ISSN 1725-2407

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 302

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

47. Jahrgang
7. Dezember 2004


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

II   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004

2004/C 302/1

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: LeaderSHIP 2015 — Die Zukunft der europäischen Schiffbau- und Schiffsreparaturindustrie sichern: Wettbewerbsfähigkeit durch Kompetenz (KOM(2003) 717 endg.)

1

2004/C 302/2

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Entscheidung 2000/819/EG über ein Mehrjahresprogramm für Unternehmen und unternehmerische Initiative, insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) (2001-2005) (KOM(2003) 758 endg. — 2003/0292 (COD))

8

2004/C 302/3

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament — Ein neuer Rechtsrahmen für den Zahlungsverkehr im Binnenmarkt (KOM(2003) 718 endg.)

12

2004/C 302/4

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über die Verfahren für Konsultationen und Notifizierungen auf dem Gebiet der Kreditversicherung, der Bürgschaften und der Finanzkredite (kodifizierte Fassung) (KOM(2004) 159 endg. — 2004/0056 (CNS))

19

2004/C 302/5

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Umsetzung des Internationalen Codes für Maßnahmen zur Organisation eines sicheren Schiffsbetriebs innerhalb der Gemeinschaft (KOM(2003) 767 endg. — 2003/0291 (COD))

20

2004/C 302/6

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verbesserung der Gefahrenabwehr in Häfen (KOM(2004) 76 endg. — 2004/0031 (COD))

23

2004/C 302/7

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Fusionsenergie

27

2004/C 302/8

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Stand der Durchführung des Forschungsprogramms GALILEO zu Beginn des Jahres 2004 (KOM(2004) 112 endg.)

35

2004/C 302/9

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen (kodifizierte Fassung) (KOM(2004) 232 endg. — 2004/0074 (COD))

38

2004/C 302/0

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1228/2003 hinsichtlich des Zeitpunkts der Anwendung bestimmter Vorschriften auf Slowenien (KOM(2004) 309 endg. — 2004/0109 (COD))

39

2004/C 302/1

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Der industrielle Wandel und der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt

41

2004/C 302/2

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte von Wanderarbeitnehmern

49

2004/C 302/3

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema 2. Pfeiler der Gemeinsamen Agrarpolitik: Perspektiven der Anpassung der Politik zur Entwicklung der ländlichen Gebiete (Die Folgemaßnahmen zur Salzburger Konferenz)

53

2004/C 302/4

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Dritten Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt — Eine neue Partnerschaft für den Zusammenhalt: Konvergenz, Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenarbeit (KOM(2004) 107 endg.)

60

2004/C 302/5

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Wirtschafts- und Sozialausschuss: Besteuerung von Dividenden natürlicher Personen im Binnenmarkt (KOM(2003) 810 endg.)

70

2004/C 302/6

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen und die Sozialpartner auf Gemeinschaftsebene hinsichtlich der Überprüfung der Richtlinie 93/104/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (KOM(2003) 843 endg.)

74

2004/C 302/7

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Beziehungen EU/Türkei mit Blick auf die Tagung des Europäischen Rats im Dezember 2004

80

2004/C 302/8

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Modernisierung des Sozialschutzes für mehr und bessere Arbeitsplätze: Ein umfassender Ansatz, um dazu beizutragen, dass Arbeit sich lohnt (KOM(2003) 842 endg.)

86

2004/C 302/9

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Die Zukunft des Textil- und Bekleidungssektors in der erweiterten Europäischen Union (KOM(2003) 649 endg.)

90

2004/C 302/0

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die großstädtischen Ballungsgebiete: sozioökonomische Auswirkungen auf die Zukunft Europas

101

DE

 


II Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004

7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: „LeaderSHIP 2015 — Die Zukunft der europäischen Schiffbau- und Schiffsreparaturindustrie sichern: Wettbewerbsfähigkeit durch Kompetenz“

(KOM(2003) 717 endg.)

(2004/C 302/01)

Die Europäische Kommission beschloss am 21. November 2003, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 9. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr VAN IERSEL.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 109 Ja-Stimmen zu 3 Nein-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung

Die Europäische Kommission hat in enger Zusammenarbeit mit der europäischen Schiffbau- und Schiffsreparaturindustrie ein neues industriepolitisches Konzept für die Branche entworfen. Es ist erstaunlich, wie schnell es den Beteiligten gelungen ist, ein umfassendes Paket von Maßnahmen zusammenzustellen, mit denen die Produktions- und Wettbewerbskraft dieser Branche gesichert werden soll. Der EWSA nimmt LeaderSHIP 2015 sowohl von der dabei angewandten Methodik als auch von seinem Inhalt her zustimmend zur Kenntnis. Allen betroffenen Seiten ist klar, dass ein nationales Vorgehen keine Erfolgsaussicht mehr hat und nur ein europäischer Ansatz dauerhafte Lösungen bieten kann. Bei diesem Ansatz hat man sich zu Recht für ein Paket zusammenhängender Maßnahmen und für Marktkonformität entschieden. Der EWSA unterstreicht, dass die Glaubhaftigkeit der Vorschläge ganz von ihrer Umsetzung abhängt. Es kommt also entscheidend darauf an, wie jetzt weiter verfahren wird. Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die Zielsetzung, dass die Umsetzung der vorgesehenen Maßnahmen zu gleichen Wettbewerbsbedingungen in Europa führen muss. Das ist wiederum die Voraussetzung dafür, auch weltweit ein level playing field zu schaffen.

2.   Hintergrund

2.1   Der Schiffbaumarkt

2.1.1

Mehr als zwei Jahrzehnte lang ist im Schiffsbau ein starkes, anhaltendes Wachstum zu verzeichnen gewesen. Der rasche technische Fortschritt hat zu einer erheblichen Senkung der Kosten für den Transport auf Wasserwegen geführt, was dem Welthandel spürbare Impulse verlieh und die Weltschifffahrt zu einem wichtigen Motor der Globalisierung machte.

2.1.2

Aus ökonomischer Sicht sind Schiffe bewegliche Investitionsgüter, die nicht importiert, sondern unter einer vom Reeder gewählten Flagge registriert werden. Das Produkt als solches erfordert also keine umfangreichen Marketingbemühungen oder Händler- oder Kundendienstnetze. Die Transportkosten sind bei Schiffen naturgemäß ebenfalls sehr niedrig. Bei generell geringen Transaktionskosten und da es keine Anti-Dumping-Bestimmungen gibt, wird der Schiffbaumarkt stark von Angebotspreisen bestimmt.

2.1.3

Wegen seiner zentralen Rolle für die Bereitstellung eines für den Welthandel grundlegenden Transportmittels, der Herstellung moderner Ausrüstungen für Sicherheits- und Verteidigungsanforderungen und der Entwicklung neuer Technologien mit zahlreichen Ausstrahlungseffekten auf andere Sektoren gilt der Schiffbau in den meisten Industrie- und Schwellenländern als eine Industrie von strategischer Bedeutung.

2.1.4

In Europa hat sich rund um den Bau von Schiffen ein vielfältiges Netz von Unternehmen — Werften, Schiffsausrüstungshersteller und eine Vielzahl spezialisierter Dienstleistungsanbieter — entwickelt, das unmittelbar mehr als 350 000 Arbeitsplätze für hochqualifizierte Beschäftigte bereitstellt. In der EU erreicht der Sektor einen Umsatz von rund 34 Mrd. Euro (1).

2.1.5

Der Bau von Handels- und Passagierschiffen in der EU hat jedoch aufgrund handelsschädigender Praktiken insbesondere Südkoreas erhebliche Marktanteile abgeben müssen und befindet sich in einer ernsten Krise. Seit 2000 ist der Marktanteil bei Neubestellungen (in gewichteter Bruttotonnage) um zwei Drittel zurückgegangen: von 19 % im Jahr 2000 auf 6,5 % im Jahr 2003 (2). Die Lage verschlimmerte sich Mitte 2003, als die Preise ihren niedrigsten Stand seit 13 Jahren erreichten und der Wechselkurs des Euro gegenüber der Frachtverkehrswährung US-Dollar sowie gegenüber den Währungen der wichtigsten asiatischen Wettbewerber immer stärker wurde. Insbesondere im vergangenen Jahr war eine drastische Zunahme des Welthandels zu verzeichnen, wesentlich bedingt durch den außerordentlich starken Anstieg der Nachfrage Chinas nach Energie und Rohstoffen sowie die Ein- und Ausfuhr von Fertiggütern. Diese Nachfrage löste Neubestellungen in Rekordhöhe in den Marktsegmenten Öltanker, Massengutfrachter und Containerschiffe aus. Von diesem Nachfrageschub profitierten die europäischen Schiffbauer, die ihren Auftragseingang 2003 gegenüber 2002 nahezu verdoppeln konnten. Nichtsdestotrotz ging ihr Anteil am Weltschiffbaumarkt weiter zurück.

2.1.6

Der dramatische Geschäftsverlauf bis Mitte 2003 hat sich in einigen Mitgliedstaaten mehr oder weniger wieder normalisiert. Da man aber nicht davon ausgehen kann, dass die jüngsten Entwicklungen anhalten, muss Europa nach dauerhaften Lösungen für die Schiffbauindustrie in der nächsten Zeit suchen. Andernfalls läuft Europa ernsthaft Gefahr, diesen wichtigen High-Tech-Sektor zu verlieren. Die Erfahrung zeigt, dass einmal verlorene Schiffbaukapazität kaum mehr zurückzuholen ist.

2.2   Entwicklungen in der Schiffbaupolitik

2.2.1

Als ein Sektor von strategischer Bedeutung ist der Schiffbau schon immer ein weltweit stark staatlich unterstützter Industriezweig gewesen. Auch in der Europäischen Gemeinschaft hat sich die Schiffbaupolitik seit den 70er Jahren auf die Festlegung der Bedingungen für staatliche Beihilfen konzentriert. Die zulässige Obergrenze für Betriebsbeihilfen wurde schrittweise von 28 % des Vertragswerts 1987 auf 9 % im Jahr 1992 reduziert und ab 2000 ganz abgeschafft.

2.2.2

1989 wurden auf Initiative der USA Verhandlungen im Rahmen der OECD mit dem Ziel eingeleitet, eine neue internationale Regelung für alle staatlichen Schiffbau-Beihilfen einzuführen. Diese Verhandlungen wurden 1994 zu einem erfolgreichen Abschluss geführt, und die Schlussakte des „Abkommens über die Einhaltung normaler Wettbewerbsbedingungen in der gewerblichen Schiffbau- und Schiffsreparaturindustrie“ wurde von der Europäischen Gemeinschaft, Finnland, Japan, der Republik Korea, Norwegen, Schweden und den Vereinigten Staaten unterzeichnet. Da die Vereinigten Staaten das Abkommen jedoch nicht ratifiziert haben, ist es nie in Kraft getreten.

2.2.3

In Ermangelung eines internationalen Übereinkommens erließ der Rat 1998 eine neue Verordnung (Nr. 1540/98/EG) zur Neuregelung der Beihilfen für den Schiffbau, die u. a. unilateral die völlige Einstellung der Betriebsbeihilfen zum Jahresende 2000 vorsah. Außerdem sollte die Kommission regelmäßig über die Lage auf dem Weltschiffbaumarkt berichten und eine Einschätzung darüber abgeben, ob die europäischen Werften von wettbewerbsverzerrenden Praktiken betroffen sind.

2.2.4

Bereits in ihrem ersten, 1999 vorgelegten Bericht an den Rat konnte die Kommission klare Belege für handelsschädigende Praktiken vorlegen, insbesondere von Werften in Südkorea, die unter den Kosten liegende Preise anboten. In allen Folgeberichten (insgesamt sieben bis 2003) wurden die ursprünglichen Feststellungen bestätigt und mit weiteren, detaillierteren Beweisen erhärtet.

2.2.5

Ausgehend von diesen eindeutigen Fakten brachte der Rat wiederholt seine ernste Sorge zum Ausdruck und nahm bilaterale Konsultationen mit Südkorea auf. Nach mehreren Gesprächsrunden wurde im Juni 2000 ein Abkommen in Gestalt einer „Vereinbarten Niederschrift über den Weltmarkt im Schiffbausektor“ unterzeichnet. In den nachfolgenden Gesprächen erwies sich die koreanische Regierung jedoch als nicht in der Lage, die darin enthaltenen Grundsätze umzusetzen.

2.2.6

Angesichts der ergebnislos verlaufenen bilateralen Gespräche mit Korea beantragte die Schiffbauindustrie im Oktober 2000 die Einleitung eines Verfahrens gemäß der Verordnung (EG) Nr. 3286/94 betreffend Handelshemmnisse.

2.2.7

Die Kommission behielt ihren entschiedenen Widerstand gegen eine Verlängerung der Betriebsbeihilfen nach Ende 2000 bei. Sie stimmte jedoch zu, den Fall vor die WTO zu bringen, um unlautere Praktiken Koreas abzuwehren, falls eine für die EU zufrieden stellende Verhandlungslösung mit Korea nicht bis Mai 2001 erzielt werden könne. Außerdem schlug die Kommission parallel dazu eine befristete Schutzregelung vor, um unlauteren koreanischen Praktiken in der bis zum Abschluss des WTO-Verfahrens nötigen Zeit zu begegnen.

2.2.8

Die Gemeinschaft setzte diese sog. zweigleisige Politik schließlich im Sommer 2002 mit dem Antrag an die WTO um Einsetzung eines Streitschlichtungsgremiums („Panel“) und dem Erlass der Verordnung (EG) Nr. 1177/2002 zur Einführung befristeter Schutzmaßnahmen für den Schiffbau um.

2.2.9

Neue Anläufe zur Schaffung weltweit gleicher Wettbewerbsbedingungen im Schiffbausektor wurden 2002 auch im OECD-Kontext unternommen, diesmal ohne Beteiligung der USA. Der OECD-Rat setzte eine Sonderverhandlungsgruppe ein, die eine neue, gangbare Lösung für das bestehende Problem finden sollte. Bisher hat sie eher schleppende Fortschritte gemacht, und es bleibt abzuwarten, inwieweit dieser Ansatz zielführend ist.

3.   Ein neuer Ansatz

3.1

Übersichtshalber folgt eine chronologische Aufstellung der Schritte, die zu LeaderSHIP 2015 führten:

 Februar 2002

Die europäische Schiffbau- und Schiffsreparaturindustrie legt Kommissar Liikanen einen Vorschlagsentwurf für eine Initiative unter der Bezeichnung LeaderSHIP 2015 vor.

 Mai 2002

Kommissionspräsident Prodi unterstützt die Initiative, und Kommissar Liikanen wird mit der Koordinierung der weiteren Maßnahmen beauftragt.

 Oktober 2002

Die Industrie übergibt Kommissar Liikanen ihr Initiativpapier („road map“).

 Januar 2003

Kommissar Liikanen leitet die Eröffnungssitzung der hochrangigen Beratungsgruppe LeaderSHIP 2015.

 Oktober 2003

Die hochrangige Beratungsgruppe übergibt der Europäischen Kommission ihren Bericht.

 November 2003

Die Europäische Kommission legt die Mitteilung LeaderSHIP 2015 vor.

 November 2003

Der Rat (Wettbewerbsfähigkeit) nimmt im Kontext der Industriepolitik auf LeaderSHIP 2015 Bezug.

 Januar 2004

Die neue Rahmenregelung über staatliche Beihilfen für den Schiffbau tritt in Kraft. Sie trägt bereits einigen Kernpunkten von LeaderSHIP 2015 Rechnung und setzt somit die ersten Empfehlungen der hochrangigen Beratungsgruppe um.

3.2   Die Initiative der Industrie

3.2.1

Während die EU den Schiffbausektor in erster Linie mit wettbewerbs- und handelspolitischen Mitteln unterstützt, war die Industrie der Meinung, dass ein drittes Element — eine Politik zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit — fehlte und es insbesondere an einer guten Koordinierung zwischen allen drei Politikfeldern mangelte. Sie räumte jedoch auch eigene Fehler bei der Formulierung einer eigenen konzertierten Antwort auf die Wettbewerbsprobleme, vor denen sie steht, ein.

3.2.2

Mit dem Ende der Betriebsbeihilfen akzeptierte die Industrie, dass Subventionen keinen Ausweg darstellen, ebenso wenig wie Protektionismus von der Art, der in Schiffbaunationen außerhalb der EU einen nicht mehr wettbewerbsfähigen Sektor hinterlassen hat. Auf die aggressive Industriepolitik Südkoreas musste aber dringend eine Antwort gefunden werden. Ein neuer Ansatz war daher nötig.

3.2.3

Als der europäische Schiffbauverband CESA (Committee of European Shipbuilders' Associations) im Frühjahr 2002 der Europäischen Kommission seinen Projektentwurf für die Initiative LeaderSHIP 2015 vorlegte, wurde der Wert des Projekts als einer sektorspezifischen Reaktion auf die vom Rat in Lissabon definierte längerfristige Strategie der EU sofort erkannt, denn in LeaderSHIP 2015 wurden die Kernelemente der Lissabon-Strategie aufgegriffen.

3.2.4

Eine Gesamtstrategie musste ausgearbeitet werden, die auf den Elementen des bestehenden Ansatzes aufbaute, als neues Element jedoch die Aufforderung der Kommission an die Industrie enthielt, einen integrierten Plan zu formulieren. Im Oktober 2002 legte der CESA schließlich LeaderSHIP 2015 vor, ein Konzept für die Zukunft der europäischen Schiffbau- und Schiffsreparaturindustrie.

3.2.5

Der europäischen Schiffbauindustrie geht es um den Ausbau der Marktführerschaft in ausgewählten Teilmärkten durch Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit mit Hilfe von Innovation und gezielter F&E, stärkerer Kundenorientierung, Produktionsoptimierung und Verbesserung der Industriestruktur. Nach Ansicht der Branche sollte sich die EU u. a. in folgenden Bereichen unmittelbar engagieren: Förderung leistungsfähiger Finanzierungs- und Bürgschaftssysteme, höhere Sicherheits- und Umweltstandards für Neubestellungen moderner Schiffe hoher Qualität und Fortführung und Ausweitung des Schutzes europäischen geistigen Eigentums.

3.2.6

Eine europäische Lösung der Seeverteidigungserfordernisse erfordert eine gemeinsame Politik zur Beschaffung von Rüstungsgütern.

3.2.7

Die Makrotrends bis 2015 in diesem Sektor implizieren insbesondere Entwicklungen in Bezug auf multimodalen Verkehr, Binnenwasserstraßen- und Kurzstreckenseeverkehr, Stärkung von Innovation und F&E, EU-Erweiterung, Umwelt- und Gesundheitsvorschriften und Fortschritte auf dem Weg zu einer gemeinsamen Verteidigungspolitik. Da all diese Bereiche Gegenstand staatlicher und gemeinschaftlicher Maßnahmen sind, sollte sich die Kommission nach Ansicht der Branche aktiv an der Entwicklung von Ideen für künftige Politiken beteiligen.

3.2.8

Der Schiffbausektor ist sich bewusst, dass er selbst einen großen Teil der Verantwortung trägt und vor der eigenen Tür kehren muss. Im Konzept der Industrie wird daher die Entwicklung neuer Schiffstypen und neuartiger Schiffsausrüstungen befürwortet, die Effizienz, Sicherheit, Komfort, Umweltschutz und Spezialisierung miteinander verbinden.

3.2.9

In Bezug auf die Struktur dieses Wirtschaftszweigs sind zwei komplementäre Ansätze unter Einbindung der Unternehmen vorgesehen:

Umstrukturierung bis zur Erreichung einer begrenzten Zahl großer Unternehmen;

kleine, sehr flexible Betriebe, die vernetzt arbeiten und kleinere Nischenmärkte bedienen.

3.3   Die hochrangige Beratungsgruppe

3.3.1

Anfang 2003 nahm eine hochrangige Beratungsgruppe unter Vorsitz von Kommissionsmitglied Liikanen die Beratungen über LeaderSHIP 2015 auf der Grundlage des CESA-Entwurfs auf. Der Gruppe gehörten sieben Mitglieder der Europäischen Kommission, zwei prominente Mitglieder des Europäischen Parlaments, die Vorstandsvorsitzenden zehn führender Werften, der Präsident des Schiffsausrüsterverbandes und der Generalsekretär des Europäischen Metallgewerkschaftsbundes an.

3.3.2

Die Beratungsgruppe legte ihren Bericht LeaderSHIP 2015 im Oktober 2003 vor (3). Er umfasst acht Kapitel zu allen im Initiativpapier der Industrie behandelten Fragen und zusätzlich ein Schlusskapitel über den Konsolidierungsbedarf im europäischen Schiffbau. Insgesamt gelangt die Beratungsgruppe zu dem Schluss, dass LeaderSHIP 2015 ein gutes Beispiel für eine wirkungsvolle europäische Industriepolitik auf Sektorebene ist.

3.3.3

In diesen acht Kapiteln stellt die Beratungsgruppe Ziele für den Schiffbausektor und für die EU insgesamt auf. Zunächst müssen durch die Handelspolitik der EU, die vollständige Anwendung geltender WTO-Regeln und sanktionsbewehrte OECD-Regelungen weltweit gleiche Wettbewerbsbedingungen im Schiffbau geschaffen werden.

3.3.4

Im zentralen Bereich Forschung, Entwicklung und Innovation ist eine enge Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Schiffbausektor notwendig. Das geltende Gemeinschaftsrecht hat den besonderen Erfordernissen des Schiffbaus und der Schiffbautechnik nicht voll Rechnung getragen.

3.3.5

Dies gilt auch für die Entwicklung moderner Finanzierungs- und Bürgschaftskonzepte. Die gegenwärtigen Instrumente sind auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig. Die Möglichkeit, einen EU-Bürgschaftsfonds für Vor- und Endfinanzierung einzurichten, sollte ebenso geprüft werden wie eine engere Zusammenarbeit mit ausreichend rückversicherten Exportkreditversicherern.

3.3.6

Für den Schutz der Meeresumwelt soll die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (EMSA) sorgen. Ein gemeinsamer Sachverständigenausschuss aus einschlägigen, durch ihr Fachwissen ausgewiesenen Persönlichkeiten des Sektors soll eingerichtet werden, um die Agentur und die Kommission fachlich zu beraten. Verstärkte Bemühungen müssen einer besseren Qualitätsbewertung und der Sicherheit und Kontrolle sowohl im Schiffbau als auch in der Schiffsreparatur gelten, um adäquate Qualitätsstandards weltweit sicherzustellen.

3.3.7

Die Forderung der Industrie nach einer engeren Kooperation im Verteidigungssektor kann nach Ansicht der Beratungsgruppe auf EU-Ebene durch die Förderung der industriellen Zusammenarbeit unter den Werften und zwischen Werften und Zulieferern, des Zugangs zu Exportmärkten und der Konsolidierung der Industrie unterstützt werden. Die geplante Europäische Agentur für Verteidigung sollte für gemeinsame operative Anforderungen der nationalen Seestreitkräfte und für gemeinsame Regeln für Rüstungsgüter sorgen.

3.3.8

Da europäische Schiffbauunternehmen in hohem Maße von ihrer Technologieführerschaft abhängen, müssen die bestehenden Instrumente für den Schutz des geistigen Eigentums voll genutzt werden. Wissensdatenbanken müssen aufgebaut und die internationalen Patentschutzbestimmungen verbessert werden.

3.3.9

Der Schiffbausektor hat (als erste Branche der Metallindustrie) einen Ausschuss für den sektoralen sozialen Dialog eingesetzt, durch den Programme für neue Qualifikationsanforderungen geprüft und eingeleitet werden sollen.

3.3.10

Eine optimale Branchenstruktur ist die Voraussetzung für die Erreichung der gewünschten Ergebnisse. Ein dynamischer Entwicklungsprozess führt zu neuen Beziehungen und Projektpartnerschaften zwischen Werften und Zulieferern, denn heute stammen bereits 70-80 % der Produktion einer Werft von Zulieferern. Der Prozess der Konsolidierung sollte mit besonderen Anreizen auf der Grundlage des Gedankens „Hilfe für Konsolidierung“ gefördert werden.

3.4   Die Mitteilung der Kommission

3.4.1

Mit ihrer Mitteilung zu LeaderSHIP 2015 (4) überführt die Kommission die Arbeit der hochrangigen Beratungsgruppe in eine formale Gemeinschaftspolitik. Sie betont erneut, dass dieser horizontale Ansatz durch spezielle sektorbezogene Maßnahmen ergänzt werden müsse. Die Kommission nimmt eine Bewertung der einzelnen Kapitel vor und unterstützt die Empfehlungen des LeaderSHIP-2015-Berichts.

3.4.2

Ist der Mitteilung, in der die strategische Dimension der Schiffbau- und Schiffsreparaturindustrie anerkannt wird, bestätigt die Kommission im Einklang mit dem LeaderSHIP-2015-Bericht ihre Zuständigkeit und Mitzuständigkeit in folgenden Bereichen, die Gegenstand der acht Kapitel des Berichts der Beratungsgruppe waren:

Anwendung der bestehenden OECD-Sektorvereinbarung über Exportkredite und damit zusammenhängender OECD-Übereinkommen und Schaffung weltweit gleicher Wettbewerbsbedingungen durch die WTO.

Die Kommission hat neue Regeln für Innovationshilfen erlassen und wird genau untersuchen, wie sich gemeinschaftsfinanzierte Forschung auswirkt.

Zusammen mit der Branche wird die Kommission die Möglichkeiten für Vor- und Endfinanzierung in Zusammenarbeit mit der EIB prüfen.

Die Kommission unterstützt uneingeschränkt die Empfehlungen von LeaderSHIP 2015 zur Förderung sichererer, umweltfreundlicherer Schiffe sowie die Untersuchung der Möglichkeiten des Kurzstreckenseeverkehrs in Europa.

Im Marineschiffbau befürwortet die Kommission die Empfehlungen, die im Einklang mit ihrer Mitteilung über die europäische Verteidigung vom März 2003 für den Aufbau einer Europäischen Verteidigungsagentur bis 2004 stehen, um die wehrtechnische Basis und Wettbewerbsfähigkeit der Rüstungsindustrie zu stärken. In Bezug auf die Konsolidierung der Schiffswerften ist die Bemerkung angebracht, dass private Werften auf erhebliche strukturelle Unterschiede zwischen europäischen Werften hinweisen und den Standpunkt vertreten, dass „die Privatisierung der Staatsbetriebe eine Grundvoraussetzung für jede Konsolidierung ist“ (5).

