildet allerdings der Linienverkehr mit Fahrgastschiffen und Fahrgastfährschiffen in der EU: Dieser Markt wird nach wie vor hauptsächlich von Schiffen unter EU-Flagge bedient, deren Besatzung überwiegend aus EU-Staatsangehörigen besteht. Schon wiederholt haben sich das Seeverkehrsgewerbe, die Mitgliedstaaten und die Kommission mit dem Problem des zahlenmäßigen Rückgangs der EU-Seeleute und des Mangels an qualifizierten Kräften befasst, doch sind die zum Aufhalten und Umkehren dieses Trends ergriffenen Maßnahmen weitestgehend wirkungslos geblieben.

1.3

Der zahlenmäßige Rückgang der EU-Seeleute wurde auch in zahlreichen Studien und Forschungsprojekten behandelt und eingehend untersucht. Dazu zählen:

die Studie über die maritimen Berufe in der Europäischen Union aus dem Jahr 1996 (von der Kommission finanziert),

die gemeinsame Studie von FST und ECSA aus dem Jahr 1998 (von der Europäischen Kommission finanziert) (4),

die Forschungsprojekte METHAR (5) und METNET (6) (von der Europäischen Kommission aus dem FTE-Programm Verkehr des 4. bzw. 5. Rahmenprogramms finanziert).

1.4

Der im April 2000 veröffentlichte BIMCO/ISF 2000 Manpower Update-Bericht (7) ist wahrscheinlich die bislang umfassendste Studie über das weltweite Verhältnis von Angebot und Nachfrage in Bezug auf Offiziere und Matrosen der Handelsmarine. In diesem Bericht wurde festgehalten, dass schätzungsweise 16.000 Offiziere fehlen, d.h. 4 % aller Beschäftigten. Die Prognosen für das Jahr 2010 in Bezug auf das Angebot an Offizieren, die auf den Parametern Wachstum, Qualifikation, Berufsausstiegsrate und verstärkter Ausbildung basieren, ergeben nach Durchführung einer Empfindlichkeitsanalyse entweder einen Überschuss von rund 11 % oder aber ein Defizit von 24 %. In einer weiteren Aktualisierung dieses Berichts im Jahr 2005 wird voraussichtlich ein Defizit ausgewiesen. Laut der gemeinsamen Studie von FST und ECSA (8) aus dem Jahr 1998 wird die EU noch stärker betroffen sein: so sollen 2006 bis zu 36.000 Offiziere fehlen, nachdem für 2001 ein Mangel an rund 13.000 Offizieren vorhergesagt wurde.

1.5

In einer unlängst veröffentlichten, von der Universität Cardiff im Auftrag des britischen Verkehrsministeriums, der britischen Schifffahrtskammer und der Marine Society im Vereinigten Königreich durchgeführten Studie (9) wurde ein erheblicher Mangel an hochqualifizierten Seeleuten, mit denen Arbeitsplätze im landseitigen Teil der britischen Schifffahrt besetzt werden können, festgestellt.

1.6

Die Kommission hat den Kurzstreckenseeverkehr als festen Bestandteil des Verkehrssystems anerkannt (10). Es wurden zahlreiche Initiativen zur Förderung des Kurzstreckenseeverkehrs ergriffen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsrahmen für staatliche Beihilfen im Schifffahrtssektor, doch haben diese keine signifikanten Verbesserungen in Bezug auf die Beschäftigung von EU-Seeleuten gebracht. Obwohl in einigen Mitgliedstaaten der Rückgang der registrierten Tonnage gestoppt und in anderen sogar ein Tonnagezuwachs verzeichnet werden konnte, nimmt die Zahl der EU-Seeleute weiter ab.

2.   Empfehlungen der Kommission zur Förderung der Einstellung und Ausbildung von Seeleuten sowie des Seeverkehrs (11)

2.1

Die Kommission hat zwar anerkannt, dass Beschäftigung und Ausbildung der Seeleute in erster Linie in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fallen, gleichzeitig aber Empfehlungen für vorrangige Maßnahmen erarbeitet und unterbreitet:

a)

die bestehenden gemeinschaftlichen und internationalen Rechtsvorschriften über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Seeleute und die Qualität des Schiffsbetriebs müssen korrekt angewendet werden, damit die sozialen Bedingungen besser dazu dienen können, hochqualifizierte Arbeitskräfte zu rekrutieren und an den Beruf zu binden;

b)

die Kommission ist sich des verstärkten Konkurrenzdrucks durch Nicht-EU-Arbeitskräfte im Linienverkehr mit Fahrgastschiffen und Fahrgastfährschiffen innerhalb der Europäischen Union wohl bewusst. Während eine Lösung für dieses Problem gesucht wird, sind parallel auch die Sozialpartner gefordert, freiwillige Vereinbarungen abzuschließen;

c)

die Mitgliedstaaten und die Sozialpartner sollten koordinierte Informationskampagnen sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene einleiten, um das Image der Seeschifffahrt zu verbessern und junge Menschen über die Chancen und Begleitumstände einer Berufslaufbahn in der Seefahrt zu informieren;

d)

die Reeder sollten alle Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen erforschen, einschließlich einer hinreichenden Abwechslung von Aufenthalten auf See und an Land und der Bezahlung;

e)

die hochwertige Ausbildung im Schifffahrtsbereich in der EU muss gewahrt werden, wobei den Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern die Aufgabe zukommt, für eine ausreichende Anzahl an Ausbildungsplätzen an Bord zu sorgen;

f)

die Mitgliedstaaten und Sozialpartner sollten sämtliche Möglichkeiten, die die für die finanzielle Förderung der Ausbildung von Seeleuten zur Verfügung stehenden Gemeinschaftsinstrumente bieten, erforschen und ausschöpfen;

g)

die Kommission unterstrich, dass die Gemeinschaft die Anstrengungen des Sektors, dem Mangel an EU-Seeleuten abzuhelfen, durch die finanzielle Förderung zahlreicher Ad-hoc-Projekte unter dem 6. Rahmenprogramm unterstützen könnte.

2.1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hielt in seiner Stellungnahme (12) fest, dass alle Adressaten, an die sich die Mitteilung der Kommission über die Ausbildung und Einstellung von Seeleuten richtete, seine Empfehlungen unbedingt aufmerksam zur Kenntnis nehmen sollten. So sollten insbesondere die Mitgliedstaaten die staatlichen Beihilfen im Seeverkehr und die weiteren bestehenden EU-Beihilfen voll nutzen. Der Ausschuss betonte ferner die Notwendigkeit, die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord zu verbessern, die Ratifizierung und Umsetzung der einschlägigen internationalen Normen zu gewährleisten und gegebenenfalls geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das soziale Ansehen und die Zufriedenheit am Arbeitsplatz bei Seeverkehrsberufen zu steigern. Darüber hinaus hob der Ausschuss die Bedeutung der Zusammenarbeit und Stärkung des beruflichen Ansehens durch die Mitgliedstaaten und die Sozialpartner hervor.

2.2

Die Kommission hat außerdem anerkannt, dass der Seeverkehr in erster Linie in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fällt, und gleichzeitig Empfehlungen in Bezug auf vorrangige Maßnahmen erarbeitet und unterbreitet: Der Schwerpunkt wurde dabei zwar auf den Kurzstreckenseeverkehr gelegt, doch können die Kommissionsempfehlungen auch auf die sonstigen Bereiche des Seeverkehrs übertragen werden:

a)

Zu den „legislativen Aktionen“ zählen die Umsetzung der Richtlinie über Meldeformalitäten für Schiffe beim Einlaufen in und/oder Auslaufen aus Häfen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (FAL-Übereinkommen der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO)), die Durchführung des Marco-Polo-Programms, die Standardisierung und Harmonisierung intermodaler Ladeeinheiten, der Ausbau der Hochgeschwindigkeitsseewege und die Verbesserung der Umweltfreundlichkeit des Seeverkehrs.

b)

„Technische Aktionen“ umfassen u.a. einen Leitfaden für die Zollverfahren im Kurzstreckenseeverkehr, die Ermittlung und Beseitigung von Hindernissen, die einem größeren Erfolg des Kurzstreckenseeverkehrs entgegenstehen, die Angleichung einzelstaatlicher Anwendungen und die Automatisierung der gemeinschaftlichen Zollverfahren sowie Forschung und technologische Entwicklung.

c)

Unter „operative Aktionen“ fallen die Schaffung einer „Verwaltung aus einer Hand“, die Sicherstellung einer zentralen Rolle der Ansprechpartner für den Kurzstreckenseeverkehr („Short Sea Shipping Focal Points“), die Gewährleistung des guten Funktionierens und orientierender Unterstützung der Förderzentren für den Kurzstreckenseeverkehr („Short Sea Promotion Centres“), die Propagierung des Kurzstreckenseeverkehrs als attraktive Beförderungsalternative und die Erhebung statistischer Informationen.

2.2.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßte in seiner Stellungnahme zum „Programm zur Förderung des Kurzstreckenseeverkehrs“ (13) die Mitteilung der Kommission. Er wies jedoch auf die Notwendigkeit hin, Engpässe zu beseitigen, um die Entwicklung des Kurzstreckenseeverkehrs in Richtung Intermodalität zu ermöglichen. Darüber hinaus äußerte der Ausschuss auch in einigen anderen Fragen in diesem Zusammenhang Bedenken. Außerdem verwies er darauf, wie wichtig eine kontinuierliche Beobachtung der Durchführung der Aktionen ist.

3.   Empfehlungen des Rates zur Förderung der Einstellung und Ausbildung von Seeleuten sowie des Seeverkehrs

3.1

Der Rat begrüßte (14) den allgemeinen Aufbau und den politischen Schwerpunkt der Mitteilung der Kommission über die Ausbildung und Einstellung von Seeleuten (15). Dabei erkannte er die Bedeutung der Schifffahrt für den internationalen wie auch den innergemeinschaftlichen Handel ebenso an wie die Tatsache, dass der Seeverkehr die effizienteste, umweltfreundlichste und billigste Transportart ist.

3.2

Unter Hinweis auf den Wettbewerb in der Schifffahrt betonte der Rat die Notwendigkeit, eine nicht den Qualitätsanforderungen entsprechende Schifffahrt durch die Einbeziehung internationaler Normen und das Schließen von Lücken in der internationalen Gesetzgebung zu unterbinden, wobei es für die Sicherheit von Schiffen von grundlegender Bedeutung ist, dass bestehende Rechtsvorschriften, u.a. auch solche, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Seeleuten betreffen, umgesetzt und angewandt werden.

3.3

Ferner unterstrich der Rat, dass der Faktor Mensch von wesentlicher Bedeutung für eine qualitätsorientierte Schifffahrt ist und dass das Ansehen und die Attraktivität der seemännischen Berufe in der Öffentlichkeit gesteigert werden muss.

3.4

Darüber hinaus erkannte der Rat die positive Wirkung des Gemeinschaftsrahmens für staatliche Beihilfen im Schifffahrtssektor an, und zwar sowohl im Hinblick auf die Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit der Flotten der Mitgliedstaaten als auch im Hinblick auf die Erhöhung der Zahl der Schiffe, die in den Mitgliedstaaten registriert sind.

3.5

Der Rat erkannte die Bedeutung der Schifffahrt an und gab Empfehlungen unter anderem zu folgenden Punkten ab:

a)

Er empfahl die schnelle Vorlage eines überarbeiteten Gemeinschaftsrahmens für staatliche Beihilfen im Schifffahrtssektor zur Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit, zur Förderung der Fachkompetenz im Bereich Schifffahrt und zur Beschäftigung von europäischen Seeleuten.

b)

Er forderte die Mitgliedstaaten auf, das Ansehen der Schifffahrt zu verbessern.

c)

Die Mitgliedstaaten müssten außerdem dafür Sorge tragen, dass durch striktere Einhaltung nicht nur der Rechtsinstrumente der IMO und der IAO, sondern auch der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften im Rahmen der Flaggen- und Hafenstaatkontrolle die qualitätsorientierte Schifffahrt gefördert wird.

d)

Die Kommission sollte überprüfen, welche Möglichkeit zur Einführung eines europäischen Preises für Qualität bestehen, der qualitätsorientierten Wirtschaftsbeteiligten, die unter anderem die Vorschriften bezüglich der Sicherheit und der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Seeleuten sowie die Sicherheits- und Umweltschutzbestimmungen einhalten, zuerkannt würde und ein Anreiz zur Förderung einer qualitätsorientierten Schifffahrt wäre.

e)

Der Rat begrüßte die Absicht der Kommission, einen Bericht über die möglichen Entwicklungen bezüglich spezifischer Verfahren zur Anerkennung von Befähigungsnachweisen von Seeleuten innerhalb der Gemeinschaft zu erstellen, die vollständig im Einklang mit den Anforderungen gemäß STCW stehen.

f)

Die Sozialpartner müssten die Mitgliedstaaten und die Kommission in ihren Bemühungen unterstützen, die seemännischen Berufe für junge Menschen attraktiver zu machen und insbesondere attraktive Arbeits- und Gehaltsbedingungen zu schaffen. Dies gilt auch für die Förderung der Einstellung von Frauen sowohl zur See als auch an Land.

g)

Der Rat ersuchte die Schiffseigner, dafür zu sorgen, dass an Bord ihrer Schiffe und in ihren Unternehmen eine ausreichende Anzahl von Bürgern der Europäischen Union beschäftigt ist. Sie sollten insbesondere die Karriereaussichten verbessern, indem sie Mobilität, Beförderungen und spätere Beschäftigung an Land in Aussicht stellen und mit jungen Offizieren Laufbahnvereinbarungen schließen. Des Weiteren sollten die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Seeleuten an Bord durch die Nutzung moderner Technik und Kommunikationsmittel verbessert werden.

h)

Der Rat verwies ferner auf die Bedeutung von Übereinkommen hinsichtlich Arbeitsnormen, z.B. IAO-Übereinkommen.

4.   Empfehlungen des Europäischen Parlaments zur Förderung der Einstellung und Ausbildung von Seeleuten sowie des Seeverkehrs

4.1

Das Europäische Parlament hat sich bereits mehrmals dem Thema „Förderung des Seeverkehrs und der Seeverkehrsberufe“ gewidmet, insbesondere in seiner jüngsten Entschließung zu der Verbesserung der Sicherheit auf See (P5_TA_PROV(2004)0350) nach der Havarie des Öltankers „Prestige“ vor der Küste Galiciens. Zahlreiche Empfehlungen könnten, wenn sie auch tatsächlich durchgeführt werden, nachdrücklich dazu beitragen, die EU-Schifffahrt im Interesse sowohl der Reeder als auch der Seeleute in der EU direkt und indirekt zu fördern.

4.2

Der Ausschuss verweist u.a. auf folgende in der Entschließung des Europäischen Parlaments enthaltene Empfehlungen:

4.2.1

„[Das Europäische Parlament] fordert eine umfassende und kohärente europäische Meerespolitik, die darauf gerichtet sein sollte, einen europäischen Raum der Sicherheit im Seeverkehr zu schaffen; ist der Auffassung, dass diese Politik insbesondere auf folgenden Maßnahmen beruhen muss:

Verbot von nicht normgerechten Schiffen,

[…]

Verbesserung der Lebens-, Arbeits- und Schulungsbedingungen von Seeleuten.“

4.2.2

„[Das Europäische Parlament] betont, dass es für die Sicherheit des Seeverkehrs unabdingbar ist, dass die Seeleute angemessen entlohnt werden, und dass der auf zahlreichen Schiffen herrschenden übermäßigen Ausbeutung ein Ende gesetzt wird; fordert die Kommission auf, sich mit legislativen Mitteln für die Harmonisierung und Aufwertung dieses Berufs auf europäischer Ebene einzusetzen und sich auch in der IMO in diesem Sinne einzusetzen“.

4.2.3

„[Das Europäische Parlament] fordert Maßnahmen zur Steigerung der Wertschätzung der Berufe in der Seefahrt, um sie für junge Menschen im Allgemeinen und die europäische Jugend im Besonderen attraktiver zu machen.“

5.   Allgemeine Bemerkungen und Erläuterungen

5.1

Im Rahmen der Weiterführung des Programms zur nachhaltigen Entwicklung in der EU wurde die grundlegende Bedeutung der Schifffahrt anerkannt. Der hohe Stellenwert des Seeverkehrs wurde auch im Weißbuch der Kommission „Die Europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft“ (16) und in einem Dokument zur Seeverkehrspolitik mit dem Titel „European Union Legislation and Objectives for Sea Transport“ (17) betont.

5.2

Die Ein- und Ausfuhren der EU werden gemessen am Gesamtwert zu 40,7 % und gemessen am Gesamtgewicht zu 69,9 % auf dem Seeweg abgewickelt (18). Diese Zahlen liegen für Mitgliedstaaten mit Inselstatus bedeutend höher. Die Schifffahrt ist somit der wichtigste Verkehrsträger für den EU-Außenhandel.

5.3

Der innergemeinschaftliche Handel erfolgt zu 12 % (gemessen am Gesamtwert) bzw. zu 19,7 % (gemessen am Gesamtgewicht) per Schiff (19). Für entfernte Inselregionen sowie einige weitere Regionen liegt der Anteil noch bedeutend höher, insbesondere für das Vereinigte Königreich und Irland, deren Wirtschaftswachstum und Wohlstand fast ausschließlich vom Seeverkehr abhängen.

5.4

Ein gesunder und dynamischer Schifffahrtssektor trägt auch zum Fortbestand anderer Verkehrsträger bei. Darüber hinaus ist ein erfolgreicher Schifffahrtssektor für den Erhalt und das Wohlergehen der maritimen Wirtschaft insgesamt von Vorteil. So gilt es insbesondere, die Nachfrage nach bestens ausgebildeten und hochqualifizierten Seeleuten in den nachgeordneten Dienstleistungs-, Finanzdienstleistungs-, Freizeit- und Industriebereichen zufrieden zu stellen. Wenn einige Aspekte der Ausbildung durchaus auch durch andere ersetzt werden können, so sind alternative Ausbildungswege nicht immer wünschenswert oder gar machbar.

5.5

Notwendig ist allerdings eine sorgfältige Unterscheidung zwischen Mannschaftsdienstgraden und Offizieren. So stellen Reeder trotz der höheren Kosten auf Offiziersebene vorzugsweise EU-Staatsangehörige ein.

5.6

Eine bedeutende Zahl an EU-Offizieren ist in Hochrisiko- und Hochwertbereichen auf See sowie allgemein in hohen Positionen auf den unterschiedlichsten Schiffen beschäftigt. Die Erfahrung dieser Offiziere wird sowohl von Schifffahrtsunternehmen als auch vom Flottenmanagement innerhalb und außerhalb der EU umfassend genutzt.

5.7

Auf Schiffen unter EU-Flagge wurden EU-Seeleute in großem Umfang durch nicht EU-Seeleute ersetzt. Das Anheuern von EU-Mannschaften erfolgt fast nur noch auf Spezialschiffen, u.a. solchen, die im Offshore-Energiebereich eingesetzt werden. Dies ist auf die Kostensenkungsmaßnahmen der Reeder zurückzuführen, die eine Reduzierung ihrer Arbeitskosten anstreben, um wettbewerbsfähig zu bleiben und/oder ihre Rentabilität zu steigern.

5.8

Die Rolle der Seehäfen als wesentliche Verkehrsknotenpunkte und somit als grundlegende Elemente zur Förderung des Handels und der wirtschaftlichen Entwicklung der Mitgliedstaaten ist allgemein anerkannt. Die Bedeutung der Seehäfen als Verkehrsknotenpunkte wird auch durch statistische Daten untermauert, die in dem Jahresbericht 2003 der Organisation Europäischer Seehäfen (ESPO) (20) enthalten sind. Die EU-Seehäfen sind bei der Besetzung zahlreicher Positionen auf hochqualifizierte und erfahrene Seeleute angewiesen. Dies gilt natürlich in erster Linie für Lotsen und Hafenmeister; erfahrene Seefahrer sind jedoch auch im Hafenmanagement und in der Logistik beschäftigt.

5.9

Ein bedeutender Anteil des in der EU-Schifffahrt erwirtschafteten Einkommens stammt aus spezialisierten Schiffsdiensten. Neben dem direkten Flottenmanagement und -betrieb umfasst dies auch Maklergeschäfte sowie Rechts- und Finanzdienste.

5.10

Die Herstellung von Ausrüstungsgegenständen, u.a. auch der Sicherheitsausrüstung für Schiffe und für die Freizeitindustrie, ist in der EU ebenfalls von großer Bedeutung. Zahlreiche ehemalige Seeleute arbeiten sowohl im Entwicklungs- als auch im Vertriebsbereich dieses nachgeordneten Sektors.

5.11

Der Schiffbau ist trotz der starken Konkurrenz insbesondere aus dem Fernen Osten in einigen Mitgliedstaaten und Regionen ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor. Dieser Industriezweig ist nun in erster Linie auf den Bau von Kriegs-, Kreuzfahrt- und Spezialschiffen ausgerichtet. Darüber hinaus sind auch die Reparatur und Bereitstellung von Schiffen für den Offshore-Energiebereich von großer Bedeutung.

5.12

Außerdem besteht auch in den Regulierungsgremien der EU-Mitgliedstaaten ein großer Bedarf an hochqualifizierten und erfahrenen Seeleuten. Deren Einsatz ist für die Gewährleistung einer angemessenen Flaggen- und Hafenstaatkontrolle der Schiffe, mit der die Sicherheit der Seeleute und der Schutz der Meeresumwelt sichergestellt werden soll, unabdingbar.

5.13

Ausbildungsstätten für Nautik in der Europäischen Union bieten qualitativ hochwertige Aus- und Fortbildungskurse für Nicht-EU-Bürger, wodurch sie zur Sicherheit des Seeverkehrs im Allgemeinen und der Seeleute im Besonderen sowie des Schutzes der Meeresumwelt beitragen.

5.14

Hochqualifizierte und erfahrene EU-Seeleute sind auch für die nachhaltige Entwicklung der maritimen Infrastruktur und verwandte dienstleistungsorientierte Wirtschaftszweige erforderlich. Der gemeinsam vom Verband der Europäischen Reeder ECSA und vom Europäischen Transportforum ETF unterbreitete Vorschlag für ein Projekt zur Erfassung von Berufslaufbahnen in der Schifffahrt (21) wurde angenommen, die Schlussfolgerungen sollten im Laufe des Jahres 2005 vorliegen.

5.15

Die Behauptung, junge EU-Bürger interessierten sich nicht für eine Karriere zur See, entbehrt einer ausreichenden Grundlage. Wenn effizient für die Schifffahrt geworben wird, d.h. Chancen in diesem Verkehrsbereich geboten werden, können auch zahlreiche interessierte Bewerber gewonnen werden.

6.   Die Seeverkehrsberufe

6.1

Die Alterspyramide bei den Beschäftigten in der Seeschifffahrt wird zunehmend ungünstiger, und das aktuelle Einstellungsniveau reicht nicht aus, um den derzeitigen Bestand an EU-Seeleuten zu ersetzen. Dies gilt insbesondere für hochrangige Offiziere, die nicht nur auf Schiffen unter EU-Flagge beschäftigt sind, sondern auch auf Schiffen unter der Flagge von Drittstaaten gefragt sind. Angesichts der Zeit, die für die Ausbildung dieser Offiziere erforderlich ist, und der Zeit, die diese dann noch benötigen, um die notwendige Erfahrung zu sammeln, hat sich die Lage in einigen Mitgliedstaaten zugespitzt.

6.2

Die Attraktivität der Seeverkehrsberufe ist in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten sehr verschieden, was auf eine unterschiedliche Wirtschaftssituation, geografische Lage oder auch kulturell bedingte Einstellung zurückzuführen sein könnte.

6.3

Bisweilen heißt es, junge Menschen seien immer weniger daran interessiert, lange Zeiträume auf See zu verbringen, da dies sowohl in sozialer als auch finanzieller Hinsicht als wenig attraktiv gelte. Andererseits gibt es nur wenige Tätigkeitsbereiche, in denen so lange Urlaubszeiten gewährt werden, wodurch die Beschäftigten ihren Freizeitaktivitäten nachgehen oder Reisen unternehmen können.

6.4

In Bezug auf das Vereinigte Königreich lässt es sich empirisch durchaus belegen, dass mit einer wirksamen Werbung, mit der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die maritimen Berufe gelenkt wird, auch eine ausreichende Zahl junger Menschen für das Angebot an Ausbildungsplätzen interessiert werden kann.

6.5

Im Interesse der Nachhaltigkeit der maritimen Infrastrukturindustrien und als Teil einer Werbekampagne zur Sensibilisierung junger Menschen für eine Berufslaufbahn in der Schifffahrt ist es von grundlegender Wichtigkeit, eine „Karriere in der Schifffahrt“ und nicht eine „Karriere auf See“ anzubieten. Dies spiegelt die weitreichendere Palette an Berufslaufbahnen wider und sorgt dafür, dass junge Menschen und deren Eltern eine Karriere in der Schifffahrt aufgeschlossener gegenüber stehen.

6.6

Die Lehrpläne für Aus- und Fortbildung im Schifffahrtsbereich müssen sowohl den Bestimmungen des Internationalen STCW-Übereinkommens und des ISM-Codes entsprechen als auch laufend aktualisiert werden, um den Anforderungen der Schifffahrtsbranche und der Notwendigkeit Rechnung zu tragen, die Auszubildenden für den technologischen Wandel zu wappnen.

6.7

Seeleute aus der Fischereiindustrie und der Kriegsmarine stellen einen weiteren nützlichen, allerdings auch beschränkten zusätzlichen Pool an Arbeitskräften für die Schifffahrt dar. Mit dem Niedergang der Fischereiindustrie und der Verkleinerung der Marine in den EU-Mitgliedstaaten nimmt jedoch auch die Zahl der für die Schifffahrt (sowohl seeseitig als auch landseitig) zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte ab. Eine erhebliche Verringerung der EU-Fischfangflotte wird wohl angesichts des zunehmenden Alters der Besatzungsmitglieder kaum eine substanzielle Steigerung des Arbeitskräfteangebots mit sich bringen.

6.8

Die Aufrechterhaltung des Bestands an EU-Mannschaftsdienstgraden ist auch wichtig für die Erhaltung des maritimen Know-Hows in der EU. Außerdem kann bei entsprechender Weiterbildung bei der Besetzung von EU-Offiziersposten auf diesen Bestand zurückgegriffen werden.

7.   Der Seeverkehr

7.1

Zur Förderung des Kurzstreckenseeverkehrs sind in den Mitgliedstaaten zahlreiche Initiativen durchgeführt worden. In einigen Fällen sind diese Bemühungen jedoch erst am Anfang, und es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen sie haben werden. Eines scheint allerdings klar: die Mitgliedstaaten arbeiten kaum zusammen. Initiativen wie die Festlegung von „Hochgeschwindigkeitsseewegen“ sind zur Imageverbesserung der Schifffahrt von großem Nutzen. Es müssen alle Mitgliedstaaten in gemeinsame Maßnahmen eingebunden werden, um das Potenzial des Seeverkehrs ausschöpfen zu können.

7.2

Wenngleich die Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Förderung von Maßnahmen in der Schifffahrt für die Sicherstellung eines fairen Wettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten und einer höheren Wettbewerbsfähigkeit von grundlegender Bedeutung sind, könnte die Wirksamkeit dieser Maßnahmen angesichts des anhaltenden Beschäftigungsrückgangs von EU-Seeleuten jedoch in Frage gestellt werden.

7.3

Es besteht berechtigter Zweifel daran, dass die Mitgliedstaaten die gültigen Bestimmungen der Leitlinien für staatliche Beihilfen auch wirklich voll ausreizen. Darüber hinaus scheint es an dem notwendigen Willen zu mangeln, Änderungen in den Bereichen vorzunehmen, in denen tatsächlich oder vermeintlich Beschränkungen bestehen.

7.4

Die Förderung der Schifffahrt ist unbestritten Aufgabe der Mitgliedstaaten, doch scheint die fehlende zentrale Koordinierung jedwede Entwicklung zu behindern. Daher konnten Initiativen wie Marco Polo oder Projekte für Hochgeschwindigkeitsseewege zur Förderung des Kurzstreckenseeverkehrs bislang kaum ihre Wirkung entfalten.

8.   Empfehlungen

8.1

Die Kommission sollte angemessene Maßnahmen und Empfehlungen ausarbeiten, um

a)

bestehende Maßnahmen zur Förderung des Seeverkehrs durch die Mitgliedstaaten zu bewerten;

b)

bestehende Maßnahmen zur Förderung der Einstellung und Ausbildung von Seeleuten in den Mitgliedstaaten zu bewerten;

c)

die für das Funktionieren der maritimen Infrastruktur und verwandter Wirtschaftszweige schätzungsweise erforderliche Zahl an EU-Seeleuten festzulegen;

d)

die Anwendung und Zweckmäßigkeit der Bestimmungen der Leitlinien für staatliche Beihilfen im Zusammenhang mit dem ersten STWC-Zertifikat zu bewerten und die Bestimmungen für die Nutzung der Möglichkeit, an Bord beschäftigten Seeleuten den Erwerb des zweiten und dritten STWC-Zertifikats zugänglich zu machen, zu untersuchen;

e)

sicherzustellen, dass die Prioritäten so gesetzt werden, dass vorzugsweise die Einstellung, Ausbildung und Weiterbeschäftigung von EU-Bürgern als Seeleute gefördert wird.

8.2

Die Mitgliedstaaten sollten angemessene Maßnahmen und Empfehlungen ausarbeiten, um

a)

die Durchführung und Wahrung der wichtigsten IAO- und konsolidierten Übereinkommen, IMO-Übereinkommen in ihren geänderten Fassungen und EU-Richtlinien sicherzustellen, um angemessene Beschäftigungs- und Lebensbedingungen zu ermöglichen;

b)

entsprechende finanzielle Mittel für Ausbildungsmaßnahmen bereitzustellen und hierbei die gültigen Leitlinien für staatliche Beihilfen optimal zu nutzen, wobei gegebenenfalls auch Möglichkeiten im Steuer- und Sozialversicherungsbereich herangezogen werden können;

c)

weitere für die Förderung der Einstellung und Ausbildung von EU-Seeleuten erforderliche Maßnahmen festzulegen;

d)

mit den Sozialpartnern zur Durchführung wirksamer Werbekampagnen zusammenzuarbeiten, mit denen junge Menschen für eine Berufslaufbahn in der Schifffahrt gewonnen werden sollen;

e)

die erforderlichen Mittel zum Aufbau und Betrieb qualitativ hochwertiger Aus- und Fortbildungseinrichtungen für Nautik bereitzustellen;

f)

eine breitere Unterstützung für die Ausbildung der Seeleute durch die maritime Wirtschaft zu fördern;

g)

die notwendige Verkehrsinfrastruktur bereitzustellen, um die Nutzung des Seeweges zu erleichtern und weiter zu verbreiten;

h)

den Seeverkehr als umweltfreundliche Verkehrsart zu fördern;

i)

eine vielfältige Palette an Schiffen zur Verfügung zu stellen, um den strategischen und wirtschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden;

j)

sicherzustellen, dass keine Maßnahmen getroffen werden, mit denen die in der Schifffahrt Beschäftigten diskriminiert werden, und jedwede geltende Maßnahme, durch die Seeleute, insbesondere Kapitäne, benachteiligt werden, abgeschafft wird.

8.3

Das Europäische Parlament und der Rat sollten

a)

Vorschläge der Kommission für Maßnahmen zur Förderung des Seeverkehrs unterstützen;

b)

Vorschläge der Kommission für Maßnahmen zur Förderung der Einstellung und Ausbildung von Seeleuten unterstützen;

c)

das Handeln der Kommission im Hinblick auf Vorschläge für Maßnahmen zur Förderung des Seeverkehrs überwachen;

d)

das Handeln der Europäischen Kommission im Hinblick auf Vorschläge für Maßnahmen zur Förderung der Einstellung und Ausbildung von Seeleuten überwachen.

8.4

Die Reeder sollten entsprechende Maßnahmen ergreifen, um

a)

angemessene Beschäftigungs- und Lebensbedingungen sicherzustellen und so die Einstellung und Weiterbeschäftigung von hochqualifizierten EU-Seeleuten zu fördern;

b)

hochqualifizierte Arbeitnehmer einzustellen und für eine angemessene Ausbildung Sorge zu tragen;

c)

eine angemessene Zahl an Ausbildungs- und in der Folge Arbeitsplätzen bereitzustellen, um für einen ausreichenden Nachschub an EU-Offizieren zu sorgen;

d)

Möglichkeiten zur stärkeren Nutzung des Seeweges für den innergemeinschaftlichen und internationalen Warenaustausch zu untersuchen.

8.5

Die Gewerkschaften sollten angemessene Maßnahmen ergreifen, um

a)

die Schifffahrt als Berufszweig zu fördern;

b)

ein hohes berufliches Ansehen der EU-Seeleute sicherzustellen;

c)

ihre Teilnahme an der Förderung des Seeverkehrs, einschl. des Kurzstreckenseeverkehrs, sicherzustellen.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  KOM(96) 81 endg. vom 8.4.1997.

(2)  ABl. C 109 vom 8.4.1997, S. 1.

(3)  KOM(2001) 188 endg. vom 6.4.2001. Stellungnahme des EWSA: ABl. C 80 vom 3.4.2002, S. 9.

(4)  Quelle: Gemeinsame Studie des Verbands der Verkehrsgewerkschaften in der Europäischen Union (FST) und des Verbands der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (ECSA): „Improving the Employment Opportunities for EU Seafarers: An Investigation to Identify Seafarers Training and Education Priorities“ (1998).

(5)  METHAR: Harmonisation of European Maritime Education and Training Schemes.

(6)  METNET: Thematic Network on Maritime Education, Training and Mobility of Seafarers.

(7)  BIMCO (Baltic and International Maritime Council)/ISF (International Shipping Federation) 2000 Manpower Update – „The World-wide Demand for and Supply of Seafarers“ – April 2000.

(8)  Siehe Fußnote 4.

(9)  Quelle: von der Universität Cardiff im Auftrag des britischen Verkehrsministeriums, der britischen Schifffahrtskammer und der Marine Society durchgeführte Studie mit dem Titel „The UK economy's requirements for people with experience of working at sea 2003“.

(10)  KOM(2003) 155 endg. vom 7.4.2003.

(11)  Siehe Fußnote 3.

(12)  Siehe Stellungnahme des Ausschusses, ABl. C 80 vom 3.4.2002, S. 9.

(13)  Siehe Stellungnahme des Ausschusses ABl. C 32 vom 5.2.2004, S. 67.

(14)  2515. Sitzung des Rates (Verkehr, Telekommunikation und Energie), 5.6.2003, 9686/03 (Presse 146).

(15)  Siehe Fußnote 3.

(16)  Weißbuch „Die Europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft“, Europäische Kommission, 2001.

(17)  Maritime Policy „European Union legislation and objectives for sea transport“, Europäische Kommission, 2002.

(18)  EU Energy and Transport in Figures – Statistisches Taschenbuch 2003, Europäische Kommission (nur auf Englisch erhältlich).

(19)  Siehe Fußnote 16.

(20)  Jahresbericht 2003 der Organisation Europäischer Seehäfen (ESPO).

(21)  Vorschlag für ein gemeinsames Projekt von ECSA/ETF zur Erfassung von Berufslaufbahnen in der Schifffahrt 2004.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/48


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Entwurf einer Entscheidung der Kommission über die Anwendung von Artikel 86 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen, die bestimmten Unternehmen als Ausgleich für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse gewährt werden“ und dem „Entwurf einer Richtlinie der Kommission zur Änderung der Richtlinie 80/723/EWG über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen“

(2005/C 157/06)

Die Kommission beschloss am 19. März 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnten Vorlagen zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 5. Oktober 2004 an (Berichterstatter: Herr HERNÁNDEZ BATALLER — Mitberichterstatter: Herr BURANI).

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 140 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Gemäß Artikel 3 Buchstabe g) des EG-Vertrags umfasst die Tätigkeit der Gemeinschaft auch „ein System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts vor Verfälschungen schützt“. Eine wirksame Kontrolle, um zu verhindern, dass von den Mitgliedstaaten gewährte Beihilfen den Wettbewerb verfälschen, stellt ein wesentliches Element dieser Vorschriften dar.

1.2

Die Notwendigkeit einer Kontrolle staatlicher Beihilfen wurde wiederholt auf den Tagungen des Europäischen Rates unterstrichen. Der Europäische Rat von Stockholm stellte in seinen Schlussfolgerungen am 24. März 2001 Folgendes fest: „Es ist notwendig, den Umfang der staatlichen Beihilfen in der Europäischen Union zu verringern und das System transparenter zu gestalten .... Im Hinblick darauf sollten die Mitgliedstaaten bis 2003 für einen Abwärtstrend der staatlichen Beihilfen im Verhältnis zum BIP sorgen, wobei der Notwendigkeit Rechnung zu tragen ist, die Beihilfen auf horizontale Ziele von gemeinsamem Interesse, einschließlich der Kohäsionsziele, umzulenken.“

1.3

Die Kommission schlägt eine Regelung der staatlichen Beihilfen vor, die bestimmten Unternehmen als Ausgleich für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse gewährt werden. Diese Regelung erfolgt in Form einer Entscheidung und eines Ad-hoc-Gemeinschaftsrahmens sowie durch Änderung der Richtlinie 80/723/EWG über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen (1).

1.4

Ziel des Entwurfs ist es, auf Ausgleichszahlungen, welche die Mitgliedstaaten für bestimmte Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse durch vollständige oder teilweise Übernahme der besonderen Kosten der Gemeinwohlverpflichtungen gewähren, die Vorschriften des EG-Vertrags und insbesondere die gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln anzuwenden.

1.4.1

In dem Entwurf wird jedoch zwischen verschiedenen Kategorien von Ausgleichszahlungen unterschieden und damit der Anwendungsbereich der Vorschrift eingeschränkt. So werden in den neuen Bestimmungen zum Beispiel jene Ausgleichszahlungen ausgenommen, welche die vier Voraussetzungen erfüllen, die der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in seinen Urteilen ALTMARK (2) und ENIRISORSE (3) aufgestellt hat. Die Voraussetzungen sind: Das begünstigte Unternehmen muss tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut sein, und diese Verpflichtungen müssen klar definiert sein. Die Parameter, anhand deren der Ausgleich berechnet wird, sind zuvor objektiv und transparent aufzustellen. Der Ausgleich darf nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und einer angemessenen Rendite aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen ganz oder teilweise zu decken. Wenn die Wahl des Unternehmens, das mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut werden soll, im konkreten Fall nicht im Rahmen eines optimalen Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt, so ist die Höhe des erforderlichen Ausgleichs auf der Grundlage einer Analyse der Kosten zu bestimmen, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen bei der Erfüllung der betreffenden Verpflichtungen hätte, das entsprechend den Anforderungen angemessen ausgestattet ist und einen angemessenen Gewinn erzielt. Für den Gerichtshof fallen diese Ausgleichszahlungen nicht unter die Bestimmungen im Vertrag enthaltenen über „staatliche Beihilfen“.

1.4.2

Ausgenommen sind weiterhin die in der Verordnung (EG) Nr. 69/2001 der Kommission vom 12. Januar 2001 (4) vorgesehenen De-minimis-Beihilfen und staatliche Beihilfen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (5).

1.4.3

Ebenso sind gemäß den Bestimmungen von Artikel 73 EG-Vertrag und den Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 (6) und 1107/70 (7) des Rates bestimmte Beihilfen für den Landverkehr, namentlich den Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr von dem Entwurf ausgenommen, insbesondere wenn es sich um Unternehmen handelt, die ausschließlich Beförderungsdienste im Stadt-, Nah- oder Regionalverkehr erbringen.

1.4.4

Schließlich erachtet es die Kommission selbst in Anbetracht der besonderen Ziele der gemeinsamen Verkehrspolitik für angezeigt, die Ausgleichszahlungen für gemeinwirtschaftliche Dienste im Bereich des Luft- und Seeverkehrs (8) aus dem Anwendungsbereich dieser Entscheidung auszuschließen, was allerdings für den Seeverkehr dann nicht gilt, wenn die gemeinwirtschaftliche Dienstleistung die Bedienung von Inseln mit einem Verkehrsaufkommen von unter 100.000 Fahrgästen pro Jahr betrifft.

1.4.5

Damit erstreckt sich der Anwendungsbereich des vorliegenden Entwurfs gemäß Artikel 1 der Entscheidung auf die genannten Seeverkehrsdienste für die Bedienung von Inseln sowie auf alle Ausgleichszahlungen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, welche staatliche Beihilfen an Unternehmen darstellen, die in einem vom EG-Vertrag erfassten Wirtschaftssektor tätig sind, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind:

1)

Der Jahresumsatz vor Steuern in den beiden der Übernahme einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse vorausgehenden Rechnungsjahren liegt insgesamt unter „einem Schwellenwert von (...)“ (9) und die jährliche Höhe der Ausgleichszahlungen liegt ebenfalls unter „einem Schwellenwert von (...)“ (10). Bei Kreditanstalten entspricht dem Schwellenwert von (…) eine Bilanzsumme von (…);

2)

Beihilfen an Krankenhäuser, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbringen;

3)

Beihilfen an Unternehmen, die für Sozialwohnungen zuständig sind und mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind.

1.4.6

Die Vereinbarkeit staatlicher Beihilfen mit dem Vertrag im Sinne von Artikel 86 Absatz 2 EG-Vertrag bleibt von der Anwendung der Entscheidung auf diese Bereiche unberührt, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. So schlägt die Kommission vor, hier zwischen Beihilfen, die auf Grund ihres hohen Betrags zu beträchtlichen Wettbewerbsverfälschungen führen können, und solchen, deren Höhe eher bescheiden ausfällt, zu unterscheiden.

1.4.7

Der Entwurf macht die Forderung nach mehr Transparenz in den finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und unter Unternehmen des öffentlichen Sektors bzw. mit der Erfüllung von Gemeinwohlverpflichtungen betrauten Unternehmen noch eindringlicher und sieht eine Änderung der derzeit geltenden Richtlinie 80/723/EWG mit einer neuen Definition der „Unternehmen, die verpflichtet sind, getrennte Bücher zu führen“ vor. Danach müssen Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbringen und außerdem noch andere Tätigkeiten ausüben, unabhängig von der rechtlichen Einstufung der Ausgleichszahlungen für gemeinwirtschaftliche Dienste getrennte Bücher führen.

1.4.8

Bereits bestehende strengere sektorspezifische EG-Rechtsvorschriften in Bezug auf die Erfüllung von Gemeinwohlverpflichtungen sowie die für das öffentliche Auftragswesen geltenden Gemeinschaftsvorschriften bleiben von dem vorliegenden Entwurf unberührt.

1.4.9

Der Anwendungsbereich des Entwurfs wird auf Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse im Sinne von Artikel 86 Absatz 2 EG-Vertrag beschränkt, wobei allerdings im Entwurf selbst nicht definiert wird, was darunter zu verstehen ist.

1.4.10

Andere Bestimmungen des Entwurfs sind konkreter gehalten, so zum Beispiel die über die Vereinbarkeit und Freistellung von der Anmeldungspflicht, über die Voraussetzungen für die Übertragung öffentlicher Aufträge und über die Berechnung der Ausgleichszahlung

1.4.11

In Artikel 2 des Entwurfs einer Entscheidung ist festgelegt, dass Ausgleichszahlungen für öffentliche Dienstleistungen, welche die in dieser Entscheidung festgelegten Voraussetzungen erfüllen, mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar und von der Notifizierungspflicht gemäß Artikel 88 Absatz 3 EG-Vertrag freigestellt sind.

1.4.12

Gemäß Artikel 4 des Entwurfs einer Entscheidung müssen die öffentlichen Versorgungsaufträge im Wege eines öffentlichen Rechtsaktes (Gesetz(e), Verordnung(en), Vertrag) übertragen werden, wobei aus dem Rechtsakt die genaue Art der Gemeinwohlverpflichtungen, die betreffenden Unternehmen und der geografische Geltungsbereich hervorgehen müssen.

1.4.13

Der zuletzt genannte Aspekt wird in Artikel 5 der Entscheidung sowie Punkt 12 bis 23 des entsprechenden Gemeinschaftsrahmens eingehend behandelt. Vorgesehen ist im Grunde, dass die Ausgleichszahlung nicht über das hinausgehen darf, was erforderlich ist, um die durch die Erfüllung der Gemeinwohlverpflichtung verursachten Kosten unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und einer angemessenen Rendite aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen abzudecken.

1.4.14

Die für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse veranschlagten Kosten können dabei sämtliche mit ihrer Erbringung verbundenen variablen Kosten, einen angemessenen Beitrag zu den Fixkosten und eine angemessene Rendite aus den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zugeordneten Eigenmitteln abdecken (11). Die mit anderen Tätigkeiten als den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse verbundenen Kosten dürfen auf keinen Fall den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zugeordnet werden. Die Berechnung der Kosten muss grundsätzlich „im Einklang mit allgemeinen Prinzipien der Buchführung vorgenommen werden“.

1.4.15

Auf der Einnahmenseite sind mindestens sämtliche mit der Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erwirtschafteten Erträge zu berücksichtigen. Unter angemessener Rendite wird hier ein angemessener Kapitalertrag unter Berücksichtigung des von dem Unternehmen aufgrund des staatlichen Eingreifens eingegangenen Risikos bzw. unter Berücksichtigung des fehlenden Risikos verstanden (12).

1.4.16

Die Mitgliedstaaten müssen also regelmäßig kontrollieren, dass keine überhöhten Ausgleichszahlungen vorliegen, d.h. keine Ausgleichszahlungen, die nicht für das Funktionieren der Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse notwendig sind, da diese mit dem Binnenmarkt ja nicht vereinbar sind. Übersteigt jedoch der Betrag der überhöhten Ausgleichszahlung zehn Prozent des im gesamten Jahr gezahlten Ausgleichs nicht, kann er auch im darauffolgenden Jahr verrechnet werden. Aufgrund der von Jahr zu Jahr schwankenden Kosten bestimmter Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse kann für deren Funktionieren sogar eine Ausgleichszahlung von über zehn Prozent notwendig sein; in diesem Falle muss der Mitgliedstaat regelmäßig eine sektorspezifische Bilanz erstellen, die maximal drei Jahre umfassen darf; die überhöhte Ausgleichszahlung muss nach diesem Zeitraum zurückgezahlt werden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Mit dem vorliegenden Entwurf erfüllt die Kommission ihre Verpflichtung gegenüber dem Europäischen Rat von Laeken (Dezember 2001), die Rechtssicherheit im Bereich der Ausgleichszahlungen für öffentliche Dienstleistungen zu erhöhen und dazu konkrete gemeinschaftliche Rahmenbestimmungen über staatliche Beihilfen an Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, zu erlassen (13).

2.2

Im Hinblick auf die geltenden Vorschriften über die Finanzierung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse besteht durchaus eine gewisse Rechtsunsicherheit, insbesondere was die Anwendung dieser Vorschriften auf staatliche Beihilfen anbelangt. Zwar hat der Gerichtshof — wie bereits erwähnt — mit seiner Rechtsprechung (Urteile in den Rechtssachen ALTMARK und ENIRISORSE) eine Reihe von zu erfüllenden rechtlichen Kriterien aufgestellt.

2.3

Es bedarf jedoch noch einer weiteren Präzisierung dieser Kriterien, insbesondere der Verfahren zur Berechnung der Kosten (Transparenz, Parameter) und der Art der allgemeinen wirtschaftlichen Verpflichtungen, für die Ausgleichszahlungen gewährt werden können (14).

2.4

In diesem Sinne kommt der Vorschlag insbesondere den Unternehmen gelegen, da ja solange der fragliche Rechtsrahmen nicht in Kraft ist, jede öffentliche Beihilfe, die Unternehmen als Erbringer einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erhalten und die der Kommission nicht gemeldet wurde, unabhängig von ihrer Höhe als illegal gelten kann.

2.5

Diese Beihilfen wären also nicht gegen Klagen vor den ordentlichen Gerichten der Mitgliedstaaten gefeit, mit denen ihre Rechtmäßigkeit angefochten wird.

2.6

Zumal es mit der Finanzierung und der Zuweisung von Märkten gerade zwei Bereiche gibt, in denen die Befugnisse der Mitgliedstaaten, Aufträge für öffentliche Dienstleistungen zu definieren und zu erstellen, regelmäßig mit bestimmten Grundregeln des Gemeinschaftsrechts in Konflikt geraten.

2.7

So verfügen die Mitgliedstaaten über einen großen Ermessensspielraum bei der Entscheidungsfindung darüber, ob und wie die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse finanziert werden soll. Sieht man von der Tatsache ab, dass sie ihre gesellschaftlichen Aufgaben erfüllen und den Grundsatz der Subsidiarität beachten müssen, der ja eine verfassungsrechtlich verankerte und sowohl für die Europäische Union als auch für die Mitgliedstaaten verbindliche Rechtsnorm darstellt, die allerdings nicht zur Infragestellung des gemeinschaftlichen Besitzstandes führen darf, wird dieser Ermessensspielraum mangels harmonisierter Gemeinschaftsvorschriften im Wesentlichen nur durch das EU-Wettbewerbsrecht eingeschränkt (15).

2.8

Die Kommission sollte prüfen, wie die Gründe für die von ihr vorgeschlagenen Rechtsakte (Rechtsgrundlage, Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit) und für ein Tätigwerden auf Gemeinschaftsebene (Subsidiaritätskriterien, qualitative und/oder quantitative Indikatoren) im Sinne beispielhafter Verwaltungspraktiken und des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit klar und deutlich dargelegt werden können.

2.9

Aus diesen und anderen Gründen ist der Entwurf der Kommission zu begrüßen. Er dient im Wesentlichen den Behörden der Mitgliedstaaten als Anleitung bei der Erfüllung grundlegender Verpflichtungen wie der Anwendung transparenter Vergabeverfahren für öffentliche Aufträge und Wachsamkeit im Hinblick auf mögliche schädliche Auswirkungen des freien Wettbewerbs aufgrund einer ineffizienten Erfüllung der mit den öffentlichen Dienstleistungen betrauten Unternehmen (16).

2.10

Der EWSA spricht sich für eine legislative Initiative zur Ausdehnung der vom Gerichtshof aufgestellten Kriterien aus, um Ausgleichszahlungen für Gemeinwohlverpflichtungen von den Bestimmungen des Vertrags über staatliche Beihilfen auszunehmen.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1

Nichtsdestotrotz gibt es eine Reihe von formellen und Sachfragen, die sich angesichts des vorliegenden Entwurfs stellen.

3.2

Die drei Hauptziele des Entwurfs lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. staatliche Beihilfen „in relativ geringer Höhe“ an Unternehmen, die mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, sollen grundsätzlich als mit dem Binnenmarkt vereinbar gelten; 2. in Bezug auf die Ausgleichszahlungen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, deren Betrag über diese Höhe hinausgeht, soll die Rechtssicherheit durch gemeinschaftliche Rahmenbestimmungen erhöht werden, in denen die Kriterien zur Bewertung der Ausgleichszahlungen festgelegt sind; 3. die Kriterien, anhand derer festgestellt wird, ob Ausgleichszahlungen als staatliche Beihilfen anzusehen sind, sollen systematisch aufgeführt werden.

3.3

Nach Ansicht des EWSA sollten die Bestimmungen des Entwurfs auf alle klar definierten, regelmäßigen Ausgleichszahlungen für Gemeinwohlverpflichtungen ausgedehnt werden, soweit diese den jeweils entstandenen Mehrkosten entsprechen, diese aber nicht übersteigen, wobei das begünstigte Unternehmen getrennte Bücher führen muss. Dies alles gilt vorbehaltlich der nachträglichen Kontroll- und Sanktionsbefugnis der Kommission und des Gerichtshofs.

3.4

Jedoch wird der Anwendungsbereich des Entwurfs nicht klar abgegrenzt und, insbesondere im Fall der Entscheidung, durch recht heterogene Kriterien beschrieben, die entweder bestimmte Sachverhalte oder Branchenteilbereiche ausnehmen (vgl. Ziffer 1.4.2 und 1.4.4) oder diese allgemein durch eher quantitative als qualitative Kriterien definieren (vgl. Ziffer 1.4.5).

3.5

Ähnliches gilt für die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen in einigen Bestimmungen des Entwurfs, so z.B. die, dass die Berechnung der der öffentlichen Dienstleistung zuzuordnenden Kosten „im Einklang mit allgemeinen Prinzipien der Buchführung“ vorgenommen werden muss. Oder auch der Verweis auf „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse im Sinne von Artikel 86 Absatz 2 EG-Vertrag“ bei der Definition des Anwendungsbereichs der Entscheidung. Bekanntlich sind derartige Dienstleistungen weder in den Verträgen noch im abgeleiteten Gemeinschaftsrecht definiert.

3.6

Nach Auffassung des EWSA sollte die gesamte Inselkabotage in gleicher Weise wie die anderen Verkehrsträger aus dem Anwendungsbereich ausgeschlossen werden, es sei denn, die Kommission begründet in geeigneter Weise ihre Einbeziehung in den Entwurf.

3.7

In diesem Sinne kann aufgrund der ausgesprochen technisch-instrumentellen Natur der Ziele des Entwurfs von der Kommission verlangt werden, dass sie den Begriff der Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse stärker gegenüber anderen Definitionen, die in den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten vorherrschen, wie zum Beispiel dem Konzept der öffentlichen Dienstleistung und der Dienstleistung von allgemeinem Interesse, abgegrenzt (17). Folgt man dem, was die Kommission derzeit noch unter Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse versteht, dann fielen gesellschaftlich äußerst nützliche Tätigkeiten wie die Finanzierung von Forschung zur Verbesserung des Gesundheits- und Verbraucherschutzes nicht darunter (18).

3.8

In diesem Sinne ist hervorzuheben, dass die Begriffe Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse durchaus auf supranationaler Ebene rechtlich geklärt werden sollten, der Begriff der Sozialdienstleistungen hingegen aus mindestens zwei Gründen keiner derartigen gemeinschaftsrechtlichen Definition bedarf. Sozialdienstleistungen sind nämlich erstens nur dann gemeinschaftsrechtlich relevant, wenn sie mit einem wirtschaftlichen Gewinn für den Dienstleister verbunden sind, und zweitens fallen sie dann zwangsläufig unter eine der beiden obengenannten Kategorien.

3.9

Obendrein wird in dem Entwurf keine Bestimmung einiger Finanzierungsformen von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse vorgenommen. Dies gilt zum Beispiel für die Finanzierung nach dem Solidarprinzip — angesichts des problematischen Zugangs zu bestimmten nationalen Märkten (zum Beispiel zum Versicherungsmarkt) — oder für die Festlegung von Evaluierungskriterien für bewährte Praktiken auf Gemeinschaftsebene, die unter anderem den Vorteil hätte, dass die Legalität des sogenannten „Absahnens“ (cream skimming) geklärt würde (19).

3.10

Im Entwurf wird hinsichtlich der Einhaltung der grundlegenden Rahmenvorschriften nicht nach Sektoren differenziert und die Reaktion der Dienstleister nicht berücksichtigt; für alle gelten die gleichen Kriterien.

3.11

Dabei werden nach einem falschen Gleichbehandlungsprinzip Sachverhalte, die durchaus unterschiedlich sind, gleichgestellt. Die Trinkwasserversorgung und die Abwasser- und Müllentsorgung wären der Strom- oder Gasversorgung gleichgestellt. Das heißt, Sektoren, die nicht unter den gleichen Bedingungen funktionieren (zum Beispiel in Bezug auf den Umweltschutz, Infrastrukturen usw.) und die auch nicht auf vergleichbaren Märkten arbeiten. Erstere sind nämlich kommunale oder regionale Dienstleistungen, während letztere auf nationaler, grenzüberschreitender oder internationaler Ebene funktionieren. Ihre Gleichstellung im Hinblick auf supranationale Finanzierungsvorschriften ist daher unangebracht.

3.12

Auch sind die einzelnen Sektoren für die Erbringer von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nicht in gleicher Weise attraktiv. Für die Erbringung einiger Dienstleistungen sind bestimmte Infrastrukturen und Ausrüstungen erforderlich, was natürlich höhere Kosten mit sich bringt und angesichts fehlender Rentabilität auf kurze und mittlere Sicht sogar auf Ablehnung bei privaten Anlegern stößt.

3.13

Weiterhin macht der Entwurf, dessen Rechtsgrundlage Artikel 86 Absatz 3 des EG-Vertrags ist, die Widersprüchlichkeit der Verträge deutlich, da die Regeln des Wettbewerbsrechts Dienstleistungen von allgemeinem öffentlichen Interesse als Ausnahmen nach Artikel 86 Absatz 2 EG-Vertrag auslegen, während diese in Artikel 16 EG-Vertrag und in Artikel 36 in der Grundrechtecharta ausdrücklich festgeschrieben werden. Diese Sichtweise relativiert den materiellrechtlichen Wert der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interessen sowohl im politischen Handeln der EU — sozialer und territorialer Zusammenhalt — als auch bei der Gewährleistung von Grundrechten der Bürger wie zum Beispiel der Freizügigkeit.

3.14

Die Probleme, die der Entwurf aufwirft, betreffen somit den eigentlichen Kern des von der Kommission verwendeten Rechtsetzungsinstruments, zumindest in Bezug auf die Fragen seiner Zweckbestimmtheit und der Wirksamkeit der Vorschriften. In Bezug auf die erste Frage erinnert das Rechtsetzungsinstrument an die allseits bekannten und im gemeinschaftlichen Wettbewerbsrecht im Binnenmarkt häufig verwendeten Gruppenfreistellungsverordnungen. Durch die Einbeziehung unterschiedlichster Sachverhalte läuft man Gefahr, eine verdeckte Harmonisierung vorzunehmen, die versucht, die vielschichtige Realität der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse im Wege einer Verordnung ein für allemal zu regeln, obgleich ein differenzierteres und tiefgründigeres Herangehen aus juristischer Sicht erforderlich ist.

3.15

Im Zusammenhang mit dieser Bemerkung ist zur zweiten Frage der Wirksamkeit der Vorschriften Folgendes anzumerken. Da kein Vorentwurf für die seit langem vom EWSA geforderte (20) Rahmenrichtlinie vorlag, welche die Ziele und Prinzipien der Vorschriften über Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse konsolidiert und die in den Verträgen und den sektorspezifischen Richtlinien verwendeten Begriffe sowie die Bedingungen für ein Tätigwerden der einzelnen Dienstleister (21) präzisiert, kann der vorliegende Entwurf allein nicht das Maß an Rechtssicherheit garantieren, das in diesem Bereich des Binnenmarkts erforderlich ist.

3.16

Ohne das genannte juristische Grundgerüst sind zahllose Anwendungs- und Auslegungskonflikte mit der daraus folgenden Überlastung der zuständigen Rechtspflegeorgane vorprogrammiert. Die Umsetzung des Entwurfs könnte nämlich zur Verletzung des Subsidiaritätsprinzips führen, das ja im derzeitigen Integrationskontext stärker als je zuvor verteidigt wird, wovon u.a. der Artikel I-9 und das „Ad-hoc“-Protokoll zu dem vom Europäischen Konvent erstellten Entwurf der Verfassung für Europa zeugen.

3.17

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Aufgabe zur Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts nicht durch die Umsetzung dieser Rahmenbestimmungen behindert werden darf. Beihilfen, die zur wirtschaftlichen Entwicklung von Regionen mit einem ausgesprochen niedrigen Lebensniveau oder einer äußerst schlechten Beschäftigungslage oder zur Förderung bestimmter Gewerbe oder wirtschaftlicher Gebiete gewährt werden, sind beizubehalten, sie müssen allerdings auch den Bestimmungen des Vertrags entsprechen und auf die Kohäsionsziele neu ausgerichtet werden.

3.18

Möglichweise bedarf es eines neuen Konzepts für staatliche Beihilfen in der Gemeinschaftspolitik, denn ein Tätigwerden der Kommission gegenüber den regionalen und kommunalen Behörden, das ja im Rahmen direkter Beziehungen und der jeweils eingeleiteten Verfahren wegen Gewährung von Beihilfen durch diese Behörden erfolgen sollte, könnte immer schwieriger und komplizierter werden.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Entwurf einer Richtlinie zur Änderung der Richtlinie 2000/52/EG (ABl. L 193 vom 29.7.2000, S. 75).

(2)  Urteil vom 24. Juli 2003 in der Rechtssache C-280/00, noch nicht in der Sammlung veröffentlicht.

(3)  Urteil vom 27. November 2003 in den verbundenen Rechtssachen C-34/01 bis C-38/01, noch nicht in der Sammlung veröffentlicht.

(4)  ABl. L 10 vom 13.1.2001, S. 15. Es handelt sich um finanzielle Unterstützungen, die in einem Zeitraum von drei Jahren 100.000 EUR pro Unternehmen nicht übersteigen. Die Verordnung gilt allerdings weder für den Verkehrssektor noch für Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Verarbeitung oder Vermarktung der in Anhang I des Vertrages aufgeführten Erzeugnisse.

(5)  Konkret handelt es sich um die Dienste, die in Punkt 49 bis 56 der im Amtsblatt C 320 vom 15.11.2001 veröffentlichten Mitteilung der Kommission genannt werden.

(6)  ABl. L 156 vom 28.6.1969, zuletzt geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 1893/91 (ABl. L 169 vom 29.6.1991, S. 1).

(7)  ABl. L 130 vom 15.6.1970, zuletzt geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 543/97 (ABl. L 84 vom 26.3.1997, S. 6).

(8)  Erinnert sei jedoch an die für diese Verkehrssektoren geltenden Regeln, die in der Verordnung (EWG) Nr. 2408/92 des Rates vom 23. Juli 1992 (ABl. L 240 vom 24.8.1992, S. 8) über den Zugang von Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft zu Strecken des innergemeinschaftlichen Flugverkehrs, zuletzt geändert durch Verordnung (EWG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 284 vom 31.10.2003, S. 1), und der Verordnung (EWG) Nr. 3577/92 vom 7. Dezember 1992 (ABl. L 364 vom 12.12.1992, S. 7) über Seekabotage festgelegt sind.

(9)  Die endgültigen Schwellenwerte werden jeweils auf der Grundlage der Ergebnisse der Konsultationen festgelegt, welche die Kommission im Zusammenhang mit diesem Entwurf aufgenommen hat.

(10)  Für die Ermittlung des letztgenannten Schwellenwerts kann der Jahresdurchschnitt in Form des Gegenwartswerts der während der Laufzeit des Vertrages oder ersatzweise während eines Zeitraumes von fünf Jahren gewährten Ausgleichszahlungen herangezogen werden.

(11)  Siehe Urteil des Gerichtshofes vom 3. Juli 2003 in der Rechtssache CHRONOPOST, verbundene Rechtssachen C-83/01P, C-93/01P und C-94/01P, noch nicht in der Sammlung veröffentlicht.

(12)  Gemäß Artikel 5 Absatz 4 der Entscheidung muss bei der Bestimmung der angemessenen Rendite insbesondere berücksichtigt werden, ob ausschließliche oder besondere Rechte gewährt wurden, wobei die Mitgliedstaaten außerdem bestimmte Anreize bieten dürfen, die an die Qualität der zu erbringenden Dienstleistung anknüpfen.

(13)  KOM(2001) 598 endg.

(14)  EG-Kommission: Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen: „Bericht über die öffentliche Konsultation zum Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, Brüssel, 29.3.2004, SEK(2004) 326, S. 27-28.

(15)  Die Mitgliedstaaten greifen dabei auf unterschiedliche Finanzierungsmechanismen zurück wie finanzielle Direkthilfen aus dem Staatshaushalt, besondere oder ausschließliche Rechte, Beiträge von Marktteilnehmern, Gebührenvereinheitlichung und Finanzierung nach dem Solidarprinzip; vgl. EG-Kommission, KOM(2004) 374, S. 13.

(16)  Siehe in diesem Sinne: Europäisches Parlament: Bericht über das Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, Brüssel, 17.12.2003, ABl. A5-0484/2003 endg., PE 323.188, S. 11-13. Ebenso Ausschuss der Regionen, „Stellungnahme über das Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, ABl. C 73 vom 23.3.2004, S. 7, insbesondere S. 10-11.

(17)  Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat sich wiederholt mit dieser Frage beschäftigt, zuletzt in der Stellungnahme zu dem „Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ vom 11. Dezember 2003, ABl. C 80 vom 30.3.2004, S. 66.

(18)  Siehe Anhang 1 („Begriffsbestimmungen“) zum „Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, KOM(2004) 374 endg., Zitat S. 23.

(19)  Insbesondere in liberalisierten Sektoren würde der Tarifausgleich und die Querfinanzierung zwischen rentablen und defizitären Dienstleistungen in Frage gestellt.

(20)  ABl. C 241 vom 7.10.2002, Ziffer 4.4.

(21)  Siehe Ziffer 3.1 bis 3.5 der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 11. Dezember 2003; oben zitiert.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/53


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Befähigungszeugnissen der Mitgliedstaaten für Seeleute und zur Änderung der Richtlinie 2001/25/EG“

(KOM(2004) 311 endg. — 2004/0098 (COD))

(2005/C 157/07)

Der Rat beschloss am 6. Mai 2004 gemäß Artikel 80 Absatz 2 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen. „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Befähigungszeugnissen der Mitgliedstaaten für Seeleute und zur Änderung der Richtlinie 2001/25/EG“ KOM(2004) 311 endg. — 2004/0098 (COD).

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. November 2004 an. Berichterstatter war Herr Chagas.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 140 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Hintergrund

1.1

Am 26. April 2004 legte die Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie über die Anerkennung von Befähigungszeugnissen der Mitgliedstaaten für Seeleute und zur Änderung der Richtlinie 2001/25/EG (1) vor, um ein vereinfachtes Verfahren zur Anerkennung von Befähigungszeugnissen der Mitgliedstaaten einzuführen.

1.2

Die Anforderungen in Bezug auf die Ausbildung, die Erteilung von Befähigungszeugnissen und den Wachdienst von Seeleuten sind im Internationalen Übereinkommen von 1978 über Normen für die Ausbildung, die Erteilung von Befähigungszeugnissen und den Wachdienst von Seeleuten (STCW 78) in seiner geänderten Fassung verankert. Das Übereinkommen legt unter anderem spezifische Kriterien für die Anerkennung von Befähigungszeugnissen von Seeleuten fest, die die Vertragsparteien Kapitänen, Offizieren und Funkern erteilen.

1.3

Diese internationalen Anforderungen wurden durch die Richtlinie 2001/25/EG (2) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2003/103/EG (3) über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten in Gemeinschaftsrecht umgesetzt. Die Mitgliedstaaten sind also verpflichtet, den Seeleuten Befähigungszeugnisse zu erteilen, die diesen Normen entsprechen.

1.4

Hinsichtlich der Anerkennung von Befähigungszeugnissen zwischen Mitgliedstaaten sieht die Richtlinie 2001/25/EG vor, dass für die Anerkennung von Befähigungszeugnissen von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats oder Staatsangehörigen eines Drittlands die Bestimmungen der Richtlinie 89/48/EWG (4) und der Richtlinie 92/51/EWG (5) über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise gelten. Die allgemeine Regelung legt ein Verfahren für die Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise von Seeleuten fest, das einen Vergleich der erworbenen Ausbildung und der entsprechenden Qualifikationen umfasst. Sollten wesentliche Unterschiede bestehen, sind für die betroffenen Seeleute unter Umständen spezielle Anpassungsmaßnahmen erforderlich. Paradoxerweise ist derzeit innerhalb der Europäischen Union die gegenseitige Anerkennung von Befähigungszeugnissen zwischen den Mitgliedstaaten schwieriger zu bewerkstelligen als die Anerkennung der von Drittländern erteilten Zeugnisse.

1.5

Die Kommission schlägt vor, dass die Mitgliedstaaten alle von einem anderen Mitgliedstaat entsprechend der Richtlinie erteilten Befähigungszeugnisse von Seeleuten ohne Weiteres anerkennen. Durch die vorgeschlagene Maßnahme soll vor allem sichergestellt werden, dass die Seeleute, die ihre Qualifikation in einem Mitgliedstaat erworben haben und Inhaber solcher Befähigungszeugnisse sind, keine weiteren Voraussetzungen erfüllen müssen, um an Bord von Schiffen Dienst tun zu können, die die Flagge eines Mitgliedstaats führen.

1.6

Darüber hinaus hält es die Kommission für angemessen, die Anforderungen des STCW-Übereinkommens in Bezug auf Sprachkenntnisse von Seeleuten in das Gemeinschaftsrecht aufzunehmen. Solche Anforderungen würden die effiziente Kommunikation an Bord ermöglichen und die Freizügigkeit der Berufstätigen in der Seefahrt erleichtern.

1.7

Der Vorschlag der Kommission zur Änderung der Richtlinie 2001/25/EG sieht zusätzlich vor,

dass die Mitgliedstaaten gezielte Maßnahmen annehmen müssen, um betrügerische Praktiken im Zusammenhang mit Befähigungszeugnissen von Seeleuten zu verhindern und zu bestrafen, und

die Einhaltung der Richtlinie 2001/25/EG durch die Mitgliedstaaten regelmäßig überprüft wird.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Der Ausschuss anerkennt die Notwendigkeit, ein vereinfachtes Verfahren zur Anerkennung von innerhalb der Union entsprechend den Mindestanforderungen der Richtlinie 2001/25/EG in ihrer geänderten Fassung erteilten Befähigungszeugnissen von Seeleuten durch alle Mitgliedstaaten einzuführen.

2.2

Der Ausschuss anerkennt außerdem die Notwendigkeit, dass auch weiterhin die uneingeschränkte Einhaltung der geltenden Anforderungen sichergestellt sein muss, um internationalen Verpflichtungen nachzukommen.

2.3

Der Ausschuss hält fest, dass der Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 5. Juni 2003 unterstrichen hat, dass die berufliche Mobilität von Seeleuten in der Europäischen Union gefördert werden muss (6).

2.4

Der Ausschuss merkt ferner an, dass die derzeitige allgemeine Regelung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise etwas schwerfällig ist und die Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des STCW-Übereinkommens auf die gemeinschaftsinterne gegenseitige Anerkennung von Befähigungszeugnissen ausschließt.

2.5

Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass das unlängst für die Anerkennung von außerhalb der Union erteilten Befähigungszeugnissen eingeführte Verfahren einfacher ist und daher Seeleute, die ihr Befähigungszeugnis in einem Mitgliedstaat erworben haben, benachteiligt sein könnten. Dieser möglichen Benachteiligung dürften die vorgeschlagenen Änderungen, die im Einklang mit internationalen Vorschriften stehen, vorbeugen.

2.6

Darüber hinaus unterstreicht der Ausschuss, dass einige Mitgliedstaaten ihren Staatsangehörigen die Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers der Handelsschiffe unter ihrer Flagge vorbehalten, was auch vom Europäischen Gerichtshof in den Fällen C-47/02 und C-405/01 bestätigt wurde; dies untermauert den Eindruck, dass Mitgliedstaaten die Freizügigkeit von Seeleuten aktiv behindern könnten und somit ihren eigenen Staatsangehörigen bestimmte Stellen vorbehalten. Die Niederlande und das Vereinigte Königreich sind diejenigen Mitgliedstaaten, die die liberalste Politik in Bezug auf die Einstellung von Nicht-Staatsangehörigen verfolgen.

2.7

Der Ausschuss begrüßt die Einführung einer gemeinsamen Arbeitssprache, in der sich alle Schiffsleute untereinander verständigen können müssen. Dies ist insbesondere in Notfällen und zur Verbesserung der sozialen Bedingungen an Bord von Bedeutung.

2.8

Der Ausschuss begrüßt, dass die Kommission besonderes Augenmerk auf die in einer unlängst von der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation in Auftrag gegebene Studie (7) aufgezeigte Verbreitung betrügerischer Praktiken im Zusammenhang mit Befähigungszeugnissen legt, und fordert alle Mitgliedstaaten auf, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um betrügerischen Praktiken im Rahmen des Zeugniserwerbs, der Zeugniserteilung oder der Fälschung von Befähigungszeugnissen für Seeleute vorzubeugen.

2.9

Der Ausschuss stimmt zwar der Notwendigkeit zu, ein effizienteres und weniger bürokratisches System zur gegenseitigen Anerkennung von Befähigungszeugnissen zwischen den Mitgliedstaaten zu schaffen, vertritt jedoch die Auffassung, dass weiterhin Verfahren erforderlich sind, um betrügerische Praktiken im Zusammenhang mit Befähigungszeugnissen aktiv zu bekämpfen. Die Aufnahmemitgliedstaaten müssen über geeignete Verfahren verfügen, damit ein von einem anderen Mitgliedstaat erteiltes Befähigungszeugnis auf einem Schiff unter Flagge des Aufnahmemitgliedstaats verwendet werden kann.

2.10

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass ein Aufnahmemitgliedstaat von Inhabern von Befähigungszeugnissen nicht nur Mindestanforderungen in Bezug auf die Sprachkenntnisse, sondern auch in Bezug auf die Kenntnis des Schifffahrtsrechts ihres jeweiligen Mitgliedstaates verlangen muss. Aus diesem Grund ist auch die Ausstellung eines „Anerkennungsdokuments“ erforderlich.

2.11

Der Ausschuss teilt die Auffassung, dass der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs bei der Gewährleistung der Kohärenz und Konformität in den Mitgliedstaaten eine wichtige Aufgabe zukommt und dass der Verwaltungsaufwand so gering wie möglich gehalten werden muss. Dies ist von grundlegender Bedeutung, um das hohe berufliche Ansehen der Seeleute sicherzustellen, die über ein von einem der Mitgliedstaaten erteiltes Befähigungszeugnis verfügen.

2.12

Der Ausschuss befürwortet zwar diese wichtige Aufgabe der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs, sieht jedoch auch ihre begrenzte Handlungsfähigkeit. Er weist die Kommission dennoch auf die Notwendigkeit hin, die entsprechenden Finanz-, Human- und technischen Ressourcen bereitzustellen.

2.13

Der Ausschuss weist die Kommission ferner auf mögliche negative Auswirkungen hin, die eine Nichtbegrenzung der Zahl von Seeleuten aus einem Mitgliedstaat haben könnte, die auf einem Schiff unter der Flagge eines anderen Mitgliedstaates ihren Dienst tun. Der Ausschuss ist sich zwar bewusst, dass dies im Einklang mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer steht und unter bestimmten Umständen auch erforderlich ist, hält jedoch fest, dass das Fehlen jedweder Begrenzung der Zahl der erteilten Befähigungszeugnisse die dauerhafte Beschäftigung von Seeleuten in einigen Mitgliedstaaten beeinträchtigen könnte. Letztlich könnte dies sogar negative Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit und das Wachstum des maritimen Know-hows und Personalbestandes in der EU haben.

2.14

Der Ausschuss fordert die Mitgliedstaaten zur Abstimmung mit den Sozialpartnern auf, um ein ausgewogenes Beschäftigungssystem zu entwickeln, mit dem die Nachhaltigkeit und das Wachstum des maritimen Know-hows und Personalbestandes in der EU sichergestellt werden kann.

2.15

Der Ausschuss bringt seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass die Kommission sich zwar bereits mit der Anerkennung von Befähigungszeugnissen von Drittstaatsangehörigen und nun mit der gegenseitigen Anerkennung von Befähigungszeugnissen von EU-Seeleuten befasst hat, zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht darauf abstellt, allgemein anwendbare Sozialschutzvorschriften für alle auf Schiffen unter EU-Flagge beschäftigten Seeleute auszuarbeiten.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1   Artikel 1

Der Ausschuss befürwortet, dass diese Richtlinie Anwendung auf Berufe in der Seefahrt finden soll, die von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates oder eines Drittlands ausgeübt werden, die im Besitz eines durch einen Mitgliedstaat erteilten Befähigungszeugnisses sind. Dieser Anwendungsbereich sollte keinesfalls dahingehend ausgeweitet werden, dass ursprünglich von Drittländern erteilte und dann von einem Mitgliedstaat anerkannte Befähigungszeugnisse einbezogen werden.

3.2   Artikel 3

Zwar sollen gemäß Absatz 2 alle Seeleute, die Inhaber eines entsprechenden Zeugnisses oder jedes anderen Befähigungszeugnisses gemäß Absatz 1 sind, an Bord von Schiffen Dienst tun können, die unter der Flagge eines anderen Mitgliedstaates fahren, doch sollte dies nur nach Ausstellung eines formellen Anerkennungsdokuments möglich sein. Ein derartiges Dokument ist erforderlich, um betrügerischen Praktiken im Zusammenhang mit Befähigungszeugnissen vorzubeugen und die Sprachkenntnisse sowie die Kenntnis des Schifffahrtsrechts des Aufnahmemitgliedstaates zu bezeugen.

3.3   Artikel 4

Der Ausschuss begrüßt, dass Seeleute angemessene Sprachkenntnisse erwerben müssen, wie sie in den Abschnitten A-II/1, A-III/1, A-IV/2 und A-II/4 des STCW-Codes festgelegt sind. Dies ist jedoch ziemlich ambivalent, da es für die Mitgliedstaaten schwierig ist, sicherzustellen, dass diese Anforderung erfüllt ist, obliegt doch gemäß dem STCW-Code dem Aufnahmemitgliedstaat die Pflicht, genau diese angemessenen Sprachkenntnisse der Seeleute sicherzustellen. Wenn dies erfüllt ist, kann der Aufnahmemitgliedstaat eine entsprechende Anerkennung erteilen.

3.4   Artikel 5

Der Ausschuss begrüßt die Betrugsbekämpfungsvorkehrungen. Betrügerische Praktiken im Zusammenhang mit Befähigungszeugnissen können nicht nur eine ernste Gefahr für die Sicherheit des menschlichen Lebens auf See darstellen, sondern auch für den Schutz der Meeresumwelt. Darüber hinaus können sie auch dem Ruf der seemännischen Berufe schaden. Die Ausstellung eines entsprechenden Anerkennungsdokuments wäre im Kontext der Betrugsbekämpfungsvorkehrungen im Zusammenhang mit Befähigungszeugnissen sehr hilfreich.

3.5   Artikel 6

Der Ausschuss begrüßt, dass die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs mit dafür Sorge zu tragen hat, dass die Mitgliedstaaten die geeigneten Maßnahmen ergreifen und umsetzen, um betrügerische Praktiken im Zusammenhang mit Befähigungszeugnissen zu verhindern und zu bestrafen.

3.6   Artikel 7

Der Ausschuss begrüßt, dass die Kommission mit Hilfe der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs spätestens alle fünf Jahre überprüft, ob die Mitgliedstaaten die in der Richtlinie 2001/25/EG festgelegten Anforderungen für die Ausbildung und Zeugniserteilung einhalten.

4.   Schlussfolgerung

4.1

Unbeschadet der obigen Bemerkungen anerkennt und begrüßt der Ausschuss den Kommissionsvorschlag.

4.2

Der Ausschuss teilt die Ansicht, dass ein weniger auflagenreiches System zur Anerkennung der von Mitgliedstaaten erteilten Befähigungszeugnisse erforderlich ist. Eine automatische Anerkennung darf jedoch nicht die Notwendigkeit ausklammern, entsprechende Sprachkenntnisse und die Kenntnis des Schifffahrtsrechts des Aufnahmemitgliedstaates sicherzustellen sowie Betrugsbekämpfungsvorkehrungen im Zusammenhang mit Befähigungszeugnissen zu ergreifen. Daher müssen die Aufnahmemitgliedstaaten über entsprechende Verfahren verfügen.

4.3

Der Ausschuss sieht zwar die Zweckmäßigkeit eines effizienten und verlässlichen Systems für die Anerkennung der von den Mitgliedstaaten erteilten Befähigungszeugnisse, hält es jedoch für bedenklich, dass die Kommission weder die künftige Beschäftigung von EU-Bürgern noch die Nachhaltigkeit und das Wachstum des maritimen Know-hows und Personalbestandes in Europa anspricht.

4.4

Der Ausschuss begrüßt die vorgeschlagenen Aufgabenbereiche der Kommission, die mit Unterstützung der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs die Integrität der Verfahren gewährleisten soll, und fordert die Kommission auf, eine angemessene Ressourcenausstattung sowohl auf Ebene der Mitgliedstaaten als auch der Union vorzusehen.

4.5

Der Ausschuss unterschreibt die Bedeutung, die die Kommission der Ausbildung von Seeleuten im Interesse der Sicherheit des menschlichen Lebens auf See und dem Schutz der Meeresumwelt beimisst, sieht jedoch mit Sorge, dass keine zusätzlichen Maßnahmen ergriffen wurden, um sowohl Drittstaatsangehörige als auch EU-Bürger davor zu schützen, auf Schiffen unter Flagge der Mitgliedstaaten ausgebeutet zu werden.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Richtlinie 2001/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten.

(2)  Siehe Fußnote 1.

(3)  Richtlinie 2003/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. November 2003 zur Änderung der Richtlinie 2001/25/EG über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten.

(4)  Richtlinie 89/48/EWG des Rates über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen.

(5)  Richtlinie 92/51/EWG des Rates über eine zweite allgemeine Regelung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise in Ergänzung zur Richtlinie 89/48/EWG.

(6)  Förderung des Seeverkehrs und der seemännischen Berufe innerhalb der Union.

(7)  „A study on fraudulent practices associated with certificates of competency and endorsements“, Seafarers International Research Centre (SIRC), 2001.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/56


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über harmonisierte Binnenschifffahrtsinformationsdienste auf den Binnenwasserstraßen der Gemeinschaft“

(KOM(2004) 392 endg. — 2004/0123 (COD))

(2005/C 157/08)

Der Rat beschloss am 8. Juni 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 71 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. November 2004 an. Berichterstatter war Herr Simons.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 144 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Einführung

1.1

Die Europäische Kommission hat am 25. Mai 2004 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über harmonisierte Binnenschifffahrtsinformationsdienste (RIS) auf den Binnenwasserstraßen der Gemeinschaft vorgelegt. Die Europäische Kommission bezweckt damit die Unterstützung der künftigen Entwicklung der Binnenschifffahrt aufgrund einer Integration und Harmonisierung der bestehenden nationalen Telematikdienste, die in den letzten Jahren in den verschiedenen Mitgliedstaaten eingeführt wurden bzw. werden.

1.2

Den politischen Hintergrund für den Richtlinienvorschlag bildet die Förderung anderer Verkehrsträger als Alternative zum Straßenverkehr, zur Lösung der Probleme einer uneinheitlichen Verkehrspolitik der vergangenen Jahre, die als Ursache der großen derzeitigen Probleme des europäischen Verkehrssystems angemerkt werden.

Die Binnenschifffahrt verfügt sowohl in infrastruktureller als auch in schiffstechnischer Hinsicht über ausreichende Kapazitäten, um einen deutlich höheren Anteil des gesamten Gütertransportvolumens in Europa von der Straße zu übernehmen. Über die grenzüberschreitenden Wasserstraßen und die zahlreichen inländischen Wasserwege in Europa kann die Binnenschifffahrt einen Großteil des europäischen Hoheitsgebiets verkehrsmäßig bedienen. Der Binnenschifffahrtssektor wird durch Innovation auf verschiedenen Gebieten gekennzeichnet. Dank einer größeren Bekanntheit als Alternative zum Straßentransport ist es der Binnenschifffahrt bereits gelungen, neue Märkte zu erobern.

1.3

Der Position der Binnenschifffahrt im Gemeinschaftsmarkt wurde vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialaus- schuss bereits in verschiedenen (Initiativ-)Stellungnahmen, Beratungen und Schlussfolgerungen in Ausschüssen Bedeutung beigemessen (1). Besondere Beachtung verdient die Beseitigung sowohl nationaler als auch internationaler infrastruktureller Engpässe, wobei der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss die Mitgliedstaaten der Union wiederholt insbesondere zur Durchführung der erforderlichen Instandhaltungsmaßnahmen der Wasserstraßen aufruft. Eine angemessene Instandhaltung der Wasserstraßen wird vom Ausschuss als eine Grundvoraussetzung betrachtet, ohne die die Einführung avancierter Binnenschifffahrtsinformationsdienste kaum als sinnvoll zu betrachten ist. Die Nichterfüllung dieser Grundvoraussetzung führt bereits heute zu Engpässen, die die zukünftige Entwicklung der Position der Binnenschifffahrt gefährden können (2).

1.4

Die Kommission verpflichtet sich im Rahmen der Strategie des Weißbuchs, den Sektor bei der Anpassung an neue Bedürfnisse des Marktes weiter zu unterstützen. Dabei drängt sie auf die Einführung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT), um vor allem das Verkehrs- und Transportmanagement auf den Binnenwasserstraßen zu verbessern.

1.5

Die Europäische Kommission vertritt die Auffassung, dass die Einführung des RIS-Konzepts zur Kompatibilität und Interoperabilität zwischen den derzeitigen und neuen RIS-Systemen auf europäischer Ebene führen wird. Damit sollen die europäischen Ausrüstungshersteller ermutigt werden, RIS-Hardware und -Software zu vernünftigen und vertretbaren Kosten herzustellen.

1.6

Die internationalen Stromkommissionen, die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt und die Donaukommission unterstützen die Entwicklung und Einführung von RIS. Die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt hat zu diesem Zweck bereits die nach der Richtlinie vorgesehenen technischen Leitlinien und Spezifikationen, die vom Internationalen Schifffahrtsverband (PIANC) erarbeitet wurden, für den Rhein verabschiedet.

2.   Die Nutzer und die Bedeutung von Informationsdiensten (RIS) für die Binnenschifffahrt

2.1

Dem Richtlinienvorschlag zufolge ist das Konzept der Binnenschifffahrtsinformationsdienste die tiefgreifendste Veränderung in diesem Sektor in mehreren Jahrzehnten. Das Konzept zielt darauf ab, Informationsdienste einzurichten, die die Planung und das Management von Verkehr und Transportvorgängen unterstützen. Zu diesem Zweck sollen die auf nationaler Ebene eigenständig entwickelten Telematikanwendungen in ein interoperationelles Konzept integriert werden.

2.2

Die Einführung von RIS soll gemäß dem Vorschlag dem gesamten europäischen Binnenschifffahrtssektor zugute kommen, wobei die Wiederbelebung der Binnenschifffahrt durch die Einführung von RIS besonders im Hinblick auf die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Länder in die Europäische Union von Interesse ist.

Gleichzeitig soll RIS den zuständigen Behörden die Aufgaben insbesondere des Verkehrsmanagements und der Überwachung gefährlicher Güter erleichtern. Sicherheit und Umwelt sollen verbessert werden, weil die Beteiligten besser informiert sind und die Reaktionszeiten bei Notfällen verkürzt werden.

2.3

Die Vorteile der Einführung harmonisierter Binnenschifffahrtsdienste sollen sich sowohl auf verkehrsbezogene, als auch auf transportbezogene Dienste beziehen. Dies bedeutet, dass die Vorteile der Richtlinie sowohl den nationalen Behörden, als auch der Binnenschifffahrt zugute kommen sollen. Damit verfolgt die Richtlinie Ziele sowohl öffentlich-rechtlicher als auch privatrechtlicher Art.

2.4

Die unterschiedlichen Zielsetzungen und Ausgangspunkte der Nutzung des Systems für öffentlich- und privatrechtliche Zwecke bedarf einer besonderen Überwachung der Informationen und Dienste und Vermeidung einer uneigentlichen Nutzung. Der Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation muss bei der Nutzung der Daten zu öffentlich-rechtlichen Zwecken eindeutig gewahrt werden.

3.   Die Vorteile von RIS für die künftige Entwicklung der Binnenschifffahrt

3.1

Binnenschifffahrtsinformationsdienste werden dem Richtlinienvorschlag zufolge als Unterstützung der potenziellen Verlagerung von Transporten auf das Schiff und eine stärkere Einbindung der Binnenschifffahrt in intermodale Konzepte betrachtet, die gesellschaftlichen Nutzen mit sich bringt. Dem Vorschlag zufolge wird mit RIS ein strategischer Nutzen in vierfacher Hinsicht erwartet, nämlich

höhere Wettbewerbsfähigkeit,

optimierte Nutzung der Infrastrukturen,

Verbesserungen in Bezug auf Sicherheit und Gefahrenabwehr,

verbesserter Umweltschutz.

3.2

Hinsichtlich des ersten Aspekts legt der EWSA Wert darauf zu betonen, dass die höhere Wettbewerbsfähigkeit die Position des gesamten Sektors gegenüber anderen Verkehrsträgern verbessern soll. Die beabsichtigten Dienste dürfen nicht zu einer weiteren Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit der Binnenschifffahrt aus den neuen und zukünftigen Mitgliedstaaten führen, die aufgrund der wirtschaftlichen Situation in diesen Staaten bereits geschwächt ist. Bei der Bereitstellung von Mitteln zur Umsetzung der Dienste muss vor allem diesem Aspekt Bedeutung beigemessen werden (3).

3.3

Durch effizientere Reiseplanung werden gemäß dem Vorschlag Beschränkungen der Wartezeiten sowie der Rendementsverluste aufgrund angepasster Geschwindigkeiten erwartet. Darüber hinaus soll RIS über die Informationsschnittstellen mit allen Beteiligten der Versorgungskette die Einbeziehung des Verkehrsträgers Binnenschifffahrt in intermodale Verkehrsketten fördern.

3.4

Die bekannten Vorteile der Binnenschifffahrt, wie Sicherheit, Gefahrenabwehr und Umweltschutz sollen gemeinsam mit der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Verkehrsträgern weiter hervorgehoben werden. Die Binnenschifffahrt gilt bereits heute als der sicherste Verkehrsträger (4).

3.5

Im Bereich des Umweltschutzes wird die Binnenschifffahrt bereits in der heutigen Situation ihren bisherigen Vorsprung gegenüber anderen Verkehrsträgern weiterhin einhalten können. Gemäß einer vor kurzem veröffentlichten Studie über die Umweltleistungen der Binnenschifffahrt (5) kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass Binnenschifffahrt zur Verbesserung der Umweltleistung der Transportkette beitragen kann. Dies wiederum kann zur Realisierung der Kyoto-Zielsetzungen im Hinblick auf eine Abgasreduktion beitragen.

3.6

Die Entscheidung der EU-Umweltminister vom 28. Juni 2004, den Schwefelgehalt der Kraftstoffe für Binnenschiffe im Jahr 2010 auf 0,1 Prozent festzulegen, entspricht ebenfalls dem Umweltbewusstsein der Binnenschifffahrt. Ein hoher Schwefelanteil im Kraftstoff gefährdet die menschliche Gesundheit und kann zur Übersäuerung von Böden und Gewässern führen. Die Binnenschifffahrt wird ihren Beitrag zur Bekämpfung dieser Risiken leisten, um ihren Ruf als umweltfreundlichster Verkehrsträger zu bewahren. Die europäische Binnenflotte benutzt schon heute überwiegend Kraftstoffe mit weniger als 0,2 Prozent Schwefel.

Neben dem Einbau abgasarmer Motoren führt auch die Verwendung schadstoffarmen Kraftstoffs dazu, dass die Umweltbilanz der Binnenschifffahrt im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern positiv bleibt.

Mit dem erklärten Nutzen aufgrund der Einführung von Binnenschifffahrtsinformationsdiensten, die zu einer weiteren Reduzierung des Energieverbrauchs der Binnenschifffahrt führen wird, kann das Streben der Binnenschifffahrt zur Realisierung ihrer Umweltschutzzielsetzungen unterstützt werden.

4.   Der Richtlinienvorschlag und dessen Anwendungsgebiet

4.1

Die Richtlinie soll die Mitgliedstaaten verpflichten, die Voraussetzungen für die Einführung und Nutzung harmonisierter Binnenschifffahrtsinformationsdienste (RIS) zu erleichtern und den regulatorischen Rahmen für die Festlegung und Weiterentwicklung zu gewährleisten. Ausgangspunkt ist es, die bereits bestehenden Technologien unmittelbar zu integrieren, (Artikel 1).

4.2

Die Beschränkung des Anwendungsbereiches auf Wasserstraßen der Klassen IV und darüber erscheint dem EWSA sachgerecht. Zu begrüßen ist, dass mit der Verweisung auf die Klassifikation der Wasserstraßen nach europäischer Festlegung eine dynamische Verweisung gewählt wurde.

4.3

Die Richtlinie definiert die speziellen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Bereitstellung der erforderlichen Daten für die Durchführung der Reise, elektronischer Schifffahrtskarten und Nachrichten für die Schifffahrtstreibenden und Behörden.

Die Verpflichtung der Staaten, nur für Wasserstraßen der Klasse Va und darüber gemäß der Klassifizierung der europäischen Binnenwasserstraßen navigationstaugliche elektronische Schifffahrtskarten zur Verfügung zu stellen, stößt beim EWSA unter Berücksichtigung des deutschen, belgischen, tschechischen und polnischen Netzes der Wasserstraßen auf Bedenken (Artikel 4).

4.4

Die Richtlinie verpflichtet grundsätzlich private Nutzer, d.h. die Schifffahrtstreibenden, nicht die für die Beteiligung an RIS erforderliche Ausrüstung zu installieren. Allerdings werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um darauf hinzuwirken, dass die Benutzer und die Schiffe den in der Richtlinie vorgesehenen Ausrüstungsanforderungen entsprechen. Zur Erfüllung dieser Anforderung und Stimulierung der Nutzung der Dienste durch die Schifffahrtstreibenden bedarf es laut Auffassung des Ausschusses neben der Bereitstellung der erforderlichen Daten seitens der Mitgliedstaaten auch Anreize zur betreffenden Nachrüstung an Bord der Schiffe.