Die Kommission wird zusammen mit der Branche prüfen, wie die bestehenden Instrumente für den Schutz der Rechte am geistigen Eigentum bestmöglich angewendet und geeignete Wissensdatenbanken aufgebaut werden können.

Die Kommission wird mit der Branche einen aktiven sozialen Dialog über neue Qualifikationsanforderungen, den Austausch von Personal auf allen Qualifikationsebenen, spezielle Fortbildungskurse und Kampagnen zur Verdeutlichung der Vitalität und Zukunftsfähigkeit der Schiffbauindustrie führen.

Da eine weitere Konsolidierung im Handels- und Marineschiffbau und in der Schiffsreparaturindustrie nötig ist, wofür in erster Linie die Branche selbst und die Mitgliedstaaten zuständig sind, will die Kommission unter Beachtung der Wettbewerbsregeln zur Erleichterung dieses Prozesses beitragen.

3.5   Schlussfolgerungen des Rates vom November 2003

3.5.1

Der Rat (Wettbewerbsfähigkeit) erörterte am 27. November 2003 die Mitteilung der Kommission zu LeaderSHIP 2015 im weiteren Kontext der Industriepolitik (6). Er vertrat dabei die Ansicht, dass horizontale politische Maßnahmen durch eine sektorbezogene Analyse wirksamer zu gestalten seien, und forderte die Mitgliedstaaten und die Kommission auf, Initiativen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie insbesondere in der Weise fortzusetzen, dass den Bedürfnissen und Besonderheiten einzelner Industriezweige Rechnung getragen wird.

3.5.2

In Bezug auf branchenspezifische Fragen sprach er insbesondere den Schiffbau, die Luft- und Raumfahrtindustrie und die Textil- und Bekleidungsindustrie an.

3.5.3

Der Rat ließ sich von der Einsicht leiten, dass ein in vollem Umfang integriertes Konzept zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit erforderlich sei. Das gleiche gelte für LeaderSHIP 2015.

3.5.4

Die Ziele der Strategie von Lissabon erforderten sektorbezogene Analysen, eine Verbesserung der Rahmenbedingungen und eine öffentliche, transparente Konsultierung aller Beteiligten einschließlich eines sozialen Dialogs. Der Rat betonte, dass entsprechende Initiativen fortgesetzt werden sollen.

3.5.5

Im Hinblick auf LeaderSHIP 2015 empfahl der Rat besondere Anstrengungen der Industrie und der staatlichen Stellen in folgenden Bereichen:

Regelungen der EU über staatliche Beihilfen für Investitionen in Innovation;

Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation;

Schutz der Rechte des geistigen Eigentums durch Mitgliedstaaten und Industrie;

Erleichterung eines Konsolidierungsprozesses unter den europäischen Unternehmen;

Förderung von Konzepten für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Marine- und Zivilschiffbauindustrie in Europa;

Ermittlung neuer Anforderungen an berufliche Fähigkeiten im Rahmen des sozialen Dialogs innerhalb des Industriezweigs.

3.5.6

Der Rat ersuchte um regelmäßige Berichte über die Ergebnisse von LeaderSHIP 2015 und die Durchführung der einschlägigen Empfehlungen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stimmt zu, dass Europa eine zukunftsfähige Schiffbauindustrie braucht und dass sektorspezifische Maßnahmen ergriffen werden müssen.

4.2

Es ist bemerkenswert, dass es der Branche gelungen ist, ein schlüssiges Programm für die Zeit bis 2015 aufzustellen. Es ist ein Vorbild für einen modernen sektoralen Ansatz, der ganz richtig auf den EU-Bestimmungen betreffend Marktkonformität und Wettbewerb basiert.

4.3

Ebenso bemerkenswert ist, dass die Branche selbst zusammen mit sieben EU-Kommissaren einen gemeinsamen Plan für die Zukunft erarbeitet hat: LeaderSHIP 2015. Dieses gemeinsame Engagement hatte zur Folge, dass die LeaderSHIP-Initiative die Zustimmung der Kommission fand.

4.4

Der EWSA würdigt den neuen Ansatz des Rates (Wettbewerbsfähigkeit) im Hinblick auf eine horizontale und sektorale Industriepolitik. Das Beispiel LeaderSHIP 2015 zeigt, wie eine solche Industriepolitik Erfordernisse, die sich aus sektoralen Aspekten ergeben, mit horizontalen Ansätzen verbinden kann.

4.5

Der Ausschuss begrüßt die speziellen Empfehlungen des Rates für die Schiffbau- und Schiffsreparaturindustrie. Sie decken sich mit den Empfehlungen der Kommission und der Branche selbst in LeaderSHIP 2015.

4.6

Der EWSA begrüßt dieses schiffbaupolitische Umdenken als Ergebnis sowohl einer neuen Herangehensweise als auch einer neuartigen Industriepolitik auf sektoraler Ebene. Beides könnte ein Vorbild für ähnliche Initiativen in anderen Sektoren sein.

4.7

Insbesondere ist der EWSA der Auffassung, dass statt weiterer nationaler Alleingänge nur gemeinsame Standpunkte und Grundsätze und gemeinsam vereinbarte Praktiken in der EU eine solide Grundlage für eine nachhaltige Schiffbau- und Schiffsreparaturindustrie in Europa schaffen können.

4.8

Die Erweiterung der Europäischen Union bietet Chancen, denn sie kann ihr wertvolle Aktivposten zuführen, die eine europäische Präsenz in Marktsegmenten erlauben, die von EU-Werften vor der Erweiterung nicht mehr bedient wurden (7). Die geltenden Gemeinschaftsvorschriften sind in vollem Umfang zu beachten.

4.9

LeaderSHIP 2015 wird nur dann erfolgreich sein, wenn alle Beteiligten, also die Industrie, die Kommission und in einigen Fällen die Mitgliedstaaten, in allen Kapiteln gleichzeitig tätig werden, jeder in seinem Zuständigkeitsbereich.

5.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

5.1

Die Glaubwürdigkeit der vorgeschlagenen Politik hängt von ihrer Umsetzung ab. Die weiteren Maßnahmen im Anschluss an diese Initiative sind von entscheidender Bedeutung, müssen transparent sein und sorgfältig überwacht werden. Partizipation, Transparenz und adäquate Überwachung müssen sichergestellt sein. Zusätzlich zu den Schlussfolgerungen des Rates spricht sich der EWSA nachdrücklich für einen jährlichen Zwischenbericht der Kommission an den Rat (Wettbewerbsfähigkeit) aus.

5.2

An erster Stelle von LeaderSHIP 2015 steht das Ziel, weltweit gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Der EWSA sieht in diesem Handlungsbereich einen Eckstein der gesamten Strategie. Er unterstützt voll und ganz den gegenwärtigen handelspolitischen Ansatz der EU, der auf ein wirkungsvolles internationales Übereinkommen abzielt, das weltweit ein hohes Maß an Disziplin sicherstellt.

5.3

Der EWSA hebt hervor, dass der unlautere Wettbewerb von einigen asiatischen Werften nicht nur eine erhebliche Bedrohung für die europäischen Werften darstellt, sondern auch für die europäische Schiffsausrüstungsindustrie ein Alarmzeichen sein muss. Die Ankündigungen aus einigen führenden asiatischen Schiffbauländern, sich in Zukunft für ihre Zulieferungen verstärkt auf örtliche Erzeugung stützen zu wollen, muss sehr ernst genommen werden.

5.4

Im Zusammenhang mit gleichen Wettbewerbsbedingungen ist von der Branchendisziplin innerhalb der EU selbst nicht eigens die Rede, obschon es immer noch unterschiedliche Höhen und Methoden der Schiffbauunterstützung durch die Mitgliedstaaten gibt. Gleiche Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt und ihre Transparenz und Überwachung verdienen aber besondere Aufmerksamkeit. Um die Glaubwürdigkeit des Prozesses zu erhöhen und Vertrauen entsprechend den vereinbarten Regeln und Zielen aufzubauen, ist es nach Ansicht des Ausschusses wichtig, dass die Kommission die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen und mögliche unfaire Praktiken überwacht.

5.5

Forschung, Entwicklung und Innovation sind von allergrößter Bedeutung, denn noch ist Europa der Quell von Schiffbauideen für die Welt. Dies ist somit eine weitere entscheidende Vorbedingung für den Erfolg. Es ist daher wichtig, dass verschiedene Instrumente eine effektive Unterstützung bieten und praxisorientiert angewandt werden. Konkrete Ratschläge hierfür können die politischen Entscheidungsträger von der Industrie bekommen. In jedem Fall muss die Anwendung von Innovationsinstrumenten transparent sein.

5.6

Zur Optimierung der Schiffsfinanzierungsinstrumente sowohl auf nationaler als auch auf gemeinschaftlicher Ebene hält es der EWSA für ratsam, dass der in LeaderSHIP vorgeschlagene europäische Bürgschaftsfonds so bald wie möglich bereitsteht. Seine praktische Umsetzung muss von der Kommission mit Vorrang behandelt werden. Dieser Fonds kann genutzt werden, um auch in der EU selbst wirklich gleiche Wettbewerbsbedingungen herzustellen.

5.7

Der EWSA begrüßt, dass sich Industrie und Kommission auf die Art der Umweltanforderungen und die im Sektor notwendigen Maßnahmen verständigt haben. Die EU muss auch weiterhin eine Vorreiterrolle beim Schutz der Meeresumwelt spielen und sich für die strikte Einhaltung diesbezüglicher internationaler Regeln stark machen. Ein koordiniertes europäisches Vorgehen bei der Internationalen Schifffahrtsorganisation kann zu einem zufrieden stellenden Maß an Effektivität beitragen, das die Autorität der IMO als alleinigem Organ für die Festsetzung weltweiter Regeln untermauert.

5.8

Erhebliche Fortschritte hat es in den letzten Jahren in der EU-Gesetzgebung zur Gewährleistung der Sicherheit auf See gegeben. Mehr Aufmerksamkeit ist jedoch der Aufstellung geeigneter Normen für die Instandhaltung von Schiffen zu widmen, wie in LeaderSHIP angeregt.

5.9

Die EU zeigt nach wie vor deutliche Schwächen bei der Durchsetzung geltender Vorschriften zur Gewährleistung der Sicherheit auf See. Der EWSA tritt daher nachdrücklich für eine wirkungsvolle Zusammenarbeit zwischen europäischen Küstenwachen ein.

5.10

Die Stärkung des Kurzstreckenseeverkehrs und die angestrebte Verkehrsverlagerung vom Straßen- auf den Schiffsverkehr sind ebenfalls wichtige umweltpolitische Zielsetzungen. Um sie zu verwirklichen, muss eine moderne Infrastruktur sowohl in den Häfen als auch bei den Schiffen weiter gefördert werden. Bei einer Finanzierung dieser Infrastruktur aus öffentlichen Mitteln müssen die Behörden dafür Sorge tragen, dass die Investitionen zum Nutzen der EU-Hersteller getätigt werden.

5.11

Angesichts der fundamentalen Bedeutung des Faktors Mensch begrüßt der EWSA die Absicht, einen intensiveren sektoralen Dialog zu führen, an dem Kommission, Arbeitgeber und Gewerkschaften gleichermaßen teilhaben. Bemerkenswerterweise hat der Schiffbausektor als erste Branche der Metallindustrie einen formellen Ausschuss für den sektoralen sozialen Dialog eingesetzt — ein weiterer Beleg für die innovationsfreundliche Haltung der Branche.

5.12

Der soziale Dialog liefert bereits wertvolle Beiträge zu unterschiedlichsten sozialen Fragestellungen, wie Ausbildung, Einstellung, lebensbegleitendes Lernen und Anpassung an das Auf und Ab der Konjunktur. Bisher wurden zwei Arbeitsgruppen eingerichtet: eine zum Aufpolieren des Images der Branche, die andere zur Ermittlung des Bedarfs an neuen Qualifikationen im Schiffbausektor.

5.13

Im Rahmen des sozialen Dialogs sind auch die beträchtlichen weltweiten Unterschiede in der Arbeitsproduktivität anzusprechen.

5.14

Der EWSA nimmt zustimmend zur Kenntnis, dass Europa mehr und mehr darauf setzt, dass einzelne Segmente des verarbeitenden Gewerbes, wie die Schiffbau- und die Luft- und Raumfahrtindustrie, für verteidigungspolitische Zielsetzungen sehr wichtig sind und es daher eine Interaktion zwischen ziviler und Verteidigungsindustrie geben muss.

5.15

Vor diesem Hintergrund ist zu begrüßen, dass LeaderSHIP für europäische Marineprojekte und Zusammenarbeit zwischen Marinewerften wirbt. Bisher standen nationale Sicherheitserwägungen und unterschiedliche Traditionen dem im Weg. Wenn die Europäer aber nicht zu einer engeren Zusammenarbeit gelangen, werden die Kosten immer weiter steigen, und der europäische Innovations- und Technologievorsprung gerät in Gefahr.

5.16

Es gibt bereits erfolgreiche Kooperationsprojekte, z. B. zwischen Deutschland und den Niederlanden beim Bau von Fregatten und zwischen Frankreich und Großbritannien bei Flugzeugträgern. Neue Projekte können zusammen mit der künftigen Europäischen Agentur für die Beschaffung von Rüstungsgütern geplant werden. Von besonderer Bedeutung ist eine optimale Synergie zwischen den Werften für den Erhalt und den weiteren Aufbau von Know-how. Die Agentur sollte daher ersucht werden, eine Bestandsaufnahme der verfügbaren Kapazitäten und des Technologie- und Innovationstandes bei den Marinewerften zu machen, sodass bei neuen Ausschreibungen das beste Preis-Qualitäts-Verhältnis erreicht werden kann. Angesichts der Tatsache, dass bei Marinewerften der Staat der Kunde ist, ist ein Hinüberschwappen von Subventionen vom Marine- in den Handelsschiffbau zu vermeiden.

5.17

Die Konsolidierung der Industrie gilt als Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit des Sektors. Angesichts der komplizierten Beziehungen zwischen dem Kerngeschäft und dem hohen Anteil von Zulieferern ist jedoch offen, wie dieser Prozess verlaufen wird.

Brüssel, den 30. Juni 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Angaben aus der Studie „Wirtschaftliche Bedeutung der Schifffahrtsindustrie in Europa“, im Auftrag der Europäischen Kommission durchgeführt von Policy Research Corporation N.V. & ISL.

(2)  Quelle: Lloyds' Register.

(3)  „LeaderSHIP 2015 — Die Zukunft der europäischen Schiffbau- und Schiffsreparaturindustrie sichern“, veröffentlicht von der Europäischen Kommission, Brüssel, 2003.

(4)  KOM(2003) 717 endg.

(5)  KOM(2003) 717 endg., Ziffer 6.1 letzter Satz.

(6)  Schlussfolgerungen des Rates zu dem „Beitrag der Industriepolitik zur Wettbewerbsfähigkeit Europas“, Brüssel, 24. November 2003 (15472/03).

(7)  Wie z. B. große Rohöltanker und Massengutfrachter, die weniger technisches Know-how erfordern und bei denen die Arbeitskosten ein vergleichsweise großes Kostenelement sind.


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Entscheidung 2000/819/EG über ein Mehrjahresprogramm für Unternehmen und unternehmerische Initiative, insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) (2001-2005)“

(KOM(2003) 758 endg. — 2003/0292 (COD))

(2004/C 302/02)

Der Rat beschloss am 23. Dezember 2003 gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 9. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr DIMITRIADIS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 140 Stimmen gegen 1 Stimme bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Vorwort

1.1

Die Europäische Union sieht sich sowohl im Vorfeld als auch im Gefolge der vom Europäischen Gipfel in Lissabon festgelegten Ziele konfrontiert mit: a) schwerwiegenden Problemen in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit und Modernisierung von europäischen Unternehmen, insbesondere KMU, b) schwerwiegenden Problemen der öffentlichen Verwaltungen bei der Stärkung des Unternehmergeistes bedingt durch Funktionsstörungen und Bürokratismus, c) Unzulänglichkeiten bei der Abstimmung zwischen den Vertretungsorganisationen der KMU, den öffentlichen Verwaltungen und der Kommission bei der Förderung der unternehmerischen Tätigkeit, d) dem Mangel an Koordinierung der nationalen Politiken zugunsten der KMU, e) dem Fehlen einer verbindlichen Langzeitstrategie für KMU in den Mitgliedstaaten, f) schwerwiegenden Problemen bei der finanziellen Unterstützung von Unternehmen (insbesondere KMU) durch den Bankensektor und Risikokapitalunternehmen, g) den hohen Kosten für die Kreditvergabe aufgrund der geringen Größe der KMU und des erhöhten Risikos sowie h) dem Fehlen an einer permanenten Politik für KMU.

1.2

Die EU räumt ein, dass der Binnenmarkt rechtlich und normativ zwar vollendet ist, die KMU das geltende System und seine möglichen Vorteile jedoch nicht völlig übernommen haben und das bestehende Potenzial nicht ganz ausschöpfen.

1.3

Die EU kämpft weltweit um Wettbewerbsfähigkeit, um mit der mächtigen wirtschaftlichen und politischen Stellung der USA (1), die außergewöhnliche Wettbewerbs- und Produktivitätsleistungen vorweisen können, sowie mit Japan, den südostasiatischen Ländern (2) und den neu aufkommenden Wirtschaftsmächten China, Indien und Brasilien Schritt halten zu können.

1.4

Das größte soziale und wirtschaftliche Problem der EU ist die Arbeitslosigkeit und ihr wichtigstes Ziel die Schaffung neuer Arbeitsplätze, insbesondere bei KMU, die den Großteil der europäischen Unternehmen ausmachen.

1.5

Die EU unternimmt große Anstrengungen zur Stärkung von Forschung und Technologie, in dem Bewusstsein, dass Verbesserungen in diesen Bereichen die einzige Garantie für Entwicklung und Fortschritt sind; aufgrund fehlender flexibler Instrumente und eines Regelungsrahmens, die die Bürokratie verstärken, die Effizienz mindern und zu abträglichen Verzögerungen führen, bringt die vorgeschlagene Strategie jedoch nicht immer die erwarteten Ergebnisse.

1.6

Um auf die vorgenannten Tatsachen zu reagieren, brachten der Europäische Gipfel in Amsterdam (Juni 1997) und der Sondergipfel für Beschäftigung in Luxemburg (November 1997) die Wachstums- und Beschäftigungsinitiative auf den Weg, und der Ministerrat schuf mit den Entscheidungen 98/347/EG (3) und 2000/819/ΕG (4) die Basis für eine systematische und kontinuierliche Unterstützung europäischer Unternehmen mit dem gleichzeitigen Ziel, die Zahl der Arbeitsplätze durch ein spezifisches Programm zu erhöhen.

2.   Einleitung

2.1   Ziele

Die Ziele des Programms sind zum einen die verstärkte Schaffung neuer Arbeitsplätze und zum anderen die Einrichtung und Entwicklung innovativer KMU im Sinne der Definition der Empfehlung 96/280/EG der Kommission einschließlich der Unterstützung ihrer Investitionen durch Aufstockung der verfügbaren Finanzierungsinstrumente.

2.1.1

Die KMU werden deshalb unterstützt, weil sie aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit an veränderte Marktbedingungen, der einfachen Entscheidungsfindung und der rascheren Umsetzung neuer Bedingungen innerhalb des Unternehmens nachweislich leichter neue Arbeitsplätze schaffen können. Es hat sich ferner erwiesen, dass es zumeist KMU sind, die sich den größten Problemen gegenüber sehen, und zwar während der frühen Phase der Unternehmensentwicklung (aufgrund von bürokratischen Verfahren und fehlender Finanzmittel), beim Voranbringen innovativer Pläne (aufgrund fehlender Zugangsmöglichkeiten zur Bankenfinanzierung sowie — in den neuen Mitgliedstaaten — aufgrund des Fehlens eines Bankensystems, das in der Lage ist, eine ähnliche Finanzierung bereitzustellen) und bei der Entwicklung grenzüberschreitender Formen der Zusammenarbeit.

2.2   Beschreibung des Programmumfangs

Das Programm umfasst drei Instrumente: a) eine Unternehmenskapitalfazilität (ETF-Startkapitalfazilität), die vom Europäischen Investitionsfonds (EIF (5)) verwaltet wird, b) eine Finanzbeitragsfazilität, um die Gründung grenzüberschreitender Gemeinschaftsunternehmen zwischen KMU in der EU zu fördern (Joint European Venture, JEV), die von der Kommission verwaltet wird, sowie c) die KMU-Bürgschaftsfazilität, die vom EIF verwaltet wird.

2.2.1

Der Programmhaushalt belief sich auf 423,56 Mio. Euro, davon 168 Mio. Euro für die ETF-Startkapitalfazilität, 57 Mio. Euro für die JEV-Fazilität und 198,56 Mio. Euro für die KMU-Bürgschaftsfazilität. Wegen der regen Inanspruchnahme der KMU-Bürgschaftsfazilität wurde ein Betrag von 30,56 Mio. Euro vom JEV-Programm auf die KMU-Bürgschaftsfazilität übertragen. Zum 29. Mai 2002, also am Ende des Mittelbindungszeitraums, hatte der EIF die ursprünglich zugewiesenen Mittel für die ETF-Startkapitalfazilität und die KMU-Bürgschaftsfazilität in voller Höhe gebunden. Im Rahmen des JEV-Programms wurden insgesamt 14,5 Mio. Euro für Projekte gebunden.

2.2.2

Die Risikokapitalfazilität (ETF-Startkapitalfazilität) schafft die Bedingungen für den Erwerb von Beteiligungen am Risikokapital von KMU, insbesondere während ihrer Gründung und in der frühen Phase der Unternehmensentwicklung, und/oder an innovativen KMU, und zwar über Investitionen in spezialisierte Risikokapitalunternehmen.

2.2.2.1

Über das Programm Joint European Venture (JEV) stellt die EU Mittel für KMU zur Schaffung neuer grenzüberschreitender Gemeinschaftsunternehmen in der EU bereit.

2.2.2.2

Im Wege der KMU-Bürgschaftsfazilität vergibt die EU Mittel zur Deckung der Kosten für die von der EIB bereitgestellten Bürgschaften und Gegenbürgschaften, um die Erhöhung der Kredite für KMU in neue, innovative Unternehmen zu fördern. Dieses Ziel wird normalerweise durch eine Erhöhung der Kapazität von Bürgschaftsprogrammen in den Mitgliedstaaten erreicht und betrifft sowohl neue als auch bestehende Programme. Die Fazilität deckt zudem einen Teil der Verluste im Rahmen der Bürgschaften bis zu einem vorher festgelegten Höchstbetrag, wobei besonderes Augenmerk auf der Finanzierung der Sachanlageinvestitionen der KMU liegt.

3.   Programmergebnisse

3.1

Gemäß dem Bericht der Kommission hatten im Rahmen der ETF-Startkapitalfazilität bis zum Juni 2002 (6) rund 206 KMU aus dem High-Tech-Sektor (Biotechnologie/Biowissenschaften und Informationstechnologie) Mittel aus dem Programm erhalten; diese hatten auch außerordentlich gute Ergebnisse bei der Schaffung von Arbeitsplätzen erzielt. Durch die Bürgschaftsfazilität für KMU wurden 112 000 kleinere Unternehmen unterstützt, die einen Beschäftigungsanstieg in Höhe von 30 % verzeichnen konnten, während die JEV-Fazilität nur wenige Vorschläge förderte (es wurden lediglich 137 Vorschläge akzeptiert).

4.   Bemerkungen

4.1

Der Bericht der Kommission (7) über die drei Programme basierte auf einer sehr kleinen Anzahl von Unternehmen, so dass die in ihm enthaltenen Schlussfolgerungen mit hoher Wahrscheinlichkeit sowohl statistische als auch substanzielle Fehler enthalten.

4.2

Zu dem Vierjahreszeitraum von 1998 (Start-up-Jahr) bis 2002 (Bewertungsjahr) lässt sich Folgendes sagen: a) Rund 206 KMU erhielten Mittel aus der ETF-Startkapitalfazilität. Der Ausschuss hält diese Zahl — verglichen mit dem Ergebnis ähnlicher Bemühungen in den USA, wo mithilfe ähnlicher Instrumente auf der Grundlage von Hochrisikokapital ein explosionsartiger Anstieg von KMU-Neugründungen und ausgezeichneter Unternehmergeist verzeichnet wurde — für zu gering; b) durch die JEV-Fazilität wurden nur 31 internationale Unternehmen gegründet und 252 neue Arbeitsplätze geschaffen — ein Ergebnis, das hinter den Erwartungen zurückblieb; c) die Resultate der Bürgschaftsfazilität für KMU werden positiv bewertet.

4.3

Die Vorhersagen des Berichts in Bezug auf die Beschäftigungsraten in den geförderten Unternehmen beruhen auf veralteten Daten (2001-Mitte 2002) und können für die drei Teilprogramme nicht angemessen ausgewertet werden.

4.4

Der Ausschuss verfügt nicht über endgültige, tatsächliche und komplette Daten in Bezug auf die geschaffenen Arbeitsplätze (1998-2003). Deshalb fällt es besonders schwer, eine Bewertung vorzunehmen, Stellung zu beziehen und entsprechende Schlussfolgerungen zu äußern. Der Ausschuss unterstreicht daher erneut sein besonderes Interesse an den Anstrengungen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und fordert die Kommission auf, dies nach der Änderung dieses Programms als vorrangigste Priorität beizubehalten.

4.5

Das Eingehen großer Investitionsrisiken ist Voraussetzung für die Förderung innovativer Ideen, damit diese in Unternehmenspläne umgesetzt werden können und in erfolgreichen Investitionsbemühungen münden. Der außergewöhnliche Erfolg einiger dieser Pläne nivelliert das Scheitern anderer innovativer Pläne, die letztendlich nicht vom Markt akzeptiert wurden.

4.6

Die traditionelle Wirtschaft wird in diesem Programm völlig außer Acht gelassen. Die ständige Bezugnahme auf innovative Maßnahmen schließt traditionelle KMU von der Möglichkeit des Zugangs zur Finanzierung aus. Die Innovation ist ein sehr wichtiges Hilfsmittel für die Modernisierung der Wirtschaft und die Förderung ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Es ist jedoch Folgendes hervorzuheben: a) Europäische Unternehmen laufen Gefahr, durch die Einfuhr von Erzeugnissen der traditionellen Wirtschaft aus Drittstaaten ihre Marktanteile auf dem Europäischen Markt dauerhaft zu verlieren. b) Die fehlende Unterstützung für traditionelle KMU birgt die Gefahr der Entstehung von Oligopolen im Vertriebs- und Handelssektor mitsamt der damit zusammenhängenden negativen Auswirkungen auf alle Herstellungsprozesse, was insgesamt zu Arbeitsplatzverlusten führt.

4.7

Die Verringerung der bürokratischen Verfahren durch die Schaffung einziger Anlaufstellen (so genannter One-Stop-Shops), die mithilfe der modernen Technologie die Durchführung der Verfahren und die Abschaffung unnötiger Dokumente übernehmen, ist eine Grundvoraussetzung für die Teilnahme von KMU an diesen Programmen.

5.   Schlussfolgerungen

5.1

Der EWSA ist mit den von der Kommission vorgeschlagenen Änderungen der Entscheidung 2000/819/ΕG einverstanden.

5.2

Der EWSA teilt die Ansicht der Kommission, dass die Auswirkungen der drei Finanzinstrumente in ihrem vollen Umfang erst nach geraumer Zeit gemessen werden können, ist jedoch der Auffassung, dass einerseits genügend Zeit von der Lancierung bis zur Bewertung verstrichen ist, so dass Schlussfolgerungen gezogen werden können, die zu strukturellen Weichenstellungen führen werden, und andererseits beim heutigen Kontext der Globalisierung der Weltwirtschaft wegen der ständig wechselnden Tendenzen und Perspektiven der Unternehmen keine Zeit versäumt werden darf.

5.3

Der EWSA erkennt an, dass in den Jahren 2001 und 2002 das internationale Umfeld für unternehmerische Tätigkeit sehr ungünstig war und ein Rückgang bei Risikokapital in der EU und eine Zurückhaltung der großen Banken bei der Kreditvergabe an KMU zu beobachten war. Im Jahr 2002 stieg die Nachfrage nach Bürgschaften beträchtlich an, da die großen Banken anfingen, zusätzliche Sicherheiten zu verlangen, und dies mit einem hohen Risiko und hohen Verwaltungskosten begründeten. Angesichts dieser Sachlage hält der EWSA diese Fazilitäten für um so hilfreicher, vor allem die Bürgschaftsfazilität und die Startkapitalfazilität. Ferner regt der EWSA eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit spezialisierten kleinen Banken an, deren Hauptgeschäft die Dienstleistung für KMU ist und die über flexible Kommunikationsmechanismen verfügen.

5.4

Der EWSA befürwortet die Anliegen der drei Unterprogramme und erkennt ihre Notwendigkeit an, ist jedoch der Ansicht, dass das Verfahren für den Zugang der KMU zu Programmen dieser Art umständlich, bürokratisch und unflexibel ist, denn gewöhnlich haben die mittelständischen Unternehmen große Probleme im Bereich der Information und der inneren Organisation.

5.5

Der EWSA hält die KMU-Bürgschaftsfazilität für ein besonders sinnvolles Instrument und fordert, diese Finanzierungsform verstärkt anzuwenden und alles Erdenkliche zu unternehmen, um diejenigen Länder, die von diesem Mechanismus bislang nicht erfasst wurden (Griechenland, Irland, Luxemburg), in diese Fazilität einzubeziehen.

5.6

Der EWSA befürwortet die Anstrengungen zum Ausbau der Bürgschaftsfazilität angesichts des EU-Beitritts neuer Mitgliedstaaten, in denen es Tausende von mittelständischen Unternehmen gibt, die aber keinen Zugang zu Bankdarlehen haben und deswegen auch keine produktiven Investitionen tätigen und keine neuen Arbeitsplätze schaffen können.

5.7

Nach Meinung des EWSA muss die Mittelausstattung dieses Programms dahingehend nachgebessert werden, dass auch der Bedarf der neuen Mitgliedstaaten abgedeckt wird. Das derzeitige Budget wurde für die EU-15 konzipiert und festgelegt und nicht für die EU-25, unter denen die neuen Partner sicherlich höheren Bedarf haben würden.

5.8

Der EWSA fordert die Kommission auf, die entsprechenden Maßnahmen für einen weiteren Ausbau der ETF-Startkapitalfazilität zu ergreifen, weil sie das unverzichtbare Instrument für die Entwicklung innovativer KMU und die Unterstützung von unternehmerischen Vorhaben mit hohem Risiko ist, die für die Entwicklung von Forschung und Technologie notwendig sind, sowie anderer Investitionsvorhaben mittelständischer Unternehmen, die zwar nicht in den Hochtechnologiebereich fallen, aber von großem unternehmerischem Interesse sind und für Finanzmittel und Finanzierungsmechanismen jedweder Art in Betracht kommen sollten. Deswegen wird Folgendes vorgeschlagen:

a)

die Unterstützung von Unternehmen jedweder Rechtsform und unabhängig von ihrem Geschäftsbereich in Form von Bürgschaftsleistungen,

b)

die finanzielle Unterstützung von Unternehmen jedweder Art im Rahmen der ETF,

c)

die Anhebung des Förderungsanteils innovativer Investitionen mit hohem Risiko,

d)

die Abstufung der Fördermittel (ETF) je nach Gegenstand der Arbeiten, Beschäftigungswirksamkeit und Innovationscharakter,

e)

die Einbindung des Bankensektors in die Verbreitung von Informationen und die Unterstützung von Programmen über Finanzierung und Bürgschaftsleistungen,

f)

die Prüfung der Möglichkeit der Aushandlung der Zinssätze der Unternehmen, für die eine Bürgschaft übernommen wird, in Form eines Zentralabkommens zwischen der Bürgschaftsfazilität und den Banken,

g)

die Prüfung der Möglichkeit einer Förderung einzelstaatlicher Initiativen über die Bürgschaftsfazilität.

5.9

Der EWSA ist der Ansicht, dass die in der EU für den FTE-Bereich bereitgestellten privaten und öffentlichen Mittel unzureichend sind und den höheren Bedarf der KMU im Bereich der Informatik, der neuen Technologien und der Biotechnologie nicht abdecken können. Er fordert, dass deutlich mehr Mittel freigemacht werden, um diesen Bedarf bedienen zu können.

5.10

Es sollten die schnellen und flexiblen Mechanismen, die es in den USA gibt und die dort ausgezeichnete Ergebnisse abwerfen, untersucht, bewertet und — soweit dies geboten erscheint — zum Einsatz gebracht werden, und außerdem sollte die Zusammenarbeit mit spezialisierten privaten Risikokapitalfonds erweitert werden, soweit ein Investitionsinteresse besteht (8). Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Vorreiterrolle in diesem Bereich zu übernehmen.

5.11

Nach Meinung des EWSA müssen noch mehr Anstrengungen zur Information der KMU über die Existenz und die Funktionsweise der Bürgschaftsfazilität unternommen werden, daneben müssen aber auch bessere Möglichkeiten für den Zugang zu und die Kommunikation mit der EIB und dem EIF gefunden werden. Aus der einschlägigen Erhebung geht hervor, dass die meisten KMU überhaupt nicht wissen, dass die EU ein offizielles System zur Unterstützung mittelständischer Unternehmen eingerichtet hat. Deswegen müssen die Interessenvertretungen der Unternehmen (Handelskammern, KMU-Organisationen usw.) unmittelbar in das Geschehen eingebunden werden, um eine bessere Informationsvermittlung, eine direktere und substanziellere Kommunikation mit den KMU und eine schnellere Lösung der praktischen Probleme bei der Umsetzung des Programms zu erreichen.

5.12

Der EWSA ist der Ansicht, dass kurz nach dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten eine spezifische Bewertung der Nutzung der Instrumente dieses Programms vorgenommen werden sollte, da neben den verzeichneten derzeitigen Problemen der Beitrittsstaaten außer Zweifel steht, dass a) ihre tatsächliche Situation ungünstiger ausfallen wird, als sie dargestellt wird, b) sie enorme Unterstützung benötigen werden, deren Umfang sich heute noch gar nicht abschätzen lässt, und c) es einen Anpassungszeitraum geben wird, der ernste Risiken für die KMU mit sich bringen wird.

5.13

Der EWSA ist mit dem Vorschlag der Kommission einverstanden, das JEV angesichts dessen derzeitiger umstrittener Struktur einstweilen einzustellen. Der EWSA möchte jedoch betonen, dass er grenzüberschreitende Programme weiterhin unterstützt, weil nach seiner Einschätzung in der EU bei transnationalen Zusammenarbeitsformen und unternehmerischen Initiativen ein enormer Nachholbedarf besteht und innerhalb Europas die Schranken für die unternehmerische Tätigkeit fallen müssen.

5.14

Ferner wird auch die Wiedereinführung des JEV-Programms oder einer ähnlich angelegten Fazilität zu prüfen sein, sofern und soweit nach der Erweiterung die Möglichkeiten für grenzüberschreitende Zusammenarbeit innerhalb der EU und des EWR geschaffen werden, d. h. eine Politik verfolgt wird, die die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen KMU begünstigt, so dass dieses große Ziel ohne die besonderen bürokratischen Erschwernisse, die das JEV-Programm belasteten und sein Scheitern verursachten, erreicht werden kann.

5.15

Nach den Erfahrungen, die mit dem Sechsten FTE-Rahmenprogramm bereits gesammelt wurden, sollten nach Meinung des EWSA wieder kleine Programme für die KMU aufgelegt werden, die derzeit nicht Teil der Konzeption des Rahmenprogramms sind.

5.16

Der EWSA erkennt an, dass die Umsetzung von Programmen mit einer bescheidenen Mittelausstattung mit hohen Verwaltungskosten verbunden sind und deshalb die Tendenz besteht, solche Programme möglichst begrenzt zu halten. Die Einschränkung derartiger Programme nimmt den KMU aber die Teilnahmemöglichkeit, weil sie sich die Mitwirkung an kostenaufwendigen Programmen nicht leisten können. Deswegen teilt der EWSA die Ansicht des Europäischen Parlaments und fordert die Kommission auf, besonders umsichtig mit der Reduzierung oder Einstellung von Programmen umzugehen, zumal sie nachweislich essenziellen Bedürfnissen der KMU entsprechen. Zu diesem Zweck sollte die Kommission mit den Interessenvertretungen der Unternehmen zusammenarbeiten.

5.17

Der EWSA hält die vom Europäischen Gipfel in Feira (am 19.6.2000) angenommene Europäische Charta für Kleinunternehmen für eine besonders wichtige Initiative und hat sich in seinen Stellungnahmen in der Vergangenheit bereits wiederholt zu diesem Thema geäußert. Nach seiner Auffassung müssen die Feststellungen dieser Charta im Wege klarer Rechtsvorschriften in die Praxis umgesetzt werden.

5.18

Der EWSA ist mit den in Anhang 1 (Beschreibung der Aktionsbereiche) festgelegten Förderzielen in Bezug auf die KMU-Bürgschaftsfazilität (Anhang I, Nummer 4 Buchstabe a) Ziffer ii)) einverstanden, die jedoch seines Erachtens nach einem eingehenden und kontinuierlichen Dialog mit den Interessenvertretungen der KMU noch weiter ausgebaut werden können (etwa im Sinne von Qualitätssystemen, Umweltstudien, Qualitätsstudien, technischer und technologischer Hilfe, Know-how-Transfer usw.).

5.19

Die EU muss nach Meinung der EWSA intensivere und entschlossenere Anstrengungen zur Förderung innovativer KMU unternehmen, die Programme von bürokratischen Verfahren befreien (z. B. Verzicht auf unnötige Unterlagen, Beschleunigung der Verfahren), die negative Auswirkungen und Verzögerungen mit sich bringen.

5.20

Der EWSA begrüßt die allgemeine Konzeption der Programme und plädiert für deren kontinuierliche Förderung und Verbesserung.

Brüssel, den 30. Juni 2004.

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Mitteilung an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Aktionsplan: Europäische Agenda für unternehmerische Initiative (KOM(2004) 70 endg., 11.2.2004).

(2)  Commission Staff Working Document „European Competitiveness Report 2003“ (SEC(2003) 1299, 12.11.2003).

(3)  Beschluss des Rates (98/347/EG) über Maßnahmen zur finanziellen Unterstützung innovativer und arbeitsplatzschaffender kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) — Initiative für mehr Wachstum und Beschäftigung (ABl. L 155 vom 29.5.1998).

(4)  Entscheidung des Rates (2000/819/ΕG) über ein Mehrjahresprogramm für Unternehmen und unternehmerische Initiative, insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) (2001-2005).

(5)  ΕΤF: Europäischer Technologiefonds; von der Europäischen Investitionsbank (EIB) eingerichtet mit dem Ziel, über bestehende Risikokapitalunternehmen Risikokapital für KMU in Hochtechnologiebranchen bereitzustellen.

(6)  Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat (KOM(2003) 758 endg. vom 8.12.2003).

(7)  Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat (KOM(2003) 758 endg. vom 8.12.2003).

(8)  Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament — Umsetzung des Risikokapital-Aktionsplans (RCAP), KOM(2002) 563 endg., 16.10.2002.


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/12


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament — Ein neuer Rechtsrahmen für den Zahlungsverkehr im Binnenmarkt“

(KOM(2003) 718 endg.)

(2004/C 302/03)

Die Kommission beschloss am 2. Dezember 2003, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 9. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr RAVOET.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli (Sitzung vom 30. Juni) mit 140 Ja-Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Inhalt und Geltungsbereich der Kommissionsvorlage

1.1

Am 2. Dezember 2003 hat die Kommission ein Konsultationspapier mit dem Titel „Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament — Ein neuer Rechtsrahmen für den Zahlungsverkehr im Binnenmarkt“ vorgelegt.

1.1.1

Die Kommission hat in rechtlicher und technischer Hinsicht eine gewisse Ineffizienz im grenzüberschreitenden Massenzahlungsverkehr festgestellt. Ihrer Auffassung nach liegt ein Grund für diese „grenzüberschreitende Ineffizienz“ darin, dass es auf europäischer Ebene keinen geeigneten Rechtsrahmen gibt. Zwar wurde eine Reihe von Rechtsakten zum Zahlungsverkehr verabschiedet, unter anderem die Verordnung (EG) Nr. 2560/2001 (1), mit der der Grundsatz der Gebührengleichheit für grenzüberschreitende Zahlungen in Euro und entsprechende nationale Zahlungen eingeführt wurde, und die Richtlinie 97/5/EG (2) über den Schutz der Nutzer elektronischer Zahlungsinstrumente, doch einen einheitlichen Rechtsrahmen gibt es bislang nicht. Preisgünstige, effiziente und sichere Zahlungsdienstleistungen sind notwendige Voraussetzung für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes für Waren und Dienstleistungen. Die Kommission nennt eine Reihe von Leitprinzipien, die im Zusammenhang mit den EU-Rechtsvorschriften für den Zahlungsverkehr als besonders relevant angesehen werden. Diese Leitprinzipien sind: 1) Effizienz als ständiges Ziel; 2) Sicherheit als Conditio sine qua non; 3) Wettbewerb: Marktzugang und gleiche Ausgangsbedingungen; 4) Kundenschutz (3) auf hohem Niveau; 5) die Rechtsvorschriften müssen technisch neutral sein; 6) die Überarbeitung der Rechtsvorschriften für den Zahlungsverkehr muss zusätzlichen Nutzen bringen; 7) Art des künftigen Rechtsinstruments.

1.2

Das Konsultationspapier der Kommission ist das Ergebnis von Vorarbeiten, die über einen relativ langen Zeitraum andauerten, und soll im Jahr 2004 in einem Vorschlag für Rechtsvorschriften münden.

1.3

Durch die Beseitigung von technischen und rechtlichen Hürden will die Kommission effiziente Zahlungsdienstleistungen, Wettbewerb zu gleichen Ausgangsbedingungen, einen angemessenen Schutz der Verbraucher und die Sicherheit des Zahlungsverkehrs sowie Rechtssicherheit für alle am Zahlungsverkehr Beteiligten erreichen.

1.4

Die Kommission erkennt die von den europäischen Banken unternommenen Anstrengungen an (4). Im Juni 2002 wurde ein Europäischer Zahlungsverkehrsausschuss eingerichtet. Dieser beschloss ein weitreichendes Arbeitsprogramm für einen einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraum mit Vorschlägen für beträchtliche Veränderungen in der Abwicklung der Zahlungsdienstleistungen in der Europäischen Union. Zu diesen Plänen zählt u. a. die Entscheidung, als vorrangige Maßnahme eine neue Infrastruktur (5) für Überweisungen in Euro zu äußerst niedrigen Gebühren und mit einer Abwicklungszeit von maximal drei Tagen zu schaffen.

1.5

Nach Ansicht der Kommission hat die Liberalisierung des Kapitalverkehrs grenzüberschreitende Geldüberweisungen innerhalb der EU erleichtert. Gleichzeitig ist der Binnenmarkt jedoch insbesondere bei Massenzahlungen noch nicht so effizient wie auf nationaler Ebene. Auch bestehen bei Zahlungsdienstleistungen im Binnenmarkt Unterschiede zwischen den Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten. Der Neue Rechtsrahmen soll diese rechtlichen Hürden für einen einheitlichen Zahlungsverkehrsraum bei Bedarf beseitigen, insbesondere, wenn sie das reibungslose Funktionieren der EU-weiten Zahlungsverkehrsinfrastrukturen und -systeme behindern; so gelten beispielsweise je nach Ort der Erteilung eines Zahlungsauftrags im Binnenmarkt unterschiedliche Vorschriften für seinen Widerruf. Interoperabilität, die Verwendung gemeinsamer technischer Standards und die Harmonisierung der wichtigsten rechtlichen Regelungen stehen an oberster Stelle.

1.6

Rechtsunsicherheit hindert Zahlungsdienstleistungsanbieter und -nutzer daran, Transaktionen ohne Vorbehalte zu tätigen, oder lässt sie ganz davon absehen. Dies gilt z. B. für Lastschriftverfahren, die es auf EU-Ebene bisher noch nicht gibt (siehe Anhang 16). Besonders zum Tragen kommt dies bei regelmäßig wiederkehrenden Zahlungen (z. B. Daueraufträge für den Bezug ausländischer Zeitungen oder Leistungen öffentlicher Versorgungsunternehmen für ein Ferienhaus in einem anderen Mitgliedstaat), für die keine Einzugsermächtigung erteilt werden kann. Wenn die Nutzer, z. B. Verbraucher und KMU, in den vollen Genuss der Vorteile des Binnenmarktes kommen sollen, müssen die grenzüberschreitenden Zahlungsdienstleistungen ebenso effizient werden wie auf nationaler Ebene. Aus diesem Grund soll der Neue Rechtsrahmen Gesetzeslücken schließen und das Wohl und Vertrauen der Verbraucher in einem einheitlichen Zahlungsverkehrsraum im Binnenmarkt fördern.

1.7

Auf dem Binnenmarkt ist das Vertrauen der Verbraucher in Zahlungstransaktionen besonders wichtig, da diese häufig grenzüberschreitend erfolgen und weil Vertrauen für die Nutzung des E-Commerce-Potenzials im EU-Markt von zentraler Bedeutung ist. Artikel 153 EG-Vertrag fordert daher ein hohes Verbraucherschutzniveau, das auch Leitprinzip des Neuen Rechtsrahmens ist. Allerdings müssen auch die Kosten dieses Schutzes abgeschätzt werden, da sie letzten Endes in der einen oder anderen Weise vom Kunden zu tragen sein werden.

1.8

Im Interesse des Verbraucherschutzes bedarf es einer gezielten, kohärenten und benutzerfreundlichen Unterrichtung des Kunden vor und nach der Ausführung eines Zahlungsvorgangs. In den EU-Rechtsvorschriften für den Zahlungsverkehr gibt es bereits zahlreiche diesbezügliche Bestimmungen, die einer Überprüfung bedürfen. Eine der schwierigsten Aufgaben besteht darin, das richtige Maß in Bezug auf Inhalt und Umfang dieser Informationen zu finden, damit sie der Zahlungsdienstleistungsnutzer, der sie liest, verstehen kann und anschließend weiß, worin seine Rechte und Pflichten bestehen.

1.9

Besonders wichtig sind nach Ansicht der Kommission auch rechtliche Vorkehrungen, die den Kunden im Falle einer nicht vollzogenen, mangelhaften oder nicht genehmigten Abwicklung von Zahlungstransaktionen schützen.

1.10

Einen wesentlichen Teil der Mitteilung bilden die 21 Anhänge, in denen jeweils ein spezifischer rechtlicher oder technischer Aspekt im Hinblick auf ein effizientes Funktionieren des einheitlichen Zahlungsverkehrsraums behandelt wird.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Der Ausschuss unterstützt das Ziel der Kommissionsinitiative, einen einheitlichen und umfassenden Rechtsrahmen für den gemeinsamen europäischen Zahlungsverkehrsraum zu schaffen. Es gibt durchaus Hindernisse für den Binnenmarkt für Zahlungsleistungen, doch diese gehen auf unterschiedliche Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten zurück. Der Zahlungsverkehr im Binnenmarkt ist nämlich heute noch weitgehend durch einzelstaatliche Vorschriften und/oder Gepflogenheiten geregelt. Die Tatsache, dass 98 % aller Massenzahlungen in Europa im Inland abgewickelt werden (6), verdeutlicht, dass sich die Nachfrage der Verbraucher nach grenzüberschreitenden Zahlungen innerhalb der EU in Grenzen hält.

2.2

Viele europäische Inlandsmärkte für Zahlungsdienstleistungen sind äußerst effizient. Daher sollten die Rechtsvorschriften sich darauf beschränken, Hindernisse für den grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr zu beseitigen, um so ein gemeinsames Effizienzniveau zu erreichen. Die Verbesserung der grenzüberschreitenden Zahlungssysteme darf sich nicht negativ auf die existierenden effizienten Inlandszahlungssysteme auswirken.

2.3

Die Kommission sollte die rechtlichen Hindernisse für die Herausbildung EU-weiter Marktgepflogenheiten und -vereinbarungen beseitigen, jedoch keine Vorschriften in Bereichen erlassen, die durch diese Gepflogenheiten und Vereinbarungen selbst geregelt werden können. Es geht also darum, ein gesundes Gleichgewicht zwischen Selbstregulierung/Ko-Regulierung und EU-Rechtsvorschriften zu finden.

2.4

Nach Auffassung des EWSA (7) sollte die Selbstregulierung und die Ko-Regulierung unterstützt werden. In allen Bereichen, in denen sich die Selbstregulierung und die Ko-Regulierung als ungeeignet bzw. unzureichend erweist oder nicht korrekt angewandt wird, sollten jedoch bindende Vorschriften erlassen werden.

2.5

Der Ausschuss unterstützt das Prinzip eines hohen gemeinsamen Verbraucherschutzniveaus als eines der in den Verträgen verankerten Grundziele.

2.6

Der Binnenmarkt für Zahlungsdienstleistungen muss international wettbewerbsfähig sein. Sollte der neue EU-Rechtsrahmen zu einer Erhöhung der Kosten für Zahlungsdienstleistungen führen, besteht durchaus die Gefahr, dass der Zahlungsverkehr zunehmend von Akteuren aus außereuropäischen Drittstaaten abgewickelt wird und die EU-Rechtsvorschriften damit am Ziel vorbeilaufen.

2.7

Schecks sollten nach Ansicht des Ausschusses nicht vom Anwendungsbereich des neuen Instruments für den Zahlungsverkehr ausgeschlossen werden, denn in einigen Mitgliedstaaten wird dieses Zahlungsmittel noch regelmäßig verwendet.

2.8

Darüber hinaus sollte durch die neue Regelung mittels Selbstregulierung erreicht werden, dass mit Kredit- oder Debitkarten, die von einem in einem Mitgliedstaat anerkannten Geldinstitut ausgegeben oder zugelassen wurden, alle Abhebungen von Geldautomaten in jedem anderen Mitgliedstaat möglich sind.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1   Recht auf Erbringung von Zahlungsdienstleistungen für die Allgemeinheit (Anhang 1)

Es ist für die Sicherheit des Finanzsystems von größter Bedeutung, dass diese Frage in dem Neuen Rechtsrahmen für Zahlungsdienstleistungen behandelt wird. Das Zahlungssystem ist Grundlage des gesamten Wirtschaftssystems, weshalb Zahlungsdienstleistungen in allen Mitgliedstaaten rechtlich geregelt sein müssen. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung sollte erst dann angewendet werden, wenn harmonisierte Mindestanforderungen für Zahlungsdienstleistungen festgelegt worden sind. Dieser Grundsatz allein würde nämlich weder eine ausreichende Sicherheit für die Verbraucher noch gleiche Wettbewerbsbedingungen gewährleisten. Ein verbindliches und unmittelbar geltendes Rechtsinstrument (Verordnung) zur Umsetzung der zweiten Option der Kommission (spezielle Zulassung für den Zahlungsverkehr) würde einen sicheren Rechtsrahmen in diesem Bereich garantieren. Es muss klar festgelegt werden, dass ein Zahlungsdienstleistungsanbieter, der Einlagen entgegennehmen kann, eine Bankzulassung besitzen muss (Solvenzanforderungen usw.). Prinzipiell sollte jede künftige Verordnung in diesem Bereich auch für in der EU tätige Zahlungsdienstleistungsanbieter aus Drittländern gelten.