Aus Gründen der Transparenz und des Prinzips der Freiwilligkeit muss eine verpflichtende Einführung der Nutzung der Dienste vermieden werden. Methoden und Stimulanzen zur weitestgehenden Nutzung des Systems durch die Schifffahrtstreibenden zur Realisierung der mit der Richtlinie beabsichtigten Zielsetzungen sollen allerdings Bestandteil der Maßnahmen der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Einführung von RIS sein.

4.5

Die technischen Spezifikationen für die Planung, Einführung und den Betrieb der Dienste werden durch technische Leitlinien (RIS-Leitlinien) festgelegt. Zur Wahrung einheitlicher Systeme sollen diese laut Auffassung des Ausschusses im Einklang mit bereits bestehenden Leitlinien und Spezifikationen relevanter internationaler Organisationen stehen.

4.6

Die Nutzung der Daten im Rahmen der Binnenschifffahrtsinformationsdienste zu öffentlichen und betriebswirtschaftlichen Zwecken bedarf des besonderen Schutzes der Privatsphäre des Schifffahrtstreibenden. Die Datensicherheit verdient im Hinblick auf verschiedene sensible Daten laut Auffassung des Ausschusses besondere Beachtung und bedarf des Schutzes vor Weiterleitung an öffentliche Behörden.

4.7

Die Kommission setzt zur Durchführung und Umsetzung der vorgeschlagenen Richtlinie einen Ausschuss gemäß Beschluss des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbestimmungen (1999/468/EG) ein. Zur Gewährleistung der Umsetzung der Richtlinie im Sinne der Zielsetzungen und der beabsichtigten Förderung der Binnenschifffahrt soll der Ausschuss, bestehend aus Vertretern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, laut Auffassung des Ausschusses auch Vertreter der Gewerbeverbände bei den Arbeiten konsultieren (Artikel 11).

5.   Umsetzung der Richtlinie

5.1   Akzeptanz der Benutzer

Besondere Bedeutung muss aus der Sicht des Ausschusses der Einführung und Umsetzung der Richtlinie beigemessen werden. Die standardisierten Binnenschifffahrtsdienste müssen sinnvolle Informationen vermitteln, die zur Förderung der Schifffahrt beitragen können. Telematikumfragen in den Mitgliedstaaten der Union haben gezeigt, dass die Binnenschifffahrt noch nicht in ausreichendem Ausmaß über Möglichkeiten zum Gebrauch von RIS verfügt.

Um die Akzeptanz der Benutzer und die Einführung der Richtlinie von den Schifffahrtstreibenden zu stimulieren, sind laut Auffassung des Ausschusses flankierende Maßnahmen zur Unterstützung bei den Ausrüstungsanforderungen unumgänglich. Der Ausschuss unterstützt demzufolge den gemeinsamen Vorschlag der niederländischen und österreichischen Transportministerien zur Erarbeitung eines gemeinsamen RIS-Umsetzungsvorschlags an die Europäische Kommission. Er fördert die Unterstützung der Umsetzungsprojekte in den (zukünftigen) Mitgliedstaaten aus relevanten EU-Förderprogrammen, insbesondere im Hinblick auf die Einführung von RIS in wirtschaftlich schwächeren Regionen.

Die Effektivität der Binnenschifffahrtsinformationsdienste hängt von der größtmöglichen Nutzung seitens der Schifffahrtstreibenden ab. Die dazu zu entwickelnden Generalpläne müssen laut Auffassung des Ausschusses diesen Anforderungen gerecht werden.

5.2   Kosten

Wie in den Erwägungen des Richtlinienvorschlags erwähnt, sollen die europäischen Ausrüstungshersteller ermutigt werden, die RIS-Hardware und -Software zu vernünftigen und vertretbaren Kosten zu produzieren. Die Europäische Kommission vertritt die Auffassung, dass die Einführung des RIS-Konzepts zur Kompatibilität und Interoperabilität zwischen den derzeitigen und neuen RIS-Systemen auf europäischer Ebene führen wird. Eine derartige Ermutigung bedarf zur Umsetzung nach Ansicht des Ausschusses einer weiteren Stimulierung und Überwachung seitens der Kommission. Regelmäßige Informationen und Veröffentlichungen können dazu beitragen.

Außer den hohen Kosten der RIS-Hardware und -Software wird bislang aus der Sicht der Schifffahrtstreibenden die Übertragung von Daten und Internetkommunikation über GSM aufgrund der hohen Kommunikationskosten begrenzt. Es gilt laut Auffassung des Ausschusses, im Rahmen der Einführung der Richtlinie diejenigen Kommunikationssysteme zu fördern, die den Anforderungen der Binnenschifffahrt am meisten gerecht werden und kosteneffektiv genutzt werden können.

6.   Grundlage der nachstehenden Empfehlungen

6.1

Die größte wirtschaftliche Herausforderung der Europäischen Union ist die Realisation ihres Wachstumspotenzials. Zu diesem Zweck müssen nachhaltige Wachstumskonzepte entwickelt und unterstützt werden. Gütertransport spielt eine wichtige Rolle im Gemeinschaftsmarkt. Allerdings sieht er sich aufgrund einer fehlenden kohärenten Verkehrs- und Transportpolitik mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, die insbesondere auf Kongestion im Straßenverkehr, das Fehlen der Zusammenarbeit von Eisenbahngesellschaften und das Fehlen eines freien Marktzuganges zurückzuführen ist.

6.2

Die Zukunft Europas liegt unter anderem auf dem Wasser. Wasser und Wasserstraßen spielen in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle. Innerhalb der Europäischen Union lebt 50 % der Bevölkerung in Küstennähe oder am Ufer eines der 15 größten europäischen Flüsse. Mit der Erweiterung der Europäischen Union wird die Binnenschifffahrt eine noch wichtigere Rolle im Binnenmarkt spielen. Viele der neuen Mitgliedstaaten besitzen schiffbare Wasserstraßen, die für den Frachttransport genutzt werden. Im Rahmen der von der Europäischen Kommission angekündigten Politik kann die Binnenschifffahrt als solche sowie als Teil der intermodalen Transportkette eine wichtige Rolle bei der Integration der neuen Mitgliedstaaten und der Entfaltung ihres Wachstumspotenzials spielen.

6.3

Das Funktionieren des Gütertransportes hängt von einer einwandfreien Infrastruktur ab. Die vernünftige Wartung und Unterhaltung der bestehenden Wasserstraßeninfrastruktur sowie die Behebung der Engpässe sind eine Grundvoraussetzung für die Stimulierung intermodaler Gütertransportkonzepte und der Stimulierung der Rolle der Binnenschifffahrt. Eine angemessene Instandhaltung der Wasserstraßen wird vom Ausschuss als eine Grundvoraussetzung betrachtet, ohne die die Einführung avancierter Binnenschifffahrtsinformationsdienste kaum als sinnvoll zu betrachten ist. Die Nichterfüllung dieser Grundvoraussetzung führt bereits heute zu Engpässen, die die zukünftige Entwicklung der Position der Binnenschifffahrt gefährden können. Der Ausschuss fordert demzufolge die Mitgliedstaaten dazu auf, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen und Mittel zur Verfügung zu stellen.

7.   Empfehlungen allgemeiner Art

7.1

Die Einführung eines rechtlichen Rahmens für harmonisierte Binnenschifffahrtsinformationsdienste auf den Binnenwasserstraßen der Gemeinschaft ist in obenstehendem Zusammenhang zu begrüßen. Harmonisierte Informationsdienste auf den Binnenwasserstraßen können unter der Voraussetzung einer breiten Akzeptanz zur Realisierung des damit propagierten Zieles, Modal Shift in Richtung Binnenschifffahrt als alternativer Verkehrsträger mit Wachstumspotenzial und Vorteilen im Bereich der Sicherheit und des Umweltschutzes, beitragen.

Die größte wirtschaftliche Herausforderung für die Europäische Union ist die Entfaltung ihres Wachstumspotenzials, weshalb ein nachhaltiges Wachstum gefördert werden muss. Der Frachttransport spielt eine wichtige Rolle im Binnenmarkt, wird jedoch in ganz Europa erheblich durch Verkehrsstaus behindert, die damit die Wirtschaftsentwicklung in der Europäischen Union gefährden. Als Lösung bietet sich Verkehrsverlagerung und nachhaltige Entwicklung durch erleichterte Nutzung intelligenter Transportlösungen an.

Die Wirtschaftsentwicklung Europas wird folglich von einer starken, ausgeglichenen Verkehrspolitik bedingt, was von den europäischen Entscheidungsträgern umfassend berücksichtigt werden muss.

Zu diesem Zweck muss ein adäquater Rahmen geschaffen und gesichert werden, dass die Entwicklung der Binnenschifffahrt eine politische Priorität wird.

Bezugnehmend auf die Erfolge im Rahmen der Verkehrsverlagerung auf die Kurzstreckenschifffahrt können mit gezielten Maßnahmen und unter der Voraussetzung der politischen Unterstützung auch im Bereich der Binnenschifffahrt vergleichbare Erfolge erzielt werden.

7.2

Der volkswirtschaftliche Nutzen bei der Entlastung der Straße, der Integration der Binnenschifffahrt in intermodale Transportketten und der Schonung der natürlichen Ressourcen durch die noch effizientere Auslastung von Schiffsraum spricht für eine europäische Förderung der Telematik in der Binnenschifffahrt und die Harmonisierung der Binnenschifffahrtsdienste. Im Sinne der effektiven Einführung der im Richtlinienvorschlag vorgesehenen Maßnahmen werden vom EWSA folgende Empfehlungen erteilt, die bei der Einführung von Binnenschifffahrtsinformationsdiensten als notwendig erachtet werden:

Übernahme bereits beschlossener technischer Leitlinien anderer relevanter internationaler Organisationen im Rahmen der RIS-Richtlinie;

Verpflichtung an die Staaten, um für Wasserstraßen der Klasse IV und darüber gemäß der Klassifizierung der europäischen Binnenwasserstraßen, navigationstaugliche elektronische Schifffahrtskarten zur Verfügung zu stellen;

Schutz der Daten vor uneigentlichen Anwendungen;

Konsultation des Gewerbes im Rahmen des von der Kommission eingesetzten bzw. einzusetzenden Ausschusses zur Umsetzung der Richtlinie.

8.   Besondere Bemerkungen

8.1

Flankierende Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie an Bord von Binnenschiffen sind nötig.

Die Binnenschifffahrt verfügt noch nicht in ausreichendem Ausmaß über Möglichkeiten zum Gebrauch von RIS, während die Effektivität der Binnenschifffahrtsinformationsdienste von der größtmöglichen Nutzung seitens der Schifffahrtstreibenden abhängt. Im Rahmen der zu entwickelnden Generalpläne muss mit gezielten Maßnahmen diesen Anforderungen Rechnung getragen werden. Diese beziehen sich auf:

Erarbeitung eines RIS-Umsetzungsvorschlags;

die Stimulierung und Unterstützung der Schifffahrtstreibenden bei der Einführung der erforderlichen Ausrüstungen an Bord der Schiffe, um das System im Sinne der Zielsetzungen der Richtlinie effizient nutzen zu können;

die Förderung kosteneffektiver Kommunikationssysteme, die den Anforderungen der Binnenschifffahrt am meisten gerecht werden;

die Überwachung der Herstellerkosten der RIS-Hardware und -Software.

9.

Der EWSA empfiehlt die Anwendung dieser Maßnahmen im Sinne einer effektiven Umsetzung des Richtlinienvorschlags.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Das sind: DI CESE 48/2002 rev.: Die in der 5. Sitzung des Gemischten Beratenden Ausschusses EU/Rumänien am 23./24. Mai 2002 in Bukarest angenommenen gemeinsamen Schlussfolgerungen zum Thema „Optimierung der Donau als transeuropäischer Verkehrskorridor“, Berichterstatterin: Dr. Bredima-Savopoulou; die Stellungnahme des EWSA zu der „Umsetzung des strukturierten sozialen Dialogs in den gesamteuropäischen Verkehrskorridoren“ABl. C 85 vom 8.4.2002, Berichterstatterin: Frau Alleweldt; die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Zukunft des transeuropäischen Binnenwasserstraßennetzes“, ABl. C 80 vom 3.3.2002, Berichterstatter: Herr Levaux sowie die Stellungnahme des EWSA zum „Streben nach einer gesamteuropäischen Regelung der Binnenschifffahrt“, ABl. C 10 vom 14.1.2004, Berichterstatter Herr Simons.

(2)  So besteht beispielsweise in den Niederlanden im Jahr 2004 ein Investitonsstop für Wasserstraßeninstandhaltung, während Mindestinvestitionen von € 35 Mio. erforderlich sind, um die bestehenden Stagnationen zu lösen und weitere Stagnationen zu vermeiden; die erforderlichen Mittel stehen allerdings erst im Jahr 2007 zur Verfügung.

In Deutschland wurde der Ersatzinvestitionsbedarf für den Zeitraum 2000-2020 auf über 11 Mrd. € geschätzt. Dies entspricht Jahresanteilen von über 500 Mio. €, während der neue Bundesverkehrswegeplan für den Zeitraum 2001-2015 von einem jahresdurchschnittlichen Erhaltungsbedarf von 440 Mio. € ausgeht (Planco Gutachten „Potenziale und Zukunft der deutschen Binnenschifffahrt“, November 2003).

(3)  Alle Donaustaaten nehmen bereits an RIS-Lead-Projekten zur Harmonisierung der Binnenschifffahrtsdienste teil (siehe COMPRIS: Consortium, Operational Management Platform 2002-2005, an dem 44 Partner aus 11 Staaten, darunter die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien teilnehmen). Erwartungen zufolge werden Binnenschifffahrtsinformationsdienste die Donauschifffahrt erheblich modernisieren (via Donau: „Strategy and achievements on the implementation of RIS in the Danube region“, 13.10.2004).

(4)  EU Energy and transport in figures, statistical pocketbook 2003, Part 3: Transport, chapter 6: Safety.

(5)  Royal Haskoning: „Environmental Performance of Inland Shipping“, vom 27. Januar 2004.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/61


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Einrichtung einer Europäischen Fischereiaufsichtsbehörde und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2847/93 zur Einführung einer Kontrollregelung für die Gemeinsame Fischereipolitik“

(KOM(2004) 289 endg. — 2004/0108 (CNS))

(2005/C 157/09)

Der Rat beschloss am 14. Mai 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 37 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 16. November 2004 an. Berichterstatter war Herr SARRÓ IPARRAGUIRRE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 138 gegen 3 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Am 1. Januar 2003 trat die Reform der gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) in Kraft, deren Hauptziel die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Fischereiressourcen ist. Dazu wurden verschiedene, sowohl für die Fischereiwirtschaft der Gemeinschaft als auch für die Mitgliedstaaten obligatorische Bestimmungen festgelegt.

1.2

In Kapitel V der Verordnung (EG) Nr. 2371/2002 (1) werden die Kontroll- und Sanktionsregelung der Gemeinschaft für die Fischerei aufgestellt, die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission klar voneinander abgegrenzt sowie die erforderlichen Kooperations- und Koordinationsmechanismen zwischen den Mitgliedstaaten und zwischen diesen und der Kommission festgelegt, um die Einhaltung der Vorschriften der GFP sicherzustellen.

1.3

Nach Ansicht der Kommission erfordert die Anwendung der GFP-Vorschriften durch die Mitgliedstaaten eine solide Aufsichtsstruktur auf Gemeinschaftsebene, ausreichende Kontroll- und Überwachungsmittel sowie eine geeignete Strategie für den koordinierten Einsatz dieser Mittel.

1.4

Mit diesem neuen Verordnungsvorschlag (2) beabsichtigt die Europäische Kommission, eine Europäische Fischereiaufsichtsbehörde („die Behörde“) als fachlich spezialisierte Gemeinschaftseinrichtung zu schaffen, die für die einheitliche und wirksame Durchführung der Vorschriften der Gemeinsamen Fischereipolitik durch die Mitgliedstaaten sorgt, die laufende Koordinierung der einzelstaatlichen Fischereikontroll- und -überwachungstätigkeiten organisiert und deren Zusammenarbeit beaufsichtigt.

1.5

Zu diesem Zweck schlägt die Europäische Kommission vor, dass die Behörde die aus gemeinschaftlichen Kontroll- und Inspektionsverpflichtungen erwachsenden Kontroll- und Überwachungsaufgaben der Mitgliedstaaten koordiniert, den Einsatz der in einem gemeinsamen Pool zusammengefassten nationalen Kontroll- und Überwachungsmittel der betreffenden Mitgliedstaaten koordiniert; die Mitgliedstaaten bei der Übermittlung von Angaben zu Fangtätigkeiten sowie zu Kontroll- und Überwachungstätigkeiten an die Kommission und Dritte unterstützt und ihnen Hilfestellung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und Verpflichtungen nach den Bestimmungen der GFP leistet.

1.6

Außerdem schlägt die Kommission vor, dass die Behörde für die Mitgliedstaaten auf deren Kosten vertraglich vereinbarte Dienstleistungen erbringen kann, sie bei der Ausbildung von Inspektoren unterstützt, gemeinsam mit ihnen Kontroll- und Überwachungsausrüstungen beschafft und die Durchführung gemeinsamer Pilotprojekte zur Kontrolle und Überwachung koordiniert.

1.7

In dem Verordnungsvorschlag wird festgelegt, dass die Behörde eine Einrichtung der Gemeinschaft ist, Rechtspersönlichkeit besitzt und über eigenes Personal verfügt. Die Kommission schlägt die Einsetzung eines Verwaltungsrats vor, der aus einem Vertreter jedes Mitgliedstaats bestehen soll, dessen Schiffe Fischereitätigkeiten zur Nutzung lebender Meeresschätze ausüben, sowie aus vier Vertretern der Kommission und vier Vertretern der Fischwirtschaft, die von der Kommission ernannt werden. Außerdem ist ein Direktor vorgesehen.

1.8

Laut Kommission soll sich die Behörde aus einem Beitrag der Gemeinschaft, den Gebühren der für die Mitgliedstaaten erbrachten Dienstleistungen sowie den Einnahmen aus Veröffentlichungen, Schulungen und weiteren Dienstleistungen finanzieren.

1.9

Schließlich sieht die Kommission vor, dass die Behörde ihre Arbeit ab 2006 aufnimmt, wobei ihr im ersten Jahr 4,9 Millionen Euro und 38 Beschäftigte und im zweiten Jahr 5,2 Millionen Euro und 49 Beschäftigte zur Verfügung stehen sollen. Ihren Sitz soll die Behörde in Spanien haben.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament „Für eine einheitliche und wirksame Durchführung der Gemeinsamen Fischereipolitik“ (3) sah im Vorfeld der Einrichtung einer EU-Fischereiaufsichtsbehörde (EUFA) die Erstellung einer Durchführbarkeitsstudie in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten vor. Die Kommission hat ihren Verordnungsvorschlag zum Bedauern des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses jedoch vorgelegt, ohne vorab die Durchführbarkeitsstudie erstellt zu haben.

2.2

Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag der Kommission, die Behörde einzurichten, und teilt ihre Ziele, eine wirksame Durchführung der GFP sowie einheitliche Kontrollen und Durchsetzung der Vorschriften in der gesamten EU zu erreichen. Der Ausschuss ist sich der Notwendigkeit bewusst, die Bestimmungen der GFP einheitlich und wirksam durchzusetzen, ist jedoch der Auffassung, dass der Sektor diese akzeptieren und mittragen muss. Dazu muss der Sektor von Anfang an in den Beschlussfassungsprozess eingebunden werden, was bei der Mitwirkung an der Ausarbeitung der wissenschaftlichen Gutachten beginnt, an denen die Strategien und Maßnahmen zur Erhaltung der Fischereiressourcen ausgerichtet werden. Deshalb hält es der Ausschuss für erforderlich, dass die Behörde auch analysiert, wie die wissenschaftlichen Gutachten verbessert werden können, und die Mitwirkung des Sektors bei deren Ausarbeitung fördert. Der letzte Punkt sollte Teil des Auftrags der Behörde sein, der in Artikel 4 des Verordnungsvorschlags definiert wird.

2.3

Angesichts der Tatsache, dass die Behörde sich als erste Gemeinschaftseinrichtung ausschließlich mit Fischereifragen beschäftigen wird, sollte in dem Verordnungsvorschlag nach Ansicht des Ausschusses die Möglichkeit vorgesehen werden, ihre Kompetenzen später zu erweitern.

2.4

So könnte die Behörde die Mitgliedstaaten und die Kommission fachlich und wissenschaftlich bei der wirksamen Anwendung der Bestimmungen der GFP und insbesondere zu Wirksamkeit und Kontrollmöglichkeiten der vorgeschlagenen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen beraten. Außerdem könnte sie sich mit der Förderung der Ausbildung von Inspektoren und des Kontrollpersonals befassen und dafür ein spezielles Schulungszentrum einrichten. Schließlich könnte die Behörde zu den erforderlichen Bemühungen beitragen, die Sanktionen in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu harmonisieren.

2.5

In dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates wird festgelegt, dass die laufende Koordinierung der Behörde sich auf die Kontrolle von Fischereitätigkeiten bis hin zum Erstverkauf der Fischereierzeugnisse erstreckt, die im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, in den Gemeinschaftsgewässern oder außerhalb der Gemeinschaftsgewässer von Fischereifahrzeugen der Gemeinschaft ausgeübt werden. Nach Ansicht des Ausschusses ist der Anwendungsbereich für die operative Koordinierung der Behörde auszudehnen. Zum einen sollte er die Überwachung und Kontrolle nicht nur bis zum Erstverkauf der Fischereierzeugnisse, sondern der gesamten Nahrungsmittelkette umfassen, das heißt vom Fang bis zum Endverbraucher. Zum anderen sollte er die Koordinierung der Kontrolle von Fischereierzeugnissen einschließen, die von Fischereifahrzeugen unter der Flagge eines Drittstaates stammen, insbesondere von solchen, die illegalen, nicht regulierten und nicht gemeldeten Fischfang betreiben.

2.6

Der Ausschuss hält es für ausgesprochen sinnvoll, dass die Behörde die Möglichkeit haben soll, sowohl die Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten in ihren Beziehungen zu Drittländern und regionalen Fischereiorganisationen sowie diese direkt zu unterstützen, da sie so zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der Fischereiressourcen in den Gewässern dieser Drittstaaten und in internationalen Gewässern beitragen wird. Insofern müssen der Behörde nach Ansicht des Ausschusses ausreichende Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt werden, damit sie diesen Auftrag zu Gunsten einer nachhaltigen Entwicklung der Fischerei ausführen kann.

2.7

Der Ausschuss begrüßt die in Artikel 6 des Verordnungsvorschlags geäußerte Absicht, ein gemeinschaftliches Fischereiüberwachungszentrum zur Organisation der operativen Koordinierung gemeinsamer Kontroll- und Überwachungstätigkeiten zu errichten. Allerdings sollten die Funktionen dieses Zentrums nach seinem Dafürhalten in dem Verordnungsvorschlag genauer definiert werden, um Überschneidungen mit den Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten möglichst zu vermeiden. Wenn die Behörde ihre Arbeit aufgenommen haben wird, ist es nach Meinung des Ausschusses von wesentlicher Bedeutung, dass sie die in Artikel 33 festgelegten Bestimmungen zur Vertraulichkeit einhält.

2.8

Das in Kapitel III des Kommissionsvorschlags dargelegte System der gemeinsamen Einsatzpläne ist nach Ansicht des Ausschusses grundlegend für eine wirksame, einheitliche und ausgewogene Umsetzung der Kontrollpolitik durch die verschiedenen Mitgliedstaaten. Der Ausschuss befürwortet den Inhalt dieser gemeinsamen Einsatzpläne, das Verfahren für ihre Annahme sowie ihre Durchführung und Bewertung und ist der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten eng mit der Behörde zusammenarbeiten sollten, um diese Pläne zu realisieren.

2.9

Für den Ausschuss ist die in dem Verordnungsvorschlag vorgesehene jährliche Bewertung der Wirksamkeit der einzelnen gemeinsamen Einsatzpläne unabdingbar, um festzustellen, ob die geltenden Bestimmungen für Bestandserhaltung und Kontrolle von den verschiedenen Flotten entsprechend eingehalten werden.

2.10

Der Ausschuss befürwortet den Vorschlag, ein Informationsnetz zwischen der Kommission, der Behörde und den zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten einzurichten, hält es jedoch für erforderlich, dass die Behörde und die Kommission sich in besonderem Maße um die Sicherstellung der Vertraulichkeit der erhobenen und untereinander ausgetauschten Daten bemühen, zu der die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 17 Absatz 2 des Verordnungsvorschlags verpflichtet sind.

2.11

Zur internen Organisation und Arbeitsweise der Behörde wird in dem Verordnungsvorschlag präzisiert, dass sie eine Gemeinschaftseinrichtung mit Rechtspersönlichkeit sein wird. Der Ausschuss ist damit voll und ganz einverstanden, da die Behörde eine Einrichtung im Dienste der gesamten Gemeinschaft sein muss, die in vollkommener Transparenz handelt und sich nicht von den spezifischen Interessen der Kommission oder der Mitgliedstaaten beeinflussen lassen darf. In diesem Zusammenhang bemängelt der Ausschuss die fehlende Klarheit betreffend die Einstellung von Beamten für die Behörde, sei es, dass sie ihr von der Kommission oder den Mitgliedstaaten zugewiesen oder vorübergehend aus deren Dienststellen zu ihr abgestellt werden.

2.12

Es ist vollkommen angebracht, das Statut der Beamten der Europäischen Gemeinschaften, die Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten sowie die von den europäischen Institutionen zu deren Anwendung gemeinsam beschlossenen Vorschriften auf das Personal der Behörde anzuwenden sowie die vertraglichen und außervertraglichen Verpflichtungen der Behörde und ihres Personals bei der Ausübung ihrer Funktionen klar zu definieren. Der Ausschuss sieht es hingegen als folgerichtig an, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften für die Klagen, die infolge von durch die Behörde geschlossenen Verträgen geführt werden könnten, sowie für Schadensersatzklagen zuständig ist.

2.13

Das Kernstück der Behörde, das in Artikel 25 des Kommissionsvorschlags definiert wird, ist — wie in jedem öffentlichen oder privaten Unternehmen — der Verwaltungsrat. Der Ausschuss sieht die übermäßige Abhängigkeit dieses Verwaltungsrats von der Kommission mit Besorgnis, denn diese verfügt über zehn Stimmen gegenüber je nur einer Stimme pro Mitgliedstaat, dessen Schiffe Fischereitätigkeiten zur Nutzung lebender Meeresschätze ausüben. Gemeinsam würden die Mitgliedstaaten über maximal 20 Stimmen verfügen, weshalb es für die Kommission leicht sein wird, ihre Entscheidungen durchzusetzen. Nach Ansicht des Ausschusses sollte jeder Vertreter der Europäischen Kommission, wie die übrigen Vertreter auch, nur über eine Stimme verfügen.

2.14

Außerdem schlägt die Kommission vor, vier Vertreter der Fischwirtschaft zu Verwaltungsratsmitgliedern zu ernennen, die jedoch kein Stimmrecht haben sollen. Der Ausschuss hält die von der Kommission vorgeschlagene Zahl der Vertreter des Sektors für sehr gering; sie sollte auf mindestens acht erhöht und dabei ausdrücklich festgehalten werden, dass die Vertreter von den europäischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen ernannt werden und Stimmrecht haben. Nach Auffassung des Ausschusses sollten in dem Verordnungsvorschlag die von den Vertretern der Fischwirtschaft zu erfüllenden Mindestkriterien festgelegt werden, damit sie dem Verwaltungsrat angehören können. Zudem sollte darin festgelegt werden, dass die Vertreter der Fischwirtschaft auch das Recht haben, Stellvertreter für den Verwaltungsrat zu benennen.

2.15

Die Kommission schlägt vor, dass die Sitzungen des Verwaltungsrats von seinem Vorsitzenden einberufen werden und dieser einmal pro Jahr zu einer ordentlichen Sitzung zusammentritt. Darüber hinaus soll er auf Veranlassung seines Vorsitzenden oder auf Antrag der Kommission oder eines Drittels der im Verwaltungsrat vertretenen Mitgliedstaaten zusammentreten. Nach Meinung des Ausschusses sollte es „auf Antrag eines Drittels der Mitglieder des Verwaltungsrats der Behörde“ heißen, da auch die Vertreter der Fischwirtschaft an einer Einberufung des Verwaltungsrats interessiert sein können.

2.16

Artikel 27 Absatz 4 des Verordnungsvorschlags eröffnet die Möglichkeit, die Vertreter der Fischwirtschaft bei der Behandlung von Fragen, die Vertraulichkeit erfordern oder bei denen ein Interessenkonflikt besteht, von den Sitzungen des Verwaltungsrats auszuschließen. Der Ausschuss schlägt vor, diesen Absatz zu streichen, da er in der Praxis die Teilnahme der Vertreter der Fischwirtschaft an den Sitzungen des Verwaltungsrats stark einschränken würde.

2.17

Zu den in dem Verordnungsvorschlag für den Verwaltungsrat vorgesehenen Aufgaben zählt auch die Verabschiedung eines Tätigkeitsberichts der Behörde für das vergangene Jahr und ihres Arbeitsprogramms für das folgende Jahr mit der Verpflichtung, diese dem Europäischen Parlament, dem Rat, der Kommission, dem Rechnungshof und den Mitgliedstaaten zu übermitteln. Zwecks größerer Transparenz und Mitwirkung der Fischwirtschaft sollte nach Ansicht des Ausschusses die Behörde diese Unterlagen auch dem Beratenden Ausschuss für Fischerei und Aquakultur der Europäischen Union übermitteln müssen.

2.18

In Artikel 29 des Verordnungsvorschlags werden die dem Verwaltungsrat angehörenden Vertreter der Fischwirtschaft aufgefordert, eine Interessenerklärung abzugeben, in der sie entweder erklären, dass keinerlei Interessen bestehen, die ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen könnten, oder die unmittelbaren oder mittelbaren Interessen, die ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen könnten, angeben. Der Ausschuss hält diese Interessenerklärung für unangebracht und unnötig, da jede in der Fischwirtschaft tätige und als Vertreter dieses Sektors in Frage kommende Person ein direktes Interesse an der Fischerei hat, das ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen könnte. Gegebenenfalls müsste die Interessenerklärung auf die übrigen Mitglieder des Verwaltungsrats ausgedehnt werden.

2.19

Zudem besorgt den Ausschuss die übermäßige Entscheidungsgewalt, über die die Kommission bei der Wahl, Ernennung, Aufgabenstellung und Entlassung des Direktors verfügt. In diesem Zusammenhang sollte Artikel 31 des Verordnungsvorschlags präzisieren, dass die Entlassung des Direktors auf Vorschlag der Kommission, ebenso wie seine Ernennung, von einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Verwaltungsrats unterstützt werden muss. Nach Auffassung des Ausschusses sollte die Liste der Kandidaten für die Direktorenstelle vorab dem Beratenden Ausschuss für Fischerei und Aquakultur übermittelt werden, damit dieser sich unverbindlich zu den Kandidaten äußern kann.

2.20

Der Haushalt der Behörde sollte zumindest in den ersten Jahren nach ihrer Errichtung hauptsächlich über den Beitrag der Gemeinschaft aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union finanziert werden, da die anderen beiden Einnahmequellen — die Gebühren für Dienstleistungen zu Gunsten von Mitgliedstaaten und die Einnahmen aus Veröffentlichungen und Schulungen — erst nach einer gewissen Zeit fließen werden. Nach Ansicht des Ausschusses sollte der Haushalt in den ersten drei Jahren der Tätigkeit der Behörde mit einer gewissen Flexibilität gehandhabt werden, da die im Vorschlag der Kommission vorgesehenen Mittel zu eng kalkuliert scheinen.

2.21

Der Ausschuss unterstützt das im Verordnungsvorschlag vorgesehene System zur Ausführung und Kontrolle des Haushaltsplans, insbesondere die Kontrolle der vorläufigen Jahresabschlüsse der Behörde durch den Rechnungshof, sowie die uneingeschränkte Anwendung der Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1073/1999 (4) auf die Behörde zur Bekämpfung von Betrug, Korruption und sonstigen rechtswidrigen Handlungen. Der Beitritt der Behörde zur Interinstitutionellen Vereinbarung vom 25. Mai 1999 über die internen Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) ist von grundlegender Bedeutung.

2.22

Durch den Verordnungsvorschlag wird die Verordnung (EWG) Nr. 2847/93 (5) zur Einführung einer Kontrollregelung für die Gemeinsame Fischereipolitik durch die Ersetzung von Artikel 34 c geändert, laut dem die Laufzeit der von der Kommission festgelegten Kontrollprogramme für Fischereien zwei Jahre nicht überschreiten darf und die Verantwortung für die Ergreifung angemessener personeller und materieller Maßnahmen bei den Mitgliedstaaten liegt. Durch die im Verordnungsvorschlag vorgesehene Änderung wird die Laufzeit auf drei Jahre oder aber den Zeitraum heraufgesetzt, der in dem entsprechenden Wiederauffüllungsplan vorgesehen ist, und festgelegt, dass die Mitgliedstaaten die Kontrollprogramme auf der Grundlage gemeinsamer Einsatzpläne umsetzen. Der Ausschuss begrüßt diese Änderung.

2.23

Zur Wahrung der vorgesehenen Fristen und zur Einhaltung von Artikel 40 über den Beginn der Tätigkeit der Behörde sollte der vorliegende Verordnungsvorschlag nach dem Dafürhalten des Ausschusses am 1. Januar 2005 in Kraft treten, damit die Behörde ihre Tätigkeit am 1. Januar 2006 aufnehmen kann.

3.   Fazit

3.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Vorschlag der Kommission zur Einrichtung einer Europäischen Fischereiaufsichtsbehörde. Er fordert sie allerdings auf, die Behörde mit den zur Erfüllung ihrer Ziele erforderlichen Haushaltsmitteln auszustatten, und regt an, die Möglichkeit einer Kompetenzerweiterung vorzusehen. Darüber hinaus dringt er auf die Einhaltung der in dem Verordnungsvorschlag vorgesehenen Fristen.

3.2

Außerdem ersucht der Ausschuss in seiner Stellungnahme die Europäische Kommission insbesondere um Berücksichtigung folgender Empfehlungen:

3.2.1

In der Verordnung sollte die Möglichkeit vorgesehen sein, die Kompetenzen der Behörde zu erweitern.

Die Behörde sollte auch prüfen, wie die wissenschaftlichen Gutachten verbessert werden können, und die Mitwirkung des Sektors bei deren Ausarbeitung fördern.

Die Behörde sollte die Mitgliedstaaten und die Kommission fachlich und wissenschaftlich bei der wirksamen Anwendung der Bestimmungen der GFP und insbesondere zu Wirksamkeit und Kontrollmöglichkeiten der vorgeschlagenen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen beraten.

Die Behörde könnte sich mit der Förderung der Ausbildung von Inspektoren und Kontrollpersonal befassen und dafür ein spezielles Schulungszentrum einrichten.

Die Behörde könnte zu den erforderlichen Bemühungen beitragen, die Sanktionen in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu harmonisieren.

3.3

Der Anwendungsbereich für die operative Koordinierung der Behörde ist auszudehnen. Zum einen sollte er die Überwachung und Kontrolle nicht nur bis zum Erstverkauf der Fischereierzeugnisse, sondern der gesamten Nahrungsmittelkette umfassen, das heißt vom Fang bis zum Endverbraucher. Zum anderen sollte er die Koordinierung der Kontrolle von Fischereierzeugnissen einschließen, die von Fischereifahrzeugen unter der Flagge eines Drittstaates stammen, insbesondere von solchen, die illegalen, nicht regulierten und nicht gemeldeten Fischfang betreiben.

3.4

Die Behörde muss eine Einrichtung im Dienste der gesamten Gemeinschaft sein, die in vollkommener Transparenz und Unabhängigkeit handelt und sich nicht von den spezifischen Interessen der Kommission oder der Mitgliedstaaten beeinflussen lassen darf.

3.5

Die Mitgliedstaaten, die Europäische Kommission und die Vertreter der Fischwirtschaft müssen im Verwaltungsrat ausgewogen vertreten sein.

3.6

Die von der Kommission vorgeschlagene Zahl der Vertreter der Fischwirtschaft im Verwaltungsrat ist sehr gering, weshalb sie auf mindestens acht erhöht und dabei ausdrücklich festgehalten werden sollte, dass die Vertreter von den europäischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen ernannt werden und Stimmrecht haben.

3.7

Die Behörde sollte die in Artikel 33 des Verordnungsvorschlags festgelegten Bestimmungen zur Vertraulichkeit strikt einhalten.

3.8

Artikel 27 Absatz 4 des Verordnungsvorschlags sollte gestrichen werden.

3.9

Die in Artikel 29 vorgesehene Interessenerklärung der Vertreter der Fischwirtschaft ist unangebracht und unnötig. Gegebenenfalls müsste sie von allen Mitgliedern des Verwaltungsrats gefordert werden.

3.10

Schließlich müssen die Funktionen des gemeinschaftlichen Fischereiüberwachungszentrums in der Verordnung genauer ausgeführt werden.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Verordnung (EG) Nr. 2371/2002 des Rates vom 20. Dezember 2002 über die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Fischereiressourcen im Rahmen der Gemeinsamen Fischereipolitik (ABl. L 358 vom 31.12.2002).

(2)  KOM(2004) 289 endg. vom 28.4.2004.

(3)  KOM(2003)130 endg. vom 21.3.2003.

(4)  ABl. L 136 vom 31.5.1999.

(5)  ABl. L 261 vom 20.10.1993.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/65


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zum Thema „Der Europäische Aktionsplan Umwelt und Gesundheit 2004-2010“

(KOM(2004) 416 endg.)

(2005/C 157/10)

Die Kommission beschloss am 10. Juni 2004 den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu der obenerwähnten Mitteilung zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 16. November 2004 an. Berichterstatter war Herr BRAGHIN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15. Dezember 2004 mit 146 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Stellungnahme

1.1

Der Ausschuss misst Umwelt- und Gesundheitsfragen strategische und prioritäre Bedeutung bei; da er jedoch den vorgeschlagenen Plan insofern für unzulänglich hält, als dieser kein systematisches und vollständiges Bündel konkreter Maßnahmen mit jeweiligen Durchführungsfristen enthält, fordert er den Rat und das Europäische Parlament auf, die Kommission bei der Festlegung eines konkreteren Aktionsplans zu unterstützen, damit diese Themen auf integrierte Weise, mit besser definierten Zielen und genauen Angaben zur Erarbeitung angemessener Politiken der EU und der Mitgliedstaaten angegangen werden.

1.2

In diesem Sinne regt der Ausschuss an, die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen betroffenen Stellen mit neuem Elan fortzuführen und dabei ständig Fachleute und Betroffene einzubeziehen, insbesondere mit folgenden Zielsetzungen:

Feststellung der schon heute nutzbaren Möglichkeiten zur Ausrichtung der spezifischen Forschungsprogramme in diesem Bereich sowie der im Aktionsprogramm zum Gesundheitswesen und im Gemeinschaftsprogramm zum Umweltschutz vorgesehenen Maßnahmen auf die festgelegten Ziele;

in der soeben begonnenen Debatte zum 7. Rahmenprogramm sollte die Gesundheits- und Umweltproblematik von Anfang an als prioritär eingestuft werden, ebenso in der künftigen Debatte über das neue Aktionsprogramm zum Gesundheitswesen;

Festlegung der Finanzmittel, die im Rahmen dieser Programme für die drei großen, als prioritär eingestuften Ziele (die der EWSA uneingeschränkt befürwortet) und die 13 genannten Aktionen zu bestimmen sind;

Entwicklung wissenschaftlicher Methoden zur Bewertung der Risiken und zur Harmonisierung und Bestätigung der Methoden, um die angestrebten Ziele auf eine solide wissenschaftliche Grundlage zu stellen;

Umsetzung und Förderung der Kooperations- und Benchmarking-Aktivitäten, um die vollständige Sammlung der Informationen zu beschleunigen, die für ein wirksames Vorgehen erforderlich sind und mit denen festgestellt werden kann, welche auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene erfolgreichen Maßnahmen auf andere Regionen übertragen werden können;

genauere Festlegung der Zuständigkeiten und Aufgaben der betroffenen Behörden und Aufzeigen wirksamer Möglichkeiten der Zusammenarbeit und Koordinierung der Aktionen und der dafür vorgesehenen Ressourcen.

1.3

Der EWSA fordert zu einer weiteren Anstrengung auf, um festzustellen, welche konkreten Schritte erforderlich sind, um einen vorwiegend kognitiven Ansatz zu überwinden und einen wirklichen Aktionsplan mit genauen, nach Möglichkeit quantifizierten Zielen vorzulegen, und fordert die Kommission auf, die Umsetzung des Plans und die Festlegung der Ziele und Aktionen zu beschleunigen, die insbesondere für den zweiten Zeitraum des Plans gelten.

1.4

Und schließlich appelliert der EWSA an die politische Verantwortung aller EU-Institutionen und Mitgliedstaaten, in den laufenden Gesprächen über die Finanzierung der EU und ihrer Aktivitäten für 2007 bis 2013 die in dieser Mitteilung aufgezeigten Grundziele hervorzuheben; der Ausschuss fordert die Kommission auf, rechtzeitig die grundlegende Dokumentation vorzulegen, um zu einer gezielteren Mittelzuweisung auf der Grundlage der aufgezeigten und allgemein befürworteten Prioritäten zu gelangen.

2.   Zusammenfassung der Mitteilung der Kommission

2.1

Die Kommission beschloss im Juni 2003 eine europäische Strategie für Umwelt und Gesundheit (SCALE-Initiative (1) genannt), im Rahmen derer der Aufbau eines Gemeinschaftssystems, das alle Informationen über den Zustand der Umwelt, des Ökosystems und der menschlichen Gesundheit miteinander verzahnt, vorgeschlagen wird. Dadurch wird die Bewertung der Gesamtauswirkung der Umwelt auf die menschliche Gesundheit verbessert, weil auch Wirkungen wie etwa Cocktaileffekte, kombinierte Belastungen und akkumulierte Wirkungen berücksichtigt werden. Das Endziel dieser Strategie ist die Entwicklung eines „Rahmens für die kausalen Zusammenhänge“ zwischen Umwelt und Gesundheit, der die nötigen Informationen für die Gestaltung einer Gemeinschaftspolitik liefert, die sich mit den Quellen und Übertragungswegen der Gesundheitsbelastungen beschäftigt.

2.2

In dieser europäischen Strategie für Umwelt und Gesundheit werden Kinder besonders berücksichtigt, da sie Belastungen stärker ausgesetzt und empfindlicher als Erwachsene sind. Die Verpflichtungen in Bezug auf die Rechte der Kinder, in einer gesunden Umwelt aufzuwachsen und zu leben, müssen jetzt in die Praxis umgesetzt werden.

2.3

An der SCALE-Initiative waren mehr als 150 Fachleute beteiligt, die sich auf neun fachspezifische Arbeitsgruppen verteilten, und ebenso viele Vertreter aller EU-Mitgliedstaaten sowie von Einrichtungen der Mitgliedstaaten, Forschungseinrichtungen, Universitäten, Gesundheits- und Umweltdiensten und Vertreter der Industrie und der Vereinigungen; sie haben beigetragen zur Erstellung von Empfehlungen in Beratungs- und Koordinierungsgruppen, regionalen Konferenzen, Foren sowie informellen Sitzungen der Mitgliedstaaten.

2.4

Der in dieser Mitteilung (2) enthaltene Aktionsplan für den Zeitraum 2004-2010 soll der EU die erforderlichen wissenschaftlichen Informationen verschaffen, damit alle 25 EU-Mitgliedstaaten die negativen Auswirkungen bestimmter Umweltfaktoren auf die Gesundheit mildern können und sich für eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Akteuren in den Bereichen Umwelt, Gesundheit und Wissenschaft einsetzen.

2.5

Die Vorschläge des Aktionsplans gliedern sich in folgende drei Hauptthemen:

Verbesserung des Informationsflusses zum Verständnis der Zusammenhänge zwischen Verschmutzungsquellen und gesundheitlichen Auswirkungen (Aktionen 1-4);

Füllen von Wissenslücken durch Stärkung der Forschung und Behandlung der neuen Fragen auf dem Gebiet Umwelt und Gesundheit (Aktionen 5-8);

Überprüfung der politischen Konzepte und Verbesserung der Kommunikation (Aktionen 9-13).

2.6

Mit dem Aktionsplan wird vor allem die Gewinnung eines besseren Verständnisses der Zusammenhänge zwischen Umweltfaktoren und Atemwegserkrankungen, Störungen der Entwicklung des Nervensystems, Krebs und Störungen des Hormonhaushalts sowie Pathologien, die bei Kindern zunehmen, angestrebt. Der Aktionsplan soll gezielte Forschungsmaßnahmen in die Wege leiten, um unsere Kenntnisse der wichtigen Kausalzusammenhänge auszubauen; gleichzeitig soll die Gesundheitsüberwachung verbessert werden, um ein besseres Bild des Auftretens von Krankheiten in der EU zu erhalten.

2.7

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Aktionsplans zur Gewinnung von Informationen ist die Beobachtung der Exposition gegenüber Umweltrisiken, u.a. Ernährung, häusliche Umgebung und Verhaltensweisen, die zu Umweltrisikofaktoren noch hinzukommen, einschließlich bestimmter Lebensweisen.

2.8

Die Kommission wird sich bei der Durchführung des Aktionsplans dafür einsetzen, die Zusammenarbeit mit der Europäischen Umweltagentur, der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, den Hauptbetroffenen (Mitgliedstaaten, nationalen, regionalen und lokalen Behörden, Vertretern des Gesundheitswesens, des Umweltschutzes und der Forschung, Industrie, Landwirtschaft und sonstigen Betroffenen) und mit internationalen Organisationen wie WHO, OECD und den einschlägigen Einrichtungen der Vereinten Nationen zu fördern.

2.9

2007 wird die Kommission die Durchführung des Aktionsplans einer Zwischenbewertung unterziehen. Sie wird die Aktionen über bestehende Initiativen und Programme durchführen, denen bereits Mittel zugeteilt sind. Dies sind insbesondere das Gemeinschaftsprogramm zur öffentlichen Gesundheit und das Sechste Forschungsrahmenprogramm. Weiter erfolgt eine Finanzierung aus den laufenden Haushaltsmitteln der betroffenen Dienststellen.

3.   Problematische Aspekte im Rahmen des Aktionsplans

3.1

Der Ausschuss teilt die zunehmende Aufmerksamkeit der Kommission und der Mitgliedstaaten für Umwelt- und Gesundheitsfragen und hält eine klare Strategie und einen wirksamen Aktionsplan für erforderlich, um diese Themen auf integrierte Weise zu behandeln und dadurch zur Erarbeitung angemessener gemeinschaftlicher und einzelstaatlicher Politiken beizutragen, die helfen, den Wohlstand und die Lebensqualität der Bevölkerung durch nachhaltige Entwicklung zu verbessern.

3.1.1

Die Vorarbeiten waren sehr komplex und gliederten sich in eine Reihe von Arbeitsgruppen und –sitzungen, die in kurzen Abständen aufeinander folgten. Der EWSA begrüßt dieses Engagement und die von den Teilnehmern, insbesondere den auf den verschiedenen technischen Ebenen hinzugezogenen Fachleuten, geleistete Arbeit, stellt jedoch fest, dass aus Zeitmangel keine vollständige Ergründung dieser komplexen und bisweilen ziemlich unbekannten Thematik möglich war; daher enthält die Mitteilung im Wesentlichen keinen vollständigen und durchstrukturierten Katalog konkreter Maßnahmen und legt auch keine genauen Fristen für ihre Durchführung fest.

3.1.2

Der unterschiedliche Umfang der Zuständigkeiten von Kommission und Mitgliedstaaten für die Bereiche Umwelt und Gesundheit hat die Feststellung der jeweiligen Verantwortung und damit auch der vorzuschlagenden Maßnahmen auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips sicherlich erschwert. Nach Auffassung des EWSA müssen die Kommission und die Mitgliedstaaten eine weitere Koordinierungsbemühung unternehmen, um den Erwerb von Grundkenntnissen sowie den Informations- und Datenaustausch zu beschleunigen und eine angemessene Mittelausstattung für die geplanten Maßnahmen festzulegen.

3.1.3

Der EWSA betrachtet daher den Aktionsplan nicht als Endergebnis, sondern vielmehr als Ausgangspunkt einer Entwicklung, und unterbreitet in diesem Sinne folgende Bemerkungen.

3.2

Der EWSA macht insbesondere darauf aufmerksam, dass eine ausreichende Finanzausstattung erforderlich ist, da der fragliche Aktionsplan keine spezifischen Mittel zur Durchführung der darin enthaltenen Aktionen umfasst, sondern auf der Möglichkeit basiert, jede einzelne Aktion im Rahmen bereits bestehender Initiativen und von der EU finanzierter Programme durchzuführen, so das Gemeinschaftsprogramm zur öffentlichen Gesundheit, das Sechste Umweltrahmenprogramm (das im Übrigen nur in Teil II erwähnt wird) und das Sechste Forschungsrahmenprogramm.

3.2.1

Dieser Ansatz kann sich als nützlich erweisen, um Mittelverschwendung und unnötige Doppelarbeit durch Projekte, die auf dieselben Ergebnisse abzielen, zu vermeiden, aber es werden dadurch die aufgezeigten strategischen Prioritäten den Mechanismen und Strukturen anderer Programme unterworfen, die mit anderen Zielsetzungen entstanden und bereits auf Ziele ausgerichtet sind, die nicht unbedingt mit den in dieser Mitteilung dargelegten Zielen übereinstimmen.

3.2.2

Der EWSA betrachtet es als strategisches und vorrangiges Ziel, einen guten Gesundheitszustand der Bevölkerung anzustreben, v.a. der anfälligsten Bevölkerungsgruppen (zu denen in erster Linie die Kinder zählen, an die sich die SCALE-Maßnahme ja richtet, da sie zu den anfälligsten Bevölkerungsgruppen gehören, künftig aber auch alte Menschen und Arbeitnehmer, die Risikofaktoren ausgesetzt sind). Er hält es daher für angezeigt, möglichst rasch die Finanzmittel festzulegen, die für die aufgezeigten Schlüsselthemen und –ziele bestimmt werden sollen, und diese Notwendigkeiten in den laufenden Gesprächen über den EU-Haushalt 2007–2013 und seine Verteilung gebührend zu berücksichtigen.

3.3

Ein sehr heikler Aspekt ist auch die Interaktion mit anderen Einrichtungen und autonomen Stellen auf rechtlicher und finanzieller Ebene. Viele der Aktionen kommen durch Beteiligung an Projekten im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit zustande; dadurch bekommen die vorgesehenen Initiativen einen längeren Atem, wobei jedoch die Gefahr besteht, dass dies zu Lasten der Fokussierung und der Geschwindigkeit bei der Verwirklichung der gewünschten Ergebnisse geht. Die vorgesehenen Mechanismen der Koordinierung und Zusammenarbeit stellen nämlich nicht sicher, dass bei der Durchführung der Aktion ein einheitlicher und eindeutiger Wille besteht, und außerdem wird die Verantwortung für den Ablauf der einzelnen Phasen der vorgesehenen Aktionen nicht leicht festzustellen sein.

3.3.1

Dass mehrere Einrichtungen beteiligt sind und sie unterschiedliche fachliche Kompetenzen und Ressourcen mitbringen (man denke einerseits an Institutionen wie die WHO und die Umweltagentur und andererseits an regionale oder gar lokale Gebietskörperschaften), macht die Aktion komplizierter und kann die Festlegung der Ziele und der geeigneten Mittel, sie zu erreichen, verzögern.

3.3.2

Der EWSA hofft auf eine klare Festlegung der Rollen und Zuständigkeiten der einbezogenen Einrichtungen (insbesondere der Kommission einerseits und der Mitgliedstaaten, regionalen und lokalen Gebietskörperschaften andererseits) und auf eine genaue Zuteilung der Befugnisse je nach Art der Maßnahme und der jeweiligen Zuständigkeiten auf Grund der Verträge. Die nun vorliegende Mitteilung klärt diese entscheidenden Punkte nicht und bestätigt somit die Befürchtungen, die der Ausschuss bereits in seiner früheren Stellungnahme zur europäischen Strategie für Umwelt und Gesundheit vorgetragen hat. (3)

3.4

Die Beschreibung der spezifischen Aktionen in Teil II der Mitteilung enthält keine genauen Ziele, die es zu erreichen gilt, sondern eher Angaben zu Erfordernissen oder bestenfalls Instrumenten, die die Kommission zusammen mit anderen beteiligten Einrichtungen aktivieren kann, um auf die Erfordernisse oder Mängel im Bereich des Wissens zu reagieren. Leider wird die vom Ausschuss schon zum Ausdruck gebrachte (4) Befürchtung bestätigt, dass das Fehlen konkreter Ziele bzw. der sog. „Millenniumsziele“ einen so schweren Mangel darstellt, dass dadurch die Zweckmäßigkeit des Aktionsplans selbst in Frage gestellt werden kann.

3.5

Gemeinsames Merkmal der vorgesehenen Aktionen sind detaillierte Angaben für den ersten Zwei- oder Dreijahreszeitraum, hingegen nur allgemeine oder ganz unbestimmte Angaben für den anschließenden Vierjahreszeitraum. Dieser Ansatz löst Verwunderung aus, denn der Plan sollte die praktische Umsetzung einer Strategie vorsehen, die ja per Definition auf langfristig relevante Ergebnisse abzielt. Die Rechtfertigung, dieser Mangel liege an der bisher fehlenden Festlegung der für den zweiten Vierjahreszeitraum verfügbaren Mittel, kann man nicht gelten lassen: denn die klare Festlegung der angestrebten Ergebnisse ist die Voraussetzung dafür, dass die politischen Entscheidungsträger Mittel zur Verfügung stellen, die der Bedeutung der Strategie angemessen sind.

3.6

Die für 2007 geplante Zwischenbewertung kann nicht als ausreichend betrachtet werden; der EWSA spricht sich dafür aus, zwei Zwischenbewertungen vorzunehmen, eine 2006 und eine 2008.

3.6.1

Die erste Zwischenbilanz würde eine Berücksichtigung der Ergebnisse einer Reihe von Programmen und/oder Aktionen, die sich in der Abschlussphase befinden (und in dieser Mitteilung nicht erwähnt werden), und eine frühzeitige Auswertung des im ersten Zweijahreszeitraum Erreichten ermöglichen. Dies würde einen festen Bezugspunkt bilden, bevor die Maßnahmen anlaufen, die durch die neue Mittelausstattung ab 2007 finanziert werden.

3.6.2

Die zweite Zwischenbewertung würde auf der Grundlage einer einschlägigen Auswertung eine frühzeitige Planung der Folgephasen und der weiteren Phasen des Plans sowie die Ausdehnung auf andere anfällige Zielgruppen (z.B. ältere Menschen) auf der Grundlage einer eingehenderen Auswertung des bisher Erreichten und der aufgetretenen Schwierigkeiten ermöglichen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Die erste Gruppe von Aktionen dient der Verbesserung des Informationsflusses durch Entwicklung integrierter Umwelt- und Gesundheitsinformationen zum besseren Verständnis der Zusammenhänge zwischen Verschmutzungsquellen und Auswirkungen auf die Gesundheit. Der EWSA bedauert, dass immer noch ein so großer Informationsbedarf besteht, obwohl ein „Aktionsprogramm 1999-2003 der Gemeinschaft betreffend durch Umweltverschmutzung bedingte Krankheiten“ (5) und ein „Aktionsprogramm der Gemeinschaft für Gesundheitsberichterstattungen im Zuge des Aktionsrahmens im Bereich der öffentlichen Gesundheit“ (6) angenommen wurde. Der Ausschuss bedauert, dass der hier behandelten Mitteilung keine Bewertungsberichte über die durch diese Programme erzielten Ergebnisse und über spezifische Mängel, die es in der ersten Phase der Durchführung des Aktionsplans zu beheben gilt, beiliegen.

4.1.1

Zu Aktion 1 („Entwicklung umweltbezogener Gesundheitsindikatoren“) und Aktion 2 („Entwicklung einer integrierten Überwachung der Umwelt einschließlich der Lebensmittel zur Feststellung der einschlägigen Exposition des Menschen“) steht der kognitive Aspekt im Vordergrund; die Weiterentwicklungen der Aktionen in der zweiten Phase des Aktionsplans stehen dabei eher im Hintergrund. Wenngleich Wissenslücken bestehen, hätten die Ziele der Vergleichbarkeit und Zugänglichkeit der Gesundheitsdaten erläutert werden müssen, um die Interoperabilität und Integration der bestehenden Datenbanken zu ermöglichen, ggf. mit dem Vorschlag, auch Finanzmittel für die erforderlichen methodologischen Studien, die Vernetzung der bestehenden Datenbanken und langfristig die Schaffung einer künftigen europäischen Datenbank zur Verfügung zu stellen.

4.1.1.1

Der EWSA empfiehlt, zur Integration der Umweltüberwachung mit der Überwachung der Gesundheit des Menschen baldmöglichst klinisch-epidemiologische wie auch experimentelle Forschungsaktivitäten aufzuzeigen, die darauf abzielen, die Kenntnis der Kausalbeziehungen zwischen bestimmten Umweltfaktoren und bestimmten Krankheiten zu verbessern und zu verfeinern.

4.1.2

Die Aktion 3 „biologische Überwachung“ (d.h. Feststellung durch biologische Indikatoren, ob Umweltbelastungen, Krankheiten, Funktionsstörungen oder genetische Veranlagungen bestehen) gleicht mehr einer Darstellung der durchaus bestehenden Schwierigkeiten als einer Vorgabe für eine „Aktion“. Der EWSA empfiehlt, das Mandat und die Ziele der multidisziplinären Arbeitsgruppe zur Koordinierung rasch zu erläutern, um sie zu einem auf EU-Ebene und in den Mitgliedstaaten wirksamen und v.a. glaubwürdigen, einsatzfähigen Instrument zu machen.

4.1.2.1

Der EWSA empfiehlt, auf der Grundlage der Arbeiten der verschiedenen bisher eingesetzten fachlichen Arbeitsgruppen die prioritären Bereiche und die optimalen Modalitäten der Koordinierung zwischen spezialisierten Zentren festzulegen, um bei Maßnahmen zur „Biokontrolle“ optimale Ergebnisse zu erzielen. Der Ausschuss empfiehlt darüber hinaus, Studien zu „Kohorten“ (v.a. Mutter — Kind) zu entwickeln, die „Biomarker“ der Risikoaussetzung angemessen beurteilen.

4.1.3

Analog dazu wird bei Aktion 4 („Verbesserte Koordinierung und gemeinsame Tätigkeiten auf dem Gebiet Umwelt und Gesundheit“) vorgeschlagen, eine beratende Gruppe einzusetzen und den Austausch zwischen zuständigen Behörden allgemein zu unterstützen. Der EWSA hält solche Vorgaben für völlig unangemessen, denn seines Erachtens ist die Einsetzung einer beratenden Gruppe nicht ausreichend, um das Ziel eines regelmäßigen Austauschs von Mitteilungen und bewährten Praktiken zu erreichen. Der Ausschuss wünscht daher, dass die Mitgliedstaaten, in denen die Zuständigkeiten für Gesundheits- und Umweltschutz auf mehrere Ministerien verteilt sind, möglichst rasch eine Einrichtung oder Behörde benennen, die verantwortlich ist und über die geeigneten Befugnisse und Instrumente zur Koordinierung der in die vorgesehene Richtung gehenden Bemühungen verfügt; er fordert die Kommission auf, sich ihrerseits mit geeigneteren Koordinierungsstrukturen auszustatten und wirksamere Instrumente zur Förderung dieses Prozesses vorzuschlagen.

4.2

Die zweite Gruppe von Aktionen dient der „Schließung der Wissenslücken durch Verstärkung der Forschung“, und die Durchsicht der vorgeschlagenen konkreten Maßnahmen bestätigt, dass es mehr um die Verbesserung der Grundkenntnisse als um konkrete Forschungsprojekte geht. So besteht Aktion 5 in der Analyse des von der Gemeinsamen Forschungsstelle oder in den bestehenden Forschungsprogrammen bereits Erreichten und in der Veranstaltung von Konferenzen zum Thema; Aktion 6 zielt nicht nur auf „Gezielte Forschung zu den Themen Krankheiten, Störungen und Expositionen“ ab, sondern vor allem auch auf eine Analyse der Ursachen und Mechanismen der fraglichen Krankheiten, und auf die Schaffung eines europäischen Forschungsnetzes, ohne genaue Forschungsausrichtungen zu liefern; Aktion 7 soll schließlich ein methodisches System zur Gefahrenbewertung unter Berücksichtigung der komplexen Wechselwirkungen und der externen Kosten und ein methodisches System zur Harmonisierung und Bestätigung der dabei angewandten Methoden entwickeln.

4.2.1

Der EWSA empfiehlt, den derzeit bestehenden Mangel an epidemiologischen Daten in großem Umfang zu beheben, insbesondere bezüglich neurologisch bedingter Verhaltensstörungen in Europa, bei denen die wissenschaftlichen Erkenntnisse insbesondere bezüglich Kindern am lückenhaftesten sind, es jedoch ausreichende Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie ätiologisch (ursächlich), wenn auch nicht ausschließlich, auf einige Umweltfaktoren zurückzuführen sind.

4.2.2

Der EWSA empfiehlt, die interdisziplinäre Forschung zu Umwelt und Gesundheit im Rahmen des 7. Forschungs-Rahmenprogramms als einen prioritären Forschungsbereich einzustufen und schon jetzt ausreichende Mittel für bereits finanzierte spezifische Programme zu gewähren, um Kenntnisse auszubauen und Instrumente und Methoden für wirksame Umwelt- und Gesundheitsmaßnahmen aufzuzeigen.

4.2.3

Aktion 8 („Ermittlung und Bekämpfung möglicher Risiken für Umwelt und Gesundheit“) enthält genauere Ziele zur Verbesserung der Prognosen und zur Vorbereitung des Gesundheitswesens auf die extremen Klimaveränderungen und andere weltweite Umweltbedrohungen. Der EWSA schließt sich diesen Zielen an, wenngleich sie nicht direkt mit dem allgemeinen Ziel des Gesundheitsschutzes für Kinder zusammenhängen, das mit der SCALE-Initiative verfolgt wird. Der EWSA wünscht, dass aus dieser Art von Aktionen mittelfristig ein geeignetes Programm mit eigenen Finanzmitteln hervorgehen möge, anstatt diese Aktionen (wie nun vorgeschlagen) in einem wenig geeigneten Umfeld zu belassen und auch keine eigens für sie bestimmten Mittel vorzusehen.

4.3

Die im Anschluss daran beschriebenen Aktionen (Aktionen 9 und 10) zur Verbesserung der Kommunikation und zur Entwicklung der allgemeinen und beruflichen Bildung liefern einige Anregungen, die von gewissem Interesse sind, bilden jedoch keine solide Grundlage für eine Kommunikations- und Weiterbildungsstrategie, an der die für diesen Aktionsbereich zuständigen Mitgliedstaaten ihre Maßnahmen ausrichten könnten und mit der angemessenere Verhaltensweisen der Bürger erreicht werden könnten. Der Ausschuss hat bereits erklärt: „Die Sensibilisierung einer öffentlichen Meinung, die Unterstützung und die Mitwirkung seitens der Basis wird sich als unverzichtbar erweisen; auch hier kommt den Sozialpartnern und den Organisationen der organisierten Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle zu.“ (7)

4.3.1

Mit den letzten der vorgeschlagenen Aktionen (11 bis 13) wird eine „Überprüfung und Anpassung der Politik zur Risikominderung“ angestrebt; sie stehen in direktem Zusammenhang mit den hauptsächlich berücksichtigten Krankheiten (Atemwegserkrankungen, Störungen der Entwicklung des Nervensystems, Krebs und Störungen des Hormonhaushalts) und umfassen Initiativen wie den Start von Pilotprojekten, die Förderung der Vernetzung, die Koordinierung der laufenden Aktionen oder einfach das Engagement zur „Beobachtung der Entwicklungen in Bezug auf elektromagnetische Felder“. Im Allgemeinen scheint es sich bei diesen Aktionen mehr um eine Liste wohlgemeinter Absichtserklärungen als um eine erschöpfende Feststellung konkreter Aspekte der größten Gefahrensituationen zu handeln. Nach Auffassung des EWSA sind diese Vorschläge der bereits in der vorherigen Mitteilung zur „Strategie“ festgestellten Schwere der Gesundheitsschäden nicht angemessen und auch nicht geeignet, innerhalb vernünftiger Fristen eine wirkliche Politik zur Gefahrenreduzierung bereitzustellen.

4.3.2

Der EWSA empfiehlt insbesondere, die Erforschung der Faktoren, die sich auf die Luftqualität in Wohn- und Büroräumen auswirken (wie in Aktion 12 erwähnt) als dringend einzustufen und einen präzisen kurzfristigen Zeitplan aufzustellen, um den wissenschaftlichen Nachweis führen zu können, der eine Überarbeitung der Empfehlung von 1999 zu elektromagnetischen Feldern ermöglicht. Das Fehlen konkreter Ziele und Ergebnisse, die innerhalb festgelegter Fristen zu erreichen wären, lässt den EWSA befürchten, dass es mit diesen Aktionen nicht einmal gelingt, wirksame Modalitäten zur Koordinierung dessen, was bisher auf Gemeinschaftsebene in die Wege geleitet wurde, zu finden oder zu einer mit den Mitgliedstaaten koordinierten Vorgehensweise zu gelangen.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Mitteilung der Kommission „Eine europäische Strategie für Umwelt und Gesundheit“, KOM(2003) 338 endg.; zu dieser Mitteilung hat der EWSA auf seiner 404. Plenartagung am 10. Dezember 2003 eine Stellungnahme abgegeben, Berichterstatter: Herr Ehnmark, ABl. C 80 vom 30.3.2004).

(2)  Mitteilung der Kommission „Der Europäische Aktionsplan Umwelt und Gesundheit 2004–2010“, KOM(2004) 416 endg. vom 9.6.2004, Teil I und II.

(3)  Berichterstatter: Herr Ehnmark, Ziffer 6.4 - ABl. C 80 vom 30.3.2004; vgl. Anm. 1.

(4)  Ebenda, Ziffer 5.3.

(5)  ABl. C 19 vom 21.1.1998.

(6)  ABl. C 174 vom 17.6.1996.

(7)  ABl. C 80 vom 30.3.2004.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/70


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung humaner Fangnormen für bestimmte Tierarten“

KOM(2004) 532 endg. — 2004/0183 (COD)

(2005/C 157/11)

Der Rat beschloss am 14. September 2004 gemäß Artikel 175 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 16. November 2004 an. Berichterstatter war Herr Donnelly.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 16. Dezember) mit 60 Stimmen bei einer Gegenstimme und sechs Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

I.   EINLEITUNG

1.   Verordnung zum Verbot von Tellereisen

1.1

Das Europäische Parlament verabschiedete 1989 eine Entschließung, in der ein Verbot von Tellereisen in der EU und der Einfuhr von Pelzen und Pelzwaren aus Ländern, in denen Tellereisen verwendet werden, gefordert wird.

Als Reaktion darauf legte die Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung zu diesem Thema vor, die 1991 vom Rat verabschiedet wurde (1). Mit der Verordnung werden ab dem 1. Januar 1995 die Verwendung von Tellereisen und die Einfuhr von Pelzen von 13 namentlich aufgeführten Tierarten aus Drittländern verboten. Dieses Verbot gilt nicht, wenn eine der folgenden Bedingungen erfüllt wird:

es gelten angemessene Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, die die Verwendung von Tellereisen verbieten, oder

die bei den genannten dreizehn Tierarten angewandten Fangmethoden (Anhang I der EU-Verordnung) erfüllen international vereinbarte humane Fangnormen.

1.2

Das Europäische Parlament forderte in seiner Stellungnahme, den Verkauf von Tellereisen zu verbieten und Pelze und Pelzwaren von Tieren, die mit Tellereisen gefangen wurden, allmählich vom Markt zu nehmen. Diese Stellungnahme wurde vom Rat bei seinen Beratungen 1991 nicht berücksichtigt.

1.3

Obwohl die Verwendung von Tellereisen seit 1995 in der EU verboten ist, gilt dieses Verbot nicht in Ländern, die von mit Tellereisen gefangenen Tieren stammende Pelzwaren ausführen.

In seiner Stellungnahme von 1990 (2) betonte der EWSA, wie wichtig es sei, in dieser Frage Übereinstimmung zu erreichen, und sprach sich nicht nur für ein europaweites Verbot von Tellereisen aus, sondern schlug sogar ein internationales Verbot vor.

2.   Das Übereinkommen

2.1

Nach den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften über Tellereisen wurde die Notwendigkeit, Fangnormen auf internationaler Ebene aufzustellen, vordringlich. Zwischen der EU, Kanada, Russland und den USA wurde ein Übereinkommen ausgehandelt, das jedoch lediglich von Kanada, Russland und der EU unterzeichnet wurde. Die USA konnten diesem Übereinkommen nicht beitreten, da im US-amerikanischen System die Zuständigkeit in diesem Bereich dezentralisiert ist. Doch erklärten sich die USA bereit, eine schwächere Fassung des Übereinkommens umzusetzen.

2.2

Dieses Übereinkommen wurde ausgehandelt, um ein mögliches europäisches Einfuhrverbot von Pelzwaren von wild lebenden Tieren aus Ländern, in denen Tellereisen nicht verboten sind, zu verhindern.

2.3

Nach Ansicht des Europäischen Parlaments war das Übereinkommen vollkommen unangemessen und wirkungslos und hätte abgelehnt werden müssen. Stattdessen hätte ein Einfuhrverbot für Pelze und Pelzwaren, die von den im Übereinkommen aufgeführten Wildtierarten stammen, eingeführt werden müssen.

2.4

Das Übereinkommen schreibt bestimmte Normen vor, die beim Tierfang eingehalten werden müssen. Es wurde 1997 von der Europäischen Gemeinschaft ratifiziert. Die im Übereinkommen vorgeschriebenen Fangnormen spiegeln Normen wider, die in Russland, Kanada und in den USA bereits gelten. Die Hinzufügung des Begriffs „human“ war sehr umstritten, da bei diesen Normen ein hoher Leidensgrad der gefangenen Tiere in Kauf genommen wird.

2.5

Wissenschaftliche Gutachten (darunter dasjenige des Wissenschaftlichen Veterinärausschusses der Kommission) bestätigten, dass die im Übereinkommen enthaltenen humanen Fangmethoden keinen unannehmbar hohen Leidensgrad ausschlossen.

2.6

Der Wssenschaftliche Ausschuss betonte, dass die wichtigsten Kriterien, die bei der Beurteilung des Humanitätsgrads angewandt werden müssen, die Zeit sei, die vergeht, bis das Tier sein Empfindungsvermögen verloren hat, und das Maß an Schmerzen und Qualen, die das Tier in der Zeit erleiden muss. Der Ausschuss kam zu dem Schluss, dass eine Tötungsfalle sofort oder zumindest innerhalb weniger Sekunden eine Schmerzunempfindlichkeit des Tieres hervorrufen sollte, um als „human“ betrachtet werden zu können. Da in dem Übereinkommen stattdessen eine zeitliche Obergrenze von fünf Minuten festgelegt wird, wurde der Begriff „human“ für unangemessen erachtet.

2.7

Außerdem folgerte der Ausschuss, dass es der im Übereinkommen angewandten Verletzungsskala im Vergleich zu anderen gängigen Methoden zur Beurteilung schlechten Befindens an einer stichhaltigen wissenschaftlichen Grundlage mangelte.

2.8

Da bisher nur die EU und Kanada das Übereinkommen ratifiziert haben, die Ratifizierung Russlands jedoch noch aussteht, kann das Übereinkommen noch nicht umgesetzt werden. Kanada und die EU haben sich allerdings darauf geeinigt, die Vorschriften des Übereinkommens in der Zwischenzeit schon anzuwenden.

3.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags

3.1

Wie in den Beschlüssen des Rates 98/142/EC und 98/487/EC vorgesehen, zielt der Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zur Einführung humaner Fangnormen für bestimmte Tierarten (3) darauf ab, das Übereinkommen über humane Fangnormen in Gemeinschaftsrecht umzusetzen.

3.2

Der Vorschlag gilt für 19 Wildtierarten (wovon fünf in der EU leben), die in Anhang 1 aufgeführt sind.

3.3

In dem Vorschlag werden Verpflichtungen und Anforderungen in Bezug auf Fangmethoden, Fallenverwendung, Fallensteller, Forschung, Sanktionen und Zertifizierung festgelegt. Darüber hinaus enthält der Text eine ganze Reihe möglicher Ausnahmen sowie zwei Anhänge (Anhang II und III) in Bezug auf humane Fangnormen und die Prüfung von Fangmethoden.

3.4

In dem Vorschlag wird betont, dass die Mitgliedstaaten diesbezüglich strengere Bestimmungen anwenden können und die EU-Verordnung von 1991 zum Verbot von Tellereisen in Kraft bleibt. Die Umsetzung und Durchsetzung fällt in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten und ihrer zuständigen Behörden. In dem Vorschlag ist keine Haushaltslinie zur Bereitstellung von Mitteln aus dem Gemeinschaftshaushalt vorgesehen, weshalb die Mitgliedstaaten die Mittel zur Deckung der anfallenden Kosten aufbringen müssen.

II.   BEMERKUNGEN

4.   Die Verwendung des Begriffs „humane Fangnormen“

4.1

Der EWSA hält die Verwendung des Begriffs „humane Fangnormen“ (4) für fragwürdig. In Artikel 2 wird der Begriff „Fangmethoden“ definiert, nicht aber „humane Fangnormen“. Im Wortlaut des Übereinkommens (an den sich der Vorschlag anlehnt) wird im Vorwort der Mangel an internationalen Fangnormen eingeräumt und generell der Begriff „human“ auf die Gewährleistung eines ausreichenden Niveaus des Befindens der in Fallen gefangenen Tiere bezogen.

4.2

Zum Zeitpunkt der Verhandlungen über das Übereinkommen merkte der Wissenschaftliche Veterinärausschuss der Kommission (5) an, dass die in dem Text angeführten Normen (wie bereits zuvor erwähnt) nicht als „human“ definiert werden könnten, da die maximal zugelassene Zeit bis zum Eintreten der Schmerzunempfindlichkeit des Tieres weit über die annehmbare Dauer (sofortiger Tod) hinausging. Besonderes Gewicht wurde auf Fallen zum Ertränken von Tieren gelegt, da geschätzt wurde, dass es bei unter Wasser gefangenen halbaquatischen Säugetieren bis zu 15 Minuten dauern kann, ehe der Tod eintritt.

4.3

Aus diesem Grunde empfiehlt der Ausschuss, das Wort „human“ im Wortlaut der endgültigen Fassung der EU-Rechtvorschriften durch einen alternativen und besser geeigneten Begriff zu ersetzen, zumindest solange, bis die Fangnormen die oben beschriebenen Anforderungen erfüllen.

5.   Fallen

5.1

Der Vorschlag erstreckt sich auf zwei Arten von Fallen: Tötungsfallen und bewegungseinschränkende Fallen. In Bezug auf Tötungsfallen erfüllen die in dem Vorschlag festgelegten Normen eindeutig nicht die von der Gemeinschaft vereinbarten wissenschaftlichen Normen, die den sofortigen Tod oder einen maximal zulässigen Grenzwert von 30 Sekunden bis zum Eintritt des Todes empfehlen. Was die bewegungseinschränkenden Fallen (Fallen zum Fangen lebender Tiere) anbelangt, enthält der Vorschlag keinerlei Angaben zu den Fallen oder Definitionen des mit dem Fangen von Tieren verfolgten Zwecks. Ferner werden in dem Vorschlag keinerlei Normen für das Befinden für den Fall aufgestellt, dass das gefangene Tier getötet wird. Wird also ein Tier in einer bewegungseinschränkenden Falle gefangen und anschließend getötet, ist die angewandte Tötungsmethode nicht geregelt.

Des Weiteren wird durch den Vorschlag nicht sichergestellt, dass durch die genehmigten Fangmethoden nicht versehentlich andere Tierarten als die darin aufgeführten getötet oder gefangen werden. Die Fangnormen müssen gewährleisten, dass dieses Risiko so gering wie möglich gehalten wird.

6.   Prüfen

6.1

Der Vorschlag sieht technische Vorschriften für die Prüfung von Fangmethoden vor, die nicht die Verwendung lebender Tiere ausschließen. Sowohl für die Gehegeprüfung als auch die Feldprüfungen sind Mindestanforderungen vorgesehen. Darüber hinaus können von einer Vertragspartei des Übereinkommens durchgeführte Prüfungen von den anderen Vertragsparteien anerkannt werden.

6.2

Damit die Ergebnisse Gültigkeit haben, müssen die Bedingungen, unter denen die Fallen geprüft werden, mit denjenigen identisch sein, unter denen die Fallen verwendet werden sollen. Daher können auf der Grundlage von Ergebnissen von Gehegeprüfungen erstellte Parameter nicht für die Beurteilung des Befindens von wild lebenden Tieren herangezogen werden. Aus diesen Gründen sollten anhand von Tieren durchgeführte Prüfungen völlig ausgeschlossen und sollte lediglich auf die bereits verfügbaren Prüfungen anhand von Computersimulationen zurückgegriffen werden.

7.   Ausnahmen

7.1

In dem Vorschlag wird eine große Bandbreite von Ausnahmeregelungen aufgeführt. Deren Anwendung könnte den Zweck des Vorschlags vollkommen untergraben. Nach dem Dafürhalten des EWSA sollten Ausnahmeregelungen in Bezug auf die öffentliche Sicherheit sowie die menschliche Gesundheit und die Tiergesundheit zugelassen werden. In diesem Fall sollten die staatlichen Stellen umgehend die Personen (z.B. Landwirte) informieren und um Rat fragen, die in dem Gebiet tätig sind, in dem derartige Probleme auftreten. Der EWSA hat Vorbehalte in Bezug auf die anderen vorgeschlagenen Ausnahmeregelungen.

7.2

Da sich der Einsatz eines wirkungsvollen Überwachungs- und Durchsetzungssystems in der freien Natur, in der die Tiere gefangen werden, als schwierig erweist, würden die von der Kommission vorgeschlagenen Ausnahmeregelungen (ausgenommen die oben erwähnten) lediglich dazu beitragen, die Transparenz und die gegenseitige Rechenschaftspflicht der Vertragspartner des Übereinkommens zu untergraben.

8.   Fallensteller

8.1

Der Vorschlag sieht ein System von Genehmigungen und zur Ausbildung von Fallenstellern vor. Jedoch deckt er nicht die Lizenzvergabe ab, und eine Kontrolle der von den Fallenstellern angewandten Fangmethoden ist vorwiegend nicht realisierbar, da sie in der freien Natur zu erfolgen hätte. Der EWSA empfiehlt, ein strenges, auf Gemeinschaftsebene noch zu harmonisierendes Lizenzierungssystem einzurichten.

9.   Zertifizierung

9.1

Der Kommissionsvorschlag überträgt die Zertifizierung der verwendeten Fangmethoden den Mitgliedstaaten und schreibt die gegenseitige Anerkennung dieser Zertifizierung unter den Mitgliedstaaten vor.

Zwar ließe sich dieses System erfolgreich in der EU einsetzen, dennoch sollte aber auch ein internationales Zertifizierungssystem eingerichtet werden. Unter den Vertragspartnern des Übereinkommens sollte ein System zur Standardzertifizierung und Rückverfolgbarkeit eingeführt werden. Dieses System würde zur Transparenz und wirksamen Umsetzung des Übereinkommens beitragen.

10.   Sanktionen

10.1

Der Kommissionsvorschlag verweist auf die mögliche Verhängung administrativer Sanktionen bei einem Verstoß gegen die Vorschriften. Der EWSA empfiehlt jedoch eine Verhängung von Sanktionen gemäß dem einzelstaatlichen Rechtssystem, da in einigen EU-Mitgliedstaaten ein Verstoß gegen Tierschutzvorschriften unter das Strafrecht fällt.

11.   FAZIT

11.1

Der EWSA ist der Auffassung, dass die in dem Vorschlag enthaltenen humanen Fangnormen nicht als human definiert werden können, da sie lediglich im Übereinkommen aufgeführte Normen widerspiegeln. Die Normen des Übereinkommens wurden als weniger streng eingestuft als bereits bestehende Tierschutznormen des Gemeinschaftsrechts. Daher empfiehlt der Ausschuss, das Wort „human“ in der Endfassung der Rechtsvorschriften durch einen besser geeigneten Begriff zu ersetzen.

11.2

Zu den Fallen ist der EWSA der Ansicht, dass ausschließlich Tötungsfallen mit sofortiger tödlicher Wirkung in Betracht gezogen werden sollten und der Anwendungsbereich für bewegungseinschränkende Fallen genau bestimmt werden sollte. Des Weiteren sollte für den Fall, dass ein gefangenes Tier getötet wird, nach Möglichkeit die Tötungsmethode gemäß den geltenden Tierschutzvorschriften geregelt werden.

11.3

Nach dem Dafürhalten des EWSA sollten Fallen zum Ertränken von Tieren verboten werden, da der Wissenschaftliche Veterinärausschuss der Kommission zu dem Schluss kam, dass sie eine grausame Tötungsmethode darstellen, weil sie ein langsames Ersticken des Tieres unter Wasser bedeuten.

11.4

Der EWSA stellt fest, dass der Vorschlag zwar Bestimmungen über die Prüfung von Fallen enthält, aber eine wissenschaftliche Grundlage dafür fehlt, auf Ergebnissen von Gehegeprüfungen beruhende Parameter auf wild lebende Tiere anzuwenden. Daher empfiehlt der EWSA, das Verwenden von Tieren für die Durchführung von Prüfungen zu verbieten und stattdessen auf die bereits verfügbare Computersimulation zurückzugreifen.

11.5

Der EWSA ist der Meinung, dass mit den meisten Ausnahmeregelungen des Vorschlags den beteiligten Akteuren in bestimmten Fällen die Möglichkeit gegeben werden könnte, die Rechtsvorschriften zu umgehen, weshalb er empfiehlt, dass Ausnahmen, die von den zuständigen Behörden zu beachten sind, auf Gründen der öffentlichen Sicherheit, der menschlichen Gesundheit oder der Tiergesundheit beruhen. Dieser Aspekt ist angesichts der Tatsache von Bedeutung, dass die Durchführung von Kontrollen und Überwachungsmaßnahmen in der freien Natur schwierig ist.

11.6

Der EWSA ist der Auffassung, dass ein EU-weites transparentes System zur Lizenzierung von Fallenstellern eingeführt werden sollte. Der Vorschlag überträgt die Aufgabe der Aufstellung von Ausbildungs- und Genehmigungsanforderungen für Fallensteller voll und ganz den Behörden der Mitgliedstaaten. Der EWSA befürchtet, dass dies zu einem nicht harmonisierten System führen wird, das die Umsetzung der Tierschutznormen in der EU nicht gewährleisten würde.

11.7

Der EWSA hält die Einführung eines wirkungsvollen Zertifizierungs- und Rückverfolgungssystems unter den Vertragsparteien des Übereinkommens für erforderlich, um eine wirkungsvolle Umsetzung sicherzustellen.

11.8

Der EWSA empfiehlt, bei einem Verstoß gegen die vorgeschlagenen Vorschriften Sanktionen gemäß den nationalen Tierschutzvorschriften zu verhängen.

11.9

Der EWSA empfiehlt, den Zeitplan für die Umsetzung der im Vorschlag vorgesehenen Bestimmungen stärker zu straffen. Dem Vorschlag zufolge müssen die Fallen ab 2009 und die Fangmethoden ab 2012 die vorgeschlagenen Normen erfüllen. Der EWSA ist der Ansicht, dass sämtliche Bestimmungen so bald wie möglich umgesetzt werden sollten.

Brüssel, den 16. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Verordnung Nr. 3254/91 des Rates, ABl. L308 vom 9.11.1991.

(2)  Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über die Einfuhr bestimmter Pelzwaren, ABl. C 168 vom 10.7.1990, S. 32.

(3)  (KOM(2004) 532 endg.)

(4)  Im Februar 1994 beschloss der im Rahmen der ISO (Internationale Normenorganisation) zur Erörterung humaner Fangnormen eingesetzte Arbeitsausschuss, das Wort „human“ aus den Normenbezeichnungen zu streichen. In dieser Sitzung wurde vereinbart, alle Verweise auf „human“ oder „Humanität“ herauszunehmen. Eine Einigung über Fangnormen gemäß ISO konnte nicht erzielt werden. Während der ISO-Verhandlungen unterstrichen europäische Veterinäre, Töten könne nicht als human definiert werden, wenn bis zum Eintreten des Todes mehr als 15 Sekunden vergehen, und Fallen zum Ertränken von Tieren seien eindeutig nicht als „human“ anzusehen. Bei der Abfassung des endgültigen Textes des Übereinkommens wurden u.a. diese Aspekte nicht berücksichtigt.

In seiner Stellungnahme (1994) kam der Wissenschaftliche Veterinärausschuss der Europäischen Kommission zu dem Schluss, eine Tötungsfalle solle das Tier sofort gegen Schmerz unempfindlich machen, um als „human“ betrachtet werden zu können, und zur Berücksichtigung des Verhaltens der Tiere, die nicht gefangen werden sollen, sollte der Konzeption der Fallen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, um zu vermeiden, dass diese Tiere gefangen oder verletzt werden. Der Ausschuss folgerte, dass die vorgeschlagene Verletzungsskala als Maßstab für Humanität inakzeptabel sei, da es ihr an einer wissenschaftlichen Grundlage mangele.

(5)  Stellungnahme des im Rahmen der Verordnung zur Umsetzung des CITES-Übereinkommens eingesetzten Wissenschaftlichen Ausschusses, 1995; Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses, GD Landwirtschaft, 1994.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/74


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 87/328/EWG hinsichtlich der Lagerung von Samen von Rindern für den innergemeinschaftlichen Handel“

(KOM(2004) 563 endg. — 2004/0188 (CNS))

(2005/C 157/12)

Der Rat beschloss am 20. September 2004 gemäß Artikel 37 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 16. November 2004 an. Berichterstatter war Herr Nielsen.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 139 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung des Kommissionsvorschlags

1.1

Die Richtlinie 88/407/EWG des Rates enthält eine Reihe tierseuchenrechtlicher Anforderungen an den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr mit Samen von Rindern von reinrassigen Zuchttieren sowie an dessen Einfuhr. Trotz ernsthafter Bedenken, die der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss in seiner Stellungnahme vorbrachte, wurde die Richtlinie 2003 geändert, um die Lagerung von Samen nicht nur in „Besamungsstationen“ mit eigener Produktion sondern auch in „Samendepots“ ohne eigene Produktion zu ermöglichen. (1)

1.2

„Um Unklarheiten mit dem Anwendungsbereich und den Definitionen zu vermeiden“, schlägt die Kommission nun eine Änderung der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 87/328/EWG des Rates über die Zulassung reinrassiger Zuchtrinder zur Zucht vor, wonach die betreffenden „Samendepots“ in Zukunft hinsichtlich der Gewinnung, Behandlung und Lagerung von Rindersamen neben den Besamungsstationen genannt werden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Die Kommission hätte im Zusammenhang mit der Änderung der Richtlinie des Rates 88/407/EWG die sich hieraus ergebende erforderliche Änderung der Richtlinie 87/328/EWG berücksichtigen sollen, um so die erforderliche Einheitlichkeit der Gemeinschaftsvorschriften herzustellen. Auf diese Weise hätten die bestehenden Unklarheiten in Bezug auf den Anwendungsbereich und die Definitionen sowie das jetzige weitere Rechtsetzungsverfahren vermieden werden können.

2.2

Daneben hinterlässt der Vorschlag für eine Umformulierung von Artikel 4 der Richtlinie 87/328/EWG den Eindruck einer Erweiterung der Befugnisse der zugelassenen Samendepots, als ob dort „Samen gewonnen und behandelt“ werden dürfte und die Samendepots so zu einem „Parallelsystem“ neben den bestehenden Besamungsstationen würden. Dies wäre unsinnig und erweist sich nach eingehender Lektüre auch als nicht zutreffend. Daher sollte die Änderung so formuliert werden, dass keine Unklarheiten entstehen.

3.   Schlussfolgerung

3.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stellt fest, dass trotz seiner im Jahr 2002 vorgebrachten Bedenken Depots für den Vertrieb von Rindersamen gemäß Richtlinie 2003/43/EG des Rates zugelassen wurden, und stimmt der Kommission darin zu, dass die vorgeschlagene Änderung, die gleichzeitig mit dem Beschluss aus dem Jahr 2003 hätte vorgenommen werden sollen, erforderlich ist, um die Einheitlichkeit der Gemeinschaftsvorschriften herzustellen. Die Formulierung kann jedoch Missverständnisse hervorrufen und sollte daher eindeutiger sein.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Richtlinie 2003/43/EG, ABl. L 143 vom 11.6.2003, S. 23.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/75


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Den Strukturwandel begleiten: Eine Industriepolitik für die erweiterte Union“

(KOM(2004) 274 endg.)

(2005/C 157/13)

Die Kommission beschloss am 20. April 2004 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen: „Den Strukturwandel begleiten: Eine Industriepolitik für die erweiterte Union“

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 2. Dezember 2004 an. Berichterstatter war Herr VAN IERSEL, Mitberichterstatter war Herr LEGELIUS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 142 gegen 1 Stimme bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

Zusammenfassung

Nach vielen Jahren steht die Industriepolitik wieder ganz oben auf der Tagesordnung Europas. Zwar gab es auch in den vergangenen Jahrzehnten spezifische industriepolitische Maßnahmen und thematische Ansätze, doch waren diese aus der Sicht der europäischen Unternehmen zuweilen unzureichend koordiniert und unausgewogen. Das sich wandelnde weltweite Umfeld, in dem die USA, China und Indien den Ton angeben, zwingt Europa zum Umdenken und zu verstärkten Anstrengungen. Die Zeit ist reif für eine Neubewertung des produzierenden Gewerbes und für eine Klärung der komplexen Wechselbeziehung zwischen Industrie und Dienstleistungsgewerbe.

Die notwendige Schärfung des öffentlichen Bewusstseins ist nach Ansicht des EWSA eine große Herausforderung. Die Öffentlichkeit muss Zugang zu transparentem Datenmaterial und Analysen haben, um einen Konsens und die Unterstützung seitens der breiten Öffentlichkeit zu fördern. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt ausdrücklich die drei strategischen Stoßrichtungen: die „bessere Rechtsetzung“, den integrierten Ansatz auf EU-Ebene sowie die sektoralen Politiken mit spezifischen und angepassten Maßnahmen. „Bessere Rechtsetzung“ bedeutet die sorgfältige und kontinuierliche Bewertung bisheriger und neuer Maßnahmen. Unter „integriertem Ansatz“ ist die effiziente Koordinierung der EU-Politik mit den einzelstaatlichen Politiken zu verstehen. Ein ganz neuer Aspekt des Kommissionsdokuments sind die sektorale Dimension und die maßgeschneiderten Ansätze. Denn ungeachtet einiger Gemeinsamkeiten sind die Verhältnisse bei jedem Wirtschaftszweig anders. Die Kommission hat eine Reihe von Sektoranalysen durchgeführt, und weitere Analysen sind geplant. Der EWSA unterstützt diese Praxis als Basis für eine Industriepolitik „neuen Stils“.

Der Ausschuss wertet die Industriepolitik als geeignetes Instrument, um die europäische Wirtschaft — so wie von der Lissabon-Strategie beabsichtigt — bei Wettbewerbsfähigkeit, Know-how und Nachhaltigkeit an die Spitze zu führen. Zu diesem Zweck müssen die Analysen und Politiken enger auf die in den jeweiligen Industriezweigen bzw. Unternehmen herrschende Dynamik abgestimmt werden. Die neue Industriepolitik muss nämlich auf Marktkonformität sowie auf einem Prozess der Liberalisierung aufbauen. Sie beinhaltet aber auch branchenspezifische Maßnahmen, wie etwa fortlaufende Konsultierung der Unternehmen, Regulierungsarbeit, Abbau von technischen Handelshemmnissen, Forschung und Entwicklung sowie das zielgerichtete Management von Humanressourcen. Außerdem impliziert sie die Einrichtung von Technologie-Plattformen, aus denen neue öffentlich-private Partnerschaften in Europa entspringen könnten, beispielsweise zwischen Universitäten, Forschungszentren und Unternehmen.

Innerhalb der Kommission (beispielsweise unter Federführung der Generaldirektion Unternehmen) und im Ministerrat wäre eine verbesserte Koordinierung angezeigt, um die Sichtbarkeit zu verbessern und Synergien zu fördern. Ein von der Kommission und der Ratsformation Wettbewerbsfähigkeit gebilligter Halbzeitaktionsplan wäre sehr begrüßenswert. Die Industriepolitik „neuen Stils“ sollte bei der Vorbereitung der Halbzeitbewertung der Lissabon-Strategie im März 2005 unbedingt mit einbezogen werden.

1.   Einleitung

1.1

Seit ihren frühesten Anfängen befasst sich die Europäische Union mit der Industriepolitik: Schon der EGKS-Vertrag enthielt spezielle Vorgaben und Instrumente für den Kohle- und Stahlsektor. Der EWG-Vertrag verfolgte einen allgemeineren Ansatz: Die Verwirklichung des Binnenmarkts war und ist sein Kernanliegen.

1.2

Auf EU-Ebene wurden spezielle industriepolitische Maßnahmen ergriffen, die auf miteinander verknüpfte Bereiche wie Umwelt, Forschung und Entwicklung und soziale Themen abzielen. Im Laufe der Zeit wurde die sektorale Herangehensweise durch thematische Ansätze ersetzt, die in den Augen der europäischen Unternehmen jedoch nicht immer hinreichend aufeinander abgestimmt bzw. ausgewogen waren.

1.3

Neben allgemeinen Politikansätzen wurde eine Reihe von sektoralen Politiken ausgearbeitet, deren Ziel die Marktliberalisierung war, etwa in den Bereichen Energieversorgung und Telekommunikation. So wurden einige europäische Industrieprojekte auf den Weg gebracht, darunter zum Beispiel „Galileo“.

1.4

Der kontinuierliche industrielle Wandel und die Globalisierung zwingen die Industrie und die Behörden heutzutage, ihren Ansatz noch weiter anzupassen, um die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Im Juli legte die Kommission eine eindrucksvolle Analyse der Situation und der Perspektiven für die europäischen Industriesektoren im globalen Kontext vor, der durch eine starke Dynamik in anderen Weltregionen gekennzeichnet ist (1). Diese Dynamik beeinflusst möglicherweise die Investitionsstrategien europäischer Unternehmen. Europa braucht einen technologischen Quantensprung, um in den meisten Wirtschaftszweigen wettbewerbsfähig bleiben zu können.

1.5

Im Rahmen der Lissabon-Strategie wurden und werden von Seiten des Europäischen Rates und anderer Ratsformationen wie etwa dem Rat „Wirtschaft und Finanzen“ und dem Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ eine Reihe von Mitteilungen und konkreten Vorschlägen der Kommission zur Verbesserung der makro- und mikroökonomischen Rahmenbedingungen für die Industrie erörtert. In diesen Dokumenten und Beratungen dominiert ein horizontaler Politikansatz. Jahrelang wurde der Begriff „Industriepolitik“ tunlichst vermieden. Zu stark erinnerte er an staatliche Intervention und staatliche Beihilfen, die ein Hindernis für die Schaffung gemeinsamer Ausgangsbedingungen in einem gut funktionierenden Binnenmarkt darstellten. Zwischenzeitlich sind diese Interventionen schrittweise aufgegeben worden.

1.6

Es werden neue Perspektiven der Industriepolitik geprüft. In diesem Kontext wurde die Mitteilung „Industriepolitik in einem erweiterten Europa“ im Jahre 2002 verabschiedet (2).

1.7

Die Frühjahrstagung 2003 des Europäischen Rates beauftragte den Rat für Wettbewerbsfähigkeit, „regelmäßig sowohl Querschnittsthemen als auch sektorbezogene Fragen“ zu überprüfen (3).

1.8

Im April 2004 gab die Kommission eine zweite Mitteilung zur Industriepolitik heraus, auf die das vorliegende Dokument Bezug nimmt (4).

1.9

Diese Initiativen und der aktuelle Ergebnisstand der Diskussionen veranlassten Kommissionsmitglied Liikanen im Mai 2004 zu der Äußerung, dass, im Gegensatz zu den Mitte der 90er Jahre angestellten Prognosen,„die Industriepolitik der EU wieder ganz oben auf der politischen Tagesordnung Europas steht“  (5) .

1.10

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den industriepolitischen Paradigmenwechsel, der zeitgerecht erfolgt. Der Ausschuss hält es ebenfalls für wünschenswert, den Belangen der Industrie und der sektoralen Dimension besondere Aufmerksamkeit zu widmen — allerdings unter Vermeidung der Fehler der Vergangenheit. Das Fachwissen und die einschlägigen Erfahrungen, wie sie von der CCMI repräsentiert werden, könnten hier künftig unterstützend wirken. Eine stimmige industrielle und branchenbezogene Politik dürfte einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung der Zielsetzungen der Lissabon-Strategie leisten.

2.   Ansichten der Kommission in einem sich wandelnden Umfeld

2.1

Die heutige Situation wird maßgeblich durch das sich wandelnde weltwirtschaftliche Umfeld geprägt. Deswegen sind neue Konzepte erforderlich. Der Kommission zufolge muss die Industriepolitik in Zukunft drei Stoßrichtungen verfolgen:

die Industrie darf nicht durch Rechtsvorschriften und „Regulierungswut“ überlastet werden. Deshalb muss jede bestehende und jede neue Maßnahme einer sorgfältigen Bewertung unterzogen werden;

ein integrierter Ansatz auf EU-Ebene ist notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zu stärken (6);

sektorbezogene Politiken mit spezifischen und abgestimmten Maßnahmen sind wünschenswert.

2.2

Dieser von der Kommission im Jahr 2002 mit Zurückhaltung angekündigte Ansatz ist als Durchbruch zu werten. Das letzte Dokument der Kommission zur Industriepolitik stammt aus dem Jahr 1990 (7). Seitdem haben einige entscheidende Faktoren die Industriepolitik zugunsten primär horizontal ausgerichteter Politiken in den Hintergrund gedrängt.

2.3

Im Jahr 2000 war die Lissabon-Strategie mit dem Anspruch angetreten, der europäischen Wirtschaft hinsichtlich Wissensbasiertheit und Wettbewerbsfähigkeit zu einer Spitzenposition zu verhelfen. Bislang ist diese Strategie nicht energisch genug verfolgt worden. Statt dessen hat sich der Produktivitätszuwachs verlangsamt und die Arbeitslosigkeit zugenommen. Hinzu gekommen ist die Angst vor der Produktionsverlagerung ganzer Industriezweige (8).

2.4

Aus diesen Gründen sind eingehendere Analysen auf folgenden Gebieten wünschenswert:

Produktivität und Arbeitslosigkeit;

Wie ist es um die wahren Tatsachen der industriellen Standortverlagerung bestellt?

Wie ist die Bedeutung der Industrie für und in Europa insgesamt zu bewerten?

Wie kann eine integrierte EU-Politik gegenüber der Industrie aussehen?

Wie werden sektorale Ansätze definiert und ausgearbeitet?

2.5

Das Kommissionsdokument von 2002 (9) stellt die Weichen für den Wandel. Inhaltlich erweitert es den Begriff der „Industriepolitik“. Dessen ungeachtet wird diese Politik immer noch in ziemlich abstrakte Formulierungen gehüllt: Alle EU-Politiken mit direkter Relevanz für die Industrie werden angeführt, konkrete Methoden oder Maßnahmen hinsichtlich einer diesbezüglichen Entscheidungsbefugnis und Koordinierungsfunktion der Europäischen Institutionen — insbesondere der Kommission — sucht man hingegen vergebens.

2.6

Das Dokument „Den Strukturwandel begleiten: Eine Industriepolitik für die erweiterte Union“ vom April 2004, das unter Federführung von Kommissionsmitglied Liikanen und der GD Unternehmen veröffentlicht wurde, geht darüber wesentlich hinaus. In seiner Analyse dringt dieses Dokument zielstrebig zum Kern der Problematik vor:

Es wird anschauliches Datenmaterial zu der Produktions- und Beschäftigungslage im verarbeitenden Gewerbe vorgelegt, auch mit Bezug zu weltweiten Entwicklungstendenzen.

Die Entwicklungen einzelner Industriebranchen werden dargestellt; damit wird ein genaueres Bild der Gefährdungssituation in den einzelnen Branchen gezeichnet und es werden stark divergierende Perspektiven aufgezeigt.

2.7

Die Kommission geht zu Recht von einer in Gang befindlichen Dynamik aus, betont indes, dass diese dynamischen Prozesse durch eine vorausschauende Problemidentifizierung und die gezielte Förderung von Wachstumsfaktoren positiv beeinflusst werden können.

2.8

Die allgemeine Analyse bestätigt die Verlangsamung des Produktivitätszuwachses in Europa, die Kluft gegenüber den Entwicklungen in den Vereinigten Staaten sowie die speziell im Hochtechnologiesektor enttäuschende Leistung der Industrie. Die im Vergleich zu US-Unternehmen bescheidenen FuE-Ausgaben der europäischen Unternehmen, die teilweise mit der mangelnden Investitionsbereitschaft der privaten Unternehmen zusammenhängen, sind der Kommission zufolge recht offenkundig, wenn man einmal von Finnland und Schweden als bemerkenswerte Ausnahmen absieht. Darüber hinaus wächst Chinas und Indiens wissensgestütztes Leistungsvermögen rapide.

2.9

An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Kommission auch auf eine Erhebung führender Unternehmen, durchgeführt vom „Europäischen Industriekreis“ verweist. Daraus geht hervor, dass eine Reihe dieser Unternehmen die Neuansiedlung von FuE-Aktivitäten außerhalb Europas plant, falls sich das hiesige Regelungsumfeld nicht verbessert (10).

2.10

Obwohl die europäische Industrie in traditionell starken Sparten, wie etwa im Maschinenbau, in der Chemie, sowie im IKT- und Automobilsektor überzeugende Leistungen vorweisen kann, etablieren sich zunehmend neue Wettbewerber. China und Indien konkurrieren mit wachsendem Erfolg sowohl in traditionellen Branchen als auch im Hochtechnologiesektor. An dieser Stelle wird ein direkter Zusammenhang mit den Produktionsverlagerungen europäischer Unternehmen offenkundig.

2.11

Es findet ein kontinuierlicher weltweiter Angleichungsprozess statt. Die Globalisierung sorgt dabei für Anpassungsdruck, eröffnet jedoch zugleich auch neue Chancen. Obwohl es diesbezüglich abweichende Situationsbewertungen gibt, stellt die Kommission zunehmend das Auftreten von bestimmten Signalen fest, die bedenklich stimmen müssen.

2.12

Im Zuge der EU-Erweiterung schwellen die Investitionsströme aus den EU-15-Mitgliedstaaten in die neuen EU-Länder an. Da es sich nunmehr um EU-interne Investitionen handelt, ist ein gut funktionierender Binnenmarkt — beispielsweise hinsichtlich der Umwelt- und Arbeitsstandards — umso notwendiger.

2.13

Da sich die Unternehmen dem Wettbewerb auf den freien Märkten und innerhalb des von der WTO vorgegebenen Rahmens stellen müssen, weist die Kommission darauf hin, dass die EU und die Mitgliedstaaten eine klare Antwort auf den Prozess des dynamischen Wandels geben müssen, bei der folgende Aspekte berücksichtigt werden müssen:

die „bessere Rechtsetzung“;

die integrierte Herangehensweise an verschiedene Politiken mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit;

die besonderen Bedürfnisse der verschiedenen Industriezweige, denen voll und ganz Rechnung getragen werden muss.

2.14

Die Kommission plädiert für eine detaillierte Folgenabschätzung der geltenden Rechtsbestimmungen sowie der künftigen Maßnahmen. Eine engere Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten und der EU ist schon deshalb angezeigt, weil viele Bestimmungen auf einzelstaatlicher Ebene umgesetzt werden. Die Kommission besteht darauf, dass die Ratsformation „Wettbewerbsfähigkeit“ eine wichtige und transparente Rolle in diesem Prozess übernehmen muss.

2.15

Die Kommission hält Synergieeffekte zwischen den Politiken für erzielbar, wenn die optimale Abstimmung der Konsultationen zwischen den rechtsetzenden Instanzen, die in enger Zusammenarbeit mit Unternehmenskreisen erfolgen müssen, gefördert wird.

2.16

Das gilt auch für den FuE-Bereich. Zweifelsohne werden hier die finanziellen Auswirkungen sowohl auf EU- als auch auf einzelstaatlicher Ebene spürbar sein. Dies berührt die Lissabon-Strategie im Kern. Im kommenden Jahr wird die Kommission neue Leitlinien zur Forschung im verarbeitenden Gewerbe und zu staatlichen Beihilfen für Innovationen vorschlagen. Technologische Plattformen können sich dabei als überaus nützlich erweisen.

2.17

Einige Politiken zielen unmittelbar auf die Schaffung eines günstigen Wettbewerbsklimas ab, beispielsweise die Wettbewerbspolitik und die Beseitigung von Handelshemmnissen. Allerdings argumentiert die Kommission, dass bei der Anwendung dieser Politiken zuweilen ein höheres Maß an Differenziertheit möglich und notwendig ist.

2.18

Die Kohäsionspolitik kann nach Darstellung der Kommission zur Stimulierung erwünschter regionaler und struktureller Reformen in Bezug auf das Funktionieren des Arbeitsmarktes eingesetzt werden (11). Dasselbe gilt für die bessere Vereinbarkeit von nachhaltiger Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit.

2.19

Da in globalen Kategorien gedacht werden muss, spricht sich die Kommission für gleiche Ausgangsbedingungen auf der Grundlage internationaler Standards aus. Generell liegen die EU-Standards über denjenigen der konkurrierenden Weltregionen. Künftig wird es daher zu einer gewissen Angleichung, entweder im Wege bilateraler Verhandlungen oder im WTO-Rahmen, kommen müssen. Bei der Behandlung dieses Problems sollten nicht etwa die europäischen Standards an diejenigen der anderen Weltregionen angepasst werden; vielmehr muss Europa — wie bei der Umsetzung des Protokolls von Kioto — Initiativen ergreifen, um durch entsprechendes Verhalten in allen internationalen Institutionen eine Erhöhung der Standards in anderen Teilen der Welt zu erreichen.

2.20

All diese Themen sind bereits zuvor regelmäßig auf EU-Ebene erörtert worden. Dass der Akzent nun viel stärker auf der Wettbewerbsfähigkeit liegt, fällt auf. Das extreme Entwicklungstempo auf den Weltmärkten lässt Europa keinen großen Entscheidungsspielraum.

2.21

Besonders neu an dem Kommissionsdokument ist die sektorale Dimension. Seit Jahren betreibt die Kommission eingehende branchenspezifische Studien, die nicht selten auf Konsultationen mit den Branchenorganisationen auf EU-Ebene aufbauen.

2.22

Interessante Vorschläge, an deren Erörterung sich auch der EWSA beteiligte, sind ins Feld geführt worden. Sie betreffen beispielsweise die Pharmaindustrie (CESE 842/2004), Textilwaren und Bekleidung (CESE 62/2004 fin; Zusätzliche Stellungnahme der CCMI, CESE 528/2004), Schiffbau- und Schiffsreparaturindustrie (CESE 397/2004 fin; Zusätzliche Stellungnahme der CCMI, CESE 478/2004), Raumfahrtpolitik (CESE 501/2004), Chemische Stoffe (CESE 524/2004; Informationsbericht der CCMI, CESE 242/2004, derzeit in Vorbereitung) sowie Lebenswissenschaften und Biotechnologie (CESE 1010/2002; CESE 920/2003).

2.23

Je nach Branche stellt sich die Situation anders dar. Dabei lassen sich durchaus gemeinsame Nenner ausmachen, darunter Qualitätsanforderungen als Wettbewerbsvorteil, IKT als der neue „Rohstoff“, die zunehmende Kapitalintensität und der wachsende internationale Wettbewerbsdruck. Gleichwohl sind die Unterschiede zwischen den Sektoren nicht zu übersehen: Hochtechnologie versus Niedrigtechnologie, arbeits- oder kapitalintensive Industrie, Verbrauchs- oder Investitionsgüter, wenige marktbeherrschende Akteure oder aber Branchen, die durch KMU geprägt sind etc. — es ergibt sich ein faszinierendes Bild, von dem die politisch Verantwortlichen nach Ansicht der Kommission jahrelang zu wenig Notiz genommen haben.

2.24

Im Rahmen der „Industriepolitik“ sind auch die Branchenanalysen und -ansätze wieder im Gespräch. In dem Dokument arbeitet die Kommission keine weiteren Initiativen in Bezug auf die erwähnten Branchen aus.

2.25

Neben diesen Branchen plant die Kommission neue Aktivitäten. Für das kommende Jahr sind Studien über den Maschinenbau, die Öko-Industrie, den Automobilbau, den Buntmetall-Sektor und den IKT-Sektor angekündigt.

3.   Unterstützung eines „neuen Stils“ in der Industriepolitik — die Ansichten des EWSA

3.1

Der EWSA teilt die Ansicht, dass die Dynamik der Weltwirtschaft einen erneuten Schwerpunkt erfordert. Er begrüßt, dass das Thema „Industriepolitik“ nach langer Zeit wieder auf die politische Tagesordnung der EU gesetzt worden ist. Bestimmte Aspekte der europäischen Industrie (wie Umweltschutz) standen im letzten Jahrzehnt auf der EU-Agenda, doch haben es die verschiedenen Ratsformationen versäumt, über eine Politik zu beraten, welche die Bedingungen für das Gesamtergebnis kohärent verbessert und das Umfeld für (Mehrwert bringende) Investitionen proaktiv fördert.

3.2

Rückblickend und angesichts des gegenwärtigen Wandels zugunsten eines gezielteren industriepolitischen Ansatzes lohnt es sich, die wesentlichen Faktoren, die zu einer gewissen Tabuisierung der Industriepolitik beigetragen haben, zu nennen:

das Versagen staatlicher Interventionen, die die Industrie langfristig zumeist weder gestärkt noch wettbewerbsfähiger gemacht haben;

die Beseitigung der gesamtwirtschaftlich ungerechtfertigten Marktverzerrung und Förderung gleicher Ausgangsbedingungen für industrielle Aktivitäten in Europa, wobei spezifische Maßnahmen, die in einigen EU-Mitgliedstaaten ergriffen wurden und wettbewerbsverzerrend wirken, auf EU-Ebene noch sachlich angemessen geprüft werden müssen;

die allgemeine und erfolgreiche Intensivierung der Liberalisierung des Marktes;

die überzogenen Erwartungen in die „New Economy“ und in ein post-industrielles Zeitalter;

der Nachdruck auf der Umsetzung der WWU und einer sachgerechten makroökonomischen Politikgestaltung;

der in einigen Mitgliedstaaten schwindende Einfluss der Ministerien, die für die Belange der Industrie zuständig sind.

3.3

Die in der Kommissionsmitteilung enthaltenen Informationen sind bereits seit Jahren weitgehend bekannt. Die Art der Präsentation und die Verknüpfung der verschiedenen analysierten Bereiche und der vorgeschlagenen Maßnahmen unterscheiden sich gleichwohl von früheren Dokumenten. Stärker als in der Vergangenheit werden Analysen und Politiken direkter mit der Dynamik der verschiedenen Industriezweige und den betroffenen Unternehmen in Verbindung gesetzt.

3.4

Der EWSA befürwortet ausdrücklich die Ausarbeitung zusätzlicher Studien über konkrete branchenspezifische Entwicklungen in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Diese könnten zur Schaffung des notwendigen „Dringlichkeitsbewusstseins“ beitragen; letztgenannter Aspekt trat zwischenzeitlich in den Hintergrund, obwohl er auch ein Anliegen der Lissabon-Strategie von 2000 war; dies lag großenteils darin begründet, dass der Rat und die Mitgliedstaaten ihre eigenen Vereinbarungen und beschlossenen Politiken nicht in die Tat umgesetzt haben. Nach Einschätzung des EWSA bedeutet dies, dass die neue Industriepolitik bei der Halbzeitbewertung der Lissabon-Strategie 2005 berücksichtigt werden muss. Sie könnte sich künftig als ein tragender Pfeiler dieser Strategie erweisen.

3.5

Eine Industriepolitik „neuen Stils“ basiert in der Tat auf der Marktkonformität und einem Liberalisierungsprozess, umfasst aber auch andere Faktoren wie branchenspezifische Merkmale, die Harmonisierung der Rechtsvorschriften im Hinblick auf den Binnenmarkt, die Beseitigung nicht tarifärer Handelshemmnisse, Technologie und FuE sowie Humanressourcen.

3.6

Diese Industriepolitik darf keineswegs in die falschen Politiken der Vergangenheit zurückfallen, die durch Marktverzerrungen aller Art gekennzeichnet waren. Die im Zuge der WWU eingeführte Finanzdisziplin hat auch zur Folge, dass finanzielle und sonstige staatliche Interventionen in das Wirtschaftsleben vorsichtiger gehandhabt werden. Mittlerweile herrscht allgemein Einvernehmen darüber, dass Interventionen und öffentliche Finanzspritzen bis auf wenige besonders begründete Ausnahmefälle auf die Dauer nicht im Interesse der Wirtschaft sind.

3.7

Im Lichte der jüngsten weltweiten Entwicklungen und nachdem die Lissabon-Strategie jahrelang nicht über Umsetzungsversuche hinauskam, besonders in Anbetracht des schleppenden Wirtschaftswachstums in Europa, der Produktivitätsentwicklung, der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien und der Investitionsverlagerung, ist nunmehr die Zeit reif für eine Neubewertung des verarbeitenden Gewerbes und zu diesem Zweck für branchenspezifische Ansätze und konkrete Handlungsschritte. Sie sollten auf Tätigkeiten abzielen, die am besten zu den wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen in Europa passen, insbesondere auf Tätigkeiten mit intensivem Einsatz hochqualifizierter Arbeitskräfte in der Produktion wie auch in Back-Office-Bereichen (z.B. Fertigung maßgeschneiderter Industrieausrüstungen und -systeme wie Robotik, Instrumentierung, Kontrollausrüstungen usw.). Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss unterstützt diesen Ansatz und diese Zielsetzung vorbehaltlos.

3.8

Die generelle Bewusstseinsschärfung in der breiten Öffentlichkeit für die Notwendigkeit einer soliden Industriepolitik ist eine vordringliche Aufgabe. Zu diesem Zweck müssen der Öffentlichkeit transparente Daten und Analysen zur Verfügung gestellt werden. Ferner sollten europäische und einzelstaatliche Entscheidungsträger ihr besonderes Augenmerk auf Aspekte wie die Kohärenz der EU-Politiken, die Harmonisierung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften innerhalb der EU und die relative Abstimmung europäischer und weltweiter Standards (z.B. WTO) richten.

3.9

Das öffentliche Bewusstsein begünstigt einen Konsens und den Rückhalt in der Öffentlichkeit. Industriepolitik darf nicht einigen ausgewählten, direkt betroffenen Gruppen in Regierungs- und Wirtschaftskreisen vorbehalten bleiben: Sie ist ein Anliegen der ganzen Gesellschaft. Ein gesundes verarbeitendes Gewerbe in Europa ist im Interesse aller. In allen thematisch angrenzenden Bereichen müssen Anstrengungen unternommen werden, um diese Botschaft weiterzutragen, beispielsweise im Bildungswesen — und zwar nicht nur bei der Berufsbildung, sondern auch in Bezug auf den allgemeinen Bildungsstand, um so technische Qualifikationen zu fördern.

3.10

Der Öffentlichkeit muss auch dringend die enge Verknüpfung der industriellen Wertschöpfungsketten stärker verdeutlicht werden. So ist zum Beispiel die gesamte stahlverarbeitende Industrie bis hin zur Automobilindustrie auf eine ausreichende und preiswerte Stahlversorgung angewiesen, deren Produktion wiederum von einer ausreichenden und preiswerten Rohstoffversorgung abhängt.

3.11

Direkt an das Vorstehende anknüpfend, erweist sich die Klärung der Wechselwirkung von Industrie und Dienstleistungsgewerbe als notwendig. Obwohl sich in der Wirtschaft ein immer stärkerer Trend in Richtung Dienstleistungen abzeichnet, stehen viele Dienstleistungen in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zur Industrie, da die Industrie durch Auslagerungen („Outsourcing“) als Auftraggeber in Erscheinung tritt — daran wird sich auch künftig nichts ändern. Zugleich sind für die Entwicklung von Qualitätserzeugnissen und Hochtechnologieleistungen in der Industrie qualitativ hochwertige Dienstleistungen von ausschlaggebender Bedeutung. In vielerlei Hinsicht ist der Themenkomplex als eine Einheit aufzufassen. Angesichts der heutzutage wirksamen Dynamik wird die Abgrenzung von produzierendem Gewerbe und Dienstleistungsgewerbe zunehmend hinfällig.

3.12

In diesem Prozess sieht der Ausschuss eine aktive Rolle für die Kommission. Dass die Industriepolitik thematisiert wird, ist an sich bereits wünschenswert, da hierdurch für Problembewusstsein gesorgt wird. Allerdings könnte noch viel mehr getan werden. Zunächst gilt es, Analysen und Daten sowie deren publikumswirksame Veröffentlichung zu folgenden Themenbereichen zu verbessern:

das industrielle Europa, sowohl unter dem Produktions- wie auch dem Beschäftigungsaspekt;

einzelne Branchen und Cluster;

die Wechselwirkung zwischen Industrie und Dienstleistungen;

technologische Querverbindungen;

die Entwicklung der Dienstleistungsindustrie;

weltweite Vergleiche.

3.13

Die Analysen müssen auch den strukturellen Ungleichheiten der Mitgliedstaaten und Regionen, die über eine unterschiedlich starke industrielle Basis verfügen, Rechnung tragen. Umfassendes Wissen um die Situation in den Schlüsselindustrien wird zu einer Objektivierung der Debatte über die Trends in der Weltwirtschaft sowie die Auswirkungen ihrer Dynamik beitragen.

3.14

Einwandfreies Datenmaterial bildet die Grundlage jeglicher sektoralen Politikgestaltung. Von der Wirtschaft und von den einzelstaatlichen Regierungen werden etliche Studien in Auftrag gegeben, daneben gibt es noch die von den Universitäten angefertigten Untersuchungen (12). Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss spricht sich dafür aus, die Resultate dieser Studien mit Hilfe von EUROSTAT auf EU-Ebene zusammenzutragen, um verlässliche und dynamische europäische Datenbanken über die Industrie und den Dienstleistungssektor zu erstellen und SWOT-Analysen durchzuführen. Umfassende und aussagekräftige Statistiken werden ein zusammenhängendes Bild des sich vollziehenden Wandels ergeben. Die 50-jährige statistische Arbeit von EUROSTAT für die EGKS könnte hier in entsprechend angepasster Form als Beispiel dienen.

3.15

Die Kommission spricht sich zu Recht für eine integrierte Herangehensweise an die Politikgestaltung aus, die auch die Aspekte einzelstaatliche Systeme der Unternehmensbesteuerung, Steuerförmlichkeiten, Normung, Handel, geistiges Eigentum, FuE, Umwelt, Arbeitsmarkt, Ausbildung und Bildung umfassen soll. Der EWSA begrüßt diese Ziele mit Nachdruck — leider sind sie allzu lange weder auf europäischer Ebene noch von den Mitgliedstaaten erreicht worden.

3.16

Es ist nicht das erste Mal, dass ein integrierter Ansatz empfohlen wird — im Gegenteil. Jedoch kann ein solcher Ansatz in dem komplizierten Umfeld, in dem sich die EU-Institutionen mit 25 Mitgliedstaaten abstimmen müssen, schwerlich umgesetzt werden. Ein gangbarer Lösungsweg wäre, dass der Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ in Zusammenarbeit mit der Kommission einen Halbzeitaktionsplan aufstellt, der jährlich bewertet wird (13).

3.17

Notwendig ist auch, dass jede Politik mit Auswirkungen auf die industrielle Wettbewerbsfähigkeit in diesem Aktionsplan die verschiedenartigen politischen Ziele der EU in ausgewogener Weise berücksichtigt. In der Vergangenheit war dies nicht immer der Fall (14). Folglich ist eine bessere Nutzung der Synergien zwischen den Gemeinschaftspolitiken erforderlich.

3.18

Es ist zu erwarten, dass im Zuge der Erörterung und der Annahme der Geschäftsordnung und des Halbzeitplans im Rat für Wettbewerbsfähigkeit in den Mitgliedstaaten ähnliche Strukturen geschaffen werden, sowohl was die Industrie allgemein betrifft, als auch in Bezug auf die Themen, für die die Mitgliedstaaten selbst verantwortlich sind. Dadurch wird wiederum der Einfluss der Ministerien gestärkt, die in den Mitgliedstaaten für die Belange der Industrie zuständig sind.

3.19

Die Verbesserung des Regelungsumfelds impliziert u.a. die Vereinfachung und effizientere Rechtsetzung auf EU-Ebene. Dies darf freilich nicht auf die künftige Rechtsetzung beschränkt bleiben. „Eine bessere Rechtsetzung“ — dieses Motto gilt sowohl rückwirkend als auch für künftige Initiativen. Der Vorschlag der niederländischen Präsidentschaft, der auf eine Rechtsvereinfachung und eine Verminderung des Verwaltungsaufwands abzielt, ist dringend weiter zu verfolgen (15). Richtlinien und Verordnungen mit allgemeiner Zielsetzung (horizontale Politiken) — etwa in Bereichen wie dem Arbeitsschutz, der Energieeinsparung, der Abfallentsorgung etc. — müssen koordiniert erlassen werden, da die Rechtsakte ineinander verzahnt sind und sonst von ihren Auswirkungen her mitunter einander widersprechen. Umweltschutzverordnungen sind als besonders heikel anzusehen, Da diese Verordnungen primär zielorientiert sind, ohne die Umsetzungsverfahren zu harmonisieren, kann ihre uneinheitliche Anwendung durch die zuständigen einzelstaatlichen Behörden zu einer Verzerrung des Marktes führen. Folgenabschätzung und Umsetzung sind äußerst wichtig, da die Glaubwürdigkeit der Maßnahmen mit ihrer Wirksamkeit steht und fällt.

3.20

Von besonderem Interesse sind einige dieser Aspekte für die neuen Mitgliedstaaten, die schlecht beraten wären, Investoren ausschließlich über niedrige Kosten für sich gewinnen zu wollen; um ihre Volkswirtschaften stärker auf die Nachhaltigkeit hin auszurichten, werden auch sie ihr industrielles Profil diversifizieren müssen. Auf diese Länder warten einige große Herausforderungen, darunter Verbesserungen in der Umweltpolitik, stärkere Konzentration auf die Ausbildung und die Verbesserung des Qualifikationsprofils und die Einbindung aller maßgeblichen Akteure der Industrie im Wege eines sektoralen sozialen Dialogs.

3.21

Die Marktbeobachtung muss die von außerhalb der EU kommenden Produkte stärker im Auge behalten. Ein fairer Wettbewerb kann nur dann gesichert werden, wenn weltweit gleiche Ausgangsbedingungen herrschen. In diesem Zusammenhang fordert der EWSA die Kommission auf, ihre Anstrengungen zu verstärken, um die Einhaltung angemessener Arbeits-, Umwelt- und Produktstandards durch alle weltweit führenden Akteure zu gewährleisten.

3.22

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Industriepolitik ist die Sicherstellung weltweit gleicher Ausgangsbedingungen im Handel. Wettbewerbsverzerrende Praktiken in Drittländern, wie z.B. staatliche Beihilfen und Dumping, müssen von der Europäischen Kommission systematisch und eingehend überprüft werden. Wenn die entsprechenden Kriterien erfüllt sind, müssen konsequent handelspolitische Maßnahmen Anwendung finden.

3.23

Neben der „besseren Rechtsetzung“ und der Förderung der Synergien zwischen den Gemeinschaftspolitiken, ist der dritte Pfeiler der „Industriepolitik neuen Stils“ der branchenspezifische Ansatz. Ein Ansatz, der auf der Marktkonformität und offenen Märkten beruht und mit der angestrebten Querschnittspolitik im Einklang steht. Der EWSA unterstützt diese Zielsetzung, die in der Praxis bereits zunehmend Wirkung entfaltet, ohne Wenn und Aber. Da der Schwerpunkt des branchenspezifischen Ansatzes auf besonderen Merkmalen und Entwicklungen einzelner Branchen liegt, kann er womöglich auch den beiden anderen Pfeilern — bessere Rechtsetzung und Förderung der Synergien zwischen den EU-Politiken — nützen. Die Umweltschutzpolitik, die berufliche Aus- und Weiterbildung sowie die Forschungs- und Entwicklungsprogramme können besser konzipiert und erfolgreicher umgesetzt werden, wenn sie in einen branchenspezifischen Ansatz einbettet sind.

3.24

Branchenanalysen werden die Dynamik der Entwicklungen in einem weltweiten Kontext aufzeigen. Ihnen fällt die Aufgabe zu, das Bild der europäischen Industrie in die Perspektive der anderen Partner und Wettbewerber auf der Weltbühne einzuordnen. Sie werden die Wechselwirkungen zwischen Industrie und Dienstleistungsgewerbe darstellen. Außerdem werden die sozialen Aspekte, darunter die Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen und die Beschäftigungslage berücksichtigt. Von den sektoralen Analysen ist schließlich auch Aufschluss über die Hindernisse zu erwarten, mit denen die Wirtschaft aufgrund spezifischer EU-Bestimmungen bzw. der gesetzlichen Bestimmungen zu kämpfen hat. Folglich sollte die Wirtschaft öfter bei Folgenabschätzungen einbezogen werden, um wünschenswerte Regeln und Verfahren auf EU-Ebene zu ermitteln.

3.25

Hier muss die Kommissionsmethode — Inangriffnahme von Problemen der Wettbewerbsfähigkeit im Wege von Analyse, Konsultation und Aktion (Seite 22) — ausgedehnt werden. Zu Recht zitiert die Kommission unter anderem G10, STAR 21 und LeaderShip als Beispiele.

3.26

Ein anschauliches Beispiel ist die Initiative LeaderShip 2015  (16) , vorausgesetzt, sie wird richtig durchgeführt. Ziel dieser Initiative ist die Sicherung einer auskömmlichen Zukunft für den Schiffbau und die Schiffsinstandhaltung in der EU in einem freien Markt. Darüber kam es zu einer Annäherung von Kommission und europäischer Wirtschaft, was zu einer gemeinsamen Herausarbeitung der Probleme führte. Es wurden acht Maßnahmekapitel für die Industrie bzw. die Kommission aufgestellt. Dies ist die Grundlage für einen fruchtbaren sozialen Dialog mit den Sozialpartnern über den Modernisierungsprozess.

3.27

Andere Branchen könnten folgen. Eine Patentlösung, die allen gerecht wird, kann es nicht geben. Da die Mitgliedstaaten mitsamt ihren Politiken ebenso betroffen sind, ist es wünschenswert, dass maßgeschneiderte Ansätze als Resultat dieser branchenspezifischen Ansätze zu einem Engagement sowohl der Industrie, als auch der Kommission und der Mitgliedstaaten führen. Was die Mitgliedstaaten betrifft, könnten solche Verpflichtungen auch dazu beitragen, den Austausch von Erfahrungen und bewährten Vorgehensweisen zu fördern. Sektorale Beobachtungsstellen auf EU-Ebene könnten nach Meinung des EWSA nutzbringend sein und sollten denn auch eingerichtet werden.

3.28

Aufgrund der alles entscheidenden Bedeutung von „Wissen“ und FuE sowie in Anbetracht der weltweiten „Mobilität der klugen Köpfe“ (Wissenschaftler, Forscher, Manager, Fachleute), empfiehlt der EWSA mit Nachdruck die Einrichtung von Technologieplattformen, an denen Industriebranchen und Unternehmen aktiv teilnehmen sollen. Diese dürfen aber keineswegs auf die Wirtschaft begrenzt sein, sondern auch andere Schlüsselakteure, darunter die führenden Technologieinstitute und Universitäten, mit einschließen. Diese Plattformen könnten auch neue öffentlich-private Partnerschaften in Europa hervorbringen (17).

3.29

In Europa müssen wissensfördernde Rahmenbedingungen geschaffen werden, die auf einer spürbaren Synergie zwischen Hochschule, technischen Instituten und Industrie zugunsten der Förderung der angewandten Technologie beruhen. Dabei sind branchenspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen. Darüber hinaus muss die Schaffung einer wissensbasierten Wirtschaft mit Instrumenten einhergehen, die für die lebenslange Fortbildung notwendig sind, die auch in Hochschulen und vergleichbaren Einrichtungen angeboten werden sollte. Dies kann ebenfalls durch branchengestützte Impulse gefördert werden. Hierbei sollte die Rolle des Fach- und Führungsmanagements mit Blick auf die Mobilität innerhalb der Europäischen Union gestärkt werden.

3.30

In diesem Zusammenhang und als Reaktion auf die in anderen Teilen der Welt laufenden Projekte, sind umfangreiche Initiativen zu ergreifen, um Synergien zwischen den verschiedenen Sektoren herbeizuführen (Beispiele hierfür: Galileo, Rüstungsindustrie) und um die Zusammenarbeit zwischen den Wissenszentren und der Industrie anzuregen und die notwendigen Bedingungen für die Bildung von Gruppierungen (z.B. Airbus-Konsortium) und Clustern zu schaffen; letztgenannte können der Wettbewerbsfähigkeit einen Schub verleihen und zum wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt beitragen. (18)

3.31

Größer denn je ist die Bedeutung des Humankapitals. In dem kontinuierlichen Prozess des industriellen Wandels ist dies eine Verantwortung, die sowohl dem Management als auch den Belegschaften und ihren Organisationen zukommt. Dies heißt unter anderem, dass Qualität, Professionalität, Fähigkeiten und Motivation im Mittelpunkt stehen müssen (19).

3.32

In diesem Zusammenhang muss gebührend berücksichtigt werden, dass junge Menschen einer Beschäftigung in der Industrie heutzutage nichts mehr abgewinnen können, da sie kein gutes Image hat. Dies hat u.a. zu einem Fachkräftemangel geführt.

3.33

Ferner vertritt der EWSA die Auffassung, dass im Rahmen des wünschenswerten sektoriellen Ansatzes der sektorielle soziale Dialog die Motivation der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen zu erhöhter Anpassungsfähigkeit und Qualität steigern können. Maßgeschneiderte Ansätze auf sektoraler Ebene können das ihrige dazu beitragen, um Gespräche zwischen den Sozialpartnern über die spezifischen Anforderungen hinsichtlich der Kompetenzen, der Anpassungsfähigkeit und der Fähigkeiten der Belegschaft zu stimulieren.

3.34

Um die gesicherte Umsetzung spezifischer Maßnahmen aufbauend auf den Sektoranalysen zu gewährleisten, muss jede Initiative im Rat für Wettbewerbsfähigkeit erörtert werden. Nach Ansicht des EWSA sollte diese Ratsformation eine entscheidende Rolle in der Industriepolitik „neuen Stils“ spielen, indem sie den beteiligten Interessensbereichen eine allgemeine Plattform bietet. Adäquate Branchenanalysen seitens Kommission und Rat und letztlich Verhandlungen über die erforderlichen Maßnahmen in oben genannten Bereichen werden auch das Engagement der einzelstaatlichen Behörden fördern, denen neben der Wirtschaft eine herausragende Rolle bei der Schaffung zukunftsorientierter Rahmenbedingungen zukommt.

3.35

In einem solchen Umfeld und bei einem solchen Ansatz darf es keinen Platz für eine Politik der Bevorzugung der erfolgreichsten Wirtschaftsbeteiligten geben, wie das ehemalige Kommissionsmitglied Liikanen zu Recht anmerkte. Dasselbe trifft auch auf die Unternehmen zu, die in ihren Stammländern „Branchenführer“ sind (20). Dies würde die gesamte Diskussion um eine Industriepolitik neuen Stils in falsche Bahnen lenken. Ziel ist es, ein Klima zu fördern, in dem die europäische Wirtschaft zur Übernahme von Risiken bereit ist. Eine Politik, die den „Gewinnern“ den Weg ebnet bzw. sich hinter sie stellt — das ist der Weg zum Ziel (21). Finanzielle und nicht-finanzielle Instrumente zur Verwirklichung dieses Ziels müssen — ggf. erneut — geprüft werden.

4.   Schlussfolgerungen

4.1

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission (besonders von Kommissionsmitglied Liikanen und der GD Unternehmen), neben den Querschnittspolitiken die „Industriepolitik“ wieder zu einem Schwerpunkt der EU-Agenda zu machen. Diese Initiative entspricht ähnlichen Entwicklungen in einigen Mitgliedstaaten und kann womöglich diesbezügliche gleiche Ansichten in der Union fördern. Sie wird ihren Beitrag zur Verbesserung der Definition von Mitteln und Wegen leisten, die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Hoffentlich wird sich diese Initiative auch bei der Festlegung angemessener, konkreter Ziele bei der Halbzeitbewertung der Lissabon-Strategie im Jahr 2005 als hilfreich erweisen.

4.2

Der EWSA stellt fest, dass mit Blick auf eine Industriepolitik „neuen Stils“ dringend ein vertrauenerweckender institutioneller Rahmen erforderlich ist, bei dem das Augenmerk auf einer angemessenen Verteilung der Aufgaben innerhalb der Union — wer ist wann wofür zuständig? — sowie auf der Durchführung und Umsetzung der Ziele und Richtlinien in den Mitgliedstaaten liegt, die der Europäische Rat und die verschiedenen Ratsformationen beschlossen haben (22).

4.3

Der EWSA unterstützt die drei Elemente der „neuen Industriepolitik“: bessere Rechtsetzung, Förderung von Synergien zwischen den verschiedenen Gemeinschaftspolitiken und Entwicklung der sektoralen Dimension. Im Sinne der Transparenz und der Signalwirkung erscheint eine bessere Abstimmung in der Kommission (beispielsweise unter Federführung der GD Unternehmen) und im Ministerrat wünschenswert. Eine bessere Koordinierung muss aber auch eine dringend benötigte nutzbringende Synergie der Politiken bewirken. Ein Halbzeitaktionsplan, der von der Kommission und dem Rat für Wettbewerbsfähigkeit jährlich verabschiedet wird, wäre höchst willkommen.

4.4

Der Ausschuss begrüßt die in dem Bericht „Die Herausforderung annehmen — Die Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung“  (23) enthaltenen Empfehlungen. Zu bedauern ist indes der fehlende Verweis auf die neue Industriepolitik als nützliches Werkzeug, um sich den Herausforderungen auf den Weltmärkten zu stellen. Besonders der sektorale Ansatz und die Notwendigkeit einer gut abgestimmten Politik innerhalb dieses Rahmens hätte hervorgehoben werden müssen. Der EWSA unterstützt den Vorschlag nationaler Aktionspläne. Damit sowohl die Aktionspläne als auch die EU-Politik bessere Resultate zeitigen, müssen sie jeweils in der Ratsformation Wettbewerbsfähigkeit entsprechend koordiniert werden. Der EWSA drängt auf eine Berücksichtigung dieser Elemente bei der Vorbereitung der Halbzeitbewertung der Lissabon-Strategie im März 2005.

4.5

Der Ausschuss betont die Notwendigkeit einer Bewusstseinsschärfung. Diese ist für einen Konsens und den Rückhalt seitens der breiten Öffentlichkeit unabdingbar. Es muss allen klar werden, dass die europäische Gesellschaft als Ganzes inmitten eines weltweiten industriellen Wandelungsprozesses steht, der nicht bei den Unternehmen halt macht, sondern Anstrengungen auf viel breiterer Front erfordert.

4.6

Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass Sektoranalysen dazu beitragen können und werden, ein besseres Verständnis für die Entwicklungen und das, was auf dem Spiel steht, zu erreichen. Sie werden auch eine engere Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Partnern sowie maßgeschneiderte Ansätze und eine wünschenswerte Anpassung der Politiken auf EU-Ebene und nationaler Ebene begünstigen, um neue Chancen zu fördern und folglich zur erfolgreichen Durchführung der Lissabon-Strategie beizutragen. Ein sektorieller Rahmen ist auch ein geeignetes Mittel zur Förderung des sozialen Dialogs, der auf ein breitangelegtes gemeinsames Engagement und die Förderung der Qualität der Humanressourcen abzielt.

4.7

Ein solcher branchenspezifischer Ansatz macht es erforderlich, dass die weltweiten Trends und der industrielle Wandel in den Kommissionsdienststellen immer aufmerksamer verfolgt werden. Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, dass die Kommissionsbeamten ihre praktischen Kenntnisse der Herausforderungen im privaten Sektor erweitern. Die Beratende Kommission für den industriellen Wandel und die Europäische Stelle zur Beobachtung des Wandels können als beratende Partner ihren Beitrag zu branchenspezifischen Analysen leisten, ohne dabei die Rolle der Sozialpartner zu schmälern.

4.8

Vergegenwärtigt man sich die Entwicklung bei den anderen weltweit führenden Akteuren — Kosten und Kompetenzen sowie die Kombination dieser beider Faktoren -, so zeigt sich, dass die entscheidenden Einflussgrößen der Wettbewerbsfähigkeit Wissen, Qualität — sowohl der Unternehmen selbst als auch des Humankapitals und seiner bezüglichen Fähigkeiten — und Organisation heißen. Zukunftsorientierte Politiken und Maßnahmen in diesen Bereichen werden von entscheidender Bedeutung sein.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  „Der Platz der EU-Wirtschaft in der Welt“ [Anm. der Übersetzung: Liegt nur in der englischen Originalversion vor: „European industrys place in the International Division of Labour“] Juli 2004, Bericht im Auftrag der GD Handel der Europäischen Kommission, erarbeitet von CEPII-CIREM (European Consortium for Trade Policy Analysis ECTA).

(2)  KOM(2002) 714 endg., 11.12.2002. Der Ausschuss gab seine Stellungnahme am 17.7.2003 ab (ABl. C 234 vom 30.9.2003, S. 76-85). Diese Stellungnahme stützt sich auch auf einen Beitrag der CCMI, der unter der folgenden Internet-Adresse abgerufen werden kann: http://www.esc.eu.int/ccmi/documents/docs/divers/di_ces25-2003_fin_rev_di_en.doc

(3)  Ziffer 21 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates anlässlich der Frühjahrstagung des Europäischen Rates vom 20./21.3.2003.

(4)  „Den Strukturwandel begleiten: Eine Industriepolitik für die erweiterte Union“, KOM(2004) 274 endg.

(5)  Ansprache von Kommissionsmitglied Liikanen anlässlich des „European Industrial Policy Day“, 27.5.2004, SPEECH/04/268.

(6)  Dieses Ziel ist bereits in der Mitteilung der Kommission herausgearbeitet worden: „Einige Kernpunkte der europäischen Wettbewerbsfähigkeit - Hin zu einem integrierten Ansatz“, KOM(2003) 704 endg.

(7)  Der Bangemann-Bericht.

(8)  Vgl. hierzu die Stellungnahme der CCMI „Ausmaß und Auswirkungen von Betriebsverlagerungen“, die derzeit in Ausarbeitung ist.

(9)  Vgl. Fußnote 2.

(10)  „The European Challenge“, Botschaft des Europäischen Industriekreises an die Frühjahrstagung des Europäischen Rates, März 2003.

(11)  Die Kommission erwähnt unter anderem die zu fordernde Wettbewerbsfähigkeit in der Regionalpolitik sowie das Resultat der am 1.4.2003 unter der Leitung von Wim Kok eingerichteten „Task Force Beschäftigung“. In diesem Zusammenhang wird auf die Stellungnahme der CCMI „Der industrielle Wandel und der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt“ verwiesen.

(12)  Ein sehr interessantes Beispiel ist die Studie „Die Bedeutung einer wettbewerbsfähigen Industrie für die Entwicklung des Dienstleistungssektors“, Bremen, Dezember 2003. Sie kann auf der Website des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit www.bmwi.de unter der Rubrik Wirtschaft/Industrie abgerufen werden.

(13)  Dieses Ziel steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der guten Wirtschaftsführung („good governance“). Die Bedeutung eines transparenten und sichtbaren Rahmens, besonders in Bezug auf den Rat für Wettbewerbsfähigkeit, wird in der EWSA-Stellungnahme „Für eine bessere Wirtschaftsführung in der EU“ hervorgehoben.

(14)  Vgl. die Rede von Kommissionsmitglied Liikanen am 27. Mai über eine aktive Industriepolitik (vgl. Fußnote 4).

(15)  Vgl. auch KOM(2004) 274, Kapitel 5, Seite 44.

(16)  Vgl. Kommissionsdokument KOM(2003) 717 endg. sowie die einschlägigen Stellungnahmen des EWSA (ABl. C 241 vom 28.9.2004).

(17)  Zu den Technologieplattformen vgl. die zusätzliche Stellungnahme der CCMI zu der Mitteilung der Kommission „Wissenschaft und Technologie: Schlüssel zur Zukunft Europas - Leitlinien für die Forschungsförderung der Europäischen Union“ (KOM(2004) 353 endg.), CCMI/015, Berichterstatter: Herr Van Iersel.

(18)  Vgl. Stellungnahme „Der industrielle Wandel und der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt“ (ABl. C 241 vom 28.9.2004), darunter besonders die Ziffern 1.4, 3 und 10.i.

(19)  Vgl. Stellungnahme „Der industrielle Wandel: Bilanz und Aussichten – Eine Gesamtbetrachtung“ (ABl. C 10 vom 14.1.2004), Ziffern 2.2.2.14 und 3.9.

(20)  Vgl. Fußnote 5.

(21)  Ibid.

(22)  vgl. Stellungnahme des EWSA „Für eine bessere Wirtschaftsführung in der EU“ (ABl. C 74 vom 23.3.2005).

(23)  „Die Herausforderung annehmen - Die Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung“, Bericht der Hochrangigen Sachverständigengruppe unter Vorsitz von Wim Kok, November 2004.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/83


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen“

(KOM(2004) 279 endg. — 2004/0084 (COD))

(2005/C 157/14)

Der Rat beschloss am 18. Mai 2004 gemäß Artikel 262 des EG–Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. November 2004 an. Berichterstatterin war Frau Sharma.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 147 gegen 1 Stimme bei 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Mit dem Vorschlag sollen vor allem die Transparenz und Klarheit in den Rechtsvorschriften zur Gleichbehandlung verbessert und deren wirksame Anwendung durch Stärkung des gemeinschaftlichen Besitzstandes und Vermeidung einer rückläufigen Entwicklung erleichtert werden. Es bedarf eines einzigen Rechtsaktes, der klar gegliedert, leicht zugänglich und lesbar ist und durch den die Ziele der sozialen und wirtschaftlichen Gemeinschaftspolitik in Bezug auf die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen für Frauen besser verwirklicht werden können.

1.2

Durch die Zusammenfassung der Bestimmungen der Richtlinien über den Zugang zur Beschäftigung, über den Grundsatz des gleichen Arbeitsentgelts, betriebliche Systeme der sozialen Sicherheit und die Beweislast lässt sich ein einziger kohärenter Text ohne widersprüchliche Definitionen formulieren. Der Vorschlag trägt den jüngsten Entwicklungen in der europäischen Rechtsprechung dahingehend Rechnung, als das aktuelle Sekundärrecht entsprechend den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes, die zu einer Verdeutlichung und Weiterentwicklung des Konzepts der Gleichheit beigetragen haben, auf den neuesten Stand gebracht werden. Außerdem soll durch eine Zusammenfassung der Bestimmungen von Richtlinien mit demselben Gegenstand ein hohes Maß an Rechtssicherheit gewährleistet werden. Maßgabe hierfür ist das neue politische Umfeld, in dem die Union als eine offene, kommunikationsfähige und lebensnahe Institution erscheint.

1.3

Die Richtlinie gilt entsprechend den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten für die erwerbstätige Bevölkerung — einschließlich der Selbständigen, für Personen, deren Erwerbstätigkeit durch Krankheit, Mutterschaft, Unfall oder unfreiwillige Arbeitslosigkeit unterbrochen wurde, und für Arbeitssuchende — sowie für Arbeitnehmer(innen) im Ruhestand und für behinderte Arbeitnehmer(innen) und ihre anspruchsberechtigten Angehörigen.

2.   Hintergrund

2.1

Durch den Vertrag von Amsterdam wurden die Gemeinschaftskompetenzen im Bereich der Gleichstellung von Frauen und Männern erweitert und die Abschaffung von Ungleichheiten auf allen Gebieten des bürgerlichen Lebens sowie die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern zum Ziel erklärt. Ungleichbehandlungen stellen nicht nur die Verletzung eines wesentlichen Grundsatzes der Europäischen Union dar; sie beeinträchtigen auch das Wirtschaftswachstum und das Wohlergehen der Volkswirtschaft.

2.2

Gleichbehandlung ist eine Voraussetzung für die EU, um die Zielsetzungen in Bezug auf Wachstum und nachhaltige Entwicklung in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Umwelt verwirklichen zu können. Europa wird mehr denn je auf einen wesentlich höheren Frauenanteil an der Erwerbsquote angewiesen sein. Daher muss ein Fundament an gleichen Rechten, die für alle gelten, geschaffen werden.

2.3

Untersuchungen haben gezeigt, dass Diskriminierung aus Gründen der Geschlechtszugehörigkeit ebenso wie eine unzureichende Unterstützung von Arbeitnehmer(inne)n mit familiären Verpflichtungen ein entscheidendes Hindernis für den Anstieg der Zahl weiblicher Beschäftigter ist.

2.4   Entwicklung der Rechtsvorschriften über die Gleichbehandlung von Frauen und Männern

Gleichbehandlung von Frauen und Männern ist ein Hauptgrundsatz des sozialen Konzepts der Europäischen Gemeinschaft. Bereits 1976 wurde der Grundsatz des gleichen Arbeitsentgelts für Männer und Frauen gemäß Artikel 119 EWG (Artikel 141 EG) vom Europäischen Gerichtshof zu einem der Hauptgrundsätze des Gemeinschaftsrechts erklärt (1).

Die erste Richtlinie zur Gleichbehandlung wurde 1975 verabschiedet und trifft den Grundsatz des gleichen Arbeitsentgelts (2).

1976 folgte die Richtlinie zur Gleichbehandlung im Bereich der Beschäftigung (3). Diese Richtlinie wurde im Jahr 2002 durch die Richtlinie 2002/73, in der „Belästigung“ und „sexuelle Belästigung“ definiert werden, in wesentlichen Punkten geändert (4).

1978 wurde eine Richtlinie über gesetzliche Systeme der sozialen Sicherheit verabschiedet (5).

1986 wurde eine Richtlinie verabschiedet, in der der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit eingeführt wurde (6). Diese Richtlinie wurde später geändert (7).

1986 wurde eine Richtlinie über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit — auch in der Landwirtschaft — ausüben mit Bestimmungen zum Schutz selbständig erwerbstätiger Frauen während der Schwangerschaft und der Mutterschaft eingeführt (8).

1992 wurde eine Richtlinie zum Schutz schwangerer Arbeitnehmerinnen als Maßnahme zur Verbesserung von deren Sicherheit und Gesundheitsschutz verabschiedet. Sie umfasste auch das gesetzlich verankerte Recht auf Mutterschaftsurlaub von mindestens 14 Wochen, auf Urlaub für vorgeburtliche Untersuchungen und auf Kündigungsschutz (9).

1995 wurde innerhalb der branchenübergreifenden Organisationen der Sozialpartner auf europäischer Ebene eine Rahmenvereinbarung über Elternurlaub getroffen, die später als Richtlinie verabschiedet wurde. Sie hebt die Gleichbehandlung von Männern bei der Anwendung dieser Maßnahmen hervor und unterstreicht die Bedeutung der Rolle der Väter bei der Kinderbetreuung (10). Diese Richtlinie wurde später geändert und auf das Vereinigte Königreich ausgedehnt (11).

1997 wurde die Richtlinie über die Beweislast verabschiedet (12). Diese Richtlinie wurde später ebenfalls auf das Vereinigte Königreich ausgedehnt (13).

Der Europäische Gerichtshof hat von jeher maßgeblich an einer wirksamen Verringerung der Diskriminierung von Frauen im Berufsleben mitgewirkt. Der Gerichtshof legt das Gemeinschaftsrecht aus und entwickelt naturgemäß die unvollständigen rechtlichen Konzepte des relativ jungen Gemeinschaftsrechts zu einem kohärenten Rechtssystem weiter (14). Auf dem Gebiet der Chancengleichheit hat der Gerichtshof bei der effektiven Umsetzung der Rechtsvorschriften zur Gleichbehandlung vorrangig den Begriff „mittelbare und unmittelbare Diskriminierung“ verwendet (15). Außerdem hat er deutlich gemacht, dass der Schutz vor Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts auch für Männer gilt (16).

3.   Besondere Bemerkungen

3.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beglückwünscht die Kommission zu ihrer Arbeit zur Vereinfachung und Verbesserung der Zugänglichkeit einer Vielzahl von Gleichstellungsrichtlinien. Die Gleichstellung der Geschlechter ist ein Grundsatz in allen Bereichen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens; deshalb müssen die Rechtsvorschriften für alle verständlich und klar sein.

3.2

Im Verlauf der 30-jährigen Entwicklung der Rechtsvorschriften zur Geschlechtergleichstellung wurden 12 Richtlinien erarbeitet. Der Ausschuss stellt fest, dass die Kommission nun sieben dieser Richtlinien, die alle die Gleichbehandlung von Männern und Frauen zum Gegenstand haben, in einer einzigen überarbeiteten Richtlinie zusammenfasst (17). Die Kommission hat sich für eine solche Neufassung dieser sieben Richtlinien entschieden, da viele darin enthaltene Gemeinsamkeiten zu Wiederholungen oder Überlappungen führen und die Definitionen außerdem nicht vollständig kohärent sind.

3.3

Durch diese Neufassung werden die sieben Richtlinien insofern zu einem modernen, klaren und einfachen Rechtstext, als dadurch die Gesamtlänge der Texte gekürzt und eine Serie von Begriffsbestimmungen aufgenommen wird, wozu auch Definitionen von mittelbarer und unmittelbarer Diskriminierung und Belästigung gehören. Der Ausschuss begrüßt diesen Schritt mit Blick auf die Erweiterung und würdigt die Bemühungen der Kommission um verbesserte Rechtsvorschriften.

3.4

Der Ausschuss stellt fest, dass fünf Gleichstellungsrichtlinien aufgrund unzureichender Gemeinsamkeiten nicht mit in die Neufassung einbezogen wurden (18). Es handelt sich um die beiden Richtlinien über elterliche Rechte, die in Zusammenarbeit mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen erarbeitet wurden und nicht in den Bereich der Gleichbehandlung fallen, die Richtlinie über den Mutterschutz und die Rechte stillender Arbeitnehmerinnen, die zu den Rechtsvorschriften über Sicherheit und Gesundheitsschutz gehört, die Richtlinie über Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit und die Richtlinie über den Schutz der Rechte von Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit — auch in der Landwirtschaft — ausüben.

3.5

Der Ausschuss teilt die Auffassung der Kommission, dass eine Berücksichtigung dieser Richtlinien die überarbeitete Richtlinie zu kompliziert und zu lange werden ließe. Der EWSA möchte jedoch ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Richtlinie 86/613/EWG (19) s.E. angesichts der Vielzahl von selbständig erwerbstätigen Frauen und in der Landwirtschaft beschäftigten Arbeitnehmerinnen dringend überprüft werden muss. Der EWSA ist der Meinung, dass speziell dieser Rechtsakt inhaltliche Schwächen aufweist und die Rechte der Frauen nur unzureichend schützt. Da diese Richtlinie im Zusammenhang mit der Verwirklichung der Lissabon-Strategie eine Rolle spielt, muss sie dringend auf den neuesten Stand gebracht werden.

3.6

Die Kommission hat bei den Richtlinien zwei Ergänzungen vorgenommen, die die festverankerte Rechtsprechung unmittelbar widerspiegeln und somit bereits gültige Rechtsvorschriften lediglich verdeutlichen. Diese Ergänzungen betreffen den Grundsatz des gleichen Arbeitsentgelts (Artikel 4) und die betriebliche Altersversorgung für Beschäftigte im öffentlichen Dienst (Artikel 6) (20). Der EWSA unterstreicht, dass der Europäische Gerichtshof maßgeblich an der Stärkung des Gemeinschaftsrechts beteiligt ist. Eine Einbeziehung der Rechtssprechung in die Neufassung der Richtlinie schafft mehr Klarheit und ist zweckdienlicher.

3.7

Die Kodifizierung ist ein rein technischer Vorgang, und die Kommission hat erklärt, dass der Inhalt der Richtlinien mit Ausnahme von Artikel 21 nicht in die Bestimmung über Stellen zur Förderung der Gleichbehandlung innerhalb der „Horizontalen Bestimmungen“ von Titel III aufgenommen wurde. Die Einführung der „Horizontalen Bestimmungen“ in die gesamte Richtlinie erhöht nun durch eine Erweiterung des Arbeitsbereichs — wenn auch nur geringfügig — die Kompetenzen der Gleichstellungsbehörden. Dies kann den Weg für weitere Kompetenzerweiterungen ebnen, die zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Der EWSA betont, dass zwar keine substantiellen Änderungen vorgenommen wurden, eine Aktualisierung und Modernisierung der Richtlinien sowie die daraus resultierende Rechtsprechung jedoch langfristig Veränderungen mit sich bringen werden.

4.   Schlussbemerkung

4.1

Die Gleichstellung von Mann und Frau wird seit 30 Jahren durch Rechtsvorschriften vorangetrieben. Doch auch wenn der EWSA die Kommission zu ihrem Schritt, die Richtlinie einfacher und verständlicher zu gestalten, beglückwünscht, kann die Gleichstellung in der Praxis europaweit nur durch konstruktive Maßnahmen aller Mitgliedstaaten zur Durchsetzung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen verwirklicht werden. Der Ausschuss ist überzeugt, dass der Austausch und die Förderung vorbildlicher Verfahrensweisen sowie der zunehmende soziale Dialog auf diesem Gebiet ein konkreter Weg zum Fortschritt sind, er erkennt die maßgebliche Rolle der Sozialpartner auf diesem Gebiet ohne Einschränkungen an und unterstreicht dabei ihre Aktivitäten im Rahmen des 'Arbeitsprogramms der europäischen Sozialpartner 2003-2005'. Die Kommission muss die Gleichbehandlung und die Chancengleichheit stärker fördern und den Wert der Frauen für die europäische Wirtschaft deutlicher herausstellen, um die Lissabon-Strategie verwirklichen zu können.

4.2

Der EWSA bittet die Kommission, die Mitgliedstaaten aufzufordern, einen Leitfaden mit den wichtigsten Aspekten der europäischen Gleichstellungsrichtlinien und deren Umsetzung in einzelstaatliches Recht, mit den Pflichten der Arbeitgeber und den Rechten der Arbeitnehmer(innen) zu erarbeiten, damit das unzulängliche Wissen in Bezug auf die Gleichbehandlung beseitigt und die Vorteile für die Wirtschaft gesteigert werden.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  EuGH 8.4.1976 C-43/75 Defrenne II, Sammlung 1976, S. 455.

(2)  Richtlinie 75/117/EWG des Rates vom 10.2.1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen.

(3)  Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen.

(4)  Richtlinie 2002/73/EC des Rates und des Europäischen Parlaments vom 23.9.2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen.

(5)  Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19.12.1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit.

(6)  Richtlinie 86/378/EWG des Rates vom 24.7.1986 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit.

(7)  Richtlinie des Rates 96/97/EG vom 20.12.1996 zur Änderung der Richtlinie 86/378/EWG vom 24. Juli 1986 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit.

(8)  Richtlinie 86/613/EWG des Rates vom 11.12.1986 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit - auch in der Landwirtschaft - ausüben, sowie über den Mutterschutz.

(9)  Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz.

(10)  Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3.6.1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub.

(11)  Richtlinie 97/75/EG des Rates vom 15.12.1997 zur Änderung und Ausdehnung der Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3. Juni 1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub auf das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland.

(12)  Richtlinie 97/80/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 über die Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.

(13)  Richtlinie 98/52/EG des Rates vom 13.7.1998 zur Ausdehnung der Richtlinie 97/80/EG über die Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts auf das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland.

(14)  Streinz, Europarecht, 4. Auflage, Heidelberg 1999, Absatz 494.

(15)  Seit EuGH Rechtssache C-96/80 Jenkins, Rechtssache C-170/84 Bilka gegen Weber von Hartz, Rechtssache C-171/88 Rinner-Kühn und Rechtssache C-184/89 Nimz gegen Freie und Hansestadt Hamburg.

(16)  EuGH Rechtssache C-450/93 Kalanke; EuGH Rechtssache C-409/95 Marschall.

(17)  Richtlinie 75/117/EWG des Rates, Richtlinie 76/207/EWG des Rates, Richtlinie 86/378/EWG des Rates, Richtlinie 96/97/EG des Rates, Richtlinie 97/80/EG des Rates, Richtlinie 98/52/EG des Rates, Richtlinie 2002/73/EG des Rates und des Europäischen Parlaments.

(18)  Richtlinie 79/7/EWG des Rates, Richtlinie 86/613/EWG des Rates, Richtlinie 92/85/EWG des Rates, Richtlinie 96/34/EG des Rates, Richtlinie 97/75/EG des Rates.

(19)  Richtlinie 86/613/EWG des Rates vom 11.12.1986 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit - auch in der Landwirtschaft - ausüben, sowie über den Mutterschutz.

(20)  Dem Europäischen Gerichtshof zufolge deutet laut Artikel 4 der neuen Richtlinie nichts im Wortlaut des Artikels 141 Absatz 1 EG darauf hin, dass die Anwendbarkeit dieser Bestimmung auf Fälle beschränkt wäre, in denen Männer und Frauen ihre Arbeit für ein und denselben Arbeitgeber verrichten, während Artikel 6 deutlich macht, dass die Richtlinie auch für Systeme der sozialen Sicherheit für eine besondere Kategorie von Beschäftigten im öffentlichen Dienst gilt, sofern die betreffenden Leistungen aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses gezahlt werden, unmittelbar mit den zurückgelegten Beschäftigungszeiten im Zusammenhang stehen und der Betrag durch Bezugnahme auf das letzte Gehalt ermittelt wird.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/86


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Studie über die Zusammenhänge zwischen legaler und illegaler Migration“

(KOM(2004) 412 endg.)

(2005/C 157/15)

Die Kommission beschloss am 4. Juni 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu der obenerwähnten Mitteilung zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. November 2004 an. Berichterstatter war Herr PARIZA CASTAÑOS.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 138 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Kommissionsmitteilung

1.1

Der Europäische Rat betonte im Juni 2003 in Thessaloniki, „dass es, um diese Herausforderungen zu bewältigen, notwendig ist, im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern […] legale Wege für die Einwanderung von Drittstaatsangehörigen in die Union zu sondieren, wobei der Aufnahmekapazität der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen ist.“ Die Europäische Kommission stellt in dieser Mitteilung die Ergebnisse einer Studie über die Zusammenhänge zwischen legaler und illegaler Migration vor, die auf Ersuchen des Europäischen Rates durchgeführt wurde. Darin wird untersucht, ob legale Verfahren für die Aufnahme von Migranten die Anreize für illegale Migration mindern. Im Anschluss an diese Mitteilung will die Kommission ein Grünbuch über die Wege der legalen Einwanderung vorlegen.

1.2

In Teil I untersucht die Kommission die bestehenden Mechanismen zur Steuerung der legalen Arbeitsmigration. Die Aufnahme von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer Beschäftigung unterliegt den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, die von Land zu Land sehr unterschiedlich sind. Einige Staaten halten ihre Türen für Arbeitsmigration verschlossen, während andere über Regelungen verfügen, die die Einreise von Arbeitsmigranten zulassen, wenn diesen ein Arbeitsplatzangebot vorliegt, wobei jedoch der Grundsatz der nationalen Präferenz gilt. Einige Mitgliedstaaten gestatten auch die Einreise von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer selbständigen Tätigkeit. Die meisten Wirtschaftsmigranten erhalten zunächst einen zeitlich befristeten Aufenthaltstitel für ein bis fünf Jahre.

1.3

Auch die Zahl der Wirtschaftsmigranten, die die Mitgliedstaaten jährlich zulassen, wird auf sehr unterschiedliche Weise bestimmt. Einige Mitgliedstaaten nehmen nur hoch qualifizierte Arbeitskräfte auf (z.B. Deutschland mit seiner Greencard-Regelung und das Vereinigte Königreich mit seinem Highly Skilled Migrant Programme). Andere (mehrere Staaten in Südeuropa) nehmen nach unterschiedlichen Verfahrensweisen auch gering qualifizierte Arbeitskräfte auf. Manche Mitgliedstaaten regeln die Migration mit einem Quotensystem (z.B. Italien), andere haben, wie Spanien, bilaterale Abkommen mit Drittländern geschlossen, die die Aufnahme der Drittstaatsangehörigen regeln. Die Kommission stellt in ihrer Mitteilung die verschiedenen, zur Steuerung der Migration verwendeten Instrumente einander gegenüber.

1.4

Auch die in manchen Ländern (z.B. Belgien) durchgeführten Regularisierungsmaßnahmen werden von der Kommission untersucht. Sie werden einerseits als positiv für die Integration der Migranten in die Gesellschaft und die Verhinderung ihrer Ausbeutung am Arbeitsplatz bewertet, andererseits aber auch kritisiert, weil sie einen gewissen Anreiz für illegale Migration bieten.

1.5

In Teil II stellt die Kommission fest, dass es viele Formen der illegalen Migration gibt und es sehr schwer ist, genaue Angaben darüber zu erhalten. Der Umfang der illegalen Migration in die EU lässt sich nicht genau bestimmen, wird jedoch als beträchtlich erachtet, weshalb die Reduzierung der illegalen Migrationsströme sowohl auf einzelstaatlicher als auch auf EU-Ebene eine politische Priorität ist.

1.6

Die Kommission stellt heraus, dass ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Schattenwirtschaft, nichtreguliertem Arbeitsmarkt und illegaler Migration besteht, vornehmlich in Beschäftigungsbereichen wie Bau, Landwirtschaft, Gaststättengewerbe, Reinigungs- und häusliche Dienste. In der EU macht die Schattenwirtschaft schätzungsweise zwischen 7 und 16 % des BIP aus.

1.7

Die Wirkung bestehender legaler Mechanismen, wie bilateraler Abkommen, auf die Eindämmung der illegalen Migration ist schwierig zu ermitteln. Die Kommission führt an, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Auswertungen nicht vorgenommen haben. Auch die Auswirkungen der Visumpolitik auf eine Verringerung der illegalen Einwanderung seien bisher noch keiner Bewertung unterzogen worden.

1.8

Man baut auf eine bessere Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern als Mittel zur Eindämmung illegaler Migrationsströme. In diese Richtung äußerte sich der Europäische Rat auf seinen Tagungen in Tampere, Sevilla und Thessaloniki. Bisher haben die Mitgliedstaaten nur begrenzte Erfahrungen mit der Verbesserung dieser Zusammenarbeit, und ihre Resultate sind insgesamt nicht eindeutig zu beurteilen. Die Kommission überlegt, ob bei den den Drittländern angebotenen Anreizen ein anderer Ansatz erforderlich sein könnte.

1.9

In Teil III zieht die Kommission ihre Schlussfolgerungen und skizziert ihre Vorstellungen für das weitere Vorgehen. Wegen des Mangels an zuverlässigen, vergleichbaren Daten auf EU-Ebene beabsichtigt die Kommission nun, einen jährlichen Statistikbericht über Migration zu erstellen, was eine Koordinierung und einen Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten erfordere. Sie nennt die bisher eingeleiteten Schritte: 2002 richtete sie mit dem „Ausschuss für Einwanderung und Asyl“ eine Expertengruppe ein, mit dem Aufbau des Europäischen Migrationsnetzes wurde begonnen (zu dem 2004 ein Pilotprojekt läuft), und ein Netz nationaler Kontaktstellen für Integrationsfragen wurde eingerichtet. Im Bereich der illegalen Einwanderung wurden ein Frühwarnsystem geschaffen und weitere Maßnahmen zur Verbesserung des Informationsaustauschs ergriffen.

1.10

Die Kommission vertritt die Auffassung, dass die Anwerbung von Arbeitskräften aus Drittstaaten sowie die Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen in die EU infolge der Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs und der Überalterung wahrscheinlich fortdauern und zunehmen wird. Auf der anderen Seite fordern Drittländer immer wieder mehr legale Wege für die Migration.

1.11

Die Kommission weist darauf hin, dass ihr 2001 vorgelegter Vorschlag für eine Richtlinie über die Einreise von Arbeitnehmern (1) vom Rat nicht unterstützt wurde. Sie wirft die Frage auf, ob die Aufnahme von Wirtschaftsmigranten auf EU-Ebene geregelt werden sollte, wie groß der anzustrebende Grad der Harmonisierung sein soll und ob der Grundsatz der Gemeinschaftspräferenz für den heimischen Arbeitsmarkt aufrechterhalten werden soll oder nicht. Die Kommission fügt an, dass der Entwurf des Verfassungsvertrags die Zuständigkeit der EU für die Migrationspolitik bestätigt, die Entscheidung über die Zahl der aufzunehmenden Migranten jedoch den Mitgliedstaaten überlassen wird, und sie unterstreicht, dass alle in diesem Bereich getroffenen Maßnahmen einen Mehrwert auf EU-Ebene erbringen müssen. Ende des Jahres will sie ein Grünbuch vorlegen, in dem ihr Richtlinienentwurf und die im Rat aufgeworfenen problematischen Fragen geprüft werden; darüber hinaus soll gegen Jahresende 2004 eine öffentliche Anhörung stattfinden.

1.12

Die Kommission ist der Auffassung, dass Regularisierungsmaßnahmen zwar den Aufenthalt zahlreicher illegaler Migranten legalisieren konnten, aber nicht als geeigneter Weg zur Steuerung der Migrationsströme anzusehen sind. In Zukunft müssten die Regularisierungsmethoden im Ausschuss für Einwanderung und Asyl weiter analysiert werden, um Verfahrensweisen zu ermitteln und zu vergleichen.

1.13

Die Förderung der Integration von Drittstaatsangehörigen ist ein wesentliches Ziel, von dem nach Auffassung der Kommission künftige Vorschläge geleitet sein müssen. Besonders relevant für dieses Ziel sei die Integration in den Arbeitsmarkt, weshalb die Kommission u.a. auf die Notwendigkeit verweist, die Differenz zwischen der Arbeitslosenquote von Drittstaatsangehörigen und der von EU-Bürgern zu verringern. Wichtig seien auch weitere Fortschritte bei der Erleichterung der Mobilität von Drittstaatsangehörigen innerhalb der Europäischen Union, für die erste Schritte bereits mit der 2003 angenommenen Richtlinie betreffend langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige (2) und mit der Verordnung Nr. 1408/71 unternommen wurden. Auch die Anerkennung der beruflichen Qualifikationen von Drittstaatsangehörigen müsse verbessert werden.

1.14

Die Kommission sieht die Schwarzarbeit als einen wesentlichen Pull-Faktor für die illegale Migration. Das vorrangige Ziel müsse folglich die Überführung von nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit in reguläre Beschäftigung sein. Dieses Ziel ist in den beschäftigungspolitischen Leitlinien bereits berücksichtigt.

1.15

Die Entwicklung einer Gemeinschaftspolitik zur Rückführung illegal aufhältiger Personen gehört ebenfalls zu den migrationspolitischen Instrumenten, durch die sichergestellt werden muss, dass illegal aufhältige Personen in ihr Herkunftsland zurückkehren. Die Kommission schlägt die Schaffung eines Finanzinstruments für Rückkehrmanagement für die Jahre 2005 und 2006 vor.

1.16

Die Studie hat, so die Kommission weiter, bestätigt, dass eine engere Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern nötig ist, um die illegale Migration einzudämmen und die legale in geordnete Bahnen zu lenken. Alle verfügbaren Informationen müssen zusammengetragen werden, um einen Überblick darüber zu erhalten, wie es um diese Zusammenarbeit bestellt ist und wieweit sie reicht. Außerdem könnte die Idee der Entwicklung von Ausbildungsprogrammen für Arbeitskräfte in den Herkunftsländern für ihre spätere Anwerbung je nach den in der EU benötigten Fähigkeiten geprüft werden. Ein weiterer Vorschlag der Kommission betrifft die Möglichkeit einer teilweisen Änderung der Visumpolitik im Sinne von Visaerleichterungen für bestimmte Personengruppen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Vorlage dieser Mitteilung durch die Kommission sehr, weil sie der gemeinschaftlichen Migrationspolitik einen neuen Impuls gibt. Im Rat stoßen die Debatten auf vielerlei Probleme wegen der wenig kooperativen Haltung einiger Regierungen. Der EWSA hat bereits in mehreren Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass es eine klare Verbindung zwischen legaler und illegaler Immigration gibt. Wenn es keine geeigneten, transparenten und flexiblen Wege der legalen Einwanderung gibt, nimmt die irreguläre Immigration zu (3). Ebenfalls erforderlich sind eine vernünftige Asylpolitik und harmonisierte Rechtsvorschriften für den Schutz von Menschen, die des internationalen Schutzes bedürfen.

2.2

Die Kommission in ihrer Mitteilung über Einwanderung, Integration und Beschäftigung (4) und der Europäische Rat von Thessaloniki gelangten zu der Auffassung, dass in den kommenden Jahren die Zuwanderung von Wirtschaftsmigranten aus Drittländern insbesondere in die EU zunehmen werde. Zu einer Zunahme der Wirtschaftsmigration komme es sowohl für hoch qualifizierte als auch für niedrig qualifizierte Tätigkeiten. Der EWSA unterstrich die Notwendigkeit, dass die Zuwanderung in legale, transparente Bahnen geleitet werden müsse, um die Probleme zu vermeiden, die sich auf den Arbeitsmärkten zeigen; dies erfordere eine sachgerechte Kooperation zwischen den Behörden und den Sozialpartnern.

2.3

Es ist unbegreiflich, warum der Rat die Richtlinie über die Einreise und den Aufenthalt von Arbeitnehmern, die die Kommission 2001 vorschlug, nicht angenommen hat. Der EWSA bezeichnete den Kommissionsvorschlag in seiner Stellungnahme (5) als begrüßenswert, aber unzureichend, und vertrat die Ansicht, dass es zwei unterschiedliche Möglichkeiten für die Einwanderung von Arbeitskräften geben müsse: zum einen die Beschaffung einer Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis noch im Ursprungsland, zum anderen die Möglichkeit, eine befristete Aufenthaltserlaubnis für die Arbeitssuche zu erhalten. Mit ihrem Richtlinienvorschlag kam die Kommission ihren Verpflichtungen im Gefolge des Gipfels von Tampere nach, der Rat ist mit seiner Haltung jedoch von diesem Ziel wieder abgerückt.

2.4

Die Frage der Kommission beantwortet der EWSA mit einem klaren Ja: Es ist notwendig, die Aufnahme von Wirtschaftsmigranten auf EU-Ebene zu regeln, was ein hohes Maß an Harmonisierung von Rechtsvorschriften erfordert, wie es im Entwurf eines Verfassungsvertrags vorgesehen ist. Bereits in früheren Stellungnahmen (6) hat der Ausschuss hervorgehoben, dass sich die EU rasch eine gemeinsame Zuwanderungspolitik geben und für die Rechtsangleichung sorgen muss. Der Ausschuss wird das Grünbuch, das die Kommission ausarbeitet, prüfen und dazu eine Stellungnahme abgeben.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1

Die bestehenden legalen Wege der Arbeitsmigration sind unzureichend. Die bilateralen Abkommen, die Quoten, die Programme zur Aufnahme von hoch qualifizierten Arbeitnehmern und die übrigen derzeit verfügbaren Instrumente reichen nicht aus, um die Migration aus wirtschaftlichen Gründen über legale Wege zu kanalisieren, was sich darin zeigt, dass die illegale Zuwanderung weiter zunimmt. Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten brauchen offener gestaltete Rechtsvorschriften, die eine Arbeitsmigration sowohl von hoch qualifizierten Fachkräften als auch von weniger qualifizierten Arbeitnehmern über legale, transparente Kanäle ermöglichen.

3.2

In verschiedenen Mitgliedstaaten hat man sich dafür entschieden, nur hoch qualifizierte Arbeitnehmer einwandern zu lassen; in der Mitteilung der Kommission werden die entsprechenden Erfahrungen Deutschlands und des Vereinigten Königreichs untersucht. Der EWSA ist der Ansicht, dass es sich dabei um sehr begrenzte Erfahrungen handelt, die es zwar positiv zu bewerten gilt, welche jedoch nicht ausreichen, um den Bedarf des Arbeitsmarktes in diesen Bereichen zu decken. Die Mitgliedstaaten brauchen aber auch neue rechtliche Instrumente für die Zuwanderung weniger qualifizierter Arbeitskräfte, nach denen ihre Arbeitsmärkte verlangen. Derzeit wandern diese Arbeitskräfte illegal ein und betätigen sich überwiegend in der Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit, insbesondere als Haushaltshilfen, in der Gesundheitspflege, in der Personenbetreuung, in der Landwirtschaft, im Gaststättengewerbe, im Baugewerbe und in einigen Dienstleistungsbranchen.

3.2.1

Sehr wichtig ist, dass Menschen mit Zuwanderungsabsicht ausreichend und klar über die Instrumente informiert sind, die in den Mitgliedstaaten für eine legale Zuwanderung bestehen. Die Konsulatsdienste müssen solche Informationen an die Herkunftsländer übermitteln. Auch in den europäischen Aufnahmeländern müssen die Zuwanderer über die bestehenden legalen Instrumente unterrichtet werden.

3.3

Auf der anderen Seite stellen die bilateralen Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten zur Regulierung der Arbeitsmigration eine sehr positive Erfahrung dar, bei der die Zuwanderung in Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern gesteuert und koordiniert wird, wie das der Rat, die Kommission, das Europäische Parlament und der EWSA seit dem Gipfel von Tampere fordern. Der größte Teil dieser Abkommen dient der Vermittlung von Migranten in wenig qualifizierte Tätigkeiten und mit befristeten Aufenthaltsgenehmigungen. Der EWSA weist allerdings darauf hin, dass diese Abkommen wirksamer ausgeschöpft werden können, wenn sie in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern der Mitgliedstaaten und der Herkunftsländer abgewickelt werden. Die Erfahrungen haben auch gezeigt, dass es in den Konsulaten der Mitgliedstaaten zu wenige Fachleute für Arbeitsmigration gibt, was zu Problemen führt.

3.3.1

Der EWSA schlägt ferner vor, dass die EU im Rahmen der Gemeinschaftsinstrumente zur Assoziierung und Zusammenarbeit mit Drittstaaten spezialisierte Dienste für Arbeitsmigration einrichtet. Die Assoziierungs- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Drittstaaten könnten Möglichkeiten für Arbeitsmigration und Fortbildungsprogramme enthalten. Die Zuwanderung qualifizierter Arbeitnehmer aus den Herkunftsländern nach Europa kann zu einem neuen Hindernis für deren Entwicklung werden, weshalb die Europäische Union und die Mitgliedstaaten mit diesen Ländern zusammenarbeiten müssen, damit die Zuwanderung zu einem Entwicklungsfaktor wird und nicht neue Probleme hervorruft.

3.3.2

Andererseits haben diese Staaten in ihrem Verhältnis zur Europäischen Union in den Handels- und Finanzströmen und beim Technologietransfer eine ungleichgewichtige Position. Die Assoziierungs- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Drittstaaten müssen neue politisch-wirtschaftliche Instrumente enthalten, die der Entwicklung dieser Staaten förderlich sind. Nur so kann eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zur Verhütung der illegalen Zuwanderung aufgebaut werden. Auch im Rahmen der WTO bedarf es einer guten Zusammenarbeit zwischen der EU und den Entwicklungsländern.

3.4

Einige Mitgliedstaaten verwenden bei der Durchführung der bilateralen Abkommen Quoten, die auf der Grundlage zuvor in Zusammenarbeit mit den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften durchgeführter Untersuchungen über die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt festgelegt werden. Aufgrund der geringen Quoten und des umständlichen bürokratischen Aufwandes entsprechen die Ergebnisse nicht den Erwartungen. Es gibt Mitgliedstaaten (wie Spanien), in denen die illegale Einwanderung stark zunimmt, ohne dass die festgelegten Quoten ausgeschöpft werden. Ein beweglicheres Quotensystem wäre zweckmäßig, zum Beispiel durch Gewährung von befristeten Visa zur Arbeitssuche, wie der EWSA bereits in seiner Stellungnahme (7) über die Aufnahmerichtlinie vorschlug.

3.5

Wie die Kommission feststellt, gibt es in der EU zahlreiche Migranten ohne gültige Aufenthaltspapiere, die in irregulären Beschäftigungsverhältnissen oder in der Schattenwirtschaft tätig sind. Diese Personen sind illegal eingereist oder ihre Aufenthaltsgenehmigung ist abgelaufen, ohne dass sie in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt sind. Die Mitteilung der Kommission untersucht die Rückkehrpolitik und die Regularisierungsmaßnahmen.

3.6

Der EWSA teilt nicht die Auffassung der Kommission, dass „der einzige kohärente Ansatz beim Umgang mit illegal aufhältigen Personen darin [besteht], sicherzustellen, dass sie in ihr Herkunftsland zurückkehren“ (8). Dies ist kein realistisches Konzept, denn die Systeme und Instrumente zur Rückkehr und Rückführung sind nicht geeignet, die Situation von Millionen von Menschen einer Lösung zuzuführen. Der EWSA hat seine Haltung bereits in der Stellungnahme (9) zum „Grünbuch über eine Gemeinschaftspolitik zur Rückkehr illegal aufhältiger Personen“ und in der Stellungnahme (10) über den offenen Koordinierungsmechanismus deutlich gemacht: „... kommt der Ausschuss zu dem Schluss, dass es ein Fehler wäre, in der zwangsweisen Rückkehr das wichtigste Mittel zu sehen, über das die EU im Umgang mit den Einwanderern, die sich derzeit in den Mitgliedstaaten 'ohne Papiere' aufhalten, verfügt. Vielmehr ist ein globaler Politikansatz erforderlich, der sowohl Rückführungsmaßnahmen als auch Legalisierungsmaßnahmen umfasst“ (11). „Falls die Politik der Rückführung nicht von Legalisierungsmaßnahmen flankiert wird, bleibt der Status quo der illegal aufhältigen Personen erhalten — und dies bedeutet in erster Linie: Förderung der Schattenwirtschaft, Ausbeutung durch illegale Beschäftigung und soziale Ausgrenzung“ (12). Der EWSA strebt eine Gemeinschaftspolitik an, die Programme zur freiwilligen Rückkehr fördert und die Zwangsrückführung nur in hinreichend begründeten Fällen anwendet, so wie er dies in der vorgenannten Stellungnahme zum „Grünbuch über eine Gemeinschaftspolitik zur Rückkehr illegal aufhältiger Personen“ dargelegt hat (13).

3.7

Der EWSA hat bereits erklärt, dass die Situation der zahlreichen irregulären Migranten unter bestimmten Bedingungen der sozialen und beruflichen Verwurzelung (14) legalisiert werden sollte. Der Rat und die Kommission haben zu Recht festgestellt, dass die nichtangemeldeten Beschäftigungsverhältnisse in reguläre Arbeitsverhältnisse umgewandelt werden müssen, wozu es der Zusammenarbeit seitens der Betroffenen, von denen viele illegale Zuwanderer sind, und der Sozialpartner bedarf (15).

3.8

Die illegale Zuwanderung steht in engem Zusammenhang mit der Schattenwirtschaft und der nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit. Die Schattenwirtschaft ist jedoch ein Komplex, der sich nicht auf Zuwanderung einengen lässt, und für die irreguläre Beschäftigung sind Merkmale kennzeichnend, die auf illegale Migrationsströme anziehend wirken. Daher hält der EWSA die Rechtsvorschriften einiger Mitgliedstaaten, die die Regularisierung der Situation dieser Menschen aus arbeitsmarktpolitischen oder humanitären Gründen oder wegen ihrer Verwurzelung ermöglichen, für einen Schritt in die richtige Richtung. So kann zudem vermieden werden, dass sich mehr und mehr Menschen in einer irregulären Situation „stauen“, deren eventuelle Regularisierung außerordentliche Anstrengungen erfordern würde. Diese Instrumente müssen transparent sein und erfordern ein angemessenes Maß an Information und Koordination unter den Mitgliedstaaten.

3.9

Zur vollen Eingliederung der Zuwanderer in den europäischen Arbeitsmarkt ist eine Erleichterung ihrer Mobilität erforderlich. Der EWSA befürwortete (16) die Richtlinie betreffend den Status der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, der Zuwanderern mit diesem Status Mobilität innerhalb der EU gewähren wird. Er sprach sich gleichfalls für die Ausdehnung der Verordnung Nr. 1408/71 auf Drittstaatsangehörige aus (17). Es ist sinnvoll, anderen Zuwanderergruppen im Rahmen der europäischen Beschäftigungsstrategie und mit Hilfe des EURES-Netzes mehr Mobilität zu geben.

3.9.1

Die Kommission bekräftigt, dass der Vorschlag für eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen ebenfalls die Mobilität verbessern werde. Der EWSA erarbeitet gegenwärtig eine Stellungnahme (18) mit Vorschlägen zur Behebung der Probleme, die diese Richtlinie verursachen wird.

3.10

Viele Zuwanderer können keine ihrer Ausbildung entsprechende Erwerbstätigkeit ausüben, weil die Behörden der Mitgliedstaaten ihre beruflichen Befähigungsnachweise nicht anerkennen. Die EU muss die Richtlinien über die Anerkennung von Berufsqualifikationen im Sinne einer leichteren Anerkennung im Herkunftsland erworbener Befähigungen ausdehnen. Dadurch würde zum einen Diskriminierung vermieden, und zum anderen wäre es für die Mitgliedstaaten und die europäische Wirtschaft von Vorteil, wenn diese Menschen bei der Arbeit ihre beruflichen Kenntnisse einbringen können.

3.11

Es gibt keine ausreichenden Daten, um die Wirkung der Visumpolitik auf die Verminderung der illegalen Einwanderung bewerten zu können. Das Erfordernis eines Kurzzeitvisums für Bürger aus einem Drittstaat kann zwar die illegale Zuwanderung aus diesem Land verringern, doch ist dagegen die Gefahr abzuwägen, dass die Zahl der Personen, die Opfern von Schlepper- und Menschenhändlernetzen werden, sogar zunimmt. Die Visumpolitik kann starke Einschränkungen der Freizügigkeit der Personen in diskriminierender Form mit sich bringen; erforderlich ist daher eine angemessene Handhabung durch die Konsularbehörden unter Wahrung der Transparenz und Ausschaltung einer etwaigen Korruption.

3.12

Der EWSA schließt sich dem Standpunkt der Kommission an, dass die Bekämpfung der illegalen Einwanderung ein wesentlicher Bestandteil der Migrationskontrolle bleiben muss. Die Öffnung legaler Kanäle für die Arbeitsmigration, die Zurückdrängung der Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit, die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern usw. müssen durch eine angemessen wirksame Kontrolle an den EU-Außengrenzen flankiert werden.

3.13

Die kriminellen Organisationen, die Menschenhandel betreiben, verfügen über viel Macht und sind in andere ungesetzliche Aktivitäten verwickelt. Der EWSA hat in verschiedenen Stellungnahmen (19) eine wirksamere Bekämpfung von Schlepper- und Menschenhändlernetzen gefordert. Die für Justiz und Inneres zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten und Dienststellen der Europäischen Kommission müssen ihre Zusammenarbeit intensivieren. EUROPOL und EUROJUST brauchen geeignetere politische, rechtliche und verwaltungstechnische Instrumente. Die Arbeiten zur Errichtung der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen müssen beschleunigt werden, ebenso zur mittelfristigen Schaffung eines Europäischen Grenzschutzes.

3.13.1

Einige europäische Gebiete, wie die Inseln im Süden (z.B. Malta, Lampedusa und die Kanarischen Inseln), haben besondere Schwierigkeiten, da sie Durchgangsorte für illegale Einwanderer darstellen und die Zahl der Migranten mitunter ihre Aufnahmekapazität übersteigt. Deshalb ist es erforderlich, dass die Europäische Union über ein Solidarsystem zur Lösung dieser Probleme verfügt.

3.13.2

Bei der Bekämpfung des illegalen Menschenhandels muss den Opfern die Einhaltung der internationalen Menschenrechtskonventionen und europäischen Menschenrechtsabkommen garantiert werden. Illegale Einwanderer gehören zu den besonders schutzbedürftigen Personengruppen. Ihr Leben und ihre Sicherheit haben Priorität. Der EWSA hat bereits bei früherer Gelegenheit (20) eine Verbesserung des Opferschutzes angemahnt.

3.14

Der EWSA hat die Einführung eines offenen Koordinierungsmechanismus für die Migrations- und Asylpolitik unterstützt (21). Die EU hat einen „Ausschuss für Einwanderung und Asyl“ eingesetzt, der im Hinblick auf die Abstimmung und Konsultation gute Arbeit leistet, dessen Mandat jedoch nicht ausreicht. Der Europäische Rat von Thessaloniki hat ein Pilotprojekt zur Schaffung eines „Europäischen Migrationsnetzes“ beschlossen. Der EWSA unterstützt dieses Netz als Schritt auf dem Weg zu einer besseren Abstimmung in der EU.