3.2   Informationspflichten (Anhang 2)

Kreditinstitute unterliegen den Vorschriften der Richtlinie 97/5/EG über grenzüberschreitende Überweisungen, der Verordnung (EG) Nr. 2560/2001 über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro und der Empfehlung 97/489/EG über elektronische Zahlungsinstrumente. Einige Mitgliedstaaten haben ggf. eigene Rechtsvorschriften, und es gibt auch spezielle EU-Vorschriften über die Informationspflicht gegenüber den Verbrauchern, so zum Beispiel in der Richtlinie 2002/65/EG über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und in der Richtlinie 2000/31/EG („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“). Diese Auflagen sind in Bezug auf den Geltungsbereich und Inhalt ausreichend und werden von den Banken umgesetzt. Der Ausschuss unterstützt voll und ganz die Kommissionsinitiative zur Konsolidierung bestehender Rechtsvorschriften, die auf einen einzigen übersichtlichen Gesetzestext für den gesamten Bereich der Informationspflichten abzielt. Diese Informationspflichten sollten so allgemein formuliert werden, dass sie auch auf Zahlungsinstrumente angewandt werden können, die es noch gar nicht gibt.

3.3   Konten Gebietsfremder (Anhang 3)

Diese Frage geht weit über den Bereich des Zahlungsverkehrs hinaus und sollte daher an anderer Stelle behandelt werden.

3.4   Wertstellung (Anhang 4)

3.4.1

Die Frage der Wertstellung betrifft nicht nur den Zahlungsverkehr, da eine Wertstellung ja häufig nicht an eine bestimmte Zahlungstransaktion gebunden ist, sondern sich im Zusammenhang mit jedem beliebigen Kontoumsatz ergibt.

3.4.2

Wie die Kommission einräumt, sind Wertstellungsdaten vorrangig Instrumente zur Preisbildung (d. h. sie betreffen das Produktmanagement und die Beziehung zum Kunden). Als Instrument des Produktmanagements hängen Wertstellungsdaten nicht von der Buchung ab, mit der die Umsätze auf dem Konto erfasst werden.

3.4.3

Wertstellungsdaten können je nach Bank, Art des Kunden (innerhalb der gleichen Bank) und sogar nach Art der Transaktion (bei ein und demselben Kunden und der gleichen Bank) unterschiedlich sein.

3.4.4

Der Ausschuss begrüßt die Idee, Zahlungsdienstleistungsanbietern Transparenzauflagen in Bezug auf die Wertstellung zu machen. Wertstellungsdaten sollten sich finanziell nicht zu stark auf den Verbraucher auswirken. Auch muss eine Konvergenz der Wertstellungssysteme in ganz Europa ins Auge gefasst werden; da sich die Systeme in den einzelnen Mitgliedstaaten aber stark voneinander unterscheiden, kann diese Konvergenz auf EU-Ebene nur ein mittelfristiges Ziel sein.

3.4.5

Leitgedanke dieses Prozesses der Konvergenz sollte es sein, dass das Datum der Wertstellung mit dem Datum übereinzustimmen hat, an dem die Geldbewegung gemäß dem Zahlungsauftrag bei dem betreffenden Zahlungsdienstleistungsanbieter erfolgt.

3.5   Beibehaltung von Kontonummern (Anhang 5)

3.5.1

Die Verordnung (EG) Nr. 2560 regelt die internationalen Kontonummern IBAN (8) und Bankleitzahlen BIC (9), die von den EU-Behörden, u. a. dem Europäischen System der Zentralbanken (ESZB), gefördert und befürwortet wurden. Die standardisierte IBAN-Nummerierung wird europaweit akzeptiert und funktioniert gut, was ihren Erfolg unter Beweis stellt. Aufgrund des Systems der Bankleitzahlen ist eine Beibehaltung der Kontonummern nicht möglich. Zumindest sollten die Banken ihren Kunden garantieren, dass sie bei einem Wechsel zu einer anderen Filiale der gleichen Bank ihre Kontonummer behalten können.

3.6   Mobilität der Kunden (Anhang 6)

Grundsätzlich wird der Wettbewerb auf dem Markt eine natürliche Triebkraft für mehr Kundenmobilität sein. Die Banken müssen die Kontenübertragung soweit wie möglich erleichtern, indem sie den Kunden alle dafür erforderlichen Informationen mitteilen. Der Ausschuss befürwortet nachhaltig die Selbstregulierung als Mittel zur Steigerung der Kundenmobilität. Außerdem spricht sich der Ausschuss für Transparenz in Bezug auf die Kontoschließungsgebühren aus. Diese Gebühren sollten angemessen sein und sich nach den tatsächlichen Verwaltungskosten für die Kontoschließung und -übertragung richten. Sie sollten dem Kunden außerdem vor der Kontoeröffnung bei einer Bank mitgeteilt werden.

3.7   Bewertung der Sicherheit von Zahlungsinstrumenten und -komponenten (Anhang 7)

Eine Rechtsvorschrift würde hier womöglich eine Konsolidierung veralteter technischer Lösungen begünstigen (Sicherheitseinrichtungen müssen jedoch kontinuierlich modernisiert werden). Daher sollte eine Standardisierung vorzugsweise von der Branche in eigener Regie durchgeführt werden, so wie das die Kommission in ihrer ersten Option in Form der Selbstregulierung vorschlägt. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass eine Selbstzertifizierung der Branche im Bereich Sicherheit im Interesse klarer Verhältnisse mit den noch aufzustellenden gemeinsamen EU-Prinzipien in Einklang gebracht werden sollte.

3.8   Datensätze, die den Auftraggeber einer Zahlung betreffen (SE VII der FATF) (Anhang 8)

Die FATF ist ein zwischenstaatliches Organ, das Normen aufstellt und Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung auf internationaler Ebene entwickelt. Die Sonderempfehlung VII zur Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung betrifft elektronische Überweisungen und legt fest, dass „die Länder Maßnahmen ergreifen, die Finanzinstitute, einschließlich Geldüberweisungsstellen, dazu verpflichten, den Überweisungen und den in diesem Zusammenhang versandten Nachrichten genaue und aussagekräftige Angaben zum Auftraggeber (Name, Anschrift und Kontonummer) beizufügen, wobei diese Angaben während der gesamten Zahlungskette bei der Überweisung oder bei der damit verbundenen Nachricht bleiben sollten. Die Länder sollen Maßnahmen ergreifen, die sicherstellen, dass Finanzinstitute, einschließlich Geldüberweisungsstellen, verdächtige Überweisungen mit unvollständigen Angaben zum Auftraggeber (Name, Anschrift und Kontonummer) verstärkt untersuchen und überwachen“. Nach Ansicht des Ausschusses sollte die Sonderempfehlung VII in voll harmonisierter Form im Wege einer Verordnung auf dem gesamten Binnenmarkt umgesetzt werden, um so ihre einheitliche und systematische Anwendung sicherzustellen. Die Frage des Datenschutzes ist in diesem Zusammenhang von wesentlicher Bedeutung. Die Länder des Europäischen Wirtschaftsraums sollten dabei möglichst einbezogen werden. Insbesondere sollten die Angaben statt des Namens des Auftraggebers den des Kontoinhabers beinhalten, soweit es sich nicht um dieselbe Person handelt. Damit können die Angaben zum Kontoinhaber gespeichert und vom Zahlungsdienstleistungsanbieter einfach abgerufen werden.

3.9   Alternative Streitbeilegung (Anhang 9)

Der EWSA hat in seiner Stellungnahme zum Grünbuch über „Alternative Verfahren zur Streitbeilegung im Zivil- und Handelsrecht“ (10) die Einrichtung des FIN-NET durch die Kommission begrüßt. Dieses Netz beweist, dass die grenzüberschreitende Schlichtung unter Einsatz der bestehenden Verfahren effizient und unbürokratisch funktioniert. Die hohe Effizienz des FIN-NET ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es den damals noch neuen Bereich der alternativen Streitbeilegung im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr abdeckte und dabei auf bereits bestehenden Instrumenten zur Schlichtung auf nationaler Ebene aufbaute. Im Bereich des Zahlungsverkehrs kommt es für den Verbraucher besonders auf die Kürze der Schlichtungsverfahren an.

3.10   Widerrufbarkeit von Zahlungsaufträgen (Anhang 10)

3.10.1

Im Sinne der Rechtssicherheit der Verbraucher wäre es zweckmäßiger, wenn der Anhang auf die Festlegung und Bekanntmachung eines Punktes, ab dem Aufträge je nach Zahlungsinstrument unwiderrufbar werden, abstellen würde. Der Ausschuss befürwortet, dass der Kunde über die Widerrufsbedingungen der einzelnen Zahlungssysteme und des verwendeten Zahlungsinstruments informiert wird.

3.10.2

Es darf auch nicht vergessen werden, dass Kunden Zahlungen nicht nur veranlassen sondern auch empfangen. Übermäßig lange Widerrufsfristen würden sich dann zum Schaden des Kunden auswirken, der die Zahlung erwartet.

3.10.3

Weiterhin muss zwischen Widerrufbarkeit durch den Kunden und Widerrufbarkeit durch das System unterschieden werden. Aus Gründen der Klarheit und Rechtssicherheit sollte die Abrechnung von Zahlungsaufträgen grundsätzlich dann nicht mehr widerrufbar sein, wenn der Auftrag im Sinne der Richtlinie über die Wirksamkeit von Abrechnungen bereits von einem System verarbeitet wurde.

3.10.4

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Frage der Widerrufbarkeit komplex ist und weiterer Diskussion bedarf. Der Zahlungsdienstleistungsanbieter sollte jedoch seinen Kunden auf Anfrage darüber informieren, wann ein konkreter Zahlungsauftrag unwiderrufbar wird.

3.11   Rolle des Zahlungsdienstleistungsanbieters bei Streitigkeiten zwischen Kunden und Händlern beim Fernabsatz (Anhang 11)

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass zwischen dem Grundgeschäft und der Abwicklung der Zahlung unterschieden werden muss: die Zahlung als solche ist dabei völlig neutral. Weder die Bank des Auftraggebers noch die des Zahlungsempfängers haben irgendwie Einfluss auf das zugrunde liegende Geschäft zwischen dem Auftraggeber (dem Kunden des Händlers) und dem Zahlungsempfänger (Händler). Der Ausschuss räumt ein, dass diese Frage komplex ist und weiterer Diskussion bedarf.

3.12   Nicht erfolgte oder mangelhafte Abwicklung (Anhang 12)

3.12.1

Auch der Ausschuss ist der Auffassung, dass ein Zahlungsdienstleistungsanbieter für die ordnungsgemäße Abwicklung eines Zahlungsauftrags haften sollte und nachweisen muss, dass eine Transaktion richtig aufgezeichnet, ausgeführt und dem Konto des Empfängers gutgeschrieben wurde. Der Zahlungsdienstleistungsanbieter ist für den Teil des Zahlungssystems (technisch) verantwortlich, der seiner Kontrolle unterliegt. Gleichzeitig kann ein Zahlungsdienstleistungsanbieter natürlich nicht über seine normale Haftpflicht hinaus haftbar gemacht werden, und erst recht nicht, wenn seinerseits weder Fahrlässigkeit oder ein Fall „höherer Gewalt“ vorliegt. Es obliegt aber dem Dienstleister zu beweisen, dass die Überweisung korrekt registriert, ausgeführt und verbucht wurde; diese Verpflichtung darf vertraglich nicht eingeschränkt werden.

3.12.2

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass Zahlungsdienstleistungsanbieter als Zusatzleistung eine Haftung auch für solche Ansprüche anbieten könnten, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Davon würden sowohl die Verbraucher als auch der Wettbewerb profitieren.

3.13   Pflichten und Haftung der Vertragsparteien bei nicht genehmigten Transaktionen (Anhang 13)

3.13.1

In Bezug auf Kartenzahlungen unterliegen Kreditinstitute bereits den Bestimmungen der Empfehlung 97/489/EG und müssen insbesondere folgenden Vorschriften nachkommen:

Die Haftung des Karteninhabers ist bei Verlust oder Diebstahl der Karte (außer bei grober Fahrlässigkeit) bis zum Zeitpunkt der Benachrichtigung auf 150 EUR beschränkt.

Gutgläubig bestrittene Lastschriften (und alle für die betreffende Lastschrift erhobenen Bankgebühren) für betrügerische Ferntransaktionen ohne Vorlage der Karte oder für Transaktionen mit gefälschten Karten müssen zurückgezahlt werden.

3.13.2

Hinter betrügerischen Transaktionen steht auch das organisierte Verbrechen. Die 150-Euro-Schwelle könnte Betrügereien potenziell Vorschub leisten. Daher ist der Ausschuss der Ansicht, dass eine risikoabhängige Haftungsgrenze eingeführt werden sollte. Die Haftung des Karteninhabers in den oben genannten Fällen sollte als Prozentsatz von dem vertraglich vereinbarten Kreditlimit der Karte festgelegt werden. Dieser Ansatz ist fair und würde die tatsächlichen Risiken und Kosten widerspiegeln; zugleich würde er Betrüger wirksam abschrecken, was wiederum die Gemeinkosten reduziert.

3.13.3

Eine begrenzte Überarbeitung der Empfehlung 97/489/EG anhand des Neuen Rechtsrahmens ist ein positiver Schritt. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass dieser Anhang im Zusammenhang mit den Möglichkeiten der Verwendung von elektronischen Signaturen im Sinne der Richtlinie über E-Signaturen geprüft werden sollte.

3.13.4

Es ist zweifelhaft, ob ein Zahlungsdienstleistungsanbieter schlüssig (wenn überhaupt) nachweisen kann, dass der Kunde auch wirklich der Auftraggeber einer mit einem technisch sicheren elektronischen Zahlungsinstrument durchgeführten Transaktion ist. Insbesondere bei Onlinebankinggeschäften haben Zahlungsdienstleistungsanbieter offensichtlich Schwierigkeiten, diesen Nachweis zu erbringen, da diese Geschäfte von privaten Rechnern aus abgewickelt werden können, die sich ihrer Kontrolle entziehen.

3.14   Anwendung der „OUR“, „BEN“ und „SHARE“-Regelung (11) (Anhang 14)

3.14.1

Zentraler Punkt dieses Anhangs ist der Grundsatz der Überweisung des vollen Betrags an den Empfänger. Dieser Grundsatz ist mittlerweile in der Verordnung 2560/2001 verankert und bezieht sich auf Zahlungen, die durch durchgängige automatische Verarbeitung (Straight-Through-Processing) abgewickelt werden können, vorausgesetzt, die entsprechenden Inlandszahlungen werden auf der Empfängerseite ohne Abzug in voller Höhe überwiesen.

3.14.2

Außerdem gibt es eine Selbstregulierung in Form einer Interbank-Zahlungsverkehrskonvention (ICP-Interbank Convention on Payments) (12), deren Geltungsbereich sich derzeit auf Überweisungen in Euro beschränkt. In dieser Konvention wird die Abschaffung der Möglichkeit, dass ggf. eingeschaltete Vermittlerbanken vom Überweisungsbetrag Gebühren abziehen können, angeregt.

3.14.3

In einem etwaigen Rechtsrahmen sollte von der Verwendung von Fachbegriffen, wie sie in spezifischen Bankmitteilungen und Systemen benutzt werden (wie zum Beispiel SHARE, BEN, OUR) abgesehen werden, da diese auf Inlandsebene oft ungeeignet sind. Der Ausschuss ist daher der Auffassung, dass keine zusätzlichen Vorschriften aufgestellt werden sollten, um die Richtlinie 97/5/EG zu ersetzen. Es bestehen derzeit verschiedene Möglichkeiten der Kostenaufteilung, aus denen der Kunde auswählen kann; sie sind Teil der zwischen dem Kunden und der Bank vereinbarten Geschäftsbedingungen. Eine zu starke Vereinfachung und Einschränkung dieser Auswahl muss vermieden werden, da diese Möglichkeiten der Kostenaufteilung Markterfordernissen entsprechen, die über einfache innergemeinschaftliche Überweisungsinstrumente hinausgehen und für die Durchführung der einzelnen Zahlungsformen und die Abwicklung des Versandhandels erforderlich sind. Der Ausschuss befürwortet, dass die Branche die Transparenz hinsichtlich der verwendeten Kostenaufteilung erhöht.

3.14.4

Der Ausschuss fordert die Kommission auf, den Widerspruch zwischen der in der Richtlinie genannten Standardoption „OUR“ (eine Form in der Kostenaufteilung, die es in den meisten Mitgliedstaaten nicht gibt) und der in der Verordnung favorisierten Option „SHARE“ aufzuheben.

3.15   Abwicklungszeiten für Überweisungen (Anhang 15)

3.15.1

Der Ausschuss weist darauf hin, dass die europäischen Banken im Europäischen Zahlungsverkehrsausschuss durch Selbstregulierung in Form in der CREDEURO-Konvention eine Frist von drei Bankgeschäftstagen (nach dem Tag der Annahme des Auftrags) für die Abwicklung von Überweisungsaufträgen vereinbart haben. Diese Grundfrist von drei Tagen kann natürlich von den Banken noch weiter verbessert werden. Da die Abwicklungszeit ein Kernelement des Bankservice ist, sollte es den Wettbewerbskräften überlassen werden, den Service in diesem Punkt weiter zu verbessern.

3.15.2

Die Notwendigkeit weiterer gesetzlicher Vorschriften sollte erst dann geprüft werden, wenn die Initiative des Bankensektors fehlschlägt.

3.16   Lastschriftverfahren (Anhang 16)

3.16.1

Welche Rechtsvorschriften es zu erlassen und/oder welche rechtlichen Hindernisse es zu beseitigen gilt, wird von eben diesem Europäischen Zahlungsverkehrsausschuss (EPC) festgelegt und der Kommission mitgeteilt, sobald der EPC das gesamteuropäische Lastschriftverfahren förmlich verabschiedet hat. Wie der Rechtsrahmen das gesamteuropäische Lastschriftverfahren unterstützen kann, wird vor allem davon abhängen, für welches Modell man sich entscheidet. Der Ausschuss bringt daher seine Überzeugung zum Ausdruck, dass eine enge Zusammenarbeit des Bankensektors mit dem Gesetzgeber (EG) ins Auge zu fassen ist.

3.17   Beseitigung der Hindernisse für gewerbsmäßige Bargeldtransporte (Anhang 17) (13)

3.17.1

Dieser Anhang bezieht sich nicht auf den Zahlungsverkehr und fällt damit nicht in den Geltungsbereich des Neuen Rechtsrahmens für den Zahlungsverkehr.

3.17.2

In den Bestimmungen sollte nicht zwischen Bargeldzahlungen und anderen Zahlungen unterschieden werden. Eine Reihe von rechtlichen und technischen Hindernissen beeinträchtigt die Entwicklung einer grenzüberschreitenden Bargeldbeförderung im Euro-Gebiet, insbesondere zwischen den Zweigstellen der Zentralbank eines Mitgliedstaats und Zweigstellen und Filialen von Finanzinstituten in einem anderen Land.

3.17.3

Der Zugriff auf grenzüberschreitende Dienste der nationalen Zentralbanken ist Teil der natürlichen Entwicklung der Verwendung der gemeinsamen Währung im Euro-Gebiet.

3.17.4

Der Wettbewerb im Bereich der Bargeldbeförderung im Euro-Gebiet sollte im Interesse höchster Effizienz gefördert werden, wobei der Ausschuss allerdings der Ansicht ist, dass eine Zulassung für die grenzüberschreitende Bargeldbeförderung sowie eine ausreichende Kontrolle dieser Zulassungsregelung eingeführt werden sollten.

3.18   Datenschutz (Anhang 18)

Mit dem Vorschlag der Kommission, in die künftige Verordnung eine Bestimmung aufzunehmen, die Artikel 13 Buchstabe d der Datenschutzrichtlinie 95/46/EG (14) entspricht, lassen sich wahrscheinlich die Möglichkeiten eines Informationsaustausches zur Betrugsprävention im Zahlungsverkehr am besten harmonisieren (Informationsaustausch zwischen den Marktteilnehmern sowie zwischen ihnen und den befassten Behörden im Wege einer Ausnahmeregelung von der Datenschutzrichtlinie: z. B. einer Datenbank betrügerischer Händler im Zusammenhang mit Kartenzahlungen).

3.19   Digitale Signaturen (Anhang 19)

Der Ausschuss schlägt vor, dass die Kommission zunächst ihren Bericht über die Umsetzung der Richtlinie 1999/93/EC (15) über elektronische Signaturen vorlegt. Vorschläge der Kommission für neue Maßnahmen sind willkommen. Der Ausschuss möchte grundsätzlich hervorheben, dass die digitale Zertifizierung in den Bereich des Produktmanagements fällt, wo ja der Grundsatz der technischen Neutralität und das Wettbewerbsprinzip gelten.

3.20   Sicherheit der Netze (Anhang 20)

Der Ausschuss befürwortet alle Schritte und Initiativen, die auf eine Verschärfung der Straftatbestände für Cyberkriminalität und auf eine Harmonisierung auf diesem Gebiet in der gesamten EU und in Zusammenarbeit mit anderen Rechtsordnungen (zum Beispiel den USA) abzielen. Der Einsatz abschreckender Strafen zur Ahndung des unbefugten Zugriffs auf Datenverarbeitungssysteme zu Zwecken des Betrugs, der Zerstörung oder der Manipulation von Daten oder des Betriebs eines Computersystems ist positiv zu werten. Erforderlich ist auch eine Bestrafung jener, die Daten, Programme, Hardware oder Informationen anbieten, die eigens für den Zweck entwickelt oder angepasst wurden, den unbefugten Zugriff auf automatische Datenverarbeitungssysteme zu Betrugszwecken zu ermöglichen. Dabei muss unterschieden werden zwischen der Unter-Strafe-Stellung betrügerischer Aktivitäten in Zahlungssystemen, für die eine weitere EU-Harmonisierung in Form von Rechtsvorschriften willkommen ist, und präventiven Maßnahmen zur Sicherung von Zahlungssystemen, die der Branche selbst überlassen werden sollten, um den jeweiligen technologischen Entwicklungen Rechnung zu tragen.

3.21   Störungen im Zahlungsnetz (Anhang 21)

3.21.1

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die in Anhang 21 aufgeworfene Frage eigentlich ein Unterpunkt zu Anhang 12 (nicht erfolgte oder mangelhafte Abwicklung) ist. Es kann festgestellt werden, dass:

Störungen im Zahlungssystem keine häufige Erscheinung sind;

Störungen Systeme und Anwendungen betreffen können, die nicht der direkten Kontrolle des Kreditinstituts unterliegen (externe Faktoren);

Kreditinstitute die Auflagen der zuständigen Aufsichtsbehörde in Bezug auf ihre Pflicht zur Abwehr von Störungen und Fortsetzung des Geschäfts erfüllen müssen.

3.21.2

Den Zahlungsdienstleistungsanbietern sollte keine Haftung für Zahlungen auferlegt werden, die zum Zeitpunkt des Beginns der Störungen noch nicht vom System verarbeitet waren. Die Haftung des Zahlungsdienstleistungsanbieters beschränkt sich auf seine zivilrechtliche Haftpflicht, wobei er nachweisen muss, dass er alle erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung der Störung ergriffen hat.

3.21.3

Bei den jüngsten Fällen von E-Mail-„phishing“-Angriffen auf britische Banken sah sich ein Online-Anbieter veranlasst, dem Angriff vor allem durch die Abschaltung des Onlinedienstes zu begegnen. Derartige Angriffe entziehen sich der direkten Kontrolle des Anbieters, da es dabei zu einem direkten E-Mail-Verkehr zwischen Angreifer und Kunden kommt. Die Anbieter von Zahlungsdienstleistungen sollten ihre Kunden möglichst informieren, bevor sie das System aus Sicherheitsgründen abschalten. Der Ausschuss hält es für unangemessen, Anbieter dafür zu bestrafen, dass sie derartige Maßnahmen zum Schutz ihrer Kunden ergreifen. Weiterhin ermuntert der Ausschuss Zahlungsdienstleistungsanbieter dazu, eine aktive Prävention gegen diese Art von Betrügereien zu betreiben.

4.   Schlussbemerkungen

4.1

Der Neue Rechtsrahmen sollte im Einklang mit der „Verbraucherpolitischen Strategie“ der EU stehen, zu deren Hauptzielen ein hohes gemeinsames Verbraucherschutzniveau gehört.

4.1.1

Der Ausschuss unterstützt die Bestrebungen der Kommission zur Stärkung des Verbrauchervertrauens, der Rechtssicherheit und der Markteffizienz für den Zahlungsverkehr im Binnenmarkt. Positiv zu werten ist auch, dass Selbst- und Ko-Regulierung in mehreren der 21 Anhänge als mögliche Lösung erwogen wird.

4.2

Vorrangig sollten Rechtsvorschriften in den Bereichen der Anhänge 1, 2, 8, 12, 13, 18 und 19 angestrebt werden. Dringender Handlungsbedarf besteht vor allem in den Bereichen Informationspflichten (2), Daten über den Auftraggeber einer Zahlung (8) und Datenschutz (18).

4.3

Eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Kommission und dem Bankengewerbe ist besonders im Hinblick auf die Einführung eines Europäischen Lastschriftverfahrens (Anhang 16), die Festlegung der zur Erbringung von Zahlungsdienstleistungen Berechtigten (Anhang 1) sowie im Bereich der Bewertung der Sicherheit von Zahlungsinstrumenten und -komponenten ins Auge zu fassen.

4.4

Was die anderen Anhänge betrifft, so ist der Ausschuss der Ansicht, dass sich das Kommissionsziel eines effizienten Binnenmarktes für Zahlungsleistungen besser im Zuge der Selbstregulierung oder Ko-Regulierung erreichen lässt. Wenn die im Rahmen der Selbstregulierung getroffenen Maßnahmen jedoch erfolglos bleiben, sollte natürlich ein Rechtsakt auf EU-Ebene angestrebt werden.

4.5

In diesem Sinne schlägt der Ausschuss vor, die Transparenz für den Verbraucher in den Mittelpunkt des gesamten Rechtsrahmens zu stellen und dabei soweit wie möglich bestehende Verfahren und die Selbstregulierung einzusetzen. Keiner weiteren Rechtsvorschriften bedarf es dort, wo der Markt bereits die Ziele des Gesetzgebers erreicht hat (zum Beispiel besteht kein unmittelbarer Bedarf für eine Überarbeitung der Richtlinie über Überweisungen, um kürzere Abwicklungszeiten zu erreichen). Nichtsdestoweniger liegt der richtige Lösungsansatz in bestimmten Bereichen in einem gemeinsamen Konzept.