3.15

Der EWSA begrüßt die von ihm geforderte (22) Aufnahme von Integrationsmaßnahmen in die migrationspolitischen Ziele der Gemeinschaft. Die Aufnahme von Neuzuwanderern, ihre Integration in den Arbeitsmarkt, Sprachkurse, die Bekämpfung von Diskriminierung und ihre Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben müssen strategische Ziele der EU sein. Für den EWSA ist es unerlässlich, dass die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft bei integrationspolitischen Maßnahmen mit den Behörden zusammenwirken.

3.15.1

Der Ausschuss möchte den Bürgerinnen und Bürgern Europas die Einsicht vermitteln, dass die Zuwanderer Teil unserer Gemeinschaft sind und zur wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereicherung Europas beitragen. Er möchte weiterhin zusammen mit den anderen Gemeinschaftsinstitutionen aktiv darauf hinwirken, dass die Ziele von Tampere erreicht und eine geeignete gemeinsame Zuwanderungspolitik und harmonisierte Rechtsvorschriften angewandt werden. Zu diesem Zweck wird der EWSA in Zusammenarbeit mit der Kommission, den Sozialpartnern und den Organisationen der Zivilgesellschaft ein ständiges Instrument (23) einrichten. Der Weg zu Gleichbehandlung und Integration führt über die Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung.

3.16

Die sozialpolitische Agenda (24) umfasst in ihrer Zielsetzung gegenwärtig die Förderung der Integration, die Bekämpfung von Diskriminierung und die Gewährleistung der Gleichbehandlung. In den kommenden Jahren werden die Ziele verschiedener sozialpolitischer Leitlinien der EU angepasst werden müssen, um der Zunahme der Zahl der Migranten Rechnung zu tragen.

3.17

Der EWSA hebt hervor, dass der Entwurf eines Verfassungsvertrags neue Grundlagen für eine gemeinschaftliche Zuwanderungspolitik legt, und verweist auf seine Initiativstellungnahme (25), in der er vorschlug, dass im Entwurf des Verfassungsvertrags die Zuerkennung der Unionsbürgerschaft für Drittstaatsangehörige, die den Status eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzen, vorgesehen wird, um so deren politische Rechte und Integration zu fördern. In einer weiteren Initiativstellungnahme (26) schlug der EWSA vor, dass die EU-Mitgliedstaaten die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde (27), ratifizieren. Zweck der Konvention ist der Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde von Menschen weltweit, die aus wirtschaftlichen Gründen oder zum Zwecke der Arbeit auswandern, durch angemessene Rechtsvorschriften und eine gute nationale Praxis. Der Ausschuss fordert den Rat und die Kommission erneut zu ihrer Ratifizierung auf.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  KOM(2001) 386 endg.

(2)  Richtlinie 2003/109/EG.

(3)  Stellungnahme zu der Mitteilung über eine Migrationspolitik der Gemeinschaft (ABl. C 260 vom 17.9.2001), Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS.

(4)  KOM(2003) 336 endg.

(5)  Stellungnahme im ABl. C 80 vom 3.4.2002, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS.

(6)  Stellungnahme zur Mitteilung über eine Migrationspolitik der Gemeinschaft, ABl. C 260 vom 17.9.2001, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS; Stellungnahme zu der Mitteilung über eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der illegalen Einwanderung, ABl. C 149 vom 21.6.2002, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS.

(7)  Siehe ABl. C 80 vom 3.4.2002, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS.

(8)  Ziffer 3.2.2 der Mitteilung.

(9)  Siehe ABl. C 61 vom 14.3.2003, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS.

(10)  Siehe ABl. C 221 vom 17.9.2002, Berichterstatterin: Gräfin ZU EULENBURG.

(11)  Siehe Ziffer 2.2 der Stellungnahme zum „Grünbuch über eine Gemeinschaftspolitik zur Rückkehr illegal aufhältiger Personen“.

(12)  Siehe Ziffer 2.4 der gleichen Stellungnahme.

(13)  Siehe ABl. C 61 vom 14.3.2003, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS.

(14)  Stellungnahme zur Mitteilung über eine Migrationspolitik der Gemeinschaft, ABl. C 260 vom 17.9.2001, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS; Stellungnahme zu der Mitteilung über eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der illegalen Einwanderung, ABl. C 149 vom 21.6.2002, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS; Stellungnahme zum „Grünbuch über eine Gemeinschaftspolitik zur Rückkehr illegal aufhältiger Personen“, ABl. C 61 vom 14.3.2003, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS.

(15)  Stellungnahme noch in Ausarbeitung SOC/172, Berichterstatter: Herr HAHR.

(16)  Stellungnahme zu dem Richtlinienvorschlag betreffend den Status der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, ABl. C 36 vom 8.2.2002, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS.

(17)  Stellungnahme zu dem Vorschlag zur Änderung der Verordnung Nr. 1408/71 in bezug auf deren Ausdehnung auf Staatsangehörige von Drittländern, ABl. C 157 vom 25.5.1998, Berichterstatter: Herr LIVERANI.

(18)  Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt; Berichterstatter: Herr METZLER, Mitberichterstatter: Herr EHNMARK.

(19)  Stellungnahme zur illegalen Einwanderung, ABl. C 149 vom 21.6.2002, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS; Stellungnahme zur Errichtung der europäischen Grenzenagentur, ABl. C 108 vom 30.4.2004, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS, und Stellungnahme zum ARGO-Programm (SOC/186), Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS.

(20)  Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Erteilung kurzfristiger Aufenthaltstitel für Opfer der Beihilfe zur illegalen Einwanderung und des Menschenhandels, die mit den zuständigen Behörden kooperieren, ABl. C 221 vom 17.9.2002, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS.

(21)  Stellungnahme von Gräfin zu EULENBURG, ABl. C 221 vom 17.9.2002.

(22)  Stellungnahme „Einwanderung, Eingliederung und Rolle der organisierten Zivilgesellschaft“, ABl. C 125 vom 27.5.2002; gemeinsame Konferenz von EWSA und Kommission am 9./10. September 2002 zum Thema „Einwanderung: Die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft bei der Förderung der Integration“.

(23)  Noch festzulegen (Beobachtungsstelle, jährliche Konferenz ...).

(24)  Stellungnahme zu der Mitteilung über die Halbzeitüberprüfung der sozialpolitischen Agenda, ABl. C 80 vom 30.3.2004, Berichterstatter: Herr JAHIER.

(25)  Stellungnahme zum Thema „Zuerkennung der Unionsbürgerschaft“, ABl. C 208 vom 3.9.2003, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS.

(26)  Stellungnahme: Internationale Konvention zum Schutz der Rechte von Wanderarbeitnehmern; ABl. C 241 vom 28.9.2004, Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS.

(27)  Resolution Nr. 45/158 vom 18.12.1990, in Kraft seit 1.7.2003.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/92


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der„Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Zur kontrollierten Einreise von Personen, die internationalen Schutz benötigen, in die EU und zur Stärkung der Schutzkapazität von Herkunftsregionen: ‚Verbesserung des Zugangs zu dauerhaften Lösungen‘“

(KOM(2004) 410 endg.)

(2005/C 157/16)

Die Europäische Kommission beschloss am 25. August 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu der obenerwähnten Mitteilung zu ersuchen:

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. November 2004 an. Berichterstatterin war Frau LE NOUAIL-MARLIÈRE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 139 gegen 1 Stimme bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsdokuments

1.1

Diese Mitteilung ist die Antwort der Kommission auf die Schlussfolgerung Nr. 26 des Europäischen Rates von Thessaloniki vom 19./20. Juni 2003, in der die Kommission aufgefordert wird, „alle Parameter auszuloten, mit denen eine geordnetere und kontrolliertere Einreise von Personen, die internationalen Schutz benötigen, in die EU gewährleistet werden kann, und Mittel und Wege zu prüfen, wie die Schutzkapazität von Herkunftsregionen erhöht werden kann“.

1.2

Die Mitteilung ist in vier Abschnitte gegliedert, wobei der erste sich damit befasst, „alle Parameter auszuloten, mit denen eine geordnetere und kontrolliertere Einreise von Personen, die internationalen Schutz benötigen, in die EU gewährleistet werden kann“.

1.3

Die Neuansiedlung, durch die Flüchtlinge aus einem ersten Aufnahmeland oder aus einem Transitland auf das Territorium der Union oder das Territorium von Drittländern (Kanada, USA, Australien u.a.) überführt werden, stellt ihrem Wesen nach eine kontrollierte und geordnete Einreise in die EU dar. Sie könnte innerhalb der gemeinsamen Asylpolitik der EU eine wichtige, wenn auch begrenzte Rolle spielen. Daher vertritt die Kommission die Auffassung, dass vieles für einen EU-weiten Ansatz auf diesem Gebiet und für die Schaffung eines EU-Neuansiedlungsprogramms spricht.

1.4

In Abschnitt II wird geprüft, mit welchen Mitteln die Schutzkapazität von Herkunftsregionen erhöht werden kann und wie die EU hierbei in den betroffenen Gebieten helfen kann.

1.5

Voraussetzung für die praktische Stärkung der Schutzkapazität ist ein abgestimmter und systematischer Ansatz. In diesem Zusammenhang ist ein Vergleichsmaßstab für einen wirksamen Schutz zu erarbeiten, den die Aufnahmeländer mit partnerschaftlicher Unterstützung der EU anstreben sollten. Dabei sollte die EU zunächst die Elemente betrachten, auf die sie selbst bei der Gewährleistung von Schutz für Schutzbedürftige zurückgreift. Im Mittelpunkt dieser Maßnahmen stehen der Schutz vor Verfolgung und erzwungener Rückführung, der Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren und die Sicherung eines angemessenen Lebensunterhalts.

1.6

Die nachstehend aufgeführten Schutzkomponenten könnten als geeignete Indikatoren für die Schutzkapazität eines Aufnahmelandes und für den Aufbau eines nachhaltigen Schutzsystems gelten. Außerdem könnten sie als Orientierungshilfe bei der Erarbeitung von Vergleichsmaßstäben (Benchmarks) für den Aufbau von Kapazitäten dienen:

Zugang zu und Einhaltung von Flüchtlingsinstrumenten, darunter regionalen Flüchtlingsinstrumenten und anderen Menschenrechtsabkommen sowie völkerrechtlichen Verträgen zu humanitären Fragen, einschließlich Zurückziehen von Vorbehalten;

nationale Rechtsrahmen: Annahme/Änderung von Rechtsvorschriften im Bereich Flüchtlinge/Asyl;

Registrierung und schriftliche Erfassung der Anträge von Asylsuchenden und Flüchtlingen;

Anerkennung und Aufnahme von Asylsuchenden;

Förderung von Selbstversorgung und lokaler Integration.

1.7

In Abschnitt III wird untersucht, wie ein integrierter, umfassender, ausgewogener, flexibler und situationsspezifischer Ansatz in Asyl- und Migrationsfragen erreicht werden kann.

1.8

Zu diesem Zweck schlägt die Kommission mehrjährige regionale Schutzprogramme der EU vor, die eine Maßnahmenliste, Ziele und einen Zeitplan für den Bereich Asyl und Migration umfassen und in Zusammenarbeit mit den Drittstaaten der Region erarbeitet werden sollen. Die Aufstellung dieser Programme soll in Verbindung mit den regionalen und den Länderstrategiepapieren erfolgen, die den allgemeinen Rahmen für die Beziehungen der EU zu Entwicklungsländern abstecken und die gleichen Zyklen durchlaufen wie diese.

1.9

Die regionalen Schutzprogramme der EU böten ein Instrumentarium mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen; einige von ihnen gibt es bereits, manche befinden sich noch im Entwicklungsstadium, andere gilt es erst noch vorzuschlagen: Maßnahmen zur Stärkung des Schutzangebots, ein Registrierungssystem, ein EU-weites Neuansiedlungsprogramm, Unterstützung bei der Verbesserung der lokalen Infrastruktur, Unterstützung bei der lokalen Integration von Personen, die internationalen Schutz in einem Drittstaat benötigen, Zusammenarbeit im Bereich legale Einwanderung, Maßnahmen zur Migrationssteuerung, Rückkehr.

1.10

Abschnitt IV schließlich enthält die Schlussfolgerungen aus dieser Mitteilung sowie Hinweise zu optimalen Strategien, zu denen Ministerrat, Europäischer Rat und Europäisches Parlament um Unterstützung ersucht werden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die auf die Empfehlungen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) gestützte Absicht der Kommission, empfindet die in der Kommissionsmitteilung enthaltenen Garantien für einen internationalen Schutz auf dem seit 1951 festgelegten Niveau jedoch als nicht ausreichend. Leider ist es nach wie vor notwendig, dieses Niveau zu gewährleisten bzw. zu erhöhen, da es im internationalen Umfeld nach wie vor zu Diskriminierungen kommt, denen Hass zugrunde liegt und die möglicherweise bis zum bewaffneten Konflikt führen. Ferner werden gesellschaftliche Gruppen der Bevölkerung oder Individuen, die bestimmten gesellschaftlichen Gruppen angehören, diskriminiert und Individuen bzw. Gruppen durch Staaten oder nichtstaatliche Akteure (Gruppen oder Individuen) verfolgt. Unter diesem Gesichtspunkt unterstützt der Ausschuss die Arbeiten im Rahmen der „Konvention Plus“-Initiative des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen zur Verbesserung und Anpassung des Flüchtlingsstatus und der Genfer Flüchtlingskonvention.

2.2

Im Zusammenhang mit den vorgeschlagenen Neuansiedlungsprogrammen sollte verstärkt hervorgehoben werden, dass das Hauptziel der Neuansiedlung als dauerhafte Lösung darin besteht, für Personen mit Flüchtlingseigenschaft bzw. für solche, die im Einklang mit der Richtlinie über die für die Anerkennung des Status (1) erforderlichen Bedingungen internationalen Schutz genießen, so schnell wie möglich normale und menschenwürdige Lebensbedingungen im Sinne der Genfer Konvention und des Handbuchs des UNHCR herzustellen.

2.3

Der Ausschuss betont, dass sich die Mitgliedstaaten auf einen rechtlichen Status einigen müssen, damit die in einigen Mitgliedstaaten bereits bestehenden Neuansiedlungsprogramme anerkannt und unterstützt werden und gemeinsame Normen verabschiedet werden können, um diese Programme auf die EU-Mitgliedstaaten auszuweiten, die Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention sind.

2.4

Im Rahmen dieser Programme würde den Bedürfnissen der Personen, die einen tatsächlichen internationalen Schutz im Sinne der Flüchtlingskonvention von 1951 benötigen, entsprochen, und es würde verhindert werden, dass die Flüchtlingseigenschaft und das Schutzniveau durch missbräuchliche Ersuchen geschwächt werden. Der Ausschuss teilt dieses Anliegen, weist jedoch darauf hin, dass

die internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die die Konvention von 1951 unterzeichnet haben, nach wie vor Geltung haben — auch wenn sich einige Staaten nicht einmal mehr die Mühe machen, Anträge entgegenzunehmen bzw. zu prüfen und die Einreise verweigern, ohne nachzuprüfen, ob eine Rückkehr die Betroffenen in Lebensgefahr bringen kann;

die Bedingungen für die Aufnahme Asylsuchender in einigen Mitgliedstaaten werden zu Bedingungen in der „Abschiebungshaft“ für Asylsuchende, deren Anträge zwar entgegengenommen, jedoch noch nicht geprüft wurden, und waren Gegenstand von Berichten öffentlicher sozialer Dienststellen. Aus diesen Berichten geht hervor, dass die Realität erschreckend ist — sowohl für die Asylbewerber selbst als auch für die Zivilgesellschaft, in der folglich eine verheerende Meinung im Zusammenhang mit der Asylfrage im Allgemeinen entsteht;

zu den in der Mitteilung dargelegten Zielen eine beträchtliche Verbesserung insbesondere der Freizügigkeit, der finanziellen Unterstützung, der Unterstützung durch die Flüchtlingshilfswerke und der integrationsfördernden Programme gehören sollte.

die Voraussetzungen für die Anwesenheit nichtstaatlicher Organisationen oder Flüchtlingshilfsorganisationen in den Aufnahmezentren verbessert werden müssen, indem Partnerschaftsabkommen mit den Behörden des Aufnahmelandes ausgehandelt oder zumindest die Rechte solcher Organisationen geklärt werden.

2.5

Dadurch dass Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, und die Bekämpfung der illegalen Einwanderung in einen Topf geworfen werden — wobei unterstellt wird, dass alle Asylanträge einen Rechtsmissbrauch darstellen und unbegründet sind, und dass der Schutz der Rechtsstellung der Flüchtlinge nicht ohne die Verstärkung umfassender Zwangsmaßnahmen gewährleistet werden kann — wird die Haltung der Öffentlichkeit in Bezug auf ihre Verpflichtungen weder verbessert noch geklärt.

2.6

Wie aus den Berichten des Europäischen Parlaments (2), den Stellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (3) und den Empfehlungen internationaler Organisationen (4) hervorgeht, sollte die Einführung der Programme nicht dazu führen, dass die Mitgliedstaaten von der Einhaltung der Verfahren und der Prüfung der einzelnen Anträge absehen.

2.7

Der Ausschuss weist darauf hin, dass die Personen, die den Versuch unternehmen und denen es tatsächlich gelingt, die Grenzen der Europäischen Union zu passieren, in der Hoffnung, dort Asyl beantragen zu können, lediglich einen kleinen Anteil (rund ein Hundertstel) aller asylberechtigten Personen ausmachen. Um das Engagement und die Verpflichtungen der EU mit zuverlässigen Zahlen unterlegen zu können, muss auf den Bericht UNHCR 2003 Bezug genommen werden, der die Anzahl der Personen und der Bevölkerungen enthält, die unter die Zuständigkeit des Hohen Flüchtlingskommissars fallen.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1

In Anbetracht der Bewertungsbilanz, die die europäischen nichtstaatlichen Organisationen und die Institutionen, einschließlich des Europäischen Parlaments gezogen haben, befürchtet der Ausschuss, dass der den Mitgliedstaaten für die Bestimmung der Zugangskriterien zum Neuansiedlungsprogramm zur Verfügung stehende Spielraum nach und nach zu einer Abschwächung des von den Normen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und vom New Yorker Protokoll von 1967 garantierten Schutzes führen wird.

3.2

Wird Flüchtlingen, die in den ersten Aufnahmeländern in den Herkunftsregionen um internationalen Schutz nachsuchen, von den Dienststellen des UNHCR die Flüchtlingseigenschaft „prima facie“ zuerkannt, so bedeutet dies nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Vielmehr ist der UNHCR dadurch in der Lage, eine Liste mit Personen vorzulegen, die am Neuansiedlungsprogramm teilnehmen können. Es wird den Behörden des ersten Aufnahme-, des Transit- bzw. des Neuansiedlungslandes obliegen, die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Konvention bzw. im Sinne eines subsidiären Schutzes zuzuerkennen. Den am Neuansiedlungsprogramm teilnehmenden Personen muss der Anspruch in einem der internationalen Schutzstatuten zuerkannt worden sein.

3.3

Der Ausschuss betont nachdrücklich, dass die Anträge einzeln und unabhängig davon geprüft werden müssen, ob der Antragsteller für eine Teilnahme an den Neunansiedlungsprogrammen in Frage kommt (mit einem Beschwerderecht mit aufschiebender Wirkung gegen Rückführungsmaßnahmen). Der Ausschuss befürchtet, dass in Ermangelung einer klaren Übernahme und einer deutlichen Aufteilung der Verantwortung eine Grauzone der Zuständigkeitsverweisung geschaffen wird — trotz des Dubliner Übereinkommens (Dublin II), an das die Aufnahme- bzw. Transitländer in den Herkunftsregionen nicht gebunden sind. Darüber hinaus könnte die Tatsache, dass die Teilnahmeberechtigung an einem Neuansiedlungsprogramm von der Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus abhängig gemacht wird, dazu führen, dass die an den Neuansiedlungsprogrammen beteiligten Mitgliedstaaten die Zahl der anerkannten Flüchtlinge im Sinne der Konvention bzw. der Personen, die einen subsidiären Schutz genießen, einschränken.

3.4

Der Ausschuss unterstützt den Vorschlag der Kommission als Beitrag der EU zum effektiven Schutz von Flüchtlingen mit anerkanntem Flüchtlingsstatus, vorausgesetzt, die rechtlichen Verfahrensgarantien und die Wahrung der individuellen Rechte der Asylantragsteller im Sinne der internationalen Übereinkommen (insbesondere des Genfer und des New Yorker Übereinkommens) finden Anwendung, und der Anspruch auf Überprüfung und Anerkennung der Anträge von Flüchtlingen, die den Auswahlkriterien zur Teilnahme an den Neuansiedlungsprogrammen nicht entsprechen, wird nicht gemindert. Der Ausschuss spräche sich jedoch dagegen aus, wenn die Stärkung der Kapazität von Erstaufnahme- bzw. Transitländern in den Herkunftsregionen in einem gleichzeitigen Schwinden des Engagements der EU-Mitgliedstaaten im Bereich der Anerkennung des Status- und Rechtschutzes des Flüchtlings oder der Person, die subsidiären Schutz genießt, resultieren würde.

3.5

Der Ausschuss empfiehlt, die am 24. April 2004 vom Rat angenommenen harmonisierten Verfahren umzusetzen und zu überarbeiten und das Ziel der vorliegenden Mitteilung nicht auf die Untersuchung der Anträge in den Herkunftsregionen zu verlagern. Vielmehr sollten sich die Mitgliedstaaten durch die verabschiedeten Mindestnormen dazu angehalten fühlen, Garantien zu bieten, die über die empfohlenen Normen hinausgehen können.

3.6

Regionen, die zu Herkunftsregionen werden könnten, sind nach wie vor zahlreich — aufgrund von Diskriminierung, aufgrund der Nichteinhaltung der Menschenrechte sowie der Verfolgung von Menschenrechtsaktivisten und -aktivistinnen, aufgrund von Naturkatastrophen bzw. damit zusammenhängenden Katastrophen, Hunger, Spekulation, Klimawandel und aufgrund mehrerer Ursachen gleichzeitig. So fragt sich der Ausschuss, ob sich die an die Herkunftsländer der Asylbewerber angrenzenden Länder aufgrund ihrer Lage tatsächlich am besten für die Aufnahme, Anerkennung und Auswahl aller Flüchtlinge eignen, die an den Neuansiedlungsprogrammen teilnehmen können. Ferner hält er es für fragwürdig, ob die EU-Vertretungen in den Drittländern in der Lage sind, dies ohne die Unterstützung und Mitwirkung der organisierten Zivilgesellschaft zu tun. Der Ausschuss empfiehlt, die am 24. April 2004 vom Rat angenommenen harmonisierten Verfahren umzusetzen und zu überarbeiten, bevor zum nächsten Stadium, d.h. der Dezentralisierung der Antragsprüfung in den Herkunftsregionen übergegangen wird.

3.7

Der Ausschuss befürchtet, dass die Unterstützung vonseiten der europäischen, internationalen oder lokalen Verbände und nichtstaatlichen Organisationen, die sich bereits als schwierig erweist, aufgrund der Entfernung, der entstehenden Mehrkosten, der Vielfalt der die staatlichen Stellen vertretenden Gesprächspartner oder aufgrund gespannter Verhältnisse bzw. der in vielen Ländern mangelnden Mittel in Bezug auf die lokalen Verbände unmöglich wird.

3.8

Obwohl die Erstaufnahme- oder Transitländer in den Herkunftsregionen entlastet werden müssen und ein größerer Beitrag zur Wiederherstellung normaler und würdevoller Lebensbedingungen für die Flüchtlinge geleistet werden muss, darf eine eventuelle Zusammenarbeit mit den Erstaufnahme- oder Transitländern bei den Neuansiedlungsprogrammen auf keinen Fall weder das individuelle Recht auf das Stellen eines Asylantrags innerhalb der EU noch die Verpflichtungen der Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention in Bezug auf die einzelnen Asylanträge ersetzen.

3.9

Der Ausschuss weist darauf hin, dass weiter „politisch“ mit den Herkunftsländern verhandelt werden muss, wobei insbesondere an die Wahrung der Menschenrechte appelliert und eine entsprechende Unterstützung gewährt werden muss. Bei diesen Ländern kann es sich je nach Fall und individueller Situation der Personen um Herkunfts-, Aufnahme- oder Transitländer handeln. Ferner müssen in diesem Zusammenhang die Verpflichtungen auf die Staaten aller Regionen aufgeteilt werden.

3.10

Mit Massenzuströmen muss noch gerechnet werden. Die Richtlinie über die Aufnahme im Falle eines Massenzustroms (5) findet nur im Falle eines Massenzustroms in das Unionsgebiet Anwendung, und der Ausschuss bedauert, dass die Kommission auf die von ihr befürwortete Unterstützung oder die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Neuansiedlungsprogramme in einer solchen Situation nicht eingeht.

4.   Schlussfolgerungen

4.1

Bei der Eröffnung legaler Einwanderungswege muss den Bedürfnissen der Auswanderung und der Einwanderung Rechnung getragen werden. Die Asylverfahren hingegen müssen nach wie vor auf das Asyl ausgerichtet sein und dem Schutz und der Wiederherstellung normaler und menschenwürdiger Lebensbedingungen der Flüchtlinge unbedingt Rechnung tragen — unabhängig von den Mitteln der Zusammenarbeit und der den Drittländern gewährten Hilfe in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und ökologische Nachhaltigkeit in der Europäischen Union. Diese Mittel dürfen kein Ersatz sein, sondern müssen den individuellen internationalen Schutz ergänzen. Personen, die internationalen Schutz suchen, und die Bekämpfung der illegalen Einwanderung dürfen nicht in einen Topf geworfen werden. Ferner lässt sich zwischen kaum oder bloß schwach in die Weltwirtschaft eingebundenen Regionen und der Nichteinhaltung der Menschenrechte kein systematischer Kausalzusammenhang erkennen — wenngleich bestimmte Auswirkungen verwandte Ursachen haben können.

4.2

Von allen Seiten werden in Bezug auf die Entwicklung einer gemeinsamen Asylpolitik strenge Urteile gefällt. Nichtstaatliche Organisationen sowie Gewerkschaften auf nationaler und internationaler Ebene zeigen sich über die Nichteinhaltung von Versprechen seitens der EU zunehmend besorgt. In diesem Umfeld wird die Kommission tätig und erarbeitet eine Mitteilung über die Konzipierung und Umsetzung „nachhaltiger Lösungen“.

4.3

Nach Auffassung des Ausschusses dürfen die Kommission und der Rat nicht über die Warnzeichen hinwegsehen, die sich aus einer Situation ergeben, in der im Anschluss an die Verpflichtungen von Tampere Richtlinien bzw. Regelungen entstanden, die einem Ansatz vor anderen den Vorrang einräumten. Der Ausschuss betont nachdrücklich, dass sich die öffentliche Meinung Europas aus pluralistischen Strömungen zusammensetzt und weder homogen noch monolithisch ist. Dies macht eine offene Gesellschaft aus, die sich auf Demokratie und Recht gründet. Deshalb sollte die Kommission bei ihrem Ansatz und der Rat in seinen Beschlüssen die Verpflichtungen von Tampere — nämlich einen Raum der Freiheit und des Rechts zu schaffen — verstärkt als Rechte der Bürgerinnen und Bürger sowie der Personen im Sinne der Grundrechtscharta und als die sich daraus ergebenden Verpflichtungen der Staaten auslegen.

4.4

Die Grenzen einer Überbetonung von Sicherheitsaspekten im Anschluss an die Anschläge vom 11. September 2001 kommen sowohl in den Ergebnissen der verschiedenen, auf nationaler wie auf europäischer Ebene durchgeführten Wahlen (einschließlich einer stets sinkenden Wahlbeteiligung), als auch in den zahlreichen bewaffneten Konflikten, die in chronische Bürgerkriege münden, und in der Nichtbeachtung der allgemeinen Menschenrechte zum Ausdruck.

4.5

In den letzten zehn Jahren hat die EU eine auf die Mitgliedstaaten ungleich verteilte Zahl an Flüchtlingen aufgenommen und anerkannt, doch die wirklichen Bedürfnisse machen deutlich, dass — unabhängig vom Ausmaß der Beteiligung der EU an der weltweiten Aufnahme — die Förderprogramme in den Herkunftsregionen (beispielsweise Afrika und Caswaname) und die Neuansiedlungsprogramme in der EU selbst zur Verbesserung der Situation der Flüchtlinge bzw. der Asylsuchenden beitragen könnten, die Anspruch auf internationalen Schutz haben.

4.6

Der Ausschuss unterstützt den Mitteilungsentwurf vorbehaltlich folgender Klärungen:

bessere Prüfung der Asylanträge auf dem gesamten Hoheitsgebiet der EU-Mitgliedstaaten und keine Einreiseverweigerung bzw. Rückführung in die Herkunftsländer bzw. -regionen ohne Prüfung der Anträge und unter Missachtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung; dazu sind die Richtlinien über die Verfahren und Qualifikationen von den Mitgliedstaaten umzusetzen und rasch anzuwenden, wobei sie Normen anwenden können, die über die Mindestnormen hinausgehen;

Verbesserung der Voraussetzungen für die Anwesenheit nichtstaatlicher Organisationen oder Flüchtlingshilfsorganisationen in den Aufnahmezentren, indem Partnerschaftsabkommen mit den Behörden des Aufnahmelandes ausgehandelt oder zumindest die Rechte solcher Organisationen geklärt werden;

Überprüfung des Grundsatzes der Kriterien, aufgrund derer bestimmte Herkunfts- oder Transitländer als „sichere Drittstaaten“ bezeichnet werden, in denen die Asylsuchenden der Möglichkeit auf Überprüfung ihrer individuellen Situation und der daraus abgeleiteten Rechte verlustig gehen;

Klarstellung, dass der Status der Genfer Konvention vorrangig auf das Verfahren und den Anspruch auf subsidiären Schutz abstellt (6);

Klarstellung, dass den Teilnehmern des Neuansiedlungsprogramms die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und die Eigenschaft eines Flüchtlings oder einer den subsidiären Schutz genießenden Person im Sinne der Richtlinie über die Qualifikationen (die unter allen Umständen die Wahrung ihrer Grundrechte ermöglicht) zuerkannt wird und dass de facto keine Gruppe „unentschiedener Fälle“ gebildet wird, die in den Neuansiedlungsländern der Europäischen Gemeinschaft bzw. in Drittländern über keine genau festgelegten Rechte verfügt.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Siehe Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004.

(2)  Siehe Bericht des Europäischen Parlaments A5-0304/2001 (Berichterstatter: R.J.E EVANS) über die Mitteilung der Kommission „Für ein gemeinsames Asylverfahren und einen unionsweit geltenden einheitlichen Status für die Personen, denen Asyl gewährt wird“ (KOM(2000) 755 endg.) und Bericht A5-0291/2001 (Berichterstatter: R.G. WATSON) über den Vorschlag für eine Richtlinie über Mindestnormen für die Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie Bericht des Europäischen Parlaments A5-0144/2004 (Berichterstatter: Herr MARINHO) über die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Für leichter zugängliche, gerechtere und besser funktionierende Asylsysteme (KOM(2003) 315 endg.).

(3)  Siehe Stellungnahme des EWSA zu der Mitteilung der Kommission „Für ein gemeinsames Asylverfahren und einen unionsweit geltenden einheitlichen Status für die Personen, denen Asyl gewährt wird“ (KOM(2000) 755 endg.) im ABl. C 260 vom 17.9.2001 (Berichterstatter: Herr MENGOZZI und Herr PARIZA CASTAÑOS) und Stellungnahme des EWSA zu der Richtlinie über Mindestnormen für Verfahren zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft im ABl. C 193 vom 10.7.2001 (Berichterstatter: Herr MELICAS).

(4)  Insbesondere der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, der Europäische Flüchtlingsrat (ECRE) und Caritas Europa.

(5)  Richtlinie 2001/55/EG.

(6)  Siehe Mitteilung der Kommission KOM(2004) 503 endg. und die dazugehörige Stellungnahme des Ausschusses (SOC/185).


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/96


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Das einheitliche Asylverfahren als nächster Schritt zu einem effizienteren Gemeinsamen Europäischen Asylsystem“

(KOM(2004) 503 endg. — SEK(2004) 937)

(2005/C 157/17)

Die Europäische Kommission beschloss am 15. Oktober 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu der obenerwähnten Mitteillung zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. November 2004 an. Berichterstatterin war Frau LE NOUAIL-MARLIÈRE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 133 Stimmen bei 10 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsmitteilung

1.1

In der dem EWSA zur Konsultation vorgelegten Mitteilung wird eine Verbesserung und Beschleunigung der Verfahren zur Anerkennung des Status als Flüchtling oder als Person, die anderweitig internationalen Schutz benötigt, vorgeschlagen.

1.2

In diesem Dokument werden die Vorteile eines schnelleren und effizienteren einheitlichen Asylverfahrens sowie einer Vereinfachung der Verfahren für die Antragsteller untersucht, wobei die Bearbeitung der Anträge und eventuelle Rückführungen für die Öffentlichkeit besser nachvollziehbar gemacht werden sollen.

1.3

Die Kommission betont den Mehrwert dieser Maßnahmen, der sich aus der Verstärkung der Zusammenarbeit und einer gemeinsamen Vorgehensweise der Mitgliedstaaten ergibt. Dabei sind zwei aufeinander folgende Handlungsstränge, die sich wechselseitig bedingen, vorgesehen: die so genannte Vorbereitungsphase sowie die Verabschiedung von Rechtsvorschriften auf Gemeinschaftsebene.

1.4

Während der Vorbereitungsphase sind Konsultationen und Debatten in den Mitgliedstaaten über die notwendigen Maßnahmen zur Vereinheitlichung der Anerkennungsverfahren geplant, die zu den zwei Arten von Schutz gemäß der Anerkennungsrichtlinie (1) führen.

1.5

Diese Vorbereitungsphase soll im Januar 2005 parallel zur Anwendung der bereits verabschiedeten Rechtsvorschriften der ersten Stufe des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems anlaufen (2).

1.6

Die Kommission wird bis Ende 2004 ihren Aktionsplan „Zentrale Anlaufstelle“ vorlegen.

1.7

Die vorgeschlagene Vorbereitungsphase dient einem vierfachen Zweck:

Der Diskussion über die Maßnahmen, die die EU im Hinblick auf ein einheitliches Asylverfahren ergreifen muss, soll eine Richtung gegeben werden;

das Ausmaß der notwendigen Änderungen soll abgeschätzt werden;

diese Änderungen sollen noch vor der Verabschiedung der entsprechenden Rechtsvorschriften oder parallel dazu durch die Umsetzung praktischer Maßnahmen in die Wege geleitet werden;

ferner sollen im Laufe dieser Vorbereitungsphase Konsultationen stattfinden.

1.8

Im Zuge der zweiten Phase sollen auf Gemeinschaftsebene entsprechende Rechtsvorschriften zur Vereinheitlichung der Verfahren zur Prüfung von Anträgen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Konvention aus dem Jahre 1951 und des New Yorker Protokolls aus dem Jahre 1967 sowie zur Prüfung von Anträgen auf subsidiären Schutz im Sinne der Anerkennungsrichtlinie (3) verabschiedet werden.

1.9

In dem Kommissionsdokument wird auch der gesetzgeberische Ansatz eingehend beschrieben: die Ziele und der Zeitplan für die Umsetzung der Maßnahmen, deren Anwendungsbereich, die Rechtsmittel, die Einhaltung der Genfer Konvention, die Sicherstellung der Qualität der Entscheidungen, die Modalitäten der Rückführung sowie das Zusammenspiel mit anderen Instrumenten.

1.10

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das einheitliche Verfahren auf eine Prüfung von Anträgen auf Asyl oder anderweitigen internationalen Schutz im Rahmen eines einzigen Verfahrens abzielt — unabhängig davon, welcher Status einem Antragsteller zuerkannt werden könnte:

der Status als Flüchtling im Sinne der Genfer Konvention aus dem Jahre 1951 und des New Yorker Protokolls aus dem Jahre 1967 oder

der Status einer Person, die subsidiären Schutz im Sinne der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (4) benötigt.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Der Ausschuss befürwortet die Ziele, die sich die Kommission gesetzt hat, sowie deren Bestreben, im Rahmen eines einheitlichen Verfahrens die Grundsätze der Genfer Konvention aus dem Jahre 1951 zu wahren. Um dies zu ermöglichen, müsste gemäß den Bestimmungen der „Anerkennungsrichtlinie“ eine Prüfung der Rechte von Flüchtlingen zunächst auf der Grundlage der in der Genfer Konvention vorgesehenen Verfahren erfolgen; eine Prüfung des subsidiären Schutzes sollte erst dann erfolgen, wenn die notwendigen Voraussetzungen für eine Zuerkennung des Status eines Konventionsflüchtlings nicht erfüllt wurden.

2.2

Der Ausschuss empfiehlt eine ausdrückliche Klarstellung dieser Priorität, und zwar unabhängig davon, wie sich die Einführung und Umsetzung eines einheitlichen Verfahrens künftig gestalten sollte.

2.3

Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss, jedwede abschlägige Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz und insbesondere eine Ablehnung der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß der Genfer Konvention von 1951 auch dann zu begründen, wenn subsidiärer Schutz gewährt wurde. Der EWSA erachtet derartige Verfahrensgarantien für die Wahrung der Grundsätze der Genfer Konvention, deren Bedeutung auch die Kommission betont, für unerlässlich.

2.4

Was die Gewährung subsidiären Schutzes betrifft, so ist der Ausschuss ebenso wie die Kommission davon überzeugt, dass Asylbewerber nicht in der Lage sind, zwischen dem Status eines Konventionsflüchtlings und dem subsidiären Schutz zu unterscheiden, und dass sie daher in Ländern, in denen sie nach der Ablehnung ihres Antrags auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Konvention von 1951 einen neuen Antrag auf einer anderen Rechtsgrundlage stellen müssen, vermehrt mit Schwierigkeiten zu kämpfen hätten; sie würden mit Unverständnis oder Entmutigung reagieren und die Wartezeiten als unerträglich empfinden.

2.5

Der Ausschuss fordert die Kommission dazu auf, in ihrer Mitteilung und im Zuge der Vorbereitungsphase wie auch bei der Verabschiedung der entsprechenden Rechtsvorschriften den Grundsatz der Nichtzurückweisung (Artikel 33 der Genfer Konvention) sowie die Notwendigkeit der Schaffung eines Rechtsmittels mit aufschiebender Wirkung im Falle einer negativen Entscheidung zu berücksichtigen. Eine mögliche Ex-officio-Prüfung der Gründe für subsidiären Schutz durch die Behörden dürfte erst nach der Prüfung der Voraussetzungen für eine Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß der Genfer Konvention erfolgen und müsste dem Antragsteller die Möglichkeit einräumen, ein Rechtsmittel mit aufschiebender Wirkung gegen eine Abschiebung zu ergreifen, wie dies in der internationalen und europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist.

2.6

Um dies zu gewährleisten, dürften die NGO und der UNHCR nicht aus Berufungsgremien — soweit sie bestehen — ausgeschlossen werden; bei Nichtvorhandensein derartiger Gremien müssten sie freien Zugang zu den Antragstellern sowie deren Akten haben. So könnte der Zugang zu diesem Rechtsmittel erleichtert und die Nutzung des Berufungsrechts vor einer gerichtlichen Instanz sichergestellt werden.

2.7

Ferner fordert der Ausschuss die Kommission dazu auf, bei der Änderung der Richtlinie über ein „einheitliches Verfahren“, die der Rat am 19. November 2004 angenommen hat und die dem Europäischen Parlament erneut vorgelegt werden soll, deren Anwendungsbereich insbesondere auf den subsidiären Schutz im Sinne der „Anerkennungsrichtlinie“ auszudehnen sowie die Anerkennung jener Länder als sichere Herkunfts- oder Durchreisedrittstaaten, die Asylbewerbern weder das Recht auf Prüfung ihrer individuellen Situation noch die sich daraus ergebenden Rechte einräumen, nochmalig zu überprüfen.

2.8

Der Ausschuss empfiehlt, im Zuge der Vorbereitungsphase auf eventuelle Mängel und Probleme im Bereich der bestehenden Verfahren zur Statusbestimmung von Flüchtlingen einzugehen.

2.9

Bezüglich der bilateralen Rückübernahmeabkommen sollte der Rat im Zuge der Vorbereitungsphase die Möglichkeit vorsehen, ein harmonisiertes Solidaritätssystem (z.B. Neuansiedlungsprogramme und „Lastenteilung“) in allen Mitgliedstaaten einzurichten, um diesen die Einhaltung ihrer auf internationaler Ebene eingegangenen Verpflichtungen und der gemeinschaftlichen Richtlinien (5) zu ermöglichen.

2.10

Der Ausschuss fordert die Kommission des Weiteren dazu auf, das sogenannte beschleunigte Verfahren zu überprüfen, durch das die Asylbewerber um eine ausreichende Einzelfallprüfung und um die daraus entstehenden Rechte gebracht werden; insbesondere um die aufschiebende Wirkung eines Einspruchverfahrens, was dazu führt, dass die Asylbewerber in ihr Herkunftsland abgeschoben werden, bevor das Einspruchverfahren von einem zuständigen Gericht bearbeitet werden konnte.

2.11

Der Ausschuss fordert die Kommission dazu auf, bei den Möglichkeiten und Gründen für eine Abschiebung in das Herkunftsland zu berücksichtigen, dass eine Rückkehr unter Umständen aufgrund von Hindernissen, die nicht in Zusammenhang mit dem Flüchtlingsstatus stehen, oder aus humanitären Gründen (z.B. Erkrankung) nicht möglich ist.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Siehe Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung als Flüchtlinge sowie die diesbezügliche Stellungnahme des EWSA, ABl. C 221 vom 17.9.2002 (Berichterstatterin: Frau LE NOUAIL).

(2)  Siehe Entscheidung 2000/596/EG des Rates über die Errichtung eines Europäischen Flüchtlingsfonds sowie die diesbezügliche Stellungnahme des EWSA, ABl. C 168 vom 16.6.2000 (Berichterstatterin: Gräfin zu EULENBURG); Richtlinie 2001/55/EG des Rates über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen sowie die diesbezügliche Stellungnahme des EWSA, ABl. C 155 vom 29.5.2001 (Berichterstatterin: Frau CASSINA); Richtlinie des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die sich der Rat am 19. November 2004 geeinigt hat, sowie die diesbezügliche Stellungnahme des EWSA, ABl. C 193 vom 10.7.2001 (Berichterstatter: Herr MELICÍAS); Richtlinie 2003/9/EG des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten sowie die diesbezügliche Stellungnahme des EWSA, ABl. C 48 vom 21.2.2001 (Berichterstatter: Herr MENGOZZI und Herr PARIZA CASTAÑOS); Verordnung 343/2003 des Rates zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist (Dublin II), sowie die diesbezügliche Stellungnahme des EWSA, ABl. C 125 vom 27.5.2002 (Berichterstatter: Herr SHARMA); Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, sowie die diesbezügliche Stellungnahme des EWSA, ABl. C 221 vom 17.9.2002 (Berichterstatterin: Frau LE NOUAIL); Entscheidung des Rates über die Errichtung des Europäischen Flüchtlingsfonds für den Zeitraum 2005-2010, auf die sich der Rat am 8. Juni 2004 geeinigt hat, sowie die diesbezügliche Stellungnahme des EWSA, ABl. C 241 vom 28.9.2004.

(3)  Siehe Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen sowie die diesbezügliche Stellungnahme des EWSA, ABl. C 221 vom 17.9.2002 (Berichterstatterin: Frau LE NOUAIL).

(4)  Siehe Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen.

(5)  Siehe Ziffer 3.13.1 der Stellungnahme des EWSA zu der „Mitteilung der Kommission - Studie über die Zusammenhänge zwischen legaler und illegaler Migration“ (KOM(2004) 412 endg.) vom 15./16. Dezember 2004 (Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS).


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/99


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang zur Außenhilfe der Gemeinschaft“

(KOM(2004) 313 endg. — 2004/0099 (COD))

(2005/C 157/18)

Der Rat beschloss am 15. August 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 9. November 2004 an. Berichterstatter war Herr ZUFIAUR NARVAIZA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 145 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Das Streben nach mehr Effizienz bei der Entwicklungshilfe durch eine Verringerung der Transaktionskosten hat den Geberländern ständige Anpassungsbemühungen abverlangt, was sich auch in den Standpunkten des Entwicklungshilfeausschusses (DAC) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) widerspiegelt. Der DAC, in dem die Geberländer vertreten sind, ist bemüht, eine Harmonisierung der Politik dieser Länder zu erreichen.

1.2

Aufgrund der jahrzehntelangen Erfahrung besteht ein klarer Konsens darüber, dass die mittelbare oder unmittelbare Bindung der Entwicklungshilfe an den Kauf von Waren und Dienstleistungen in dem jeweiligen Geberland nicht nur mit den Zielen der Entwicklungsförderung unvereinbar ist, sondern auch die Wirksamkeit der Hilfe beeinträchtigt. Da der Kauf von Waren und Dienstleistungen bei öffentlichen bzw. privaten Unternehmen in dem jeweiligen Geberland erfolgen musste und somit von freiem Wettbewerb keine Rede sein konnte, wurden höhere Kosten verursacht, wodurch wiederum Korruption begünstigt wurde. Diese Praktiken führten zu einer Reihe von Wettbewerbsverzerrungen auf dem Binnenmarkt und zu Verletzungen der EU-Wettbewerbsbestimmungen, insbesondere in Bezug auf die Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung.

1.3

Daher stand diese Thematik in den letzten Jahren auf der Agenda der Geberländer, was schließlich im März 2001 in einer Empfehlung des OECD-Entwicklungshilfeausschusses (DAC) „hinsichtlich der Aufhebung der Lieferbindung bei der öffentlichen Entwicklungshilfe zugunsten der am wenigsten entwickelten Länder“ mündete, die nunmehr als Leitprinzip in diesem Bereich gilt. Grundgedanke dieser Entschließung des DAC ist eine Verringerung der Transaktionskosten um 15 bis 30 %. Laut Daten der Weltbank könnten die Transaktionskosten durch die vollständige Aufhebung der Lieferbindung um 25 % verringert werden.

1.4

Auf Gemeinschaftsebene wurde dieser Ansatz im März 2002 auf der parallel zum Treffen des Europäischen Rates in Barcelona abgehaltenen Tagung des Rates Allgemeine Angelegenheiten zur Vorbereitung der Internationalen Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung von Monterrey in konkrete Form gegossen. Der Rat hielt in seinen Schlussfolgerungen Folgendes fest: Die Europäische Union „wird die Empfehlungen des Ausschusses für Entwicklungshilfe, für die am wenigsten entwickelten Länder ungebundene Hilfe bereitzustellen, umsetzen und die Beratungen über weitere bilaterale ungebundene Hilfe fortsetzen. Ferner wird die EU Schritte hin zu weiterer ungebundener Hilfe der Gemeinschaft erwägen, während zugleich das bestehende System der Preispräferenzen im EU-AKP-Rahmen beibehalten wird“. Der Rat und in der Folge auch das Europäische Parlament (Entschließung zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat mit dem Titel „Aufhebung der Lieferbindungen: für eine wirksamere Hilfe“ (KOM(2002) 639 endg. — 2002/2284 (INI), A5-0190/2003)) befürworten die Aufhebung der Lieferbindung auf der Grundlage dreier Voraussetzungen, die zu erfüllen sind: regionale und interregionale Integration, Aufbau von Institutionen und Kapazitäten in den Empfängerländern und Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen zwischen Geber- und Empfängerländern. Hinzu kommen noch der Grundsatz der Gegenseitigkeit und der Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen.

1.5

Dieser Standpunkt wurde in späteren Mitteilungen der Gemeinschaftsorgane weiter ausgebaut, die in dem Verordnungsvorschlag aufgelistet sind. Die Zugangsbedingungen und die verschiedenen Instrumente der Außenhilfe der Gemeinschaft waren jedoch noch nicht hinreichend festgelegt und konkretisiert. Der nun vorgelegte Vorschlag schafft hier Abhilfe.

1.6

Da der rechtliche Charakter der aus dem Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) und der aus dem EG-Haushalt finanzierten Programme weiterhin unterschiedlich ist, erscheint es logisch, einen doppelten Ansatz zu wählen. In der vor kurzem veröffentlichten Mitteilung der Kommission „Unsere gemeinsame Zukunft aufbauen — Politische Herausforderungen und Haushaltsmittel der erweiterten Union 2007-2013“  (1) wird der Rahmen für den vorliegenden Verordnungsvorschlag festgelegt. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass dieser Prozess der Eingliederung des EEF in den EU-Haushaltsplan in Zukunft von Bedeutung sein wird, wenn dieser Teil des Gemeinschaftshaushalts sein wird. Der vorliegende Verordnungsvorschlag deckt jedoch nur die im Gemeinschaftshaushalt erfassten Instrumente ab. Sobald der EEF in den Haushaltsplan überführt ist, so wird auch er den Bestimmungen des zu untersuchenden Verordnungsvorschlags unterliegen (2).

1.7

Der Vorschlag für eine Verordnung über den Zugang zur Außenhilfe der Gemeinschaft und seine Begründung scheinen daher sowohl im Hinblick auf die obenstehend erwähnten Motive für die zwischen den Gemeinschaftsinstitutionen gefundenen Kompromisse als auch im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auf die in der Begründung zu diesem Vorschlag hingewiesen wird, zweckdienlich zu sein.

2.   Bemerkungen zu den einzelnen Artikeln

Artikel 1 — Anwendungsbereich

2.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stimmt dem vorgeschlagenen Wortlaut zu und hält den Anwendungsbereich der Verordnung für angemessen, da klargestellt wird, dass einige Instrumente wie die Budgethilfe ausgeschlossen werden. Die in Anhang I enthaltene Liste ist ebenfalls angemessen.

Artikel 2 — Definition

2.2

Der Ausschuss stimmt dem in dieser Verordnung festgehaltenen Standpunkt zu, dass die Verordnung auf der Grundlage der in der Haushaltsordnung und in den sonstigen Instrumenten für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften festgelegten Begriffsbestimmungen auszulegen ist.

Artikel 3 — Teilnahmevoraussetzungen

2.3

Die Festlegung spezifischer Kategorien gemäß den verschiedenen Instrumenten scheint zweckmäßig. Die Spezifizierung der Instrumente mit geografischer Ausrichtung scheint ebenfalls sinnvoll, um den Aufbau regionaler Kapazitäten und die regionale Integration zu stärken. Angesichts der jahrzehntelangen Tradition im Bereich der liefergebundenen Gemeinschaftshilfe und der daraus entstandenen „Trägheit“ unterstreicht der Ausschuss die Notwendigkeit, die Teilnahme natürlicher und juristischer Personen der in den Listen des OECD-Entwicklungsausschusses aufgeführten Entwicklungs- und Transformationsländer zu fördern. Die Anwendung des Grundsatzes der Aufhebung der Lieferbindung und die Öffnung des öffentlichen Auftragswesens muss für die Länder, denen Gemeinschaftshilfe gewährt wird, Vorteile mit sich bringen.

Artikel 4 — Ursprungsregeln

2.4

Im Einklang mit dem vorherigen Artikel stimmt der Ausschuss jeder Klarstellung in Bezug auf die Waren und Materialien sowie die Ursprungsregeln zu. Er weist jedoch darauf hin, dass die international anerkannten Normen und Vorschriften in den Bereichen Arbeits-, Umwelt- und Menschenrechte unbedingt einzuhalten sind, wie er dies bereits bei früherer Gelegenheit bekräftigt hat (3). Die Aufhebung der Lieferbindung für die Gemeinschaftshilfe und die Marktöffnung muss mit der Wahrung hoher Sozial- und Umweltschutzstandards vereinbar sein.

Artikel 5 — Anwendung des Gegenseitigkeitsgrundsatzes gegenüber Drittländern

2.5

Der Ausschuss befürwortet nachdrücklich die in diesem Artikel festgehaltene Forderung, nicht nur der formellen, sondern auch der realen Gegenseitigkeit Rechnung zu tragen. Frühere Erfahrungen in diesem Bereich legen dieses grundlegende umsichtige Vorgehen und die Gewährung der Gegenseitigkeit gemäß den Grundsätzen der Transparenz, Kohärenz und Verhältnismäßigkeit nahe. Dies wird jedoch durch die Formulierung „im größtmöglichen Umfang“ hinsichtlich der Empfängerländer in Absatz 5 dieses Artikels unterminiert. Der Ausschuss schlägt vor, einen Verweis auf das Partnerschaftsprinzip aufzunehmen, einem der Grundpfeiler der Entwicklungspolitik der EU und des OECD-Entwicklungsausschusses, um die Bedeutung der Einbindung der Empfängerländer hervorzuheben.

Artikel 6 — Ausnahmen von den Teilnahmevoraussetzungen und Ursprungsregeln

2.6

Der Ausschuss erachtet Ausnahmen in dieser Art von Verordnung im Sinne der erforderlichen Flexibilität bei ihrer Anwendung für zweckdienlich. Die in der Verordnung aufgeführten Gründe Dringlichkeit und Nichtverfügbarkeit der Waren und Dienstleistungen auf den Märkten rechtfertigen diese Ausnahmen in gebührend begründeten Fällen.

Artikel 7 — Maßnahmen unter Beteiligung von internationalen Organisationen oder Drittländern

2.7

Da ein Großteil der Gemeinschaftshilfe über multilaterale oder andere Mechanismen verteilt wird und viele Tätigkeiten kofinanziert werden, ist nach Meinung des Ausschusses ein Verweis dieser Art erforderlich. Es gilt, insbesondere in diesen Fällen die Wahrung der Gleichbehandlung aller Geber und die Gegenseitigkeit sicherzustellen.

Artikel 8 — Humanitäre Hilfe

2.8

Aufgrund der Besonderheit der humanitären Hilfe, die auf internationaler Ebene immer mehr an Bedeutung gewinnt, wurden bereits in der Verordnung 1257/96 einige Ausnahmen in Bezug auf die übrigen Gemeinschaftsvorschriften festgehalten. Auch der neue vom Amt für humanitäre Hilfe (ECHO) mit den Empfängerorganisationen geschlossene Partnerschaftsrahmenvertrag folgt diesem Ansatz. Dies scheint auch im Sinne einer schnellen und effizienten Reaktion in Krisensituationen zweckdienlich. Die vorliegende Verordnung sollte auch für den Fall, dass eine Auftragsvergabe mit öffentlicher Ausschreibung erforderlich ist, zur Anwendung kommen.

Artikel 9 — Krisenreaktionsmechanismus

2.9

Wie bereits in Bezug auf den vorherigen Artikel festgehalten ist es sinnvoll, dass im Rahmen derartiger Mechanismen besondere Verfahren und Kriterien bestehen. Mit diesem Artikel wird Artikel 6 Absatz 4 Buchstabe b) der Verordnung des Rates (EG) Nr. 381/2001 geändert.

Artikel 10 — Anwendung der Verordnung

2.10

Im Einklang mit ihrer Zielsetzung werden mit dieser Verordnung bestimmte Teile früherer einschlägiger Verordnungen, die in Anhang I aufgeführt sind, geändert. Die Vielzahl der in den 90er Jahren erlassenen Verordnungen und die Mannigfaltigkeit der mit ihnen geschaffenen Instrumente machen diese Spezifizierung für jedes einzelne Instrument erforderlich. Dessen ungeachtet scheint die Formulierung „ab und zu“ wenig zutreffend.

Artikel 11 — Inkrafttreten

2.11

Der Ausschuss hat keinerlei Bemerkungen zu diesem Artikel zu machen.

3.   Allgemeine Bewertung

3.1

Der vorliegende Vorschlag für eine Verordnung über den Zugang zur Außenhilfe der Gemeinschaft folgt der bestehenden Doktrin der Geberorganisationen und den bekannten Standpunkten der Gemeinschaftsinstitutionen und Mitgliedstaaten. Dies ist nach Ansicht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses jedoch weder unangemessen, noch hat es negative Auswirkungen auf die Entwicklungszusammenarbeit oder das auswärtige Handeln der Europäischen Union. Der Ausschuss vertritt ganz im Gegenteil die Auffassung, dass die Effizienz der Zusammenarbeit der Gemeinschaft und ihre so genannten „drei K“, namentlich Kohärenz, Komplementarität und Koordinierung, auf diese Weise gestärkt werden kann.

3.2

Der Ausschuss möchte jedoch einige grundlegende Überlegungen hervorheben und Vorschläge zu bestimmten Aspekten unterbreiten, die in dieser Verordnung entschlossener und genauer dargelegt werden sollten.

3.3

So sollte verstärkt auf die aktive Rolle hingewiesen werden, die die Empfängerländer als wesentliche Akteure ihrer eigenen Entwicklung spielen müssen. Durch die Aufhebung der Lieferbindung dürfen ihnen keine Nachteile entstehen. Es muss auf alle Fälle eine bessere Einbindung dieser Länder in die Wege geleitet werden, wie dies bereits in den oben genannten internationalen Dokumenten und in den Stellungnahmen der Gemeinschaftsinstitutionen gefordert wurde. Unbeschadet der vorherigen Aussagen müssen die Empfängerländer jedoch dazu angehalten werden, die Grundsätze der Transparenz, der Gleichstellung, der gegenseitigen Anerkennung und der Verhältnismäßigkeit bei der öffentlichen Auftragsvergabe sowie die Grundsätze des verantwortungsvollen Regierens zu wahren und anzuwenden, die ihre Weiterentwicklung sowohl in politischer wie auch wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht ermöglichen.

3.4

Um die Anwendung dieser Verordnung noch effizienter und wirksamer zu gestalten, muss der Prozess der Gewährung der Gemeinschaftshilfen in Bezug auf die Kosten für die Bereitstellung, die realen Transportkosten und die Bereitstellung der Ressourcen einer eingehenden Analyse unterzogen werden, um die Systemengpässe und -schwachstellen noch genauer herauszuarbeiten. Wenngleich Geist und Bestimmungen dieser Verordnung auf Vereinfachungen und Verbesserungen abstellen, sieht der Ausschuss dennoch mit Sorge, dass neue starre Vorschriften festgelegt werden könnten, die zu einem höheren bürokratischen Aufwand führen und eine schnelle Bereitstellung der Gemeinschaftshilfe beeinträchtigen könnten.

3.5

Die Wahrung der internationalen Sozial- und Umweltschutznormen muss sich als roter Faden durch die Verordnung ziehen. Ferner darf keine Bestimmung in der Verordnung Praktiken des „Arbeits-, Sozial- und Umweltdumpings“ fördern. Die Berücksichtigung der aktiven Rolle der Partner in den Empfängerländern der Gemeinschaftshilfe und die Förderung des Partnerschaftskonzepts dürfen keinesfalls die Einhaltung anderer Arbeits-, Umwelt- und Sozialvorschriften beeinträchtigen. In Artikel 4 des Verordnungsvorschlags sollte ausdrücklich auf diesen Aspekt hingewiesen werden.

3.6

Die übergroße Bedeutung der Lieferbindung für die Gemeinschaftshilfe wird einhellig als einer der Nachteile des vorherrschenden Modells der Entwicklungszusammenarbeit angesehen, in dem den Waren und Dienstleistungen der „Geber“ der Vorrang eingeräumt wird, wodurch seine Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit beeinträchtigt wurde. Die Aufhebung der Lieferbindung stellt jedoch nicht das Ende dieses Modells dar, sondern vielmehr, dass es als Instrument, als Mittel verstanden werden muss, um größere Wirkung zu geringeren Kosten zu erzielen. In diesem Sinne ist eine stärkere Beteiligung der Empfängerländer der Schlüssel, damit diese ihre eigene Entwicklung wieder in die eigenen Hände nehmen und die Teilnahme der verschiedensten Organisationen im Sozialbereich und der Verbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer an diesem Prozess fördern.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  KOM(2004) 101 endg. vom 10.2.2004.

(2)  Derzeit scheint es schwierig, ein genaues Datum für den Abschluss dieses Verfahrens, mit dem der EEF in den Gemeinschaftshaushalt aufgenommen wird, festzulegen.

(3)  Siehe die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Menschenrechte am Arbeitsplatz“, Berichterstatter: die Herren Putzhammer und Gafo Fernández, ABl. C 260 vom 17.9.2001, S. 79-85; sowie die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Allgemeines Präferenzsystem (APS)“, Berichterstatter: Herr Pezzini, ABl. C 112 vom 30.4.2004.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/102


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Vervollständigung des Modells einer nachhaltigen Landwirtschaft für Europa durch die Reform der GAP — Reformvorschläge für den Zuckersektor“

(KOM(2004) 499 endg.)

(2005/C 157/19)

Die Kommission beschloss am 15. Juli 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu der obenerwähnten Mitteilung zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 16. November 2004 an. Berichterstatter war Herr BASTIAN, Mitberichterstatter war Herr STRASSER.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember 2004) mit 137 gegen 21 Stimmen bei 11 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

21 Staaten der Europäischen Union produzieren Rübenzucker. In den französischen überseeischen Departements und in geringerem Maße auch in Spanien wird Rohrzucker (280.000 Tonnen) erzeugt. Insgesamt schwankt die europäische Zuckerproduktion je nach Jahr zwischen 17 und 20 Millionen Tonnen bei einem auf 16 Millionen Tonnen geschätzten Zuckerverbrauch der EU.

1.2

Die zur Fruchtfolge gehörenden Zuckerrüben werden von 350 000 Landwirten auf 2,2 Millionen Hektar (im Durchschnitt etwas mehr als 6 Hektar Zuckerrüben pro Zuckerrübenanbauer) angebaut. Die Zuckerrüben werden in etwa 200 Zuckerfabriken, die direkt etwa 60 000 Arbeitnehmer beschäftigen, verarbeitet.

1.3

Außerdem stellt die Europäische Union 500 000 Tonnen Isoglucose und 250 000 Tonnen Inulinsirup her und raffiniert Rohrohrzucker (der zum Großteil — 1,5 Millionen Tonnen — aus AKP-Staaten (1) importiert wird).

1.4

Die mit der Verordnung Nr. 1785/81 eingeführte Quotenregelung für den Sektor Zucker, Isoglucose und Inulinsirup wurde mehrmals verlängert, zuletzt im Jahr 2001. Sie gilt für 5 Wirtschaftsjahre (2001/2002 bis 2005/2006). Diese Verordnung (1260/2001) umfasst im Vergleich zur vorherigen einige wichtige Änderungen, wie die Preisfestsetzung bis zum 30. Juni 2006, die Abschaffung der Lagerhaltung, die Abschaffung der Erstattung der Kosten für die Lagerung von übertragenem Zucker, eine Kürzung der Quoten um 115 000 t sowie die Bestimmung, dass die Zuckerrübenerzeuger und Zuckerhersteller die gesamte Erstattung für die Herstellung von für die Chemieindustrie bestimmtem Zucker übernehmen.

1.5

Am 14. Juli 2004 legte die Kommission zur Vervollständigung ihres Modells einer nachhaltigen Landwirtschaft für Europa eine Mitteilung über die Reform des Zuckersektors vor [KOM(2004) 499 endg.].

1.6

Die Kommission schlägt in diesem Dokument vor, ab dem 1. Juli 2005 die Zuckerregelung, die Preise und die Quoten zu ändern, und beabsichtigt, im Jahr 2008 gegebenenfalls neue Vorschläge für den Quotenumfang und das Preisniveau zu unterbreiten. Somit will die Kommission auch die Marktordnung für Zucker entsprechend der GAP-Reform gestalten, den europäischen Zuckermarkt weniger attraktiv für Einfuhren machen, die Ausfuhr von Quotenzucker mit Erstattung erheblich reduzieren und die Erstattungen für die Erzeugung von Zucker, der an die chemische Industrie verkauft wird, abschaffen.

1.7

Die Kommission schlägt vor, die A- und die B-Quote zu einer einzigen Quote zusammenzulegen und die Zuckerquote um 1,3 Mio. Tonnen und anschließend um 500 000weitere Tonnen jährlich über drei Wirtschaftsjahre hinweg zu kürzen (insgesamt eine Kürzung um 2,8 Mio. Tonnen bzw. um 16 %).

1.8

Parallel zu dieser Kürzung der Zuckerquoten schlägt die Kommission vor, die Isoglucosequoten über 3 Jahre hinweg um 100 000 Tonnen jährlich (d.h. um 60 %) anzuheben und die Inulinsirupquoten unverändert zu lassen.

1.9

Um die ihres Erachtens notwendige Umstrukturierung des Zuckersektors zu gewährleisten, schlägt die Kommission vor, die Quoten auf europäischer Ebene beliebig übertragbar zu machen. Ferner sieht sie die Möglichkeit vor, für Zuckerhersteller, denen die Veräußerung ihrer Zuckerquoten nicht gelingt und die die Zuckerherstellung einstellen würden, gemeinsam mit den Mitgliedstaaten für einen Beihilfebetrag von 250 €/t aufzukommen. Ziel dieser Beihilfe wäre es, den Zuckerherstellern die Einhaltung ihrer sozialen Verpflichtungen und ihrer Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Wiederherstellung eines guten ökologischen Zustands des Fabrikgeländes zu erleichtern.

1.10

Die Kommission schlägt vor, mit der privaten Lagerhaltung (2) und der obligatorischen Übertragung des Quotenzuckers die Interventionsregelung und den Herabstufungsmechanismus zu ersetzen, die dazu dienen, durch das Marktgleichgewicht die Preise zu sichern und den WTO-Verpflichtungen nachzukommen.

1.11

In Bezug auf die Preise schlägt die Kommission vor, den Interventionspreis für Zucker durch einen Referenzpreis zu ersetzen, der herangezogen wird, um den Mindestpreis für Einfuhren aus den AKP-Staaten und den am wenigsten entwickelten Ländern sowie den Schwellenwert für die Auslösung von Maßnahmen zur privaten Lagerhaltung und die Übertragung der Überschüsse auf das Folgejahr zu ermitteln. Die institutionellen Preise würden in zwei Schritten gesenkt werden. Zu diesem Zweck schlägt die Kommission einen Referenzpreis in Höhe von 506 € pro Tonne Weißzucker für 2005/2006 und 2006/2007 sowie in Höhe von 421 €/t für 2007/2008 vor — im Vergleich zum derzeitigen Interventionspreis von 631,9 €/t und einem gewogenen Marktpreis A+B, der ihrer Schätzung nach bei 655 €/t liegt.

1.11.1

Parallel dazu würde der gewogene Mindestpreis für Zuckerrüben der Quote A+B von derzeit 43,6 €/t auf 32,8 €/t in den Jahren 2005/2006 und 2006/2007 (-25 %) und auf 27,4 €/t in den Jahren 2007/2008 (-37 %) gesenkt. Der Zuckerrübengrundpreis beläuft sich derzeit auf 47,67 €/t. Der Ausschuss geht davon aus, dass die Preissenkung in einigen Mitgliedstaaten im Vergleich zu anderen auf Grund der unterschiedlichen Anteile der Quoten A und B höher ist.

1.11.2

Nach Auffassung der Kommission sollten die Einkommenseinbußen, die sich aus der Senkung des gewogenen Preises für Quotenzuckerrüben ergeben, (entsprechend den Regelungen der GAP-Reform von 2003) bis zu 60 % durch eine von der Produktion entkoppelte direkte Einkommensbeihilfe kompensiert werden.

1.11.3

Die durch die entkoppelten direkten Einkommensbeihilfen entstehende Haushaltsbelastung wird in den Jahren 2005/2006 und 2006/2007 laut Kommission schätzungsweise 895 Mio. € und ab 2007/2008 1,340 Mrd. € jährlich betragen.

1.12

Die Kommission schlägt vor, das System der Produktionserstattung für die Chemie- und Pharmaindustrie (3) abzuschaffen und diesen Industriezweigen die Versorgung mit C-Zucker zu ermöglichen — ähnlich wie im Fall der Spirituosen- und Bierbranche.

1.13

In Bezug auf die Beziehungen zu den Lieferanten von Präferenzzucker in den AKP-Staaten schlägt die Kommission die Beibehaltung des AKP-Zuckerprotokolls mit Einfuhrquoten vor, wobei jedoch der Garantiepreis parallel zum Zuckerrübenpreis gesenkt wird. Um den AKP-Staaten die Anpassung an die neuen Bedingungen zu erleichtern, schlägt die Kommission vor, auf der Grundlage eines bis Ende 2004 vorzulegenden Aktionsplans einen gemeinsamen Dialog aufzunehmen.

1.13.1

Sie schlägt vor, die Raffinationsbeihilfen für AKP-Staaten und die überseeischen Gebiete sowie das Instrument des Höchstversorgungsbedarfs langfristig abzuschaffen.

1.14

In Bezug auf die am wenigsten entwickelten Länder macht die Kommission keinerlei Vorschläge hinsichtlich der quantitativen Einfuhrregelung. Sie spricht sich dafür aus, dass der Preis für den aus diesen Ländern eingeführten Zucker nicht unter dem AKP-Mindestpreis liegen darf. In Bezug auf die Balkanstaaten sieht die Kommission die Aushandlung einer Einfuhrquote vor. Ab 2009 wird im Rahmen der Initiative „Alles außer Waffen“ Zucker aus 49 am wenigsten entwickelten Ländern zoll- und quotenfrei auf den europäischen Markt gelangen können.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (der Ausschuss) nimmt zur Kenntnis, dass aufgrund

der aus dem Jahre 2001 stammenden und an die am wenigsten entwickelten Länder gerichteten Initiative „Alles außer Waffen“, deren Auswirkungen auf den Zuckermarkt die Kommission damals nicht angemessen eingeschätzt hat,

des allgemeinen Trends, die europäischen Agrarmärkte aufgrund der WTO-Verhandlungen zunehmend zu öffnen,

der Risiken, die durch das WTO-Panel für Zucker und die Handelsverhandlungen im Rahmen der Doha-Runde auf den europäischen Zuckerausfuhren lasten, und

der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik

die Gemeinsame Marktorganisation (GMO) für Zucker nun geändert und angepasst werden muss. Folglich geht es nicht darum zu prüfen, ob eine Reform erforderlich ist, sondern zu ermitteln, welche Reform in welchem Umfang und wann erforderlich ist.

2.2

Die Kommission spricht sich für eine radikale Änderung der Zuckerregelung aus und rechtfertigt ihren Standpunkt, indem sie betont, dass sich„die Marktorganisation […] in ihrer derzeitigen Form […] oftmals heftiger Kritik ausgesetzt [sieht], wobei ihr ein mangelnder Wettbewerb, Marktverzerrungen, hohe Preise für Verbraucher und industrielle Verwender sowie ihre Auswirkungen auf den Weltmarkt und hier insbesondere auf die Entwicklungsländer vorgeworfen werden.“Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss bedauert, dass sich die Kommission auf allgemein gehaltene Kritik dieser Art stützt, ohne zu versuchen, sie anhand ernsthafter Studien auf ihre Stichhaltigkeit hin zu prüfen. Der Ausschuss verweist in diesem Zusammenhang auf seine Stellungnahme vom 30. November 2000 (4).

2.3

Der Ausschuss stellt fest, dass der Kommissionsvorschlag den internationalen Fristen weit vorgreift und das WTO-Verhandlungsmandat untergräbt. Dies ist unbesonnen und schadet der Verteidigung der legitimen Interessen der Zuckerwirtschaft in der Europäischen Union und ihren Zulieferern mit Präferenzregelung. Durch diesen Vorgriff kann die Kommission auch nicht die Frage des außerhalb der Quoten erzeugten Zuckers behandeln.

2.4

Der Ausschuss zeigt sich besorgt über die Auswirkungen der vorgeschlagenen Preis- und Quotensenkungen auf das Volumen der Zuckerrüben- und Zuckerproduktion der Europäischen Union, auf die Einkommen zahlreicher landwirtschaftlicher Familienbetriebe, auf die Nachhaltigkeit der industriellen und kommerziellen Aktivitäten des Zuckersektors, auf die Beschäftigung in der Zuckerindustrie und im ländlichen Raum und auf die Multifunktionalität, insbesondere in den benachteiligten Regionen bzw. den Regionen in Randlage sowie in den neuen Mitgliedstaaten, in denen umfangreiche Umstrukturierungsinvestitionen erforderlich sind. Er bezweifelt, dass die Reformvorschläge der Kommission dem europäischen Agrarmodell, der Multifunktionalität und dem Grundsatz der Nachhaltigkeit Rechnung tragen, so wie dies der Europäische Rat auf seiner Tagung in Luxemburg im Dezember 1997 (5) einstimmig festgelegt hat. Zudem stehen die Reformvorschläge seiner Ansicht nach im Widerspruch zur Lissabon-Strategie, die u.a. ausdrücklich auf die Schaffung von Arbeitsplätzen abzielt.

2.5

Der Ausschuss ruft die Kommission auf, gründlich und nachvollziehbar zu prüfen, in welchen Regionen die Zuckerrübenerzeugung und die Zuckerindustrie beeinträchtigt und wie viele direkte und indirekte Arbeitsplätze in Landwirtschaft und Industrie insgesamt gefährdet sein werden. Die von der Kommission im vergangenen Jahr vorgelegte Folgenabschätzung liefert nicht die erforderlichen Informationen.

2.6

Der Ausschuss glaubt nicht, dass das Ziel der von der Kommission gewählten Reformoption, nämlich durch die Senkung der Preise das Marktgleichgewicht wiederherzustellen, erreicht werden kann. Darüber hinaus wird mit dieser Option die langfristige Erhaltung eines soliden europäischen Zuckerrübenanbaus und einer soliden europäischen Zuckerindustrie nicht gewährleistet, und die europäischen Verpflichtungen gegenüber den Entwicklungsländern, die Lieferanten von Präferenzzucker sind, werden nicht eingehalten. In der Tat werden die Senkungen zahlreiche Erzeuger in den europäischen und den Entwicklungsländern vom Markt drängen und diejenigen, die überleben, beträchtlich schwächen. Gleichzeitig werden sich für Brasilien neue Teile des Weltmarkts öffnen. Dieses Land wird ab 2008/2009 im Zuge des so genannten SWAP (Dreieckshandel) mit den am wenigsten entwickelten Ländern (6) — die daraus keinerlei Nutzen für ihre landwirtschaftliche und soziale Entwicklung schlagen werden — indirekt ebenfalls eine stetig wachsende Zuckermenge nach Europa exportieren können.

2.7

Nach Auffassung des Ausschusses werden nur einige Länder, darunter insbesondere Brasilien, von einer derartigen Reform der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker profitieren. In diesem Zusammenhang unterstreicht er, dass die Zuckerherstellung in Brasilien weitgehend von der Politik zur Förderung von Bioethanol und der Geldpolitik gestützt und unter sozialen, ökologischen und bodenrechtlichen Bedingungen vollzogen wird, die inakzeptabel sind und die Erklärung für die äußerst niedrigen Produktionskosten in Brasilien und folglich die niedrigen Preise auf dem Weltmarkt liefern.

2.8

Der Ausschuss kann folglich nicht nachvollziehen, warum die Kommission den Gedanken verworfen hat, mit den am wenigsten entwickelten Ländern Quoten für die präferenzielle Einfuhr auszuhandeln — wie diese es im Übrigen gefordert hatten. Dies würde es ermöglichen, den Interessen der ärmsten Entwicklungsländer zielgerichteter zu entsprechen und eine ausgewogenere Marktversorgung sowie ein vertretbares Preisniveau in Europa zu erreichen. Der Ausschuss macht auf den grundlegenden Widerspruch aufmerksam, dass die Kommission einerseits die radikale Reform der GMO für Zucker mit der Initiative „Alles außer Waffen“ rechtfertigt, sich andererseits jedoch weigert, dem von den am wenigsten entwickelten Ländern ausdrücklich geäußerten Wunsch nach einem Präferenzsystem mit Quoten Folge zu leisten. Der Ausschuss hält es für dringend erforderlich, Einfuhrquoten für die Balkanstaaten festzulegen.

2.9

Nach Auffassung des Ausschusses gehen die vorgeschlagenen Preis- und Quotensenkungen weit über das WTO-Mandat hinaus und sind ein wichtiger Schritt in Richtung einer vollständigen Zuckermarktliberalisierung. Entgegen dem Eindruck, den die Kommission zu vermitteln versucht, kann damit weder den Zuckerrübenerzeugern noch den Beschäftigten des Zuckersektors und den Verbrauchern in Europa eine langfristige Perspektive geboten werden.

2.10

Der Meinung der Kommission, dass die deutliche Verringerung der Zuckerpreise vor allem den Verbrauchern zugute kommen dürfte (7), kann sich der Ausschuss nicht anschließen. Wie bei den vorherigen Reformen wird diese Verringerung der Rohstoffpreissenkungen kaum bzw. überhaupt nicht weitergegeben. Dies gilt insbesondere für Verarbeitungserzeugnisse wie Limonaden und Erzeugnisse mit Zuckerzusatz (in Europa werden 75 % des Zuckers in Form von Verarbeitungserzeugnissen konsumiert). Nach Meinung des Ausschusses sollte die Kommission die Auswirkungen der Reform auf die Preise für zuckerhaltige Erzeugnisse sorgfältig überwachen.

2.11

Der Ausschuss teilt die Besorgnis der AKP-Staaten über die negativen Auswirkungen der Reformvorschläge auf das Einkommen und die Beschäftigung in den unmittelbar betroffenen Wirtschaftszweigen sowie auf das soziale Gleichgewicht und die Entwicklungsperspektiven in diesen Ländern.

2.12

Der Ausschuss weiß sehr wohl um die Risiken, die auf den europäischen Zuckerausfuhren lasten. Deshalb kann er nicht nachvollziehen, dass die für 2005 bis 2009 von der Kommission geplanten Quotensenkungen zu einer das erforderliche Maß überschreitenden Senkung der erstattungsbegünstigten Ausfuhren führen — sollte die Europäische Union in dem WTO-Panel Brasilien, Australien und Thailand unterliegen. Ganz im Gegenteil vertritt er die Auffassung, dass sich die Europäische Union mit einer geeigneten Regelung darum bemühen sollte, alle von ihr beanspruchten und ihr durch die internationalen Vereinbarungen zuerkannten Ausfuhrmöglichkeiten beizubehalten, und dass sie folglich eine geringere Quotensenkung vorschlagen sollte.

2.13

Darüber hinaus obliegt es seiner Ansicht nach der Kommission, als Ausgleich für ihre Aus- und Einfuhrinitiativen, die eine Beschränkung der Absatzmärkte für die europäischen Erzeuger nach sich ziehen, Maßnahmen zur Entwicklung alternativer Absatzmärkte, insbesondere im Biokraftstoffsektor, vorzuschlagen.

2.14

Insgesamt meint der Ausschuss, dass die Kommission die Auswirkungen ihres Vorschlags nicht angemessen abgeschätzt hat. Der Vorschlag führt dazu, dass Ressourcen des ländlichen Raums (Landwirtschaft und Erstverarbeitung) in Europa und in den Entwicklungsländern in großem Umfang auf große internationale Unternehmen der Lebensmittelbranche und des Vertriebs übergehen, und dass gleichzeitig ein beträchtlicher Teil der Zuckerindustrie in Europa und den AKP-Staaten abgebaut wird — und zwar nahezu ausschließlich zugunsten der Großgrundbesitzer, die die brasilianische Zuckererzeugung beherrschen und meist weder die grundlegenden Rechte am Arbeitsplatz (Erklärung der Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation von 1998 (8)) noch die Nachhaltigkeit (Rodung des Amazonas-Regenwaldes) berücksichtigen. Nach Ansicht des Ausschusses sollte der Zugang zum Gemeinschaftsmarkt an die Einhaltung bestimmter sozialer und ökologischer Normen gebunden sein.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss betont, dass die vom Rat einstimmig verabschiedete Verordnung 1260/2001 bis zum 1. Juli 2006 gültig ist und als Grundlage für die Verhandlungen mit den 10 neuen Mitgliedstaaten diente. Deshalb versteht er nicht, warum die Kommission vorschlägt, die Reform auf den 1. Juli 2005 vorzuverlegen, obwohl dies nicht notwendig ist. Darüber hinaus haben die Landwirte ihre Fruchtfolge für 2005/2006 bereits festgelegt und führen derzeit in einigen europäischen Ländern die Herbstaussaat von Zuckerrüben durch. Hinzu kommt, dass seit 2001 auf der Grundlage der Verordnung 1260/2001 zahlreiche Investitionen im Agrar- und Industriebereich getätigt wurden, bei denen von der Einhaltung der Gültigkeitsdauer der Verordnung ausgegangen wurde.

3.2

Deshalb fordert der Ausschuss, dass die neue Zuckerregelung frühestens am 1. Juli 2006 in Kraft tritt. Eine andere Vorgehensweise würde von den betroffenen Berufsgruppen und den neuen Mitgliedstaaten berechtigterweise als ein Missbrauch des Grundsatzes des Vertrauensschutzes aufgefasst.

3.3

Der Ausschuss stellt fest, dass der Kommissionsvorschlag offen lässt, wie die GMO nach 2008 fortgeführt werden soll. Dabei ist für die Zucker- und Zuckerrübenbranche Vorhersagbarkeit erforderlich, damit die notwendigen Umstrukturierungen und Investitionen getätigt werden können. Aus diesem Grund ersucht er die Kommission darum, eine Regelung für den Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 30. Juni 2012, dem Zieltermin der reformierten GAP, vorzuschlagen.

3.4

Nach Ansicht des Ausschusses hat die Kommission die drastische Senkung der institutionellen Preise (33 % für Zucker und 37 % für Zuckerrüben; Durchführung in zwei Schritten) nicht begründet. Aus nachprüfbaren Berechnungen geht hervor, dass eine Senkung von höchstens 20 % ausreichen würde, um den neuen Auflagen der WTO zu entsprechen. Der Ausschuss wünscht, dass sich die Kommission an diesen Prozentsatz hält. Ferner ersucht er die Kommission, dem Wunsch der am wenigsten entwickelten Länder, über präferenzielle Quoten zu verhandeln, zu entsprechen. Dies würde in den kommenden Jahren den Druck auf den europäischen Zuckermarkt deutlich verringern, und es würde den am wenigsten entwickelten Ländern zufriedenstellende Ausfuhrbedingungen sichern.

3.5

Der Ausschuss kritisiert die geringe Wirksamkeit der von der Kommission als Ersatz für die Intervention vorgeschlagenen Instrumente zur Marktverwaltung. Denn es ist abzusehen, dass die private Lagerhaltung und die obligatorische Übertragung keine Entsprechung von Marktpreis und Referenzpreis gewährleisten können.

3.6

Der Ausschuss nimmt den Vorschlag der Kommission zur Kenntnis, die Einkommenseinbußen in der Landwirtschaft durch eine Ausgleichsbeihilfe teilweise zu kompensieren. Gleichwohl unterstreicht er, dass bei einer geringeren Preissenkung bzw. der Durchführung lediglich des ersten Schrittes Haushaltseinsparungen und eine höhere Entschädigung kombiniert werden könnten, ohne dass dies den Rahmen der verfügbaren Finanzmittel sprengen würde. Der Ausschuss fragt sich, wie die nationalen Finanzierungsmöglichkeiten gerecht und praktisch aufgeteilt werden können, damit gewährleistet wird, dass die Beihilfen die von der Senkung bzw. vom Verlust der Einnahmen aus dem Zuckerrübengeschäft betroffenen Landwirte tatsächlich erreichen. Nach dem Vorbild der Empfehlungen für den Milchsektor im Rahmen der 2003 beschlossenen GAP-Reform sollte bei der Zuteilung der Ausgleichsbeihilfen die Referenzmenge berücksichtigt werden, die dem Landwirt in den letzten zwei Jahren vor dem Inkrafttreten der neuen Verordnung zuerkannt wurde. Der Ausschuss betont mit Nachdruck, dass die Nachhaltigkeit solcher Beihilfen und die Beibehaltung der für den Zuckersektor vorgesehenen Haushaltsmittel gewährleistet werden müssen.

3.7

Sollten sich Quotensenkungen als erforderlich erweisen, dann müssten sie nach Auffassung des Ausschusses auf das absolut Notwendige beschränkt werden und auf Zucker und seine der Quotenregelung unterliegenden Konkurrenzstoffe im selben Verhältnis Anwendung finden. Die von der Kommission vorgeschlagene Anhebung der Isoglucosequoten ist in diesem Zusammenhang ungerecht, weil sie die Kommission veranlasst, zu Lasten der Zuckerrübenerzeuger und der Zuckerindustrie eine noch stärkere Senkung der Zuckerquoten vorzuschlagen.

3.7.1

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass eine Entscheidung über den notwendigen Umfang jeder eventuellen Quotensenkung erst nach der Erstellung einer detaillierten Studie der Kommission getroffen werden kann, die den strukturellen Defiziten und der eventuellen Einstellung der Erzeugung von Quotenzucker sowie den Auswirkungen Rechnung trägt, die die anstehenden WTO-Vereinbarungen und das Ergebnis des Einspruchverfahrens vor dem WTO-Panel auf die Erzeugung von Zucker innerhalb und außerhalb der Quoten sowie auf die Zuckerhandelsströme zwischen der Europäischen Union und den Drittländern haben werden.

3.7.2

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten über genügend Spielraum bei der internen Verwaltung der Quotenkürzungen — sowohl beim Zucker als auch bei den Zuckerrüben — verfügen müssen, wobei den Interessen aller betroffenen Parteien Rechnung zu tragen ist und die Kriterien der Gleichbehandlung und des gesellschaftlichen Nutzens zu beachten sind. Er ersucht daher die Kommission, diese Möglichkeit in den Vorschlägen für eine Reform und in den Rechtsvorschriften genauer anzugeben.

3.8

Die Abschaffung der Produktionserstattung für die Versorgung der chemischen und pharmazeutischen Industrie mit Quotenzucker wird sich ebenfalls negativ auf die Höhe der Zuckerquoten auswirken und einen Risikofaktor für die künftige Versorgung dieser Industrien mit Zucker darstellen. Der Ausschuss fordert deshalb die Einhaltung der gegenwärtig geltenden Regelungen.

3.9

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Quotenübertragungen, insbesondere über die Grenzen hinweg, dazu führen könnten, dass der Zuckerrübenanbau in vielen Regionen nicht mehr rentabel würde. Solche Übertragungen hätten schädliche Folgen für die im Zuckerrübenanbau tätigen Familienbetriebe und die dortigen Arbeitsplätze sowie negative ökologische Auswirkungen bei der Fruchtfolge. Sie könnte sich ebenfalls negativ auf die Agrarmärkte für Ersatzkulturen auswirken. Der Ausschuss fordert, dass die Verwaltung der Quoten weiterhin der Kontrolle der Mitgliedstaaten unterliegt und dass jeder Umstrukturierungsbeschluss vorab Gegenstand einer Branchenvereinbarung sein muss.

3.9.1

Nach Auffassung des Ausschusses sollte die Kommission anstelle eines Quotenhandels vielmehr die Einrichtung eines europäischen Umstrukturierungsfonds für die Zuckerindustrie in Erwägung ziehen. Im Rahmen dieses Fonds würde zu Beginn der Regelung, — unter Berücksichtigung insbesondere des Umschulungsbedarfs der Landwirte und der Industriebeschäftigten und im Anschluss an eine Branchenvereinbarung zwischen dem Zuckerhersteller und den betroffenen Zuckerrübenerzeugern — für die zur Verfügung gestellten Quoten eine Entschädigung gezahlt, was die Notwendigkeit einer Quotensenkung entsprechend mindern würde.

4.   Schlussfolgerungen

4.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss leugnet nicht die Notwendigkeit, die GMO für Zucker anzupassen, ist jedoch der Auffassung, dass die Reformvorschläge zu weit gehen und ihre Umsetzung erhebliche Auswirkungen auf den europäischen Zuckersektor, insbesondere auf die Beschäftigung, hätte. Mit Bedauern stellt er fest, dass die Vorschläge nicht hinreichend begründet sind und die Folgenabschätzung nicht mit der erforderlichen Gründlichkeit durchgeführt wurde.

4.2

Er fordert, den Termin für das Inkrafttreten der neuen Verordnung auf den 1. Juli 2006 zu verschieben und die Landwirte rasch darüber zu informieren, damit sie ihre Fruchtfolgen für 2005 bestätigen können.

4.3

Seiner Meinung nach muss die Regelung einen Zeitraum von mindestens 6 Jahren abdecken, um dem Sektor eine hinreichende Perspektive zu bieten.

4.4

Er fordert, dass die Union entsprechend dem Wunsch der am wenigsten entwickelten Länder Einfuhrquoten für Zucker aus diesen Ländern aushandelt. Auf jeden Fall sollten SWAP-Geschäfte verboten und Kriterien für soziale und ökologische Nachhaltigkeit sowie der Ernährungssouveränität aufgestellt werden, von deren Erfüllung der Zugang zum Gemeinschaftsmarkt abhängig sein sollte.

4.5

Er fordert die rasche Festlegung von Einfuhrquoten für die Balkanstaaten.

4.6

Seines Erachtens muss das Ausmaß der Preis- und Produktionsquotenanpassungen streng auf die internationalen Verpflichtungen beschränkt bleiben und auf alle Süßungsmittel (Zucker und seine der Quotenregelung unterliegenden Konkurrenzstoffe) im selben Umfang angewandt werden. Zucker muss im Rahmen der Doha-Entwicklungsagenda als sensibles Erzeugnis behandelt werden.

4.7

Er empfiehlt die Beibehaltung der Interventionsregelung als Instrument für die Preisgarantie.

4.8

Der Ausschuss weist darauf hin, dass der Preis des Erzeugnisses (Zuckerrübe) die Produktionskosten der Erzeuger widerspiegeln muss. Er nimmt den Vorschlag, die Erzeuger für die Einkommenseinbußen infolge der Senkung des Zuckerrübenpreises teilweise zu entschädigen, zur Kenntnis und fordert, diese Entschädigung möglichst zu erhöhen. Er unterstreicht das Erfordernis, die Nachhaltigkeit der Beihilfen sicherzustellen und die für den Zuckersektor vorgesehenen Haushaltsmittel beizubehalten.

4.9

Er fordert die Beibehaltung der geltenden Bestimmungen für die Lieferung von Quotenzucker an die chemische und pharmazeutische Industrie.

4.10

Er ist der Auffassung, dass sich die Kommission ihrer Verantwortung nicht entziehen darf und einen echten Plan für die Umstrukturierung der europäischen Zuckerindustrie ins Leben rufen muss, bei dem den Interessen der Zuckerhersteller, der Zuckerrübenerzeuger und der betroffenen Beschäftigten Rechnung getragen wird.

4.11

Er fragt die Kommission nach ihren Absichten bezüglich der Zuckererzeugung außerhalb der Quoten.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  AKP: Entwicklungsländer in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean, die das Zuckerprotokoll des Abkommens von Cotonou unterzeichnet haben.

(2)  Durch private Lagerhaltung lässt sich zeitweise eine bestimmte Menge Zucker vom Markt nehmen, ohne die Quote zu verringern. Die obligatorische Übertragung ist die Lagerung einer bestimmten Menge Quotenzucker des Wirtschaftsjahrs n und ihr Transfer auf das Wirtschaftsjahr n+1 mit entsprechender Verringerung der Quoten für das Wirtschaftsjahr n+1.

(3)  In der Verordnung 1265/2001 ist für die Zucker- und Isoglucosemengen der Quote, die in der chemischen und pharmazeutischen Industrie zum Einsatz kommen (etwa 400.000 Tonnen pro Jahr), die Zahlung einer Produktionserstattung (Beihilfe zur Verringerung der Differenz zwischen dem Interventionspreis für Zucker und dem Weltmarktpreis) vorgesehen.

(4)  ABl. C 116 vom 20.4.2001, S.113-115, Stellungnahme des Ausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Zucker : „Der Ausschuss bittet schließlich darum, in die Untersuchungen einbezogen zu werden, die die Kommission einleiten möchte, um insbesondere die beanstandeten Schwachpunkte der Zuckermarktordnung, die Konzentration in der Agrar-Nahrungsmittelindustrie und die Weitergabe der Preisänderungen zwischen Erzeugern und Verbrauchern zu analysieren.“

(5)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes: SN 400/97, S. 14, vom 13.12.1997.

(6)  In diesem Fall: „Verkauf von brasilianischem Zucker an ein weniger entwickeltes Land, Verbrauch dieses Zuckers in dem besagten Land anstelle von einheimischem Zucker und Verkauf der so ersetzten Zuckermenge des weniger entwickelten Landes an die Europäische Union.“

(7)  Siehe Mitteilung KOM(2004) 499 endg., Anfang Ziffer 3.2 „Wirtschaftliche Auswirkungen“.

(8)  „Erklärung der ILO über die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit“, 86. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz, Genf, Juni 1998.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/107


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: „Mitteilung der Kommission: Wissenschaft und Technologie: Schlüssel zur Zukunft Europas — Leitlinien für die Forschungsförderung der Europäischen Union“

(KOM(2004) 353 endg.)