4.6

Die Mitteilung erstreckt sich in vielen Teilen auf Bereiche, die über den bloßen Zahlungsverkehr hinausgehen. Die Kommission muss hier deutlicher den Unterschied zwischen Handelsleistungen und Zahlungssystemen herausarbeiten. Rechtsvorschriften über den Zahlungsverkehr sollten auf jeden Fall Fragen ausgrenzen, die sich auf die Erfüllung anderer Verpflichtungen als Zahlungen beziehen.

Brüssel, den 30. Juni 2004.

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  ABl. L 344 vom 28.12.2001.

(2)  ABl. L 43 vom 14.2.1997.

(3)  Unter „Kunden“ sind neben Verbrauchern auch Einzelhändler, KMU und andere Zahlungsdienstleistungsnutzer zu verstehen.

(4)  So die Systeme EURO1 und STEP1 der Euro Banking Association (EBA).

(5)  Am 28.4.2003 erfolgten die ersten Transaktionen mit dem EBA- System.

(6)  Prozentualer Gesamtanteil, den der Europäische Bankenverband FBE aus verschiedenen Quellen (Swift, EBA, Kartensysteme) ermittelt hat (2003).

(7)  CESE 500/2004, Berichterstatter: Herr RETUREAU.

(8)  International Bank Account Number.

(9)  Bank Identifier Code.

(10)  ABl. C 85 vom 8.4.2003.

(11)  „OUR“, „BEN“ und „SHARE“ sind drei Möglichkeiten der Gebührenverteilung bei Überweisungen.

(12)  Interbank-Zahlungsverkehrskonvention für Überweisungen, die unter die Verordnung (EG) Nr. 2560/2001 fallen.

(13)  Hier muss besonders auf die Genauigkeit der Übersetzungen geachtet werden. So sollte diese Überschrift im Italienischen besser „Rimozione delle barriere al trasporto di fondi“ lauten, da dies dem Sinn der Originalfassung näher kommt.

(14)  ABl. L 281 vom 23.11.1995.

(15)  ABl. L 13 vom 19.1.2000.


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/19


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über die Verfahren für Konsultationen und Notifizierungen auf dem Gebiet der Kreditversicherung, der Bürgschaften und der Finanzkredite“ (kodifizierte Fassung)

(KOM(2004) 159 endg. — 2004/0056 (CNS))

(2004/C 302/04)

Der Rat beschloss am 13. Mai 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrages um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 9. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr Frank VON FÜRSTENWERTH.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 133 gegen 1 Stimme bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Inhalt

1.1

Mit dem vorliegenden Vorschlag soll die Entscheidung 73/391/EWG des Rates vom 3. Dezember 1973 über die Verfahren für Konsultationen und Notifizierungen auf dem Gebiet der Kreditversicherung, der Bürgschaften und der Finanzkredite kodifiziert werden. Diese Entscheidung ist durch die weitere Entscheidung 76/641/EWG des Rates und durch die Beitrittsakte Spaniens und Portugals sowie die Beitrittsakte Österreichs, Finnlands und Schwedens geändert worden.

1.2

Die Entscheidungen betreffen ausschließlich den Bereich der staatlichen Exportkreditgarantien und regeln insbesondere, unter welchen Voraussetzungen die Mitgliedstaaten für eine in Aussicht genommene Gewährung von Auslandskrediten oder eine Bürgschaft für Auslandskredite ein Konsultationsverfahren mit den Mitgliedstaaten und der Kommission durchzuführen haben. Für die private Exportkreditversicherungswirtschaft ist die Entscheidung ohne Relevanz.

1.3

Der Vorschlag ersetzt die verschiedenen Rechtsakte, die Gegenstand der Kodifizierung sind.

1.4

Durch den Vorschlag wird der materielle Inhalt der kodifizierten Rechtsakte nicht geändert. Er beschränkt sich darauf, sie in einem Rechtsakt zu vereinen, wobei nur insoweit formale Änderungen vorgenommen werden, als diese aufgrund der Kodifizierung selbst erforderlich sind.

2.   Bewertung

2.1

Der Vorschlag steht im Zusammenhang mit dem Anliegen der Kommission, häufig geänderte Rechtsakte aus Gründen der Übersichtlichkeit und Klarheit zu kodifizieren.

2.2

Die einschlägigen Vorschriften sind bislang in verschiedenen Rechtsakten verstreut und es bedarf einer aufwendigen Suche und eines Vergleichs vieler Rechtsakte, um die geltenden Vorschriften zu ermitteln.

2.3

Der Vorschlag beschränkt sich darauf, die verschiedenen Rechtsakte unter vollständiger Beibehaltung ihres materiellen Inhalts in einem einzigen Rechtsakt zusammenzuführen. Für materielle Änderungen besteht kein Handlungsbedarf.

2.4

Der Vorschlag dient der Transparenz und der besseren Verständlichkeit der Gemeinschaftsvorschriften und ist deshalb zu begrüßen (1).

2.5

Allerdings sollte die Kommission im Rahmen der Kodifizierung noch folgende Punkte berücksichtigen:

Erwägungsgrund (2) der Entscheidung des Rates vom 3.12.1973 („Durch Beschluss des Rates vom 26. Januar 1965 hat der Rat ein Verfahren für Konsultationen auf dem Gebiet der Kreditversicherung, der Bürgschaften und der Finanzkredite festgelegt“) ist in dem Vorschlag nicht mehr enthalten und sollte der Vollständigkeit halber noch eingefügt werden.

In Artikel 20 des Vorschlags wird die Entscheidung 73/391/EWG des Rates aufgehoben. Anhang III des Vorschlags erwähnt demgegenüber unter der Überschrift „Aufgehobene Entscheidung mit ihrer Änderung“ auch die Entscheidung 76/641/EWG des Rates. Der Vollständigkeit halber sollte daher in Artikel 20 des Vorschlags auch die Änderung durch die Entscheidung 76/641/EWG mit aufgehoben werden.

2.6

Darüber hinaus ist besonders auf die Korrektheit der Übersetzungen zu achten, da Ungenauigkeiten zu Rechtsunsicherheit und Falschanwendung führen können.

Brüssel, den 30. Juni 2004.

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Beispielsweise sollten an der portugiesischen Fassung folgende Änderungen vorgenommen werden:

a)

In Artikel 4 Buchstabe e) Unterabsätze ii) and iv) sollte „credit starting point“ (in der deutschen Fassung: „Beginn der Laufzeit des betreffenden Kredits“) mit „ponto de partida do crédito“ übersetzt werden — anstatt mit „início do crédito“ —, da die beiden Zeitpunkte nicht notwendigerweise identisch sind;

b)

In Artikel 4 Buchstabe e) Unterabsatz iv) sollte der Ausdruck „where repayment is not to be effected by equal instalments at regular intervals“ (in der deutschen Fassung: „sind die Rückzahlungen nicht in gleich hohe und regelmäßige Tranchen [...] gestaffelt“) mit „escalonadas em prestações iguais e espaçadas de modo regular“ wiedergegeben werden — und nicht mit „escalonadas por parcelas de igual montante de modo regular“;

c)

Ferner sollte „aid credit“ (in der deutschen Fassung: „Hilfskredit“), z. B. in Artikel 4 Buchstabe f) Ziffer i) und Artikel 5 Buchstabe e) Ziffer i), mit „crédito de ajuda“ wiedergegeben werden — und nicht mit dem Ausdruck „crédito de auxílio“, der in den EU-Rechtsvorschriften betreffend „State aid“ eine vollkommen andere Bedeutung hat;

d)

Schließlich sollten mehrere Rechtschreibfehler verbessert werden, z. B. in Artikel 3 Absatz 2 (1. und 3. Zeile) („ntureza“ and „peirem“), Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe c) („desdadoravel“), and in Anhang 1 B. d) („antiantamentos“).


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/20


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Umsetzung des Internationalen Codes für Maßnahmen zur Organisation eines sicheren Schiffsbetriebs innerhalb der Gemeinschaft“

(KOM(2003) 767 endg. — 2003/0291 (COD))

(2004/C 302/05)

Der Rat beschloss am 13. Januar 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 80 Absatz 2 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 10. Mai 2004 an. Berichterstatterin war Frau BREDIMA-SAVOPOULOU.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 155 gegen 2 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Der Internationale Code für Maßnahmen zur Organisation eines sicheren Schiffsbetriebs und die Verhütung von Meeresverschmutzung (ISM-Code: International Safety Management Code) wurde von der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) 1979 angenommen, um die Entwicklung einer umfassenden Sicherheitskultur und des Umweltbewusstseins in der Seefahrt zu fördern. Im Jahr 1994 beschloss die IMO, den Code durch die Aufnahme eines neuen Kapitels IX zur Organisation eines sicheren Schiffsbetriebs in das Internationale Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS) von 1974 verbindlich zu machen.

1.2

Die verbindliche Umsetzung des Codes wurde in zwei Phasen vollzogen. Am 1. Juli 1998 wurde der ISM-Code für Unternehmen verbindlich, die Fahrgastschiffe, Öltankschiffe, Chemikalientankschiffe, Gastankschiffe und Massengutschiffe von 500 BRZ und darüber auf Auslandfahrt betreiben. Am 1. Juli 2002 wurde der ISM-Code verbindlich für Unternehmen, die sonstige Frachtschiffe von 500 BRZ und darüber auf Auslandfahrt im Seeverkehr betreiben.

1.3

Als Reaktion auf das Estonia-Unglück wurde auf Gemeinschaftsebene entschieden, die Umsetzung des ISM-Codes für im In- und Auslandverkehr eingesetzte Ro-Ro-Fahrgastfährschiffe durch die Verabschiedung der Verordnung (EG) Nr. 3051/95 (vom 8. Dezember 1995) auf den 1. Juli 1996 vorzuziehen (1). In seiner diesbezüglichen Stellungnahme (2) begrüßte der EWSA die vorgeschlagenen Maßnahmen und befürwortete die Initiative der Kommission.

1.4

Die Verordnung wurde zweimal geändert: a) durch die Verordnung (EG) Nr. 179/98 (3) bezüglich der einheitlichen Ausstellung der ISM-Dokumente und -Zeugnisse für die in Europa verkehrenden Fährschiffe und b) durch die Verordnung (EG) Nr. 1970/2002 (4) zur Aktualisierung der Verordnung unter Berücksichtigung der nachträglich auf Ebene der IMO beschlossenen Änderungen des Codes. Die Verordnung trat am 26. November 2002 in Kraft.

2.   Der Kommissionsvorschlag

2.1

Bei der Verabschiedung der Verordnung (EG) Nr. 3051/95 erklärten die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament, dass die Anwendung des ISM-Codes auf Ro-Ro-Fahrgastfährschiffe vorrangig sei, aber lediglich die erste einer Reihe fortlaufender Initiativen zur Erhöhung der Sicherheit auf See darstelle.

2.2

Die vorgeschlagene Verordnung allgemeinerer Art, die die Verordnung (EG) Nr. 3051/95 ersetzen soll, soll vor allen Dingen eine ordnungsgemäße, strenge und harmonisierte Umsetzung des Codes in allen Mitgliedstaaten und Beitrittsländern erleichtern. Durch diese Verordnung sollen die bestehenden ISM-Regeln der EU für Ro-Ro-Fahrgastfährschiffe im Linienverkehr mit einem Gemeinschaftshafen, unabhängig von der geführten Flagge, parallel beibehalten werden.

2.3

Die Verordnung gilt für jedwede Unternehmen, die eines oder mehrere der folgenden Arten von Schiffen im Seeverkehr betreiben:

Frachtschiffe, die die Flagge eines Mitgliedstaats führen, sowohl auf Inlandfahrt als auch auf Auslandfahrt;

Fahrgastschiffe, die die Flagge eines Mitgliedstaats führen, auf Auslandfahrt;

Fahrgastschiffe auf Inlandfahrt in Seegebieten der Klassen A und B im Sinne von Artikel 4 der Richtlinie 98/18/EG, unabhängig von der geführten Flagge;

Ro-Ro-Fahrgastfährschiffe im Linienverkehr mit einem Gemeinschaftshafen, unabhängig von der geführten Flagge;

Frachtschiffe im Kabotage-Zubringerverkehr mit einem Gemeinschaftshafen, unabhängig von der geführten Flagge.

2.4

Der Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Verordnung basiert auf Kapitel IX der SOLAS-Bestimmungen und gilt für alle vom SOLAS-Übereinkommen erfassten und die Flagge eines Mitgliedstaats führenden Schiffe, auch wenn sie im Inlandverkehr eingesetzt werden. Für die im Inlandverkehr eingesetzten Fahrgastschiffe kommen die Bestimmungen jedoch nur dann zur Anwendung, wenn die Fahrgastschiffe weiter als 5 Meilen von der Küstenlinie entfernt verkehren; diese Bestimmungen gelten aber für alle Flaggen.

2.5

Alle Unternehmen, die eines oder mehrere der oben genannten Schiffe betreiben, müssen den in Titel I des Anhangs wiedergegebenen Internationalen Code für Maßnahmen zur Organisation eines sicheren Schiffsbetriebs und zur Verhütung der Meeresverschmutzung (ISM-CODE) einhalten. Die Mitgliedstaaten sind an die in Titel II des Anhangs wiedergegebenen Leitlinien für die Ausstellung von Zeugnissen (Vorschriften für die Verwaltungen zur Umsetzung des ISM-Codes) gebunden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der ISM-Code ist einer der wichtigsten Fortschritte der IMO im Bereich der Sicherheit auf See, da er den entsprechenden Rahmen für die wirksame Umsetzung der IMO-Übereinkommen schafft. Der EWSA ist — wie in früheren Stellungnahmen dargelegt — der Auffassung, dass die Verordnung (EG) Nr. 3051/95 sehr stark dazu beigetragen hat, die Umsetzung des ISM-Codes für Ro-Ro-Fahrgastfährschiffe um zwei Jahre vorzuziehen und seinen Anwendungsbereich auf die im Inlandverkehr auf See eingesetzten Ro-Ro-Fahrgastfährschiffe auszuweiten.

3.2

Der EWSA stellt fest, dass im Hinblick auf die Betreiber von im Auslandverkehr eingesetzten Fahrgast- und Frachtschiffen das Ziel der vorgeschlagenen Richtlinie bereits erreicht wurde, da sich aus dem SOLAS-Übereinkommen die Verpflichtung zur Einhaltung des ISM-Codes ergibt. Desgleichen wurde bezüglich der Betreiber von Ro-Ro-Fahrgastfährschiffen durch die Umsetzung der Verordnung Nr. 3051/95 die Zielvorgabe verwirklicht.

3.3

Die Kommission begründet ihren Vorschlag im Wesentlichen damit, dass durch die volle Umsetzung des ISM-Codes und der einschlägigen IMO-Leitlinien in EU-Recht bessere Voraussetzungen für die wirksame Anwendung des ISM-Codes innerhalb der Gemeinschaft geschaffen werden. Der EWSA teilt diese Auffassung und unterstützt uneingeschränkt diese Zielsetzung, soweit sie sich auf Schiffe bezieht, für die der ISM-Code bereits jetzt anwendbar ist. Hinsichtlich des zusätzlichen Nutzens, der von der vorgeschlagenen Ausweitung des Anwendungsbereichs des ISM-Codes auf weitere Schiffstypen zu erwarten ist, gibt der Ausschuss die nachstehenden Bemerkungen ab.

3.3.1

Der ISM-Code geht auf eine Initiative der Industrie zurück und wurde als freiwilliges Instrument zur Förderung einer qualitätsmäßig anspruchsvollen Seeschifffahrt entwickelt. Die Erfahrungen, die im Rahmen der weltweit verbindlichen Umsetzung des ISM-Codes seit der ersten Phase im Jahr 1998 gemacht wurden, haben wie erwartet die Stärken und Schwächen des Codes erkennen lassen. Es besteht Einmütigkeit darüber, dass eine bessere Kenntnis der Ziele des Codes seitens aller Akteure im Bereich der Seefahrt (Flaggenstaaten, Klassifikationsgesellschaften und Schifffahrtsunternehmen), engere Kontakte zwischen den für die Ausfertigung von ISM-Zeugnissen zuständigen Stellen sowie einheitliche Ausbildungsstandards für die Auditoren, die die Einhaltung des ISM-Codes prüfen, notwendig sind. Grundvoraussetzung für ein gutes Sicherheitsmanagement ist das Engagement von oben. Bei den Maßnahmen für einen sicheren Schiffsbetrieb und die Verhütung von Meeresverschmutzung hängt der endgültige Erfolg vom Einsatz und von der Motivation aller und auf allen Ebenen ab. Ohne ein entsprechendes Bewusstsein der Akteure der maritimen Verbundwirtschaft könnte der ISM-Code tatsächlich zu der bloßen Makulatur verkommen, als die ihn Skeptiker gerne bezeichnen.

3.3.2

Die Risikobewertung wird heutzutage als ein objektives und verlässliches Werkzeug für die Erwägung von Verbesserungen im Bereich der Sicherheit weithin verwendet. Auf dieser Grundlage und in Anbetracht des nachweislichen Bedarfs war die verbindliche Anwendung des ISM-Codes in der EU für Passagierschiffe im Linienverkehr mit einem Gemeinschaftshafen vollauf gerechtfertigt und wurde dementsprechend befürwortet. Aus denselben Gründen blieb die Anwendung der Leitlinien auf alle anderen im Inlandverkehr eingesetzten Schiffe bisher — und zwar zu Recht — entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip dem Ermessen der nationalen Verwaltungen überlassen. Dem EWSA ist keine nationale Rechtsvorschrift bekannt, durch die die verbindliche Anwendung des ISM-Codes auf andere im Inlandverkehr eingesetzte Schiffe ausgeweitet wird.

3.3.3

Der ISM-Code ist für im Auslandverkehr eingesetzte Schiffe gedacht und daher für die Verwaltungen und Unternehmen nicht ohne Probleme umzusetzen; er ist für die Unternehmen und ihre Schiffe mit beträchtlichen Auflagen verbunden und erfordert sowohl die Einhaltung von internationalen Übereinkommen als auch die verstärkte Beachtung von Industrienormen. Außerdem gelten hinsichtlich der Sicherheitsbestimmungen für ausschließlich im Inlandverkehr eingesetzte Frachtschiffe die nationalen Rechtsvorschriften, und als Folge der vorgeschlagenen Maßnahme müssten diese Schiffe möglicherweise denselben Anforderungen genügen, wie sie für Frachtschiffe auf Auslandfahrt gelten.

3.3.4

Der EWSA, der u. a. für die Interessen der mittelständischen Unternehmen in Europa eintritt, ist darüber besorgt, dass der ISM-Code für kleine und mittlere Schifffahrtsunternehmen verbindlich werden soll, die ausschließlich im Inlandverkehr operieren. In Anbetracht der obigen Überlegungen sollten bei der vorgeschlagenen Verordnung der bürokratische Aufwand und die Kosten berücksichtigt werden, die seine Anwendung auf die Schiffe derartiger Unternehmen mit sich bringt. Es könnte sich daher als notwendig erweisen, die Anwendung flexibel zu handhaben bzw. Ausnahmeregelungen vorzusehen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Artikel 3 — Anwendung

4.1.1

Der EWSA ist der Auffassung, dass für kleine Fracht- und Passagierschiffe, die im Inlandverkehr eingesetzt werden, aus Gründen der Praktikabilität Ausnahmeregelungen notwendig werden könnten, insbesondere wenn diese Schiffe vom Eigner selbst oder unter seiner direkten Aufsicht betrieben werden.

4.2   Artikel 4 — Anforderungen an die Organisation von Sicherheitsmaßnahmen

4.2.1

Als implizite Folge müssen die vorgenannten Schiffe möglicherweise die Anforderungen erfüllen, die für Schiffe auf Auslandfahrt gelten. Der EWSA ist der Auffassung, dass in der Verordnung klar die Grundanforderungen des ISM-Codes festgeschrieben werden sollten, die für derartige Schiffe gelten sollen.

4.3   Artikel 5 — Zeugnisse

4.3.1

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, dass das Verfahren für die Ausstellung von Zeugnissen strikt eingehalten werden muss, was das Hauptargument für die vorgeschlagene Verordnung ist.

4.3.2

Zu den Absätzen 2 und 6 ist anzumerken, dass das Zeugnis über die Erfüllung der einschlägigen Vorschriften bzw. das Zeugnis über die Organisation von Sicherheitsmaßnahmen auch von einer anderen Organisation im Auftrag der Verwaltung eines Flaggenstaats ausgestellt werden kann.

4.3.3

Der Ausschuss vertritt den Standpunkt, dass Artikel 5 Absatz 4 und 9 klarer formuliert und mit den Bestimmungen des ISM-Codes in Einklang gebracht werden müssen, da sie unnötige Beschränkungen auferlegen und Verwirrung stiften.

4.4   Artikel 7 — Verfahren bei Schutzmaßnahmen

4.4.1

In das Verfahren bei Schutzmaßnahmen ist nicht — wie dies eigentlich der Fall sein sollte — der Mitgliedstaat oder der Flaggenstaat eingebunden, der das Zeugnis über die Erfüllung der einschlägigen Vorschriften ausgestellt hat und möglicherweise die Gültigkeit des Zeugnisses aussetzen oder aufheben muss.

4.5   Artikel 9 — Berichterstattung

4.5.1

In diesem Artikel wird zwar auf ein von der Kommission zu erstellendes Muster hingewiesen, jedoch nicht festgelegt, worüber berichtet werden soll. Es sollte klargestellt werden, was Gegenstand dieser Berichterstattung sein soll: die Einhaltung der Verordnung und speziell der Verfahrensweisen für die Ausstellung von Zeugnissen durch die Mitgliedstaaten oder die Erfüllung der einschlägigen Vorschriften durch die Unternehmen und deren Schiffe, was auf dem Wege der Flaggen- und Hafenstaatkontrolle überprüft werden könnte.

4.6   Artikel 13 — Inkrafttreten

4.6.1

Im Einklang mit den Bemerkungen zu den Artikeln 3 und 4 hält der EWSA die einjährige Übergangsfrist für Frachtschiffe und Passagierschiffe, die ausschließlich im Inlandverkehr eingesetzt werden, für angemessen.

5.   Schlussfolgerungen

5.1

Der EWSA befürwortet die volle Umsetzung des ISM-Codes und der einschlägigen IMO-Leitlinien in EU-Recht durch die vorgeschlagene neue Verordnung, die die Verordnung (EG) Nr. 3051/95 ersetzen soll. In der Praxis könnte die Ausweitung des Anwendungsbereichs der vorgeschlagenen Verordnung jedoch nur einen begrenzten zusätzlichen Nutzen bringen, da die im Inlandverkehr eingesetzten Frachtschiffe und Ro-Ro-Fahrgastfährschiffe bereits den ISM-Code erfüllen müssen.

5.2

Der EWSA stellt fest, dass die Erfahrungen, die im Rahmen der Umsetzung des ISM-Codes seit der ersten Phase im Jahr 1998 gesammelt wurden, die Stärken und Schwächen des Codes haben erkennen lassen. Alle an der Umsetzung des ISM-Codes beteiligten Akteure der maritimen Verbundwirtschaft sollten sich voll und ganz über die Ziele des Codes im Klaren sein, da dieser ansonsten zur bloßen Makulatur werden könnte. Dies gilt umso mehr für Unternehmen und Schiffe, die bislang nicht unter die Bestimmungen des ISM-Codes fielen.

5.3

Die vorgeschlagene Ausdehnung des ISM-Codes auf alle im Inlandverkehr eingesetzten Schiffe muss noch einmal im Sinne einer stärkeren Flexibilisierung überdacht werden. Denn möglicherweise müssten neu aufgenommene Schiffstypen — unbeabsichtigter- und unangemessenerweise — die für Schiffe im Auslandverkehr geltenden Vorschriften erfüllen, was vermutlich unerschwingliche Kosten verursachen dürfte, insbesondere in den Fällen, in denen Schiffe vom Eigner selbst oder unter seiner direkten Aufsicht betrieben werden. Das im Verordnungsvorschlag vorgesehene Verfahren für die Ausstellung von Zeugnissen muss so abgestimmt sein, dass mittelständischen Unternehmen, die Schiffe im Inlandverkehr betreiben, keine unnötigen Beschränkungen auferlegt werden. Es könnte sich daher als notwendig erweisen, Ausnahmeregelungen vorzusehen oder — als Alternative — die Grundanforderungen des ISM-Codes festzuschreiben, die für derartige Schiffe gelten sollen.

Brüssel, den 30. Juni 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Verordnung (EG) Nr. 3051/95 des Rates vom 8. Dezember 1995 über Maßnahmen zur Organisation eines sicheren Schiffsbetriebs von Ro-Ro-Fahrgastfährschiffen, ABl. L 320 vom 30.12.1995, S. 14.

(2)  ABl. C 236 vom 11.9.1995, S. 42.

(3)  ABl. L 19 vom 24.1.1998, S. 35.

(4)  ABl. L 302 vom 6.12.2002, S. 3.


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/23


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verbesserung der Gefahrenabwehr in Häfen“

(KOM(2004) 76 endg. — 2004/0031 (COD))

(2004/C 302/06)

Der Rat beschloss am 24. Februar 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 80 Absatz 2 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 10. Mai 2004 an. Berichterstatterin war Frau Dr. BREDIMA-SAVOPOULOU.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 154 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

1.   Einleitung

1.1

Die Kommission hat mit ihrer Mitteilung (1) über die Verbesserung der Gefahrenabwehr im Seeverkehr und mit ihrem Vorschlag (2) für eine Verordnung über die Verbesserung der Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen Fragen der Sicherheit auf Schiffen und an der Schnittstelle zwischen Schiff und Hafen aufgegriffen und Vorschläge für konkrete Maßnahmen unterbreitet, die derzeit das Rechtsetzungsverfahren durchlaufen. Der Geltungsbereich der vorgeschlagenen Verordnung beschränkte sich jedoch auf den Teil des Hafens, der die Schnittstelle zwischen Hafen und Schiff bildet, d. h., den Terminal.

1.2

In seiner Stellungnahme (3) begrüßte der EWSA die vorgeschlagenen Maßnahmen und billigte die Absicht der Kommission als zweiten Schritt auf dem Weg zur Umsetzung zusätzlicher gemeinschaftlicher Maßnahmen, die sowohl den Hafen selbst als auch die Schnittstelle zwischen Hafen und Hinterland sichern sollen.

1.3

Der zweite, schwierigere Schritt der Kommissionsinitiative trägt der Tatsache Rechnung, dass angesichts der Anfälligkeit der Bereiche des Hafengebiets, die ein wesentliches Verbindungsglied in der gesamten Transportkette und den Passagierströmen darstellen, eine umfassende Politik der Hafensicherheit erforderlich ist.

2.   Der Vorschlag der Kommission

2.1

Der Vorschlag wird die mit der Verordnung über die Verbesserung der Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen ergriffenen Sicherheitsmaßnahmen ergänzen und dafür sorgen, dass letztlich der gesamte Hafen einheitlichen Sicherheitsregeln unterliegt. Mit der Richtlinie werden angemessene Gefahrenabwehrniveaus für die Gemeinschaftshäfen gewährleistet und die harmonisierte Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen, die das gesamte Hafengelände abdecken, sichergestellt.

2.2

Die Kommission weist darauf hin, dass trotz der angekündigten Maßnahmen in Form von freiwilligen Verhaltensregeln für die Gefahrenabwehr in Häfen, welche die IMO und IAO derzeit gemeinsam ausarbeiten, eine schnelle Einführung der erforderlichen Sicherheitsregeln nicht gesichert ist. Deswegen muss die EU selbst tätig werden, vorzugsweise in Form einer Richtlinie, um die nötige Flexibilität zu ermöglichen.

2.3

Die vorgeschlagene Richtlinie ermöglicht es, dass bestehende Regeln zur Gefahrenabwehr im Hafen, welche die Grundsätze und Rahmenanforderungen der Richtlinie erfüllen, beibehalten werden. Konkret wird in der Richtlinie verlangt, dass Risikobewertungen vorgenommen, Gefahrenstufen definiert, Pläne zur Gefahrenabwehr erstellt und angenommen, für die Gefahrenabwehr im Hafen zuständige Behörden und Beauftragte be- bzw. ernannt, Ausschüsse für die Gefahrenabwehr im Hafen eingesetzt werden und die Umsetzung der genannten Maßnahmen unterstützt wird.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die Ereignisse und Maßnahmen seit den Terroranschlägen vom 11. September haben die Vorhersage bestätigt, dass die Bekämpfung des Terrorismus ein langwieriges Unterfangen sein wird. Die tragischen Ereignisse am 11. März 2004 in Madrid haben die Anfälligkeit des gesamten Verkehrs- und Transportsystems für Terroranschläge deutlich gemacht und gezeigt, dass es absolute Sicherheit nicht geben kann. In seiner Sondierungsstellungnahme zum Thema „Verkehrssicherheit“ (4) und in der späteren Stellungnahme (5) zum Thema Gefahrenabwehr im Seeverkehr vertrat der EWSA die Auffassung, dass die EU international eine Führungsrolle bei der Entwicklung eines breiter angelegten Sicherheitsrahmens übernehmen sollte, bei dem auch die Ursachen des Terrorismusphänomens angegangen werden und nicht nur versucht wird, seine Auswirkungen zu beseitigen.

3.2

Sicherheit im Seeverkehr ist ein globales Problem, das weltweit und in der EU entsprechende Beachtung gefunden hat. Es ist jedoch so, dass die Gefahrenabwehr im Schienenverkehr weitgehend mit einzelstaatlichen Initiativen angestrebt wird, während der Terrorgefahr für den Straßen- und Binnenschiffstransport bisher relativ wenig Beachtung geschenkt wurde. Der EWSA weist darauf hin, dass solange die anderen Verkehrsträger nicht ihren Teil Verantwortung übernehmen, das „schwächste Glied“ der Kette Ziel der Terroristen sein wird, um in das System einzudringen. Es kann von den Häfen nicht erwartet werden, dass sie die Sicherheitslücken anderer Verkehrsträger schließen, und es wäre unfair, ihnen die finanziellen Belastungen aufzubürden.

3.3

Der EWSA bekräftigt seinen Standpunkt, dass Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung mit Maßnahmen zur Begegnung herkömmlicher Sicherheitsprobleme (organisierte Kriminalität, Piraterie, Betrug, Schmuggel und illegale Einwanderung) verknüpft werden sollten. Derartige Sicherheitsprobleme bestehen im gesamten Hafengebiet und hätten — wie vom EWSA gefordert — dringend aufgegriffen werden müssen. In diesem Zusammenhang bedauert der EWSA, dass einige Mitgliedstaaten der EU noch nicht Vertragsstaaten des Übereinkommens über die Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen und des dazugehörigen Protokolls sind, und weist auf die Notwendigkeit und Dringlichkeit der umgehenden Ratifizierung durch diese Mitgliedstaaten hin, was eine Stärkung der rechtlichen Mittel zur Terrorismusbekämpfung darstellen würde.

3.4

Der EWSA (6) hat die von der EU ergriffenen Maßnahmen zum Abschluss einer auf Gegenseitigkeit und Zusammenarbeit basierenden Vereinbarung mit den USA zur Gleichbehandlung aller aus der EU stammenden Frachten (Container) und zur Überführung/Einbeziehung der bilateralen Vereinbarungen in ein multilaterales Abkommen im Rahmen der Weltzollorganisation unterstützt. Ähnliche gegenseitige Vereinbarungen sollten auch mit anderen Regionen und Ländern angestrebt und durch ein System für den Informationsaustausch ergänzt werden. Erforderlichenfalls sollten die Abkommen auch die technische Zusammenarbeit und Finanzhilfe für Entwicklungsländer vorsehen, damit diese die Sicherheitsinfrastrukturen ihrer Häfen verbessern können.

3.5

Der Rahmen für die vorgeschlagenen Maßnahmen entspricht weitgehend dem für die Hafenanlagen (Terminals) aufgestellten. Als wesentlich neues Element wurde der geographische Geltungsbereich ausgedehnt, um das gesamte Hafengebiet, das von den Mitgliedstaaten im Einklang mit ähnlichen Maßnahmen der USA zu definieren sein wird. Der EWSA ist der Auffassung, dass diesem Zweck am besten durch Ausdehnung des Geltungsbereichs der Verordnung (EG) 725/2004 (7) gedient worden wäre. Der EWSA erkennt jedoch die Dringlichkeit einer schnellen Ausdehnung sämtlicher Sicherheitsregeln der oben genannten Verordnung auf das gesamte Hafengebiet sowie die Notwendigkeit an, den Mitgliedstaaten angesichts der großen Vielfalt an Häfen in der Gemeinschaft und der verschiedenen dort ausgeübten Tätigkeiten durch die Richtlinie die erforderliche Flexibilität einzuräumen, damit diese geeignete Maßnahmen ergreifen können. Diese Flexibilität darf aber keine großen Unterschiede bei den Maßnahmen in den Gemeinschaftshäfen hervorrufen, die dazu führen könnten, dass ausländische Häfen in Bezug auf die Entdeckung illegaler Einwanderer und Terroristen entweder als „sicher“ eingestuft oder als „unsicher“ auf die schwarze Liste gesetzt werden. Dies könnte zu Marktverzerrungen führen und die reibungslose Abwicklung des internationalen Handels gefährden.

3.6

Der EWSA bekräftigt seine Auffassung (8), dass das Mittelmeer im Zuge der EU-Erweiterung an Bedeutung gewinnt. Da es an Gebiete angrenzt, von denen mögliche Sicherheitsprobleme ausgehen könnten, wird eine Mittelmeerdimension der Politik für die Sicherheit im Seeverkehr immer wichtiger. Der EWSA hat die Entwicklung eines Europa-Mittelmeer-Verkehrsnetzes und die Aufnahme der Sicherheit im Seeverkehr in die gemeinsamen verkehrspolitischen Ziele begrüßt (9). Er teilt die Auffassung, dass die Mittelmeer-Partnerländer zu einer verstärkten Gefahrenabwehr auf internationaler Ebene beitragen müssen, wobei die Errichtung eines Europa-Mittelmeer-Instituts für technische Sicherheit als erster Schritt in diese Richtung gesehen wurde.

3.7

In ihrer derzeitigen Form zielt die Richtlinie im Wesentlichen auf verwaltungstechnische Aspekte ab. In der Richtlinie werden keine harmonisierten Verfahren zur Anwendung der in den Anlagen genannten Details definiert, vielmehr ist die Möglichkeit späterer Anpassungen vorgesehen. Der EWSA ist sich über die Dringlichkeit der Ausdehnung der Gefahrenabwehr über die Schnittstelle Schiff/Hafen hinaus im Klaren, unterstreicht jedoch, dass es umsichtiger gewesen wäre, wenn man eine Bestandsaufnahme der auf diesem Gebiet auf internationaler Ebene bisher erzielten Fortschritte, insbesondere der im Rahmen der IMO, IAO und Weltzollorganisation erreichten Ergebnisse, vorgenommen und gleich klare Leitlinien für die Umsetzung der entsprechenden Ziele vorgegeben hätte.

3.8

Der EWSA stellt fest, dass die Richtlinie keine neuen Verpflichtungen auf Gebieten schafft, die bereits unter die Verordnung (EG) Nr. 725/2004 (10) fallen oder die für das gesamte Hafengebiet gelten. Er möchte jedoch bei dieser Gelegenheit das Grundprinzip bekräftigen, dass Maßnahmen zur Gefahrenabwehr in Häfen in Bezug auf die damit verfolgten Ziele, die dafür anfallenden Kosten und die Auswirkungen auf die Verkehrs- und Handelsströme ausgewogen sein müssen. Ihre Notwendigkeit ist daher sorgfältig abzuwägen und es muss geprüft werden, ob sie realistisch und praktisch durchführbar sind. Die Maßnahmen müssen mit den Grundrechten und insbesondere mit den Grundsätzen der Grundrechtscharta der Europäischen Union in Einklang stehen, damit weder die Menschenrechte der Bürger noch die verfassungsmäßige Ordnung beeinträchtigt werden, was ja den Absichten von Terroristen dienlich wäre. Aus diesem Grund gilt es, folgende Dinge zu vermeiden:

Die Umleitung zugunsten bestimmter Häfen (wegen besserer Sicherheitsmaßnahmen) auf Kosten anderer Häfen. Besonders kleinere Häfen würden unter einer solchen Verlagerung leiden. Maßnahmen der Gefahrenabwehr dürfen nicht zu einer Frage des Wettbewerbs zwischen Häfen werden.

Einen unverhältnismäßig hohen bürokratischen Aufwand oder Kosten für den Sektor.

Ein Gefälle zwischen der Sicherheit von Schiffen und der Sicherheit im Hafen, das Schiffe und deren Betreiber zu zusätzlichen Maßnahmen der Gefahrenabwehr am Kai zwingen würde, um dieses Gefälle auszugleichen. Häfen sollten nicht übergebührlich mit den Kosten für die Umsetzung der Sicherheitsmaßnahmen belastet und andere Verkehrsträger dadurch begünstigt werden.

Eine unverhältnismäßig aufwendige technische Ausrüstung, hinter der bestimmte geschäftliche Interessen stehen könnten.

3.9

Die mit den zusätzlichen Maßnahmen zur Sicherung des gesamten Hafengebiets, sprich Zugangsbeschränkungen, Fracht- und Gepäckkontrolle und die Identitätskontrolle von Personen, einhergehenden Kosten werden für die meisten Häfen um ein Vielfaches steigen, denn mit dem erweiterten Anwendungsbereich der Sicherheitsmaßnahmen sind zusätzliche Vorkehrungen in Bezug auf die Infrastruktur, Ausrüstung, Arbeitskräfte und Schulung verbunden. Unter Verweis auf seine früheren Stellungnahmen zur Frage der Finanzierung der Kosten für die Gefahrenabwehr fordert der EWSA die Kommission nochmals auf, eine EU-Regelung für die Finanzierung der Umsetzung der Maßnahmen auszuarbeiten. Der EWSA hat insbesondere darauf hingewiesen, dass zwar ein Teil der erhöhten Kosten auf die Kunden abgewälzt werden wird, „doch auch die Staaten einen Teil der Kosten zur Terrorismusbekämpfung übernehmen sollten, da der Terror eine Reaktion auf die Politik der Regierungen ist“. Darüber hinaus ersucht der EWSA die Kommission erneut, eine Gesamtfolgenabschätzung über die finanziellen Auswirkungen der Maßnahmen für mehr Sicherheit im Seeverkehr zu erstellen, und schließt sich der ähnlich lautenden Forderung des EP an.

3.9.1

Seehäfen sind für die betreffenden Staaten wichtige nationale Einrichtungen. Maßnahmen zur Sicherung des gesamten Hafengeländes können deshalb als Leistungen von allgemeinem öffentlichen Interesse angesehen werden. Eine öffentliche Finanzierung solcher Maßnahmen fiele daher nicht unter die Vorschriften des EU-Vertrags über staatliche Beihilfen. Da die Mitgliedstaaten jedoch selbst entscheiden können, ob sie solche Maßnahmen mit öffentlichen Geldern unterstützen wollen oder nicht, sollte hier ein harmonisiertes Konzept auf EU-Ebene ausgearbeitet werden, um Wettbewerbsverzerrungen vorzubeugen. Dieses Konzept, das auch die Finanzierung der Maßnahmen zur Gefahrenabwehr in Hafenanlagen berücksichtigt, sollte sich auf folgende Grundsätze stützen:

Die Kosten für Maßnahmen der Hafensicherheit, die in Umsetzung der Richtlinie über Gefahrenabwehr im Hafen ergriffen werden, sind von allgemeinem öffentlichen Interesse und sollten aus öffentlichen Mitteln der Mitgliedsstaaten oder der EU finanziert werden.

Die Kosten für Maßnahmen der Sicherheit in Hafenanlagen, die in Umsetzung der Verordnung über Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen ergriffen werden, sollten wie folgt finanziert werden:

a)

Alle von der zuständigen Behörde getätigten Aufwendungen (Bewertungen, Genehmigung von Bewertungen, Genehmigung von Plänen, Prüfungsberichten, Konformitätserklärungen) sollten aus öffentlichen Mitteln der Mitgliedsstaaten oder der EU finanziert werden.

b)

Wiederkehrende Gemeinkosten zur Kontrolle und Prüfung der Sicherheitspläne für Hafenanlagen sollten aus öffentlichen Mitteln der Mitgliedsstaaten oder der EU finanziert werden.

c)

Alle anderen Aufwendungen für die Sicherheit im Zusammenhang mit Hafenanlagen sollten nach transparenten Kriterien an die Nutzer dieser Anlagen weitergegeben werden.

3.9.2

Die Kosten für die Hafensicherheit lassen sich äußerst schwer abschätzen. Allerdings wird davon ausgegangen, dass sie aus geographischen Gründen aufgrund der größeren Anzahl an Häfen in Europa vergleichsweise höher ausfallen als in den USA. Es wird erwartet, dass die Kosten für die Umsetzung der Maßnahmen für Großhäfen (11) und für kleinere Häfen enorm sein werden.

3.10

Wenn nicht umgehend auf die neuen Realitäten des Terrorismus reagiert wird, könnte es zu milliardenteuren Hafenstilllegungen kommen. Das Sicherheitsrisiko kann also zu einem nichttarifären Handelshemmnis geraten.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Häfen sind im Allgemeinen flächen- und verwaltungsmäßig gut definierte Bereiche, in denen verschiedene Tätigkeiten nebeneinander existieren. Normalerweise umfassen die Grenzen eines Hafens die Hafenanlagen und nicht umgekehrt, wie sich aus Artikel 2.4 und aus der Definition von „Hafen“ oder „Seehafen“ nach Artikel 3 ergibt. Der Definition zufolge ist das Hafengelände offenbar kleiner als das Gelände der „Hafenanlage“, das zusätzlich Bereiche wie Reeden, Warteplätze und seewärtige Hafenzufahrten umfasst. Deswegen muss in Artikel 2.4 eine Klärung des Begriffs „Vorrang“ vorgenommen werden.

4.2

Zunächst einmal muss der Plan zur Gefahrenabwehr im Hafen, der ja ein Leitplan ist, mit den Entscheidungen vereinbar sein, die im Zuge der Umsetzung des ISPS-Codes und der Verordnung (EG) 725/2004 (12) über die Kriterien für Hafenanlagen bereits getroffen wurden. Er muss die abgestimmten Sicherheitspläne für die innerhalb der Hafengrenzen liegenden Hafenanlagen einschließen. Die untergeordneten Hafenanlagen sollten als Bereiche des Hafens gelten und ihre Sicherheitspläne damit Teil des Gesamtplans zur Gefahrenabwehr im Hafen sein. Gegebenenfalls müssen sie aufeinander und mit den umfassenderen Zielen des Gesamtplans abgestimmt werden. Die Verfügungsgewalt und Verantwortung sollte daher letztlich bei der für die Gefahrenabwehr im Hafen zuständigen Behörde liegen.

4.3

Die beratende Rolle des Ausschusses für Gefahrenabwehr im Hafen wird die wirksame Umsetzung des Plans zur Gefahrenabwehr im Hafen verbessern. Der EWSA geht davon aus, dass die Ausschüsse von den zuständigen Behörden für die Gefahrenabwehr eingesetzt werden und zwar auch zur Definition der einzelnen Teilelemente des Plans zur Gefahrenabwehr im Hafen. Der EWSA unterstützt die Mitwirkung von Vertretern der Seeleute und der Hafenarbeiter in den Ausschüssen für Gefahrenabwehr, um zu praktischen Lösungen zu gelangen.

4.4

Es muss vermieden werden, dass Frachtgut und Passagiere doppelt kontrolliert werden, einmal bei Eintritt in das Hafengelände und schließlich noch einmal bei Eintritt in die eigentlichen Hafenanlagen. Außerdem sollte die Bewegungsfreiheit von Schiffsbesatzungen, Besuchern und Personen, die das Schiff beliefern, nach praktischen Gesichtspunkten gehandhabt werden.

4.5

Inspektionen zur Kontrolle der Durchführung der Maßnahmen zur Gefahrenabwehr, die in einem Mitgliedsstaat durch Sicherheitsbeauftragte eines anderen Mitgliedsstaats vorgenommen werden, müssen unter der Verantwortung der Kommission durchgeführt werden. (Artikel 17.2 und 14.3).

5.   Schlussfolgerungen

5.1

Die tragischen Ereignisse vom 11. März in Madrid bestätigten die Befürchtungen, dass das gesamte Verkehrs- und Transportsystem für Terroranschläge anfällig ist und es keine absolute Sicherheit gibt.

5.2

Der EWSA weist darauf hin, dass wenn nicht alle Verkehrsträger ihren Teil der Verantwortung übernehmen, das „schwächste Glied“ der Kette bevorzugtes Ziel von Terroristen sein wird, um in das System einzudringen. Es kann nicht von den Häfen erwartet werden, dass sie die Sicherheitslücken anderer Verkehrsträger schließen, und es wäre unfair, ihnen finanzielle Belastungen aufzubürden.

5.3

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass in einer unsicheren Welt eine polizeiliche Strategie kein zuverlässiger Ansatz ist. Daher sollte die EU eine internationale Führungsrolle bei der Entwicklung eines breiter angelegten Sicherheitsrahmens übernehmen, bei dem auch die Ursachen der Terrorismusphänomens angegangen werden und nicht nur versucht wird, seine Auswirkungen zu beseitigen.

5.4

Der EWSA unterstützt voll und ganz die vorgeschlagene Richtlinie zur Durchführung von Maßnahmen der Gefahrenabwehr im gesamten Hafengebiet. Die Flexibilität, die den Mitgliedstaaten im Rahmen der vorgeschlagenen Richtlinie eingeräumt wird, darf nicht dazu führen, dass ausländische Häfen als „sicher“ eingestuft oder als „unsicher“ auf die schwarze Liste gesetzt werden, da dies zu Marktverzerrungen führen und die reibungslose Abwicklung des internationalen Handels gefährden könnte.

5.5

Der EWSA bekräftigt seinen Standpunkt, dass Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung mit Maßnahmen zur Bekämpfung herkömmlicher Sicherheitsprobleme (organisierte Kriminalität, Piraterie, Betrug, Schmuggel und illegale Einwanderung) verknüpft werden müssen.

5.6

Seehäfen sind für die betreffenden Staaten wichtige nationale Einrichtungen. Maßnahmen zur Sicherung des gesamten Hafengeländes können deshalb als Leistungen von allgemeinem öffentlichen Interesse angesehen werden. Eine öffentliche Finanzierung solcher Maßnahmen fiele daher nicht unter die Vorschriften des EU-Vertrags über staatliche Beihilfen. Auf EU-Ebene sollte ein harmonisiertes Verfahren der Mitgliedstaaten zur Gewährung öffentlicher Beihilfen auf diesem Gebiet ausgearbeitet werden, um Wettbewerbsverzerrungen vorzubeugen. Der EWSA fordert die Kommission nochmals auf, eine EU-Regelung für die Finanzierung der Umsetzung der Maßnahmen im Bedarfsfalle auszuarbeiten. Der EWSA ist der Auffassung, dass die finanzielle Seite der Hafensicherheit eine wichtige Frage des internationalen Handels ist und dringlichst von der EU behandelt werden sollte.

5.7

Die Maßnahmen zur Gefahrenabwehr im Hafen müssen mit den Grundrechten und insbesondere mit den Grundsätzen der Grundrechtscharta der Europäischen Union in Einklang stehen, damit weder die Menschenrechte der Bürger noch die verfassungsmäßige Ordnung beeinträchtigt werden.

5.8

Der EWSA unterstreicht die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Mittelmeerdimension bei der EU-Politik zur Gefahrenabwehr im Hafen, die im Zuge der EU-Erweiterung zentrale Bedeutung annimmt.

Brüssel, den 30. Juni 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  KOM(2003) 229 endg. — 2003/0089 (COD).

(2)  KOM(2003) 229 endg. — 2003/0089 (COD).

(3)  ABl. C 32 vom 5.2.2004, S. 21.

(4)  ABl. C 61 vom 14.3.2003, S. 174.

(5)  ABl. C 32 vom 5.2.2004, S. 21.

(6)  ABl. C 61 vom 14.3.2003, ABl. C 32 vom 5.2.2004, S. 21.

(7)  ABl. L 129 vom 29.4.2004, S. 6.

(8)  ABl. C 32 vom 5.2.2004, S. 21.

(9)  ABl. C 32 vom 5.2.2004, S. 21 und KOM(2003) 376 endg.

(10)  ABl. L 129 vom 29.4.2004, S. 6.

(11)  Ein Containerscanner im Hafen von Rotterdam kostet 14 Mio. EUR: ABl. C 32 vom 5.2.2004.

(12)  ABl. L 129 vom 29.4.2004, S. 6.


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/27


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Fusionsenergie“

(2004/C 302/07)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 29. Januar 2004, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Fusionsenergie“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 10. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr WOLF.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 141 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

Die vorliegende Stellungnahme ergänzt frühere energie- und forschungspolitische Stellungnahmen des Ausschusses. Sie befasst sich mit der Entwicklung von Reaktoren zur Nutzung der Fusionsenergie und mit deren erwarteten vorteilhaften Sicherheits- und Umweltaspekten. Dies geschieht vor dem Hintergrund der globalen Energiefrage. Die dazu erforderlichen F&E-Arbeiten werden kurz umrissen und bewertet. Die Stellungnahme betrifft auch die europäische Position bei den gegenwärtigen Verhandlungen über den Standort von ITER.

Inhaltsverzeichnis

1.

Die Energiefrage

2.

Kernenergie — Kernspaltung (Fission) und Kernverschmelzung (Fusion)

3.

Bisherige Entwicklung

4.

Der weitere Weg zum Fusionskraftwerk

5.

Die Standortfrage ITER

6.

Zusammenfassung und Empfehlungen des Ausschusses

1.   Die Energiefrage

1.1

Nutzbare Energie (1) ist die Grundlage unserer heutigen Lebensweise und Kultur. Erst ihre ausreichende Verfügbarkeit führte zum gegenwärtigen Lebensstandard: Lebenserwartung, Nahrungsversorgung, allgemeiner Wohlstand und persönlicher Freiraum haben in den großen und aufstrebenden Industrienationen ein nie zuvor gekanntes Niveau erreicht. Ohne ausreichende Energieversorgung wären diese Errungenschaften gefährdet.

1.2

Die Notwendigkeit einer gesicherten, preisgünstigen, umweltfreundlichen und nachhaltigen Versorgung mit nutzbarer Energie steht im Schnittpunkt der Ratsbeschlüsse von Lissabon, Göteborg und Barcelona. Dementsprechend verfolgt die Europäische Union in der Energiepolitik drei eng verknüpfte und gleich wichtige Ziele, nämlich Schutz und Verbesserung der (1) Wettbewerbsfähigkeit, (2) Versorgungssicherheit und (3) Umwelt, alle zusammen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung.

1.3

Der Ausschuss hat in mehreren Stellungnahmen festgestellt, dass der Erreichung dieser Ziele allerdings schwerwiegende Hindernisse entgegenstehen, und er hat sich bereits mehrfach mit dem daraus resultierenden Energieproblem, seinen verschiedenen Aspekten und möglichen Lösungswegen befasst (2). Hervorzuheben sind hier die Stellungnahmen des Ausschusses zum Grünbuch der Kommission „Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit“ (3) sowie zu „Forschungsbedarf im Hinblick auf eine sichere und nachhaltige Energieversorgung“ (4).

1.4

Bereits dort hat der Ausschuss betont, dass Bereitstellung und Nutzung von Energie mit Umweltbelastungen, Risiken, Ressourcenerschöpfung sowie problematischen außenpolitischen Abhängigkeiten und Unwägbarkeiten verbunden sind, und dass die wichtigste Maßnahme zur Verringerung des Versorgungsrisikos und anderer Risiken in einer möglichst vielseitigen und ausgewogenen Nutzung aller Energiearten und -formen besteht, einschließlich aller Anstrengungen zur Einsparung und zum rationellen Umgang mit Energie. Dort findet sich auch eine kurze Darstellung (5) der Vor- und Nachteile der einzelnen Verfahren, auf deren Wiederholung hier aus Platzgründen verzichtet werden muss.