(2005/C 157/20)

Die Europäische Kommission beschloss am 17. Juni 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu der obenerwähnten Mitteilung zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 10. November 2004 an. Berichterstatter war Herr WOLF.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 83 gegen 3 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zukunft Europas. Die zukünftige Entwicklung Europas und seine Position im globalen Machtgefüge werden insbesondere durch den unausweichlichen Wettbewerb auf dem Weltmarkt mit seiner sich wandelnden Industrie- und Wirtschaftsstruktur, Arbeitsmarktlage und Rohstoffsituation bestimmt. Dabei wird zunehmend deutlich, dass Wachstum, Erfolg und Wirtschaftskraft — und die daraus gespeiste Fähigkeit für soziale Leistungen und kulturelle Entfaltung — entscheidend vom verfügbaren Wissen und von den Investitionen in Forschung und technologische Entwicklung abhängig sind.

1.2

Die globale Wettbewerbssituation. Hier steht Europa allerdings nicht mehr nur im Wettbewerb mit den inzwischen schon traditionellen Industrienationen wie den USA, Japan oder Russland, sondern auch mit den rapide erstarkenden Wirtschaftsmächten China, Indien, Südkorea etc., also dem gesamten südostasiatischen Wirtschaftsraum. Aber nicht nur die volkswirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und die daraus folgende Anziehungskraft für Investoren, Wissenschaftler und Ingenieure, sondern auch die kulturelle und politische Wertschätzung und Einflussnahme, hängen von der wissenschaftlich-technischen Leistungsfähigkeit ab. Ausreichende Investitionen in Forschung und Entwicklung können und müssen dazu beitragen, die Position Europas sicherzustellen und eine nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten.

1.3

Der Europäische Forschungsraum ERA  (1). Im Lichte dieser Herausforderung wurde der Begriff „Europäischer Forschungsraum“ geprägt. Er ist mit den Ratsbeschlüssen von Lissabon im März 2000 zum Schlüsselbegriff und Bezugsrahmen für die Forschungspolitik der Europäischen Gemeinschaften geworden, dies vor allem angesichts der bekannten anspruchsvollen Ziele von Lissabon, Göteborg und Barcelona. Gemeinschaftlich geförderte Forschung und Entwicklung soll einen europäischen Mehrwert erbringen, im Sinne der Subsidiarität Aufgaben übernehmen, welche die Leistungsfähigkeit einzelner Mitgliedstaaten übersteigen, sowie das wissenschaftliche Potenzial Europas verbinden, verstärken und erschließen. Sie dient den Zielen Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit. Wissenschaft und Forschung sind Wesenselemente der europäischen Kultur.

1.4

Ausgestaltung des ERA. Alle später folgenden Mitteilungen, Beschlüsse und Initiativen zur europäischen Forschungspolitik haben auf dem fruchtbaren Konzept des Europäischen Forschungsraums aufgebaut. Hervorzuheben sind das Sechste Rahmenprogramm mit EURATOM-Programm und die damit verbundenen Instrumente der Forschungsförderung, sowie die 3 %-Initiative (2) und viele weitere Aspekte, die z.B. den Beruf des Forschers, die Bedeutung der Grundlagenforschung, die Energieversorgung, die Raumfahrt und die Biotechnologie betreffen, aber auch das Beziehungsgeflecht zwischen Wissenschaft, Bürger und Gesellschaft.

1.5

Bisherige Stellungnahmen des Ausschusses. Der Ausschuss hat die obengenannten bisherigen Initiativen der Kommission in seinen entsprechenden Stellungnahmen (3) jeweils grundsätzlich und nachdrücklich unterstützt. Er hat die entscheidende Bedeutung von Forschung und Entwicklung (F&E) für die Ziele von Lissabon — später auch für Göteborg und Barcelona — sowie für einen nachhaltigen wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und kulturellen Wohlstand der EU hervorgehoben. Dabei hat der Ausschuss in vielen wichtigen Details Anregungen gegeben und eigene Vorschläge unterbreitet. Oft hat er sogar deutliche Verstärkungen empfohlen, aber wiederholt auch Korrekturen angemahnt und Bedenken geäußert. Letztere wiesen insbesondere auf die Tendenz hin, durch ein Übermaß an Vorschriften, einengenden Vorgaben und bürokratischen Prozeduren sowie durch zu rasche und sprunghafte Änderungen der jeweiligen Verfahren und Förderinstrumente Ineffizienz, Verwirrung und Unbehagen hervorzurufen.

2.   Die Mitteilung der Kommission

2.1

Die vorliegende Mitteilung der Kommission ist eine konsequente Folge dieser vom prinzipiellen Ansatz her außerordentlich positiven Entwicklung. Sie umfasst eine Sammlung von Zielen und Überlegungen zur Vorbereitung der Vorschläge für das Siebte F&E-Rahmenprogramm plus EURATOM-Programm, dies angesichts der „EU der 25“ und der bisherigen Erfahrungen mit dem Sechsten F&E-Rahmenprogramm.

2.2

Sie fasst die bisherigen Ziele und Maßnahmen zunächst nochmals zusammen, wobei insbesondere das 3 %-Ziel angesichts der inzwischen erweiterten Europäischen Union mit dem Ist-Stand und mit der Situation in den mit der EU konkurrierenden Staaten verglichen und daraus sehr eindrucksvoll begründet wird. Dabei werden die Hebelwirkung von Aufwendungen des öffentlichen Sektors auf die privatwirtschaftlichen Forschungsinvestitionen hervorgehoben sowie die Notwendigkeit, den Beruf des Forschers attraktiv zu machen, um weltweit um die besten Köpfe konkurrieren zu können.

2.3

Damit wird auch die Notwendigkeit begründet, die Forschungsförderung seitens der EU maßgeblich zu verstärken und auszubauen, was mit einer dementsprechenden Verstärkung der Anstrengungen auch der einzelnen Mitgliedsländer — und keinesfalls gar mit einer Verminderung — verbunden sein muss.

2.4

Auch angesichts der inhaltlichen und operativen Erfahrungen bei der Durchführung der bisherigen Rahmenprogramme formuliert die Kommission sechs große Ziele:

Europäische Pole der Exzellenz (4) durch Zusammenarbeit zwischen Laboratorien schaffen;

europäische technologische Initiativen starten;

in der Grundlagenforschung Wettbewerb auf europäischer Ebene erzeugen;

Europa für die besten Wissenschaftler attraktiv machen;

Forschungsinfrastrukturen von europäischem Interesse ausbauen;

einzelstaatliche Forschungsprogramme besser koordinieren.

2.5

Aus den weiteren in der Mitteilung enthaltenen Ausführungen und Vorschlägen seien noch folgende erwähnt:

Das Potenzial des Europas der 25 voll ausschöpfen;

gegenseitige Ergänzung mit den Strukturfonds voll nutzen;

Themen von hohem europäischen Interesse ermitteln;

zwei wichtige neue Themenbereiche: Raumfahrt und Sicherheit;

die effizientesten Durchführungsmodalitäten anwenden;

die praktische Umsetzung des Rahmenprogramms verbessern.

3.   Allgemeine Bemerkungen des Ausschusses

3.1

Ziele von Lissabon, Göteborg und Barcelona. Der Ausschuss begrüßt und unterstützt die in der Mitteilung der Kommission dargestellten Absichten und Initiativen, und er sieht in den Vorschlägen der Kommission außerordentlich wichtige Maßnahmen im Hinblick auf die ehrgeizigen Ziele von Lissabon, Göteborg und Barcelona. Er anerkennt mit großer Befriedigung, dass viele der in seinen früheren Stellungnahmen gegebenen spezifischen Empfehlungen in der vorliegenden Mitteilung berücksichtigt sind.

3.2

Das 3 %-Ziel  (5). Insbesondere unterstützt der Ausschuss das übergeordnete 3 %-Ziel, welches sich an den derzeitigen F&E-Investitionen der globalen Wettbewerber orientiert. Auf EU-Ebene ist es dafür erforderlich, die für das Rahmenprogramm plus EURATOM-Programm verfügbaren Mittel — sowohl den Zielen von Lissabon als auch dem neuen, erweiterten Europa der 25 entsprechend — massiv zu erhöhen.

3.2.1

Verdopplung der dafür benötigten EU-Mittel. Für alle Maßnahmen zusammengenommen sollen daher die Mittel, wie seitens der Kommission vorgeschlagen, verdoppelt werden. Dies entspricht auch der diesbezüglichen Empfehlung des Ausschusses, welche er bereits in seiner Stellungnahme zum Sechsten Rahmenprogramm (6) gegebenen hat.

3.2.2

Mitgliedstaaten und Industrie. Um das 3 %-Ziel zu erreichen, muss diese Verdopplung jedoch mit einer dementsprechenden Erhöhung auch der nationalen F&E-Budgets und der F&E-Aufwendungen der Industrie verbunden sein. In beiden Fällen ist der Ausschuss sehr darüber besorgt, dass dies gar nicht oder nicht ausreichend geschieht. Bei der industriellen Forschung und Entwicklung ist in vielen Fällen sogar eine Verlagerung von F&E-Investitionen auf Standorte außerhalb der EU zu beobachten. Der Ausschuss empfiehlt, die Gründe für diesen bedauerlichen Trend zu untersuchen, um Maßnahmen ergreifen zu können, damit auch die industrielle Forschung und Entwicklung in Europa dem 3 %-Ziel nachkommt.

3.2.3

Appell des Ausschusses. Der Ausschuss appelliert daher erneut an den Rat, das Parlament und die Regierungen der Mitgliedstaaten — sowie insbesondere auch an die Industrie -, sich mit ihren jeweiligen Beschlüssen dem anzuschließen sowie zudem mit ihren jeweiligen nationalen und privatwirtschaftlichen F&E-Budgets dementsprechend nachzukommen. Der Ausschuss ist sich sehr wohl bewusst, dass dies angesichts der gegenwärtigen schwierigen allgemeinen Finanzlage keine einfache Aufgabe ist. Aber die seitens der Kommission vorgeschlagenen Investitionen in Forschung und Entwicklung sind nicht nur maßvoll, sondern angesichts der internationalen Wettbewerbssituation längst überfällig. Den Worten müssen nun Taten folgen.

3.2.4

Dynamische Entwicklung. Dabei gilt es zu vermeiden, die Situation nur statisch zu betrachten. Die europäische Politik muss sich — im globalen Wettbewerb — auf die zukünftige Entwicklung außerhalb Europas einstellen (7). Wenn das 3 %-Ziel zu spät erreicht wird, werden die Lissabon-Ziele verfehlt. Längerfristig muss nämlich sogar eine weitere Steigerung der F&E-Investitionen erfolgen.

3.3

Europäische Pole der Exzellenz. Der Ausschuss unterstützt das übergeordnete Ziel, Europäische Pole der Exzellenz zu schaffen und zu fördern; dies schafft einen gesamteuropäischen Mehrwert, setzt Qualitätsmaßstäbe und erhöht die Anziehungskraft europäischer Forschung und Entwicklung. Die darin angestrebte länderübergreifende Zusammenarbeit zwischen Forschungszentren, Hochschulen und Unternehmen muss auch künftig das wesentliche Element der Förderpolitik durch das F&E-Rahmenprogramm (plus EURATOM) sein, mit Hauptgewicht auf den Thematischen Prioritäten.

3.3.1

Voraussetzung. Voraussetzung zur Verwirklichung dieses Ziels ist allerdings, dass bereits exzellente Einrichtungen oder Gruppen existieren, aus deren Zusammenarbeit Spitzenleistungen erwartet werden können (8).

3.3.2

Kein neues Förderinstrument. Zudem sollte noch besser klargestellt werden, dass der Begriff „Pole der Exzellenz“ kein neues Förderinstrument ist (siehe dazu später), sondern ein übergeordneter Begriff, welcher die diesem Ziel dienenden Förderinstrumente umfasst, wie z.B. „Networks of Excellence“ (NoE), „Integrated Projects“ (IP) oder „Specific Targeted Research Projects“ (STREPs).

3.4

Instrumente der Forschungsförderung  (9) (Projektstruktur). Unter Hinweis auf die anerkennenswerte Absicht der Kommission, effiziente Durchführungsmodalitäten zu schaffen, wiederholt (10) der Ausschuss seine Anliegen nach Klarheit, Einfachheit, Kontinuität und insbesondere auch Flexibilität der Instrumente der Forschungsförderung. Letzteres bedeutet, dass die Antragsteller die Instrumente an die für die jeweilige Aufgabe erforderliche optimale Struktur und Größe der Projekte anpassen können müssen. Nur dadurch lässt sich vermeiden, dass Projekte kreiert werden, deren Größe und Struktur sich nach den vorgeschriebenen Instrumenten richtet statt nach den optimalen wissenschaftlich-technischen Erfordernissen. Die Instrumente müssen den Arbeitsbedingungen und Zielsetzungen von Forschung und Entwicklung dienen und keinesfalls umgekehrt. Der Aufwand für Antragstellung und Verwaltung muss sich lohnen.

3.5

Grundlagenforschung und europäischer Wettbewerb. Desgleichen wiederholt der Ausschuss die Grundaussage seiner kürzlichen Stellungnahme (11) zu diesem Thema, nämlich ein deutlich sichtbares Gewicht auf die Förderung der Grundlagenforschung — als die Basis aller weiteren Forschungs- und Entwicklungsschritte — zu legen, und zwar im europäischen Wettbewerb mit freier Themenwahl seitens der Antragsteller. Wettbewerb auf europäischer Ebene schafft europäischen Mehrwert.

3.6

Internationale Dimension der Forschung. Dabei darf jedoch nicht außer Acht bleiben, dass die über die EU hinausreichende internationale Dimension der Forschung von ebenso großer Bedeutung ist. Spitzenleistungen in Forschung und Entwicklung gedeihen heute auf einem globalen, internationalen (12) Spielfeld weltweiter, offener Kooperation und zugleich weltweiten Wettbewerbs. Auch dieser Aspekt ist durch entsprechende Maßnahmen (z.B. Mobilitätsprogramm, Kooperationsabkommen etc.) zu fördern und zu berücksichtigen.

3.7

Beziehungsgeflecht und Balance zwischen den Forschungskategorien  (13). Dabei weist der Ausschuss nochmals auf das für Innovation und Fortschritt erforderliche Beziehungsgeflecht, auf die fruchtbare Wechselwirkung und auf die fließenden Übergänge zwischen den Forschungs-Kategorien Grundlagenforschung, Angewandter Forschung (manchmal auch Vorlaufforschung genannt) und Entwicklung (Produkt- und Prozessentwicklung) hin. Dieses für die Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaft und für die Ziele von Lissabon so wichtige Beziehungsgeflecht betrifft auch die Zusammenarbeit und gegenseitige Ergänzung industrieller Forschung und Entwicklung mit der Forschung an Universitäten und staatlich geförderten Forschungsorganisationen. Es muss sich daher sowohl in der Ausgewogenheit der Förderung der einzelnen Kategorien als auch in den einzelnen Aufgaben und Unterthemen der jeweiligen Thematischen Prioritäten/Aktionen widerspiegeln. Also muss den genannten Forschungskategorien Zugang zu allen dementsprechenden Förderachsen des Rahmenprogramms eingeräumt werden. Letztlich beruht darauf auch die Hebelwirkung zwischen den F&E-Aufwendungen der öffentlichen Hand und der Wirtschaft.

3.8

Effiziente Durchführungsmodalitäten. Last but not least begrüßt und unterstützt der Ausschuss die Absicht, die effizientesten Durchführungsmodalitäten anzuwenden und die praktische Umsetzung des Rahmenprogramms zu verbessern. Hier sieht der Ausschuss einen sehr wichtigen Bedarf für Maßnahmen, die weniger bürokratischen Aufwand erfordern, besser als bisher mit der Scientific Community und der Industrie abgestimmt sind und deren internen Regeln, Erfahrungen und Arbeitsbedingungen entsprechen. Die wichtigsten Akteure im Europäischen Forschungsraum sind die Forscher mit ihrer Entdeckerfreude. Sie benötigen Entfaltungsspielraum und optimale Rahmenbedingungen. Dem sollte Rechnung getragen werden.

4.   Besondere Bemerkungen des Ausschusses

4.1

Kürzliche Stellungnahmen. Ein Großteil der hier folgenden Bemerkungen wurde bereits in den kürzlichen Stellungnahmen zur europäischen Forschungspolitik (14) angedeutet oder formuliert.

4.2

Bestimmendes Kriterium. Das bestimmende Kriterium für die Projektauswahl und Forschungsförderung muss wissenschaftliche und technologische Exzellenz sein, um für die EU im globalen Wettbewerb Spitzenpositionen zu erhalten oder zu erringen. Nur so können die in der Mitteilung der Kommission formulierten Ziele erreicht werden, nämlich „Spitzenleistung und Innovation: Schlüssel zur industriellen Wettbewerbsfähigkeit Europas“ hervorzubringen und „in der Grundlagenforschung größere Kreativität durch Wettbewerb zwischen Teams auf europäischer Ebene (zu) erzeugen“.

4.2.1

Exzellenz. Exzellenz und Spitzenleistung sind das Ergebnis eines komplexen, mühsamen und langwierigen Entwicklungs- und Ausleseprozesses, der nach den von der Scientific Community selbst entwickelten Regeln abläuft, und bei dem viele wichtige und vernetzte Faktoren zusammentreffen und berücksichtigt werden müssen.

4.2.2

Gesellschaft und Politik. Also müssen Gesellschaft und Politik dafür sorgen, dass die Voraussetzungen für die Entstehung und den Erhalt von Exzellenz und Spitzenleistung vorhanden sind oder geschaffen werden.

4.2.3

Abweichende Kriterien. Davon abweichende sachfremde oder spekulative Kriterien erhöhen den bürokratischen Aufwand, führen in die Irre und beinhalten die Gefahr von Fehlentscheidungen mit allen nachteiligen Folgen nicht nur für die Ziele von Lissabon, sondern insgesamt für das europäische Forschungsklima.

4.3

Das Potenzial des Europas der 25. Gleichzeitig gilt es allerdings auch — und der Ausschuss unterstützt die diesbezügliche Absicht der Kommission in vollem Umfang -, das Potenzial des Europas der 25 voll zu entwickeln und auszuschöpfen. Dazu müssen — soweit nicht bereits vorhanden — in den Forschungseinrichtungen der erweiterten Union sowie Regionen mit unzureichender Forschungsausstattung die Voraussetzungen für Spitzenleistungen geschaffen werden

4.3.1

Subsidiarität. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität ist die Entwicklung solcher nationaler wissenschaftlich-technischer Kapazitäten und deren Grundausstattung, als Basis für die Ausbildung von Exzellenz und Spitzenleistungen, Aufgabe der Mitgliedstaaten.

4.3.2

Strukturfonds und Europäischer Investitionsfonds. Wo erforderlich und erfolgversprechend, sollte diese Aufgabe jedoch gezielt und wirksam durch die Strukturfonds und den Europäischen Investitionsfonds der EU unterstützt und gefördert werden. Deswegen unterstützt der Ausschuss die Absicht der Kommission, auch im Sinne einer erfolgreichen Kohäsionspolitik, die gegenseitige Ergänzung des Rahmenprogramms mit den Strukturfonds in vollem Umfang zu nutzen — er empfiehlt aber, dies auf den Investitionsfond zu erweitern — und einen Teil deren Mittel für den Ausbau von Forschungskapazitäten und Infrastrukturen einzusetzen.

4.3.3

Hierfür ist auch eine ausreichende Anschubfinanzierung von F&E-Maßnahmen in den neuen Mitgliedsländern erforderlich, da dort die wissenschaftlichen Institutionen noch nicht in der Lage sind, für EU-geförderte Projekte ihrerseits die benötigten Mittel zunächst vorzustrecken. Ergänzend sollten dafür aber jeweils auch entsprechende nationale Fördersysteme geschaffen werden.

4.4

Forschungsinfrastrukturen. Auch in diesem Zusammenhang begrüßt der Ausschuss zudem den Vorschlag der Kommission, Forschungsinfrastrukturen (15) von europäischem Interesse auszubauen. Dabei hat sich die maßgebliche Finanzierung ausgewählter Großgeräte auf der Grundlage der „Variablen Geometrie“ bisher gut bewährt und sollte daher weiter verfolgt werden. Das Europäische Strategieforum für Forschungsinfrastrukturen (ESFRI) nimmt hierfür eine hilfreiche beratende Schlüsselrolle ein. Darauf bauend sollte ein europäisches Konzept Infrastrukturen erarbeitet werden.

4.4.1

Mittelgroße Infrastrukturen. Nach Maßgabe der verfügbaren Mittel und des erkennbaren Nutzens für gemeinschaftliche Projekte sollte sich diese Maßnahme allerdings nicht ausschließlich auf Großgeräte beschränken, denn auch mittelgroße komplexe Forschungs-Infrastrukturen werden in vielen Forschungsbereichen benötigt und können zugleich den Forschungszielen mehrerer Mitgliedstaaten dienen.

4.5

Stärkung der Thematischen Prioritäten und der Mobilität. Wie bereits erwähnt, unterstützt der Ausschuss den Vorschlag der Kommission, die für das Siebte Rahmenprogramm plus EURATOM-Programm verfügbaren Mittel (gegenüber dem derzeitigen Sechsten) zu verdoppeln. Dieser Zuwachs sollte primär (16) den thematischen Prioritäten/Aktionen/Projekten (einschließlich jener von EURATOM) und dem Mobilitätsprogramm (17) (einschließlich der Förderung von Nachwuchswissenschaftlern und Spitzenforschern) zugute kommen.

4.6

Instrumente der Forschungsförderung. Um seine dazu bereits formulierten Empfehlungen zu verdeutlichen, empfiehlt der Ausschuss, folgende Grundsätze anzuwenden:

Die Zahl der Instrumente muss überschaubar sein.

Die Instrumente müssen wohldefiniert und ihre Zielsetzung muss transparent sein.

Ihre Handhabbarkeit muss möglichst einfach sein.

Sie sollten sich bevorzugt auf die unmittelbare Förderung von F&E-Aufgaben und der damit befassten Forscher konzentrieren.

Die Auswahl der Instrumente bzw. des Instruments für ein bestimmtes Vorhaben oder Projekt sollte in der Hand der Antragsteller liegen. Die einzelnen Elemente der thematischen Prioritäten sollten also keinesfalls a priori an ein vorgegebenes Instrument gekoppelt sein (18); gleichwohl sollte die Kommission hierzu Beratung anbieten und ihre Gründe erklären, warum sie für bestimmte Themen ein bestimmtes Instrument bevorzugt.

Auch bei den Instrumenten ist auf eine ausreichende Kontinuität zu achten und insbesondere ein sprunghafter „Paradigmenwechsel“ zu vermeiden, um den administrativen Aufwand für alle Beteiligten in vernünftigen Grenzen zu halten.

Bevorzugt werden sollte die Vergabe von „Grants“ oder „STREPs“ (Specific Targeted Research Projects), also die Bewilligung leicht überschaubarer und handhabbarer Forschungsvorhaben. In diesem Zusammenhang weist der Ausschuss auch auf seine früher ausgesprochenen Anregungen und auf die späteren Bemerkungen zu den KMU hin.

Im Sinne dieser Grundsätze wird unter anderem empfohlen, bei den NoE (Networks of Excellence) nicht nur den Koordinierungsaufwand zu fördern, sondern auch einen Anteil der direkten F&E-Aufwendungen (wie dies z.B. bei den Assoziationen des Euratom-Fusionsprogramms bereits der Fall ist).

4.6.1

Marimon-Report  (19). Der Ausschuss nimmt mit großer Befriedigung zur Kenntnis, dass sich die diesbezüglichen Empfehlungen des gerade erschienenen Marimon-Reports weitestgehend mit seinen eigenen Empfehlungen decken. Er unterstützt dessen Aussagen nachdrücklich.

4.6.2

Kontinuität. Um die Wichtigkeit dieses Gesichtspunkts nochmals besonders hervorzuheben und klarzustellen: Generell sollte beim Übergang vom Sechsten zum Siebten Rahmenprogramm größtmögliche Kontinuität gewährleistet werden. Für Wissenschaft und Industrie (vor allem auch KMU) bedeutet der bisherige, mit dem Übergang von einem Rahmenprogramm zum nächsten verbundene Wechsel von Förderbedingungen, Antragsmodalitäten, Evaluierungskriterien, rechtlichen Rahmenbedingungen/Instrumenten und Kostenmodellen eine leistungsmindernde Belastung. Um diese Kontinuität zu gewährleisten, sollten also keine grundsätzlich neuen Instrumente und sonstige Verfahren eingeführt werden. Stattdessen sollen die bisherigen Instrumente und Verfahren gemäß der gewonnenen Erfahrungen und Empfehlungen vereinfacht und angepasst werden. Hauptziel muss also Kontinuität, verbunden mit Vereinfachung und Klärung sein, sowie Flexibilität für die Antragsteller in der Wahl der Instrumente.

4.7

Technologie-Plattformen. Der Ausschuss unterstützt nachdrücklich die Initiative der Kommission und der Industrie, „Technologie-Plattformen“ einzurichten, welche Unternehmen, Forschungseinrichtungen, die Finanzwelt, Behörden sowie normensetzende Gremien auf europäischer Ebene zusammenbringen. Deren Aufgabe ist es, ein gemeinsames Forschungsprogramm festzulegen, mit dem eine kritische Masse an einzelstaatlichen und europäischen, öffentlichen und privatwirtschaftlichen Ressourcen mobilisiert werden soll.

4.7.1

Gemeinschaftliche Entwicklungsvorhaben. Diese Vorgehensweise hält der Ausschuss bei umfangreichen und aufwendigen gemeinschaftlichen wissenschaftlich-technischen Entwicklungsvorhaben wie z.B. dem GALILEO-Projekt — mit wohldefinierter Zielsetzung — für einen sehr empfehlenswerten Schritt, um das konzertierte Zusammenwirken der Partner zu realisieren. Dies kann in Form „Integrierter Projekte IP“ oder auch „Gemeinsamer Unternehmen“ gemäß Artikel 171 des EG-Vertrags (20) geschehen. Aber auch hier sollte jeweils sorgfältig geprüft werden (21), wie eine Aufblähung des organisatorischen/administrativen Aufwands vermieden und wie eine angemessene Beteiligung von KMU oder kleinerer Institute/Forschergruppen erreicht werden kann.

4.7.2

Administrativer und organisatorischer Aufwand. Angesichts des dafür erforderlichen großen organisatorisch/administrativen und rechtlichen Aufwands (z.B. zu Fragen des geistigen Eigentums) sollte allerdings vor Bildung weiterer „Technologie-Plattformen“ zunächst Erfahrung mit den derzeit im Aufbau befindlichen gewonnen und zudem klargestellt werden, dass auch dabei das Prinzip der „Variablen Geometrie“ angewandt werden kann. Zudem sollte jeweils untersucht werden, ob das Ziel eindeutig definiert ist und ob es nicht mit Hilfe oder durch Ausbau einfacherer Verfahren erreicht werden kann, um zu vermeiden, dass durch eine weitere Zunahme teilweise überlappender Instrumente zusätzliche Verwirrung und ein überproportionaler Koordinierungsaufwand entstehen. Falls möglich, sollten einfachere Instrumente verwendet werden.

4.8

Kleine und mittlere Unternehmen (KMU). KMU tragen in erheblichem Maße bereits jetzt zum Innovationsprozess bei oder besitzen das Potenzial, dies in Zukunft zu tun. Daher sollten die Teilnahmebedingungen für KMU an den thematischen Prioritäten noch flexibler gestaltet und vereinfacht werden, unter anderem durch eine flexible Zuordnung und Auswahloption von Themen und Instrumenten (CRAFT, Collective Research, EUREKA). Insgesamt sollte bei einer Anpassung der Förderinstrumente und bei der Strukturierung der Projekte besser als bisher darauf geachtet werden, dass kompetente KMU angemessen beteiligt werden können, und zwar sowohl im Hightech- als auch im Lowtech-Bereich. Hierzu sind besser solche Förderinstrumente wie „Specific Targeted Research Projects — STREPs“ geeignet, die auch kleinere Gruppierungen und Projekte zum Zuge kommen lassen, und die auch einen Bottom-up-Ansatz begünstigen.

4.8.1

KMU und Wissenstransfer. Davon gesondert ist jedoch die ebenfalls sehr wichtige Aufgabe zu behandeln, das neueste, potenziell anwendungsrelevante Wissen der Grundlagenforschung — aus Universitäten und staatlich geförderten Forschungseinrichtungen — an die in der Industrie und insbesondere in den KMU tätigen Forscher und Ingenieure heranzubringen und diesen zu vermitteln, um so den für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit der Industrie nötigen Wissenstransfer zu beschleunigen. Auch hierzu hat der Ausschuss bereits mehrfach Anregungen (22) gegeben, welche insbesondere auch den deutlich zu verbessernden und attraktiver zu gestaltenden Personalaustausch (Mobilität) zwischen Akademia und Industrie betreffen.

4.8.2

Entrepreneurship und Industriepolitik. Insbesondere die Neugründung kleiner Unternehmen ist ein wesentlicher Motor für Innovation und Wirtschaftswachstum. Die Problematik derartiger Neugründungen liegt aber häufig primär nicht in einer unzureichenden Förderung von Forschung und Entwicklung, sondern in Fragen der Unternehmensführung und des Marketings sowie vor allem in einer unzureichenden langfristigen Finanzdecke, um die verlustreiche Anfangsperiode gut zu überbrücken. Hier müssen also Industriepolitik und Forschungspolitik gemeinsam nach Lösungen suchen, um Anreize und Erfolgschancen für mehr Entrepreneurship in Europa zu schaffen.

4.8.3

SBIR-Programm der USA. Der Ausschuss empfiehlt zudem, auf die Erfahrungen in den USA mit dem Programm „Small Business Innovation Research“ (SBIR) (23) zurückzugreifen, in dessen Rahmen die US-Regierung über verschiedene Agenturen marktbezogene F&E-Maßnahmen kleiner und mittlerer Unternehmen fördert.

4.9

Offene Koordinierung. Der Ausschuss hat sich schon mehrfach für das Verfahren der offenen Koordinierung seitens der Kommission ausgesprochen, dabei aber stets betont, dass dies nur auf freiwilliger Basis seitens der Mitgliedstaaten erfolgen kann.

4.10

Selbstorganisation und Selbstkoordinierung. Zudem hat der Ausschuss ebenfalls mehrfach auf die als Bottom-up-Prozess funktionierende Selbstorganisation und Selbstkoordinierung der wissenschaftlich-technischen Akteure innerhalb der EU hingewiesen, die sich auf ihren jeweiligen Sachgebieten über Veröffentlichungen, Konferenzen und Workshops kennen, von sich aus auf die Programmgestaltung einwirken und — im Spannungsfeld zwischen Wettbewerb und Kooperation (siehe unten) — zu einer Koordinierung beitragen. Maßgebliche und weltweit führende internationale Forschungsinitiativen, -programme und -einrichtungen sind auf diese Weise entstanden und haben damit das Konzept des Europäischen Forschungsraums vorbereitet. Dies sollte anerkannt und davon sollte Gebrauch gemacht werden.

4.11

Wettbewerb fördern. In diesem Zusammenhang begrüßt der Ausschuss, dass die Kommission „Wettbewerb fördern“ als eines ihrer sechs großen Ziele ausweist. Er unterstützt die Kommission in ihrer Erwartung, durch Wettbewerb auf europäischer Ebene einen Mehrwert zu erzielen. Dazu wiederholt der Ausschuss (24) seine frühere Feststellung, nämlich: Wissenschaft und Forschung leben vom Wettbewerb um die besten Ideen, Verfahren und Ergebnisse, und von der unabhängigen Reproduktion (oder Widerlegung) — also „Zertifizierung“ — neuer Erkenntnisse sowie von deren Verbreitung, Vertiefung und Erweiterung. Also ist es notwendig, pluralistische und interdisziplinäre Forschungsansätze und Forschungsstrukturen zu ermöglichen und zu pflegen, um den daraus erwachsenden Wettbewerb um die besten Ideen und Ergebnisse zu stimulieren und zu nutzen.

4.12

Wettbewerb, Kooperation und Koordinierung. Zwischen den Zielen Wettbewerb, Kooperation und Koordinierung können Gegensätze entstehen, und zwar umso mehr je näher die Aufgaben mit Produktentwicklung verbunden sind. Daraus sind die Grenzen ihrer jeweils optimalen Anwendungsbereiche — und damit auch die Auswahl der jeweils geeigneten Instrumente — abzuleiten. Soviel Wettbewerb wie möglich, soviel Kooperation wie nötig.

4.13

Kritische Masse und globaler Wettbewerb. Forschungs- und Entwicklungs-Ziele, deren kritische Masse auch als Einzelobjekt die Leistungsfähigkeit einzelner Mitgliedstaaten übersteigt, und die also grundsätzlich nur im europäischen Verbund erreichbar sind, wie große Infrastrukturen oder bestimmte große Technologie-Projekte, müssen sich noch mehr als andere auch dem globalen Wettbewerb (siehe auch das Kapitel „Internationale Dimension“) stellen und im globalen Vergleich bewähren. Hier trifft das auch für „Technologie- Plattformen“ Gesagte zu.

4.14

European Research Council ERC. Wie bereits in seiner kürzlichen Stellungnahme (25) angedeutet, unterstützt der Ausschuss die Kommission in ihrer Absicht, einen „European Research Council“ (ERC) ins Leben zu rufen. Dieser soll mit der Gestaltung und Förderung des Ressorts Grundlagenforschung beauftragt und von der „Scientific Community“ getragen werden. Er soll seine Aufgabe in voller Autonomie und nach den Regeln erfolgreicher entsprechender Institutionen in den Mitgliedstaaten oder den USA wahrnehmen. Zum Nutzen des Wirkungsgeflechts zwischen den einzelnen Forschungskategorien empfiehlt der Ausschuss, auch herausragende Wissenschaftler aus der industriellen Forschung in den ERC zu berufen.

4.15

Peer Review. Das wesentliche Bewertungsinstrument sollte die „Peer Review“ sein. Auch zur Kompensation der bekannten Schwächen (z.B. Interessenkonflikte) selbst dieses Bewertungssystems sollten allerdings innerhalb des ERC — allgemein: innerhalb jeder Förderorganisation (26) — erfahrene Wissenschaftler beschäftigt werden, die durch eigene wissenschaftliche Leistungen ausgewiesen und ihrerseits jeweils mit dem von ihnen betreuten spezifischen Sachgebiet bestens vertraut sind.

4.16

Laufbahnen fördern. Der Ausschuss unterstützt nachdrücklich das Ziel, Wissenschaft, Forschung und Entwicklung als Berufsziel attraktiver zu machen, dazu die Begabtesten zu begeistern und die beruflichen Laufbahnen dementsprechend zu fördern. Er hat sich erst in einer kürzlichen Stellungnahme (27) sehr ausführlich mit diesem Thema auseinander gesetzt und die Bemühungen der Kommission befürwortet.

4.16.1

Unbefriedigende Vertragssituation von Wissenschaftlern. Ein besonderes Problem stellen dabei die in vielen Mitgliedstaaten bestehenden Besoldungstarife und Vertragsbedingungen dar, die — vor allem für jüngere Wissenschaftler — mit deutlichen Nachteilen verbunden sind gegenüber Karrieren in der freien Wirtschaft, ja sogar gegenüber ansonsten vergleichbaren Laufbahnen des öffentlichen Dienstes. Er weist erneut darauf hin, dass hier dringender Handlungsbedarf — vor allem aber auf Seiten der Mitgliedstaaten — besteht.

4.17

Vermeidung überlappender oder paralleler Instanzen. Forschungstätigkeit erfordert auch planerische, unternehmerische, administrative und gutachterliche Aufgaben, die von erfahrenen Wissenschaftlern wahrgenommen werden müssen. Angesichts einer Inflation von Anträgen, Gutachten und Monitoring-Prozessen wiederholt der Ausschuss seine Empfehlung (28), dass sich die Kommission mit dieser Frage befasst und auf effiziente, koordinierte Verfahren (insbesondere auch mit und zwischen den beteiligten Instanzen der Mitgliedstaaten) hinwirkt, die zu viele getrennt agierende vertikale (und auch horizontale/parallele) Genehmigungs- und Lenkungs- und Kontrollinstanzen (und -verfahren) sowie eine daraus resultierende unproduktive Geschäftigkeit vermeiden.

4.18

Auswahl von Gutachtern. Gleichzeitig und unter dem Vorbehalt, die derzeitige Beanspruchung von Gutachtern generell zu reduzieren, muss aber auch darauf geachtet werden, die auf dem betreffenden Fachgebiet jeweils besonders erfolgreichen und erfahrenen Wissenschaftler als Gutachter zu gewinnen, da ansonsten das Risiko von Fehlbewertungen zunimmt. Damit dies gelingt, müssen jedoch die Auswahlverfahren für die zu gewinnenden Gutachter von dem gegenwärtigen überbordenden und unflexiblen bürokratischen Ballast befreit werden, der gerade auf erfolgreiche Wissenschaftler besonders abschreckend wirkt.

4.19

Bewertungsverfahren. Möglicherweise sind einige seitens der Scientific Community kritisierten Verfahren das Ergebnis eines gutgemeinten Versuchs, standardisierte Bewertungskriterien auf einem dafür viel zu komplexen und delikaten Gebiet einzuführen und anzuwenden, statt auf menschliche Erfahrung zurückzugreifen. Der Ausschuss anerkennt zwar die Absicht, im Sinne von Transparenz und Objektivierbarkeit subjektive Bewertungen — wegen ihrer Angreifbarkeit und auch der Möglichkeit des Missbrauchs — weitmöglich auszuschließen; allerdings entsteht daraus ein nicht lösbares Dilemma. Die Bewertung wissenschaftlicher Leistung und Kreativität lässt sich nicht automatisieren oder an Unerfahrene delegieren.

4.20

Zwei neue Themen: Raumfahrt und Sicherheitsforschung. In der Mitteilung der Kommission werden die thematischen Prioritäten noch nicht behandelt. Einzige Ausnahme ist der Hinweis auf die Grundlagenforschung (29) sowie auf die beiden neuen Themen Raumfahrt und Sicherheitsforschung. Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag der Kommission, die Aufgaben Raumfahrt und Sicherheitsforschung nunmehr auch seitens der Kommission auf europäischer Ebene aufzugreifen, und er bekräftigt damit seine früheren zur Raumfahrt gemachten Empfehlungen (30). Allerdings empfiehlt der Ausschuss, diese beiden Aufgaben außerhalb des für das Siebte Rahmenprogramm vorgesehenen Budgets und außerhalb der Thematischen Prioritäten des Rahmenprogramms zu installieren, da sie sich durch jeweils unterschiedliche, eigentümliche Besonderheiten auszeichnen, welche nicht zu den Abwicklungsmodalitäten des Rahmenprogramms passen.

4.20.1

Bei der Raumfahrt gibt es bereits ein sehr schlagkräftiges und erfolgreiches Programm, welches bisher insbesondere zwischen der ESA und der Europäischen Raumfahrt- und Luftfahrtindustrie koordiniert und abgewickelt wurde, und zu dem schon bisher auch Forschungsinstitutionen der Mitgliedstaaten wesentliche Beiträge geleistet haben. Deswegen sollte die seitens des Ausschusses durchaus empfohlene Beteiligung seitens der Kommission gesondert, d.h. im Rahmen des bestehenden Kooperationsabkommens zwischen ESA und Kommission, aber außerhalb des Rahmenprogramms finanziert und abgewickelt werden. Der Ausschuss ist interessiert, dazu weitere Details kennen zu lernen.

4.20.2

Bei der Sicherheitsforschung besteht ein starkes gesamteuropäisches Interesse an gemeinschaftlichem Vorgehen. Dies wurde innerhalb des Ausschusses bereits mehrfach diskutiert und betont, und darum unterstützt der Ausschuss ausdrücklich, dieses Thema aufzugreifen. Allerdings sind dabei auch Fragen der Geheimhaltung und der möglichen Anwendung von inneren oder externen Verteidigungsaufgaben involviert, welche einer gegenüber den Thematischen Prioritäten des Rahmenprogramms (wo z.B. Transparenz gefordert wird) unterschiedlichen Behandlung bedürfen. Daher sollte auch in diesem Fall ein außerhalb der Finanzierung und Instrumentalisierung des Rahmenprogramms stehendes eigenständiges Vorhaben entstehen.

5.   Zusammenfassung

5.1

Der Ausschuss betont die entscheidende Bedeutung von Forschung und Entwicklung für die globale Wettbewerbsfähigkeit Europas und damit auch für die Ziele von Lissabon. Der Ausschuss unterstützt demgemäß die in der Mitteilung der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen und dargelegten Ziele.

5.2

Dies gilt insbesondere für das 3 %-Ziel sowie für die dazu vorgeschlagene Verdopplung des gemeinschaftlichen F&E-Budgets (für Rahmenprogramm plus Euratom-Programm). Der Ausschuss appelliert an Rat und Parlament, diesem Vorschlag zu folgen, an die Regierungen der Mitgliedstaaten, dem auch in deren nationalen F&E-Budgets nachzukommen, und an die Industrie, ihrerseits die Investitionen in Forschung und Entwicklung zielgemäß zu verstärken, und zwar in Europa.

5.3

Der Ausschuss weist darauf hin, dass das 3 %-Ziel der gegenwärtigen Wettbewerbslage entspricht und in Zukunft den wachsenden Trends z.B. in den USA und in Südostasien angepasst werden muss.

5.4

Der Ausschuss unterstützt die Absicht der Kommission, zudem einen Teil der Mittel der Strukturfonds für den Ausbau von Forschungskapazitäten und von Forschungsinfrastrukturen einzusetzen, um das Potenzial des Europas der 25 voll auszuschöpfen und auch der Übergangssituation in den neuen Mitgliedsländern Rechnung zu tragen. Der Ausschuss empfiehlt, darüber hinaus auch den Europäischen Investitionsfonds dafür heranzuziehen.

5.5

Der Ausschuss unterstützt die Absicht der Kommission, die effizientesten Durchführungsmodalitäten anzuwenden und die praktische Umsetzung des Programms zu verbessern. Er empfiehlt demgemäß eine Vereinfachung und Flexibilisierung der Instrumente bei gleichzeitig weitgehender Kontinuität. Die Antragsteller müssen die Instrumente an die für die jeweilige Aufgabe erforderliche optimale Struktur und Größe der Projekte anpassen können. Dies gilt auch für die Einrichtung von „Technologieplattformen“. Der Ausschuss schließt sich dem Marimon-Report an.

5.6

Der Ausschuss empfiehlt, dabei noch mehr als bisher dazu befähigte KMU in Forschung und Entwicklung und in den Innovationsprozess einzubinden, er weist auf das diesbezügliche SBIR-Programm der USA hin. Der Ausschuss empfiehlt zudem ein Zusammenwirken zwischen Unternehmenspolitik und Forschungspolitik, um das Potenzial der KMU und junger Unternehmensgründungen für Innovation und Wirtschaftswachstum zu fördern und auszuschöpfen.

5.7

Der Ausschuss unterstützt die Absicht der Kommission, Raumfahrt und Sicherheitsforschung als neue Themenschwerpunkte aufzunehmen; er empfiehlt — und begründet warum -, diese als gesonderte Kategorien außerhalb des Rahmenprogramms zu behandeln und zu finanzieren.

5.8

Der Ausschuss unterstützt die Absicht der Kommission, Grundlagenforschung per se in das Rahmenprogramm aufzunehmen und im europäischen Wettbewerb zu fördern, sowie dazu einen unabhängigen Europäischen Forschungsrat (European Research Council) ins Leben zu rufen.

5.9

Der Ausschuss weist auf die grundlegende Bedeutung des Beziehungsgeflechts zwischen den Forschungskategorien Grundlagenforschung, Angewandte Forschung (Vorlaufforschung) und Entwicklung hin. Dies erfordert eine ausgewogene Förderung dieser Kategorien.

5.10

Der Ausschuss unterstützt die Absicht der Kommission, Europa für die besten Wissenschaftler attraktiver zu machen, sowie begabte Jugendliche für eine wissenschaftliche Laufbahn zu gewinnen und diese zu gewährleisten. Hier besteht Handlungsbedarf vor allem auf Seite der Mitgliedstaaten.

Für viele weitere wichtige Gesichtspunkte, Empfehlungen und kritischen Bemerkungen verweist der Ausschuss auf die ausführlichen Kapitel 3 und 4.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  ERA: European Research Area, siehe dazu insbesondere ABl. C 110 vom 30.4.2004 (CES 319/2004) und ABl. C 95 vom 23.4.2003 (CESE 288/2003).

(2)  Auf der Tagung des Europäischen Rates im März 2002 in Barcelona hat sich die EU das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2010 die europäischen Forschungsaufwendungen insgesamt auf 3 % des BIP der EU anzuheben, wobei zwei Drittel aus privatwirtschaftlichen Investitionen und ein Drittel aus dem öffentlichen Sektor (Mitgliedstaaten und EU) stammen sollen. Siehe dazu auch ABl. C 95 vom 23.4.2003.

(3)  ABl. C 204 vom 18.7.2000; ABl. C 221 vom 7.8.2001; ABl. C 260 vom 17.9.2001; ABl. C 94 vom 18.4.2002; ABl. C 221 vom 17.9.2002; ABl. C 61 vom 14.3.2003; ABl. C 95 vom 23.4.2003; ABl. C 234 vom 30.9.2003; ABl. C 32 vom 5.2.2004; ABl. C 110 vom 30.4.2004; ABl. C 302 vom 7.12.2004.

(4)  Siehe dazu später Ziffer 3.3.

(5)  ABl. C 112 vom 30.4.2004.

(6)  (das dort empfohlene Wachstum des Budgets bezog sich auf den Bedarf des Europas der 15 und muss demgemäß auf das Europa der 25 hochgerechnet werden - ABl. C 260 vom 17.9.2001).

(7)  Siehe Punkt 1.2.

(8)  Siehe dazu auch Ziffer 4.2 ff.

(9)  Siehe dazu auch Ziffer 4.6.

(10)  Siehe dazu auch Kapitel 5.4 (ABl. C 95 vom 23.4.2003).

(11)  ABl. C 110 vom 30.4.2004.

(12)  z.B. Kanada, China, Indien, Japan, Korea, Russland und USA.

(13)  Darauf, sowie auf einige damit verknüpfte grundsätzliche Probleme, wurde zudem ausführlich in Kapitel 7. Forschung und technische Innovation der Stellungnahme des Ausschusses zum „Europäischen Forschungsraum“ eingegangen.

(14)  ABl. C 95 vom 23.4.2003; ABl. C 110 vom 30.4.2004.

(15)  Siehe dazu auch Kapitel 5.4 (ABl. C 95 vom 23.4.2003).

(16)  Siehe zudem die Empfehlungen unter Punkt 3.5.

(17)  Eine besonders erfolgreiche Rolle spielt dabei auch das Marie-Curie-Programm, dessen Stärkung empfohlen wird.

(18)  Der Ausschuss bedauert erneut, dass seine gleichlautenden früheren Empfehlungen nicht beachtet wurden.

(19)  Report of an Expert Panel chaired by Prof. Marimon, 21 June 2004, Sixth Framework Programme.

(20)  „Die Gemeinschaft kann gemeinsame Unternehmen gründen oder andere Strukturen schaffen, die für die ordnungsgemäße Durchführung der Programme für gemeinschaftliche Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration erforderlich sind.“

(21)  Siehe dazu auch Punkt 4.7.2.

(22)  Siehe z.B. die Kapitel 7 und 8 (ABl. C 204 vom 18.7.2000).

(23)  Siehe http://sbir.us/pm.html sowie http://www.zyn.com/sbir/funding.htm

(24)  Ziffer 4.2.2, 4.2.3 und 4.2.4 (ABl. C 95 vom 23.4.2003).

(25)  ABl. C 110 vom 30.4.2004.

(26)  Deshalb hat der Ausschuss bereits mehrfach empfohlen, auch innerhalb der für Forschungsförderung zuständigen Bereiche der Kommission ebenso zu verfahren.

(27)  ABl. C 110 vom 30.4.2004 (CESE 305/2004).

(28)  CESE 305/2004; Kapitel 5.18 (ABl. C 110 vom 30.4.2004).

(29)  Siehe Punkt 3.5.

(30)  ABl. C 112 vom 30.4.2004.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/115


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Prüfung des Jahresabschlusses und des konsolidierten Abschlusses und zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates“

(KOM(2004) 177 endg. — 2004/0065 (COD))

(2005/C 157/21)

Der Rat beschloss am 21. April 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 44 Absatz 2 Buchstabe g) des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. September 2004 an. Berichterstatter war Herr FRANK von FÜRSTENWERTH.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 86 gegen 3 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Der Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Prüfung des Jahresabschlusses und des konsolidierten Abschlusses und zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates ist im Zusammenhang mit den anderen EU-Maßnahmen des Aktionsplans für Finanzdienstleistungen zu sehen. Diesbezüglich von Bedeutung sind insbesondere die Kommissionsmitteilung „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union — Aktionsplan“ (KOM(2003) 284), die Anwendung internationaler Rechnungslegungsgrundsätze ab dem Jahr 2005 sowie die Richtlinien über Marktmissbrauch und den Börsenprospekt.

1.2

Die Europäische Kommission verfolgt seit 1996 das Ziel, die Qualität der Abschlussprüfung in der Europäischen Union zu verbessern und zu harmonisieren. Als ein weiteres Zwischenresultat wurde im Mai 2003 ein zehn Punkte umfassender Aktionsplan (Kommissionsmitteilung zur Stärkung der Abschlussprüfung in der EU; KOM(2003) 286) vorgelegt. Ein Punkt des Aktionsplans betrifft die Modernisierung der Achten Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie 84/253/EWG. Mit dem vorliegenden Richtlinienvorschlag soll die Achte Gesellschaftsrechtliche Richtlinie ersetzt werden.

1.3

Mit den Maßnahmen soll das Vertrauen in die Rechnungslegung und die Finanzmärkte wiederhergestellt werden. Dabei ist der Richtlinienvorschlag keine unmittelbare Reaktion auf die jüngsten Bilanzskandale, sondern Konsequenz der seit 1996 verfolgten Politik im Bereich der Abschlussprüfung. Die jüngsten Skandale sind gleichwohl in die Überlegungen einbezogen worden.

2.   Vorschläge der Kommission

2.1

Der Richtlinienvorschlag enthält Bestimmungen zur Zulassung von Abschlussprüfern und Prüfungsgesellschaften, deren kontinuierlichen Fortbildung und ihrer gegenseitigen grenz-überschreitenden Anerkennung.

2.2

Alle Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften sollen an Berufsgrundsätze gebunden werden. Die Grundsätze umfassen die globale Verantwortung des Abschlussprüfers oder der Prüfungsgesellschaft gegenüber der Öffentlichkeit, ihre Integrität und Unparteilichkeit sowie ihre Fachkompetenz und Sorgfalt.

2.3

Die Mitgliedstaaten sollen sicherstellen, dass zugelassene Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften in ein öffentliches Register eingetragen sind.

2.4

Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaft sollen von dem geprüften Unternehmen unabhängig und in keiner Weise an Entscheidungen der Unternehmensleitung beteiligt sein. Von der Abschlussprüfung sollte abgesehen werden, wenn zwischen dem Abschlussprüfer bzw. der Prüfungsgesellschaft und dem geprüften Unternehmen eine finanzielle oder geschäftliche Beziehung, ein Beschäftigungsverhältnis oder eine sonstige Verbindung besteht, die die Unabhängigkeit gefährden könnte.

2.5

Die Anwendung internationaler Prüfungsgrundsätze soll für alle gesetzlichen EU-Abschlussprüfungen verpflichtend sein, sobald diese Grundsätze in EU-Recht übernommen werden.

2.6

Die Mitgliedstaaten sollen eine wirksame öffentliche Aufsicht organisieren, der alle Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften unterliegen. Die Aufsicht unterliegt bestimmten Grundsätzen (bspw. hinsichtlich der Besetzung, der Zuständigkeit und der Transparenz der Aufsicht).

2.7

Der Abschlussprüfer bzw. die Prüfungsgesellschaft soll von der Aktionärshauptversammlung des geprüften Unternehmens bestellt werden. Die Mitgliedstaaten können jedoch vorsehen, dass die Bestellung der vorherigen Zustimmung einer zuständigen Aufsichtsstelle bedarf oder durch Gericht oder eine andere durch einzelstaatliches Recht vorgeschriebene Einrichtung erfolgt.

2.8

Abschlussprüfer bzw. Prüfungsgesellschaften dürfen nur bei Vorliegen triftiger Gründe abberufen werden können. Dabei sind Meinungsverschiedenheiten über Bilanzierungsmethoden oder Prüfverfahren kein triftiger Grund für eine Abberufung.

2.9

Die Kommission schlägt vor, dass die Mitgliedstaaten für angemessene Regelungen sorgen, die eine wirksame Kommunikation zwischen dem Abschlussprüfer bzw. der Prüfungsgesellschaft und dem geprüften Unternehmen sicherstellen. Die Kommunikation soll von dem geprüften Unternehmen angemessen dokumentiert werden.

2.10

Der Richtlinienvorschlag sieht für die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse besondere Bestimmungen vor. Unternehmen von öffentlichem Interesse sind Unternehmen, die aufgrund der Art ihrer Tätigkeit, ihrer Größe oder der Zahl ihrer Beschäftigten von erheblicher öffentlicher Bedeutung sind, insbesondere Unternehmen, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt eines Mitgliedstaates zugelassen sind, sowie Banken, andere Finanzinstitute und Versicherungsunternehmen. Diese Unternehmen haben bspw. einen Prüfungsausschuss zu installieren, der sich aus nicht an der Geschäftsführung beteiligten Mitgliedern des Verwaltungsorgans oder Mitgliedern des Aufsichtsorgans des geprüften Unternehmens zusammensetzt und mindestens ein unabhängiges Mitglied mit Sachverstand in Rechnungslegung und/oder Abschlussprüfung hat. Weiterhin werden die Regelungen betreffend u.a. Unabhängigkeit, Qualitätssicherung, öffentliche Aufsicht und Bestellung des Abschlussprüfers bzw. der Prüfungsgesellschaft verschärft.

2.11

Auf der Grundlage der Gegenseitigkeit sollen die Mitgliedstaaten Prüfer aus Drittländern als Abschlussprüfer zulassen können, sofern sie die Zulassung als Abschlussprüfer, der Richtlinie gleichwertige theoretische Kenntnisse, praktische Fertigkeiten und Integrität sowie das in diesem Mitgliedstaat für die Abschlussprüfung relevante juristische Fachwissen nachweisen können. Ferner werden weitere Grundlagen für die internationale Zusammenarbeit und den Informationsaustausch vorgeschlagen.

2.12

Ein Ausschuss aus Vertretern der Mitgliedstaaten (Regelungsausschuss „Abschlussprüfung“), der die Kommission bei der Ausarbeitung von Durchführungsmaßnahmen unterstützt, soll eingesetzt werden.

2.13

Durch eine Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG sollen Honorare, die dem Abschlussprüfer bzw. der Prüfungsgesellschaft während des Geschäftsjahres für die Jahresabschlussprüfung, für andere Bestätigungsleistungen, für Steuerberatungsleistungen und für sonstige Leistungen gezahlt wurden, anzugeben sein.

2.14

Die Mitgliedstaaten sollen vor dem 1. Januar 2006 die Rechtsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen, erlassen und veröffentlichen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Richtlinienvorschlag, mit dem gewährleistet wird, dass sich Investoren und andere interessierte Kreise auf die Korrektheit der geprüften Unternehmensabschlüsse verlassen können.

3.2

Durch die neue Richtlinie wird ein einheitlicher europäischer Rechtsrahmen für die Abschlussprüfung geschaffen. Dies wird befürwortet.

3.3

Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission weitere Initiativen infolge der Parmalat-Vorgänge ergreifen wird. Die Initiativen umfassen eine Beschleunigung der in dem Aktionsplan von Mai 2003 über die Modernisierung des Gesellschaftsrechts und die Verbesserung der Corporate Governance angekündigten Vorschläge. Die Vorschläge beziehen sich auf (1) die Definition der Rolle nicht-geschäftsführender Direktoren, (2) die Verdeutlichung der Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder für finanzielle und nicht-finanzielle Informationen, (3) die verbesserte Offenlegung gruppeninterner Transaktionen und von Transaktionen mit verbundenen Parteien sowie (4) die volle Offenlegung von Offshore-Gesellschaften in den Abschlüssen und eine sehr viel strengere Überprüfung durch den Gruppenabschlussprüfer auf ihren Inhalt.

3.4

Der Ausschuss greift den von der Kommission in der Mitteilung zur Stärkung der Abschlussprüfung geäußerten Standpunkt wieder auf, dass die Haftung von Abschlussprüfern ein Mittel zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung darstellt (1). Er vertritt jedoch nach wie vor die Ansicht (2), dass die Haftung in einem ausgewogenen Verhältnis zu dem der geprüften Gesellschaft und ihren Aktionären ggf. entstandenen Schaden stehen sollte, und begrüßt die Absicht der Kommission, die weitergehenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Regelungen zur Haftung von Abschlussprüfern zu untersuchen. Der Ausschuss ermutigt die Kommission, die von ihr dazu initiierten Studien zügig voranzutreiben.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Das Ziel der vorgeschlagenen Regelungen zu der Zulassung und der kontinuierlichen Fortbildung von Abschlussprüfern bzw. Prüfungsgesellschaften besteht u.a. darin, das für den Beruf des Abschlussprüfers notwendige Sachwissen sicherzustellen. Aus diesem Grund werden die Regelungen begrüßt.

4.2

Die vorgeschlagenen Berufsgrundsätze werden grundsätzlich positiv bewertet. Die Kommission schlägt vor, Durchführungsmaßnahmen zu Berufsgrundsätzen erlassen zu können. Diese sollten von höchster Qualität sein und sich nach Ansicht des Ausschusses nach internationalen (Code of Ethics der International Federation of Accountants) oder europäischen (Empfehlung der Europäischen Kommission zur Unabhängigkeit des Abschlussprüfers in der EU vom 16.5.2002 (3)) anerkannten Verlautbarungen richten.

4.3

Die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers bzw. der Prüfungsgesellschaft ist nach Auffassung des Ausschusses von großer Bedeutung. Insofern wird der Vorschlag der Kommission, die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers bzw. der Prüfungsgesellschaft durch das Aufstellen von Grundsätzen sicherzustellen, vom Grundsatz her unterstützt. Diese Grundsätze müssen für alle geprüften Gesellschaften und insbesondere für Unternehmen des öffentlichen Interesses gelten, da diese ebenfalls verstärkt zur Transparenz gegenüber ihren Aktionären und potenziellen Investoren verpflichtet sind.

4.4

Die Hinwendung der Kommission zu internationalen Prüfungsgrundsätzen und somit zu den ISA (International Standards on Auditing) wird begrüßt. Deren Anwendung stellt angesichts der Verpflichtung kapitalmarktorientierter Unternehmen, ihren Konzernabschluss ab dem Jahr 2005 auf Basis der IAS (International Accounting Standards) bzw. IFRS (International Financial Reporting Standards) zu erstellen (4), eine sachgerechte Folgemaßnahme dar. Die Entwicklung der internationalen Prüfungsstandards sollte gewissen Grundsätzen folgen, und die Qualität der Standards sollte hohen Ansprüchen genügen. Daher wird das von der Kommission vorgeschlagene Verfahren zur Anerkennung der Standards grundsätzlich unterstützt. Allerdings setzt die Entwicklung von international anerkannten Prüfungsgrundsätzen die Beachtung der Interessen aller beteiligten Parteien und der Öffentlichkeit im Rahmen eines transparenten Standardsetzungsverfahrens („due process“) voraus. Deshalb muss die Kommission ihre Vorschläge frühzeitig und nachdrücklich in den Standardisierungsprozess einbringen.

4.5

Der Vorschlag der Kommission, dass die Mitgliedstaaten eine öffentliche Aufsicht über alle Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften organisieren sollen und die Aufsicht bestimmten Grundsätzen unterliegt, wird grundsätzlich befürwortet.

4.6

Betreffend die Abberufung des Abschlussprüfers bzw. der Prüfungsgesellschaft schlägt die Kommission vor, dass Meinungsverschiedenheiten über Bilanzierungsmethoden oder Prüf-verfahren kein triftiger Grund für die Abberufung sind. Grundsätzlich ist jedoch denkbar, dass ein Unternehmen eine Bilanzierungsmethode anwendet, die allgemein anerkannt ist und dennoch keine Anerkennung durch den Abschlussprüfer findet. Es stellt sich die Frage, wie in derartigen Fällen zu verfahren ist, wenn eine Abberufung des Abschlussprüfers bzw. der Prüfungsgesellschaft nicht möglich sein soll.

4.7

Die vorgeschlagene Regelung zur Kommunikation zwischen dem geprüften Unternehmen und dem Abschlussprüfer bzw. der Prüfungsgesellschaft wird grundsätzlich befürwortet.

4.8

Der Vorschlag der Kommission, für Unternehmen von öffentlichem Interesse besondere Bestimmungen für die Abschlussprüfung einzuführen, wird befürwortet. Die besonderen Anforderungen müssen jedoch in einem ausgewogenen Verhältnis zu dem damit einhergehenden zusätzlichen Aufwand stehen. Denn der zusätzliche Aufwand ist letzten Endes von den Kunden und den Eignern der Unternehmen zu tragen.

4.9

Die Kommission schlägt vor, dass Honorare, die dem Abschlussprüfer bzw. der Prüfungsgesellschaft während des Geschäftsjahres für die Jahresabschlussprüfung, für andere Bestätigungsleistungen, für Steuerberatungsleistungen und für sonstige Leistungen gezahlt wurden, anzugeben sind. Grundsätzlich wird eine erhöhte Transparenz begrüßt. Gleichwohl wird zu bedenken gegeben, dass derartige Pflichtangaben nicht notwendigerweise zu einer erhöhten Qualität der Abschlussprüfung führen werden. So ist es möglich, dass eine zusätzliche Transparenz den Druck auf eine Anpassung der Preise für Abschlussprüfungsleistungen erhöhen könnte.

4.10

Die Kommission schlägt vor, dass es den einzelnen Mitgliedstaaten obliegen soll, für eine angemessene Regelung zu sorgen, die gewährleistet, dass die Honorare für Abschlussprüfungen eine einwandfreie Prüfungsqualität ermöglichen, nicht von der Erbringung zusätzlicher Leistungen für das geprüfte Unternehmen beeinflusst und an keinerlei Bedingungen geknüpft werden. Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass diese Vorschrift als Leitsatz zur Vermeidung von Dumpingpreisen für Prüfungsleistungen gedacht ist. Allerdings stellt sich dem Ausschuss die Frage, wie diese Vorschrift umgesetzt werden soll. Der Ausschuss ist der Überzeugung, dass diese Regelung in der Konsequenz nicht dazu führen darf, dass die Mitgliedstaaten eine Festlegung der Prüfungsgebühren vornehmen.

4.11

Das von der Kommission vorgeschlagene Verfahren zum Erlass von Durchführungsmaßnahmen und die Einrichtung des Regelungsausschusses „Abschlussprüfung“ werden befürwortet, sofern diese Durchführungsmaßnahmen nicht im Widerspruch zu den in Ziffer 4.2 genannten internationalen und europäischen Verlautbarungen stehen.

5.   Internationale Aspekte

5.1

Es wird positiv bewertet, dass die Kommission Regelungen zur internationalen Zusammenarbeit vorschlägt. Dies betrifft insbesondere die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten. Dabei weist der Ausschuss darauf hin, dass bestehende zwingende nationale Regelungen zur Verschwiegenheit und zum Datenschutz beachtet werden müssen.

5.2

Der Richtlinienvorschlag sieht vor, dass Prüfer aus Drittländern auf der Grundlage der Gegenseitigkeit zugelassen werden können, sofern diese bestimmte Nachweise erbringen. Voraussetzung für eine Kooperation mit Drittstaaten ist die Gleichwertigkeit des Aufsichtssystems des Drittstaates mit dem europäischen Aufsichtssystem. Dabei soll die Gleichwertigkeit von der Kommission in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten beurteilt und von der Kommission nach dem Verfahren zum Erlass von Durchführungsmaßnahmen festgestellt werden. Dabei geht der Ausschuss davon aus, dass die Berufsausübung durch Abschlussprüfer aus Drittstaaten von den gleichen Zulassungsvoraussetzungen abhängig ist wie bei Abschlussprüfern aus Mitgliedstaaten der EU.

5.3

Ob das vorgeschlagene Modell zur internationalen Zusammenarbeit allen Aspekten ausreichend Rechnung trägt, ist nicht abschließend zu beantworten. So bedarf es nach Ansicht des Ausschusses einer weiteren Erörterung durch die Kommission, welche Akzeptanz das vorgeschlagene Modell insbesondere durch die zuständigen Behörden der Vereinigten Staaten findet.

6.   Schlussfolgerungen

6.1

Der Ausschuss unterstützt den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie über die Prüfung des Jahresabschlusses und des konsolidierten Abschlusses und zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG. Er ist der Auffassung, dass der Vorschlag nahezu alle wichtigen Bereiche der Abschlussprüfung umfasst. Mit der vollständigen Umsetzung der Richtlinie wird ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung und größeren Vereinheitlichung der Abschlussprüfung geleistet, was der Zielsetzung der Kommission entspricht.

6.2

Der Ausschuss hat ausgewählte Aspekte des Richtlinienvorschlags aufgegriffen, um der Kommission konkrete Hinweise und Anregungen auch für weiterführende Überlegungen und Analysen zu geben. Da der Ausschuss das Richtlinienvorhaben als wichtig ansieht, plädiert er für ein zügiges Gesetzgebungsverfahren.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  ABl. C 236/2-8 vom 2.10.2003, Textziffer 3.10.

(2)  Vergleiche Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 10.12.2003 zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Stärkung der Abschlussprüfung in der EU“ (KOM(2003) 286 endg.) (2004/C 80/06); ABl. C 80/17-19 vom 30.3.2004, Textziffer 4.7.

(3)  ABl. L 191 vom 19.7.2002.

(4)  Einheitliche Interpretationen zu IAS bzw. IFRS sind nach Auffassung des Ausschusses eine wesentliche Voraussetzung für eine hohe Prüfungsqualität.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Die folgende Textstelle der Fachgruppenstellungnahme, deren Beibehaltung mit über einem Viertel der abgegebenen Stimmen gefordert wurde, wurde zugunsten von einem im Plenum angenommenen Änderungsantrag abgelehnt:

Ziffer 4.3

„Der Ausschuss ist jedoch der Auffassung, dass die Einführung einer externen Rotation der Prüfergesellschaft bei der Abschlussprüfung von Unternehmen des öffentlichen Interesses nicht geeignet ist, eine Verbesserung der Prüfungsqualität zu erreichen, da bei der Transformation des mandantenspezifischen Wissens auf einen neuen Prüfer ein Know-how-Verlust und damit eine geringere Prüfungsqualität als bei einer mehrjährigen Erfahrung mit dem Mandanten unvermeidbar ist. Zudem ist zu befürchten, dass eine solche Regelung zu einer Marktkonzentration bei großen Prüfungsgesellschaften zu Lasten mittelständisch geprägter Prüfer führt.“

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:: 50

Nein-Stimmen:: 21

Stimmenthaltungen:: 4


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/120


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: „Anhebung der Beschäftigungsquote älterer Arbeitskräfte und des Erwerbsaustrittsalters“

(KOM(2004) 146 endg.)

(2005/C 157/22)

Verfahren

Die Kommission beschloss am 3. März 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu der obenerwähnten Mitteilung zu ersuchen:

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten des Ausschusses beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. November 2004 an. Berichterstatter war Herr DANTIN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 15. Dezember) mit 125 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

Vorwort

I.

Bereits im Oktober 2000 vertrat der EWSA in einer Initiativstellungnahme folgenden Standpunkt: „Dem Ausschuss erschien das Thema ältere Arbeitnehmer so wichtig, dass er beschloss, es in einer Initiativstellungnahme zu behandeln, die die verschiedenen Aspekte dieser Frage beleuchtet. Zudem will er mit dieser Initiativstellungnahme die Notwendigkeit eines positiven Ansatzes in Bezug auf die älteren Arbeitnehmer unterstreichen, da in vielen Fällen der Umgang mit ihnen nicht nur von einer wenig solidarischen und diskriminierenden Auffassung seitens der Gesellschaft zeugt, sondern häufig auch zum Verlust von hochqualifiziertem Personal und infolgedessen zu einem Absinken der Wettbewerbsfähigkeit insgesamt führt. Der Ausschuss vertritt überdies den Standpunkt, dass in der heutigen Zeit, in der es der wissenschaftliche Fortschritt erlaubt, 'dem Leben Zeit zu geben', im Gegenzug bei der Gestaltung unserer Gesellschaft auch Anstrengungen unternommen werden müssen, um 'der Zeit Leben zu geben'“  (1) .

II.

Der Inhalt der zitierten Initiativstellungnahme, die auf der Plenartagung fast einstimmig angenommen wurde, repräsentiert die gemeinsame Position des Ausschusses. Sie gibt den Stand seiner Überlegungen und seiner Haltung zu dem zu behandelnden Thema wieder.

III.

Die Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: „Anhebung der Beschäftigungsquote älterer Arbeitskräfte und des Erwerbsaustrittsalters“, die Gegenstand dieser Stellungnahme ist, wird folglich anhand der Erwägungsgründe, Analysen, Empfehlungen und Schlussfolgerungen der vorgenannten Initiativstellungnahme untersucht. Darüber hinaus wird die aktuelle Stellungnahme auch neue Elemente enthalten.

1.   Einleitung

1.1

Auf dem Europäischen Rat von Lissabon steckte sich die Europäische Union ein ehrgeiziges Ziel für die Beschäftigungsquote. Diese ist „bis 2010 möglichst nah an 70 % heranzuführen“ und für die Frauen auf über 60 % anzuheben. Die Gründe für diese Zielsetzung sind sozialer wie wirtschaftlicher Art. Beschäftigung ist nach wie vor der beste Schutz gegen soziale Ausgrenzung. Für die Unternehmen, die Wirtschaft insgesamt ist die Anhebung der Beschäftigungsquote älterer Arbeitskräfte besonders wichtig, damit durch vollständige Nutzung des Potenzials ein Arbeitskräftemangel vermieden bzw. gemildert wird. Zugleich soll damit — angesichts des erwarteten Rückgangs der Erwerbsbevölkerung — das Wirtschaftswachstum gefördert, das Steueraufkommen sowie die Systeme der sozialen Sicherheit gesichert werden.

1.2

Die schrittweise Verwirklichung dieses Ziels stellt die meisten Staaten vor die unvermeidliche Aufgabe, vor allem die Beschäftigungsquote der älteren Arbeitnehmer zu erhöhen.

1.2.1

Namentlich aus diesem Grund hat sich die Förderung des aktiven Alterns in den beiden ergänzenden Zielen niedergeschlagen, die sich die EU selbst gesetzt hat. Im Jahr 2001 beschloss der Europäische Rat von Stockholm, dass bis 2010 die Hälfte der EU-Bevölkerung in der Altersgruppe von 55 bis 64 Jahren erwerbstätig sein solle. Der Europäische Rat von Barcelona kam im Jahr 2002 zu dem Schluss, dass „angestrebt werden [sollte], dass das tatsächliche Durchschnittsalter bei Beendigung des Arbeitslebens in der Europäischen Union bis 2010 allmählich um etwa fünf Jahre ansteigt“.

1.3

In ihrem zusammenfassenden Bericht für die Frühjahrstagung des Europäischen Rates 2004 (2) hat die Kommission das aktive Altern als einen der drei vorrangigen Bereiche bezeichnet, in denen die Umsetzung der Lissabon-Strategie ein rasches Handeln erfordert.

1.4

Zweck der Kommissionsvorlage ist es, Informationen in die Debatte über die im Hinblick auf die Zielsetzungen von Stockholm und Barcelona erzielten Fortschritte einzubringen und die Rolle zu unterstreichen, die Regierungen und Sozialpartner bei der Förderung des aktiven Alterns spielen. Sie kommt zugleich der Aufforderung des Europäischen Rates von Barcelona nach, alljährlich zu jeder Frühjahrstagung die Fortschritte auf diesem Gebiet zu analysieren.

1.5

Der Inhalt der aktuellen Stellungnahme stellt den Beitrag des EWSA zur Debatte über die „Beschäftigungsquote älterer Arbeitskräfte“ dar, eine Debatte, die durch die Kommissionsvorlage bereichert wurde und die im Dezember dieses Jahres zu einem vorläufigen Ergebnis kommen soll.

2.   Die Mitteilung

2.1

In der Mitteilung wird bekräftigt, dass mit der Alterung und dem bevorstehenden Rückgang der Erwerbsbevölkerung ältere Arbeitnehmer als das anerkannt werden müssen, was sie sind: ein wichtiger Bestandteil des Arbeitskräfteangebots und ein entscheidender Faktor für die nachhaltige Entwicklung der Europäischen Union.

2.2

Der Mitteilung zufolge sind deshalb politische Maßnahmen unerlässlich, die auch in Zeiten einer allgemein schwachen Beschäftigungsentwicklung für eine Sicherung des Arbeitskräfteangebots und die Beschäftigungsfähigkeit dieser Altersgruppe sorgen.

2.3

Zur Erreichung dieses Ziels weist sie darauf hin, dass ein präventiver, auf der Mobilisierung des gesamten Potenzials aller Altersgruppen in einer Lebenszyklusperspektive basierender Ansatz den Leitgedanken dieser politischen Maßnahmen bilden muss.

2.3.1

Innerhalb dieses Rahmens enthält die Mitteilung im Wesentlichen den Vorschlag, dass die Mitgliedstaaten umfassende Strategien des aktiven Altern entwickeln und umsetzen, die folgende Aspekte umfassen könnten:

finanzielle Anreize, die den vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand weniger attraktiv und den Verbleib im Erwerbsleben lohnender machen;

Zugang zu Maßnahmen der Berufsbildung und zu Strategien des lebenslangen Lernens;

wirksame aktive Arbeitsmarktmaßnahmen;

gute Arbeitsbedingungen, die zum Verbleib im Beruf beitragen, insbesondere in Bezug auf den Arbeitsschutz und flexible Arbeitszeitregelungen.

2.3.2

In der Mitteilung wird überdies darauf hingewiesen, dass sich die Sozialpartner noch stärker beteiligen und engagieren müssen, wenn eine umfassende Strategie des aktiven Alterns konzipiert und umgesetzt werden soll. Es wird deutlich gemacht, dass die Sozialpartner durch den Abschluss von Tarifverträgen eine besonders wichtige Rolle zu spielen haben.

2.4

Es lässt sich feststellen — darauf wird in der vorliegenden Stellungnahme zurückzukommen sein –, dass in der Mitteilung nicht analysiert wird, welche Ursachen der Situation und deren Entwicklung zugrunde liegen (diese sind im Übrigen detailliert und genau beschrieben) und dass sie wenig informativ ist, was die Entscheidungen des Rates von Barcelona betrifft.

3.   Die Fakten

3.1

Bis 2030 wird die Zahl der über 65-Jährigen in den 25 EU-Mitgliedstaaten von 71 Millionen im Jahr 2000 auf 110 Millionen Menschen angestiegen sein, und die Erwerbsbevölkerung wird von heute 303 Millionen Personen auf 280 Millionen sinken, das Verhältnis wird sich dementsprechend von 4,27 auf 2,55 verringern.

3.2

Parallel zu dieser Entwicklung war die Aufteilung der Lebensarbeitszeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten tiefgreifenden Umwälzungen unterworfen.

3.2.1

Die Jugendlichen treten heute aufgrund der verlängerten Schul- und Ausbildungszeit und der Schwierigkeiten, einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden, später ins Erwerbsleben ein (3).

3.2.2

Die Beschäftigungsquote der gesamten Altersgruppe über 55 Jahre ist in Europa und in geringerem Maße in Nordamerika stark zurückgegangen: In der Altersgruppe von 55 bis 64 Jahren lag sie 1999 in der Europäischen Union bei 37 % und in den USA bei 55 % (4). 2002 ließen sich in Europa große Unterschiede zwischen Männern (50,1 %) und Frauen (30,25 %) feststellen; insgesamt betrug der Prozentsatz 40,1 %.

3.2.3

Seit den siebziger Jahren ist die Beschäftigungsquote erheblich und fortlaufend gesunken, mit einer deutlichen Beschleunigung des Rückgangs zwischen 1980 und 1985 (5). So fiel sie zwischen 1971 und 1999 in Frankreich um 47,4 %, in den Niederlanden um 45,8 %, in Spanien um 39 %, in Deutschland um 38,7 %, in Irland um 30 % und in Portugal und dem Vereinigten Königreich über 29 %. Sie betrug 2002 in der Altersgruppe von 55 bis 64 Jahren für die EU-15 40,1 % und für die EU-25 38,7 %. Die Anlage zeigt die Gesamtentwicklung für jeden einzelnen Mitgliedstaat von 1997 bis 2002 (6). Man könnte durchaus von einer Individualisierung der Lebensabschnitte sprechen. Aber dies bedeutet nicht immer, dass dem Einzelnen mehr Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Das frühzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ist in einigen Mitgliedstaaten meist eher erzwungen als auf eine freie Entscheidung zurückzuführen. Die Flexibilität am Ende des Arbeitslebens ist somit Ausdruck der angespannten Lage am Arbeitsmarkt und der damit einhergehenden personalpolitischen Strategien der Unternehmen und Behörden sowie häufig auch der Konzeption der Rentensysteme (7).

3.3

Das Arbeitsleben hat sich also tendenziell von beiden Seiten her verkürzt und ist heute hauptsächlich Gruppen mittleren Alters vorbehalten.

3.4

Die Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen ist für die Beschäftigungspolitik von besonderer Bedeutung. In der Europäischen Union der 15 wird ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung gemeinschaftsweit von 25 % im Jahr 1995 auf 34,4 % im Jahr 2025 steigen. In den skandinavischen Ländern wird dieser Anstieg im Lauf des nächsten Jahrzehnts noch wesentlich stärker ausfallen (8).

3.5

Diese Entwicklung ist mit Blick auf die verstärkte Überalterung der Bevölkerung in der Europäischen Union besonders besorgniserregend (9). Das Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrhundert wird von einem Ereignis geprägt sein, dessen Symbolik eine bedenkliche Realität nicht verbergen kann: die Anzahl der Personen unter 20 Jahren wird geringer sein als die Anzahl der Personen über 60 Jahre. Dabei handelt es sich lediglich um eine Etappe in einer Entwicklung, die in den nächsten fünfzig Jahren dazu führen wird, dass sich die Relation von Personen im Ruhestand zu Personen im Erwerbsalter verdoppelt (von 4 zu 10 auf 8 zu 10) (10).

3.6

In der Mitteilung der Kommission wird jedoch festgestellt, dass bei der Verwirklichung der Ziele von Stockholm und Barcelona in jüngster Zeit Fortschritte erzielt wurden. Tatsächlich hat 2002 die Beschäftigung von älteren Erwerbstätigen um 5,4 % zugenommen, wodurch die Beschäftigungsquote um 1,3 % auf 40,1 % angestiegen ist. Das durchschnittliche Erwerbsaustrittsalter ist von 60,4 Jahren im Jahr 2001 auf 60,8 im Jahr 2002 gestiegen.

3.6.1

Dennoch wäre es verfrüht, so heißt es in der Mitteilung, den Anstieg des Erwerbsaustrittsalters als deutliches Zeichen für einen positiven Trend zu deuten, da lediglich Daten für zwei Jahre vorliegen.

3.6.2

Trotz der Schwierigkeiten, die mit der Umsetzung einiger Reformen in jüngster Zeit verbunden sind, wäre es jedoch nützlich, umso mehr als dies in der Mitteilung fehlt, eine möglichst genaue Analyse der Gründe für diese positive Entwicklung vorzunehmen, um daraus mögliche Strategien abzuleiten.

3.6.3

Ebenfalls notwendig wäre es in diesem Zusammenhang zu beobachten, welchen Anteil die positive Entwicklung hat, die mit Maßnahmen in Zusammenhang steht, deren oberstes, wenn nicht einziges Ziel die Anhebung der Beschäftigungsquote älterer Arbeitkräfte ist — und was den Konsequenzen, den indirekten Ergebnissen von Veränderungen in den Sozialsystemen zuzurechnen ist, die darauf abzielten, deren durch die gegenwärtige Situation und die demografischen Prognosen destabilisierte wirtschaftliche Lebensfähigkeit zu sichern.

3.7

Gleichwohl verließen im Zeitraum von 1995 bis 2002 in der Gruppe der 55- bis 64-Jährigen durchschnittlich lediglich 35 % der Arbeitnehmer den Arbeitsmarkt im gesetzlichen Rentenalter; 22 % gehen in den vorgezogenen Ruhestand, 17 % beenden ihre Tätigkeit aufgrund von Erwerbsunfähigkeit, 13 % aufgrund von individueller oder kollektiver Kündigung, weitere 13 % aus anderen Gründen (11).

3.7.1

Obwohl diese Zahlen sich in den letzten Jahren verbessert haben, sind sie weiterhin aufschlussreich. Während man in den 80er Jahren annehmen konnte, dass die hohe Zahl der Fälle von vorgezogenem Ruhestand und Erwerbsunfähigkeit — letztere gilt teilweise als Ersatz für den Vorruhestand — mit der gewaltigen Umstrukturierung der Industrie in dieser Zeit zusammenhängt, scheint diese Erklärung heute angesichts der Fortdauer dieser Situation — lediglich 35 % der Erwerbstätigen verlassen den Arbeitsmarkt im gesetzlichen Rentenalter — nicht mehr ausreichend.

4.   Lösungsansätze, die Vorschläge der Kommission

4.1

Die Wiederherstellung eines vernünftigen Gleichgewichts zwischen Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen, die Anhebung des durchschnittlichen Renteneintrittsalters, die Aufrechterhaltung einer angesichts der Bevölkerungsprognosen für die Europäische Union optimalen Zahl an Arbeitskräften hängt teilweise von der Erhöhung der Beschäftigungsquote bei den Arbeitskräften über 55 ab. Dies muss selbstverständlich im Rahmen des wünschenswerten Gleichgewichts zwischen Arbeit und Ruhestand, Freizeit und Arbeit erreicht werden, das zu den Werten des europäischen Sozialmodells zählt.

4.2

Ein solcher Richtungswechsel muss im Wege einer sowohl auf Männer als auch auf Frauen ausgerichteten Politik zur Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit während des gesamten Erwerbslebens und der Neuqualifizierung der Arbeitnehmer über 40 mittelfristig geplant werden. Es ist in der Tat schwer, in diesem Bereich an ein spontan harmonisches Szenarium zu glauben, nach dem der Umschwung auf dem Arbeitsmarkt ausreichen würde, damit die Unternehmen ihre älteren Arbeitnehmer halten.

4.2.1

Abgesehen von den konkreten Maßnahmen erscheint es dem Ausschuss von großer Wichtigkeit, dass alles unternommen wird, um die Mentalität der Unternehmer wie der Arbeitnehmer zu ändern und sie zu sensibilisieren. Arbeiten über das Alter von 55 Jahren hinaus muss als aufwertend empfunden werden, und die Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen müssen sich der Vorteile, die ihnen ältere Arbeitnehmer bieten können (Erfahrungsschatz, Know-how, Weitergabe von Wissen usw.), bewusst sein. Ohne diese kollektive Sensibilisierung werden die konkreten Maßnahmen nicht ihre volle Effizienz entfalten können.

4.2.2

Zu diesem Zweck hat der Ausschuss in seiner Initiativstellungnahme vom Oktober 2000 (12)zu diesem Thema der Kommission vorgeschlagen, gemeinsam mit den Mitgliedstaaten eine breit angelegte Informations- und Aufklärungskampagne zu starten, um zu einem positiven Bild von der Rolle älterer Arbeitnehmer in den Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen beizutragen. Darüber hinaus muss die Rolle älterer Personen in der Sozialwirtschaft stärker anerkannt werden; dies betrifft sowohl ihre Aufgaben innerhalb der Familie als auch ihre ehrenamtliche Tätigkeit in der Zivilgesellschaft, den demokratischen Institutionen, den NGO und allgemein im Verbandswesen. Anhand dieser Beobachtungen lassen sich ihre Ressourcen an Dynamik, Innovation und Effizienz konkret messen.

4.2.2.1

Der EWSA stellt erfreut fest, dass der Bericht der „Hochrangigen Gruppe für die Zukunft der Sozialpolitik in einer erweiterten Europäischen Union“, der Ende des ersten Halbjahres 2004 erschienen ist, den Vorschlag des Ausschusses aufgreift.

4.3

In ihrer Mitteilung erläutert die Kommission die „Wesentlichen Voraussetzungen für eine Förderung der Beschäftigung älterer Arbeitskräfte“.

4.3.1   Vorgezogener Ruhestand und finanzielle Anreize

Auf die Feststellung, dass mehr als 20 % der Arbeitnehmer, das heißt etwa 3 Millionen Erwerbstätige, ihren letzten Arbeitsplatz über den Weg der Vorruhestandsregelung verlassen, folgt in der Mitteilung der Vorschlag, die „finanziellen Anreize“ zu überprüfen, um zu gewährleisten, dass sich ein Verbleib auf dem Arbeitsmarkt lohnt.

4.3.1.1

Nach Meinung des Ausschusses ist dieser Vorschlag, der Gemeinsamkeiten mit der Mitteilung „Modernisierung des Sozialschutzes: Arbeit, die sich lohnt“ (13) aufweist, aufgrund der Qualität und der Art der Maßnahmen zu seiner Verwirklichung positiv zu bewerten. Dennoch ändert dieses Konzept, sofern es überhaupt von Nutzen ist, nichts an der Tatsache, dass die objektiven Faktoren der Lage der Arbeitnehmer wie das Niveau ihrer Beschäftigungsfähigkeit, das Personalmanagement während ihres gesamten Erwerbslebens und insbesondere in dessen zweiter Hälfte, aber auch und vor allem ihre durch die Unternehmenspolitik bedingte Situation von entscheidender Bedeutung sind. Andererseits lässt sich auch feststellen, dass die Arbeitnehmer eigene Pläne in Bezug auf ihr Privatleben haben.

4.3.1.2

Vor dem Hintergrund einer ununterbrochenen exponentiellen Weiterentwicklung des Produktionsapparates und der Fertigungsprozesse in einer sich stetig wandelnden Wirtschaft und angesichts eines sich fortlaufend verändernden Marktes müssen sich die Unternehmen anpassen, entwickeln, umstrukturieren, um in einem globalisierten Umfeld bestehen zu können. Zugleich müssen sie ein Gleichgewicht zwischen sozialen und wirtschaftlichen Aspekten finden, um Dynamik und Wachstum zu gewährleisten. Folglich benötigen sie Handlungsspielräume und Bewegungsfreiheit.

4.3.1.3

Diese Handlungsspielräume gewinnen sie meist dadurch, dass sie die Zahl und Art der Arbeitsplätze, die von älteren Arbeitnehmern besetzt werden, nach Bedarf anpassen. Dies ist vor allem im Rahmen von „Sozialplänen“ infolge von Umstrukturierungen der Fall.

4.3.1.4

Neben den „Sozialplänen“ haben die Unternehmen die Möglichkeit, ältere Arbeitnehmer, die sie als wenig produktiv und deren Qualifikationen sie als nicht mehr zeitgemäß ansehen, im Zuge der Verrentung durch jüngere, aber weniger zahlreiche Arbeitskräfte zu ersetzen. Sie erhoffen sich davon eine Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit, während sie gleichzeitig ihre Lohnsumme verringern und ihre Altersstruktur ausgleichen. Selbst wenn sich diese Situation schwer vermeiden lässt, muss festgestellt werden, dass sie zuweilen auf eine unzulängliche Verwaltung der Humanressourcen und auf eine unzureichende Berücksichtigung der Personal- und Qualifikationsbedarfsplanung zurückzuführen ist. Ermöglicht wurde diese Situation i.d.R. — je nach Mitgliedstaat — entweder durch staatliche Regelungen und/oder durch die Sozialversicherungssysteme.

4.3.1.5

Dennoch darf die persönliche Entscheidung der Arbeitnehmer nicht außer Acht gelassen werden. Nur vier von zehn Arbeitnehmern im Vorruhestand hätten ihre berufliche Tätigkeit fortsetzen wollen (14). Abgesehen von den Arbeitnehmern, die wirklich von Invalidität betroffen sind, dürfen der häufig vorhandene Wunsch, auf diesem Weg in einer neuen, attraktiven Form an den Früchten des Wachstums teilzuhaben, und der Überdruss an einer teilweise seit mehr als vierzig Jahren ausgeübten Arbeit, bei der in der Regel eine Diversifizierung der Tätigkeiten, eine Aufwertung der Arbeitsstellen oder eine Stellenrotation in unzureichendem Maße oder gar nicht stattfand, und der sie eine andere Lebensweise anstreben lässt, nicht übersehen werden. Und oft liegt dem freiwilligen Abschied vom Erwerbsleben, der zuweilen erfolgt, weil keine neue, passendere Beschäftigung angeboten wird, das Gefühl zugrunde, schon „genug gegeben“ zu haben,

4.3.1.6

Unter den derzeitigen Bedingungen ist festzustellen, dass das Interesse des Arbeitnehmers und das seines Unternehmens häufig übereinstimmen, oder anders gesagt, dass eine sachliche Allianz gegeben ist, die ihren Ausdruck im Allgemeinen in Tarifabkommen findet, die von den Sozialpartnern auf den verschiedenen Verhandlungsebenen, einschließlich der des Unternehmens, geschlossen werden.

4.3.1.7

Alle hier dargelegten Tatsachen und Probleme werden zur „Rechtfertigung“ des Vorruhestands angeführt. Alle Faktoren dieser Situation, inklusive der unter Ziffer 4.3.2 angeführten Umstände, müssen berücksichtigt werden, wenn sich die Situation ändern soll.

4.3.2   Reform der Vorruhestandsregelung

In der Mitteilung wird auch allgemein die Notwendigkeit, das Vorruhestandssystem zu reformieren, angesprochen. Der EWSA kann sich zu Gunsten dieses allgemeinen Kurses aussprechen, wenn dieser ausschließlich dazu führen soll, dass die älteren Arbeitnehmer beschäftigt bleiben und nicht dazu, sie in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, da das Ziel darin besteht, die Beschäftigungsquote zu erhöhen. Die Kommission hebt zu Recht hervor, dass „selbstverständlich […] den Anreizen für ältere Arbeitskräfte zum Verbleib im Erwerbsleben echte Beschäftigungschancen gegenüberstehen [müssen], da bislang nämlich der Vorruhestand im Wesentlichen ein Mittel ist, das dem Arbeitsmarkt ermöglicht, die durch Langzeitarbeitslosigkeit und Ausgrenzung entstehenden sozialen Kosten aufzufangen. Mit anderen Worten: Der Vorruhestand wurde als Instrument einer“ Beschäftigungspolitik „oder genauer gesagt als Instrument einer Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verwendet. In vielen Staaten lässt sich feststellen, dass diese Instrumente von den Unternehmen für das Personalmanagement genutzt und von den Arbeitnehmern als eine soziale Errungenschaft und ein wohlerworbenes Recht angesehen werden.

4.3.2.1

Zwei Formen des Vorruhestandes verdienen dennoch, näher betrachtet zu werden. Vor allem verdienen sie es, dass man sie mit Umsicht behandelt:

die Frühverrentung im Rahmen tiefgreifender Umstrukturierungen, da ein“ junger „Rentner unter dem Aspekt des sozialen Zusammenhalts besser ist als ein Langzeitarbeitsloser ohne Wiedereinstellungsperspektiven. Es darf nicht vergessen werden, dass die industrielle Umstrukturierung — insbesondere im Rahmen einer erweiterten EU — noch nicht abgeschlossen ist;

die teilweise oder vollständige Frühverrentung mit entsprechenden Einstellungen Arbeitsuchender, da auch hier ein Rentner besser ist als ein Arbeitsloser ohne Aussicht auf Eingliederung ins Erwerbsleben.

4.3.2.2

Überdies kann der Vorruhestand für ältere Arbeitnehmer, deren Arbeitsbedingungen besonders schwierig waren, eine Lösung sein. Denn obwohl sich die Lebenszeit insgesamt verlängert, sind hiervon doch nicht alle gleichermaßen betroffen. Große Unterschiede sind zwischen den einzelnen sozialen Gruppen, insbesondere zwischen“ leitenden Angestellten „und“ Arbeitern„, zu verzeichnen. So lag 1999 die verbleibende Lebenserwartung eines 35-jährigen Angestellten bei 44,5 Jahren, die eines gleichaltrigen Arbeiters bei 38 Jahren (15). Alle Überlegungen über die Lebensarbeitszeit und die Dauer der Nichterwerbstätigkeitsphase müssen diese Daten berücksichtigen. Dieser Ungleichheit zu begegnen ist eine wichtige Aufgabe.

4.3.3   Gute Bedingungen für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz

Völlig zutreffend wird in der Mitteilung hervorgehoben, dass ältere Arbeitnehmer am zweithäufigsten aus dem Beruf ausscheiden, weil sie chronisch krank oder behindert sind. Dies betrifft mehr als 15 % der Erwerbsbevölkerung.

4.3.3.1

Diese Zahlen sind natürlich insofern zu relativieren, als bestimmte Mitgliedstaaten die Erwerbsunfähigkeit entweder zur Korrektur der Arbeitslosenzahlen oder als Ersatz für den Vorruhestand nutzen (16).