1.5

Keine der Optionen und Techniken, die einen Beitrag zur zukünftigen Energieversorgung leisten können, ist technisch perfekt, gänzlich frei von störenden Einflüssen auf die Umwelt, für alle Bedürfnisse ausreichend und in ihrem Potenzial genügend langfristig überschaubar. Darum kann sich eine vorausschauende und verantwortungsbewusste europäische Energiepolitik auch nicht darauf verlassen, dass eine im Sinne der oben genannten Ziele ausreichende Energieversorgung durch alleinige Nutzung nur einiger weniger Energieträger garantiert werden kann. Dies gilt auch angesichts der Notwendigkeit zur Energieeinsparung und rationellen Energienutzung.

1.6

Eine langfristig verfügbare, umweltschonende und ökonomisch kompatible Energieversorgung ist also weder in Europa noch global sichergestellt (6). Der Schlüssel zu möglichen Lösungen kann nur aus weiterer intensiver Forschung und Entwicklung kommen. Energieforschung (7) ist das strategische Element und die notwendige Grundlage jeder langfristig erfolgreichen Energiepolitik. In der zitierten Stellungnahme hat der Ausschuss dazu ein konsistentes Europäisches Energieforschungsprogramm empfohlen, von dem zwar wesentliche Teile bereits im Sechsten F&E-Rahmenprogramm bzw. im Euratom Forschungs- und Ausbildungsprogramm enthalten sind, während jedoch der zugeordnete F&E-Aufwand deutlich erhöht werden sollte.

1.7

Zudem hat der Ausschuss darauf hingewiesen, dass die Untersuchung des Energieproblems globaler orientiert sein und einen wesentlich größeren Zeitraum umfassen sollte, da die Veränderungen in der Energiewirtschaft nur langsam verlaufen, da die Emission von Klimagasen kein regionales sondern ein globales Problem darstellt, und da erwartet werden muss, dass sich die Problemlage in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts weiter zuspitzen wird.

1.8

Sowohl die ressourcenseitigen Beschränkungen als auch die Emissionsproblematik (Treibhausgase) werden zusätzlich durch die Prognose erschwert, dass sich der Weltenergiebedarf, bedingt durch das Bevölkerungswachstum und den Nachholbedarf der weniger entwickelten Länder, bis zum Jahr 2060 voraussichtlich verdoppeln oder gar verdreifachen wird. Strategie und Entwicklungsperspektive müssen somit über diesen Zielhorizont hinaus ausgerichtet werden.

1.9

Auch in seiner kürzlichen Stellungnahme zur nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen hat der Ausschuss erneut darauf hingewiesen, dass eine Nachhaltigkeitsstrategie einen deutlich längeren Zeitraum einbeziehen muss.

1.10

Wie der Ausschuss ebenfalls bereits festgestellt hat, werden die obigen Aussagen jedoch in der Wahrnehmung durch die Bürger und in der öffentlichen Diskussion nicht ausreichend erfasst. Vielmehr gibt es eine zwischen Unter- und Überschätzung von Risiken und Chancen aufgespannte Bandbreite von Meinungen. Deren Spektrum reicht von der Ansicht, es gäbe gar kein Energieproblem, bisher wäre immer noch alles gut gegangen und bei Bedarf würde man jeweils neue Lagerstätten erschließen (da schon seit Jahrzehnten z. B. Waldsterben vorhergesagt würde oder behauptet würde, dass die Öl- und Gas-Vorräte nur noch 40 Jahre reichen), bis hin zu dem Glauben, der gesamte Weltenergiebedarf ließe sich leicht durch erneuerbare Energieträger befriedigen, wenn nur alle Forschungsmittel darauf konzentriert würden und die Gesellschaft sich entsprechend anpasse.

1.11

Demzufolge gibt es auch noch keine ausreichend einheitliche globale Energiepolitik, und selbst innerhalb der Mitgliedstaaten der Union bestehen deutliche Unterschiede in ihrer Haltung zum Energieproblem.

2.   Kernenergie — Kernspaltung (Fission) und Kernverschmelzung (Fusion)

2.1

Sowohl Kernspaltung (Fission) sehr schwerer Atomkerne als auch Kernverschmelzung (Fusion) sehr leichter Atomkerne sind Prozesse, bei denen — gemessen am benötigten Massenumsatz — Energiemengen freigesetzt werden, welche die bei chemischen Prozessen freigesetzten Energiemengen um etwa den Faktor eine Million übertreffen.

2.2

Zunächst war entdeckt worden (um 1928), dass Kernfusion die vordem unerklärbare Energiequelle der Sonne und der meisten Sterne ist. Damit ist Fusionsenergie über die Sonnenstrahlung also auch die unser Leben — unter anderem das Wachstum von Pflanzen, die Entstehung der fossilen Energieträger wie auch die Gewinnung regenerativer Energieformen — bestimmende Energiequelle.

2.3

Sobald dann zudem Kernspaltung (1938) entdeckt und ihr Potenzial als gewaltige irdische Energiequelle auch für friedliche Zwecke erkannt worden war, entstand eine hoffnungsvolle und dynamische Entwicklung zu ihrer Nutzung.

2.4

In deren Verlauf hat sich gezeigt, dass man mit Kernspaltung erstaunlich schnell zum Ziel gekommen ist, während die Hoffnung auf eine praktisch unbegrenzte irdische Energiequelle aus Kernfusion noch nicht abschließend verwirklicht werden konnte.

2.5

Die konkrete Nutzung beider Formen der Kernenergie gilt dem Ziel, (i) Elektrizität ohne Emission von Treibhausgasen zu erzeugen und zudem (ii) den Verbrauch der für den Verkehrssektor als Treibstoffe wichtigen Kohlenwasserstoffe (Erdöl und Ergas) zu schonen, deren Verbrennung im Vergleich zu Kohle weniger CO2 erzeugt, und die deswegen zunehmend auch für die Elektrizitätserzeugung in Betracht gezogen bzw. bereits genutzt werden (8).

2.6

Funktionsweise, Betriebsbedingungen, Umwelt- und Sicherheitsaspekte, Ressourcenreichweite und -verfügbarkeit etc. der Prozesse Kernspaltung und Kernfusion unterscheiden sich grundlegend; in allen diesen Kategorien hätte Kernfusion nämlich prinzipbedingte Vorteile (siehe Punkt 2.11 und folgende).

2.7

Kernspaltung. Kernspaltung wird seit Jahrzehnten zur Energiegewinnung genutzt. Kernspaltungskraftwerke haben bereits einen bedeutenden Beitrag geleistet, um die Emission von Treibhausgasen (CO2) zu vermeiden und die mit dem Verbrauch/Import von Öl oder Gas verbundenen Abhängigkeiten zu mildern. Darum ist die Diskussion über Kernenergie insbesondere auch im Zusammenhang mit der Senkung der CO2-Emissionen und den dafür vorgesehenen Instrumenten (Anreizen/Pönalen) wieder aufgenommen worden. Sie wurde vom Ausschuss erst kürzlich in einer eigenen Stellungnahme behandelt (9).

2.8

Als Brennstoffe der Kernspaltung dienen Isotope (10) der besonders schweren Elemente des Periodensystems, nämlich des Thoriums, des Urans und des Plutoniums. Die bei der Kernspaltung freigesetzten Neutronen induzieren in den Atomkernen dieser Materialien neue Spaltprozesse, sodass eine mit Energiegewinn verbundene Kettenreaktion ablaufen kann, deren Ausmaß geregelt werden muss. Dabei entstehen radioaktive — zum Teil sehr langlebige — Spaltprodukte und Aktiniden, die für Jahrtausende von der Biosphäre ferngehalten werden müssen. Dies ruft Besorgnisse hervor und bewegt einen Teil der Bürger dazu, die Nutzung der Kernenergie generell abzulehnen. Zudem entstehen gleichzeitig neue spaltbare Stoffe wie Plutonium (aus 238Uran), welche als potenzielles Kernwaffenmaterial der Kontrolle unterliegen.

2.9

Kernspaltungsreaktoren arbeiten nach dem Prinzip eines Meilers. Dabei ist der Kernbrennstoff-Vorrat von einigen Jahren (im Kraftwerk von der Größenordnung 100 Tonnen) im Reaktionsvolumen eingeschlossen, und durch Regelprozesse wird die jeweils erforderliche Anzahl von Spaltreaktionen zugelassen, um die gewünschte Leistung freizusetzen. Trotz der ausgereiften Regelungstechniken für diese Abläufe und für die Gewährleistung der Sicherheit vergrößert die schiere Quantität der gespeicherten Energie diese Besorgnisse noch weiter. Hinzu kommt, dass erhebliche Nachwärme entsteht, weswegen bei den meisten Reaktortypen nach Abschalten des Reaktors noch eine längere Zeit intensiv gekühlt werden muss, um eine Überhitzung der Umhüllungen zu vermeiden.

2.10

Bezug nehmend auf solche Besorgnisse hat der Ausschuss bereits in seiner kürzlichen diesbezüglichen Stellungnahme (11) darauf hingewiesen, dass auf dem Gebiet der Kernspaltungstechnik inzwischen die vierte Generation von Kernkraftwerken entwickelt wird. Bei diesen wird der hohe Standard gegenwärtiger Anlagen im Hinblick auf passive Sicherheit noch weiter optimiert.

2.11

Kernfusion. Gemessen am benötigten Massenumsatz ist Kernfusion der wirksamste auf der Erde potenziell nutzbare Energieprozess. Fusionsreaktoren sind Apparate zur kontrollierten Erzeugung von Fusionsprozessen und zur Nutzung der dabei freigesetzten Energie, und zwar als kontinuierlich (12) arbeitende Kraftwerke für Elektrizität, vorzugsweise im Grundlastbereich. Als Brennstoffe werden die schweren Isotope des Wasserstoffs (siehe unten) dienen. Helium, ein unschädliches Edelgas (13) mit nützlichen Verwendungen, ist die „Asche“ des Fusionsreaktors.

2.12

Allerdings werden bei der Fusionsreaktion — welche nur stattfindet, wenn die Reaktionspartner mit sehr hoher Geschwindigkeit (14) aufeinender treffen — zusätzlich Neutronen freigesetzt, welche in den Wandmaterialien des Reaktors Radioaktivität erzeugen (und deren mechanische Eigenschaften verändern können). Darum ist es ein Ziel des entsprechenden F&E-Programms, Materialien zu entwickeln, deren Radiotoxizität (15) bereits nach hundert Jahren bis allenfalls einigen hundert Jahren auf dem Umfang der Radiotoxizität von Kohleasche absinken wird und somit u. a. die Möglichkeit eröffnen könnte, einen großen Teil dieser Materialien wieder zu verwenden. Das Endlagerproblem wäre damit entscheidend entschärft.

2.13

Die wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für die Gewinnung von Fusionsenergie sind außerordentlich anspruchsvoll. Im Wesentlichen geht es dabei um die schwierige Aufgabe, ein aus Isotopen des Wasserstoffs (nämlich einem Deuterium-Tritium Gemisch) bestehendes Gas auf Temperaturen von über 100 Millionen Grad zu erhitzen (dabei wird es zum Plasma (16)), damit die stoßenden Kerne genügend hohe Geschwindigkeit besitzen, um die gewünschten Fusionsprozesse zu ermöglichen. Zudem muss es gelingen, dieses Plasma genügend lange zusammenzuhalten sowie die dabei entstehende Fusionsenergie auszukoppeln und der Nutzung zuzuführen.

2.14

Diese Prozesse laufen in der Brennkammer des Fusionsreaktors ab, wobei der Energievorrat des dort kontinuierlich eingeblasenen Brennstoffs (im Kraftwerk von der Größenordnung wenige Gramm) ohne Nachfuhr jeweils nur für einige Minuten Leistungsabgabe reicht, so dass keine unerwünschten Leistungsexkursionen möglich sind. Zudem: gerade die Tatsache, dass jeder Fehler zur Abkühlung und zum Erlöschen des „thermonuklearen“ Brennvorgangs (17) führt, ist ein weiterer inhärenter Sicherheitsvorteil.

2.15

Diese inhärenten Sicherheitsaspekte, die Möglichkeit, langlebigen radiotoxischen Abfall drastisch zu verringern — wobei Spaltprodukte sowie die langlebigen und besonders gefährlichen Komponenten (Aktiniden) bei der Fusion gar nicht vorkommen — und der nahezu unbeschränkte Vorrat an Ressourcen würden die Nutzung der Fusionsenergie daher zu einem sehr attraktiven und maßgeblichen Bestandteil zukünftiger nachhaltiger Energieversorgung machen und auf diese Weise zur Lösung gegenwärtiger Probleme beitragen.

2.16

Dementsprechend hatte der Ausschuss schon in bisherigen Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass die auf Nutzung der Fusionsenergie ausgerichteten F&E-Arbeiten ein sehr wichtiges Element zukünftiger Energiepolitik sind, einen beispielhaften Erfolg Europäischer Integration darstellen und deshalb in den europäischen F&E-Rahmenprogrammen bzw. Euratom-Forschungs- und Ausbildungsprogrammen mit Nachdruck gefördert werden sollen.

3.   Bisherige Entwicklung

3.1

Erste Überlegungen zur friedlichen Nutzung der Fusionsenergie begannen vor knapp 50 Jahren. Während damals die Technik, Fusionsprozesse in Waffen zu verwenden (Wasserstoffbombe) in einigen Staaten bereits verfügbar war, erschien der Schritt zur friedlichen Nutzung zwar sehr vielversprechend, zugleich aber außergewöhnlich schwierig und langwierig.

3.2

Zwei noch heute benutzte Zitate aus dieser Zeit machen dies besonders deutlich und charakterisieren das bereits frühzeitig erkannte Spannungsfeld zwischen hohen Erwartungen und schwierigsten physikalischen und technischen Problemen. Einerseits sagte H.J. Bhabha bei seiner Eröffnungsansprache der ersten Genfer Konferenz zur friedlichen Nutzung der Kernenergie 1955: „I venture to predict that a method will be found for liberating fusion energy in a controlled manner within the next two decades. (18)“ Andererseits schrieb R.F. Post 1956 im ersten seitens der USA freigegebenen Übersichtsartikel (19) zum Thema Fusion: „However, the technical problems to be solved seem great indeed. When made aware of these, some physicists would not hesitate to pronounce the problem impossible of solution (20).“

3.3

Retrospektiv kann man feststellen, dass sich unter den vielfältigen damals entstandenen Ideen einer möglichen Realisierung bereits auch jene Konzepte für die so genannte magnetische Einschließung befanden, welche sich inzwischen als die erfolgversprechendsten Verfahren erwiesen haben, die geforderten Bedingungen zu erfüllen. Allerdings bedurfte es mühsamer, von Hindernissen und Rückschlägen begleiteter, wissenschaftlich-technischer Weiterentwicklung und Optimierung, bis diese Erkenntnis gewonnen werden konnte. Dabei handelt es sich um den TOKAMAK (russisch, abgekürzt: toroidale (21) magnetische Kammer) und um den STELLARATOR. Beide Verfahren sind Varianten eines gemeinsamen Grundkonzepts, nämlich mit geeignet strukturierten ringförmigen Magnetfeldern das heiße Plasma unter den geforderten Bedingungen einzuschließen.

3.4

Die bahnbrechende Rolle spielte dabei das europäische Gemeinschaftsprojekt JET (Joint European Torus), dessen technischer Entwurf (22) rund zwanzig Jahre später (23) vorlag. Mit JET konnten im Verlauf seiner Experimentierphase nicht nur erstmalig die benötigten Temperaturen des Plasmas tatsächlich erzeugt, sondern auch, in den neunziger Jahren — durch Nutzung des Fusionsprozesses Deuterium mit Tritium — nennenswerte Mengen (rund 20 Megajoule pro Experimentablauf) Fusionsenergie in kontrollierter Weise freigesetzt werden. Damit ist es bereits gelungen, aus dem Plasma kurzfristig fast soviel durch Fusionsprozesse gewonnene Leistung freizusetzen, wie ihm zu Heizzwecken zugeführt wird.

3.5

Dieser Erfolg wurde durch die Bündelung aller Kräfte in dem — im Rahmen des Euratom-Programms durchgeführten — Forschungsprogramm Fusion der Europäischen Gemeinschaft ermöglicht. In dessen Netzwerk fanden die verschiedenen mit Euratom assoziierten Laboratorien der Mitgliedstaaten — mit ihren jeweiligen Versuchsanlagen und arbeitsteiligen Beiträgen sowie durch ihre Beteiligung an JET — zu einer gemeinsamen Identität zusammen. Hier ist der Europäische Forschungsraum also bereits frühzeitig verwirklicht und in seiner Leistungsfähigkeit demonstriert worden.

3.6

Damit ist also die erste, entscheidende Etappe der weltweiten Fusionsforschung mit Erfolg erreicht und das physikalische Prinzip der Erzeugung und magnetischen Einschließung von Fusionsplasmen demonstriert worden.

3.7

Kennzeichnend für diesen Fortschritt war zudem eine beispielhafte globale Kooperation, unter anderem auch koordiniert durch Organisationen wie die IAEA (Internationale Atom Energie Agentur) und die IEA (Internationale Energie Agentur). Maßgeblich war vor allem der Beitrag der europäischen Forschung. Im Verlauf einer zielstrebigen Aufholarbeit insbesondere gegenüber den USA nimmt sie heute den anerkannten internationalen Spitzenplatz ein.

3.8

Ausgehend von einer inzwischen schon 17 Jahre zurückliegenden Initiative der Präsidenten Gorbatschow und Reagan, später auch Mitterand, entstand der Plan, ITER (24), den ersten Testreaktor mit positiver Leistungsbilanz des Plasmas (d. h. aus dem Plasma wird deutlich mehr Leistung durch Fusionsprozesse freigesetzt als diesem zugeführt) als weltweites Gemeinschaftsprojekt zu entwickeln, möglicherweise auch gemeinschaftlich zu bauen und zu betreiben. ITER soll in kraftwerksrelevantem Maßstab zeigen, dass es technisch und wissenschaftlich möglich ist, aus Kernverschmelzung mittels eines brennenden Plasmas nutzbare Energie freizusetzen.

3.9

Unter „Brennen“ (auch „thermonukleares Brennen“ genannt) wird dabei jener Zustand verstanden, bei dem die von den Fusionsprozessen freigesetzte Energie (genauer: die von den entstandenen Helium-Kernen getragene Energie) einen wesentlichen Beitrag leistet, um die erforderliche extrem hohe Temperatur des Plasmas aufrecht zu erhalten. Die bisherigen experimentellen Befunde haben gezeigt, dass dies erst mit Apparaturen von ausreichender — d. h. bereits kraftwerksähnlicher — Größe erreicht werden kann. Dies hat zur Dimensionierung von ITER geführt.

3.10

Damit befindet sich das Programm in einer Übergangsphase zwischen Forschung und Entwicklung, wobei eine scharfe Trennung dieser beiden Begriffe nicht möglich ist. Um die Ziele von ITER zu erreichen, sind nämlich einerseits jene physikalischen Fragen abschließend zu untersuchen, die nur an Hand eines längere Zeit brennenden Fusionsplasmas zugänglich sind. Andererseits werden technischen Bauteile (wie z. B. sehr große supraleitende Magnete, eine dem Plasma standhaltende (25) Brennkammer, Aggregate zur Heizung des Plasmas etc.) erforderlich, wie sie mit ähnlichen Spezifikationen und Baugrößen später für einen funktionierenden Leistungsreaktor benötigt werden. Dies ist also der erste Schritt von der Physik in die Kraftwerkstechnik.

3.11

Die Ergebnisse der weltweiten Planungsarbeiten zu ITER liegen in Form von Auslegungsdaten und umfassenden Bauunterlagen sowie als Prototypen und getestete Modellkomponenten vor. Sie basieren auf den Erfahrungen und der Extrapolation aller bisherigen Experimente, angeführt von JET als Flaggschiff nicht nur des Europäischen, sondern sogar des weltweiten Fusionsprogramms.

3.12

Die Linearabmessungen von ITER (mittlerer großer Durchmesser des Plasma-Rings 12 Meter, Volumen der Brennkammer rund 1000 cbm) werden somit rund doppelt so groß sein wie jene von JET. Mit ITER sollen — bei einer zehnfachen Leistungsverstärkung (26) — rund 500 MW Fusionsleistung während Brenndauern von zunächst jeweils mindestens 8 Minuten (bei reduzierter Leistungsverstärkung während Brenndauern von im Wesentlichen unbegrenzter Länge) erzeugt werden.

3.13

Die Baukosten von ITER sind zu rund 5 Mrd. EUR veranschlagt (27).

3.13.1

Beim Bau von ITER würde der Hauptteil dieser Kosten jenen Firmen zufließen, welche den Zuschlag erhalten werden, die verschiedenen Bauteile der Versuchsanlage zu fertigen und zu montieren. Ein wesentlicher Anteil Europas am Bau von ITER würde deshalb der europäischen Industrie einen Gewinn an Innovationskraft und allgemeinem technischen Know-how erbringen und somit den Zielen der Lissabon-Strategie dienen.

3.13.2

Bereits in der Vergangenheit kamen der Industrie vielfache Spin-offs des Fusionsprogramms zu Gute (28). Es ist zu erwarten, dass sich dieser wichtige Nebennutzen beim Bau von ITER in besonders hohem Maße einstellen wird.

3.13.3

Während der Bauzeit von ITER würden die für das gesamte Fusionsprogramm erforderlichen europäischen Ausgaben (d. h. die der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten) unter 0,2 % der Kosten des Endenergieverbrauchs in Europa liegen.

3.14

Mit der zunächst zwischen der EU, Japan, Russland und den USA begonnenen ITER-Partnerschaft, aus welcher im Verlauf der weiteren, wechselhaften Entwicklung (29) die USA vor etwa fünf Jahren ausgetreten waren, aber im Jahre 2003 wieder beitraten, und sich zudem China und Korea anschlossen, konnten nicht nur die Kosten der Planungsarbeiten auf die Schultern aller großen Partner der internationalen Energieforschung verteilt werden, sondern es wurde auch sichergestellt, dass alle weltweit verfügbaren Ergebnisse in die Planung einfließen.

3.15

Zudem wurde so die Bedeutung des Vorhabens als globales Projekt zur Lösung eines globalen Problems hervorgehoben.

3.16

Auch der gemeinsame Bau und Betrieb von ITER würde für alle Partner-Länder einen maßgeblichen Zuwachs an Wissen und technischen Fähigkeiten bedeuten (siehe dazu auch Kapitel 5), und zwar nicht nur im Hinblick auf dieses neuartige Energiesystem, sondern auch auf allgemeine Innovationen für Spitzentechnologien.

3.17

Es würde in der Entwicklung der Technik allerdings ein Novum darstellen, wenn eine Maschine mit der Zielsetzung von ITER weltweit nur ein einziges Mal gebaut würde, wenn man also bei diesem Schritt auf die Entwicklung bzw. Erprobung konkurrierender gleich weit entwickelter Varianten — wie dies z. B. bei der Entwicklung der Luftfahrt, der Raumfahrt oder von Spaltreaktoren durchaus der Fall war — verzichten würde.

3.18

Diesem aus Ersparnis eingegangenen Verzicht müsste daher durch ein besonders schlagkräftiges Begleitprogramm begegnet werden, in dem auch Raum für innovative Ideen und für das Entwicklungsrisiko mindernde Konzeptvarianten (30) besteht, welche zunächst jedoch in reduziertem Maßstab — und folglich mit geringerem Kostenaufwand — zu untersuchen wären.

4.   Der weitere Weg zum Fusionskraftwerk

4.1

Die ca. 20 Jahre nach Baubeginn erwarteten, akkumulierten Ergebnisse von ITER sollen die Basisdaten für Auslegung und Bau des ersten Elektrizität liefernden Fusions-Demonstrationskraftwerks DEMO liefern. Der Bau von DEMO könnte damit in ca. 20 bis 25 Jahren beginnen.

4.2

Aus jetziger Sicht sollten sich Fusionskraftwerke konzipieren lassen, die sich durch folgende Eigenschaften auszeichnen werden:

Bereitstellung elektrischer Energie im Grundlastbereich und in Blockgrößen heutiger Kraftwerke. Damit auch die Möglichkeit der Wasserstoff-Erzeugung.

Stündlicher Brennstoffbedarf (31) z. B. eines 1 GW-Blocks (32) (elektrische Leistung): ca. 14 g schwerer Wasserstoff (Deuterium) > als Bestandteil von rund 420 kg natürlichem Wasser sowie ca. 21 g überschwerer Wasserstoff (Tritium), > erbrütet aus ca. 42 g6-Li als Bestandteil von rund 570 g natürlichem Lithium.

Brennstoffvorräte global verbreitet und weit über historische Zeiträume hinausreichend (33).

Stündliche Ascheproduktion eines solchen Blocks: ca. 56 g Helium (34).

Interner Kreislauf (35) des radioaktiven (12,5 Jahre Halbwertszeit) Tritium, welcher in der Umhüllung (Blanket) der Brennkammer aus Lithium erbrütet wird.

Durch Neutronen erzeugte Radioaktivität der Brennkammermaterialien, deren Radiotoxizität je nach Materialwahl nach hundert bis einigen hundert Jahren in den Bereich der Radiotoxizität von Kohleasche abgesunken ist.

Kein Risiko einer unkontrollierten Leistungsexkursion. Der Brennstoff wird — ähnlich wie in einem Gasbrenner — von außen injiziert und reicht nach Abschalten nur für eine Brenndauer von wenigen Minuten.

Keine Unfallsszenarien, bei welchen so viel Radioaktivität (Staub, Tritium, etc.) freigesetzt würde, dass Evakuierungsmaßnahmen außerhalb des Betriebsgeländes notwendig werden.

Auf Grund der inhärenten Sicherheitsmerkmale und des geringen leicht freisetzbaren Anteils radiotoxischer Stoffe auch relativ begrenzter Schaden bei Terror-Attacken.