4.3.3.2

Auf jeden Fall ist es offenkundig, dass verbesserte Arbeitsbedingungen, die auf Erhaltung der Gesundheit und körperlichen Unversehrtheit während des gesamten Erwerbslebens zielen, dazu beitragen, Arbeitnehmer länger in Beschäftigung zu halten. Ebenso müssen ergonomische Gesichtspunkte, eine genaue Untersuchung der Arbeitsplätze und deren Belastung sowie die Definition der Aufgaben, ihre Änderung und Nachbesserung, kurzum ein das ganze Erwerbsleben hindurch qualitativ hochwertiger Arbeitsplatz bei der Frage, wie man ältere Arbeitnehmer in der letzten Phase ihres Berufslebens länger in Beschäftigung halten kann, im Mittelpunkt stehen.

4.3.3.3

Dennoch darf nicht allgemein die Schwerbehinderung als eine Situation angesehen werden, die systematisch den Austritt aus dem Erwerbsleben zur Folge hat. Die Erwerbstätigen, die im Laufe ihres Berufslebens von einer Behinderung betroffen werden, stellen ein potenziell sehr wertvolles Humankapital dar. Mit den notwendigen Anpassungen, Rehabilitations- und zusätzlichen Bildungsmaßnahmen können sie für andere Tätigkeiten als diejenigen, die sie aufgrund ihrer Behinderung nicht mehr ausüben können, beträchtliche Fähigkeiten erwerben. Unter diesem Aspekt, und um eine größere Leistungsfähigkeit zu erlangen, könnte es von Nutzen sein, die Auswirkung des gleichzeitigen Bezugs von Invalidenrente und Einkünften aus Erwerbstätigkeit zu untersuchen.

4.3.4   Flexible Formen der Arbeitsorganisation

4.3.4.1

Flexible Formen der Arbeitsorganisation in der Phase vor dem gesetzlichen Rentenalter sind ein weiterer Bestandteil der Arbeitsbedingungen, mit denen das Erwerbsaustrittsalter älterer Arbeitnehmer angehoben werden kann. Untersuchungen auf nationaler Ebene zeigen, dass ein erheblicher Anteil älterer Arbeitnehmer einen allmählichen Austritt, vor allem wegen altersbedingter Gesundheitsprobleme, aber auch um den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand zu erleichtern, vorziehen würde. Der Eintritt in den Ruhestand sollte kein punktuelles Ereignis, sondern ein Prozess sein, d.h. die Betroffenen sollten die Möglichkeit haben, ihre Arbeitsstunden fortlaufend zu reduzieren.

4.3.4.2

Setzt man also fast ausschließlich auf das Erwerbsaustrittsalter, werden die Beschäftigungsbedingungen älterer Arbeitnehmer außer Acht gelassen. Die positiven Maßnahmen der Neuregelung des Erwerbsaustritts, wie die Altersteilzeit, wurden meist durch das Festhalten am totalen Vorruhestand zunichte gemacht und haben sich dementsprechend nicht so entwickelt, wie es wünschenswert wäre. Diese Situation bedarf einer Veränderung. Der Eintritt in den Ruhestand sollte weniger ein Ereignis sein, das man möglichst weit vorzuziehen versucht, sondern vielmehr zu einem“ selbstgewählten und allmählichen „Prozess werden, innerhalb dessen die Erwerbstätigen — im Rahmen tariflicher Garantien — nach und nach ihre Arbeitszeit reduzieren können.

4.3.5   Ständiger Zugang zu Fortbildungsmaßnahmen

Eine Auffassung, die stärker in den Vordergrund treten sollte, lautet:“ Wenn das Produktivitätspotenzial älterer Arbeitnehmer nicht ausgeschöpft wird, dann nicht wegen ihres Alters, sondern weil ihre Qualifikationen veraltet sind, was sich aber durch Fortbildung wettmachen ließe„ (17).

Es ist also deutlich zu machen, dass es nicht ausreicht, eine Politik für die Altersgruppen ab 40 oder 50 Jahren zu verfolgen. Denn, so stellte der Conseil supérieur de l'emploi (Oberster Rat für Beschäftigung) in Belgien völlig zu Recht fest:“Eine Politik zur Lösung der Probleme älterer Arbeitnehmer greift zu spät, wenn sie nur auf diese Personengruppe abgestellt ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Personalpolitik, die das Alter vom Eintritt des Arbeitnehmers ins Erwerbsleben an berücksichtigt (18).

4.3.5.1

Während das Motto des“ lebensbegleitenden Lernens „schon zu einer“ alten Leier„, einem zentralen Element der europäischen Beschäftigungspolitik geworden ist, gibt der Prozentsatz an Arbeitnehmern, die an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, doch Anlass zur Beunruhigung. Für die Altersgruppe der 25 bis 29-Jährigen beträgt dieser Prozentsatz durchschnittlich 14 %, nimmt dann mit zunehmendem Alter nach und nach ab und sinkt schließlich auf 5 % in der Altersgruppe der 55 bis 64-Jährigen (19). Diese Tendenz hat sich in den letzten Jahren nur ganz geringfügig, wenn überhaupt, verbessert.

4.3.5.2

In einem Produktionssystem, in dem die Arbeitsplätze in immer stärkerem Maße von Technik und Know-how abhängen, gibt diese Situation zur Beunruhigung Anlass, nicht nur in Bezug auf die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer, sondern in stärkerem Maße auch im Hinblick auf die europäische Wettbewerbsfähigkeit. Es ist wünschenswert, wenn nicht gar unumgänglich, diese Situation zu überwinden:

durch die Unternehmen, die Fortbildungsmaßnahmen als mittel- und langfristige Investitionen in ihre Strategie integrieren müssen und nicht als eine Maßnahme, die schnellen, wenn nicht gar unmittelbaren Profit abwirft;

durch die Arbeitnehmer, denen es zuweilen schwer fällt, an Fortbildungsmaßnahmen teilzunehmen, entweder aufgrund mangelnder Motivation — was häufig bei Arbeitskräften mit geringem Qualifikationsniveau oder Ungelernten der Fall ist — oder weil sie sich aufgrund schulischen Versagens unfähig fühlen, oder auch weil sie wegen ihres baldigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben keine Veranlassung dafür sehen.

4.3.5.3

Natürlich kann bei diesem Problem die Rolle der Sozialpartner auf allen Verhandlungsebenen von entscheidender Bedeutung sein. Zu diesem Zweck stellt der“ Aktionsrahmen für den lebenslangen Ausbau von Kenntnissen und Qualifikationen„, der von den europäischen Sozialpartnern geschlossen wurde, eine große Bemühung dar, lebensbegleitendes Lernen in allen Altersgruppen zu fördern. Zugleich ist auch die Rolle der öffentlichen Hand, die die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen zur Förderung des arbeitsbegleitenden Lernens gewährleisten muss, von größter Bedeutung.

4.3.5.4

Dennoch dürfen die berufliche Bildung und die lebensbegleitende Aus- und Fortbildung nicht isoliert betrachtet werden, sondern sollten grundlegende Elemente bei der Karriereplanung von Erwerbstätigen darstellen. In jeder Altersgruppe sollte ausreichend Motivation zur Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen vorhanden sein, und zwar durch Höherbewertung von Kompetenzen und Dynamisierung der beruflichen Laufbahnen. In dieser Hinsicht sind Bewertungssysteme und die Validierung des beruflichen Erfahrungswissens Konzepte, die im Rahmen individueller beruflicher Planung in Verbindung mit der Planung des Unternehmens weiter entwickelt werden müssen.

4.3.5.5

Die Europäische Union steht vor einer großen Herausforderung, von der zum Teil der Erfolg der Lissabon-Strategie abhängt. Es müssen allgemein mehr Erwerbstätige an beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen und dadurch das allgemeine Kenntnis- und Kompetenzniveau älterer Arbeitnehmer verbessert werden.

4.3.6   Wirksame aktive Arbeitsmarktpolitik

4.3.6.1

Der EWSA teilt die in der Mitteilung vertretene Ansicht, dass“ eine wesentliche Voraussetzung für eine längere Erwerbstätigkeit […] die Vorwegnahme von Veränderungen und die erfolgreiche Steuerung wirtschaftlicher Umstrukturierungen [ist]. „Diese Analyse stimmt überein mit einem der Gründe für die in der vorliegenden Stellungnahme unter Punkt 4.3.1.4 untersuchten Situationen, wo im Wesentlichen dargelegt wird, dass diese Situation insbesondere auf eine unzureichende Berücksichtigung der Personal- und Qualifikationsbedarfsplanung zurückzuführen ist“.

4.3.6.2

Der EWSA teilt ebenfalls die Auffassung, wonach „Gezielte Ansätze für individuelle Bedürfnisse wie Beratung, bedarfsgerechte Fortbildung und Outplacement-Systeme […] hier besonders wichtig [sind].“ Um dies zu verwirklichen kann es nützlich sein, die Arbeitslosenleistungen aktiv für qualifizierende und weiterbildende Maßnahmen einzusetzen, um somit die Einstellung von älteren Arbeitslosen zu erleichtern, wobei zugleich das Recht auf Arbeitslosengeld beibehalten und eine Beratung angeboten wird, die zur Annahme einer anderen Arbeit oder zur Selbstständigkeit ermuntert.

4.3.6.3

Die Umsetzung der „wirksamen aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen“ betrifft gleichermaßen die Arbeitsplatznachfrage wie das Arbeitsplatzangebot. Unter diesem Gesichtspunkt entsprechen die Empfehlungen, die den Kern der Mitteilung bilden, dem vom Ausschuss begrüßten Grundsatz, da dieses Gleichgewicht eine der Bedingungen für einen spürbaren Fortschritt darstellt.

4.3.7   Verbesserung der Arbeitsplatzqualität

4.3.7.1

In der Mitteilung wird zu Recht hervorgehoben, dass die Qualität des Arbeitsplatzes allgemein von ausschlaggebender Bedeutung ist, wenn es darum geht, ältere Arbeitnehmer wieder für den Arbeitsmarkt zu gewinnen. Der Rückzug aus dem Erwerbsleben ist unter den älteren Arbeitnehmern mit gering qualifizierten Stellen bis zu viermal höher als bei Arbeitnehmern in hochqualifizierten Positionen, aber auch doppelt so hoch wie bei jungen Arbeitnehmern in geringer qualifizierten Positionen (20). Hier hätte die Mitteilung der Kommission an Präzision gewonnen und eine Diskussion auslösen können, wenn der Versuch unternommen worden wäre, den Begriff „Arbeitsplatzqualität“ zu definieren und man sich bemüht hätte, den Lösungsansatz zur Durchführung des Konzeptes zu skizzieren. Zumindest eine Zusammenfassung der Ansätze der vorangehenden Texte (KOM(2003) 728 vom 26.11.2003; der Bericht Beschäftigung in Europa 2002) wäre nützlich gewesen.

4.4   Weitere Vorschläge und Überlegungen

Allgemein wird die Verwirklichung der Strategie/Anhebung des Erwerbsaustrittsalters ebenso wie der in Lissabon vereinbarten Leitlinien wirksamer sein, wenn sie von einer stabilen Wachstumsquote, die sich günstig auf die Beschäftigung auswirkt, begleitet werden.

Die offene Koordinierungsmethode wird für die verschiedenen Aspekte in Zusammenhang mit dem Eintritt in den Ruhestand angewandt. Dennoch wird in der Mitteilung in Bezug auf das „aktive Altern“ ein „Peer-Review-Verfahren“ erwähnt, das im Zusammenhang mit der Europäischen Beschäftigungsstrategie geschaffen wurde. Es ist schwer nachzuvollziehen, aus welchen Gründen zwei verschiedene Prozeduren zur Anwendung kommen sollten. Aus Pragmatismus und aus Gründen der Effizienz erscheint es nützlich, das Konzept des „Erwerbsaustrittsalters“, also der Rente insgesamt, in den Mittelpunkt zu stellen und dementsprechend der offenen Koordinierungsmethode den Vorzug zu geben.

Unter Bezugnahme auf die Leitlinien des Europäischen Rates von Stockholm sowie die vorangehenden Kapitel unterstützt der EWSA die in der Mitteilung in Betracht gezogenen Maßnahmen. Da es sich um die „Task-force für Beschäftigung“ handelt, wird man sich auf die Stellungnahme des Ausschusses beziehen, die sich mit dem Inhalt dieses Berichtes befasst (21).

Dennoch können auch andere Denkmodelle und Überlegungen vorgebracht oder präzisiert werden.

4.4.1   Die Einstellung von Arbeitnehmern

Die Einstellung ist für die Beschäftigungsquote von strategischer Bedeutung (22). Dieser Aspekt ist jedoch bei den allgemeinen Überlegungen außer Acht gelassen worden. In der Mitteilung stellt dieser Aspekt, der sowohl den psychologischen Ansatz des Problems als auch die Diskriminierung, und dementsprechend die Achtung der Grundrechtecharta der Europäischen Union umfasst, keinen der zentralen Punkte dar.

4.4.1.1

Dennoch ist es wichtig, gegen alle Formen von Diskriminierung bei der Einstellung, insbesondere auch gegen altersbedingte Diskriminierungen, wie sie in der Vorlage der Kommission angesprochen werden, vorzugehen. Bei den Methoden der Personalauswahl darf das Alter kein Auswahlkriterium sein, es sollte im Gegenteil stärker versucht werden, die fachliche Qualifikation, die sich jeder Einzelne durch Erfahrung im Laufe seines Berufslebens angeeignet hat, zu erkennen und besser zu nutzen. Es ist sicherlich auch wichtig, den Wünschen und Entscheidungen dieser Arbeitnehmer und insbesondere dem Wunsch nach Staffelung der Arbeitsdauer, Arbeitsverteilung, Arbeitszeiten nachzukommen.

4.4.1.2

Unter diesem Gesichtspunkt ist es zum Beispiel aufschlussreich, dass in bestimmten Mitgliedstaaten zahlreiche Auswahlverfahren für eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst einer Altersgrenze unterliegen — in den meisten Fällen liegt diese bei etwa 40 Jahren. Dies bedeutet, dass ein Arbeitsuchender, der älter ist als 40 Jahre und aus dem Privatsektor kommt, keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst hat. Diese Ausgrenzung ist unannehmbar. Sie macht es einem Arbeitsuchenden, auch wenn er qualifiziert oder gar hochqualifiziert ist und dem Anforderungsprofil der zu besetzenden Stelle entspricht, unmöglich, einen vorhandenen Arbeitsplatz einzunehmen, während zugleich dem öffentlichen Dienst die Erfahrung eines Erwerbstätigen aus dem Konkurrenzsektor vorenthalten bleibt. In dieser Frage ist die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten gefragt. In Bezug auf die Europäische Union ist hervorzuheben, dass die Kommission erst im April 2002 nach Bemerkungen des Europäischen Bürgerbeauftragten der Abschaffung der Altersgrenzen bei ihren Einstellungsverfahren zugestimmt hat. Erst kürzlich, im Juli 2004, hat der Bürgerbeauftrage die Kommission aufgrund einer Klage ersucht, die Altersgrenze für die Einstellung von Praktikanten abzuschaffen. Er vertrat die Auffassung, dass es sich hierbei um eine ungerechtfertigte Diskriminierung handele, der Kläger wies seinerseits darauf hin, dass diese Praxis mit der Grundrechtecharta der EU nicht vereinbar sei.

4.4.1.3

Im Übrigen ist festzuhalten, dass die Zunahme der Frühverrentungen die Geringschätzung der älteren Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt und dementsprechend bei der Personalauswahl verstärkt hat. Die Absenkung der Altersgrenzen zur Erleichterung der Entlassung in den Vorruhestand hatte entscheidende Folgen für diese Arbeitnehmer, da sie die Auffassung der Arbeitgeber über die Altersgrenze, ab der Arbeitnehmer als „zu alt“ gelten können, verändert hat.

4.4.1.4

Vom psychologischen Standpunkt aus gesehen fühlt der durch das Vorgehen der Unternehmen beeinflusste ältere oder alternde Arbeitnehmer außerdem unterschwellig, dass er nicht mehr in erster Linie als jemand angesehen wird, der auf die wohlverdiente Rente und Zeit der Ruhe zugeht, sondern als „arbeitsunfähig“ oder „vermittlungsunfähig“ gilt. Wenn fast die Hälfte der Rentenempfänger über den Weg der „Invalidität“ vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden, wie das in einigen Staaten der Europäischen Union der Fall war, so entsteht die Tendenz, den Ruhestand nicht mehr als Periode der Erholung, auf die der Arbeitnehmer Anspruch hat, sondern der Erwerbsunfähigkeit zu begreifen. Eine derartige Auffassung vom Alter führt dadurch, dass die Betroffenen regelrecht abgestempelt werden, zu Verhaltensänderungen, denn sie leistet beim Arbeitnehmer dem Eindruck der Ausgrenzung aus dem Unternehmen wie aus dem Arbeitsmarkt oder sogar aus der ganzen Gesellschaft Vorschub und kann seine tatsächliche Ausgrenzung zur Folge haben.

4.4.1.5

Im gleichen Sinne wie die Grundrechtecharta der Europäischen Union hat die Richtlinie 2000/78/EG einen allgemeinen Rahmen für die Gleichbehandlung auf dem Gebiet der Beschäftigung und Arbeit geschaffen. Unter bestimmten Bedingungen verbietet diese insbesondere Diskriminierungen aus Altersgründen. Diese Richtlinie musste spätestens bis Dezember 2003 umgesetzt werden. Es wäre nützlich, in absehbarer Zeit eine Bilanz ihrer Anwendung zu ziehen und auf diese Weise die Reichweite ihrer Wirkung zu messen.

4.4.2   Flexibilisierung

Im Bezug auf den vorgezogenen Ruhestand sind sowohl das Konzept des flexiblen Rentenalters als auch die flexiblen Formen der Arbeitsorganisation geprüft worden (4.3.2). Die gleiche Überlegung gilt für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben im gesetzlichen Rentenalter. Tatsächlich hätten vier von zehn Arbeitnehmern ihre Berufstätigkeit (23) entweder aus beruflichen, familiären oder persönlichen Gründen gerne fortgesetzt (24). Um diesen Erwartungen entgegenzukommen, müssten flexiblere Formen des Ausscheidens aus dem Berufsleben gefunden werden.

4.4.2.1

Es muss den Arbeitnehmern ermöglicht werden, ihre Beschäftigung schrittweise und nicht, wie es heute meistens der Fall ist, im gesetzlichen Rentenalter abrupt aufzugeben, was auch als „Fallbeil-Ruhestand“ bezeichnet werden kann. Es sollten Vorkehrungen getroffen werden, die es den Erwerbstätigen am Ende ihres Berufsleben erlauben, drei Viertel, ein Drittel oder die Hälfte der Zeit zu arbeiten. Um dieses Konzept voranzubringen, müsste man die Auswirkungen untersuchen, die die Einführung eines Gehalts haben könnte, das proportional höher ist als der Anteil an Arbeitsstunden.

4.4.2.2

Ihre Präsenz am Arbeitsplatz könnten sie zum Beispiel dazu nutzen, ihre Berufserfahrung jüngeren Mitarbeitern, insbesondere durch die Einrichtung von Mentorschaften, durch Unterstützung sowie durch abwechselnde Mitwirkung bei Ausbildung (25) und Schulungen zu vermitteln. Hierdurch würden alle Beteiligten gewinnen: der freiwillig Erwerbstätige, der einer Tätigkeit nachgehen könnte, die sein Selbstwertgefühl steigert, das Unternehmen, das ein Know-how bewahren und weitervermitteln könnte und die Allgemeinheit, durch eine höhere Beschäftigungsquote.

4.4.3   Die Frauen und die Chancengleichheit

In der Mitteilung wird die bei älteren Frauen und Männern unterschiedliche Beschäftigungsquote hervorgehoben; mit 30,5 % bzw. 50,1 % ist ihre Differenz beträchtlich. Bezogen auf das Durchschnittsalter beim Austritt aus dem Berufsleben ist der Unterschied gering (26) (siehe Anlage 3).

4.4.3.1

Der Unterschied bei der Beschäftigungsquote in dieser Altersgruppe entspricht einem Kohorteneffekt, der allgemein die Zusammensetzung des Arbeitsmarktes wiedergibt. Es ist bemerkenswert, dass dieser Unterschied keine Auswirkungen hat und sich nicht im Durchschnittsalter beim Austritt aus dem Erwerbsleben niederschlägt.

4.4.3.2

Die Anhebung der Beschäftigungsquote von Frauen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung der Ziele von Stockholm. Die Beschäftigungsquote dieser Altersgruppe ergibt sich im Wesentlichen aus der Beschäftigungsquote der vorhergehenden Altersstufe. Im Mittelpunkt der Problematik steht folglich die Beschäftigungsquote von Frauen allgemein und nicht nur ihr Erwerbsaustrittsalter.

4.4.3.3

Dieses Thema wirft auch — abgesehen von den damit einhergehenden wirtschaftlichen Folgen — Fragen der Gerechtigkeit auf, die der Ausschuss mehrfach angeführt hat, sei es im Hinblick auf schulische Ausrichtung, das Niveau der Berufsausbildung, den gleichen Lohn oder die übertragene Verantwortung bei gleicher Qualifizierung.

4.4.3.4

Die Anhebung der Beschäftigungsquote von Frauen ist notwendigerweise verbunden mit einer Verbesserung ihrer Zugangsbedingungen zum Arbeitsmarkt. Um dies zu erreichen, müssen Maßnahmen getroffen werden, die es Männern und Frauen in gleicher Weise erlauben, Berufs- und Privatleben miteinander zu verbinden; hierzu muss ein Netz von sozialen Dienstleistungen entwickelt werden, das die privaten Versorgungs- und Pflegebedürfnisse, u.a. für Minderjährige (insbesondere durch die Einrichtung eines Betreuungssystems für Kleinkinder; siehe Anlage 3) und für pflegebedürftige Personen (ältere Menschen, Kranke …) abdecken kann.

4.4.4   Die Tarifverhandlungen

In der Mitteilung wird darauf hingewiesen, dass „trotz dieser neuen Entwicklungen die Sozialpartner sowohl auf nationaler als auch europäischer Ebene ihre Anstrengungen, eine neue Kultur in der Alterungsfrage und dem Management des Wandels einzuführen, verbreiten und vertiefen [sollten]. Viel zu oft setzen die Arbeitgeber auf Regelungen für einen frühzeitigen Erwerbsaustritt“.

4.4.4.1

Der EWSA befürwortet an dieser Stelle den in der Mitteilung vertretenen Ansatz, der im Kern dem sozialen Dialog eine unverzichtbare Rolle bei der Erlangung signifikanter Fortschritte zuschreibt. Der Ausschuss begrüßt und unterstützt den Vorstoß und das Anliegen der Kommission und geht über deren Anregungen hinaus. Wenn der soziale Dialog und insbesondere die Tarifverhandlungen auf nationaler und europäischer Ebene intensiviert werden sollen, müssten diese auch „maßgeschneiderte“ Möglichkeiten umfassen, da es für universelle Rahmenbedingungen immer weniger Anwendungsmöglichkeiten gibt. Die Tarifverhandlungen sollten deshalb, um den besonderen Bedingungen von Berufen im Hinblick auf Arbeitsbelastung, Arbeitsbedingungen und -organisation gerecht zu werden, die Berufssparten auf europäischer und nationaler Ebene miteinbeziehen.

5.   Anhebung des durchschnittlichen Erwerbsaustrittsalters

5.1

Unter Punkt 32 der Schlussfolgerungen legt der Vorsitz des Rates von Barcelona im Hinblick auf die aktuelle Beschäftigungspolitik fest, dass unter anderem

„angestrebt werden [sollte], dass das tatsächliche Durchschnittsalter des Eintritts in den Ruhestand in der Europäischen Union bis 2010 allmählich um etwa 5 Jahre ansteigt.“

5.2

Alle Analysen und Vorkehrungen, die in den vorangehenden Abschnitten erörtert worden sind und die insbesondere die Beschlüsse des Rates von Stockholm betreffen, die „Beschäftigungsquote für ältere Männer und Frauen (zwischen 55 und 64) auf 50 % zu steigern“, leisten einen Beitrag, die Leitlinien von Barcelona umzusetzen. Tatsächlich trägt jeder Arbeitnehmer zwischen 55 und 64 Jahren, der seinen Austritt aus dem Erwerbsleben hinauszögert, dazu bei, das tatsächliche Durchschnittsalter des Eintritts in den Ruhestand in der Europäischen Union zu steigern.

5.3

Die Umsetzung der Beschlüsse von Stockholm ist die zentrale Antriebskraft für eine positive Entwicklung der Leitlinien des Rates von Barcelona. Dabei kann „die allmähliche Steigerung des tatsächlichen Durchschnittsalters des Eintritts in den Ruhestand“ getrennt von der „Steigerung der Beschäftigungsquote für ältere Männer und Frauen (zwischen 55 und 64)“ weder untersucht noch beurteilt werden.

5.4

Angesichts der Schwierigkeiten, die bei der Steigerung der Beschäftigungsquote von Arbeitnehmern zwischen 55 und 64 Jahren zu beobachten sind, wäre es in der Tat nicht sinnvoll, das Konzept von Barcelona isoliert zu betrachten. Dies könnte nahe legen, das gesetzliche Rentenalter zu erhöhen, damit diese Ziele umgesetzt werden.

5.5

Die Erwägung einer solchen Möglichkeit wäre wenig konsequent, da es den Arbeitnehmern, die dies wünschen, heute schon zuweilen verwehrt wird, bis zum gesetzlichen Rentenalter zu arbeiten.

6.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

6.1

Der Ausschuss bestätigt die allgemeine Linie seiner Initiativstellungnahme: „Ältere Arbeitnehmer“ vom Oktober 2000: „er [unterstreicht] mit dieser Initiativstellungnahme die Notwendigkeit eines positiven Ansatzes in Bezug auf die älteren Arbeitnehmer […], da in vielen Fällen der Umgang mit ihnen nicht nur von einer wenig solidarischen und diskriminierenden Auffassung seitens der Gesellschaft zeugt, sondern häufig auch zum Verlust von hochqualifiziertem Personal und infolge dessen zu einem Absinken der Wettbewerbsfähigkeit insgesamt führt“.

6.1.1

Im Rahmen dieser Leitlinie begrüßt der Ausschuss, dass der Europäische Rat bei seiner Frühjahrstagung 2004 das aktive Älterwerden als einen der drei vorrangigen Bereiche bezeichnet, in denen die Umsetzung der Lissabon-Strategie ein rasches Handeln erfordert. In dieser Hinsicht begrüßt der Ausschuss das Bemühen der Kommission, durch die vorliegende Mitteilung Informationen in die Debatte über die im Hinblick auf die Zielsetzungen von Stockholm und Barcelona erzielten Fortschritte einzubringen und die Rolle zu unterstreichen, die Regierungen und Sozialpartner bei der Förderung des aktiven Alterns spielen.

6.2

Der EWSA befürwortet im Großen und Ganzen die Wahl der Hauptthemen, die das Herzstück der Mitteilung bilden. Diese Themen einschließlich ihres Lösungsansatzes sind vorbehaltlich der Qualität und der Art der zur Umsetzung gewählten Elemente sowie der in der vorliegenden Stellungnahme enthaltenen Beobachtungen positiv zu bewerten: Dies gilt für den vorgezogenen Ruhestand und finanzielle Anreize, die Reform der Vorruhestandsregelung, flexible Formen der Arbeitsorganisation, gute Bedingungen für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz oder auch die Verbesserung der Arbeitsplatzqualität.

6.2.1

Dennoch hält es der Ausschuss neben den gewählten Themen und den konkreten Maßnahmen für sehr wichtig, dass alles unternommen wird, um die Mentalität der Unternehmer wie der Arbeitnehmer zu ändern und sie zu sensibilisieren. Arbeiten über das Alter von 55 Jahren hinaus muss als aufwertend empfunden werden, und die Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen müssen sich der Vorteile, die ihnen ältere Arbeitnehmer bieten können (Erfahrungsschatz, Know-how, Weitergabe von Wissen usw.), bewusst sein. Ohne diese kollektive Sensibilisierung werden die konkreten Maßnahmen nicht ihre volle Effizienz entfalten können.

6.2.2

Zu diesem Zweck schlägt der Ausschuss der Kommission, wie bereits in seiner Initiativstellungnahme vom Oktober 2000, vor, gemeinsam mit den Mitgliedstaaten eine breit angelegte Informations- und Aufklärungskampagne der wichtigsten Akteure der Gesellschaft ganz allgemein zu starten, um zu einem positiven Bild von der Rolle älterer Arbeitnehmer in den Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen sowie in der Gesellschaft insgesamt beizutragen.

6.2.2.1

Der EWSA stellt erfreut fest, dass der „Bericht der Hochrangigen Gruppe für die Zukunft der Sozialpolitik in einer erweiterten Europäischen Union“, der Ende des ersten Halbjahres 2004 erschienen ist, den Vorschlag des Ausschusses übernommen hat.

6.3

Überdies vertritt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss folgende Auffassung:

6.3.1

Alle Maßnahmen, die zur Umsetzung der Beschlüsse von Stockholm oder Barcelona getroffen werden, sollten ausschließlich dazu führen, ältere Arbeitnehmer an ihrer Arbeitsstelle zu halten oder sie wieder in Lohn und Brot zu bringen. Da das Ziel darin besteht, die Beschäftigungsquote zu erhöhen und das Erwerbsaustrittsalter anzuheben, muss ausgeschlossen werden, dass Veränderungen der gegenwärtigen Situation, insbesondere bei der Vorruhestandsregelung, zu Arbeitslosigkeit führen. Allgemein ist der in der Mitteilung vertretenen Ansicht zuzustimmen, dass „selbstverständlich […] den Anreizen für ältere Arbeitskräfte zum Verbleib im Erwerbsleben echte Beschäftigungschancen gegenüberstehen [müssen].“

6.3.2

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Anhebung der Beschäftigungsquote insgesamt beziehungsweise die der 55 bis 64-Jährigen mit durch die Anhebung der Beschäftigungsquote der unzureichend vertretenen Kategorien potenzieller Arbeitnehmer zu erreichen ist. Unter diesem Gesichtspunkt müssen umfassende Maßnahmen ergriffen werden, um alle Arbeitskraftreserven in der Europäischen Union zu mobilisieren; dies betrifft insbesondere junge Menschen, die nur all zu oft in einer demotivierenden Arbeitslosigkeit gefangen sind, ein Umstand, der in Bezug auf die künftige Entwicklung der Gesamtbeschäftigungsquote ebenso wie die der Frauen und Behinderten besorgniserregend ist.

6.3.3

Die berufliche Bildung und die lebensbegleitende Aus- und Fortbildung dürfen nicht isoliert betrachtet werden, sondern sollten grundlegende Elemente bei der Karriereplanung von Erwerbstätigen darstellen. Unabhängig von Altersgruppe oder Ausbildung sollte ausreichend Motivation zur Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen vorhanden sein, und zwar durch Höherbewertung von Kompetenzen und Dynamisierung der beruflichen Laufbahnen. Nur unter dieser Bedingung ist ein adäquates Kompetenzniveau und entsprechende Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer zu erreichen.

6.3.3.1

Es ist hervorzuheben, dass allgemein, über die Berufsbildung hinaus, alle Maßnahmen, die Bestandteil einer Strategie zur Anhebung der Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer sind, nicht erst in der Altersgruppe der 40 bis 50-Jährigen umgesetzt werden dürfen. Eine Politik, die die Situation älterer Erwerbstätiger ändern will, greift zu spät, wenn sie nur auf diese Gruppe der Arbeitnehmer abzielt. Aus diesem Grunde ist eine Personalverwaltung notwendig, die das Alter vom Beginn der Erwerbstätigkeit an berücksichtigt.

6.3.4

Die Einstellung von Arbeitnehmern muss bei der Problematik im Mittelpunkt stehen. Alle Formen von Diskriminierung wegen des Alters müssen bekämpft werden. Unter diesem Gesichtspunkt muss eine Bilanz der Anwendung der Richtlinie 2000/78/EG gezogen werden, die einen allgemeinen Rahmen für die Gleichbehandlung im Bereich Beschäftigung geschaffen hat. Sie untersagt unter bestimmten Bedingungen jegliche, insbesondere altersbedingte Diskriminierung. Dies gilt für alle Altersstufen, unabhängig davon, ob es sich im Einzelfall um ältere oder junge Arbeitnehmer handelt.

6.3.5

Sowohl im Falle des Ruhestandes als auch des vorgezogenen Ruhestandes muss es möglich sein, die Beschäftigung schrittweise aufzugeben. Das Ende der Erwerbstätigkeit sollte weniger ein „Fallbeil-Ruhestand“ sein, ein Ereignis, das man möglichst weit vorzuziehen versucht, sondern vielmehr zu einem „selbstgewählten und allmählichen“ Prozess werden, innerhalb dessen die Erwerbstätigen — im Rahmen tariflicher Garantien — nach und nach ihre Arbeitszeit reduzieren können. Diese Frage könnte ein vorrangiges Thema für Forschung und Maßnahmen im Rahmen der beschäftigungspolitischen Leitlinien 2005 sein.

6.3.6

Der soziale Dialog und insbesondere die Tarifverhandlungen müssen sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene intensiviert werden. Letztere müssen auch „maßgeschneiderte“ Möglichkeiten umfassen, da es für universelle Rahmenbedingungen immer weniger Anwendungsmöglichkeiten gibt. Unter diesem Gesichtspunkt sollten die Tarifverhandlungen, um den besonderen Bedingungen von Berufen (Arbeitsbelastung, Arbeitsbedingungen und -organisation, Qualifikationsniveau ...) gerecht zu werden, die Berufssparten auf europäischer und nationaler Ebene und damit auch die Unternehmen miteinbeziehen.

6.3.6.1

Es wäre sinnvoll, dem aktiven Altern in der neuen sozialpolitischen Agenda nach 2006 Priorität einzuräumen.

6.3.7

Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass die Umsetzung der Beschlüsse von Stockholm die positive Entwicklung der Leitlinien des Europäischen Rates von Barcelona voranbringt. Zugleich ist er der Meinung, dass die Anhebung des „tatsächliche[n] Durchschnittsalter[s] des Eintritts in den Ruhestand“ nicht getrennt von der „Anhebung der Beschäftigungsquote für ältere Männer und Frauen (zwischen 55 und 64)“ betrachtet und beurteilt werden darf.

Brüssel, den 15. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Initiativstellungnahme zum Thema „Ältere Arbeitnehmer“, Ziffer 1.5, ABl. C 14 vom 16.1.2001, Berichterstatter: Herr DANTIN.

(2)  KOM(2004) 29 „Die Lissabon-Strategie realisieren – Reformen für die erweiterte Union“, Bericht der Kommission für die Frühjahrstagung des Europäischen Rates.

(3)  Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Jugendarbeitslosigkeit“, ABl. C 18 vom 22.1.1996. Berichterstatter: Herr RUPP.

(4)  Beitrag der Europäischen Kommission zum Ministerrat „Soziales“ von Lissabon. Quelle: Eurostat.

(5)  Quelle: Eurostat, „Studie zur erwerbstätigen Bevölkerung“, 1999.

(6)  Siehe Anlage 1.

(7)  Guillemard 1986; Casey/Laczko 1989.

(8)  Quelle: Eurostat, Bevölkerungsprognosen 1997 (Basisszenario).

(9)  „Demographische Lagen und Perspektiven der Europäischen Union“. Berichterstatter: Herr BURNEL.

(10)  „Alter und Beschäftigung 2010“: Französischer Wirtschafts- und Sozialrat, Oktober 2001. Berichterstatter: Herr QUINTREAU.

(11)  Quelle: Eurostat, „Studien zur Erwerbsbevölkerung“, Frühjahrsergebnisse 2003.

(12)  „Ältere Arbeitnehmer“ – Berichterstatter: Herr DANTIN – ABl. C 14 vom 16.1.2001.

(13)  Siehe SOC/162 - Berichterstatterin: Frau St HILL.

(14)  Europäische Stiftung für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen: „Die Bekämpfung der Altersgrenzen auf dem Arbeitsmarkt“ 1999.

(15)  Ebd., S. 9.

(16)  Ebd., S. 1, Absatz 3.3.3.

(17)  Internationale Studie der OECD zur Lese- und Schreibfähigkeit der Bevölkerung (International Adult Literacy Survey – IALS).

(18)  Ebd., S. 1, Absatz 4.3.2.

(19)  Ebd., S. 10.

(20)  KOM(2003) 728: „Die jüngsten Fortschritte in der Verbesserung der Arbeitsplatzqualität“.

(21)  Stellungnahme des EWSA „Beschäftigungspolitische Maßnahmen“, Berichterstatterin: Frau HORNUNG-DRAUS, Mitberichterstatter: Herr GREIF – ABl. C 110 vom 30.4.2004.

(22)  Ebd., S. 11.

(23)  Ebd., S. 11

- „Age and Attitudes - Main Results from a Eurobarometer Survey“ - Europäische Kommission, 1993.

(24)  Ebd., S. 1, Absatz 3.3.5.

(25)  Ebd., S. 1, Absatz 4.3.4.

(26)  Siehe Anlage 2.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/130


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Weißbuch zur Überprüfung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 über die Anwendung der EG-Wettbewerbsregeln auf den Seeverkehr“

(KOM(2004) 675 endg.)

(2005/C 157/23)

Die Kommission beschloss am 13. Oktober 2004 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen: „Weißbuch zur Überprüfung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 über die Anwendung der EG-Wettbewerbsregeln auf den Seeverkehr“

Die Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft wurde mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragt.

Aufgrund der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 16. Dezember) Frau Bredima-Savopoulou zur Hauptberichterstatterin und verabschiedete mit 148 gegen 12 Stimmen bei 10 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Der Seeverkehr, eine der internationalen und globalisierten Tätigkeiten schlechthin, kann im Wesentlichen in zwei Arten von Diensten unterteilt werden: Linienfracht- und Trampdienste. Seit 1875 sind die Linienfrachtdienste in Linienkonferenzen organisiert, d.h. in Verbänden von Schifffahrtsunternehmen, die regelmäßige, einem im voraus veröffentlichten Fahrplan folgende Frachtbeförderungsdienste zu einheitlichen oder gemeinsamen Frachtraten für bestimmte Routen anbieten. Im Trampbereich erfolgt die Beförderung von Trocken- oder Flüssigschüttgut in nicht regelmäßigen und keinem im voraus veröffentlichten Fahrplan folgenden Fahrten, und die Frachtraten werden von Fall zu Fall nach Maßgabe von Angebot und Nachfrage frei ausgehandelt. Vereinfachend könnte man auch sagen, dass Liniendienste wie Busse und Trampdienste wie Taxis zu See sind, d.h. Linienkonferenzen bieten Linienverkehrsdienste mit festen Abfahrts- und Ankunftszeiten, wohingegen Trampdienste eng verbundene Dienste nach Maßgabe der spezifischen Nachfrage erbringen.

1.2

Im Jahr 1974 verabschiedete die Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) den Verhaltenskodex für Linienkonferenzen, um dem Interesse der Entwicklungsländer an einer größeren Einbindung ihrer Frachtunternehmer in den Linienfrachtbeförderungsdienst Rechnung zu tragen. Dieser Kodex sah eine Aufteilungsformel 40 %-40 % für den Ladungsanteil zwischen Export- und Importland vor, während die restlichen 20 % des von Linienkonferenzen kontrollierten Linienfrachtverkehrs Frachtunternehmen aus Drittländern vorbehalten bleibt. Der Kodex wurde von einigen EU-Mitgliedstaaten sowie auch anderen Industriestaaten (OECD-Mitgliedstaaten) und Entwicklungsländern ratifiziert und trat am 6. Oktober 1983 in Kraft. Daher ist dieser Kodex das grundlegende Rechtsinstrument für Linienschifffahrtsdienstleistungen weltweit. Die EU verabschiedete die Verordnung (EWG) Nr. 954/79 des Rates (1), in der die Bedingungen für die EG-Vertragskonforme Anwendung des Verhaltenskodex für Linienkonferenzen festgelegt sind. Die Verordnung (EWG) 954/79 des Rates (2) (das „Brüssel-Paket“) schafft nach Ansicht der Kommission (zum Zeitpunkt der Verabschiedung) ein Gleichgewicht zwischen den Anliegen der Entwicklungsländer auf Zugang zu den Linienkonferenzen, wahrt aber gleichzeitig die Grundsätze des Handelsverkehrs zwischen OECD-Ländern und steht im Einklang mit den Grundsätzen des EG-Vertrags.

1.3

Im Jahr 1986 verabschiedete die Europäische Union die Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 über die Einzelheiten der Anwendung der Artikel 85 und 86 des Vertrages auf den Seeverkehr. In dieser Verordnung wird in den Erwägungsgründen auf die Verordnung (EWG) 954/79 und den Verhaltenskodex für Linienkonferenzen der Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) ausdrücklich Bezug genommen. Bis dahin gab es offene und geschlossene Linienkonferenzen, je nachdem, ob neue Marktteilnehmer automatisch Zugang zu diesen Linienkonferenzen erhielten oder eine Zustimmung der Linienkonferenzmitglieder erforderlich war. Mit ihrer Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 legte die Europäische Gemeinschaft ein System der geschlossenen Linienkonferenzen ohne Routenzugangsbeschränkung fest, das heißt, dass effektive Konkurrenz durch Nichtmitglieder von Linienkonferenzen gewährleistet ist und keine sonstigen Wettbewerbseinschränkungen durch die Linienkonferenzen zulässig sind. Bei dieser Verordnung handelte es sich um eine Verordnung des Rates, was für eine Verordnung im Bereich Wettbewerb durchaus verwunderlich ist. Sie war im Grunde als Anerkennung für die besonderen Merkmale des Seeverkehrs und seinen internationalen Charakter gedacht.

1.4

Mit der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 wurde Linienkonferenzen zu bestimmten Bedingungen und mit gewissen Auflagen eine Gruppenfreistellung gewährt. Den Linienkonferenzen wurden Praktiken (beispielsweise Aufteilung der Ladungsmenge oder der Einnahmen unter den Mitgliedern, Abstimmung von Fahrplänen oder Aufteilung der Fahrten unter den Mitgliedern) eingeräumt, die mit dem Wettbewerbsrecht der EU vereinbar sind, sowie zwei stark wettbewerbseinschränkende Maßnahmen gestattet, und zwar die horizontale Festsetzung von Preisen und die Kapazitätsregulierung. Die Gruppenfreistellung bezüglich dieser einschneidenden Wettbewerbsbeschränkungen war insofern gerechtfertigt, als die Linienkonferenzen eine stabilisierende Wirkung auf Linienfrachtrate hatten, den Verladern unerlässliche und effiziente Dienste boten und dem echten Wettbewerb durch Dritte ausgesetzt waren. Die Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 stellt eine so großzügige Gruppenfreistellungsregelung dar, wie sie kein anderer Sektor in der Europäischen Union genießt. Keinem anderen Sektor wird eine Freistellung von den EU-Wettbewerbsregeln in Bezug auf die Preisfestsetzung gewährt. Die Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 ist auch insofern einzigartig, als sie eine zeitlich unbegrenzte Gruppenfreistellung vorsieht.

1.5

Seit 1986 haben die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof erster Instanz in mehreren Rechtssachen (3) einige Aspekte der Tätigkeit der Linienkonferenzen untersucht. Der Gerichtshof hat zahlreiche Rechtsgrundsätze für die Anwendung von Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 verabschiedet, die von den Linienkonferenzen in der EU-Linienschifffahrt aufgriffen wurden. Im Laufe der Jahre hat die Tätigkeit der Linienkonferenzen sowohl in Bezug auf die Größe als auch das Ausmaß aufgrund sich ändernder Marktbedingungen beträchtlich abgenommen. Folgende Punkte sind insbesondere zu erwähnen:

a)

Die Linienkonferenzen können nicht länger die Preise für die Landseite eines multimodalen Verkehrs festsetzen.

b)

Die Raten müssen nicht nur zwischen allen Linienkonferenzmitgliedern einheitlich bzw. diesen gemeinsam sein, sondern auch in Bezug auf alle Verlader des gleichen Transportgutes.

c)

Die Linienkonferenzen können Mitgliedern, die individuelle Vereinbarungen mit Verladern treffen wollen, keine Beschränkungen auferlegen.

d)

Das Kapazitätsmanagement ist nur unter der Bedingung erlaubt, dass es zu keinen künstlichen Nachfragespitzenzeiten in Verbindung mit höheren Frachtraten führt.

1.6

Darüber hinaus wurde in der Verordnung (EWG) 4056/86 festgelegt, dass Tramp- und Kabotagedienste von ihr ausgenommen sind. Somit fanden Artikel 85 und 86 des EG-Vertrags aufgrund des Fehlens einer gesonderten Verordnung direkt Anwendung auf diese Dienste. Die Trampdienste wurden als eines der seltenen Beispiele eines perfekten weltweiten Wettbewerbs erachtet, von Kabotagedienste ging der allgemeinen Auffassung nach keine wesentliche Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Wettbewerbs aus.

1.6.1

Die grundlegenden Merkmale der Trampdienste können in zehn wesentlichen Punkten zusammengefasst werden:

weltweit wettbewerbsfähige Märkte;

dem perfekten Wettbewerbsmodell nahe;

unterschiedliche Teilmärkte je nach Bedarf der Kunden;

Wettbewerb zwischen den Teilmärkten um die Fracht;

schwankende und unvorhersehbare Nachfrage;

viele Kleinunternehmen;

weltweite Handelsmuster;

einfacher Marktzugang und -ausstieg;

sehr kosteneffizient;

flexibel in Bezug auf die Entwicklung der Märkte und der Anforderungen der Verlader.

1.6.2

Ganz allgemein ist der Trampdienstleistungsmarkt sehr zersplittert (4). In den letzten 30 Jahren sind Bulkfrachtenpools und spezielle Marktsegmente zur Bedienung der besonderen Bedürfnisse der Verlader und Charterer entstanden. Daher hat dieser Markt in der großen Mehrheit aller Fälle zur Zufriedenheit der Charterer bzw. Verlader gearbeitet, ohne große Schwierigkeiten in Bezug auf die internationalen oder gemeinschaftsinternen Wettbewerbsbestimmungen nach sich zu ziehen.

1.7

Weltweit gibt es derzeit 150 Linienkonferenzen, von denen 28 Routen von der EU und in die EU bedienen. Diese Linienkonferenzen operieren im Wesentlichen auf drei Hauptrouten in die EU und von der EU aus, und zwar der Transatlantik-Route, der Europa-Ostasien-Route und der Europa/Australien-Neuseeland-Route. Zu ihren Mitgliedern zählen sowohl europäische als auch nichteuropäische Linienschifffahrtsunternehmen. Darüber hinaus sind weitere Linienkonferenzen auf der EU/Südamerika-Route, auf der EU/Westafrika-Route sowie auf sonstigen Routen tätig.

1.8

Die meisten OECD-Länder anerkennen das Linienkonferenzsystem und haben den Linienkonferenzen eine Art kartellrechtlicher Immunität eingeräumt. Die Vereinigten Staaten ihrerseits anerkennen das offene Konferenzsystem in ihrem Ocean Shipping Reform Act (OSRA) (5) von 1999. Australien gewährt Linienkonferenzen eine beschränkte Freistellung gemäß dem Trade Practices Act von 1974 (Kapitel X), der 1999 geändert wurde und derzeit erneut überarbeitet wird. Kanada, Japan und China erkennen ebenfalls das Linienkonferenzsystem an und gewähren den Linienkonferenzen eine kartellrechtliche Immunität oder Freistellungen mit bestimmten Auflagen.

1.9

Der Verhaltenskodex für Linienkonferenzen als grundlegendes internationales Instrument zur Regelung der Linienfrachtdienste zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern und das Linienkonferenzsystem als wesentliches internationales System zur Koordinierung der Linienfrachtdienste wurden mittlerweile in mehreren Rechtsinstrumenten der EU verankert.

Die Europa-Abkommen (von denen die meisten jedoch mit der Erweiterung 2004 überflüssig geworden sind) enthielten eine Standardklausel bezüglich der Grundsätze des Verhaltenskodex für Linienkonferenzen und der Linienkonferenzen, die als Grundregel für die Bedienung von Linienschifffahrtsrouten einzuhalten sind.

Das Abkommen zwischen EU und Russland (Artikel 39 Absatz 1 Buchstabe a)) und das Abkommen zwischen der EU und der Ukraine enthalten ähnliche Klauseln.

Bei den laufenden WTO-Verhandlungen über Dienstleistungen wurde bei den „Angeboten“ zwischen der EU und Drittländern davon ausgegangen, dass dieser Verhaltenskodex als geltendes Instrument anzuwenden ist.

1.10

Die jüngsten rechtlichen Entwicklungen in diesem Bereich zeigen, dass die führenden Industrienationen (Vereinigte Staaten, Australien, Kanada und Japan) sich dem EU-System angenähert und ihr Linienkonferenzsystem ähnlich wie die EU geregelt haben. Der Markt hat sich im Lauf der Zeit stark gewandelt. Seit den 80er Jahren konnten unabhängige Linienreedereien (Außenseiter) ihren Marktanteil auf den Hauptrouten von und nach Europa zum Nachteil der Konferenzen ausbauen. Dies kann in einer routenbezogenen Analyse nachgewiesen werden, alles in allem galt für die Routen jedoch weiterhin ein offener Wettbewerb. Im Rahmen der Linienkonferenzen haben sich auch andere Praktiken entwickelt. So bieten beispielsweise Mitglieder von Linienkonferenzen ihre Dienste auf der Grundlage von Dienstleistungsverträgen mit Verladern an, bei denen der Verlader sich verpflichtet, eine bestimmte Frachtmenge während eines bestimmten Zeitraums zu individuell mit dem Reeder vereinbarten Frachtraten befördern zu lassen.

1.10.1

Diese Dienstleistungsverträge wurden sowohl in der Rechtsprechung der EU als auch der Gesetzgebung der Vereinigten Staaten (OSRA 1999) als Praxis der Dienstleistungserbringung gegenüber Verladern anerkannt. So erfolgen 90 % des transatlantischen und 75 bis 80 % des Linienfrachtverkehrs zwischen Europa und Australien/Neuseeland über Dienstleistungsverträge. Bei diesen Verträgen handelt es sich um streng vertrauliche vertragliche Vereinbarungen zwischen Reedereien und Verladern.

1.10.2

Die Containerisierung zog tiefgreifende Veränderungen in der Linienfrachtschifffahrt nach sich. Die Reedereien haben sich zunehmend zu Konsortien zusammengeschlossen, die zwar gemeinsam mehrere Liniendienste erbringen, in deren Rahmen aber keine Preisbildung stattfindet. Die Containerschifffahrt ist zwar ein sehr kapitalintensiver Wirtschaftszweig, bietet aber auch die Möglichkeit, Größenvorteile zu erzielen. Gemäß Verordnung (EWG) Nr. 479/92 (6) und Verordnung (EG) Nr. 870/95 (7) geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 823/2000 (8), die am 25. April 2005 ausläuft, werden auch Konsortien unter gewissen Bedingungen Gruppenfreistellungen gewährt. Linienkonsortien stellen eine im Linienfrachtverkehr weit verbreitete Form der Zusammenarbeit dar.

1.10.3

Eine weitere Form der Zusammenarbeit sind die so genannten „discussion agreements“, die in den 80er Jahren aufkamen und in anderen Rechtsordnungen anerkannt sind (Vereinigte Staaten, Asien, Australien und Südamerika).

1.11

Im Jahr 2003 setzte die Europäische Kommission die verfahrensrechtlichen Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 4056/86 aus und ersetzte sie durch die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 (9), die nun als Durchführungsbestimmung für alle Wirtschaftssektoren gilt. Somit gelten die gleichen Bestimmungen für die Dezentralisierung der Wettbewerbsverfahren für die Linienschifffahrt in gleicher Weise wie für alle anderen Wirtschaftsbereiche. In Artikel 32 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 ist jedoch eine Ausnahmeregelung bezüglich des Anwendungsbereichs für Tramp- und Kabotagedienste von und zu den Häfen der Gemeinschaft festgeschrieben.

1.12

Das OECD-Sekretariat kam 2002 in einem Bericht (10) zu dem Schluss, dass kartellrechtliche Ausnahmeregelungen für Linienkonferenzen hinsichtlich Preisabsprachen mit dem Ziel überarbeitet werden sollten, sie vollständig aufzuheben mit Ausnahme der Fälle, in denen sie speziell und ausnahmsweise gerechtfertigt sind, überließ die Entscheidung jedoch den einzelnen Mitgliedstaaten. Die Richtigkeit der Darstellungen dieses Berichts war jedoch sehr umstritten, weshalb er auch nur in Form eines Berichts des OECD-Sekretariats veröffentlich wurde. Darüber hinaus haben Schlüsselakteure (Kanada, Vereinigte Staaten, Japan, Australien) erklärt, dass sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Überarbeitung ihrer Regelungen beabsichtigen.

2.   Das Weißbuch 2004 der Europäischen Kommission

2.1

Auf Aufforderung des Europäischen Rates von Lissabon 2000 überarbeitete die Europäische Kommission die Verordnung (EG) Nr. 4056/86. Der Europäische Rat von Lissabon forderte die Kommission auf, „die Liberalisierung in Bereichen wie Gas, Strom, Postdienste und Beförderung zu beschleunigen“. Die Europäische Kommission nahm die Überarbeitung im März 2003 mit der Veröffentlichung eines Konsultationspapiers und der 36 hierzu eingegangenen Kommentare maßgeblicher Akteure (Reedereien, Verlader, Mitgliedstaaten und Verbraucherverbände) in Angriff. Bei der Auswertung der Kommentare wurde die Europäische Kommission von der Erasmus Universität unterstützt. Anschließend fand im Dezember 2003 eine öffentliche Anhörung statt, im Mai 2004 erging ein Diskussionspapier an die Mitgliedstaaten. Am 13. Oktober 2004 schließlich legte die Europäische Kommission ihr Weißbuch vor, dem ein Anhang beigefügt ist, in dem sie in Erwägung zieht, die Gruppenfreistellung für Linienkonferenzen aufzuheben. Die Europäische Kommission untersuchte, ob die geltende Verordnung beibehalten, geändert oder aufgehoben und die Gruppenfreistellung durch eine fakultative Regelung ersetzt werden sollte, wie dies von der ELAA vorgeschlagen wurde. Für die Trampschifffahrt wurde eine Art Beratung vorgeschlagen. Die Kommission fordert darin u.a. den Ausschuss auf, seine Kommentare innerhalb von zwei Monaten zu übermitteln.

2.2

In dem Weißbuch werden mehrere grundlegende Fragen aufgegriffen: Ist die generelle Freistellung der Praxis der Preisfestsetzung und Kapazitätsregulierung im Rahmen von Linienkonferenzen gemäß Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag immer noch berechtigt? Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass es unter den herrschenden Marktbedingungen keine Berechtigung für die Beibehaltung der Gruppenfreistellung für Linienkonferenzen gibt, da die Preisstabilität auch durch eine weniger restriktive Form der Zusammenarbeit erreicht werden kann, und dass die vier kumulativen Bedingungen von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag für die Rechtfertigung der Gruppenfreistellung nicht mehr erfüllt werden.

2.2.1

In dem Weißbuch wird ferner untersucht, ob andere Gemeinschaftsinstrumente für neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Linienschifffahrtsbetreibern erforderlich sind. Die Kommission fordert die maßgeblichen Akteure zu Anregungen für ein angemessenes Rechtsinstrument und einen alternativen Kooperationsrahmen zwischen Linienschifffahrtsgesellschaften auf.

2.3

In dem Weißbuch wird außerdem die Frage bewertet, ob es immer noch gerechtfertigt ist, dass Trampdienste und Kabotage vom Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 ausgenommen werden. Laut dem Weißbuch wurde kein glaubhaftes Argument vorgebracht, weswegen für diese Dienste andere Durchführungsbestimmungen gelten sollten als für alle anderen Wirtschaftssektoren. Daher schlägt die Kommission vor, die verfahrensrechtlichen Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 auch auf diese Dienste anzuwenden. Zur Gewährleistung der Rechtssicherheit zieht die Kommission in Erwägung, die Industrie in angemessener Form zu beraten, um den Frachtunternehmen bei der Bewertung ihrer „pool agreements“ zu helfen.

2.4

Diesbezüglich ist festzuhalten, dass die erst vor kurzem (2003) zur Behandlung dieser Thematik eingerichtete ELAA einen Vorschlag für einen neuen Rahmen für eine Zusammenarbeit von Handelsschifffahrtsunternehmen unterbreitet hat, und zwar einen neuen Rahmen für die Zusammenarbeit von Handelsschifffahrtsunternehmen zur Erörterung folgender Punkte: Kapazitätsregulierung, Marktanteile, Frachtentwicklung je nach Route, öffentlich zugänglicher Preisindex, Festlegung von Aufschlägen und Nebenkosten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss verfolgt die Entwicklungen in diesen Fragen seit den 80er Jahren und hat bereits zwei Stellungnahmen, und zwar 1982 (11) und 1985 (12), dazu verabschiedet, die in wesentlichen Punkten in die Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 eingeflossen sind. Daher begrüßt der Ausschuss das Weißbuch und die von der Europäischen Kommission auf den Weg gebrachte Konsultation und bringt seine Hoffnung zum Ausdruck, einen erheblichen Beitrag zur Ausarbeitung einer zweckdienlichen Wettbewerbsregelung in der EU und weltweit leisten zu können.

3.1.1

Der Anhang zum Weißbuch enthält eine Analyse über die Vereinbarkeit von Linienkonferenzen mit den vier kumulativen Bedingungen von Artikel 81 Absatz 3 des EG-Vertrags. Da in den letzten Jahren jedoch die Kapazitätsregulierung nach dem EU-Recht nur unter der Bedingung gerechtfertigt ist, dass sie weder künstliche Nachfragespitzenzeiten in Verbindung mit einer Frachtratenerhöhung hervorruft, und die Linienkonferenzen kaum mehr die Macht haben, die Preise festzulegen, ist es zweifelhaft, ob die vier kumulativen Bedingungen von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag überhaupt noch erfüllt werden können.

3.1.2

Der Ausschuss erachtet eine tiefgreifendere Analyse der steigenden Bedeutung von Nicht-Linienkonferenzmitgliedern seit den 80er Jahren für erforderlich. Die vorhandenen Daten lassen darauf schließen, dass die Linienkonferenzen den Marktzugang für Nichtmitglieder nicht behindert haben, die bedeutende Marktanteile gewinnen konnten. Dies bedeutet, dass es sehr wohl einen Wettbewerb gibt und die vierte Bedingung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag (keine Einschränkung des Wettbewerbs) erfüllt ist. Die Daten für die Beförderungskosten in Bezug auf den Regalpreis für Verbrauchsgüter zeigen, dass dieser nur geringfügig gestiegen ist. Daher lässt sich darüber streiten, ob die Preispolitik der Linienkonferenzen negative Folgen für die Verbraucher hat.

3.1.3

Die Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 war Ausdruck der in den 80er Jahren vorherrschenden Marktbedingungen. Sie ist Teil eines Pakets von vier 1986 erlassenen Verordnungen über den Seeverkehr, die die Eckpfeiler der gemeinsamen Schifffahrtspolitik der EU bilden. 18 Jahre lang kamen die Linienkonferenzen in den Genuss einer sehr großzügigen Behandlung im EU-Recht.

3.2

Der Ausschuss hält fest, dass die Kommission zwar auf die internationale Stellung der Linienkonferenzen und auf den Rechtsrahmen in den Vereinigten Staaten und Australien verweist, die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen jedoch ausklammert. 14 EU-Mitgliedstaaten und Norwegen haben den Verhaltenskodex für Linienkonferenzen unterzeichnet bzw. sind diesem beigetreten. Wird Verordnung (EWG) Nr. 4056/85 ausgesetzt, müssten diese Länder den Verhaltenskodex aufkündigen. Nach Maßgabe von Artikel 50 dieses Verhaltenskodex tritt die Aufkündigung seiner Bestimmungen erst ein Jahr oder später nach Erhalt durch den Verwalter in Kraft. Die Verordnung (EWG) Nr. 954/79 muss ausgesetzt werden, und „Angebote“ an die WTO müssten ebenfalls dementsprechend geändert werden. In dem Weißbuch wird nicht auf die vertragsrechtlichen Probleme einer eventuellen Abschaffung des Linienkonferenzsystems eingegangen. Die EU muss außerdem in neue Verhandlungen über die Abkommen mit der Ukraine und Russland eintreten.

3.3

Linienkonferenzen könnten jedoch bestehen bleiben und gesetzlich geregelte Tätigkeiten entwickeln, anstatt abgeschafft zu werden. Eine Linienkonferenz organisiert den Linienverkehr zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern. Welche Folgen hat die Abschaffung einer Linienkonferenz in der EU für den Partner am anderen Ende der Route? So bestehen beispielsweise Linienkonferenzen zwischen der EU und Südamerika bzw. Westafrika, auf die der Verhaltenskodex Anwendung findet. All diese Probleme werden im Weißbuch nicht aufgegriffen.

3.4

Wenn eine Linienkonferenz Tätigkeiten ausüben darf, die nicht wettbewerbsbeschränkend sind, warum sollte das Linienkonferenzsystem dann abgeschafft werden? Diese Alternative wird im Weißbuch nicht untersucht. Tätigkeiten wie die Aufteilung der Ladungsmenge oder der Einnahmen, die Abstimmung von Fahrplänen oder die Aufteilung der Fahrten könnten die Hürde der vier kumulativen Bedingungen nehmen. Die niederländische und die deutsche Regierung untersuchen in einem vor kurzem veröffentlichten Diskussionspapier (13) mögliche Arten der Zusammenarbeit und geeignete Rechtsinstrumente. Diese Initiative sollte berücksichtigt werden. Darüber hinaus könnten auch einige andere von der ELAA und der deutschen und niederländischen Regierung in ihrem Diskussionspapier erörterten Tätigkeiten im Einklang mit den vier kumulativen Bedingungen stehen. Die Aufhebung der bestehenden Gruppenfreistellung ist daher nicht der Anlass zur Sorge, sondern vielmehr die einseitige Abschaffung des Linienkonferenzsystems durch die EU ohne Rücksprache mit den größten Industrienationen (im Rahmen der OECD) und der Entwicklungsländer.

3.5

Aus den obigen Ausführungen geht deutlich hervor, dass die Abschaffung der Gruppenfreistellung durchaus in Erwägung gezogen werden kann, dass jedoch die Abschaffung der Linienkonferenzen eine Reihe von rechtlichen Problemen nach sich zieht, die zuerst gelöst werden müssen. Darüber hinaus muss die neue EU-Regelung im Einklang mit dem internationalen Regelwerk stehen. Ein einseitiges Vorgehen seitens der EU ist undenkbar, da die Linienkonferenzen ein weltweit verbreitetes System darstellen. Weder die internationalen Auswirkungen auf Regulierungsebene (d.h. die internationalen Verpflichtungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten) noch die aus der Abschaffung der Linienkonferenzen entstehenden vertragsrechtlichen Probleme werden in dem Weißbuch ausreichend untersucht.

3.6

Der Ausschuss bekräftigt, dass der Verhaltenskodex für Linienkonferenzen (und das darin verankerte Linienkonferenzsystem) ungeachtet der Tatsache, dass er Mängel aufweist und veraltet ist, der Eckpfeiler der 1986 angenommenen vier Verordnungen zum Seeverkehr ist, die die erste Stufe der gemeinsamen EU-Schifffahrtspolitik darstellen. Drei dieser vier Verordnungen beruhen auf dem Verhaltenskodex und enthalten direkte Verweise auf ihn, und zwar Verordnung (EWG) Nr. 4055/86, Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 und Verordnung (EWG) Nr. 4058/86 (14). Dieses Verordnungspaket war das Ergebnis mehrjähriger schwieriger Verhandlungen und führte zu einem zerbrechlichen Gleichgewicht gegenseitiger Zugeständnisse der Mitgliedstaaten. Ehe die Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 aufgehoben werden kann, müssten die Verordnungen (EWG) 4055/86 und 4056/86 ebenfalls geändert werden.

3.7

Da das Linienkonferenzsystem derzeit auch in anderen Rechtsordnungen überarbeitet wird, wäre es vernünftiger, dass die EU nicht einseitig vorgeht, sondern sich mit diesen Ländern in Verbindung setzt, um eine neue internationale Regelung zu finden, die weltweit Anwendung findet. Andernfalls würde die EU ihr System, das von den Vereinigten Staaten und Australien als Vorbild herangezogen wurde, ohne jegliche Konsultation und Koordination einfach abschaffen. Dies ist eine Frage, die auch im Rahmen des Internationalen Wettbewerbsnetzes (ICN), erörtert werden sollte, dem die Kommission als Gründungsmitglied seit 2001 angehört. Dieses Netz stellt das führende Diskussionsforum für internationale Wettbewerbspolitik auf multilateraler Ebene dar. Eine derartige Abschaffung würde den europäischen Handelsschifffahrtsunternehmen erheblichen Schaden zufügen und sie bestrafen — und das, wo diese trotz der starken Konkurrenz aus Drittländern (vor allem aus Asien) in der weltweiten Bewertung der Schifffahrtsunternehmen an der Spitze liegen (die ersten vier Unternehmen auf dieser Liste sind europäische Unternehmen). Aus den obigen Gründen sollte die Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 im ICN erörtert werden.

3.8

Der Ausschuss ist sich bewusst, dass ein derartiges Vorgehen zeitaufwändig ist. Daher schlägt er vor, die Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 durch eine neue Kommissionsverordnung zu ersetzen, bis ein anderes System auf internationaler Ebene vereinbart wurde, um den Verhaltenskodex für Linienkonferenzen zu ersetzen, und im Regulierungsbereich eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen in Bezug auf die Ersetzung des Linienkonferenzsystems stattfindet. Diese neue Verordnung sollte eine Gruppenfreistellung unter strengen Auflagen beinhalten, die den spezifischen Grundsätzen des EU-Rechts Rechnung tragen (vgl. hierzu etwa die Rechtssache TACA und andere Rechtssachen).

3.9

Eine völlige Deregulierung ohne Einrichtung eines neuen Rechtsinstruments ist aus folgenden weiteren Gründen nicht ratsam: Im Rahmen des vor kurzem eingerichteten Europäischen Wettbewerbsnetzes (ECN) (15) erfolgt eine Dezentralisierung der Behandlung von Wettbewerbssachen durch die einzelstaatlichen Behörden. Mit der EU-Erweiterung werden möglicherweise die zehn neuen Mitgliedstaaten Beratung sowohl hinsichtlich inhaltlicher als auch verfahrenstechnischer Fragen benötigen. Es wird eine gewisse Zeit brauchen, um die neuen Mitgliedstaaten mit den Marktwirtschaften vertraut zu machen, wobei insbesondere der Tatsache Rechnung getragen werden muss, dass es in einigen dieser Länder keine Wettbewerbsbehörden gibt. Außerdem wird eine Verordnung erforderlich sein, in der spezielle Maßstäbe für mögliche wettbewerbsverzerrende Praktiken bei den verschiedenen Formen der Zusammenarbeit im Linienverkehr festgelegt werden. Andernfalls wäre dies ein gefundenes Fressen für Rechtsanwälte, was zu einer unterschiedlichen Anwendung von EU-Recht in den einzelnen Mitgliedstaaten führt.

3.10

Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass die Dezentralisierung der Wettbewerbsverfahren nicht mit der Deregulierung des Linienkonferenzsystems einhergehen darf. Aus all den oben genannten Gründen ist eine Deregulierung zum derzeitigen Zeitpunkt nicht zweckdienlich. Darüber hinaus könnte eine Deregulierung zu einer stärkeren Marktkonzentration und somit zu einer Verringerung der Anzahl an Schifffahrtsunternehmen auf dem Markt führen.

3.11

Der in dem Weißbuch enthaltene Vorschlag für die Behandlung von Trampdiensten und Kabotage kann unterstützt werden. Es wird davon ausgegangen, dass in der großen Mehrheit der Fälle keine Wettbewerbsprobleme auftreten werden (16). Zur Gewährleistung der Rechtssicherheit ist der Vorschlag der Kommission vernünftig, Bulkfrachtenpools und spezialisierte Frachtunternehmen rechtlich zu beraten, um sie bei ihrer Selbstbewertung in Bezug auf die Einhaltung von Artikel 81 EG-Vertrag zu unterstützen, es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Veröffentlichung von Vereinbarungen und das Einspruchsverfahren nicht mehr erlaubt sind.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Im Weißbuch wird auf Bestimmungen zur Sicherung der Position von Nichtmitgliedern von Linienkonferenzen nicht eingegangen. Das Weißbuch geht davon aus, dass der Marktanteil der Nichtmitglieder seit den 80er Jahren ständig zugenommen hat und dies in der Zukunft so weitergehen wird. Gleichwohl müssen die speziellen Sicherheitsklauseln der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 in jedweder neuen Verordnung beibehalten werden, um zu verhindern, dass die Tätigkeit dieser Marktteilnehmer beeinträchtigt wird, und den offenen Zugang zu Schifffahrtsrouten aufrechtzuerhalten.

4.2

Das Weißbuch räumt ein, dass die Abschaffung der kartellrechtlichen Immunität zu einer stärkeren Marktkonzentration führen könnte, sprich zu Fusionen und Übernahmen, die wiederum eine einseitige Marktmachtzunahme oder eine erhöhtes Risiko von Absprachen infolge einer Verkleinerung der Anzahl an Akteuren nach sich ziehen könnte (Seite 19, Absatz 73 und 74 des Anhangs zum Weißbuch). Wenn es wegen der hohen Kosten und der Volatilität des Marktes und der somit nicht gegebenen Erfolgsgarantie keine neuen Marktteilnehmer im Linienschifffahrtssektor gibt, wie will die geltende EU-Fusionskontrollverordnung den Routenzugang sichern? Es ist unrealistisch, davon auszugehen, dass existenzbedrohte kleine und mittelgroße Schifffahrtsunternehmen gemäß der Fusionskontrollverordnung langwierige und kostspielige Rechtsverfahren anstrengen werden, um Firmenzusammenschlüsse zur Bildung von Großunternehmen zu verhindern. Deswegen sollten in den Rechtsvorschriften diesbezügliche Sicherheitsgarantien verankert werden.

4.3

Die Kommission führt (auf Seite 17 unter Punkt 64 des Anhangs zum Weißbuch) aus, dass wenn der Containerschifffahrtsmarkt wegen seiner zyklusartigen Entwicklung von aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen verschont bleibt, ein kontinuierlicher Strom an neuen Marktteilnehmern und aus dem Markt ausscheidenden Akteuren entsteht. Leistungsschwache Carrier verkaufen ihre Schiffe und neue leistungsfähige Unternehmen treten auf dem Markt auf. Dies ist eine sehr vereinfachende Einschätzung des Marktgeschehens. Heutzutage gibt es kaum neue Marktteilnehmer im Linienschifffahrtsbereich, vor allem bei den Hochseeverkehren, und zwar wegen der hohen Kosten und der Unwägbarkeiten des Linienverkehrs und der deswegen nicht gegebenen Ertragsgewähr. Außerdem ist auch die Unterscheidung zwischen leistungsschwachen und leistungsfähigen Schifffahrtsunternehmen fehl am Platz. In dem stark umkämpften Linienverkehrsmarkt haben leistungsschwache Carrier keine Überlebenschance.

4.4

Aus den in Ziffer 3 dargelegten Gründen sollte die in der Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 enthaltene Bestimmung über Rechtskollision in der neuen Verordnung beibehalten werden.

5.   Schlussfolgerungen

5.1

Der Ausschuss begrüßt die Initiative der Kommission, ein Weißbuch zu der hier in Rede stehenden Thematik zu veröffentlichen und ein Brainstorming in Gang zu setzen, unter dem Vorbehalt der nachstehenden Bemerkungen.

5.2

Jedweder künftige Rechtsrahmen sollte mit Artikel 81 des EG-Vertrags in Einklang stehen und ausgewogen sein, das heißt den Bedürfnissen sowohl der Verlader als auch der Seeverkehrsunternehmen gerecht werden. Er sollte der Angebots- und Nachfrageseite des Linienschifffahrtssektors gleichermaßen Rechnung tragen. Er sollte transparent angelegt sein und den offenen Zugang zu Linienverkehrsrouten vorsehen (d.h. auch für Nichtmitglieder von Linienkonferenzen).

5.3

Nach Meinung des Ausschusses sollte für ein neues Regelwerk nicht die Form einer Ratsverordnung gewählt, sondern eine Verordnung der Kommission vorgesehen werden, um dadurch Einheitlichkeit im Vergleich mit den sonstigen EU-Verordnungen zum Wettbewerbsrecht zu schaffen. Wenn diese Anregung Zustimmung finden sollte, dann müsste die Kommission beauftragt werden, die besonderen Wesensmerkmale des Seeverkehrs und die internationalen Auswirkungen des neuen Regelwerks eingehender zu prüfen. Der Ausschuss hält es für begrüßenswert, dass im Weißbuch zu Kommentaren bezüglich alternativer Lösungsmöglichkeiten aufgerufen wird.

5.4

In sämtlichen Rechtsordnungen wurde Linienkonferenzen in der Vergangenheit in irgendeiner Form Immunität bezüglich der Wettbewerbsregeln eingeräumt, und bisher hat keine der zuständigen Behörden im Zuge der Überprüfung der Rechtsvorschriften (etwa in den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Japan) diese Immunität aufgehoben. Der Linienverkehrsmarkt befindet sich derzeit in einem tiefgreifenden Umbruch, der auch in der Zukunft weitergehen wird. Der Marktanteil der Linienkonferenzen ist erheblich zurückgegangen, und bei den meisten Vertragsabschlüssen handelt es sich um individuell ausgehandelte Dienstleistungsverträge, die von den Verladern bevorzugt und von anderen Rechtsordnungen anerkannt werden. Außerdem werden „discussion agreements“ abgestimmte Verhaltensweisen und Konsortien/Allianzen weltweit immer beliebter.

5.5

Wenn die Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 aufgehoben wird, ohne dass sie durch eine neue Verordnung ersetzt wird, die eine Gruppenfreistellung gewährt, wird ein Riesenaufwand an Verhandlungen und Neuaushandlung von Abkommen mit einigen Drittländern getrieben und umfangreiche EU-Rechtsetzungsarbeit geleistet werden müssen, um den gemeinschaftlichen Besitzstand in diesem Bereich (sprich die Verordnungen (EWG) Nr. 954/79, 4055/86 und 4058/86) entsprechend zu ändern. Außerdem müssten die Mitgliedstaaten dann den Verhaltenskodex für Linienkonferenzen aufkündigen. Die Kommission sollte unbedingt erst einmal diesen rechtlichen Schwierigkeiten nachgehen, bevor sie Alternativen zu Linienkonferenzen prüft und die Aufhebung der derzeitigen Gruppenfreistellung in Erwägung zieht.

5.6

Angesichts der enormen rechtlichen Probleme, die die Abschaffung von Linienkonferenzen hervorriefe, sollte die Kommission unbedingt eine juristische Studie über den Bedarf an erforderlichen Rechtsänderungen im Falle einer Abschaffung der Linienkonferenzen seitens der EU bei gleichzeitiger Beibehaltung der Linienkonferenzen in der übrigen Welt durchführen. Bei einer solchen Untersuchung wird sich herausstellen, dass eine Deregulierung des Linienschifffahrtsmarktes aus heutiger Sicht möglicherweise keinen Mehrwert bringt, um so mehr als sie mit einer Dezentralisierung der Wettbewerbsbehörde unter Abtretung der Zuständigkeiten an die Mitgliedstaaten zusammenfiele. Anderenfalls wird die EU mit einem Rechtsvakuum und ohne spezifische Regeln für diesen Sektor dastehen.

5.7

Einstweilen ist es nach Meinung des EWSA nach wie vor gerechtfertigt, die Linienkonferenzen beizubehalten, bis weltweit ein neuer Regulierungsrahmen geschaffen worden ist. Das Konferenzsystem wird noch immer gebraucht, weil es weltweit die Grundlage für die Reglementierung der Linienschifffahrt darstellt. Die Aufhebung der EU-Gruppenfreistellung hätte für den internationalen Rahmen in Bezug auf die Entwicklungsländer und andere OECD-Länder vielschichtige und weitreichende Folgen.

5.8

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die Verordnung 4056/86 aufgehoben und durch eine neue Verordnung der Kommission ersetzt werden sollte, die eine Gruppenfreistellung vorsieht. Die neue Regelung sollte sich streng an den Standard halten, der mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erster Instanz und den Rechtsentscheidungen der Kommission (beispielsweise in der Rechtssache TACA) geschaffen wurde. Außerdem sollte das Konferenzsystem auch beibehalten werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Reeder weltweit zu schützen. Während für die Großreedereien Allianzen und andere Arten von Kooperationsvereinbarungen geeignet sein mögen, brauchen kleine und mittelgroße Seeverkehrsunternehmen nach wie vor Konferenzen, um ihren Marktanteil halten zu können, vor allem beim Seeverkehrsgeschäft mit Entwicklungsländern. Die Aufhebung der Freistellung könnte zu Lasten der Wettbewerbsfähigkeit dieser kleineren Reedereien gehen und die marktbeherrschende Stellung der größeren Unternehmen weiter erhöhen.

5.9

Diesen Übergangszeitraum sollte die Kommission zur Beobachtung der Entwicklungen auf dem Linienverkehrsmarkt bis hin zu Konsolidierungstendenzen nutzen. Außerdem sollte die Kommission sich mit anderen Rechtsprechungsinstanzen (OECD) ins Benehmen setzen, in dem Anliegen, zu einem geeigneten und weltweit anwendbaren Alternativsystem zu gelangen.

5.10

Der Ausschuss unterschreibt die im Weißbuch enthaltenen Vorschläge bezüglich der Behandlung von Trampschifffahrts- und Kabotagediensten, da die überwiegende Mehrheit der Fälle in diesem Sektor keine Wettbewerbsprobleme aufwerfen würden. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte die Kommission rechtliche Leitlinien für die Selbstbewertung von Bulkfrachtenpools und Sonderverkehren bezüglich ihrer Vereinbarkeit mit Artikel 81 des EG-Vertrags festlegen.

5.11

Der EWSA hofft, im Nachgang zu dem mit dem Weißbuch ausgelösten Brainstorming Hilfestellung geben zu können.

Brüssel, den 16. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  15. Mai 1979 in Bezug auf die Ratifizierung des Beitritts der Mitgliedstaaten zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über einen Verhaltenskodex für Linienkonferenzen.

(2)  Siehe Bredima-Savopoulou/Tzoannos „The Common Shipping Policy of the EC“, North Holland, Asser Institute 1990; L. Schmidt/O. Seiler „The Unctad Code of Conduct for Liner Conferences“, Hamburg 1979; A. McIntosh „Anti-trust implications of liner conferences“, Lloyds Maritime and Commercial Law Quarterly, Mai 1980, S.139; Clough/Randolph „Shipping and EC Competition Law“, Butterworths 1991; Bellamy/Child „Common Market Law of Competition“, Sweet & Maxwell, 1993, 2001; P. Ruttley „International Shipping and EEC Competition Law“ (1991) 2 ECLR, 5; Kreis „European Community Competition Policy and International Shipping“ (1989), Fordham International Law Journal, S. 411, Vol. 13; J. Erdmenger, Conference on EEC Shipping Law, 4./5. Februar 1988, Rotterdam; Bredima „The Common Shipping Policy of the EEC“, 18 Common Market Law Review, 1981, S. 9-32.

(3)  Siehe TACA-Neufassung (Entscheidung der Kommission vom 14.11.2002 - ABl. L 26 vom 31.1.2003, S. 53); TAA, FEFC, EATA, Eurocorde; CEWAL, COWAC, UKWAL (ABl. L 34 vom 10.2.1993, S. 20); Französisch-Westafrikanische Reedereiausschüsse (ABl. L 134 vom 18.5.1992, S. 1).

(4)  Gemäß den Forschungsarbeiten von Clarkson zum Thema „The Tramp Shipping Market“ (April 2004) gibt es rund 4.795 Reedereien, die Trampdienste anbieten, doch nur vier davon verfügen über mehr als 300 Schiffe (das entspricht einem Marktanteil von 2 %); im Durchschnitt verfügt eine derartige Reederei über fünf Schiffe.

(5)  Zur Änderung des Gesetzes über die Handelsmarine von 1984.

(6)  ABl. L 55 vom 29.2.1992, S. 3.

(7)  ABl. L 89 vom 21.4.1995, S. 7.

(8)  ABl. L 100 vom 20.4.2000, S. 24.

(9)  ABl. L 1 vom 4.1.2003, S. 1.

(10)  DSTI/DOT (2002) 2 vom 16.4.2002.

(11)  ABl. C 77 vom 21.3.1983, S. 13.

(12)  ABl. C 344 vom 31.12.1985, S. 31.

(13)  Oktober 2004.

(14)  Die Verordnung (EWG) Nr. 4055/86 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf die Seeschifffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern vom 22. Dezember 1986 beruht auf dem Verhaltenskodex für Linienkonferenzen der Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD). In Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b) ist das Auslaufen der bestehenden Ladungsanteilvereinbarungen durch den direkten Verweis auf den Verhaltenskodex festgeschrieben. Die Verordnung (EWG) Nr. 4058/86 für ein koordiniertes Vorgehen zum Schutz des freien Zugangs zu Ladungen in der Seeschifffahrt vom 22. Dezember 1986 beruht ebenfalls auf dem UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen. In Artikel 1 sind Maßnahmen für die Beförderung von Linienladungen im Kodex-Verkehr und im Nicht-Kodex-Verkehr vorgesehen. ABl. L 378 vom 31.12.1986, S. 4.

(15)  Verordnung (EG) Nr. 1/2003.

(16)  Der Bereich der Trampdienste wurde als Modellsektor für den perfekten Wettbewerb beschrieben - siehe William Boyes, Michael Melvin, „Microeconomics“, 1999, Houghton Mifflin College, 4. Auflage.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/136


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Mehrjähriges Gemeinschaftsprogramm zur Förderung der sichereren Nutzung des Internet und neuer Online-Technologien“

(KOM(2004) 91 endg. — 2004/0023 (COD))

(2005/C 157/24)

Der Rat beschloss am 26. März 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 153 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen:

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 5. Oktober 2004 an. Berichterstatter war Herr RETUREAU, Mitberichterstatterin Frau DAVISON.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember (Sitzung vom 16. Dezember) mit 147 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Überblick über den Stellungnahmeentwurf

1.1

Die Kommission schlägt die Auflegung eines neuen Programms zur sichereren Nutzung des Internet vor, das in Anbetracht der rasanten Entwicklung der Informationsgesellschaft in Bezug auf die Kommunikationsnetze gegenüber seinem Vorläufer ausgeweitet wurde. Deswegen wurde es auch „Mehr Sicherheit im Internet“ (2005-2008) getauft.

1.2

Neben dem „Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein mehrjähriges Gemeinschaftsprogramm zur Förderung der sichereren Nutzung des Internet und neuer Online-Technologien“ (KOM(2004) 91 endg.) prüfte der Ausschuss auch die in einem Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen (SEK(2004) 148) und in diesem Vorschlag enthaltene Ex-ante-Bewertung. Er befürwortet die Ausdehnung des Anwendungsbereichs des neuen Aktionsplans und seine Ziele, die der raschen Entwicklung und der Diversifizierung der Internetzugangsmöglichkeiten und der rasanten Zunahme der Zahl an schnellen Internetverbindungen und Standleitungen Rechnung tragen. In seinen allgemeinen und besonderen Bemerkungen trägt der Ausschuss ergänzende Empfehlungen bezüglich der politischen Aktionen und Regulierungsmaßnahmen vor, u.a. betreffend:

(verbindliche und freiwillige) technische und rechtliche Normen;

die Medienerziehung und -kompetenz der Nutzer;

die Verpflichtungen der Internet-Access- und Webspace-Provider sowie der übrigen Akteure (Kreditkartenunternehmen, Suchmaschinenbetreiber usw.);

die Verantwortung und Haftung der Software-Programmierer und der Anbieter von Sicherheitstechnik;

den Schutz verwundbarer Personen gegen Betrug oder zweifelhafte Informationen (verschiedene Betrügereien, „freier“ Verkauf von Arzneimitteln, medizinische Ratschläge und Behandlungsmethoden durch Personen ohne medizinische Qualifikation usw.).

2.   Zusammenfassung der Kommissionsvorschläge

2.1

Mit dem vorgeschlagenen Programm soll eine sichere Nutzung des Internet und der Online-Technologien seitens der Endnutzer, insbesondere Kinder und Jugendlichen, zu Hause oder in der Schule, gefördert werden. Hierfür ist die Kofinanzierung von Projekten vorgesehen, die von Vereinen und anderen Einrichtungen (Forscherteams, Softwareentwickler, Bildungseinrichtungen usw.) zur Entwicklung von Schutzmechanismen wie Hotlines, Spam- und Virenfilter, „intelligente“ Navigationsfilter usw. konzipiert werden.

2.2

Der vorausgegangene Aktionsplan für die sichere Nutzung des Internet (1999-2002) war für den Zeitraum 2003-2004 verlängert worden.

2.3

Auf der Website der Kommission sind die Projekte aufgeführt, die im Rahmen des Programms zur sichereren Nutzung des Internet bis Ende 2003 durchgeführt wurden (1).

2.4

Der nun vorgelegte Vorschlag für den Zeitraum 2005-2008 erstreckt sich auch auf die neuen Online-Kommunikationsmittel. Im Zusammenhang mit diesen Mitteln soll die Bekämpfung illegaler und schädlicher Inhalte bis hin zu Computerviren und anderen schädigenden oder ungewünschten Inhalten (Spam) intensiviert werden.

2.5

Diese Intensivierung der Bekämpfungsmaßnahmen ist aus Sicht der europäischen Institutionen aus mehreren Gründen gerechtfertigt, und zwar vor allem aufgrund:

des rasanten Anstiegs der Zahl an schnellen Interverbindungen, die von Privatpersonen, Unternehmen, Behörden und privaten Einrichtungen (NGO) für lange Onlineverbindungen oder in Form von Standleitungen genutzt werden;

der Vielfalt an Möglichkeiten und Methoden des Zugangs zu Internet, zu neuen Online-Inhalten, die vielfach unerwünscht zugesandt werden (E-Mail, SMS), und zu attraktiveren Inhalten (Multimedia);

der drastischen Zunahme unerwünscht zugesandter und potenziell gefährlicher und ungeeigneter Inhalte, die neue Gefahren für die breite Öffentlichkeit birgt (Viren: Befall der Speicher, Datenkorrumpierung oder -zerstörung, Missbrauch der Kommunikationsmittel des betroffenen Nutzers; Spam: Missbrauch von Bandbreite und Speicherplatz, Überflutung des E-Mail-Eingangsordners, was zu einer völligen Blockierung oder aber zumindest einer Behinderung des Internet- und E-Mail-Zugangs führt und umfassende Kosten für den Endnutzer, nicht jedoch für den Spam-Verursacher nach sich zieht, für einige wichtige Nutzerkategorien wie Kinder Nachrichten mit expliziten sexuellen oder sonstigen ungeeigneten Inhalten, Anfragen auf Treffen durch Pädophile in Chatrooms);

der ungeeigneten, für Kinder wegen der nur sehr relativen Effizienz der den für die Kinder verantwortlichen Personen derzeit zur Verfügung stehenden Filtermöglichkeiten allerdings leicht zugänglichen Inhalte.

2.6

Hauptziel dieses Programms ist der Schutz der Kinder und die Unterstützung der für sie verantwortlichen Personen (Eltern, Lehrer, Erzieher usw.) sowie derjenigen, die für den Schutz ihrer moralischen Interessen und ihr Wohlbefinden eintreten. Somit betrifft das Programm auch NGO, die sich im Sozialwesen, für den Schutz der Kinderrechte, im Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (2) und jedwede sonstige Form der Diskriminierung, für den Verbraucherschutz, den Schutz der Bürgerrechte usw. engagieren.

2.7

Dieses Programm betrifft außerdem die Regierungen, ihre Legislativ-, Justiz- und Exekutivorgane wie auch ihre Regulierungsbehörden. Das materielle wie auch das Verfahrensrecht müssen angepasst und eine ausreichende Zahl an Mitarbeitern entsprechend ausgebildet und ausgestattet werden.

2.8

Dieses Programm ist jedoch auch für die Industrie von Bedeutung, die ein sicheres Umfeld zur Stärkung des Verbrauchervertrauens benötigt.

2.9

Universitäten und Forschungseinrichtungen können Aufschluss über die Nutzung der neuen Medien durch Kinder geben. Der beste Weg, um den Nutzern Sicherheitshinweise zu vermitteln, besteht darin, die Methoden der Kriminellen publik zu machen, die sie zum Missbrauch dieser Medien einsetzen, neue technische Lösungen zu erforschen und einen unabhängigen Standpunkt zur Vereinbarkeit der von den Regulierungs- und Selbstregulierungsverfahren betroffenen Interessen zu liefern.

2.10

Das Programm umfasst zwei Aktionsfelder: Auf sozialer Ebene ist es auf die Bereiche ausgerichtet, in denen die Regulierungsmaßnahmen und das freie Spiel der Marktkräfte allein nicht ausreichen könnten, um die Sicherheit der Nutzer zu gewährleisten. Auf wirtschaftlicher Ebene gilt es, die sichere Nutzung des Internet und der Online-Technologien durch die Schaffung eines Klimas des Vertrauens zu fördern.

2.11

Zur Förderung der Entwicklung neuer technischer und rechtlicher Instrumente sowie von Softwareprogrammen und Informationskampagnen sind Mittel in Höhe von rund 50 Millionen Euro vorgesehen, um wirksamer gegen das unerlaubte Eindringen in Netze und Computer sowie deren Missbrauch durch Spam vorzugehen, die negative Folgen in moralischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht nach sich ziehen können.

3.   Allgemeine Bemerkungen des Ausschusses

3.1

Der Ausschuss verweist auf seine bereits in früheren Stellungnahmen zum Thema „Kinderschutz im Internet“ und zum ersten Aktionsplan dargelegten Standpunkte (3). Er begrüßt den Vorschlag für einen neuen Aktionsplan zur Bekämpfung illegaler und schädlicher Inhalte in der Online-Kommunikation (siehe Ziffer 1 — Überblick über den Stellungnahmeentwurf) und unterstützt die Ziele und Prioritäten des Programms „Mehr Sicherheit im Internet“ als eines der Instrumente zur Verbesserung der Sicherheit im Internet. Der Ausschuss betont jedoch die Größenordnung des Problems und die Notwendigkeit internationaler Aktionen und Regulierungsmaßnahmen, um dieses Problem in den Griff zu bekommen.

3.2

Das Internet und die neuen Online-Technologien (wie Mobiltelefone und PDA mit Multimediafunktion und Web-Anschluss, die reißenden Absatz finden) sind nach Ansicht des Ausschusses grundlegende Mittel zur Förderung einer wissensbasierten Wirtschaft, des elektronischen Geschäftsverkehrs und der Online-Verwaltung. Sie sind vielfältig und sowohl für die Kommunikation zu kulturellen und Arbeitszwecken als auch in der Freizeit einsetzbar. Daher ist die Gewährleistung der Sicherheit und des reibungslosen Funktionierens der Kommunikationsnetze von größter Wichtigkeit, handelt es sich doch um eine wesentliche öffentliche Dienstleistung, die allen offen stehen und zugänglich sein muss. Die Nutzer müssen Vertrauen in diese Dienstleistung haben, damit ihre mannigfaltigen Funktionen unter den besten Bedingungen zur Geltung kommen können. Eine der unter dem Kosten-Nutzen-Aspekt erfolgversprechendsten Möglichkeiten, eine Vielzahl von Nutzern zu erreichen, wäre die Aufnahme der Informationen über Internetsicherheitslösungen in die verschiedenen eEurope-Programme, insbesondere im Bereich Bildung.

3.3

Die Meinungs- und Informationsfreiheit im Internet wird durch die relativ geringen Kosten der Internetverbindungen — auch der schnellen Verbindungen — erleichtert, wodurch immer einfacher auf Multimedia-Inhalte zugegriffen werden kann. Nur einige Länder mit starkem Demokratiedefizit versuchen noch, den Kommunikationsfluss und die für ihre Bürger zugänglichen Inhalte um den Preis einer ständigen Einschränkung der Freiheiten zu kontrollieren. Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass eine stärkere Sicherheit bei gleichzeitiger Wahrung und Förderung der Informations-, Kommunikations- und Meinungsfreiheit garantiert werden muss.

3.4

Dieser Raum der Meinungs- und Informationsfreiheit, den das Internet darstellt, wird jedoch noch stärker als andere Kommunikationsmittel zu illegalen Aktivitäten wie Pädophilie oder Rassismus und Fremdenfeindlichkeit missbraucht; einige Inhalte können sich auch für bestimmte Zielgruppen, insbesondere Kinder und Jugendliche, als schädlich erweisen wie Pornografie, Glücksspiele (deren Online-Verbreitung in einigen Ländern sogar verboten ist) und verschiedene Straftaten (Missbrauch der Bandbreite, Daten- und Servermissbrauch). Der Ausschuss begrüßt die Ausdehnung des neuen Aktionsplans auf alle elektronischen Kommunikationsmittel, die Gegenstand von unerwünschten oder schädlichen Zugriffen von außen sein können.

3.5

Die Regulierung dieses neuen, rasch expandierenden Raumes gestaltet sich sehr schwierig, handelt es sich doch um ein internationales offenes Netz, das für alle von jedem ans Netz angeschlossenen Server oder Computer aus von mehr oder weniger überall in der Welt zugänglich ist. In zahlreichen Ländern bestehen jedoch nach wie vor überhaupt keine oder nur unzureichende Rechtsvorschriften, wodurch Websites, die in der Europäischen Union verboten wurden, weiterhin betrieben werden können. Daher wäre es von größter Wichtigkeit, dass die Europäische Union sich für ein internationales Vorgehen insbesondere in Zusammenarbeit mit den wichtigsten Ländern in Nordamerika und Asien, in denen Breitbandanschlüsse weit verbreitet sind, ausspricht und dieses fördert, um die verwundbarsten Gruppen zu schützen sowie unerwünschte Inhalte (Spam-Mails), die die Weiterentwicklung der E-Mail-Kommunikation gefährden, und die Verbreitung von Viren zu bekämpfen, die den elektronischen Geschäftsverkehr beeinträchtigen. Die in Bezug auf den EU-Raum erforderlichen Maßnahmen müssen jedoch auch Teil eines weltweiten Konzepts sein.

3.6

Da es keinerlei internationale Abkommen gibt, kann gegen das Verbot bestimmter Inhalte in einigen Ländern im Rahmen des TBT-Übereinkommens sogar Klage vor der WTO erhoben werden, wobei diese Frage in den laufenden Verhandlungen behandelt werden sollte. (4)

3.7

Die Ortsbezogenheit des Rechts und die unterschiedlichen einzelstaatlichen Vorschriften stellen ein nur schwer überwindbares Problem dar. Der Stand der Technik ermöglicht auch den direkten Austausch (mittels Peer-to-Peer-Anwendungen (P2P)) unterschiedlichster Dateien einschl. verschlüsselter Daten, deren Inhalt nicht kontrolliert werden kann. Jeder Rechner bzw. jedes Netz, das „online“ ist, kann für das Speichern und in der Folge die Verbreitung von immer komplexeren Inhalten eingesetzt werden. Ferner können Nutzer anonym und „spurlos“ auf jeden Server zugreifen und nur sehr schwer oder mitunter überhaupt nicht entschlüsselbare Kodierungssysteme verwenden.

3.8

Da immer mehr Nutzer ihre eigene Website aufbauen oder Weblogs führen, immer mehr Websites für den elektronischen Geschäftsverkehr bzw. für elektronische Finanzdienstleistungen entwickelt und immer mehr Websites mit informativen, wissenschaftlichen, bildungsbezogenen und technischen Inhalten, aber auch Pornografie- und Glücksspielsites ins Netz gestellt werden, gibt es in der ganzen Welt Abermillionen Websites. Eine gewisse Kontrolle kann jedoch durch Überprüfung der in den Suchergebnissen angezeigten Schlüsselbegriffe erfolgen. Außerdem kann auch die Einrichtung von direkten Links und die automatisierte Weiterleitung von Inhalten in Form von Spam-Mails von den Internet-Access-Providern kontrolliert werden, wodurch auf diese Weise versendete Werbung und andere unerwünschte Inhalte im Allgemeinen (Missbrauch der Bandbreite, Viren) und im Besonderen für einige Nutzerkategorien wie Kinder (moralische und psychologische Beeinträchtigung) schädlich sein können.

3.9

Das Internet wird von mafiösen Gruppen, Fälschern, Virenprogrammierern, Computerpiraten, Industriespionen und anderen Kriminellen für ihre Zwecke missbraucht. Die Strafverfolgung in diesem Bereich ist sehr schwierig, auch wenn in zahlreichen Ländern Polizeisondereinheiten mit der Identifizierung und Lokalisierung derartiger Nutzer beschäftigt sind, um diese zu verfolgen und ihnen das Handwerk zu legen; hierfür ist jedoch ganz allgemein eine internationale Zusammenarbeit notwendig, die noch stärker als bislang gefördert werden muss.

3.10

Wie kann man gegen kriminelle Aktivitäten wie Websites mit pädophilen Inhalten vorgehen? Rechtlich gesehen ist ihr Verbot kein Problem, doch müssen erst Möglichkeiten geschaffen werden, um derartige Netze zu entdecken. Wie können Kinder vor pädophilen Tätern geschützt werden, die in bei Jugendlichen besonders beliebten Chatrooms direkt mit diesen Kontakt aufnehmen, um ein persönliches Treffen zu vereinbaren? Es geht nicht um die Rechtmäßigkeit des Verbots derartiger Websites oder der Strafverfolgung in diesen Sonderfällen, sondern um die Mittel, diese auch wirklich durchzusetzen.

3.11

Die Internet-Access- und Webspace-Provider können nicht alle Websites und Kommunikationen (die in den Bereich des privaten Schriftverkehrs fallen) überwachen und kontrollieren. Wenn sie jedoch von der Staatsanwaltschaft, der Polizei oder einer anerkannten Kinderschutzstelle dazu aufgefordert werden, müssen sie umgehend auf die Anträge oder Entscheidungen betreffend die Schließung derartiger Websites und die Identifizierung der Nutzer antworten. Dies bedeutet auch, dass Informationen über diese ins Netz gestellten Inhalte wie auch über die Nutzer, die diese Website besucht haben, für einen bestimmten Zeitraum gespeichert werden.

3.12

Kreditkartenunternehmen, Betreiber von Suchmaschinen und Internetprovider müssten beispielsweise stichprobenartig anhand bestimmter Indikatoren wie Schlüsselbegriffen oder geographischen Gebieten überprüfen, ob Websites pädophile Inhalte aufweisen und diese ggf. dann der Polizei melden. Die gleiche Vorgehensweise sollte angewendet werden, um „Kunden“ zu identifizieren, die mit ihrer Kreditkarte kinderpornografische und andere kriminelle Inhalte wie Snuff Movies (5) bestellen. Derartige stichprobenartige Untersuchungen sollten notfalls sogar per Gesetz verbindlich eingeführt werden. Betreiber von Suchmaschinen sollten ebenfalls alles daran setzen, die Möglichkeiten einzuschränken, durch bestimmte Suchbegriffe beim Internetsurfen auf kinderpornografische Inhalte zu stoßen.

3.13

Hierfür sind jedoch angemessene Mittel seitens der öffentlichen Behörden, qualifizierte Mitarbeiter, eine umfassende grenzüberschreitende Zusammenarbeit und ausgewogene Normen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene erforderlich, durch die jedoch die Freiheiten der Internetsurfer nicht eingeschränkt werden dürfen. Gleichzeitig muss jedoch auch die Möglichkeit gegeben sein, diejenigen Einzelpersonen und Gruppen, die das Internet für die Verbreitung von illegalen Inhalten nutzen, ausfindig zu machen und an ihrem Treiben zu hindern sowie den Eingang unpassender und schädlicher Inhalte willentlich zu blockieren.

3.14

Darüber hinaus müssen alle Internetnutzer direkt in die Bekämpfung derartiger Inhalte eingebunden werden, um diese wirksam zu gestalten. Die Internetnutzer müssen über die Vorkehrungen und Mittel aufgeklärt und informiert werden, mit denen sie sich gegen derartige gefährliche und unerwünschte Inhalte sowie den Missbrauch ihrer Website als Schnittstelle für die Weiterverbreitung solcher Inhalte schützen können. Dem Bereich „Sensibilisierung“ des Aktionsplanes muss nach Ansicht des Ausschusses Priorität bei der Mobilisierung der Nutzer eingeräumt werden, um ihr Verantwortungsbewusstsein sich selbst gegenüber aber auch gegenüber von ihnen abhängigen Personen zu stärken. So stellen beispielsweise die keinerlei Regulierung unterliegenden Gesundheits-Websites ein Problem dar. Zum eigenen Schutz müssen auch Unternehmen für die Schulung ihrer Mitarbeiter und die Sicherung ihrer für den elektronischen Geschäftsverkehr genutzten Netze und Websites Sorge tragen; Behörden sowie öffentliche und private Einrichtungen müssen ebenfalls Sicherheitsmaßnahmen ergreifen und die absolute Vertraulichkeit der Daten, insbesondere personenbezogener Daten, sicherstellen. Neben der Stärkung des Verantwortungsbewusstseins gilt es, Internetinhalte von hoher Qualität sowie „internetfreie“ Aktivitäten als Alternative zum stundenlangen Surfen und zu einigen Rollenspielen zu fördern, die auf lange Sicht gesehen Menschen mit einer noch nicht gefestigten Persönlichkeit schaden können.

3.15

Nutzer müssen die Möglichkeit haben, illegale Inhalte, die sie im Internet finden, ohne größeren Aufwand bei spezialisierten Hotlines, anerkannten Stellen oder Sondereinheiten der Polizei zu melden, um die Behörden zu alarmieren, damit diese gegebenenfalls wiederum entsprechende Maßnahmen ergreifen können. In den Ländern, in denen Kinder sehr häufig zu pornografischen Zwecken im Internet und auf anderen Datenträgern missbraucht werden (wie in den Ländern an der EU-Außengrenze), sollten Warnhinweise an die Eltern gerichtet werden. Diese Maßnahme könnte in einige Kooperationsprogramme mit diesen Ländern im Bereich Außenbeziehungen aufgenommen werden.

3.16

Der Ausschuss unterstützt die spezifischen Ziele dieses Programms wie Meldung von illegalen Inhalten durch die Nutzer (über Hotlines), Entwicklung von Filtertechnologie für ungewünschte Inhalte, Klassifizierung der Inhalte, Bekämpfung von Spam, Selbstregulierung der Industrie, Information über die sichere Nutzung der Technologien, empfiehlt in seinen besonderen Bemerkungen jedoch auch einige zusätzliche Ziele, die seines Erachtens in die Überlegungen einbezogen werden sollten.

4.   Besondere Bemerkungen des Ausschusses

4.1

Der Ausschuss hat bereits in der Vergangenheit den Abbau des überzogenen bürokratischen Aufwands für die von der EU finanzierten Programme seitens der Europäischen Kommission gefordert, um insbesondere den Zugang zur Finanzierung für Kleinprojekte und lokale NGO zu erleichtern. Er spricht sich dafür aus, dass die Überwachung anhand der im Rahmen dieses Programms erzielten greifbaren Ergebnisse und die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Lösungen erfolgen soll. Die Verbreitung dieser Lösungen sollte weitaus offener erfolgen.

4.2

Normative Maßnahmen zur Förderung des Schutzes der Endnutzer sollten nach Möglichkeit im Rahmen dieses Programms oder andernfalls einer neuen Initiative der Kommission nach Meinung des Ausschusses in Erwägung gezogen werden.

4.3

Die Hersteller von Internetanschlussprogrammen, Betriebssystemen und von Software, die unerwünschtes Eindringen verhindert, sollten voll haftbar sein. Die Nutzer sollten die Gewähr haben, dass die Hersteller dieser Programme die beste verfügbare Technik auch tatsächlich einsetzen und ihre Produkte regelmäßig aktualisieren. Durch Selbstregulierung und gegebenenfalls eine Gemeinschaftsnorm sollten die Nutzer über noch mehr Garantien verfügen.

4.4

Internet-Access- und Webspace-Provider sollten auf ihren Websites einfache Möglichkeiten zur Virusbekämpfung vor dem Herunterladen von E-Mails bzw. Öffnen von Anhängen und Spam-Filter zur Vorauswahl der Nachrichten anbieten (wie sie dies oftmals auch bereits tun). Dies könnte den Internet-Access-Providern, die ernsthaft um den Schutz ihrer Kunden bemüht sind, im Gegenzug aber auch einen Wettbewerbsvorteil bringen. Da Kinder mit dem Internet häufig besser vertraut sind als ihre Eltern, müssen E-Mail-Filtersysteme sowie Programme zur Virenabwehr und zum Schutz vor ungewünschtem Eindringen sowie Software für elterliche Surf-Kontrolle, die für Erwachsene ohne besondere technische Vorkenntnisse einfach anzuwenden und zu überwachen sind, vorinstalliert sein.

4.5

Im Rahmen des Programms sollten auch die Forschung zur Entwicklung spezieller Softwareprogramme und anderer Möglichkeiten zur Überprüfung der „Undurchlässigkeit“ der Verschlüsselungscodes der verschiedenen Sicherheitssoftwareprogramme gefördert, Hersteller dazu angeregt oder vielleicht sogar verpflichtet werden, umgehend Patches (Korrekturen und Aktualisierungen) für alle erkannten und gemeldeten Sicherheitslücken, die unerwünschtes Eindringen nach sich ziehen könnten, anzubieten, die Wirksamkeit von Firewalls für Hard- und Software gestärkt und Methoden zur effizienten Filterung und Identifizierung von Inhalten entwickelt werden.

4.6

Der Ausschuss hätte eine stärkere Verbreitung der Bewertung der Effizienz des ersten Programms zur sichereren Nutzung des Internet und der in seinem Rahmen erzielten Ergebnisse mit einer Einteilung nach Problemkategorien, auf die die einzelnen Projekte abstellten, für wünschenswert erachtet. Es müsste sichergestellt werden, dass die Links zu den finanzierten Projekten aktiv bleiben und die Zielgruppe besser über diese unterrichtet ist. Auf der Website der Europäischen Kommission sollten auch Informationen über die Initiativen und Erfahrungen der Mitgliedstaaten und Drittländer enthalten sein, um das Wissen zu verbreiten und einen sinnvollen Erfahrungsaustausch bzw. Kooperationen zu fördern.

4.7

Es ist absolut möglich, rechtliche Maßnahmen zu treffen. Internet-Access-Provider, Kreditkartenunternehmen und Suchmaschinenbetreiber können allesamt einer Regulierung unterworfen werden; einige nehmen sogar schon eine Selbstregulierung vor. Die Strafen für Betreiber von Websites, auf denen Terrorismus oder Rassismus verherrlicht werden sowie zu Selbstmord aufgerufen und Kinderpornografie angepriesen wird, müssen drastisch sein und abschreckende Wirkung haben. Es bedarf umfangreicherer internationaler Bemühungen, um derartige Websites zu identifizieren und lokalisieren, um sie nach Möglichkeit zu schließen oder andernfalls diesbezügliche Verhandlungen mit dem Webspace-Provider aufzunehmen.

5.   Schlussfolgerungen

Der Ausschuss spricht sich zwar für die Weiterführung und Ausweitung des Programms „Mehr Sicherheit im Internet“ aus (hat er doch die Auflegung dieses Programms gefordert), vertritt jedoch die Ansicht, dass der Ernst und das Ausmaß der Gefahr des Missbrauchs in erster Linie von Kindern zusätzliche dringliche rechtliche und je nach Fall praktische Maßnahmen erforderlich machen, und zwar:

eine allgemeine Verpflichtung aller betroffenen Akteure, die Kinder und ganz allgemein sämtliche Nutzer, vor allem die verwundbarsten Personen, zu schützen;

eine automatische Installierung von Filtersystemen;

klare Sicherheitshinweise auf allen Startseiten und Internetportalen von Chatrooms;

Unterstützung von Vereinen, die Hotlines für die Meldung von Websites und Online-Aktivitäten einrichten, die dem Kindesmissbrauch Vorschub leisten;

eine Unterbindung der Benutzung von Kreditkarten zur Bestellung von kinderpornografischen und anderen kriminellen Online-Inhalten sowie zur Geldwäsche;

Warnhinweise und gezielte Maßnahmen für die Eltern, Erziehungsbeauftragten und Behörden in den Ländern, in denen Kinder häufig zu pornografischen Zwecken missbraucht werden;

ein verstärktes Vorgehen in Bezug auf die Verbindung zwischen dem Kindesmissbrauch zu pornografischen Zwecken und dem organisierten Verbrechen;

Systeme zur Identifizierung und Information im Zusammenhang mit illegalen Inhalten und zur Entfernung von rassistischen Inhalten, Verbreitung von Informationen über Online-Betrugsversuche und den Verkauf von gesundheitsschädlichen Substanzen zum Schutz verwundbarer und schlecht informierter Personen;

die Förderung der Zusammenarbeit und Ausarbeitung gemeinsamer Regeln auf internationaler Ebene zur wirksameren Bekämpfung von Spam-Mails;

die internationale Zusammenarbeit (Verbesserung des Frühwarnsystems) und Strafmaßnahmen mit abschreckender Wirkung für die Verbreitung von Viren und die illegale Nutzung von privaten und öffentlichen Netzen zu kriminellen Zwecken (Eindringen in Netze zur Industriespionage, Missbrauch von Bandbreite sowie andere Formen des Missbrauchs).

Brüssel, den 16. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  http://europa.eu.int/information_society/programmes/iap/index_en.htm [nur auf EN]

(2)  Diese Themen entsprechen einer früheren Forderung des Ausschusses.

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ein Programm für den Schutz von Kindern im Internet“ (Berichterstatterin: Frau DAVISON), ABl. C 48 vom 21.2.2002; Stellungnahme des EWSA zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Sicherheit der Netze und Informationen: Vorschlag für einen europäischen Politikansatz“ (Berichterstatter: Herr RETUREAU), ABl. C 48 vom 21.2.2002, Stellungnahme des EWSA zu dem „Grünbuch über den Jugendschutz und den Schutz der Menschenwürde in den audiovisuellen und den Informationsdiensten“ (Berichterstatterin: Frau BARROW), ABl. C 287 vom 22.9.1997.

(4)  „Technical Barriers to Trade = Technische Handelhemmnisse“. Übereinkommen über technische Handelshemmnisse für den Austausch und die Erbringung von Dienstleistungen. Vgl. beispielsweise die Streitsache USA gegen Antigua und Barbuda über Offshore-Glücksspiele („Measures Affecting the Cross-Border Supply of Gambling and Betting Services“), in der gegen die Panelentscheidung Rechtsmittel bei der WTO eingelegt wurden ( http://www.wto.org/french/tratop_f/dispu_f/distabase_wto_members1_f.htm) Doc. 03-4429 cote WT/DS285/3 du 26/08/2003. Noch anhängig.

(5)  Filme, in denen reale Extremgewalt, Folterungen und Tötungen gezeigt werden.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/141


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Erreichbarkeit Europas auf dem Seeweg: Entwicklung und vorausschauende Weichenstellungen“

(2005/C 157/25)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 1. Juli 2004, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Die Erreichbarkeit Europas auf dem Seeweg: Entwicklung und vorausschauende Weichenstellungen“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. November 2004 an. Berichterstatter war Herr SIMONS.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 16. Dezember) mit 124 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Der Seeverkehr mit Quelle und/oder Ziel in den EU-Mitgliedstaaten ist von sehr großer Bedeutung. Jedes Jahr werden mehr als 3.500 Mio. Tonnen Fracht auf dem Seeweg in den gut 1.000 Seehäfen in der EU angelandet, umgeschlagen oder von ihnen aus transportiert. Daneben werden jährlich ca. 350 Mio. Passagiere mit Fähren und auf Kreuzfahrtschiffen befördert.

1.2

Über 90 % des Verkehrs zwischen Europa und dem Rest der Welt wird über die europäischen Seehäfen abgewickelt. Außerdem laufen auch 40 % des innereuropäischen Verkehrs über den Seeweg. Was den Energie- und Umweltaspekt angeht, kann sich der Seeverkehr sehen lassen. Im Vergleich zum Straßenverkehr ist sein CO2- und Partikelausstoß bis zu 13 mal geringer, der CHx-Ausstoß sogar bis zu 19 mal niedriger (1).

1.3

In den Häfen und den direkt damit verbundenen Dienstleistungsbetrieben sind ca. 250 000 Menschen beschäftigt. Insgesamt beschäftigt der gesamte maritime Sektor ca. 2,5 Mio. Menschen in Europa und liefert einen Mehrwert in Höhe von ca. 111 Billionen Euro. Dies zeigt, wie wichtig der Seeverkehr für Europa ist.

1.4

Das Volumen des Seeverkehrs innerhalb Europas sowie von und nach Europa nimmt nach wie vor von Jahr zu Jahr stetig zu. Deswegen muss die EU das Wachstum dieser Verkehrsströme aufmerksam beobachten und rechtzeitig die entsprechenden Maßnahmen anregen bzw. selbst ergreifen, um für dieses Wachstum gerüstet zu sein.

1.5

Der Seeverkehr lässt sich in verschiedene Arten und Kategorien untergliedern, und zwar nach dem Zweck: Freizeit oder gewerblicher Transport; nach der Organisationsform: Trampschifffahrt und Linienschifffahrt; nach dem Fahrtgebiet: Hochseeverkehr und Kurzstreckenseeverkehr; nach Art der Ladung: Passagierverkehr und Gütertransport. Der Binnenmarkt ist vor allem vom gewerblichen Transport und den vier zuletzt genannten Kategorien betroffen, daher wird in dieser Stellungnahme auf diese Punkte eingegangen.

1.6

In der Passagierschifffahrt ist der Unterschied zwischen Kreuz- und Fährfahrten/RoRo-Schifffahrt markant, beim Gütertransport auf dem Seeweg ist zwischen den verschiedenen Arten von Frachtgut zu unterscheiden, als da sind:

Trockene Bulkladung: Ladung dieser Art wird als Schüttgutladung in speziellen Containern transportiert, z.B. Erz, Kohle und Getreide.

Flüssige Bulkladung: Derartige Ladung wird in Tankschiffen transportiert, z.B. Rohöl, Ölerzeugnisse und Chemikalien.

Stückgut: Bei dieser Ladung wird zwischen Roll-on- und Roll-off-Ladung, sonstigem Stückgut und Containern unterschieden.

2.   Überblick über die Marktlage der einschlägigen Kategorien

2.1

Sowohl bei Kreuz- und Fährschifffahrt als auch bei der RoRo-Schifffahrt geht es um Passagierschifffahrt, allerdings mit sehr unterschiedlicher Wesenscharakteristik. Die Kreuzschifffahrt ist eine Art Tourismus per Schiff, während die Fährfahrt den Transport von A nach B darstellt, der übrigens per RoRo auch für Güter möglich ist. Insgesamt werden in der EU 350 Mio. Passagiere auf dem Seeweg befördert, wovon 4 Mio. auf Kreuzschifffahrt entfallen.

2.2

Die größten Kreuzfahrthäfen in Europa sind Barcelona (832 000 Passagiere), Palma de Mallorca (665 000), Venedig (634 000), Neapel (534 000), Southampton (533 000) und Civitavecchia (520 000). Das größte Kreuzfahrtschiff, das dieses Jahr vom Stapel lief, ist die Queen Mary II mit einer Länge von 345 m, einer Breite von 41 m und einem Tiefgang von 10,3 m.

Längenmäßig ist die Queen Mary II ungefähr mit den größten Massengutfrachtern und Containerschiffen zu vergleichen, doch ist der Tiefgang von Kreuzfahrtschiffen im Vergleich zu Containerschiffen und Massengutfrachtern geringer. Größeren Häfen bereiten diese Schiffe in Bezug auf ihre Zugänglichkeit keine großen Probleme.

2.3

Häufig führen Fährschiffe auch RoRo-Frachttransport durch, sprich, sie sind kombinierte Passagier- und Frachtschiffe. Innerhalb der EU läuft der Fährverkehr zwischen dem europäischen Festland und dem Vereinigten Königreich, Skandinavien, den Baltischen Staaten, den Kanarischen Inseln und vor allem im Mittelmeer gibt es ein umfangreiches Fährverbindungsnetz, und zwar auch zu Drittländern. Die größten Fähr-/RoRo-Schiffe sind die „Pride of Rotterdam“ und die „Pride of Hull“, Schwesterschiffe der Reederei P&O North Sea Ferries. Diese Schiffe sind 215 m lang, 32 m breit, haben jedoch einen mäßigen Tiefgang von 6,3 m.

2.4

Abgesehen von gelegentlich örtlich begrenzten Schwierigkeiten ist auf europäischer Ebene für diese Kategorie zunächst keine besondere strukturelle Aufmerksamkeit für die physische Erreichbarkeit Europas mehr erforderlich. Die Erreichbarkeit Europas für diese Kategorie ist auch für die Zukunft sichergestellt, sodass einem weiteren Wachstum dieser Verkehrsart nichts im Wege steht.

2.5

Trockene und flüssige Bulkladungen sind für die Belieferung der europäischen Industrie von großer Bedeutung. Der Transport von flüssigen und trockenen Massengütern hat in Europa vor allem in den 1960er und 1970er Jahren in Bezug auf Ladungsvolumen und die Schiffsgröße ein starkes Wachstum erlebt.

2.6

In der Massengutschifffahrt mit Flüssiggütern stieg die maximale Schiffsgröße seinerzeit infolge der Schließung des Suez-Kanals nach dem Sechstagekrieg und die stetig steigende Nachfrage nach Rohöl von 85 000 tdw im Jahr 1968 auf 560 000 tdw (2) im Jahr 1976 an. Mehrere europäische Häfen haben dafür Sorge getragen, dass sie von diesen Schiffen angelaufen werden konnten. Im Zusammenhang mit der ersten Ölkrise 1973 erwiesen sich diese Schiffe als nicht mehr rentabel und wurden schließlich abgewrackt. Beim Neubau von Tankschiffen in den 1980er und 1990er Jahren ist keine weitere Zunahme der Schiffsgröße zu beobachten. Die großen Tankschiffe bewegen sich weiterhin in der Größenordnung von ca. 300 000 tdw. Erst im Jahr 2002 wurden wieder einige ULCC-Supertanker (Ultra Large Crude Carrier) mit 400 000 tdw gebaut, für die noch ausreichende Hafenkapazitäten zur Verfügung stehen.

2.7

Bei trockenen Massengütern ist die Entwicklung seit Ende der 1960er Jahre ähnlich verlaufen. Die Größenordnung bei dieser Schiffskategorie gipfelte in der 365 000 tdw großen „Berge Stahl“, die mit ihren 23 m (76 Fuß) Tiefgang bereits seit 18 Jahren Eisenerz von Brasilien nach Rotterdam transportiert und auf keiner anderen Strecke einsetzbar ist. Die meisten neuen Massengutfrachter liegen allerdings seit den 1980er Jahren in dem Bereich zwischen 150 000 und175 000 tdw. Dies zeigt, dass sich die flüssige und trockene Massengutschifffahrt zu einem reifen Markt entwickelt hat, an den sich die europäischen Seehäfen, die von diesen Schiffen angelaufen werden, bereits angepasst haben, sodass sie selbst den größten Massengutfrachter der Welt aufnehmen können. Bei der Ladekapazität und der Schiffsgröße ist kein großes Wachstum mehr zu erwarten. Die Erreichbarkeit Europas ist auch für diese Kategorien für die Zukunft bereits sichergestellt.

2.8

Bei Stückgutladungen werden General-Cargo- und Multifunktionsschiffe eingesetzt. Mit dem Aufkommen der Container ging der Stückgutmarkt stark zurück und beschränkt sich inzwischen auf Nischenmärkte, wie den Schiffsverkehr nach Afrika und als Reefer-Schiffe im Spezialfruchthandel. Diese Schiffe beschränken sich auf ca. 40 000 tdw, die Schiffsgröße nimmt nicht weiter zu.

2.9

Die Containerschifffahrt hingegen durchlebt zurzeit ein ungeahntes Wachstum, sowohl hinsichtlich des Volumens als auch hinsichtlich der Schiffsgröße. 1966 war die „Fairland“ das erste Schiff, das interkontinental Container aus den USA nach Europa transportierte. Die „Fairland“ der Rederei Sea-Land hatte ein Fassungsvermögen von 266 35-Fuß-Containern. Heute ist die „CSCL Europe“ mit 8 500 TEU (Twenty-foot Equivalent Unit — 20-Fuß-Standardcontainer) das größte Containerschiff der Welt, Schiffe mit 9 200 TEU Ladekapazität sind im Bau. Die „CSCL Europe“ ist 334 m lang, 42,8 m breit und hat einen maximalen Tiefgang von 14,5 m.

Das nachstehende Schaubild zeigt die Maximalgröße der Schiffsneubauten in den einzelnen Jahren. Vor allem das spektakuläre Wachstum seit 1995 ist beeindruckend. Zurzeit sind 156 Schiffe mit einer Kapazität von über 7 000 TEU in Auftrag.

Image

2.10

Es wird angenommen, dass in nicht allzu langer Zeit bei den Werften Aufträge für Schiffe mit 10 000 bis 12 000 TEU, in die nur noch ein Motor eingebaut werden muss, eingehen werden. Auch die Höchstgrenzen wurden schon berechnet (3). Unter Berücksichtigung der Felsschwelle in der Straße von Malakka, die ein wesentliches Teilstück der Fahrtroute für den Asienhandel ist, liegt er bei 18 000 TEU, allerdings für zweimotorige Schiffe, was die Transportkosten pro Container erheblich ansteigen lässt. Das Wachsen der interkontinental transportierenden Containerschiffe hin zu technischen und geographischen Grenzen ist indes kein Automatismus, wie sich auch bei Schiffen für den interkontinentalen Transport von trockenen und flüssigen Massengütern in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat.

2.11

In den vergangenen Jahren hat vor allem der Transport interkontinentaler Container mit Quelle bzw. Ziel in europäischen Häfen stark zugenommen. Die zunehmende Globalisierung und das damit verbundene Wachstum Chinas als Erzeugerland haben dazu geführt, dass z.B. die nordwesteuropäischen Containerhäfen in der Größenordnung von Hamburg und Le Havre in den letzten Jahren ein strukturelles Wachstum von gut 10 % pro Jahr erlebt haben. Auch die Mittelmeerhäfen haben ein explosives Wachstum erfahren.

2.12

Die großen Containerschiffe, beispielsweise aus dem Fernen Osten, laufen nur eine begrenzte Zahl von Häfen in Europa an. Dies liegt zum einen daran, dass sie für viele Häfen zu groß sind, andererseits sind diese Schiffe aber auch so teuer, dass sie nicht zu viel Zeit in Häfen verlieren wollen. In Europa laufen die größten Schiffe meist zwei oder drei Häfen im Mittelmeer an und ca. vier Häfen in Nordwesteuropa. Von diesen großen Containerhäfen aus werden die Container weiter über Europa verteilt. Einerseits auf dem Seeweg über ein gut ausgebautes Netz an Zubringerverbindungen, andererseits über Land, wobei die Schiene und die Binnenwasserstraßen zunehmend zum Einsatz kommen.

2.13

Immer häufiger kommt es zumindest in den größten und wichtigsten europäischen Containerhäfen (4) zu Engpässen bei der Abwicklung dieses zunehmenden Containerstroms in die Hafenterminals und beim anschließenden Transit. Neben Abhilfemaßnahmen an den jeweiligen Terminals, die auch ihren Ausbau einschließen, in den Häfen selbst ist ein effizienter Verlauf des Vor- und Nachlaufs sowohl auf See als auch an Land geboten.

2.14

Daneben erfordern auch die neuen Sicherheitsanforderungen viel Aufmerksamkeit der Häfen, damit der Umschlag und Transport trotz der zunehmenden Kontrollen so reibungslos wie möglich verlaufen kann.

2.15

Angesichts des in Ziffer 2.9 und 2.10 beschriebenen Größenordnungszuwachses kann die Schifffahrtsbranche die Hochseecontainerströme nicht einfach über andere europäische Häfen abwickeln. Wesentliche Gründe hierfür sind physische Gegebenheiten, wie z.B. mitunter nicht ausreichender Tiefgang und/oder unzureichende Einrichtungen und/oder zu lange Fahrtzeiten und/oder mangelndes Frachtvolumen (5), um das Anlaufen eines zusätzlichen Hafens rentabel zu machen. Diese Aussage gilt jedoch nicht uneingeschränkt, da die Wirtschaftsdynamik nämlich kleinere Häfen dazu veranlasst, sich stärker ins Zeug zu legen.

3.   Vor- und Hinterlandverbindungen

3.1

Die meisten Container, die in den europäischen Häfen umgeschlagen werden, müssen von dort aus weitertransportiert werden. Zum Teil werden sie auf dem Seeweg über Zubringerdienste mit kleinen Seeschiffen in andere Häfen befördert. Der größte Teil wird in das europäische Hinterland transportiert, auf der Straße, auf den Binnenwasserstraßen oder per Schiene. Die Kapazität der Hinterlandverbindungen muss daher mit dem Wachstum des Containerverkehrs Schritt halten, wobei gemäß der EU-Politik vorzugsweise auf den Transport mit Binnenschiffen, per Schiene und im Kurzstreckenseeverkehr/mit Zubringerdiensten zurückgegriffen werden sollte, ohne den erforderlichen Straßenverkehr zu beeinträchtigen.

3.2

So wird vor allem der innereuropäische Kurzstreckenseeverkehr von der EU stark gefördert. Hinzu kommt das im Rahmen der neuen transeuropäischen Verkehrsnetze vorgesehene Programm der Hochgeschwindigkeitsseewege, das allerdings noch im Einzelnen ausgearbeitet werden muss. Die neuen Vorschläge (vom 16. Juli 2004) sehen vor, dass für die TEN-T Mittel in Höhe von bis zu 20,35 Mrd. Euro bereitgestellt werden und Marco Polo-II sich auch auf Hochgeschwindigkeitsseeverkehrswege und Verkehrsvermeidungsmaßnahmen erstreckt, wofür Mittel in Höhe von bis zu 740 Mio. Euro zur Verfügung stehen.

3.3

Die Europäische Kommission hat das Konzept der Hochgeschwindigkeitsseewege entwickelt, um die Unterstützung zu ergänzen, die anderen Modalitäten im Rahmen der TEN geboten wird. Ein solcher „Hochgeschwindigkeitsseeweg“ bietet eine leistungsfähige und gleichwertige Alternative zum innereuropäischen Straßenverkehr, ohne übermäßigen bürokratischen Aufwand und mit effizienten intermodalen Verbindungen. Ziel des Programms ist eine Reduzierung der Verkehrsengpässe auf den europäischen Transitrouten und eine verbesserte Erreichbarkeit von Gebieten und Staaten in Randlagen sowie von Inselgebieten.

3.4

Zur Förderung des Kurzstreckenseeverkehrs können in den Häfen selbst und bei der Zusammenarbeit zwischen Häfen Verbesserungen vorgenommen werden. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in einer hohen Taktfrequenz der Dienste, was ein hohes Frachtvolumen impliziert. Das Marktpotenzial und seine kommerzielle Nutzung sind denn auch für die Lebensfähigkeit von Kurzstreckenseeverkehrsverbindungen von Bedeutung.

3.5

Auch dem Inlandsverkehr muss in der EU hohe Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die EU-Verkehrspolitik, die hier auch die diesbezügliche Infrastruktur einschließt, ist mit ihrem Bemühen um Effizienz und Effektivität über die freie Marktbildung innerhalb bestimmter sonstiger gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, wie der Nachhaltigkeit, bereits in diesem Sinne angelegt.

3.6

Das einschlägige Regelwerk ist bezüglich des Straßenverkehrs und der Binnenschifffahrt bereits vollendet und wird angewandt, während dieser Prozess für den Schienenverkehr in ganz Europa nun erst allmählich in Gang kommt. Auch im Lichte der oben beschriebenen Veränderungen im Containerverkehrsbereich wäre eine Beschleunigung dieses Prozesses mehr als wünschenswert.

4.   Hafenkategorien

4.1

Im Rahmen des Beschlussfassungsprozesses der EU (6) wird nur zwischen drei Hafenkategorien unterschieden, und zwar:

a:

Seehäfen von internationaler Bedeutung mit einem jährlichen Gesamtverkehrsaufkommen von mindestens 1,5 Millionen Tonnen Fracht oder von mindestens 200.000 Passagieren;

b:

Seehäfen mit einem jährlichen Gesamtverkehrsaufkommen von mindestens 0,5 Millionen Tonnen Fracht oder zwischen 100 000 und 199 000 Passagieren, die mit den für den Kurzstreckenseeverkehr notwendigen Umschlaganlagen ausgerüstet sind;

c:

Häfen mit regionaler Anbindung, die nicht den Kriterien der Kategorien A und B entsprechen, sich aber auf Inseln, in Randgebieten oder in Gebieten in Randlage befinden.

4.2

Diese Unterscheidung hat bisher zu keinem inhaltlich unterschiedlichen Ansatz geführt. In der neuen TEN-Verkehrsprojektprioritätenliste werden keine Häfen genannt, auch nicht unter der Priorität „Hochgeschwindigkeitsseewege“. Bis heute gibt es, von Ausnahmen abgesehen, weder seitens der Verwaltung noch der Wirtschaft ein Interesse an einer noch stärkeren Differenzierung zwischen Häfen im Kontext spezieller EU-Mitfinanzierungsmöglichkeiten im Rahmen der umfangreichen Investitionen, die ein Tiefseecontainerhafen für vorwiegend Umschlagladung vornehmen muss, die dem Hafen selbst verhältnismäßig wenig Mehrwert bringt.

Der EWSA unterstützt die kürzlich (am 20. Juli 2004) von der Konferenz der peripheren Küstenregionen Europas (KPKR) erhobene Forderung, die Begriffe Hochgeschwindigkeitsseewege und Erreichbarkeit dadurch unter einen Hut zu bringen, dass auch kleine und mittelgroße Häfen in dieses Konzept einbezogen werden.

4.3

Im Licht der vorstehenden Ausführungen ersucht der EWSA die Kommission dringlichst, das Problem der Verkehrsengpässe in EU-Häfen und insbesondere der Containerhäfen zu untersuchen und nach diesbezüglichen Abhilfemöglichkeiten zu suchen.

4.4

Trotzdem sind die größeren Containerhäfen (7) in Europa, die relativ gleichmäßig über das Mittelmeer und Nordwesteuropa verteilt sind und bei denen es sich um Großhäfen oder mittelgroße Häfen und meist nicht um reine Containerhäfen handelt, aber auch wichtige Häfen für den Massen- und Stückgutumschlag aufgrund des anhaltenden Wachstums mit einigen speziellen Problemen konfrontiert:

Wie schnell können im Rahmen der heutigen Rechtsvorschriften in den Bereichen Lärm, Umweltschutz und externe Sicherheit sowohl an Land als auch auf See zusätzliche Umschlagkapazitäten geschaffen werden?

Wie können sich die Häfen in Bezug auf die Erreichbarkeit von der See her, die Kaitiefe und die Größe der Umschlaganlagen an den zu erwartenden Strom von Schiffen mit mehr als 8.000 TEU anpassen?

Wie kann dafür gesorgt werden, dass die Verbindungen zwischen Hafen und Hinterland in Europa über eine ausreichende Kapazität verfügen, um den wachsenden Containerstrom zu verarbeiten?

Wie können die logistischen Abläufe im Hafen trotz zunehmender Kontrollen so reibungslos wie möglich gestaltet werden?

4.5

Eines der Lissabon-Ziele geht dahin, dass es, um weltweit wettbewerbsfähig zu bleiben im Interesse der EU liegt, dass sich die Häfen diesen Herausforderungen wirklich in angemessener Weise stellen und geeignete Lösungen finden. Soweit die Europäische Union diesbezüglich das Geschehen beeinflussen kann, muss sie dies auch tun.

4.6

Häfen, und zumal die hier in Rede stehenden Hafenkategorien, sind auch das Eingangstor zur EU, ein unter dem Sicherheitsaspekt nicht unerheblicher Faktor. In diesem Zusammenhang erinnert der EWSA an seine früheren Stellungnahmen, in denen die Europäische Kommission aufgefordert wird, eine Gesamtfolgenabschätzung über die finanziellen Auswirkungen der Maßnahmen zur Gefahrenabwehr in Häfen anzustellen und eine EU-Regelung für ihre Finanzierung auszuarbeiten.

4.7

Besondere Aufmerksamkeit für die großen Containerhäfen steht nicht im Widerspruch zur Förderung des Kurzstreckenseeverkehrs und der Hochgeschwindigkeitsseewege. Die großen Containerhäfen für Hochseeschiffe sind häufig zugleich auch die großen Häfen für den Kurzstreckenseeverkehr. Darüber hinaus verfügen diese Häfen über die erforderliche Größe, Infrastruktur und das Hinterland, um ein ausreichendes Ladungsaufkommen zu erzeugen und so über die Hochgeschwindigkeitsseewege zum Wachstum der anderen Kurzstreckenseeverkehrshäfen beizutragen.

5.   Was kann die Europäischen Union bereits konkret tun?

5.1

Es muss vermieden werden, dass die umfangreichen Investitionen, die die großen Containerhäfen bereits jetzt oder in naher Zukunft tätigen müssen, um sich den in Ziffer 4.3 genannten Herausforderungen zu stellen, durch eine Wettbewerbsverzerrung bzw. unzureichende Infrastruktur bzw. eine ineffiziente Verkehrspolitik ihre Wirkung verfehlen oder nicht optimal zur Wirkung kommen können. Aufgrund der engen Verbindung zwischen den Containerhäfen und dem Kurzstreckenseeverkehr über die Zubringerdienste sowie aufgrund der Nutzung der Hochgeschwindigkeitsseewege und der Hinterlandverbindungen haben derartige Maßnahmen weitreichende Auswirkungen und kommen dem gesamten Verkehrsmarkt zugute.

5.2

Daher müsste die EU vor allem dafür sorgen, dass die Grundvoraussetzung für einen lauteren Wettbewerb, d.h. die Bedingungsgleichheit, auch „level playing field“ genannt, absolut gewährleistet ist. Es muss ein unverfälschter Wettbewerb zwischen Häfen, genauer gesagt der Marktteilnehmer innerhalb eines Seehafens bzw. auch zwischen diesen Seehäfen möglich sein.

5.3

Eine gewisse Liberalisierung des Seehafenmarkts könnte sich angesichts der Erfahrungen mit dem Gütertransport durch andere Verkehrssektoren, die bereits liberalisiert wurden, förderlich und vielversprechend auf eine Optimierung der Nutzungsmöglichkeiten auswirken. Kurz vor Ende ihres Mandats hat die scheidende Kommission auf Vorschlag des für Verkehr zuständigen Kommissionsmitglieds de Palacio dem Rat einen Vorschlag für eine neue Hafenrichtlinie betreffend den Marktzugang für Hafendienste vorgelegt. Dies wiederum gibt dem Ausschuss die Gelegenheit, sich hierzu in einer gesonderten Stellungnahme im Einzelnen zu äußern (8), weswegen in dieser Stellungnahme auf diesen Aspekt nicht eingegangen werden soll.

5.4

Insbesondere im Bereich der staatlichen Beihilfen muss sehr viel deutlicher klargestellt werden, was erlaubt ist und was nicht. Bis zu welchem Grad darf beispielsweise die Infrastruktur in einem Seehafen — bei der ja ein unmittelbarer Zusammenhang mit der zunehmenden Schiffsgröße besteht — vom Staat finanziert werden? Die staatlichen Behörden und die Seehafenverwaltungen müssen wissen, woran sie sind. Eindeutige Vorgaben für staatliche Beihilfen sind daher dringend erforderlich. Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission beabsichtigt, Leitlinien für staatliche Beihilfen an Häfen festzulegen, und fordert sie denn auch auf, dies umgehend und unabhängig von der Verabschiedung der vorgeschlagenen neuen Hafenrichtlinie zu tun.

5.5

Die Umsetzung und Anwendung der einschlägigen Rechtsvorschriften muss aufmerksam beobachtet werden. Bei der Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften in nationales Recht stellt sich häufig ein gewisser Auslegungsspielraum ein. Die EU sollte sehr viel stärker auf eine einheitliche Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften achten. Ähnliches gilt für die Anwendung der bestehenden EU-Rechtsvorschriften und -Regelungen — sie werden nicht vollständig und auch nicht konsequent angewandt. Vor allem bei der Auslegung der Vorschriften im Bereich Umwelt- und Naturschutz sowie bei der Sicherheit treten deutliche Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten zutage. Ein Wettbewerb zwischen den Häfen aufgrund dieser Rahmenbedingungen ist nicht wünschenswert.

5.6

Für einen besseren Überblick über die Finanzierung von Seehäfen ist eine Transparenz ihrer Buchführung und hier insbesondere in Bezug auf die Geldströme zu den und von den behördlichen Ebenen (lokal, regional und national) erforderlich. Auch hierfür muss die EU wirksame Instrumente entwickeln. Die in der Stellungnahme aus dem Jahr 2001 vom Ausschuss zum Ausdruck gebrachte Überzeugung (9), dass die „Transparenzrichtlinie“, vorbehaltlich einer Erweiterung ihres Geltungsbereichs auf alle Häfen des transeuropäischen Verkehrsnetzes, und die Bestimmungen des Vertrags über den Wettbewerb und öffentliche Beihilfen und Subventionen sowie die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ausreichen, um der Kommission bei einer fallweisen Vorgehensweise Mittel zur Intervention an die Hand zu geben, hat sich bislang in der Praxis noch nicht bewahrheitet.

6.   Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

6.1

Das Volumen des Seeverkehrs innerhalb von, nach und aus Europa nimmt weiterhin jedes Jahr zu. Aufgrund der großen Bedeutung dieses Verkehrszweigs für die EU muss die Union das Wachstum dieser Verkehrsströme intensiv verfolgen und rechtzeitig geeignete Maßnahmen anregen bzw. selbst ergreifen, um für dieses Wachstum gerüstet zu sein.

6.2

Der Seeverkehr kann in unterschiedliche Arten und Kategorien unterteilt werden, u.a. nach dem Zweck: Freizeit oder gewerblicher Transport, nach dem Fahrtgebiet: Hochseeschifffahrt und Kurzstreckenseeverkehr sowie nach der Art der Ladung: Passagier- oder Gütertransport. Gegenstand dieser Stellungnahme sind der gewerbliche Transport und die genannten Kategorien, die vor allem den Binnenmarkt betreffen.

6.3

Die Passagierschifffahrt innerhalb der EU hat mit 350 Millionen Passagieren zwar sehr große Bedeutung, ist jedoch in Bezug auf das Wachstum und die Entwicklung der Schiffsgröße kein Sektor, der hinsichtlich der Infrastruktur im Gegensatz zur Wachstumsentwicklung besonderer Aufmerksamkeit seitens der EU bedarf. Die Sicherheit ist jedoch bei der Passagierschifffahrt und zumal bei der Kreuzschifffahrt ein sehr wichtiger Aspekt.

6.4

Auch die Bulkschifffahrt mit flüssigen und trockenen Massengütern hat das große Wachstum der 1960er und 1970er Jahre erfahren; damals wurden geeignete Maßnahmen ergriffen, um die Häfen an die zunehmende Schiffsgröße anzupassen. Sie hat sich inzwischen zu einem reifen Markt ausgewachsen. Das herkömmliche Stückgut befindet sich eindeutig auf dem absteigenden Ast. Die RoRo-Schifffahrt ist z.T. mit dem Fährverkehr zusammengelegt und ist ein wichtiger, jedoch inzwischen auch reifer Markt.

6.5

Dagegen erlebt die Containerschifffahrt derzeit ein ungeahntes strukturelles Wachstum, sowohl in Bezug auf das Volumen als auch auf die Schiffsgröße.

6.6

Bei der Bewältigung dieses zunehmenden Containerstroms kommt es immer häufiger zu Engpässen in den Hafen-Terminals und beim anschließenden Weitertransport. Neben Maßnahmen an den Terminals in den Häfen selbst, die auch deren Erweiterungen einschließen, ist ein effizienter Ablauf des Gütervor- und -nachlaufs sowohl an Land als auch auf See erforderlich.

6.7

Aufgrund der zunehmenden Größenordnung können die Hochseecontainerströme von der Schifffahrtsbranche nicht einfach auf andere europäische Häfen umgeleitet werden, was nicht heißen soll, dass die Wirtschaftsdynamik nicht zu einem Wachstum kleinerer Häfen führen kann.

6.8

Im Licht der vorstehenden Ausführungen ersucht der EWSA die Kommission dringlichst, das Problem der Verkehrsengpässe in EU-Häfen und insbesondere der Containerhäfen zu untersuchen und auszumachen, was zusätzlich zu dem, was im Rahmen der TEN bereits unternommen wird, getan werden kann, um diesem Problem abzuhelfen.

6.9

Der Prozess hin zu Effizienz und Effektivität, der im Straßenverkehr, in der Binnenschifffahrt und der Seeschifffahrt bereits vollzogen ist, kommt nun endlich auch im Schienenverkehr im gesamten europäischen Netz allmählich in Gang. Eine Beschleunigung dieses Prozesses wäre mehr als wünschenswert.

6.10

Um weltweit wettbewerbsfähig zu bleiben liegt es im Interesse der EU, dass sich die großen Containerhäfen den Herausforderungen wirklich in angemessener Weise stellen und geeignete Lösungen finden. Soweit die EU diesbezüglich das Geschehen beeinflussen kann, sollte sie dies auch tun. Hier sollten jedoch zunächst keine Vorschläge gemacht werden, die über die bestehenden Möglichkeiten für die finanzielle Unterstützung von Häfen durch die EU hinausgehen. Auch wenn sie an sich gerade beim Containertransport zu rechtfertigen sind, kommen sie aus heutiger Sicht nicht in Frage, weil weder die Verwaltungen noch die Wirtschaft an einer weiter reichenden Differenzierung als die bestehende TEN-Kategorienunterteilung interessiert sind.

6.11

Häfen sind auch das Eingangstor zur EU, ein unter dem Sicherheitsaspekt nicht unerheblicher Faktor. In diesem Zusammenhang erinnert der EWSA an seine früheren Stellungnahmen, in denen die Europäische Kommission aufgefordert wird, eine Gesamtfolgenabschätzung über die finanziellen Auswirkungen der Maßnahmen zur Gefahrenabwehr in Häfen anzustellen und eine EU-Regelung für ihre Finanzierung auszuarbeiten.

6.12

Die Europäische Union kann auch jetzt schon konkrete Voraussetzungen für einen fairen Wettbewerb schaffen, eine gewisse Liberalisierung des Seehafenmarkts fördern, die Leitlinien für staatliche Beihilfen eindeutiger und übersichtlicher gestalten, der Umsetzung und Anwendung der geltenden Rechtsvorschriften besondere Aufmerksamkeit widmen und eine gewisse Transparenz der Geldströme einfordern.

Brüssel, den 16. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Quelle: ESPO - Broschüre: „Ports creating opportunities - by connecting people, products and business - by connecting Europe“.

(2)  tdw = Deadweight tonnage bezeichnet die Zuladefähigkeit eines Schiffes in Gewichtstonnen. Die Frachtkapazität von Containerschiffen wird in TEU (Twenty-Foot Equivalent Unit) gemessen, der Anzahl von 20-Fuß Containern, die maximal geladen werden können. Da ein leerer Container ebensoviel Raum einnimmt wie ein beladener Container, wird die Maßeinheit tdw bei Containerschiffen nicht verwendet.

(3)  Niko Wijnolst e.a.: Malacca-Max. The Ultimate Container Carrier, TU Delft 1999.

(4)  Der Anhang enthält eine Übersicht über die wichtigsten europäischen Containerhäfen in Tabellen- und Kartenform.

(5)  Dies sind beispielsweise die Gründe dafür, warum die nördliche Adria, der Norden des Vereinigten Königreichs, Irland und die Ostsee nicht von den größten Containerschiffen angesteuert werden. Über Zubringerdienste zu und von den Häfen, die angesteuert werden können, gelangt die Ladung aus diesen Gebieten dann schließlich doch auf diese Schiffe.

(6)  TEN-Richtlinien (Beschluss Nr. 1692/96), durch die Seehäfen, Binnenhäfen und intermodale Terminals in die TEN aufgenommen wurden.

(7)  Vgl. den auch in Fußnote 2 genannten Anhang.

(8)  Zu dem Anfang 2001 vorgelegten Vorschlag, der inzwischen vom Europäischen Parlament als Mitgesetzgeber verworfen wurde, hat der Ausschuss eine Stellungnahme vorgelegt: TEN/075, „Marktzugang für Hafendienste“, Berichterstatter: Herr Retureau (ABl. C 48 vom 21.2.2002, S. 122).

(9)  Quelle: s. Fußnote 7.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/147


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 mit allgemeinen Bestimmungen über die Strukturfonds betreffend die Verlängerung der Dauer des Programms PEACE und die Bereitstellung neuer Verpflichtungsermächtigungen“

KOM(2004) 631 endg.

(2005/C 157/26)

Der Rat beschloss am 9. Dezember 2004 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Aufgrund der Dringlichkeit der Arbeiten beschloss der Ausschuss auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004, Herrn SIMPSON zum Hauptberichterstatter zu bestellen, und verabschiedete einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Die Europäische Union hat den Friedens- und Versöhnungsprozess in Nordirland und den Grenzgebieten Irlands seit 1995 durch zwei spezielle Programme unterstützt — das EU-Sonderprogramm zur Förderung von Frieden und Versöhnung ('PEACE I') 1995-1999 und das EU-Programm für Frieden und Versöhnung ('PEACE II') 2000-2004.

1.2

Im Rahmen dieser Programme wurden für das Fördergebiet, zu dem ganz Nordirland und die irische Grenzregion gehören, rund 100 Mio. Euro pro Jahr bereitgestellt. Mit beiden Programmen wurde das gleiche Ziel — den Fortschritt hin zu einer friedlichen und stabilen Gesellschaft voranzutreiben und die Aussöhnung in der Region zu fördern — verfolgt; mit beiden wurden Maßnahmen zur Neubelebung der Wirtschaft und zur Förderung der sozialen Integration unterstützt, und beide wurden über lokale Verwaltungsorgane abgewickelt.

1.3

Für das laufende PEACE-II-Programm werden für den Fünfjahreszeitraum 531 Mio. Euro bereitgestellt, d.h. 106 Mio. Euro pro Jahr. Der Anteil für Nordirland beträgt 85 Mio. Euro pro Jahr und der für die irische Grenzregion 22 Mio. Euro. Die beiden Mitgliedstaaten stellen 25 % Kofinanzierung bereit und sorgen dafür, dass die Zusätzlichkeitsanforderungen des Programms erfüllt werden.

2.   Zweck des Vorschlags für eine Richtlinie des Rates

2.1

Es wird empfohlen, das PEACE-II-Programm um weitere zwei Jahre zu verlängern, da die im Jahr 1998 für Nordirland erhofften politischen Fortschritte nicht voll verwirklicht werden konnten und die politischen Institutionen immer noch nicht stabil sind. Maßnahmen zur Förderung von Frieden und Aussöhnung sind nach wie vor von entscheidender Bedeutung.

2.2

Im Jahr 2003 wurde gleichzeitig eine Ex-post-Bewertung von PEACE I und eine Halbzeitbewertung von PEACE II durchgeführt. Die Ex-post-Bewertung von PEACE I ergab, dass das Programm erfolgreich zur Förderung von Integration und Versöhnung beigetragen und zu deutlichen und messbaren Fortschritten bei der Schaffung von Arbeitsplätzen, bei der Ausbildung und Wirtschaftsentwicklung geführt hat. Bei der Halbzeitbewertung von PEACE II wurde die stärkere Konzentration auf Kriterien in den Bereichen Frieden und Versöhnung bei der Projektauswahl gelobt und der hohe Anteil von gemeinschaftenübergreifenden Projekten vermerkt. Beide Programme haben erheblich zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung der Wirtschaft beigetragen.

2.3

In der Halbzeitbewertung wurde darauf hingewiesen, dass eindeutig weitere Maßnahmen zur Konsolidierung des Friedensprozesses notwendig sind, und empfohlen, den Schwerpunkt verstärkt auf Aktionen zu legen, die die Aussöhnung unmittelbar fördern. Mit der von der Kommission vorgeschlagenen Verlängerung bis 2006 könnten die Empfehlungen der Halbzeitbewertung umgesetzt und diejenigen laufenden Maßnahmen unterstützt werden, die am meisten zu der gegenwärtig notwendigen Verstärkung des Aussöhnungsprozesses beitragen.

2.4

Am 18. Mai 2004 hoben der britische Premierminister und der irische Taoiseach (Premierminister) in einem Schreiben an den Präsidenten der Kommission den Nutzen der beiden von der EU finanzierten PEACE-Programme und ihren Beitrag zum Friedensprozess in Nordirland hervor und baten um Verlängerung des PEACE-II- Programms bis Dezember 2006.

2.5

Der Präsident der Kommission antwortete mit Schreiben vom 16. Juni 2004, dass der Kommission sehr an der Fortsetzung dieser Bemühungen gelegen sei. Am 17./18. Juni 2004 nahm der Europäische Rat auf Ersuchen des britischen und des irischen Premierministers die gegenwärtigen Schwierigkeiten beim Friedensprozess in Nordirland zur Kenntnis. Er bestätigte seine Unterstützung für die Bemühungen der beiden Regierungen um die Wiedereinsetzung der dezentralen Institutionen und ersuchte die Kommission zu diesem Zweck um Prüfung, ob die PEACE-II-Interventionen auf die Strukturfondsprogramme abgestimmt werden können, die 2006 auslaufen.

2.6

Dies würde eine Verlängerung des PEACE-II-Programms um zwei Jahre bedeuten.

3.   Vorschlag für eine Verordnung des Rates

3.1

Die Kommission ist der Aufforderung des Rates mit der Vorlage ihres hier erörterten Dokuments (KOM(2004) 631 endg.) gefolgt. Sie schlägt vor, das PEACE-II-Programm um zwei Jahre zu verlängern und hierfür Mittel in Höhe von 60 Mio. Euro pro Jahr bereitzustellen, davon 41 Mio. Euro für Nordirland und 19 Mio. Euro für die irische Grenzregion. Dies entspricht dem Antrag, den die beiden Mitgliedstaaten im September 2004 nach einer öffentlichen Anhörung gestellt hatten.

3.2

Um die Verlängerung des PEACE-II-Programms rechtsverbindlich zu machen und die zusätzlich erforderlichen Mittel zuzuweisen, sieht der Vorschlag für eine Verordnung des Rates eine Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 vor, die allgemeine Bestimmungen über die Strukturfonds enthält, u.a. über die Laufzeit des PEACE-II-Programms sowie die Gesamthöhe der jährlichen Verpflichtungsermächtigungen im Rahmen der Strukturfonds bis 2006.

3.3

Damit diese Verlängerung aus Strukturfondsmitteln finanziert werden kann, sollen dem Verordnungsvorschlag zufolge die für Verpflichtungen der Fonds verfügbaren Mittel von 195 auf 195,1 Mrd. Euro heraufgesetzt werden. Die Obergrenze der Strukturfondsmittel für Ziel 1 (einschließlich der Übergangsunterstützung) wird dementsprechend von 135,9 auf 136 Mrd. Euro angehoben. (1)

3.4

Der Verordnungsvorschlag sieht als geänderte Laufzeit für das PEACE-II-Programm 2000-2006 — statt bisher 2000-2004 — vor.

4.   Schlussfolgerung

4.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Beitrag, den die EU zur Förderung von Frieden, Stabilität und Versöhnung auf der irischen Insel leistet.

4.2

Der Ausschuss hat die seit der Genehmigung von PEACE I im Jahr 1995 erzielten Fortschritte mit Interesse zur Kenntnis genommen. Der Ausschuss hat außerdem mit Befriedigung die Empfehlungen des für die Abwicklung und Überwachung von PEACE II zuständigen Gremiums — der EU-Sonderprogrammstelle (SEUPB) — an die Kommission vermerkt, denen zufolge die Programmabwicklung vereinfacht und der Schwerpunkt stärker auf aussöhnungsfördernde Maßnahmen gelegt werden soll.

4.3

Der Ausschuss erkennt außerdem an, dass die Konsolidierung des Friedens durch die Beteiligung der Menschen an der Entwicklung ihrer Gemeinwesen ein kontinuierlicher Prozess ist Deshalb begrüßt er den positiven Beitrag, den die als Ergebnis von PEACE II in Nordirland geschaffenen lokalen strategischen Partnerschaften (LSPs) zur Förderung von Sozialpartnerschaften und zur Unterstützung der Zivilgesellschaft geleistet haben. Der Ausschuss begrüßt den Erfolg der LSPs bei der Gründung von Partnerschaften zwischen lokalen Gebietskörperschaften und anderen öffentlichen Einrichtungen einerseits und Sozialpartnern andererseits. Auf diese Weise haben die LSPs gemeinsam mit zwischengeschalteten Finanzinstitutionen zur Aussöhnung der nordirischen Gesellschaft über die Trennungslinien hinweg beigetragen. Der Ausschuss ist dankbar für die Art und Weise, in der die Europäische Union die Entwicklung dieser Partnerschaften erleichtert hat, die beispielgebend für die Zivilgesellschaft in anderen Regionen und für andere geteilte Gesellschaften in der EU sind.

4.4

Entsprechend der in der Halbzeitbewertung von PEACE II empfohlenen stärkeren Konzentration auf Maßnahmen, die die Aussöhnung unmittelbar fördern, äußert der Ausschuss die Hoffnung, dass die Verlängerung von PEACE II für die Finanzierung solcher Projekte genutzt wird, die sich mehr an den speziellen Zielen von Frieden und Aussöhnung orientieren und weniger von rein wirtschaftlichen Kriterien abhängen, da diese nur geringe Auswirkungen auf jene Teile der Gesellschaft haben, die am meisten von den Unruhen betroffen sind. Außerdem hofft der Ausschuss, dass die Verlängerung von PEACE II für Projekte genutzt wird, die sich auf Rassismus und andere Probleme von Wanderarbeitern, die die EU-Politik zur Freizügigkeit von Arbeitnehmern nutzen wollen, beziehen.

4.5

Der Ausschuss spricht sich daher für die Verabschiedung der vorgeschlagenen Verordnung aus.

Brüssel, den 16. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Technische Berichtigung: Im Verordnungsvorschlag ist die derzeitige Mittelzuweisung für Ziel 1 irrtümlich mit 135,6 Mrd. Euro angegeben, in der ursprünglichen Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 Artikel 7 jedoch mit 135,9 Mrd. Euro.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/149


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1059/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Schaffung einer gemeinsamen Klassifikation der Gebietseinheiten für die Statistik (NUTS) aufgrund des Beitritts der Tschechischen Republik, Estlands, Zyperns, Lettlands, Litauens, Ungarns, Maltas, Polens, Sloweniens und der Slowakei zur Europäischen Union“

KOM(2004) 592 endg. — 2004/0202 (COD)

(2005/C 157/27)

Der Rat beschloss am 10. Dezember 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem obenerwähnten Vorschlag zu ersuchen.

Aufgrund der Dringlichkeit der Arbeiten beschloss der Ausschuss auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004, Herrn TÓTH zum Hauptberichterstatter zu bestellen, und verabschiedete einstimmig folgende Stellungnahme:

1.

Der Ausschuss befürwortet die Initiative der Kommission, die Verordnung (EG) Nr. 1059/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Schaffung einer gemeinsamen Klassifikation der Gebietseinheiten für die Statistik (NUTS) aufgrund des Beitritts der Tschechischen Republik, Estlands, Zyperns, Lettlands, Litauens, Ungarns, Maltas, Polens, Sloweniens und der Slowakei zur Europäischen Union zu ändern.

1.1

Der EWSA empfiehlt der Kommission, die Anhänge I — III der Verordnung Nr. 1059/2003 für jeden einzelnen Mitgliedstaat zu überprüfen, um sicherzustellen, dass in Bezug auf die NUTS-Klassifikation (NUTS-Ebenen 1 — 3), die bestehenden und die kleineren Verwaltungseinheiten die richtige Terminologie verwendet wurde.

2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass auf diese Weise die Klassifikation der Gebietseinheiten der neuen Mitgliedstaaten leichter in die gemeinsame Klassifikation der Gebietseinheiten für die Statistik eingearbeitet werden kann.

Brüssel, den 16. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/150


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Beziehungen zwischen den Generationen“

(2005/C 157/28)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 29. Januar 2004 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zum Thema „Beziehungen zwischen den Generationen“ auszuarbeiten.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. November 2004 an. Berichterstatter war Herr BLOCH-LAINÉ.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 16. Dezember) mit 143 gegen 2 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   PRÄAMBEL

1.1

Die Gestaltung der Beziehungen zwischen den Generationen (1) ist ganz offenkundig einer der Schlüsselfaktoren für den Grad des Zusammenhalts jeder Gesellschaft — auch der unsrigen — und folglich auch für den Grad des Zusammenhalts des sich entwickelnden gesamten geopolitischen Umfelds, aus dem der VERBAND der Generationen erwächst.

1.2

Ein für die europäischen Gesellschaften typisches Phänomen ist die Überalterung der Bevölkerung. Dieses Phänomen ist für diese Gesellschaften von ausschlaggebender Bedeutung und stellt sie vor komplexe Herausforderungen, die sie richtig einschätzen und mit möglichst großer Genauigkeit und Voraussicht bewältigen müssen. Sie müssen das definieren und umsetzen, was als „die Politik der Lebensalter“ (2) bezeichnet werden kann. Gemeint sind damit keine augenblicklichen, partiellen und unzusammenhängenden Aktionen, sondern eine globale und systematische Gesamtstrategie, die darauf abzielt, langfristig den Zusammenhalt und die Solidarität der immer zahlreicheren Generationen, die in unserer Gesellschaft nebeneinander leben, zu fördern.

1.3

Nun lässt aber die Bestandsaufnahme unabhängig von den nationalen Unterschieden und Besonderheiten den Schluss zu, dass in dieser Hinsicht kaum etwas erreicht wurde. Nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses ist dieses Problem für die Zukunft Europas von entscheidender Bedeutung. Der Ausschuss hegt die Absicht, ihm zukünftig auf Dauer einen herausragenden Platz unter den von ihm vertretenen Anliegen sowie in seinem Arbeitsprogramm einzuräumen.

Dies rechtfertigt die vorliegende Stellungnahme und gibt ihr ihren Sinn. Ziel ist,

zunächst auf einige Feststellungen und Überlegungen zu verweisen (2) und

anschließend einige Leitlinien und Empfehlungen zu formulieren (3).

2.   FESTSTELLUNGEN UND ÜBERLEGUNGEN

2.1

Mit den nötigen Vorbehalten kann Folgendes festgestellt werden: In den letzten fünfzig Jahren haben unsere Länder und ihre Institutionen das nie gekannte Spektrum an Mitteln und Verfahren zur Prognose, das ihnen für die Gestaltung und Umsetzung der Politiken in dem Bereich des Untersuchungsgegenstands zur Verfügung stand und mit dem dessen verschiedene Aspekte und Teilbereiche am wirksamsten angegangen werden können, nicht optimal genutzt.

2.1.1

Eine solche Behauptung erfordert jedoch, dass wir uns vor drei Übertreibungen hüten:

2.1.1.1

Die eine besteht darin zu sagen, dass eine präzise Voraussage zu treffen in diesem Fall sehr einfach war. Dies ist jedoch falsch. Die Bevölkerungswissenschaft ermöglicht es zwar, mithilfe anerkannter Methoden die mittel- und langfristigen Entwicklungen vorzuzeichnen. Doch bekanntlich können auf eine solche Art und Weise erstellte Perspektiven von zufallsbedingten wirtschaftlichen, soziologischen und politischen Faktoren beeinflusst werden. So sind Geburten, Sterbefälle und Wanderungsströme zwar einer natürlichen Fluktuation unterworfen, sie werden jedoch auch von Außenfaktoren wie Wirtschaftswachstum bzw. Konjunkturschwäche, soziale Unsicherheit, Traditionen, politisches Umfeld und Ausmaß der Zuversicht der Bürger in die Zukunft beeinflusst. Darüber hinaus stellen Experten ausgehend von demographischen Daten auf Durchschnittswerten beruhende zentrale Hypothesen auf, wobei sich diese Durchschnittswerte jedoch von Experte zu Experte unterscheiden.

2.1.1.2

Zum anderen dürfen die aufgeklärten, zielstrebigen Programme und die Erfolge nicht unterschätzt werden, die im Laufe der letzten fünfzig Jahre in den Bereichen Gesundheit, Sozialschutz, Solidarität, Bildung, Ausrüstungen und Infrastruktur, Raumplanung, sozialer Dialog, Verbandsleben usw. erzielt wurden.

2.1.1.3

Eine dritte Übertreibung bestünde darin, die innovativen und viel versprechenden, prospektiven Maßnahmen zu unterschätzen, die der Rat, das Europäische Parlament und die Kommission auf zahlreichen Gebieten unternommen bzw. bei denen sie mitgewirkt haben.

2.1.2

Dennoch wurden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bestimmte aus sozialer Sicht gefährliche Folgen der Überalterung der Bevölkerung in unseren Ländern nicht ausreichend wahrgenommen und vorhergesehen. Der Ursprung dieses demographischen Phänomens liegt in der Verknüpfung zweier vorhersehbarer und sich seit langem abzeichnender Tendenzen: längere Lebenserwartung und starker Geburtenrückgang. Ungeachtet der Unterschiede bzw. Nuancen bei den Vorhersagen der Zukunftsforscher wurde die Unvermeidbarkeit dieses Phänomens nicht in Zweifel gezogen.

2.1.3

Manche Versäumnisse, Unterlassungen oder Fehler bei der vorausschauenden Berücksichtigung einer derzeitigen, zwingenden und langfristigen Realität sind jedoch eine unleugbare Tatsache: das immer häufigere Nebeneinanderleben von drei, ja sogar vier, und nicht wie bislang zwei Generationen in den EU-Mitgliedstaaten;

2.1.4

Diese mangelnde Anpassung betrifft leider zahlreiche Bereiche, darunter die folgenden:

Rentenfinanzierung: In Bezug auf mehrere EU-Mitgliedstaaten kann zumindest behauptet werden, dass Maßnahmen zur Bewältigung des Problems zu lange aufgeschoben wurden; dass es verspätet, „mit heißer Nadel gestrickt“ und unter konfliktauslösenden Bedingungen angegangen wurde, was hätte vermieden werden können;

Den Platz der gegenwärtig am stärksten vertretenen Altersgruppen in den Unternehmen und Verwaltungen und ihre jeweiligen Beiträge zu deren Funktionsweise: Zur Lösung von Fragen im Zusammenhang mit dem Personal und der Verringerung der Betriebskosten wurden in einigen Fällen Maßnahmen ergriffen, ohne in ausreichendem Maße die „Kollateralschäden“ und die schlimmen Folgen kurzfristiger Ausweichlösungen zu berücksichtigen;

Weiterbildung: Die unter den älteren Arbeitnehmern herrschende Besorgnis im Zusammenhang mit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit wurde hier und da zu oft vernachlässigt;

Städtebau, Lebensraum und staatliche und private Infrastruktur: Bei der in diesen Bereichen vorherrschenden Planung wurden die besonderen Bedürfnisse der jüngsten und ältesten Altersgruppen sowie der Familien, unabhängig davon, ob diese intakt sind oder nicht, zu oft außer Acht gelassen;

Weitergabe des materiellen Erbes: Die rechtlichen und steuerlichen Regelungen sind in den wenigsten Fällen neu durchdacht und an die demographische Entwicklung angepasst worden;

Beziehungen zwischen dem Bildungswesen und der Arbeitswelt: In diesem Bereich haben nur wenige Länder Fortschritte zu verzeichnen, während sehr viel mehr Länder im Rückstand sind;

Wahrung, Aufwertung und gemeinsame Nutzung des Erfahrungsschatzes: Bei den technologischen Fortschritten, den Innovationen im Management und einer gewissen Huldigung des „Jugendwahns“ wurde den Risiken der Verschwendung von Wissen, Fähigkeiten und Erfahrung nicht genügend Rechnung getragen;

Die „Kulturen“: Manches Mal wurden aufkommende Kulturphänomene zu willfährig verherrlicht (3), ohne dass dabei zwischen Modeerscheinungen und Innovationen, die dauerhaften Fortschritt bringen, unterschieden wurde. Es wurde tatenlos zugesehen, wie sich Phänomene wie das Vergessen der eigenen Vergangenheit, Missachtung, Angst und Ablehnung ausbreiteten und damit zu einer Spaltung zwischen den Generationen führten.

2.1.5

Wirksamkeit der Indikatoren des Sozialstaats: Der Ausschuss begrüßt die Arbeit der Untergruppe „Indikatoren“ des Koordinierungsausschusses für Sozialschutz und insbesondere die Definition der vorgeschlagenen Indikatoren (bzw. die Präzisierung der vorherigen Definitionen). Dadurch ist es heute möglich, je nach Altersgruppe eine Reihe von Indikatoren aufzustellen (beispielsweise für das Armutsrisiko). Diese Arbeit muss unbedingt fortgesetzt werden, insbesondere um eine Palette an Indikatoren zusammenzustellen und zu konsolidieren, mit deren Hilfe die Lage der verschiedenen Altersgruppen sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht zunehmend besser bewertet werden kann.

3.   LEITLINIEN UND EMPFEHLUNGEN

3.1

Warum wurden in den letzten Jahrzehnten diese realen und wesentlichen Probleme übergangen? Dies ist ein wichtiges und umfangreiches Thema für soziologische und politische Überlegungen, und es wäre unangemessen, sich damit in der vorliegenden Stellungnahme nur oberflächlich zu befassen. Der Ausschuss ist jedenfalls fest davon überzeugt, dass er als beratende Einrichtung den Zwängen und dem Druck des Ausgleichs weniger ausgesetzt ist als die Entscheidungsträger. Die Vielschichtigkeit seiner Mitglieder, ihre freiwillige und anhaltende Zusammenarbeit, der Austausch von Erfahrungen, Wissen, Anliegen und Informationen zwischen ihnen, ihre vereinten Intuitionen und Analysen, ihre Fähigkeit, angemessene Methoden vorzuschlagen, ihre Verwurzelung in der und ihr Engagement für die so genannte „partizipative Demokratie“ sind potenzielle Trümpfe und Vorteile, die dem Ausschuss Arbeitsbereiche eröffnen, deren er sich mehr als bisher annehmen kann und muss. Dies gilt u.a. für die „Beziehungen zwischen den Generationen“.

3.1.1

Um sich mit einem solch komplexen Gebiet befassen zu können, muss mit Besonnenheit und Scharfblick vorgegangen werden:

3.1.1.1

Der Ausschuss muss in dem ihm vorgegebenen Rahmen bleiben und Zielsetzungen vermeiden, die in keinem Verhältnis zu seinen Mitteln stehen bzw. mit seinem Zuständigkeitsbereich nicht übereinstimmen.

3.1.1.2

Die vorausschauende Überlegung — auch „Voraussicht“ genannt — ist weder mit Planungsarbeit noch mit Futurologie zu verwechseln.

3.1.1.3

Die gewissenhaftesten Wissenschaftler betonen gerne, dass ihr Wissen lediglich eine „Abfolge von Versuch und Irrtum“ sei. Nun ist die Ökonomie keine exakte Wissenschaft, die Sozialwissenschaften sind es noch weniger. Somit leuchtet es ein, dass auch die sozioökonomische Prognose nicht gegen Irrtümer gefeit ist.

3.1.1.4

Für einige der zahlreichen Aspekte der Beziehungen zwischen den Generationen sind Aktionen mit wiedergutmachender Wirkung angebracht, bei einigen ist ein Kurswechsel erforderlich, während andere wiederum umfassende Forschungs- und Erfindungskapazitäten abverlangen. Sowohl die einen als auch die anderen müssen richtig abgegrenzt und auseinander gehalten werden, wobei gefährlichen oder nutzlosen Utopien in jedem Fall mit Misstrauen zu begegnen ist.

3.1.2

In Bezug auf die Methode, die der Ausschuss anzunehmen beabsichtigt, um seiner Rolle im Rahmen seiner einschlägigen Ziele gerecht zu werden, verfolgt er den Weg einer möglichst engen Zusammenarbeit mit den EU-Organen, d.h. mit dem Rat, dem Europäischen Parlament und der Kommission. Diese Entschlossenheit ergibt sich gleichzeitig aus den unter Ziffer 2.1.1.3 und Ziffer 3.1.2 dargelegten Überlegungen, aus dem Willen, sowohl den Wortlaut als auch den Geist der Rechtstexte zu respektieren und schließlich aus der einfachen Tatsache, dem „gesunden Menschenverstand“ Rechnung zu tragen.

3.1.2.1

Der Bereich der „Beziehungen zwischen den Generationen“ ist außerordentlich umfangreich. Im ersten Ansatz konnte nur eine recht allgemein gehaltene Bestandsaufnahme skizziert werden.

3.1.2.2

Der Ausschuss hat sich dafür entschieden, mit der vorliegenden ersten Stellungnahme den EU-Institutionen einige Anregungen für weitere Überlegungen vorzulegen. Wenn es die Institutionen für angebracht halten, könnten diese — unter noch festzulegenden Bedingungen, doch mit dem Wunsch nach Interdependenz — in Zusammenarbeit mit ihnen behandelt werden. Folgende Anregungen, die in keinerlei Rangordnung stehen, werden angeführt:

Umfang, Bedeutung und Grenzen der Rolle und der Verantwortung, die den Familien in der künftigen Organisation der Gesellschaft zukommen soll (den Kindern, Erwachsenen, Eltern, Großeltern);

Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt und kollektive Einrichtungen für die Kinderbetreuung;

Einsamkeit und Isolation in den europäischen Gesellschaften: ältere Menschen (4), benachteiligte Jugendliche, „Armut in der Kindheit“;

Generationenverträge und Solidarität zwischen den Generationen: Wie lassen sich unter Berücksichtigung der Zwänge und des Drucks der Gegenwart sowie der Ungeborenen, die noch nicht zu Worte kommen können, sozial und politisch gutverträgliche — d.h. der Zukunft Rechnung tragende — ausgewogene Entscheidungen treffen?

Städte- und Raumplanung und Beziehungen zwischen den Generationen: Bei den in den letzten Jahren angewandten Städteplanungs- und Wohnungsbaukonzepten wurden wichtige neue, generationenabhängige Bedürfnisse oft außer Acht gelassen. Die Probleme ergeben sich hierbei insbesondere:

aus der (positiven) Entwicklung des autonomen Wohnens älterer Personen und aus ihren Beziehungen zu jüngeren Generationen, d.h. Kindern und Jugendlichen;

aus dem notgedrungenen Zusammenleben alleinstehender Jugendlicher (Studenten, junge Arbeitnehmer) in Standardwohnungen, die nicht für solche Zwecke konzipiert sind;

aus der — trennenden und provisorischen — Unterbringung so genannter „Problemfamilien“.

Welche Rolle kann und muss der „partizipativen Demokratie“ bei der Gestaltung der Beziehungen zwischen den Generationen zukommen?

3.2

Der Ausschuss hat beschlossen, von nun an in Form genauer formulierter und auf die nähere Zukunft ausgerichteter Empfehlungen auf zwei allgemeine Aspekte aufmerksam zu machen, die ebenfalls in Zusammenarbeit mit den EU-Organen angegangen werden können, wenn diese zustimmen.

3.2.1

Lebensarbeitszeit: Dieser Aspekt veranschaulicht am deutlichsten die mangelnde Klarheit und die fehlende Weitsicht der europäischen Länder in Bezug auf die Herausforderungen, die aufgrund der sich seit langem abzeichnenden Überalterung ihrer Bevölkerungen an sie gestellt werden.

3.2.1.1

Mit der Verkürzung der beruflichen Laufbahnen geht wirtschaftliches, soziales und kulturelles Potenzial verloren. Sie hatte mit Blick auf die Arbeitsplatzteilung und die Zunahme der Beschäftigung unter Jugendlichen nicht die erhoffte Wirkung. In vielen Ländern wird sie als eine „Steuerungsgröße“ erachtet und genutzt, als eine kurzfristige Ausweichlösung.

3.2.1.2

So führten Vorurteile und starre Vorstellungen dazu, dass sowohl bei den politischen Entscheidungsträgern als auch bei den Unternehmen und in der öffentlichen Meinung die Überzeugung entstand, ältere Arbeitnehmer würden sich relativ schwer an die Entwicklung der Produktivitätstechnologie und der Managementmethoden anpassen und die Produktivitätsfortschritte bremsen.

3.2.1.3

Seit mehreren Jahren werden jedoch einschlägige Analysen, dringende Warnungen und gute Empfehlungen formuliert. Insbesondere der Weitblick, die Beständigkeit und die Qualität der von der Kommission auf diesem schwierigen Gebiet unternommenen Anstrengungen müssen unterstrichen werden. Ferner ist auf die Arbeiten der OECD, der zahlreichen Forschungseinrichtungen, der Berufsverbände und der Wirtschafts- und Sozialräte in verschiedenen Ländern hinzuweisen.

3.2.1.4

Das Spektrum der Mittel, die eingesetzt werden können, um eine Trendwende auszulösen, ist heute relativ gut bekannt. Dazu gehören eine bessere Gewährleistung der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer mithilfe einer Optimierung der Methoden zur beruflichen Weiterbildung, die Verbesserung der Qualität der Arbeitsplätze und die Steigerung der Flexibilität der Arbeitszeiten, um eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Privatleben herzustellen; die Bildung „gemischtaltriger Arbeitsgruppen“ in Unternehmen und Verwaltungen; die Förderung des Selbstvertrauens bei älteren Arbeitnehmern; die Stärkung der Maßnahmen zum Schutz ihrer Gesundheit; die langfristige Gewährleistung einer besseren Planung der Laufbahnentwicklung; die Schaffung von Anreizen im Renten- und Steuersystem u.a.

3.2.1.5

Der Europäische Rat hat insbesondere in Lissabon und Stockholm seinen Willen erklärt, durch Anreize zur Förderung freiwilliger Entscheidungen auf eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit in Europa hinzuwirken.

3.2.1.6

Abgesehen von einigen wenigen Ländern lässt sich jedoch feststellen, dass

in den Steuer- und Sozialversicherungssystemen sowie in den Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen Aspekte und Regelungen enthalten sind, die explizit oder implizit sehr stark den Entritt in den vorzeitigen Ruhestand fördern;

die bei den Ratstagungen formulierten Ankündigungen und Absichten nicht in ausreichendem Maße in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden.

3.2.1.7

Es herrscht Einigkeit darüber, dass eine Trendumkehr und eine Veränderung der Gepflogenheiten nicht durch das Wunder einer raschen Umstellung eintreten kann.

Aufgrund der Kraft der Gewohnheiten, der vielfältigen Arten, Größen und „Kulturen“ der Unternehmen und Verwaltungen, der normalen und legitimen Probleme beim sozialen Dialog über dieses Thema kann nicht einfach eine Abschaffung der Errungenschaften im sozialen Bereich propagiert werden, weil der Misserfolg damit programmiert wäre. Stattdessen müssen umfassende, relativ komplexe Strategien umgesetzt werden, um die gewünschte Entwicklung zu erreichen. Der Wandel kann nur über einen relativ langen Zeitraum hinweg vollzogen werden. Dies ist ein weiterer Grund, um keine Zeit zu verlieren und umgehend mit der Konzipierung und Umsetzung dieser Strategien zu beginnen.

3.2.2

Der Ausschuss bringt nachdrücklich den Wunsch zum Ausdruck, dass die politischen Entscheidungsträger der Union — das heißt Parlament und Rat — in den Mitgliedstaaten, in denen sie gewählt bzw. beauftragt wurden, deutlicher, genauer und aktiver auf eine bessere Übereinstimmung zwischen Worten und Taten hinwirken. Im gemeinsamen Interesse einer Europäischen Union, die ihre Absicht erklärt hat, zum erstrangigen Wirtschaftsraum auf globaler Ebene zu werden, sollten die politischen Entscheidungsträger folglich

in den geltenden Rechts- bzw. Vertragssystemen ihres jeweiligen Landes die Regelungen ermitteln, die explizit oder implizit die freiwillige Verlängerung der Lebensarbeitszeit behindern;

die guten Empfehlungen der Kommission wirksamer und stärker als bisher weitergeben und diese Richtlinien schneller und entschlossener umsetzen;

Informations-, Anregungs- und Überzeugungskampagnen bei den wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungsträgern und Partnern durchführen und für eine bessere Kommunikation mit den Medien ihres Landes Sorge tragen.

3.2.3

Die Alterstrukturen in Europa ins Gleichgewicht bringen: Es sei nur auf die äußerst alarmierenden Aussichten hingewiesen, die in zahlreichen Studien über die Auswirkungen dargestellt werden, die die niedrigen Fruchtbarkeits- und Geburtenraten auf die Bevölkerungsstruktur der Europäischen Union haben werden. Eine unzureichende Generationenerneuerung, die durch die Einwanderung mit Sicherheit nicht kompensiert wird, kann nur zu einer Schwächung der Stellung Europas in der Welt führen. Innerhalb Europas kann sie wirtschaftliche und finanzielle Probleme verursachen und zu Brüchen und unerwünschten Konflikten zwischen den Generationen führen.

3.2.3.1

Wird die Wiederherstellung einer ausgewogenen Altersstruktur in den europäischen Ländern als langfristiges Ziel erachtet, so folgt daraus, dass die Europäische Union in ihren Mitgliedstaaten mehr geburtenfördernde Maßnahmen treffen und sich zu diesem Zweck verstärkt mit den Familienpolitiken in ihren Mitgliedstaaten auseinander setzen muss. Ein mangelndes Interesse für die Familienpolitik kann der Union nicht vorgeworfen werden: Der Ministerrat hat in diesem Bereich mehrmals Vorschläge unterbreitet. Doch die auf der Ebene der Union dargelegten Leitlinien sind nach wie vor lückenhaft und enthalten einige gerechtfertigte und interessante, aber nur bruchstückhafte Vorgaben (5).

3.2.3.2

Sich verstärkt und besser in diesem Bereich zu engagieren, wäre gewiss nicht einfach: Die Politiken der einzelnen Mitgliedstaaten sind überaus heterogen und geburtenfördernde politische Maßnahmen sind kostenträchtig. Darüber hinaus herrscht zwischen Fachleuten und Entscheidungsträgern große Uneinigkeit über die tatsächliche Wirkung und den Grad der spezifischen Wirksamkeit dieser politischen Maßnahmen. Nach Auffassung des Ausschusses würden solche Überlegungen jedoch trotz ihrer Tragweite eine andauernde relative Zurückhaltung der EU-Organe nicht rechtfertigen.

3.2.3.3

Der Ausschuss hält es für wünschenswert, dass die Organe der EU auf diesem Gebiet eine Strategie entwickeln, die diesen Namen verdient, wobei die zahlreichen Aspekte dieses Themas zu berücksichtigen sind. Ferner sollten die EU-Organe die Mitgliedstaaten dazu anregen, im Rahmen ihrer Familienpolitiken langfristig auf die Wiederherstellung einer ausgewogenen Altersstruktur in den Mitgliedstaaten der Union hinzuwirken.

3.2.3.4

Der Ausschuss ist bereit und es ist sein Wunsch, aktiv und im Rahmen seiner Möglichkeiten an den Arbeiten mitzuwirken, die eine solche Vorgehensweise — sollte sie gewählt werden — erfordert.

4.   FAZIT

4.1

Die Gesellschaften Europas und die europäische Gesellschaft, die erstere gemeinsam aufbauen wollen, sind und werden stets mit Risiken sozialer, politischer, ethnischer und kultureller Brüche konfrontiert werden. Es muss alles daran gesetzt werden, dass zu diesen Risiken nicht auch noch die Gefahr einer Spaltung zwischen den Generationen hinzukommt.

4.2

Rahmen und Zeithorizont der Probleme in den Beziehungen zwischen den Generationen sind wesensgemäß langfristiger Natur. Dasselbe gilt folglich auch für die Suche nach ihren Lösungen.

4.3

Wegen der Vielzahl und der Komplexität der sektorbezogenen Komponenten, die zu berücksichtigen sind, muss ein vorausschauender, umfassender und systemischer Ansatz konzipiert und entwickelt werden. Denn schließlich existieren die einzelnen Aspekte der Wirklichkeit in diesem, wie in jedem anderen Bereich nicht nebeneinander und lassen sich nicht voneinander trennen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass eine gute Gestaltung der Beziehungen zwischen den Generationen äußerst positive ökonomische Auswirkungen hätte.

4.4

Obgleich nichts überstürzt werden darf und die Regeln des Subsidiaritätsprinzips in jedem Falle eingehalten werden müssen, ist es dennoch wünschenswert, dass die Europäische Union wie auch ihre Mitgliedstaaten weder eine abwartende noch eine minimalistische Haltung einnehmen.

4.5

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss misst diesen Überlegungen, denen offenkundig zunehmende Aufmerksamkeit geschenkt wird, die aber bislang noch nicht den ihnen gebührenden Platz in den politischen Anliegen der Mitgliedstaaten und der Union eingenommen haben, große Bedeutung bei.

4.6

Diese Stellungnahme ist eine Antwort auf die Herausforderung, zu einer größeren Abstimmung bezüglich dieses entscheidenden Themas beizutragen, das eine koordinierte und langfristige Mitwirkung verschiedener Akteure voraussetzt. Kurzsichtige Interessen dürfen dabei nicht im Vordergrund stehen. Es erfordert die Kontinuität einer konstruktiven Absicht. Es geht um die schrittweise Ausarbeitung eines neuen Paktes zwischen den Generationen in der Europäischen Union  (6) .

4.7

Diese Stellungnahme ist alles andere als ein abgeschlossenes Dokument. Es wird nicht der Anspruch erhoben, Patentlösungen vorzulegen. Vielmehr wird vorgeschlagen, die Arbeiten aufzunehmen, sie langfristig anzulegen und sich für einen relativ langen Weg zu rüsten.

4.8

Der Ausschuss spricht sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt dafür aus, innerhalb einer realistischen Frist ein öffentliches Diskussionsforum zu diesem weitgefassten Thema zu veranstalten. An einer solchen Konferenz sollten unter anderem politische Entscheidungsträger, Vertreter der europäischen Institutionen, Akteure der organisierten Zivilgesellschaft und Sachverständige teilnehmen. Der Ausschuss erbietet sich, die Einleitung und Organisation einer solchen Initiative zu übernehmen.

4.9

Das Engagement des Ausschusses auf diesem weiten Gebiet kann und muss auf der gesamten Wegstrecke stets in enger Zusammenarbeit mit den EU-Institutionen erfolgen.

Brüssel, den 16. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Die „Beziehungen“ umfassen hier verschiedene Aspekte (wirtschaftlich, gesellschaftlich, kulturell, politisch u.a.).

(2)  Der Ausdruck findet sich in einem Bericht (Berichterstatter: Jean Billet) des französischen Wirtschafts- und Sozialrats aus dem Jahr 2004.

(3)  Bisweilen nicht ohne kommerzielle Hintergedanken.

(4)  Vgl. insbesondere Stellungnahme des EWSA zum Thema „Hin zum 7. Rahmenprogramm für Forschung: Forschungsbedarf im Rahmen des demographischen Wandels - Lebensqualität im Alter und Technologiebedarf“ - Berichterstatterin: Frau HEINISCH - CESE 1206/2004 vom 15. September 2004.

(5)  Problemfamilien; Kinderbetreuung; Mutterschafts- bzw. Elternurlaub u.a.

(6)  Es sei in diesem Zusammenhang auf den Nutzen des Berichts der Hochrangigen Gruppe für die Zukunft der Sozialpolitik in einer erweiterten Europäischen Union vom Mai 2004 hingewiesen.


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/155


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Koexistenz zwischen gentechnisch veränderten Kulturpflanzen und konventionellen und ökologischen Kulturpflanzen“

(2005/C 157/29)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 29. Januar 2004, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Koexistenz zwischen gentechnisch veränderten Kulturpflanzen und konventionellen und ökologischen Kulturpflanzen“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 21. September 2004 an. Berichterstatter war Herr Voss.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 16. Dezember) mit 47 gegen 13 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Der EWSA hält es für notwendig, nachhaltige, rechtssichere und praktikable Regeln der Koexistenz des Anbaus gentechnisch veränderter Kulturpflanzen mit dem konventionellen und ökologischen Anbau von Kulturpflanzen und dem Naturschutz für die gesamte Lebensmittelwirtschaft und die land-, fischerei- und forstwirtschaftliche Produktion einschließlich des Anbaus im Bereich der pharmazeutischen und Non-Food-Produktion sowie der Forschung zu entwickeln und festzulegen.

1.2

Da die Kommission erstens wesentliche Aspekte der Koexistenz nationalen Regelungen überlassen will und zweitens die für die künftige Ausgestaltung der Koexistenz zentrale Frage des Umgangs mit der zufälligen oder technisch unvermeidbaren Anwesenheit von GVO in Saatgut ohne GVO im Rahmen des Komitologie-Verfahrens nach RL 2001/18 sowie nach den Saatgutverkehrsrichtlinien festzulegen gedenkt, wird der EWSA mit diesen Fragen nicht befasst. Deshalb ist es sinnvoll, sich an dieser Diskussion auf dem Wege einer Initiativstellungnahme zu befassen, um so insbesondere die wirtschaftlichen und sozialen Fragen in diesem Zusammenhang in angemessener Form zu beleuchten und hierzu gegenüber Rat, Kommission und Parlament Stellung zu nehmen.

1.3

Diese Initiativstellungnahme soll sowohl die wichtigsten inhaltlichen Aspekte der Koexistenz beleuchten als auch Vorschläge zu der Frage machen, welche dieser Aspekte aus Sicht des EWSA durch europäische und welche durch nationale Gesetzgebung geregelt werden sollte und welcher praktischen Vorgaben und Anleitungen die betroffenen Wirtschaftsunternehmen, insbesondere der Landwirtschaft, bedürfen.

1.4

Da die Kommission das seit 1998 geltende Moratorium für die Zulassung der Inverkehrbringung von GVO als Lebensmittel im Mai diesen Jahres beendet hat und beabsichtigt, demnächst auch über Zulassungen für den Anbau von GVO zu entscheiden (1), ist die praktische Gestaltung der Koexistenz von dringlicher Bedeutung.

2.   Allgemeine Vorbemerkungen und Begriffsbestimmungen

2.1

Aufgrund der Zulassung der Inverkehrbringung genetisch veränderter Organismen (GVO)

zur pflanzlichen und mikrobiologischen Kultivierung und zur Tierhaltung,

zu Forschungszwecken,

als Lebens- und Futtermittel,

als Rohstoff in anderen Anwendungsbereichen einschließlich des Anbaus für die pharmazeutische Produktion,

zum Zwecke der Naturbeeinflussung (z.B. Abbau von Schadstoffen) und

als Hilfsmittel in der Land- und Forstwirtschaft (z.B. zur Schädlingsbekämpfung und Unkrautkontrolle),

ergibt sich die Notwendigkeit, praktische Bestimmungen für die Durchführung solcher Freisetzungen und für den Umgang mit deren Produkten in Lebens- und Futtermitteln sowie in der Natur festzulegen.

2.2

Bereits gesetzlich geregelt sind auf europäischer Ebene

die Risikobewertung und das Risiko-Management (2),

die Zulassung,

die Kennzeichnungsbestimmungen für Lebens- und Futtermittel (3),

die Rückverfolgung (4) und

die grenzüberschreitenden Transporte außerhalb der Europäischen Gemeinschaft (implementiert das Internationale Cartagena Protokoll zu Biosicherheit) (5).

2.3

Nicht geregelt sind auf europäischer Ebene bisher

die Kennzeichnungsbestimmungen für Saatgut und Reproduktionsmaterial; hierfür wird von der Kommission derzeit ein Vorschlag erarbeitet (6) und

der praktische Umgang mit den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Konsequenzen des Einsatzes von GVO (7); hiermit befassen sich gegenwärtig die Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 2001/18 sowie durch die Ausgestaltung ihrer nationalen Gesetzgebung insbesondere in Bezug auf die Vorschriften zum Anbau und zur zivilrechtlichen Haftung in diesem Zusammenhang.

2.4

Die bereits verabschiedete Gesetzgebung der EU legt fest, dass GVO einer besonderen Risiko-Prüfung und -Bewertung, des Risiko-Managements und der durchgängigen Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit bedürfen. Sie geht davon aus, dass der Verzicht auf den aktiven wie passiven Einsatz von GVO möglich sein soll und schreibt einen vollständigen Verzicht auf den Einsatz von GVO in der biologischen Landwirtschaft und in der biologischen Lebensmittelwirtschaft (mit Ausnahme einiger veterinärmedizinischer Produkte) zwingend vor. Ebenso sieht sie die Möglichkeit vor, die Freisetzung von GVO in bestimmten Gebieten nach einer Einzelfallprüfung besonderen Auflagen zu unterwerfen oder gänzlich zu untersagen.

2.5

Bei GVO handelt es sich um Lebewesen, die sich im Rahmen des Naturhaushaltes vermehren und verbreiten können. Die biologischen Systeme, als deren Bestandteile sie eingeführt werden und aus denen sie nicht ohne weiteres wieder zu entfernen sein werden, sind weder hermetisch abzugrenzen noch auf gleiche Weise zu kontrollieren und zu steuern wie dies in geschlossenen wissenschaftlichen, industriellen oder handwerklichen Anlagen möglich ist. Die Biosphäre ist grundsätzlich ein weltweit vernetztes, offenes System, dessen Gesetzmäßigkeiten und Verhalten bisher nur begrenzt bekannt und steuerbar sind.

2.6

Aus diesen Gründen hat der Europäische Gesetzgeber das Vorsorgeprinzip und die fallweise Bewertung und Regelung als Maßstab seines Umgangs mit GVO festgelegt. Zugleich hat er Transparenz und Wahlfreiheit in Bezug auf den Einsatz von GVO eine herausragende Bedeutung beigemessen.

2.7

Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Gemeinschaft dem Einsatz von GVO in der Land- und Forstwirtschaft sowie in Lebens- und Futtermitteln skeptisch bis ablehnend gegenübersteht.

2.8

Die Koexistenz von Bewirtschaftungs- und Landnutzungsformen mit und ohne genetisch veränderten Organismen betrifft deshalb

die Land- und Forstwirtschaft und Fischerei einschließlich der Verwaltung des Grundeigentums,

die gesamte Lebensmittelwirtschaft (Verarbeitung, Handel, Gastronomie),

die regionale und kommunale Flächennutzung und Wirtschaftsentwicklung,

den Verbraucherschutz und

den Naturschutz

in dem jeweils angemessenen räumlichen und zeitlichen Rahmen.

2.9

Die Europäische Kommission hat in nicht rechtsverbindlichen Stellungnahmen die Koexistenz bisher auf die rein wirtschaftlichen Aspekte des Nebeneinanders unterschiedlicher Formen der Landwirtschaft reduziert. Sie schlägt vor, die Regelung dieser Aspekte im Wesentlichen den einzelnen Mitgliedstaaten zu überlassen. Diese Haltung ist im Ministerrat allerdings umstritten und wird vom Europäischen Parlament kritisiert (8).

3.   Wesentliche Aspekte der Koexistenz (Gliederung)

3.1   Stand der Wissenschaft

3.1.1

Voraussetzung für die Regelung der Koexistenz ist eine ausreichende wissenschaftliche Grundlage für die Abschätzung der räumlichen und zeitlichen Ausbreitung und Auskreuzung von GVO der verschiedenen Pflanzenarten (sowie ggf. zur Ausbreitung von Mikroorganismen und Tieren), sowie verlässliche, praxisnahe Erfahrungen und Abschätzungen der möglichen Verbreitungswege bei Produktion, Lagerung, Transport und Verarbeitung.

3.1.2

Die Kommission hat hierzu verschiedene Gutachten und Stellungnahmen (9) eingeholt, die allerdings noch kein kohärentes Bild ergeben. Weitere Studien sind in Auftrag gegeben worden. Auf der ersten wissenschaftlichen Konferenz zur Koexistenz im November 2003 (10) stellten die versammelten Wissenschaftler einen erheblichen Forschungsbedarf fest und sahen sich nur teilweise in der Lage, belastbare Aussagen zu den Möglichkeiten der Koexistenz zu machen. Eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses der EU aus dem Jahre 2001 (11) weist auf erhebliche Unsicherheiten hin und legt sich in Bezug auf die von der Kommission vorgeschlagenen Grenzwerte für Lebens- und Futtermittel sowie für Saatgut nicht eindeutig fest.

3.1.3

Der gegenwärtige Kenntnisstand über das Auskreuzungsverhalten, die Ausbreitung und Persistenz von gentechnisch veränderten Pflanzen lässt bisher keine verlässlichen Prognosen über die Möglichkeit der Koexistenz zu.

3.1.4

Dies gilt insbesondere in Bezug auf langfristige Prognosen sowie unterschiedliche ökosystemare Umgebungen und Anbaubedingungen.

3.1.5

Die Bewertung und Abschätzung der Koexistenzfähigkeit bestimmter GVO muss von Pflanzenart zu Pflanzenart unter Berücksichtigung der regionalen Bedingungen und für unterschiedliche Produktionssysteme vorgenommen werden. Hierbei sind auch die damit verbundenen Veränderungen der Anbaumethoden (z.B. der Einsatz von Totalherbiziden, der durch entsprechende Resistenzen ermöglicht wird) zu berücksichtigen.

3.1.6

Besondere Schwierigkeiten der Prognose und Kontrolle ergeben sich grundsätzlich bei solchen Pflanzenarten, die mit natürlich vorkommenden, nicht kultivierten Verwandten in genetischem Austausch stehen. Raps, dessen genetisches Ursprungszentrum in Europa liegt, hat in Europa ein Vielzahl direkter und indirekter Kreuzungspartner in Wild- und Kulturform. Kohl, Rübsen, Senf (Rukola), Hederich, Mauerdoppelsam, Hundsrauke, Wilder Senf, Wilder Kohl und Grausenf. Ähnliches gilt z.B. auch für Rüben.

3.2   Risiko-Management, Monitoring und Registrierung des Anbaus

3.2.1

Die Identifizierung und Kennzeichnung von GVO ist die materielle Voraussetzung für die Durchführung der in der Richtlinie 2001/18 vorgeschriebenen Registrierung des Anbaus und das Monitoring von GVO. Sie ist darüber hinaus auch die Voraussetzung dafür, bestimmte GVO aus dem Verkehr zu ziehen, wenn dies aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse oder wegen des Auslaufens der zeitlich befristeten Zulassung erforderlich wird. Die Kennzeichnung von reproduktionsfähigen GVO ist insofern für ein effektives Risiko-Management, insbesondere im Falle von eventuell erforderlichen Notfallmaßnahmen, entscheidend. Sie kann sich deshalb nicht allein an der Frage orientieren, ob sie zu einer Überschreitung der Grenzwerte für eine Kennzeichnungspflicht in Lebens- und Futtermitteln führen wird oder nicht; zumal beim Wegfall einer Zulassung die vorgesehenen Grenzwerte in Bezug auf die Information der Verbraucher automatisch entfallen.

3.2.2

Die Bewertung der von GVO ausgehenden Risiken ist nach Richtlinie 2001/18 und vergleichbaren Bestimmungen in anderen Verordnungen und Richtlinien der Gemeinschaft vorzunehmen und eine Voraussetzung für ihre Zulassung. Allerdings hat die praktische Durchführung des Anbaus entscheidenden Einfluss darauf, ob, wie in der Richtlinie vorgesehen, effektive Maßnahmen zur Beschränkung des Anbaus, zur Begrenzung und Beobachtung seiner Auswirkungen sowie zur Rücknahme einer Zulassung ergriffen werden können oder nicht. Insofern lässt sich die Frage der Koexistenz nicht allein auf die wirtschaftlichen Aspekte des Anbaus beschränken, sondern ist ein integraler Bestandteil des gesetzlich vorgeschriebenen Risiko-Managements und der Vorsorge.

3.3   Rückverfolgbarkeit und Kontrolle in der Lebens- und Futtermittel-Kette durch Probennahme, Tests und Dokumentation

3.3.1

Maßnahmen zur Identifizierung und Kennzeichnung von GVO in der gesamten Lebensmittelkette schreibt die Richtlinie für die Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit von GVO (eingebettet in die allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts (12)) vor. Diese gehen über die Identifizierung der GVO im Endprodukt hinaus, da jetzt auch solche Produkte kennzeichnungspflichtig sind, in denen Spuren der GVO im Endprodukt nicht mehr nachweisbar sind.

3.3.2

Die für die Identifizierung eines GVO erforderlichen Informationen werden in einem zentralen Register erfasst und veröffentlicht (13).

3.3.3

Die gemeinsame Forschungsstelle der EU bemüht sich derzeit um die Standardisierung und Validierung der in diesem Zusammenhang erforderlichen Probenahme- und Testverfahren.

3.3.4

Die Identifizierung spezifischer DNA oder eines spezifischen Proteins eines GVO ist beim gegenwärtigen Stand der Analytik im Bereich von 0,001 bis 0,05 Prozent an der Gesamtheit einer analysierten Probe technisch möglich. Die Kosten für unspezifische, qualitative Tests zum Vorhandensein von GVO liegen gegenwärtig zwischen 100 und 150 € pro Analyse. Die Kosten für spezifische und quantitative Tests schwanken zwischen 250 und 500 € pro Analyse.

3.3.5

Bei der Verlässlichkeit und der flächendeckenden Verfügbarkeit der Nachweisverfahren und der technischen Kapazitäten zu ihrer Durchführung gibt es bislang innerhalb der Gemeinschaft noch erhebliche Unterschiede. Nur in wenigen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft stehen sie bisher in ausreichendem Maße zur Verfügung, in einigen überhaupt nicht.

3.3.6

Gegenwärtig bereiten insbesondere quantitative und spezifische Analysen des Vorhandenseins von GVO in der Praxis noch erhebliche Schwierigkeiten, insbesondere da, wo von den herstellenden Unternehmen kein geeignetes Nachweisverfahren oder kein ausreichendes Referenzmaterial zur Verfügung gestellt wird. Dies betrifft in besonderem Maße solche GVO, die in der Gemeinschaft nicht zugelassen sind, deren Auftreten in importiertem Saatgut und Rohstoffen jedoch nicht ausgeschlossen werden kann.

3.4   Gute fachliche Praxis in der Landwirtschaft

3.4.1

Die gute fachliche Praxis ist in der gesamten Kette der Lebensmittelproduktion einzuhalten

bei der Forschung und Entwicklung, insbesondere auch bei Freisetzungen von GVO zu wissenschaftlichen Zwecken (Teil B 2001/18),

in der Saatgutentwicklung, insbesondere im Hinblick auf die Beschaffenheit des genetischen Ausgangsmaterials und der verschiedenen Stufen des Basissaatgutes,

bei der Erhaltungszucht und –vermehrung,

in der Vermehrung, Aufbereitung, Behandlung und Verpackung des Saatgutes,

bei Anbau, Bearbeitung, Ernte und Transport der pflanzlichen Produkte,

bei der Auswahl und Aufbereitung des aus der Ernte gewonnenen Saatgutes für den Nachbau,

bei Aufkauf, Aufbereitung, Lagerung und Transport der landwirtschaftlichen Rohstoffe und Produkte,

in der weiteren Verarbeitung der Lebens- und Futtermittel und

bei Verpackung, Vertrieb und Kennzeichnung der fertigen Produkte.

3.4.2

In den meisten Bereichen ist die gute fachliche Praxis bereits in vielfältiger Hinsicht geregelt. Ihre Ergänzung um spezifische Bestimmungen für den Umgang mit GVO ist die entscheidende Voraussetzung zur praktischen Umsetzung der gesetzlich festgelegten Vorschriften für das Risiko-Management und die Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung von GVO. Der größte Handlungsbedarf besteht hierfür in den Bereichen der Saatgutproduktion und der landwirtschaftlichen Produktion, aber auch in Bezug auf Aufkauf, Lagerung und Transport der landwirtschaftlichen Produkte.

3.4.3

Der Erfolg, aber auch die Erfordernisse der guten fachlichen Praxis hängen wesentlich davon ab, mit welchem Erfolg die gute fachliche Praxis in den vorangegangenen Produktionsschritten eingehalten wurde.

3.4.4

Zur Vermeidung von unerwünschter Auskreuzung und anderweitiger Verbreitung von GVO auf Kulturflächen und in der Natur sowie zur Vermeidung der Vermengung von GVO-Erntegut mit Nicht-GVO-Erntegut sind (unter Berücksichtigung der jeweiligen Kultur und der regionalen Bedingungen) verschiedene Maßnahmen zu ergreifen. Die Kommission hat diese in ihren Leitlinien zur Koexistenz (14) teilweise benannt und die Mitgliedstaaten aufgefordert, entsprechende Vorschriften zu erlassen. Diese betreffen sowohl Landwirte, die GVO anbauen, als auch solche, die sie in ihren Produkten vermeiden wollen. Sie betreffen darüber hinaus landwirtschaftliche Lohnbetriebe und Handelsgesellschaften einschließlich der Lagerung und des Transportes sowie für die landwirtschaftliche Praxis zuständige Behörden und am Landschafts- und Naturschutz beteiligte Institutionen.

3.5   Beschaffenheit, Kontrolle und Kennzeichnung des Saatgutes

3.5.1

Saatgut steht am Anfang der Produktionskette. Es vermehrt sich je nach Sorte um den Faktor 40 bis 1000 und kann teilweise über lange Zeit im Boden verweilen. GVO im Saatgut befruchten bei Fremdbestäubern benachbarte Kulturpflanzen und, sofern solche in der Nähe wachsen, wildlebende Verwandte. Saatgut und Pollen können dabei über weite Distanzen verschleppt werden. Aufgrund dieser räumlichen und zeitlichen Dimensionen spielt das Vorhandensein von GVO im Saatgut nach übereinstimmender Auffassung der Wissenschaftler eine entscheidende Rolle in Bezug auf die Koexistenz.

3.5.2

Richtlinie 2001/18 sieht die Möglichkeit vor, für bestimmte Produktgruppen Grenzwerte festzulegen, unterhalb derer die Kennzeichnung von GVO unter bestimmten Voraussetzungen nicht erforderlich ist. Für Lebens- und Futtermittel wurde in der Verordnung über gentechnisch veränderte Lebens- und Futtermittel (15) und über die Rückverfolgbarkeit (16) ein Grenzwert von 0,9 % festgelegt.

3.5.3

Die Kommission hat vorgeschlagen, im Rahmen der Richtlinien für Pflanz- und Saatgut, ebenfalls Kennzeichnungs-Grenzwerte für GVO in Saatgut festzulegen, die zwischen 0,3 und 0,7 Prozent liegen sollten. Aufgrund von rechtlichen Bedenken zog die Kommission diesen Vorschlag im Oktober 2003 wieder zurück und erarbeitete einen neuen Vorschlag. Dieser beinhaltete nur noch Grenzwerte für Rapssaat und für Maissaat in Höhe von 0,3 %. Auch diesen Vorschlag zog die Kommission jedoch im September 2004 zurück. Es sind nun weitere Folgenabschätzungen vorgesehen, um die Entscheidung auf eine solidere wissenschaftliche Basis zu stellen und insbesondere die wirtschaftlichen Auswirkungen genauer zu beurteilen. Fest steht, dass die Festlegung der Reinheitsanforderungen an das nicht gentechnisch veränderte Saatgut entscheidende Auswirkungen darauf hat, ob eine Koexistenz bei bestimmten Pflanzenarten und Produktionsformen überhaupt möglich sein wird und welche Kosten ggf. damit verbunden sein werden.

3.5.4

Über die Frage, ob und ggf. in welcher Höhe Grenzwerte für die zufällige und technisch unvermeidbare Anwesenheit von GVO in Saatgut festzulegen sind, herrschen sowohl bei den Regierungen der Mitgliedstaaten als auch unter den betroffenen Organisationen und Unternehmen unterschiedliche Vorstellungen.

3.5.5

Bei der Kennzeichnung von Saatgut handelt es sich nicht — wie im Falle der Lebens- und Futtermittel — um eine Information der Endverbraucher im Sinne ihrer Wahlfreiheit. Vielmehr ist sie eine wesentliche Information für diejenigen, die GVO nach den gesetzlichen Bestimmungen in die Umwelt freisetzen und für die Behörden, die für die Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie zuständig sind. Der Mangel an Informationen über das Vorhandensein von GVO in bestimmtem Saatgut macht deren gesetzlich vorgeschriebene Registrierung, Beobachtung (Post-Market Monitoring) und im Falle eines nachträglichen Verbotes auch deren Rückholung praktisch unmöglich.

3.5.6

Sollte sich beispielsweise ein GVO nachträglich als allergen erweisen oder aber die Übertragung seiner Eigenschaften auf wilde Verwandte zu einem Konkurrenzvorteil und damit zu unerwünschten Verschiebungen des ökologischen Gleichgewichtes führen, so wäre der betroffene GVO zu verbieten und aus dem Verkehr zu ziehen. Für diesen Zweck sind Grenzwerte in dem von der EU-Kommission vorgeschlagenen Bereich vollkommen inakzeptabel. Wäre nämlich davon auszugehen, dass das gesamte Saatgut der betroffenen Pflanzenart mit bis zu einem halben Prozent durch diesen GVO verunreinigt ist, müssten sich Rückholungs- und Notfallmaßnahmen auf die gesamte Ernte und das gesamte Saatgut dieser Pflanzenart erstrecken.

3.5.7

Praktische Erfahrungen mit einer Rückruf-Aktion in den USA illustrieren sowohl die Schwierigkeiten als auch die möglichen Kosten. Nachdem die US Umweltbehörde US EPA im Jahre 2000 den Einsatz der gentechnisch veränderten Maissorte „Starlink“ wegen möglicher allergener Wirkung untersagte, entstanden in der gesamten Produktkette Kosten von rund einer Milliarde US $. Verunreinigtes Saat- und Erntegut wurde in großem Stile aufgekauft und vom Markt genommen. Die Verunreinigungen konnten dennoch bis heute nicht wieder vollständig eliminiert werden. In den USA wurden im Jahre 2003 noch in über 1 % der untersuchten Proben Spuren von „Starlink“ nachgewiesen.

3.5.8

Darüber hinaus hat das Vorhandensein von GVO in nicht gentechnisch verändertem Saatgut entscheidenden Einfluss auf die dem nachgelagerten Bereich der Landwirtschaft und Verarbeitung entstehenden Kosten. Sofern aufgrund von gesetzlich zugelassenen Verunreinigungen sämtliche nicht gentechnisch veränderten Produkte dennoch routinemäßig auf den Grad ihrer Verunreinigung mit GVO untersucht werden müssen, um sicherzugehen, dass sie nicht den gesetzlich vorgegebenen Kennzeichnungsgrenzwert für Lebens- und Futtermittel von 0,9 % bzw. entsprechend niedrigere Grade der Verunreinigungen in den Vorprodukten überschreiten, ergibt sich hieraus ein gewaltiger Aufwand an kostspieligen Tests und Kontrollen.

3.5.9

Die Verunreinigung von konventionellem und biologischem Saatgut mit GVO wird zudem eine wichtige Rolle bei der Feststellung der Verursacher von finanziellen Schäden durch Überschreitung der Kennzeichnungsgrenzwerte von Lebens- und Futtermitteln spielen sowie von hieraus abgeleiteten niedrigeren Grenzwerten, die von Handels- und Verarbeitungsunternehmen gefordert werden. Selbstverständlich werden mögliche Verursacher zunächst den Nachweis verlangen, dass diese Schäden nicht zumindest teilweise aufgrund der Beschaffenheit des Saatgutes und nicht durch die Übertragung von GVO auf dem Felde entstanden sind.

3.5.10

Schließlich wirkt sich das Vorhandensein von GVO in konventionellem und biologischem Saatgut negativ auf die Möglichkeiten der Landwirte zum Nachbau und zur Nachzucht von eigenem Saatgut aus. Die ursprüngliche Verunreinigung des Saatgutes kann in der folgenden Generation akkumulieren, insbesondere natürlich dann, wenn zusätzliche Verunreinigungen von benachbarten Feldern hinzukommen. Dies kann nicht nur zu erheblichen finanziellen Verlusten der betroffenen Landwirte führen, sondern auch die Vielfalt und lokale Angepasstheit von Saatgut beeinträchtigen.

3.6   Produkt- und Umwelthaftung

3.6.1

Nach der Richtlinie (85/374/EWG) über die Haftung für fehlerhafte Produkte haften die Hersteller und Inverkehrbringer von GVO für fehlerhafte Produkte bei schuldhaft oder fahrlässig verursachten Schäden an Leib und Leben und Eigentum (17). Diese Haftung ist jedoch auf Endprodukte beschränkt, die für den privaten Ge- und Verbrauch bestimmt sind und umfasst deshalb weder das Saatgut noch finanzielle Schäden, aufgrund einer Minderung des Wertes der Ernte und ihrer Folgeprodukte.

3.6.2

Diese gemeinschaftliche und erschöpfende Beschränkung der Produkthaftung erschwert nationale Regelungen für eine direkte Haftung der Inverkehrbringer eines GVO auch für zivilrechtliche Schäden und verweist die gesamte zivilrechtliche Haftung auf die Anwender (Landwirte) als unmittelbare Hersteller des Endproduktes.

3.6.3

„Jede absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt sowie die Beförderung und das Inverkehrbringen dieser Organismen gemäß der Definition in der Richtlinie 2001/18/EG“ gehört zum Anwendungsbereich der neuen Richtlinie 2004/35/EG zur Umwelthaftung, die Mitgliedstaaten (nicht aber einzelne Bürger) dazu ermächtigt, Verursacher zur Beseitigung und Sanierung von Umweltschäden zu verpflichten, sofern sie vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt haben und ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Schaden und den Tätigkeiten einzelner Betreiber festgestellt werden kann (18). Diese Richtlinie ist von den Mitgliedstaaten bis zum 30. April 2007 umzusetzen. Die Tatsache, dass ein GVO innerhalb der Gemeinschaft zur Freisetzung zugelassen ist, wird in der Regel den Tatbestand der Fahrlässigkeit oder des Vorsatzes ausschließen, es sei denn es wurde gegen spezifische Freisetzungsauflagen verstoßen. In seiner Stellungnahme zur Umwelthaftungsrichtlinie (19) hatte der EWSA bereits gefordert, dass „bei der Definition der biologischen Vielfalt ebenfalls die kurz- und langfristigen Auswirkungen des Einsatzes von GMO berücksichtigt werden sollten“.

3.7   Zivilrechtliche Haftung

3.7.1

Die unerwünschte Anwesenheit von GVO in Produkten, Produktionsanlagen und Produktionsflächen kann für Landwirte, Verarbeiter und Händler von Lebens- und Futtermitteln finanziellen Schaden verursachen, wenn dies die Produktion und den Verkauf von Produkten ohne Gentechnik erschwert, behindert oder verunmöglicht oder besondere Maßnahmen zur Kontrolle und Entfernung erforderlich macht. Sie kann darüber hinaus Maßnahmen zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes in Gebieten erforderlich machen, in denen die Freisetzung von GVO nicht gestattet und vorgesehen ist (z.B. ökologisch sensiblen Gebieten), die mit Kosten verbunden sind.

3.7.2

Die Versicherungswirtschaft schließt gegenwärtig eine Versicherung dieser zivilrechtlichen Ansprüche aus.

3.7.3

Die zivilrechtliche Haftung für diese Kosten soll nach den Vorstellungen der EU-Kommission von den Mitgliedstaaten geregelt werden. Es ist offensichtlich, dass dies Einfluss auf die Wettbewerbssituation innerhalb der Gemeinschaft haben wird. Unterschiedliche nationale Regelungen in diesem Bereich können zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen auf dem gemeinsamen Markt führen sowie zu Rechtsunsicherheit, wo Ursache und Wirkung die Binnengrenzen der Gemeinschaft überschreiten.

3.7.4

Eine individuelle Haftung für Kosten, die anderen bei der Vermeidung von Schäden entstehen (Tests, Kontrollen und anderen Maßnahmen zur Vermeidung der Auskreuzung und Verunreinigung mit GVO), ist rechtlich kaum realisierbar. Im Gegensatz zur Regulierung tatsächlich aufgetretener Schäden lassen sich diese ganz erheblichen Kosten, die in allen Regionen auftreten werden, in denen GVO angebaut werden, nicht durch zivilrechtliche Haftungsbestimmungen ausgleichen. Sie könnten den betroffenen Landwirten, Unternehmen und Behörden allenfalls aus Umlagefonds ersetzt werden, die von den verursachenden Unternehmen und Landwirten finanziert werden.

3.8   Volks- und betriebswirtschaftliche Kosten

3.8.1

Maßnahmen zur Kontrolle und Vermeidung der unerwünschten Anwesenheit von GVO werden durch den Anbau von GVO in der gesamten Lebens- und Futtermittelproduktion erforderlich. Darüber hinaus kann er Folgen für die Marktsituation in bestimmten Regionen und für bestimmte Produktionsformen und Produktarten (z.B. regionale Qualitätsmarken und biologische Landwirtschaft und Produktion) haben. Neben den Marktteilnehmern sind davon auch verschiedene Behörden und Institutionen der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft betroffen.

3.8.2

Bei den zur Gewährleistung der Koexistenz erforderlichen Kontroll- und Vermeidungsmaßnahmen handelt es sich teilweise um einschneidende Veränderungen der landwirtschaftlichen, handwerklichen und industriellen Praxis und Tradition. Die jeweiligen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Konsequenzen insbesondere für Landwirte und handwerkliche Lebensmittelunternehmen wurden bislang nicht systematisch untersucht und dargestellt. Dies erscheint jedoch dringend geboten, um unerwünschte Auswirkungen auf deren Überlebens- und Konkurrenzfähigkeit sowie auf die Markt- und Preisstruktur zu vermeiden.

3.8.3

Zur Bewertung der angemessenen und effektivsten Koexistenz-Maßnahmen und -Vorschriften ist ein umfassendes Bild dieser Kosten erforderlich. Bisher liegen hierzu jedoch nur wenige und bruchstückhafte Informationen und Abschätzungen vor (20).

3.8.4

Der EWSA hält eine umfassende Übersicht und Abschätzung der Kosten, die den einzelnen Marktteilnehmern in bestimmten Produktionsformen und Regionen sowie der öffentlichen Hand durch Koexistenzmaßnahmen entstehen, für eine unabdingbare Voraussetzung für eine vorausschauende und nachhaltige Regelung der Koexistenz. Es bedarf klarer, verbindlicher und verlässlicher Regelungen, wer diese Kosten zu tragen oder aber zu vermeiden hat.

3.8.5

Der Kommission ist zuzustimmen, wenn Sie in ihren Leitlinien zur Koexistenz schreibt: „Grundsätzlich sollten in einer Region die Marktteilnehmer (Landwirte) in der Phase der Einführung einer neuen Erzeugungsform die Verantwortung für die Durchführung der Betriebsführungsmaßnahmen zur erforderlichen Eindämmung des Genflusses tragen, die diese neue Erzeugungsform einführen. Die Landwirte sollten die Möglichkeit haben, die von ihnen bevorzugte Anbauform selbst zu wählen, ohne dabei benachbarte Betriebe zu zwingen, von bereits eingeführten Erzeugungsstrukturen abzuweichen.“

3.8.6

Eine durch die erforderlichen Koexistenzmaßnahmen verursachte Erhöhung der Produktionskosten darf nicht auf die Verbraucherpreise abgewälzt werden. Dies würde zu einer Einschränkung der Wahlfreiheit insbesondere der sozial schwächeren Verbraucherinnen und Verbraucher führen. Die landwirtschaftliche und handwerkliche Erzeugung von Lebensmitteln ohne Gentechnik darf nicht durch Kosten- und Preiserhöhungen bedroht und in eine Nischenproduktion gedrängt werden.

4.   Empfehlungen des EWSA

4.1   Grundsätze der Koexistenz

4.1.1

Regeln der Koexistenz sollten sich von den Prinzipien der Vorsorge und Erhaltung der natürlichen und kultivierten biologischen Vielfalt, der Minimierung von Kosten, der Maximierung von wirtschaftlichen und sozialen Chancen, der Förderung der regionalen Vielfalt und wirtschaftlichen Eigenverantwortung und dem Verursacherprinzip leiten lassen und langfristig nachhaltig, robust, praxisnah und fehlerfreundlich sein.

4.1.2

Die erforderlichen Maßnahmen und entstehenden Kosten sind grundsätzlich von jenen Wirtschaftsteilnehmern zu tragen, die diese durch die Inverkehrbringung und den Einsatz von GVO erforderlich machen. Sie sollten diejenigen, die ohne GVO produzieren und konsumieren wollen, so wenig wie möglich belasten und dürfen nicht zu einer Erhöhung ihrer Produktionskosten und Preise führen. Sie sollten auch nicht von den Steuerzahlern getragen werden.

4.1.3

Maßnahmen zur Vermeidung des Auftauchens und der Verbreitung von GVO sollten grundsätzlich auf der Stufe erfolgen, auf der sie den geringsten Aufwand und die geringsten Kosten verursachen und den optimalen Effekt haben.

4.1.4

Wo der Anbau eines GVO die Produktion von Pflanzen der selben oder verwandter Kulturen ohne Gentechnik nicht mehr zulässt oder unverhältnismäßig erschwert, ist er zu untersagen.

4.2   Erarbeitung wissenschaftlicher Grundlagen und Umgang mit dem gegenwärtigen Stand des Wissens

4.2.1

Solange die wissenschaftlichen Grundlagen nur unvollständig oder gar nicht vorhanden sind, muss bei der Ausgestaltung der Koexistenzbedingungen das Vorsorgeprinzip mit dem Ziel eingesetzt werden, irreversible oder nur schwer reversible Veränderungen, deren Konsequenzen für die Koexistenz nicht ausreichend bewertet werden können, zu vermeiden. Eine solche Vorsorge sollte sich auch auf die wirtschaftlichen, sozialen und landeskulturellen Aspekte der Koexistenz beziehen.

4.2.2

Die Kommission wird aufgefordert, ein kohärentes, interdisziplinäres wissenschaftliches und praxisorientiertes Forschungsprogramm aufzulegen, das die gewaltigen Wissenslücken in Bezug auf die Koexistenz schließt.

4.2.3

Die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses für Pflanzen (21), auf die sich die Kommission bei der Diskussion über die Grenzwerte von GVO in Saatgut bezieht, ist unbefriedigend. Sie beantwortet nicht die Frage, welche Grenzwerte bei der Kennzeichnung erforderlich sind, um die Vorschriften der Richtlinie 2001/18 einzuhalten. Sie beantwortet auch nicht ausreichend, welche Verunreinigungen des Saatgutes in der Praxis zu welchen Verunreinigungen in der Ernte und im Endprodukt führen werden. Die Kommission sollte deshalb dem wissenschaftlichen Ausschuss der EFSA hierzu erneut präzise Fragen vorlegen.

4.2.4

Darüber hinaus sollten die auf nationaler und regionaler Ebene vorliegenden wissenschaftlichen und praktischen Untersuchungen durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, die Europäische Umweltagentur und die Gemeinsame Forschungsstelle zusammengefasst und den Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden.

4.2.5

Der Kommission wird empfohlen, gemeinsam mit verschiedenen Regionen Europas praktische Koexistenzversuche in großem Maßstab und unter unterschiedlichen Bedingungen durchzuführen. Dabei sollten durch den Anbau von gentechnisch nicht veränderten, jedoch eindeutig von anderen Sorten zu unterscheidenden Sorten von Mais, Raps, Kartoffeln, Rüben und Tomaten die Vermeidung von Auskreuzungen, verschiedene Sicherheitsabstände, die Reinigung von Maschinen, die Trennung bei Transport, Lagerung und Verarbeitung sowie andere Koexistenzmaßnahmen in der Praxis von allen Beteiligten erprobt und untersucht werden.

4.3   Vorsorge und Einhaltung der besten verfügbaren Technologien beim Risiko-Management

4.3.1

Die Kennzeichnung und die gute fachliche Praxis muss darauf ausgerichtet sein, eine möglichst präzise Verfolgung der Ausbreitung und der Auswirkungen von GVO zu ermöglichen. Sie sollte ferner die möglichst vollständige Eliminierung eines GVO aus der Umwelt, dem Saatgut und aus Produkten ermöglichen.

4.3.2

In keinem Falle sollten durch die Festsetzung von Schwellenwerten bei der Kennzeichnung oder durch Bestimmungen zur guten fachlichen Praxis die Vorgaben und Ziele der Richtlinie 2001/18 und der Verordnungen 1830/2003 und 1829/2003 behindert oder unmöglich gemacht werden.

4.3.3

Es ist deshalb grundsätzlich zu fordern, dass die besten verfügbaren Technologien und die beste verfügbare Praxis bei der Regelung des Anbaus, des Transportes, der Verarbeitung und des Imports und Exports von GVO Anwendung finden.

4.3.4

In diesem Zusammenhang sind die besonderen Erfordernisse des Naturschutzes und die Vielfalt der Öko-Systeme Europas zu berücksichtigen.

4.4   Gewinnung und Erhalt der erforderlichen Informationen zur Identifizierung und Kennzeichnung

4.4.1

Bei der Identifizierung von GVO und deren Kennzeichnung in den verschiedenen Schritten der Produktion ist grundsätzlich zu fordern, dass sie so präzise wie möglich am Anfang der Produktionskette erfasst werden und so vollständig wie möglich an die folgenden Glieder der Kette weiterzugeben sind.

4.4.2

Der Verlust von Informationen ist grundsätzlich zu unterbinden. Einmal gewonnene Informationen sollten unabhängig von evtl. festgelegten Grenzwerten dokumentiert und weitergegeben werden.

4.4.3

Die Bereitstellung und Validierung von Testverfahren und Referenzmaterial ist durch die Unternehmen und Institutionen, die einen bestimmten GVO (innerhalb oder außerhalb der Gemeinschaft) in den Verkehr bringen oder zu wissenschaftlichen Versuchszwecken freisetzen, zu gewährleisten und auf dem jeweiligen Stand der Technik zu halten und allen interessierten Parteien zu möglichst geringen Kosten zur Verfügung zu stellen.

4.4.4

Probennahmeverfahren sind insbesondere am Anfang der Produktionskette so zu wählen, dass sie eine möglichst hohe Gewissheit und ein Maximum an Informationen gewährleisten. Sie sollten sich deshalb am zuverlässig zu gewährleistenden Stand der Technik orientieren und nicht etwa an für die Kennzeichnung festgelegten Grenzwerten.

4.5   Verbindliche, praxistaugliche, überprüfbare und robuste Standards der guten fachlichen Praxis auf allen Stufen der Produktion sind eine entscheidende Voraussetzung der Koexistenz.

4.5.1

Sie sind so auszulegen, dass sie die Ziele der Koexistenz und Vorsorge langfristig erreichen und dem sich fortentwickelnden Stand der Wissenschaft und Technik angepasst werden können.

4.5.2

Zur Vermeidung von Beeinträchtigungen des gemeinsamen Marktes für Lebens- und Futtermittel, der gemeinschaftlichen Agrarordnung und von Wettbewerbsverzerrungen sind die Regeln der guten fachlichen Praxis, unter flexibler Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedingungen des Anbaus und der Verarbeitung, auf einem gemeinschaftlichen, hohen Niveau zu harmonisieren bzw. festzulegen.

4.6   Die Kennzeichnungs- und Reinheitsvorschriften für Saatgut sind für die Gewährleistung der Koexistenz entscheidend.

4.6.1

Bei der Festsetzung von Grenzwerten für die Kennzeichnung von GVO im Saatgut sollte deshalb grundsätzlich das technisch und praktisch höchste erreichbare Niveau an Präzision und Transparenz angestrebt werden. Während die technisch verlässliche Nachweisgrenze in einer Probe derzeit bereits bei 0,01 % liegt, ergibt sich aus der praktisch sinnvollen Größe und Anzahl der zu nehmenden Proben ein realistisches Niveau von 0,1 % bezogen auf die gesamte Saatgutcharge.

4.6.2

Der Grenzwert für die Kennzeichnung von GVO in nicht gentechnisch verändertem Saatgut ist an der praktischen Nachweisgrenze festzulegen.

4.6.3

In den jeweiligen Saatgut-Richtlinien sind darüber hinaus strenge Reinheitsvorschriften (Obergrenzen) für die Vermarktbarkeit von nicht gentechnisch verändertem Saatgut vorzusehen.

4.7   Zivilrechtliche Haftungsbestimmungen müssen die Regulierung finanzieller Schäden lückenlos abdecken.

4.7.1

Die Vermehrungsfähigkeit von GVO und die Tatsache, dass ihr unerwünschtes Auftauchen für die Betroffenen einen finanziellen Schaden verursachen kann, macht eine Anpassung der zivilrechtlichen Haftungsbestimmungen in den Mitgliedsländern erforderlich, die eine Deckung dieser Schäden gewährleistet.

4.7.2

Die zivilrechtlichen Haftungsbestimmungen sollten gewährleisen, dass die jeweils Betroffenen nur insoweit haften, als sie zur Vermeidung des möglichen Schadens in der Lage sind. Für die Einhaltung der guten fachlichen Praxis und etwaiger weiterer Auflagen des Inverkehrbringers eines GVO sollten die Anwender des GVO haften. Für das Auftreten von Schäden, die trotz der Einhaltung der guten fachlichen Praxis eintreten, sollte dagegen der Inverkehrbringer des GVO haften. Hierfür sind ggf. die gemeinschaftlichen Regeln des Haftungsrechts entsprechend anzupassen.

4.7.3

Für finanzielle Schäden, die aus dem Inverkehrbringen oder der Anwendung von GVO entstehen können, ist grundsätzlich die Deckung durch eine Versicherung oder eine vergleichbare Haftungsfähigkeit nachzuweisen.

4.8   Die Gesamtkosten der Koexistenz sind festzustellen, zu minimieren und nach dem Verursacher-Prinzip zu verteilen.

4.8.1

Die Kommission wird aufgefordert, eine umfassende und systematische Abschätzung der im Rahmen der Koexistenz auftretenden Kosten, Veränderungen der Marktbedingungen und Auswirkungen auf die verschiedenen Zweige und Betriebsformen der Land- und Lebensmittelwirtschaft, insbesondere auf kleine und mittelständische Unternehmen, die traditionelle Landwirtschaft einschließlich der Nebenerwerbslandwirte, das traditionelle Lebensmittelhandwerk, die biologische Land- und Lebensmittelwirtschaft und auf Saatguterzeugungs- und -vermehrungsbetriebe vorzulegen. Sie sollten insbesondere auch die Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation umfassen.

4.8.2

Darüber hinaus sollte die Kommission darlegen, welche Auswirkungen die erforderlichen Koexistenzmaßnahmen und die Trennung von Produktionsmitteln und Warenströmen auf die Erreichung der Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik und ihrer Reform haben. Insbesondere sind dabei Auswirkungen auf die Betriebsstrukturen sowie auf lokale und regionale Anbau-, Verarbeitungs-, Herkunfts- und Qualitätssicherungsprogramme und deren Kennzeichnung zu berücksichtigen.

4.8.3

Die Kommission wird außerdem aufgefordert darzulegen, wie die zusätzlichen Kosten der Koexistenz nach dem Verursacherprinzip zu ersetzen und zu verteilen sind und welche Maßnahmen erforderlich sind, um negative Auswirkungen auf die Preise von Lebensmitteln ohne Gentechnik auf dem gemeinsamen Binnenmarkt zuverlässig zu vermeiden.

4.8.4

Bei der Feststellung der Verhältnismäßigkeit bestimmter Maßnahmen sind die Auswirkungen auf die gesamte Produktionskette zu berücksichtigen.

4.9   Empfehlungen zur gemeinschaftlichen und nationalen Rechtsgestaltung

4.9.1

Folgende Aspekte der Koexistenz sind auf europäischer Ebene zu regeln:

Kennzeichnungsvorschriften für das Vorhandensein von GVO in nicht gentechnisch verändertem Saatgut;

Reinheitsvorschriften für nicht gentechnisch verändertes Saatgut in Bezug auf das zufällige Vorhandensein von GVO im Rahmen der existierenden Saatgut-Richtlinien;

die erforderlichen Ziele, Ergebnisse, rechtlichen Rahmenbedingungen und Mindeststandards der guten fachlichen Praxis beim Anbau von GVO und der Finanzierung zusätzlicher Kosten durch deren Einhaltung, sowie

die zivilrechtliche Haftung sowohl der Anwender als auch der Inverkehrbringer von GVO für Schäden, die im Zusammenhang mit der Koexistenz auftreten können.

4.9.2

Folgende Aspekte der Koexistenz sind auf nationaler und regionaler Ebene zu regeln:

spezifische Maßnahmen zur Vermeidung von unerwünschter Auskreuzung und Verschleppung von GVO entsprechend den jeweiligen regionalen Bedingungen;

regionale Bestimmungen zum Anbau bestimmter GVO nach Maßgabe der wirtschaftlichen Angemessenheit und des regionalen Kosten-Nutzen-Verhältnisses des Anbaus und der erforderlichen Vermeidungsmaßnahmen; diese können auch das Verbot des Anbaus bestimmter GVO beinhalten;

Maßnahmen zum Schutze von Naturschutzgebieten nach der Fauna-Flora-Habitat Richtlinie 92/43 (22) und der Vogelschutzrichtlinie 79/409 (23) und anderen ökologisch sensiblen Gebieten; sowie

Maßnahmen zum Schutze regionaler Wirtschafts- und Kulturinteressen.

5.   Praktische und aktuelle Aspekte der Koexistenz

5.1

Der Wirtschafts- und Sozialausschuss lud im Juli 2004 Praktiker aus der gesamten betroffenen Produktionskette zu einer Anhörung ein, um sich ein konkretes Bild von der gegenwärtigen und künftig zu erwartenden Situation zu machen. Hieraus ergaben sich unter anderem die folgenden Ergebnisse:

5.2

Tests und Rückverfolgung von GVO entlang der gesamten Produktionskette werden in jedem Falle erhebliche zusätzliche Kosten verursachen. Einfache, qualitative Tests kosten derzeit zwischen 100 und 150 €, während sich der Preis für differenzierte und quantifizierende Tests zwischen 250 und 400 € bewegt. Hierbei wird die Probe jeweils nur auf eine bestimmte Gen-Sequenz untersucht. Mit der Zahl der möglicherweise vorhandenen unterschiedlichen GVO steigt dementsprechend der Testaufwand.

5.3

Der erste Fall, in dem ein GVO aufgrund von Gesundheitsbedenken wieder aus dem Verkehr gezogen werden muss („Starlink“-Mais in den USA), hat bisher Kosten von über einer Milliarde US Dollar verursacht. Dennoch ist es über zwei Jahre nach Beginn der Rückholmaßnahmen noch nicht gelungen, den GVO vollständig aus dem Verkehr zu ziehen.

5.4

Sowohl die Höhe als auch die Verteilung der Kosten für Tests und Rückverfolgung hängen wesentlich davon ab, ob die Gentechnikfreiheit bestimmter Produkte der allgemein akzeptierte und eingehaltene Standard auf dem Markt ist, von dem nur in Einzelfällen abgewichen wird, oder ob der Nachweis der Gentechnikfreiheit von Produzenten, Verarbeitern und Händlern in jedem Einzelfall erbracht werden muss.

5.5

Nach der Markteinführung eines GVO ist es grundsätzlich nicht mehr möglich, die absolute Abwesenheit dieses GVO in anderen Sorten zu garantieren. Es ist jedoch möglich, die zufällige und technisch unvermeidbare Verunreinigung mit dem jeweiligen GVO unterhalb der Schwelle der praktisch verlässlich realisierbaren Nachweisgrenze von 0,1 % zu halten.

5.6

Die Reinhaltung des Saatgutes von unbeabsichtigten Vermischungen mit GVO-Saatgut stellt die Saatgut-Produktion vor erhebliche zusätzliche Herausforderungen. Je niedriger der festgesetzte Schwellenwert ist, desto höher sind die Vermeidungs- und Kontrollkosten bei der Saatgut-Herstellung und -Vermehrung.

5.7

Abhängig von der Vermehrungsform der jeweiligen Pflanzenart wird die Gewährleistung der Gentechnikfreiheit von Saatgut nur unter Einhaltung von erheblichen räumlichen Distanzen beim Anbau und vollständiger Trennung in den weiteren Aufbereitungs-, Verpackungs- und Vertriebs-Prozessen möglich sein. ISO-Standards und HACCP-Protokolle, die sich teilweise noch in der Entwicklung befinden, müssen dabei ebenso eingehalten werden wie externe Überprüfungen.

5.8

Dass die Einhaltung von Reinheitsgarantien an der Nachweisgrenze von 0,1 % auch in den USA, in denen große Mengen von GVO angebaut werden, und von Unternehmen, die in den gleichen Anlagen auch GVO-Saatgut aufbereiten, erforderlich ist, wurde von einem führenden internationalen Saatguthersteller eindrucksvoll belegt.

5.9

Gegenwärtig gibt es weder innerhalb der EU noch international verbindliche praktische Grenzwerte und Standards für gentechnische Verunreinigungen bei der Saatgut-Produktion. Die Kontrolle des Saatgutes ist in den Mitgliedstaaten der EU gegenwärtig unterschiedlich geregelt. Auch der behördliche Umgang mit Verunreinigungen (Akzeptanz zwischen unter 0,1 % und 0,5 %) ist dabei unterschiedlich.

5.10

Während sich Saatguthersteller gegenwärtig ausdrücklich weigern, eine vollständige Gentechnikfreiheit ihrer Produkte zu garantieren, ist es in Italien durch direkte Verhandlungen zwischen dem italienischen Bauernverband Coldiretti und führenden Saatgutherstellern gelungen, entsprechende, von Dritten kontrollierte Garantien zu vereinbaren. In Österreich ist seit 2002 jede Inverkehrbringung von Saatgut, das GVO enthält (bei Nachproben über 0,1 %), durch Verordnung untersagt. Trotz intensiver Kontrolle wurden seither keine Verstöße gegen diese Verordnung festgestellt.

5.11

Die zusätzlichen Kosten für die Saatgut-Herstellung und -Vermehrung bewegen sich nach Angaben der Industrie zwischen 10 und 50 Prozent.

5.12

Bei der Vermehrung von Saatgut ohne Gentechnik sind im Falle des kommerziellen Einsatzes von GVO in einer Region großflächige geschützte Anbaugebiete auszuweisen, wie dies bereits heute in verschiedenen Ländern für verschiedene Kulturen der Fall ist. Besonders weite Abstände werden v.a. bei Raps erforderlich.

5.13

Sämtliche Marktteilnehmer mit Ausnahme der Saatguthersteller sehen in der Einhaltung strenger Reinheitsvorschriften im Saatgut (Kennzeichnung an der Nachweisgrenze von 0,1 %) die entscheidende Voraussetzung für die künftige Gewährleistung gentechnikfreier Produkte.

5.14

Beim Aufkauf und bei der Verarbeitung von Mais entstehen bereits jetzt zur Garantie einer Gentechnikfreiheit unter 0,1 %, wie sie von den Herstellern von Lebensmitteln, Stärke und Haustierfutter gefordert werden, zusätzliche Kosten von rund 3 € pro Tonne. Diese Kosten würden sich bei großflächigem Einsatz von GVO in der Landwirtschaft deutlich erhöhen. Zusätzlich belaufen sich die Risiken, je nach Lot-Größe, auf 150 000 bis 7,5 Mio. € für einen Fall von nicht vermiedener Verunreinigung oberhalb der garantierten Toleranz.

5.15

Der parallele Aufkauf von GVO- und GVO-freien Rohstoffen an einem Standort erscheint nicht praktikabel. Erforderlich ist eine vollständige Trennung der Erfassung, Lagerung, Trocknung und des Transportes.

5.16

Unternehmen und Genossenschaften, die landwirtschaftliche Rohstoffe aufkaufen, sichern bereits jetzt die Gentechnikfreiheit ihrer Produkte durch vertragliche Vereinbarungen mit den sie beliefernden Landwirten ab. Dabei wird u.a. eine Positiv-Liste des Einsatzes akzeptierter und geprüfter Saatgut-Sorten festgelegt sowie ein lückenloses Kontrollsystem vom Anbau bis zur Anlieferung und Annahmekontrolle.

5.17

Aus Sicht der Genossenschaften, die landwirtschaftliche Rohstoffe aufkaufen, sind Systeme, die eine Gentechnikfreiheit unterhalb der gegenwärtig von ihren Kunden akzeptierten Grenzwerte gewährleisten, nur bei regionaler Trennung von gentechnikfreiem und GVO-Anbau möglich. Die Kosten einer derartigen Anbausteuerung werden auf 150 bis 250 € pro Hektar veranschlagt. Die zusätzlichen Kosten für getrennten Transport und Lagerung werden auf 10 bis 20 € pro Tonne geschätzt.

5.18

Entsprechende IP (Identity preservation) und Qualitätssicherungssysteme existieren auch bei Verarbeitern, wie etwa Mühlen. Deren Kunden erwarten gegenwärtig Reinheitsgarantien zwischen 0,1 und maximal 0,5 %. Es erfolgen hier standardmäßige PCR-Proben und Rückstellproben aller Anlieferungen. Darüber hinaus erfolgt eine Auditierung der Lieferanten, von denen generell der Nachweis verlangt wird, dass sie ausschließlich gentechnikfreie Ware erfassen und verarbeiten. Beim Transport werden nach Möglichkeit kritische Punkte möglicher Vermischung und Verunreinigung, wie etwa von Speditions- und Hafenlagern, in denen auch GVO-Ware umgeschlagen wird, vermieden.

5.19

Die Kosten der Reinhaltung werden auf Seiten der Mühlen im Falle von Mais gegenwärtig mit 2,50 € zusätzlich zu den von den Lieferanten verlangten Aufschlägen (s.o.) veranschlagt. Da diese Kosten nur auf den Teil der Ware umgelegt werden können, für den eine entsprechende Garantie verlangt wird, jedoch für die gesamte verarbeitete Menge anfallen, sind sie für die gentechnikfreien Endprodukte z.T. erheblich höher (Maisgries macht z.B. nur 50 % der verarbeiteten Ware aus, d.h. die Mehrkosten (2,50 plus 3,00 = 5,50 €) schlagen hier mit 11 € pro Tonne Maisgries zu Buche. Die Risiken für einen Fall von nicht vermiedener Verunreinigung und an die Kunden ausgelieferter Ware oberhalb der garantierten Reinheit können sich je nach Lot-Größe und Weiterverarbeitung dieser Rohstoffe im zweistelligen Millionenbereich bewegen. Eine Versicherung dieses Risikos ist gegenwärtig nicht möglich.

5.20

Die vorsorgliche Einkaufspolitik der Verarbeiter hat zur Folge, dass ggf. ganze Gebiete, in denen aufgrund des Anbaus von GVO ein erhöhtes Risiko der Verunreinigung besteht, vom Einkauf ausgeschlossen werden, unbeschadet der tatsächlichen Verunreinigung einzelner Partien aus dieser Region. Allein der Test-Anbau von gentechnisch verändertem Weizen in einem deutschen Bundesland führte dazu, dass die größte deutsche Mühlengruppe aus dieser Gegend keinen Weizen mehr bezieht.

5.21

Die Politik der meisten großen Einzelhandelsunternehmen und Markenartikelhersteller der EU, für ihre Waren grundsätzlich den Verzicht auf GVO zu garantieren, hat in den vergangenen Jahren zu umfassenden Qualitätssicherungs-Systemen geführt, in die von einzelnen Unternehmen jährlich zweistellige Millionenbeträge investiert werden. Diese bestehen sowohl aus einem lückenlosen Dokumentations- und Auditierungssystem für die Lieferanten, als auch aus regelmäßigen Stichproben der angebotenen Produkte. Diese zusätzlichen Kosten wurden bisher in der Regel nicht an die Kunden weitergegeben. Eine systematische Quantifizierung in Bezug auf einzelne Produkte und Produktgruppen ist bisher nicht erfolgt.

5.22

Aus regionaler Sicht sind die Voraussetzungen für eine Koexistenz von GVO und Nicht-GVO-Anbau sehr unterschiedlich. Insbesondere in Regionen mit kleinteiliger Landwirtschaft erscheint der parallele Anbau innerhalb einer Region nicht praktikabel. Ausweislich der Anbaukataster erscheinen beispielsweise in der Toskana 90 % der landwirtschaftlichen Anbauflächen als nicht „koexistenzfähig“. Dies gilt auch für viele andere Regionen Europas. Hierbei ist zudem zu berücksichtigen, dass technisch aufwändige Maßnahmen der Trennung, Kontrolle und Anbauplanung gerade kleine und Nebenerwerbs-Landwirte regelmäßig überfordern wird. Dies gilt ebenso für die handwerkliche regionale Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte.

5.23

Regionale Qualitätsmarken und Herkunftsgarantien, die eine immer wichtigere Rolle für die Vermarktung hochpreisiger Qualitätsprodukte spielen, verzichten bisher grundsätzlich auf den Einsatz von GVO. Sowohl für die realen Herstellungskosten als auch für das Image dieser Produkte hätte der Einsatz von GVO in der betreffenden Herkunftsregion massive nachteilige Effekte. Dies ist einer der Gründe dafür, dass sich viele Regionen Europas mittlerweile zu gentechnikfreien Zonen erklärt haben, obwohl die gesetzlichen Grundlagen hierfür bisher umstritten sind und einer Rechtsklärung durch europäische und nationale Rechtssetzung bedürfen. Die Möglichkeit, dass einzelne Landwirte durch den nach europäischem Recht garantierten Anbau von GVO bei einer Vielzahl von Nachbarn und Unternehmen in einer Region massive zusätzliche Kosten und Risiken auslösen können, erscheint für die Betroffenen als besonders bedrückend und dem sozialen Frieden abträglich.

5.24

Besondere Sorgen bereitet sowohl den regionalen Behörden als auch den landwirtschaftlichen Verbänden und Verarbeitern die Möglichkeit, dass künftige GVO-Sorten, anders als die gegenwärtigen, auch aus gesundheitlichen Gründen (beispielsweise sogenannte pharmazeutische Sorten) hermetisch von der Lebens- und Futtermittelherstellung getrennt werden müssen, was in den USA bereits zu massiven zusätzlichen Problemen und Verunsicherungen geführt hat.

5.25

In einigen Mitgliedsländern der EU ist eine Gesetzgebung, die die Koexistenz regelt, verabschiedet oder das Gesetzgebungsverfahren ist fast abgeschlossen. Es zeichnen sich bereits jetzt sehr unterschiedliche Rechts- und Verfahrenskonstruktionen in den Ländern ab. Die Unterschiede lassen sich nicht mit regionalen Besonderheiten erklären. Eine notwendige Harmonisierung zur Sicherung der Koexistenz ist bereits absehbar.

5.26

Die Koexistenz von Anbauverfahren mit und ohne GVO und die Möglichkeit GVO-freier Ernährung ist erklärter politischer Wille in der EU. Wenn sich abzeichnet, dass dieses Ziel sich mit der bisherigen Rechtsetzung nicht erreichen lässt, sind im Interesse der Verbraucher, der Landwirte und der anderen beteiligten Wirtschaftsakteure zeitig die betreffenden Verordnungen und Richtlinien nachzubessern.

Brüssel, den 16. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Mitteilung zur Orientierungsdebatte über gentechnisch veränderte Organismen und verwandte Themen.

http://europa.eu.int/rapid/start/cgi/guesten.ksh?p_action.gettxt=gt&doc=IP/04/118|0|RAPID&lg=EN

GVO-Zulassungen nach EU-Recht – Stand der Dinge.

http://zs-l.de/saveourseeds/downloads/com_stand_gvo_28.1.2004.pdf

Fragen und Antworten zur GVO-Regelung in der EU.

http://zs-l.de/saveourseeds/downloads/com_fragen_antworten_28.1.2004 pdf

(2)  Richtlinie 2001/18/EWG vom 12. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt.

ABl. L 106 vom 17.4.2001, S. 1.

(3)  Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel.

ABl. L 268 vom 18.10.2003, S. 1.

(4)  Verordnung (EG) Nr. 1830/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über die Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung von genetisch veränderten Organismen.

ABl. L 268 vom 18.10.2003, S. 24.

Verordnung (EG) Nr. 65/2004 der Kommission vom 14. Januar 2004 über ein System für die Entwicklung und Zuweisung spezifischer Erkennungsmarker für genetisch veränderte Organismen.

ABl. L 10 vom 16.1.2004, S. 5.

(5)  Verordnung (EG) Nr. 1946/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2003 über grenzüberschreitende Verbringungen genetisch veränderter Organismen.

ABl. L 287 vom 5.11.2003, S. 1.

(6)  Europäische Kommission, September 2003, Fragen und Antworten zu GVO in Saatgut.

http://europa.eu.int/rapid/start/cgi/guesten.ksh?p_action.getfile=gf&doc=MEMO/03/186|0|RAPID&lg=DE&type=PDF

(7)  Kommissar Fischler, Juni 2003, Communication to the Commission on the Co-existence of Genetically Modified, Conventional and Organic Crops (pdf).

http://zs-l.de/saveourseeds/downloads/Communication_Fischler_02_2003.pdf

(8)  Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Koexistenz zwischen gentechnisch veränderten Kulturpflanzen und konventionellen und ökologischen Kulturpflanzen (2003/2098 (INI)).

ABl. C 91 E vom 15.4.2004, S. 680.

(9)  Joint Research Centre, 2002, Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture.

http://www.jrc.cec.eu.int/download/gmcrops_coexistence.pdf.

Round Table on research results relating to co-existence of GM and non-GM crops.

http://europa.eu.int/comm/research/biosociety/news_events/news_programme_en.htm.

(10)  First European Conference on Co-existence of Genetically Modified Crops with Conventional and Organic Crops 13th – 14th November, 2003, Helsingør, Denmark.

http://www.agrsci.dk/gmcc-03/

(11)  Opinion of the Scientific Committee on Plants concerning the adventitious presence of GM seeds in conventional seeds.

http://europa.eu.int/comm/food/fs/sc/scp/out93_gmo_en.pdf.

(12)  Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit.

(13)  Entscheidung der Kommission vom 23. Februar 2004 zur Regelung der Modalitäten der Funktionsweise der in der Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vorgesehenen Register für die Erfassung von Informationen über genetische Veränderungen bei GVO (bekannt gegeben unter Aktenzeichen K(2004) 540) (2004/204/EG).

ABl. L 65 vom 3.3.2004, S. 20.

(14)  Empfehlung der Kommission vom 23. Juli 2003 mit Leitlinien für die Erarbeitung einzelstaatlicher Strategien und geeigneter Verfahren für die Koexistenz gentechnisch veränderter, konventioneller und ökologischer Kulturen (bekannt gegeben unter Aktenzeichen K(2003) 2624).

ABl. L 189 vom 29.7.2003, S. 36.

(15)  Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel.

ABl. L 268 vom 18.10.2003, S. 1.

(16)  Verordnung (EG) Nr.1830/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über die Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung von genetisch veränderten Organismen.

ABl. L 268 vom 18.10.2003, S. 24.

(17)  Richtlinie des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (85/374/EWG).

http://europa.eu.int/eur-lex/de/consleg/main/1985/de_1985L0374_index.html.

(18)  Richtlinie 2004/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden, ABl. L 143 vom 30.4.2004, S. 56-75, siehe Artikel 3 und 4 sowie Anhang III.

http://europa.eu.int/smartapi/cgi/sga_doc?smartapi!celexapi!prod!CELEXnumdoc&lg=DE&numdoc=32004L0035&model=guicheti.

(19)  Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Umwelthaftung betreffend die Vermeidung von Umweltschäden und die Sanierung der Umwelt“ (KOM(2002) 17 endg. – 2001/0021 (COD)), CES 868/2002, ABl. C 241 vom 7.10.2002, S. 37-45.

(20)  Generaldirektion Landwirtschaft. „Economic Impacts of Genetically Modified Crops on the Agri-Food Sector“ (2000).

http://europa.eu.int/comm/agriculture/publi/gmo/fullrep/index.htm.

(21)  Opinion of the Scientific Committee on Plants concerning the adventitious presence of GM seeds in conventional seeds.

http://europa.eu.int/comm/food/fs/sc/scp/out93_gmo_en.pdf.

(22)  Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl. L 206 vom 22.7.1992, S. 7-50.

http://europa.eu.int/smartapi/cgi/sga_doc?smartapi!celexapi!prod!CELEXnumdoc&lg=DE&numdoc=31992L0043&model=guicheti.

(23)  Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, ABl. L 103 vom 25.4.1979, S. 1-18.

http://europa.eu.int/smartapi/cgi/sga_doc?smartapi!celexapi!prod!CELEXnumdoc&lg=DE&numdoc=31979L0409&model=guicheti.


ANHANG

zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende Änderungsanträge, die mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen als Ja-Stimmen auf sich vereinigen konnten, wurden abgelehnt:

Ziffer 3.5.10

Ziffer streichen.

Begründung

Angesichts der Tatsache, dass bei der Festlegung von Grenzwerten für das Ausgangsmaterial die Ausbreitung auf angrenzende Flächen in Betracht gezogen und dass in den Koexistenzvorschriften mit unbeabsichtigter Verunreinigung gerechnet wird, ist die in diesem Absatz ausgedrückte Angst unbegründet.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen:: 25

Nein-Stimmen:: 55

Stimmenthaltungen:: 10

Ziffer 4.2.1

Ziffer streichen.

Begründung

Bei der Marktzulassung von GMO wird auf alle Gesichtspunkte geachtet, die die Gesundheit von Mensch und Tier beeinträchtigen und negative Auswirkungen auf die Umwelt haben können. Es besteht keinerlei Anlass, sich auch hier wieder auf das Vorsorgeprinzip zu berufen. Eine hundertprozentige Gewähr für die Sicherheit kann jedoch nicht gegeben werden ist auch wenig realistisch.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen:: 22

Nein-Stimmen:: 60

Stimmenthaltungen:: 5


28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/167


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Europäischer Aktionsplan für ökologische Landwirtschaft und ökologisch erzeugte Lebensmittel“

(KOM(2004) 415 endg.)

(2005/C 157/30)

Die Kommission beschloss am 15. Oktober 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu der obenerwähnten Mitteilung zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 16. November 2004 an. Berichterstatter war Herr VOSS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 16. Dezember) mit 70 Ja-Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Die Zahl der ökologischen Landwirtschaftsbetriebe in der Europäischen Union hat in den letzten fünfzehn Jahren stark zugenommen. Von 1985 bis 2002 nahmen die Fläche und die Zahl der Betriebe in der EU-15 von 100 000 ha und 6 300 Betrieben auf 4,4 Mio. ha und 150 000 Betriebe zu. Dies entsprach einem Wachstum des Anteils der landwirtschaftlichen Fläche von 0,1 auf 3,3 %. Der Umsatz an ökologischen Lebensmitteln liegt in Europa bei 11 Mrd. Euro und weltweit bei 23 Mrd. Euro.

1.2

Der ökologische Landbau ist in der Praxis wesentlich von Landwirten mit Unterstützung interessierter Verbraucher seit 1920 entwickelt worden. Nachhaltige Verbrauchernachfrage in spezialisierten Märkten etablierte sich in den 70er Jahren. In den 80er Jahren setzte Wachstum, Förderung und Kontrolle der ökologischen Erzeugung und Vermarktung durch verschiedene gesellschaftliche und wirtschaftliche Akteure ein.

1.3

Mit der Verordnung (EWG) Nr. 2092/91 des Rates hat die EU auf Grundlage der langjährigen Vorarbeiten der maßgeblichen, von den ökologisch wirtschaftenden Landwirten getragenen Verbänden erste EU-weite gesetzliche Regelungen für die ökologische Landwirtschaft erlassen. Die Förderung durch die EU begann 1992 mit der Einbeziehung dieser Landbauform in die Agrarumweltpolitik.

1.4

Der Rat „Landwirtschaft“ hat die Kommission im Juni 2001 und im Dezember 2002 aufgefordert, einen Aktionsplan für ökologische Landwirtschaft und ökologische Lebensmittel vorzulegen. Zwischenzeitlich hat die Kommission eine Internetkonsultation durchgeführt, an der sich 1 136 Bürger und Organisationen beteiligt haben. Die Ergebnisse sind u.a. in das Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen über die Durchführbarkeit eines europäischen Aktionsplans für ökologisch erzeugte Lebensmittel und ökologische Landwirtschaft eingeflossen. Im Juli 2003 fand eine Anhörung des Europäischen Parlaments statt. Im Januar 2004 fand unter breiter Anteilnahme europäischer Regierungen und Organisationen sowie der Öffentlichkeit eine Auftaktveranstaltung zum Aktionsplan statt.

1.5

Der Aktionsplan stellt einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik dar und beschreibt deutlich die besondere Rolle dieser Form von Landwirtschaft für die zukünftige Agrarumweltpolitik. Eine solche Stärkung ist auf die Mitarbeit der wirtschaftlichen Akteure, an erster Stelle der Erzeuger, angewiesen. Sie hat deshalb die ökonomischen Interessen der Betriebe zu berücksichtigen. Die frühzeitige Beteiligung der nationalen und regionalen Regierungsstellen in den Mitgliedstaaten wird für den Erfolg des Programms maßgeblich sein.

1.6

Der EWSA begrüßt den Europäischen Aktionsplan für ökologische Landwirtschaft und ökologisch erzeugte Lebensmittel. Er weist allerdings darauf hin, dass innerhalb der Verwaltung der EU ausreichende personelle und materielle Ressourcen zur Verfügung stehen müssen, um die damit verbundenen Aufgaben zukünftig zufriedenstellend bewältigen zu können. In diesem Zusammenhang nimmt der Ausschuss mit Genugtuung zur Kenntnis, dass das Europäische Parlament in erster Lesung beschlossen hat, den Aktionsplan in den Haushaltsposten für Fördermaßnahmen, u.a. für Maßnahmen zur Förderung der Qualität landwirtschaftlicher Erzeugnisse, aufzunehmen.

2.   Zum Inhalt des Kommissionsdokuments

2.1

Die Kommission stellt fest, dass die ökologische Landwirtschaft einen wesentlichen Beitrag zu verschiedenen Maßnahmen der EU-Politik leistet, die auf ein hohes Umweltschutzniveau abzielen. Als Problemfelder werden genannt: Pestizide, Pflanzennährstoffe, Bodenschutz, Artenschutz, Naturschutz, Tierschutz und Nahrungsmittelsicherheit.

2.2

Der Kommission kommt es darauf an, den Sektor ökologische Landwirtschaft stetig weiter zu entwickeln und das Marktpotenzial zu nutzen. Dabei muss der Einkommenssituation der landwirtschaftlichen Betriebe besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dies soll unter Berücksichtigung der beiden Aufgaben ökologischer Landwirtschaft geschehen: a) die Erzeugung ökologischer Produkte, die wegen des Verzichts auf umweltrelevante Betriebsmittel und eines darin begründeten niedrigeren Ertrages höhere Preise erzielen müssen und b) die Erbringung öffentlicher Güter, die keine Marktpreise erzielen können und deshalb auf die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln angewiesen sind.

2.3

Der Aktionsplan sieht drei Schwerpunkte vor:

informationsgesteuerte Entwicklung des Marktes für ökologische Lebensmittel und Stärkung des Verbraucherbewusstseins;

effektivere öffentliche Förderung der ökologischen Landwirtschaft und

Verbesserung und Verstärkung der EU-Standards, Einfuhr- und Kontrollvorschriften.

2.4

Der Plan sieht 21 Aktionen vor, von denen zwei haushaltsrelevant sind und unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Die Umsetzung des Aktionsplans hängt von der Verfügbarkeit der Humanressourcen der Kommission ab. Die Kommission wird ansonsten unverzüglich die notwendigen Schritte entlang der aufgezeichneten Linie einleiten. Es werden im Aktionsplan keine festen Vorgaben zu Zielen und zum Zeitplan gemacht.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Reform der gemeinsamen Agrarpolitik

3.1.1

Die Luxemburger Beschlüsse zur Agrarreform von Juni 2003 sehen bei zahlreichen Produkten eine Absenkung der administrativen Preisvorgaben und eine Aushöhlung des Sicherheitsnetzes vor. Infolge einer weitgehenden Entkoppelung der Direktzahlungen von der Produktion als ein neuer Kern der Agrarreformbeschlüsse rechnet die Kommission mit einer Preisstabilisierung und sogar einem Preisanstieg landwirtschaftlicher Produkte. Aufgrund der Abhängigkeit des Erzeugerpreisniveaus der Ökoprodukte von der allgemeinen Höhe der Erzeugerpreise können sich hier für Ökobetriebe neue Erlöschancen am Markt eröffnen. Der Ausschuss unterstreicht, dass dies aber nur möglich ist, wenn die Gemeinschaftspräferenz auf ausreichendem Niveau für alle landwirtschaftlichen Produkte beibehalten wird.

3.1.2

Die Förderung des ökologischen Landbaus hängt auch von der Gesamthöhe der Mittel in der zweiten Säule der GAP ab. Eine obligatorische Förderung dieser Landbauform ist den Mitgliedstaaten nicht vorgeschrieben. Der EWSA stellt fest, dass in europäischen Ländern und Regionen, die die Förderung von Ökolandbau und ökologischer Lebensmittelwirtschaft betreiben, dieser Wirtschaftssektor besonders umfangreich und von hoher Stabilität ist. Es sollte aufmerksam verfolgt werden, welche Dynamik sich bei der Ausformung und Umsetzung des neuen Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) in den Mitgliedstaaten ergibt.

3.1.2.1

Der Ausschuss begleitet die anstehenden Entscheidungen zur finanziellen Vorausschau der Union mit großer Sorge. Insbesondere die Mittel der ländlichen Entwicklung sind von Kürzungen bedroht. Der EWSA weist darauf hin, dass diese Mittel für eine Stabilisierung und innovative Entwicklung der ländlichen Regionen Europas von entscheidender Bedeutung sind. Zu diesem Thema hat sich der Ausschuss bereits im Rahmen seiner Initiativstellungnahme zur künftigen Politik zur Entwicklung der ländlichen Gebiete (1) geäußert, derzeit arbeitet er an einer Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Verordnung zum Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (2).

3.1.3

Der Kreis der Interessenten für Mittel der ländlichen Entwicklung breitet sich immer weiter aus und nimmt mit dem Beitritt der zehn neuen Länder weiter zu. Auch wenn die Mittel der Modulation zu 80 % in den Herkunftsländern dieser Mittel verwendet werden müssen, sind die zusätzlichen Finanzmittel, die hier verfügbar werden, sehr begrenzt.

3.1.4

Mehr noch als andere landwirtschaftliche Praktiken verfügt der ökologische Landbau über ein gutes Leistungsvermögen für die Erbringung öffentlicher Güter. Der Ausschuss legt der Kommission, dem Rat und dem Parlament nahe sicherzustellen, dass sich die im Juni 2003 beschlossenen Veränderungen der GAP nicht nachteilig auf die gute Bodennutzung auswirken, und fordert, dass für die zweite Säule und die ländliche Entwicklung ausreichende Finanzmittel vorgesehen werden, damit den gemeinschaftlichen Prioritäten entsprochen werden kann.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Der Markt für ökologisch erzeugte Lebensmittel

4.1.1   Ökologische Erzeugnisse aus Verbrauchersicht

4.1.1.1

Die Marktbeteiligten des ökologischen Landbaus, insbesondere die Erzeuger, haben sich bereits einen nennenswerten Anteil am Lebensmittelmarkt erobert, der nach Einschätzung des EWSA nicht mehr in allen Mitgliedsländern ausreichend mit dem Begriff Nischenmarkt definiert ist. Sowohl in zahlreichen Regionen der EU, als auch in einigen Produkten ist der Anteil an ökologischen Betrieben bzw. Lebensmitteln bereits sehr hoch. So werden sehr viele Rohstoffe zur Herstellung von Kleinkindnahrung bereits aus ökologischer Erzeugung bezogen.

4.1.1.2

In Europa gibt es regionale und produktspezifische Schwerpunkte in der Erzeugung, Verarbeitung, Markterschließung sowie in der Forschung und der Aus- und Weiterbildung im ökologischen Lebensmittelsektor. Die Ursache hierfür können natürliche regionale Besonderheiten oder aber auch ein dynamisches Zusammenspiel der lokalen Wirtschaftsakteure sein. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, dieser in Europa anzutreffenden Clusterbildung im Ökolandbau in diesem Aktionsprogramm besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

4.1.1.3

Insbesondere in der Landwirtschaft, aber auch in den Sektoren Verarbeitung und Vermarktung, erwies sich die ökologische Lebensmittelwirtschaft für viele Betriebe als Existenz sichernde Chance.

4.1.2   Marktmechanismen

Die höheren Kosten in der Vertriebskette ökologischer Produkte tragen sicherlich einen Teil zu dem höheren Preis im Erzeugungs-, Verarbeitungs- und Einzelhandelssektor bei. Der Ausschuss begrüßt deshalb Initiativen zu regionalen Verarbeitungs- und Vertriebsstrukturen sehr, weil dies zu größerer Nähe zwischen Erzeugern und Verbrauchern mit nachvollziehbaren Preisbildungsmechanismen führen kann. Auf der anderen Seite darf nicht verkannt werden, dass es in einigen Mitgliedsländern zu erheblichen Konzentrationsbewegungen im Lebensmittelhandel gekommen ist, die erheblichen Druck auf Erzeugerpreise auch im ökologischen Bereich ausüben.

4.1.3   Eine informationsgesteuerte Nachfrage

Der Ausschuss begrüßt ausdrücklich die in der Aktion 1 vorgeschlagenen Maßnahmen zur Unterstützung von Informations- und Absatzförderung. Sie sollten aber die Erfahrungen einzelner Mitgliedsländer einbeziehen, da im Bereich von Großküchen, Kantinen und Schulen usw. ein besonderer Preisdruck im Einkauf herrscht. Einen herausgehobenen Markt stellen Großküchen dar, die Kinder, ältere und kranke Menschen versorgen.

4.1.4   Marktprobleme durch abweichende Normen

Die vorgesehene Einrichtung einer Internet-Datenbank zum Vergleich unterschiedlicher nationaler und regionaler Vorschriften kann ein nützliches Instrument sein, um den Warenaustausch im gemeinsamen Markt voranzubringen. Der Anspruch eines völligen Abbaus aller Unterschiede ginge jedoch zu weit. Diese Unterschiede haben oft regionale, sektorale und kulturelle Wurzeln und sind ein Motor für Innovation und eine Weiterentwicklung der Normen und der Produktqualität.

4.1.5   Überwachung und Analyse von Angebot und Nachfrage

Eine verstärkte Erfassung statistischer Daten über Erzeugung und Markt ökologischer Produkte (Aktion 3) ist sinnvoll. Es muss allerdings bei der Erhebung und Aufarbeitung darauf geachtet werden, dass bei dieser zusätzlichen Datenerhebung die Marktpartner (wenig große Handelsunternehmen auf der abnehmenden Seite und viele kleine und mittelständische landwirtschaftliche Unternehmen auf der anbietenden Seite) einen gleichberechtigten Nutzen aus diesen Daten ziehen können oder zumindest keine schwerwiegenden Nachteile für die Landwirtschaft entstehen. Die Erfassung und zügige Veröffentlichung der statistischen Daten dieses Sektors in den neuen Mitgliedsländern bleibt anzustreben.

4.2   EU-Politik für die ökologische Landwirtschaft

4.2.1   Die ökologische Landwirtschaft im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik

Der Ausschuss stellt die Frage, ob das europäische Agrarmodell der multifunktionalen Landwirtschaft, zu dem die ökologische Landwirtschaft mit ihren Umweltleistungen einen wichtigen Beitrag erbringt, bei den internationalen Verhandlungen in der WTO ausreichend zum Tragen kommt, um die Existenzfähigkeit der gemeinsamen Agrarpolitik sicherzustellen und insbesondere auch die Beihilfen der zweiten Säule der GAP in der „Green Box“ beizubehalten.

4.2.2   Entwicklung des ländlichen Raums

Über die Erstellung einer Online-Übersicht aller EU-Maßnahmen hinaus (Aktion 5) wird angeregt, zur Förderung einer ortsnahen Produktion von ökologischen Lebensmitteln die Standards im Bereich Hygiene und Gesundheit für kleine und mittelständische Unternehmen des Sektors der Lebensmittelverarbeitung und -vermarktung dem speziellen Risikopotenzial anzupassen. Die für Verarbeiter großer Mengen festgesetzten Standards sind für kleine handwerkliche Unternehmen mit begrenzten regionalen Verarbeitungs- und Vermarktungsmengen häufig nicht umsetzbar. Sie stellen oft eine Barriere für Investitionen dar und behindern damit die Schaffung von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum. Der Ausschuss betont besonders die Notwendigkeit angepasster Standards für kleine handwerkliche regionale Verarbeiter und Vermarkter sowohl ökologischer als auch konventioneller Produkte. Deshalb müssen diese von der für Verarbeitungsbetriebe geltenden Ausnahmeregelung profitieren. Für den EWSA behält die Einhaltung der Grundsätze der Lebensmittelsicherheit, die im Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit und Gesundheit und in den neuen Vorschriften aufgestellt wurden, selbstverständlich absolute Priorität.

4.2.2.1

Bei der unter Aktion 6 vorgeschlagenen Initiative zur bevorzugten Etablierung der ökologischen Landwirtschaft in ökologisch sensiblen Gebieten ist darauf zu achten, dass es nicht dadurch zu einer ungleichgewichtigen Angebotssituation und in der Folge zu politisch bedingten Wettbewerbsverzerrungen innerhalb des ökologischen Landbaus kommt. Die erschwerten Anbaubedingungen in diesen Gebieten müssen hinreichend beschrieben sein.

4.2.2.2

Nach Auffassung des EWSA berücksichtigt das Aktionsprogramm nicht die große Bedeutung des ökologischen Landbaus und Lebensmittelsektors für die Beschäftigungssituation, insbesondere in ländlichen Regionen. Untersuchungen in europäischen Mitgliedsländern haben gezeigt, dass fast ausschließlich in Sektoren des Ökolandbaus die Existenzgründungen in der Landwirtschaft und den vor- und nachgelagerten Bereichen stattfinden. Des Gleichen unterstreicht der Ausschuss, dass alle landwirtschaftlichen Qualitätserzeugnisse mit regionaler Herkunftsbezeichnung, eine positive Auswirkung auf die Entwicklung der ländlichen Gebiete haben.

4.2.2.3

Die berufliche Aus- und Weiterbildung sowie die Beratung werden in der Aktion 6 beschrieben. Um diese landwirtschaftlichen Produktionsverfahren und die Vermarktung und Verarbeitung von ökologischen Produkten zu stärken, ist ein deutlicheres Hervorheben der Informations– und Wissensvermittlung im Rahmen der ländlichen Entwicklung erforderlich.

4.3   Forschung

4.3.1

Mit dem ökologischen Landbau können wir über eine Landwirtschaftsmethode verfügen, die gezielt nur diejenigen Methoden, Instrumente und Techniken einsetzt und weiterentwickelt, die möglichst geringe Umweltauswirkungen haben.

4.3.2

Der Ausschuss sieht die besondere Herausforderung der öffentlich finanzierten Forschung für den Ökolandbau. Forschungsfelder, in denen privatwirtschaftlich wenig investiert wird und die gesellschaftlich von großer Bedeutung sind, müssen Kernbereiche staatlicher Forschungsförderung werden. Der Ökolandbau sollte wie auch die Technikfolgenabschätzung im Forschungsrahmenprogramm der EU eine prioritäre Einstufung erhalten.

4.3.3

Der Ausschuss begrüßt den Ausbau der Forschung über ökologische Landwirtschaft. Die Ziele dieser Forschung müssen differenzierter formuliert und auf ihre Kohärenz mit anderen Feldern der Gemeinsamen Agrarpolitik geprüft werden. Bildung, Wissenstransfer und die Bedeutung fächerübergreifender Wissenschaft sollten als Voraussetzung für die erfolgreiche Entwicklung des ökologischen Lebensmittelbereichs eine deutlichere, auch finanzielle Betonung im Aktionsprogramm der Kommission finden.

4.3.4

Es besteht dringender Bedarf für eine ökologisch orientierte Zuchtforschung sowohl im Bereich der Pflanzen als auch der Haustiere. Hierbei geht es auch um eine Weiterentwicklung angepasster Rassen und Sorten zur Sicherung der Marktfähigkeit.

4.4   Normen und Kontrolle — Wahrung der Integrität

4.4.1   Das Konzept der Verordnung

Die Tatsache, dass trotz einer existierenden Verordnung für die ökologische Landwirtschaft bisher keine Grundprinzipien festgelegt wurden, lässt sich nur historisch erklären. Für einige Mitgliedstaaten mit einer langen Tradition in dieser Landbauform stehen Grundprinzipien lange fest. Hier sollte eine Verständigung mit anschließender Definition stattfinden (Aktion 8), die die Erfahrungen der IFOAM (3) einbezieht. Der Ausschuss will hierbei besonders auch die historische Entwicklung in den neuen Mitgliedsländern berücksichtigt wissen.

4.4.1.1

Dabei ist darauf zu achten, dass im Verständnis einiger nationaler Organisationen des ökologischen Landbaus neben ökologischen Kriterien auch sozioökonomische Prinzipien zum Konzept gehören wie z.B. die Schaffung wertvoller, sozial stabiler Arbeitsplätze im ländlichen Raum. Die Anpassung der Verordnungen zum ökologischen Landbau sollte dann vor allem unter Berücksichtigung der Grundprinzipien im Einzelfall erfolgen und die Einräumung von Übergangsregeln mit vorgesehenen Enddaten immer schrittweise überprüft werden (Aktion 9).

4.4.2   Der Anwendungsbereich der Normen im Bereich der ökologischen Erzeugung

Neben der Anmahnung vereinfachter und harmonisierter Zuchtregeln für die Pflanzenzucht und Tierhaltung ist darauf zu achten, dass der Einfluss kleiner und mittlerer landwirtschaftlicher Unternehmen auf die Zuchtentwicklung erhalten bleibt, um zu vermeiden, dass sich ähnliche monopolartige Strukturen wie z.B. bei vielen Kulturpflanzen und in der Geflügelzucht entwickeln. Hier ist eine Versorgung dieser Betriebe mit für den ökologischen Landbau geeigneten Rassen bereits unmöglich geworden. Bei der Umsetzung von weiterentwickelten Tierschutzstandards müssen begleitende Investitionsbeihilfen mitbedacht werden, da häufig kostenaufwändige Stallum- oder -neubauten die Folge sein können. Für den Bereich Pflanzenbau fehlen immer noch Verkehrsregelungen für traditionelle Landsorten bzw. nicht mehr im Sortenregister gelistete alte Kulturpflanzensorten. Der Ausschuss bedauert dies und fordert die Kommission auf, die nötigen Schritte zum Erlass der fehlenden Regelung zu ergreifen.

4.4.2.1

Unter Aktion 10 (letzter Spiegelstrich) ist begrifflich zu klären, ob es sich bei „biologischer Vielfalt“ um Kulturpflanzen und Nutztiere handelt oder ob der Begriff weiter gefasst ist und die gesamte Fauna und Flora einschließt. Der EWSA weist aber auch darauf hin, dass dieser Erhalt nach den Zielen der GAP nicht allein Aufgabe der ökologisch wirtschaftenden Betriebe sein kann.

4.4.2.2

Auch wenn energie- und ressourcensparende Verfahren ein Kern des Ökolandbaus sind, lehnt der EWSA es ab, hier eigene Standards einzuführen. Hier haben wirksame gesamtlandwirtschaftliche und gesamtwirtschaftliche Vorgaben Vorrang.

4.4.2.3

Die erstmalige Schaffung von EU-Ökorichtlinien für Produkte wie Wein und Aquakulturen wird ausdrücklich begrüßt. Insbesondere sieht der Ausschuss auch die positiven Wirkungen auf die konventionellen Verfahren der Sektoren.

4.5

Die unter Aktion 11 vorgeschlagene Einrichtung eines unabhängigen Sachverständigengremiums zur technischen Beratung begrüßt der Ausschuss, wenn auch die Betroffenen, d.h. Landwirte, Verarbeiter und Verbraucher, in angemessener Form beteiligt werden, um das Vertrauen der Bevölkerung in ein derartiges Gremium zu sichern. Es fehlen aber die festen Vorgaben hinsichtlich des Zeitplans, der Ziele und der erforderlichen Haushaltsmittel, um diese Aktion zum Erfolg zu bringen.

4.6   Gentechnisch veränderte Organismen

4.6.1

Der Ausschuss bedauert, dass sich das Aktionsprogramm an diesem Punkt nur mit Grenzwerten beschäftigt und kein Gesamtkonzept zur Sicherung der Koexistenz als Voraussetzung für den Ökolandbau in Europa einbringt.

4.6.2

Dem Verbot der Verwendung von GVO im ökologischen Landbau kommt bei der aktuellen Diskussion über Regeln der Koexistenz besondere Bedeutung zu. Den unter diesem Punkt vorgeschlagenen Empfehlungen kann weitgehend gefolgt werden. Der gesamte übrige Teil der GVO-freien Landwirtschaft (konventionell und ökologisch) darf mit aus der Freisetzung von GVO entstehenden Kosten oder Mindereinnahmen nicht belastet werden.

4.6.3

Die allgemeinen Schwellenwerte für Saatgut müssen für die ökologische Landwirtschaft an der Nachweisgrenze liegen (Aktion 12). Nach Auffassung des Ausschusses hat die Nachweisgrenze als Schwellenwert auch für konventionelle GVO-freie Saat zu gelten. Andernfalls wäre eine schnell ansteigende Belastung auch von Ökoprodukten mit GVO-Bestandteilen zu befürchten, die die Grundlagen des ökologischen Landbaus in Europa gefährden würde. Wegen ausgedehnter landwirtschaftlicher Flächen an den nationalen Grenzen innerhalb der EU und des freien Warenverkehrs ist auch hier eine Harmonisierung notwendig.

4.7   Kontrollsysteme

Der Durchsetzung des risikoorientierten Ansatzes bei der Verbesserung der Kontrolle unter Aktion 13 ist zuzustimmen. Der EWSA verweist darauf, dass in der deutschen Version des Aktionsplans, anders als in der englischen Fassung, davon die Rede ist, dass das höchste Risiko in Bezug auf betrügerische Praktiken beim landwirtschaftlichen Erzeuger liege. Der EWSA bittet dringend, dies zu korrigieren. Vielmehr sind die offenen Flanken in vor- und nachgelagerten Sektoren wie Verarbeitung und Handel, in der Risikoanalyse und dem Risikomanagement des Kontrollsystems zu berücksichtigen. Eine Verbesserung der Kontrollsysteme muss mit geringerem bürokratischen Aufwand und geringeren Kosten einhergehen. Eine effiziente Vernetzung der Kontrollorganisationen kann hilfreich sein.

4.8   Einfuhren

4.8.1

Bei der Weiterentwicklung der Regelung von Einfuhren ökologisch erzeugter Produkte ist dem steigenden Risiko der Verunreinigung durch GVO Rechnung zu tragen.

4.8.2

Der Ausschuss empfiehlt, der Förderung des mediterranen Wirtschaftsraumes unter der besonderen Berücksichtigung der Möglichkeiten des ökologischen Landbaus Beachtung zu schenken. Es geht darum, die Zentren des ökologischen Anbaus zu stärken und ihre Vernetzung zu fördern.

4.8.3

Aus Wettbewerbsgründen und insbesondere damit der ökologische Landbau in Europa seine Chance am Markt behält, ist es nicht gerechtfertigt, für ökologische Produkte weitergehende Konzessionen in internationalen Handelsabkommen zu machen, als sie für konventionelle Einfuhren auch erfolgen.

5.   Zusammenfassung

5.1

Der Ausschuss begrüßt die Vorlage des Aktionsplans für ökologische Landwirtschaft und ökologisch erzeugte Lebensmittel. Die Kommission wird hiermit nicht nur der Aufforderung des Rates für „Landwirtschaft“, sondern auch den Erwartungen vieler Bürgerinnen und Bürger gerecht. Mit der Einführung der 'Cross Compliance' (Konditionalität) und der Festlegung der Kriterien für landwirtschaftlich und ökologisch bewährte Verfahren werden nun höhere Anforderungen an eine umweltorientierte Entwicklung der europäischen Agrarpolitik gestellt.

5.2

Der EWSA begrüßt gezielte Marktkampagnen und Verbraucherinformation. Er erwartet jedoch, dass bestehende Asymmetrien im Lebensmittelhandel und in der Verarbeitung nicht verstärkt werden.

5.3

Der wegen der Beschäftigungsperspektiven und der Erzeugung öffentlicher Güter bedeutende Sektor muss im ELER-Programm im Rahmen der Maßnahmen zu Gunsten der Qualität landwirtschaftlicher Erzeugnisse angemessen berücksichtigt werden.

5.4

Die Bestrebungen zur Harmonisierung der Normen und Kontrollen dürfen die Betriebe nicht überstrapazieren und müssen regionale Besonderheiten zulassen. Das EU-Logo sollte sowohl bei EU-Ware als auch bei Drittlandware die Herkunftskennzeichnung nicht verhindern.

5.5

In der Frage der Koexistenz mit gentechnisch veränderten Organismen fehlt die Antwort, wie die ökologische Erzeugung zukünftig europaweit gesichert werden kann. Die Grenzwerte für alle Saaten in Bezug auf GVO-Verunreinigungen sind aus diesem Grund an der Nachweisgrenze festzulegen.

5.6

Dem Ökolandbau muss im Forschungsrahmenplan der EU eine höhere Priorität zugedacht werden. Das hohe gesamtgesellschaftliche Interesse und die geringen privaten Forschungsmittel für diesen Sektor erfordern diese Schwerpunktsetzung.

5.7

Die politischen Entscheidungsträger auf europäischer Ebene haben durch den Beschluss des Europäischen Parlaments, Mittel des Haushaltspostens für die Förderung der Qualität landwirtschaftlicher Erzeugnisse für den Aktionsplan verwendbar zu machen, begonnen, die genannten Defizite im Bereich der personellen und materiellen Ressourcen abzubauen.

5.8

Der EWSA verfolgt die Diskussion um die finanzielle Vorschau mit großer Sorge. Eine Kürzung der Mittel für die ländliche Entwicklung würde auch den Ökolandbau und die ökologische Lebensmittelwirtschaft in Europa zurückwerfen.

Brüssel, den 16. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Initiativstellungnahme des EWSA zu dem Thema „Zweiter Pfeiler der Gemeinsamen Agrarpolitik: Perspektiven der Anpassung der Politik zur Entwicklung der ländlichen Gebiete (Folgemaßnahmen zur Salzburger Konferenz)“.

(2)  Derzeit in Ausarbeitung befindliche Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER)“.

(3)  International Federation of Organic Agricultural Movements (Internationale Vereinigung biologischer Landbaubewegungen).