Baugröße (räumliche Größe) heutigen Kraftwerken entsprechend.

Kostenstruktur ähnlich jener von derzeitigen Kernkraftwerken: die Kosten ergeben sich im Wesentlichen aus den Investitionskosten zum Bau der Anlage, während die Kosten der Versorgung mit Brennstoff praktisch keine Rolle spielen.

4.3

Für die Entwicklung des DEMO sind neben zentralen Fragen wie der Energieausbeute sowie der die Brenndauer begrenzenden Prozesse, die bereits mit ITER untersucht und demonstriert werden sollen, und neben den hierfür bereits verfügbaren bzw. noch weiter zu entwickelnden anspruchsvollen Verfahren, auch noch andere wichtige technische Entwicklungen fortzusetzen und zu verstärken.

4.4

Diese betreffen insbesondere den internen Brennstoffkreislauf (Erbrüten und Behandeln des Tritiums), die Leistungsauskopplung, die Standhaftigkeit der Materialien unter Plasmabelastung (Plasma-Wand-Wechselwirkung) und Neutronenbeschuss, die Reparaturtechnik, die Perfektionierung der Fernbedienung sowie die Techniken zur Verlängerung der Brenndauer hin zu einem vollständig kontinuierlichen Brennvorgang. Eine besonders wichtige Aufgabe ist auch die Entwicklung geeigneter niedrig aktivierbarer — oder nur kurzlebig aktivierter — Strukturmaterialien, die auf Grund ihrer langfristigen Erprobung und Validierung verstärkt bearbeitet werden muss.

4.5

Allerdings wäre es ein Irrtum zu glauben, mit DEMO werden die F&E-Aufgaben beendet sein. Die Geschichte der Technik zeigt, dass intensive Forschung und Entwicklung häufig sogar erst dann einsetzte, als der erste Prototyp bereits existierte.

4.5.1

Die Geschichte der Technik zeigt auch, dass die ersten Prototypen einer neuen Technologie häufig noch unoptimierte grobe Gerätschaften waren im Vergleich zu den dann daraus schrittweise entstandenen eleganten Maschinen.

4.5.2

Die heutige Optimierung der Dieselmotoren erfolgte fast 100 Jahre nach deren Erfindung. Auch Fusionskraftwerke werden verbessert, optimiert und den dann bestehenden Anforderungen angepasst werden müssen.

5.   Die Standortfrage ITER

5.1

Gegenwärtig besteht ein auf höchster politischer Ebene für die Errichtung von ITER ausgetragener Standortwettstreit zwischen Cadarache (36) für Europa und Rokkasho-Mura (37) für Japan, von dessen Ausgang sowohl die finanzielle Beteiligung der verschiedenen Partner abhängt als auch die Ausgestaltung des erforderlichen Begleitprogramms.

5.2

Vor dem Wiedereintritt der USA und dem Beitritt Chinas und Koreas in die ITER-Partnerschaft bestanden realistischerweise kaum Zweifel, dass der ITER-Standort Europa zufallen würde, auch weil damit am Besten sichergestellt würde, dass ITER — so wie JET — ein Erfolg werden wird.

5.3

Jetzt ist jedoch dadurch eine neue Situation entstanden, dass gegenwärtig die USA und Korea sich für den Standort Rokkasho-Mura in Japan einsetzen, trotz der klaren und weithin akzeptierten technischen Vorteile des Standorts Cadarache. Durch eine dementsprechende Standortentscheidung würde Europa seine Führungsposition verlieren und auf die Früchte der bisherigen Investitionen und Arbeiten verzichten, mit allen Konsequenzen für Forschung und Industrie.

5.4

Dementsprechend anerkennt, begrüßt und unterstützt der Ausschuss den Beschluss des Europäischen Rats vom 25./26. März 2004, in welchem er bekräftigt, dass er das europäische Angebot für das ITER-Projekt einmütig unterstützt, und in welchem er die Kommission aufruft, die diesbezüglichen Verhandlungen mit dem Ziel voranzutreiben, dass das Projekt so bald wie möglich am europäischen Bewerberort beginnen kann.

6.   Zusammenfassung und Empfehlungen des Ausschusses

6.1

Der Ausschuss teilt die Auffassung der Kommission, dass die friedliche Nutzung der Fusionsenergie das Potenzial birgt für einen sehr wesentlichen Beitrag zur langfristigen Lösung der Energieversorgung im Sinne von Nachhaltigkeit, Umweltverträglichkeit und Wettbewerbsfähigkeit.

6.1.1.1

Der Grund dafür sind die potenziellen Vorteile dieser Zukunftstechnologie, nämlich:

Die Brennstoff-Ressourcen Deuterium und Lithium sind — in historischen Zeiträumen betrachtet — unbegrenzt verfügbar.

Es entstehen weder klimaschädliche Gase noch Spaltprodukte oder Aktiniden.

Die inhärenten Sicherheitseigenschaften verhindern eine unkontrollierte Leistungsexkursion (38).

Die Radioaktivität der Brennkammer-Materialien kann nach hundert bis allenfalls einigen hundert Jahren auf die Radiotoxizität von Kohleasche gesunken sein; dadurch ist das Endlagerproblem entscheidend entschärft.

Wegen der obigen Eigenschaften sowie des geringen leicht flüchtigen Anteils radiotoxischer Stoffe wären auch bei Terror-Attacken nur relativ begrenzte Auswirkungen zu befürchten.

6.1.2

Das Potenzial der Fusionsenergie ergänzt insbesondere dasjenige der erneuerbaren Energieträger, allerdings mit dem Vorteil gegenüber Wind- und Solarenergie, zeitlich nicht von Witterungsbedingungen und dem Jahres- bzw. Tagesgang abhängig zu sein. Dies gilt auch im Hinblick auf ein den Erfordernissen angepasstes Verhältnis zwischen zentralen und dezentralen Systemen.

6.1.3

Darum hat sich der Ausschuss bereits in mehreren Stellungnahmen (39) für eine deutliche und verstärkte Förderung des F&E-Programms zur Fusionsenergie ausgesprochen.

6.2

Der Ausschuss stellt mit Befriedigung fest, dass — führend durch das europäische Fusionsprogramm und dessen Gemeinschaftsexperiment JET — die erste, entscheidende Etappe der weltweiten Fusionsforschung mit Erfolg erreicht wurde, nämlich das physikalische Prinzip der Freisetzung von Energie durch Kernfusion zu demonstrieren. Damit wurde die Grundlage für den Versuchsreaktor ITER geschaffen, in dem erstmalig ein brennendes Fusionsplasma erzeugt und untersucht werden soll, welches deutlich mehr Energie emittiert als ihm zugeführt werden muss.

6.3

Dementsprechend haben die langjährigen F&E-Arbeiten und die dazu erforderlichen Investitionen nunmehr in weltweiter Kooperation dazu geführt, die Planungsarbeiten und politischen Vorkehrungen für Bau und Betrieb des Testreaktor ITER — dessen Dimensionen bereits in Kraftwerksnähe kommen — zur Entscheidungsreife zu bringen.

6.4

Der Ausschuss hebt den bahnbrechenden und führenden Beitrag des Europäischen Fusionsprogramms hervor, ohne den es heute noch kein ITER-Projekt gäbe.

6.5

Die Ergebnisse von ITER sollen ihrerseits die Basisdaten für Auslegung und Bau des ersten Elektrizität liefernden Fusions-Demonstrationskraftwerks DEMO liefern. Der Bau von DEMO könnte damit in ca. 20 bis 25 Jahren beginnen.

6.6

Der Ausschuss unterstützt die Kommission in ihren Bemühungen, Europa strategisch darauf vorzubereiten, auch in der Phase der kommerziellen Nutzung eine starke Position einnehmen zu können, und dementsprechend in verstärktem Maße bereits heute Teile des Fusionsforschungsprogramms über ITER hinaus auf DEMO zu orientieren.

6.7

Für die Entwicklung des DEMO sind Antworten auf zentrale Fragen, die bereits mit ITER untersucht und demonstriert werden sollen, aber auch weitere Fortschritte bei anderen wichtigen Aufgaben erforderlich: Beispiele sind Optimierung der Magnetkonfiguration, Materialentwicklung (z. B. Verbesserungen bei plasmainduzierter Erosion, Neutronenschäden, Abklingzeit der induzierten Radioaktivität), Brennstoffkreislauf, Leistungsauskopplung, Antrieb des Plasmastroms und Steuerung seiner internen Verteilung, Wirkungsgrad sowie Komponenten-Verlässlichkeit.

6.7.1

Der Ausschuss weist darauf hin, dass solche weiteren Fortschritte nur durch ein breit angelegtes europäisches F&E-Begleitprogramm erreichbar sein werden, welches die Mitgliedstaaten einbindet und ein Netzwerk physikalischer und insbesondere auch technischer Experimente und Großgeräte erfordert, die in Unterstützung und Ergänzung zu ITER verfügbar sein müssen.

6.8

Der Ausschuss hält es für außerordentlich wichtig, den gegenwärtigen Schwung beizubehalten und den Herausforderungen eines solchen wissenschaftlich-technisch anspruchsvollen und für die langfristige Energieversorgung außerordentlich wichtigen Ziels mit Nachdruck, Engagement und dem nötigen Mitteleinsatz zu begegnen. Dies ist auch eine ernste Verpflichtung zur Erfüllung der Lissabon- und der Göteborg-Strategien.

6.8.1

Dazu gehört, der Energieforschung insgesamt, hier jedoch vor allem dem Fusionsprogramm, im zukünftigen Siebten F&E-Rahmenprogramm plus Euratom-Programm die für den weiteren Erfolg erforderlichen und damit deutlich erhöhten Mittel zuzuordnen sowie sonstige Möglichkeiten zur Finanzierung von ITER auszuschöpfen.

6.8.2

Dazu gehört, Vorsorge für eine ausreichende personelle Basis an Experten für Physik und Technik zu treffen, damit genügend europäische Experten für den Betrieb von ITER und die Entwicklung des DEMO zur Verfügung stehen. Der Ausschuss verweist hierzu auch auf seine kürzliche Stellungnahme (40) zu diesem speziellen Thema.

6.8.3

Dazu gehört, dass Hochschulen und Forschungszentren in das Netzwerk eingebunden bleiben: einerseits, um den Wissenschaftler- und Ingenieurnachwuchs mit dem nötigen Spezialwissen auszubilden, andererseits um sich mit ihrer jeweiligen Expertise und Ausstattung an den anstehenden Aufgaben zu beteiligen, schließlich aber auch, um als Verbindungsglied zur Zivilgesellschaft zu fungieren.

6.8.4

Dazu gehört schließlich als besonders wichtige Aufgabe, rechtzeitig für das zunehmend erforderliche Engagement der europäischen Industrie auf diesem Gebiet vielfältiger wissenschaftlich-technischer Spitzenentwicklungen zu werben und zu sorgen. Während die europäische Industrie im bisherigen Fusionsprogramm hauptsächlich die Rolle eines Entwicklers und Lieferanten hochspezialisierter und höchst anspruchsvoller Einzelkomponenten übernommen hatte, — wobei es auch gilt, diesen Erfahrungsschatz zu pflegen und zu erhalten — sollte sie im Zuge eines Näherrückens der Anwendbarkeit von Fusionsreaktoren schrittweise in eine mehr eigenverantwortliche und mitbestimmende Rolle hineinwachsen.

6.8.5

Die vorgesehenen, der Industrie zufließenden, erheblichen Investitionsmittel zum Bau von ITER und zur Entwicklung des DEMO werden sowohl eine wirtschaftliche Stärkung bewirken als auch — noch wichtiger — einen Zuwachs an Kompetenz und Innovation auf anspruchsvollstem technischen Neuland. Dies wird bereits aus den vielfältigen Spin-offs des bisherigen Fusionsprogramms deutlich.

6.9

International steht Europa vor einer mehrfachen Herausforderung: es gilt, einerseits, seine führende Rolle in der Fusionsforschung nicht nur gegenüber der leistungsstarken Forschung der USA zu behaupten, sondern auch gegenüber der aufsteigenden Kraft der drei asiatischen (41) ITER-Partner. Es gilt aber andererseits, die bisherige, beispiellose internationale Kooperation bestmöglich aufrecht zu erhalten und auszubauen.

6.10

Dementsprechend unterstützt der Ausschuss die Kommission in ihrer Absicht, diese Herausforderung anzunehmen. Er appelliert an den Rat, das Parlament und die Mitgliedstaaten, sich dem anzuschließen und die Vorrangstellung Europas auf diesem wichtigen Zukunftsgebiet nicht aus der Hand zu geben. Hier gibt es jedoch Probleme.

6.11

Vor dem Wiedereintritt der USA und dem Beitritt Chinas und Koreas in die ITER-Partnerschaft bestanden realistischerweise kaum Zweifel, dass der ITER-Standort Europa zufallen würde, auch weil damit am Besten sichergestellt würde, dass ITER — so wie JET — ein Erfolg werden wird.

6.12

Jetzt ist jedoch dadurch eine neue Situation entstanden, dass gegenwärtig die USA und Korea sich für den Standort Rokkasho-Mura in Japan einsetzen, trotz der klaren und weithin akzeptierten technischen Vorteile des Standorts Cadarache. Durch eine dementsprechende Standortentscheidung würde Europa seine Führungsposition verlieren und auf die Früchte der bisherigen Investitionen und Arbeiten verzichten, mit allen Konsequenzen für Forschung und Industrie.

6.13

Dementsprechend anerkennt, begrüßt und unterstützt der Ausschuss den Beschluss des Europäischen Rats vom 25./26. März 2004, in welchem er bekräftigt, dass er das europäische Angebot für das ITER-Projekt einmütig unterstützt, und in welchem er die Kommission aufruft, die diesbezüglichen Verhandlungen mit dem Ziel voranzutreiben, dass das Projekt so bald wie möglich am europäischen Bewerberort beginnen kann.

6.14

Dies zusammenfassend und verstärkend appelliert der Ausschuss an den Rat, das Parlament und die Kommission, Initiativen zu ergreifen, wirklich alle Möglichkeiten auszuschöpfen und nötigenfalls neue strukturelle Konzepte der internationalen Arbeitsteilung zu entwickeln, um ITER angesichts seiner strategischen Schlüsselrolle zur Entwicklung einer wichtigen nachhaltigen Energiequelle auf jeden Fall in Europa errichten zu können.

Brüssel, den 30. Juni 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Energie wird nicht verbraucht, sondern nur umgewandelt und dabei genutzt. Dies geschieht durch geeignete Umwandlungsprozesse wie z. B. die Verbrennung von Kohle, die Umwandlung von Windenergie in Strom oder die Kernspaltung (Erhaltung der Energie; E = mc2). Dabei spricht man auch von „Energieversorgung“, „Energiegewinnung“ oder „Energieverbrauch“.

(2)  Förderung der erneuerbaren Energieträger: Aktionsmöglichkeiten und Finanzierungsinstrumente, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung auf der Grundlage des Nutzwärmebedarfs im Energiebinnenmarkt, Entwurf für einen Vorschlag für eine Richtlinie (Euratom) des Rates zur Festlegung grundlegender Verpflichtungen und allgemeiner Grundsätze im Bereich der Sicherheit kerntechnischer Anlagen und Entwurf für einen Vorschlag für eine Richtlinie (Euratom) des Rates über die Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle, Die Bedeutung der Kernenergie für die Stromerzeugung.

(3)  Grünbuch „Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit“.

(4)  Forschungsbedarf im Hinblick auf eine sichere und nachhaltige Energieversorgung.

(5)  Forschungsbedarf im Hinblick auf eine sichere und nachhaltige Energieversorgung; Punkte 2.1.3 und folgende.

(6)  Vorzeichen der Gesamtproblematik waren die bisherigen Ölkrisen (z. B. 1973 und 1979) sowie die gegenwärtige, das Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie kennzeichnende, Kontroverse über die Zuteilung von Emissionszertifikaten.

(7)  Zitat: „Daher empfiehlt der Ausschuss, dass die Kommission eine Strategie für eine integrierte europäische Energieforschung erarbeitet, aus der sich ein umfassendes zukünftiges Europäisches Energieforschungsprogramm ableitet.“

(8)  Auf diese Weise ist zu erwarten, dass ein bedrohlicher Treibstoffmangel früher eintreten wird.

(9)  Die Bedeutung der Kernenergie für die Stromerzeugung.

(10)  Atome desselben Elements, aber unterschiedlicher Masse (unterschiedlicher Anzahl von Neutronen im Atomkern).

(11)  Die Bedeutung der Kernenergie für die Stromerzeugung.

(12)  Wobei gegebenenfalls nur der Fusionsprozess etwa im Stundentakt kurzfristig unterbrochen werden muss.

(13)  Helium hat einen extrem stabilen Kern und ist chemisch inert (daher der Name „Edelgas“).

(14)  Typisch 1 000 km/sec.

(15)  Radiotoxizität ist ein Maß für die Schädlichkeit eines in den menschlichen Organismus gelangten Radionuklids aufgrund seiner Strahlenwirkung.

(16)  Bei diesen Temperaturen ist ein Gas voll ionisiert (d. h. die elektrisch negativ geladenen Elektronen sind nicht mehr in der Atomhülle gebunden, sondern frei beweglich wie die elektrisch positiv geladenen Kerne) und damit ein elektrisch leitfähiges Medium, welches unter anderem von Magnetfeldern eingeschlossen werden kann. Diesen Zustand nennt man „Plasma“.

(17)  Erklärung des „thermonuklearen“ Brennvorgangs: siehe 3.9.

(18)  „Ich wage die Vorhersage, dass innerhalb der nächsten zwei Dekaden eine Methode gefunden wird, Fusionsenergie in kontrollierter Weise freizusetzen.“

(19)  Rev. Mod. Phys. 28, 338 (1956).

(20)  „Die technischen Probleme scheinen jedoch in der Tat außerordentlich groß zu sein. Wenn diese den Physikern bewusst werden, würden einige von ihnen nicht zögern, das Problem für unlösbar zu halten.“

(21)  toroidal: ringförmig.

(22)  Nach einer Variante des TOKAMAK-Prinzips konzipiert.

(23)  Mit JET konnte also die von BHABHA prognostizierte Methode verwirklicht und dessen Vorhersage bestätigt werden.

(24)  Ursprünglich International Thermonuclear Experimental Reactor, heute als Name verstanden.

(25)  „Plasma-Wand-Wechselwirkung“.

(26)  D. h. im Fusionsplasma wird zehnmal mehr (Fusions-)Leistung erzeugt als diesem von Außen durch besondere Aggregate wie leistungsstarke Neutralstrahl-Injektoren oder Hochfrequenz-Sender zugeführt wird.

(27)  Nach KOM(2003) 215 endg. die Kosten von ITER während dessen Konstruktionsphase werden zu EUR 4 570 Millionen veranschlagt (Geldwert zum Jahr 2000).

(28)  Siehe z. B. „Spin-off benefits from Fusion R&D“ EUR 20229-Fusion energy-Moving forward ISBN 92-894-4721-4 sowie die Broschüre „Making a Difference“ des Culham Science Centre, Abingdon, Oxfordshire OX14 3DB, U.K.

(29)  Auf eine detaillierte Darstellung der verwickelten und wechselhaften politischen Historie des Projekts muss hier aus Platzgründen verzichtet werden.

(30)  Hier ist insbesondere der Stellarator zu erwähnen.

(31)  Im Vergleich: Ein Braunkohlekraftwerk benötigt dann rund 1 000 t Braunkohle.

(32)  1 GW (Gigawatt) gleich 1 000 MW (Megawatt).

(33)  Lithium kann aus bestimmten Gesteinen, aus der Sole von Salzseen, aus geothermischen und Mineralwasserquellen, aus dem aus Ölfeldern abgepumpten Wasser und aus dem Meerwasser gewonnen werden. Mit den heute bekannten Vorräten könnte das Zehnfache des totalen heutigen Weltenergiebedarfs für viele tausend Jahre gedeckt werden.

(34)  Im Vergleich: Ein Braunkohlekraftwerk gleicher Leistung emittiert dann rund 1 000 t CO2.

(35)  Mit Ausnahme der Erstausstattung, welche z. B. aus schwerwasser-moderierten Spaltungsreaktoren (Kanada) gewonnen werden kann.

(36)  Bei Aix-en-Provence, nordöstlich von Marseille, Frankreich.

(37)  Im Norden Japans.

(38)  bzw. Energiefreisetzung/Zeit.

(39)  „verstärkte Förderung der Kernfusionsoption“.

(40)  Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament — Forscher im europäischen Forschungsraum: ein Beruf, vielfältige Karrieremöglichkeiten.

(41)  China, Japan und (Süd-)Korea.


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/35


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Stand der Durchführung des Forschungsprogramms GALILEO zu Beginn des Jahres 2004“

(KOM(2004) 112 endg.)

(2004/C 302/08)

Die Europäische Kommission beschloss am 5. Mai 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft, nahm ihre Stellungnahme am 10. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr BUFFETAUT.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 161 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Das Forschungsprogramm GALILEO ist eine große Herausforderung für die EU, ihre Unabhängigkeit, ihre technologischen und wissenschaftlichen Kapazitäten, ihre Wirtschaft und in erster Linie für ihren Raumfahrt- und ihren Telekommunikationssektor. In den letzten Jahren basierte die Entwicklung des Raumfahrtsektors vor allem auf den mit Telekommunikation per Satellit verbundenen kommerziellen Aktivitäten. Die Schwierigkeiten, die die Telekommunikationsindustrie schwer getroffen haben, wirkten sich nachhaltig auf einen Raumfahrtsektor aus, der, besonders im Vergleich zu unseren wichtigsten Konkurrenten, nicht genug Rückhalt auf institutioneller und politischer Ebene hatte.

1.2

Nachdem es zunächst auf Grund der Diskussionen bezüglich der Aufteilung des „juste retour“ des Programms zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Weltraumorganisation sowie wegen des externen Drucks auf Europa in Verzug geraten war, trat das Forschungsprogramm GALILEO als Folge einer Übereinkunft über die finanziellen Beiträge der ESA-Mitglieder am 26. Mai 2003 im ESA-Rat endlich in eine effektive Startphase.

1.3

Das Forschungsprogramm GALILEO hat im Vergleich zum GPS zivilen Charakter. Dieses große Infrastrukturprojekt hat, wie der EWSA, das Europäische Parlament und der Rat bereits betont haben, eine entscheidende strategische Bedeutung für Europa und seine Unabhängigkeit. Es fügt sich perfekt in den Rahmen der Lissabon-Strategie ein. Die Bedeutung eines Programms von einem solchen Umfang für den Fortschritt des europäischen Einigungswerks kann nicht genug hervorgehoben werden.

1.4

Das System GALILEO wird fünf Dienste bereitstellen:

einen offenen Dienst (vergleichbar dem Basisbereich des GPS);

einen Dienst zur Lebenssicherung (safety of life), vor allem für den Luft-, Eisenbahn- und Seeschifffahrtsverkehr;

einen kommerziellen Dienst, präziser als der offene Dienst und für den kommerziellen Gebrauch vorgesehen;

einen Such- und Rettungsdienst;

einen staatlichen Dienst, der den Behörden für die Aktivitäten der Polizei, des Zolls und des Zivilschutzes vorbehalten ist. Für diese Aktivitäten werden hochpräzise, verschlüsselte Signale verwendet. Sie können auch für militärische Zwecke dienen. Es sollten die notwendigen Vorkehrungen zur Vermeidung jeglicher Art missbräuchlicher Nutzung getroffen werden.

1.5

Da es sich in erster Linie um ein ziviles System handelt, wird es im Wesentlichen in Bereichen des täglichen Lebens, vor allem im Verkehrswesen zum Einsatz kommen. Es muss also im Stande sein, die Kontinuität und Sicherheit des Dienstes zu garantieren. Im Falle eines Versagens ist anders als beim GPS eine zivilrechtliche Haftungsklage möglich.

1.6

Schließlich wird GALILEO eine etwas höhere Präzision als das GPS aufweisen und den gesamten Planeten abdecken. Außerdem verfügt es über die Fähigkeit, die Integrität des Signals in Realzeit zu kontrollieren, was für bestimmte Anwendungen und insbesondere für die zivile Luftfahrt unabdingbar ist.

1.7

Die jetzige Mitteilung zielt in erster Linie darauf, über die Fortschritte des Forschungsprogramms GALILEO Bilanz zu ziehen, die Zukunftsperspektiven aufzuzeigen und einige Unsicherheiten zu identifizieren, die bei diesem Projekt, das in drei Phasen 3,2 Mrd. Euro mobilisieren dürfte, weiter bestehen:

Entwicklungs- und Validierungsphase 2002 bis 2005;

Errichtungsphase 2006 bis 2007;

kommerzielle Betriebsphase ab 2008.

2.   Aufbau und Inhalt der Mitteilung

Die Mitteilung gliedert sich in drei Themenschwerpunkte:

Stand der Entwicklungsphase;

Fortschritte bei der internationalen Zusammenarbeit;

Übergang zur Errichtungs- und Betriebsphase.

2.1   Die Entwicklungsphase

2.1.1   Das gemeinsame Unternehmen

Die Übereinkunft vom Mai 2003 auf der Tagung des ESA-Rats hatte eine Entspannung der Situation zur Folge, und das gemeinsame Unternehmen GALILEO ist seit dem letzten Sommer voll funktionsfähig. Sein Direktor wurde ernannt, sein Organisationsplan aufgestellt, sein Etat für die Jahre 2003/2004 verabschiedet. EGNOS (European Geostationary Navigation Overlay Service) dürfte in GALILEO eingegliedert werden. Es bleibt noch das Problem seines steuerrechtlichen und sozialen Status, der mit der belgischen Regierung derzeit diskutiert wird und bei dem es um eine nicht unbedeutende Summe geht (5 Mio. EUR pro Jahr). Es handelt sich darum, für die 32 Beschäftigten des gemeinsamen Unternehmens dieselbe Regelung zu erreichen, wie sie für die Mitarbeiter der ESA oder der Kommission gilt. Die belgischen Behörden stehen dem nicht ablehnend gegenüber, wollen sich aber von der sozialen Absicherung der Mitarbeiter dieses gemeinsamen Unternehmens überzeugen. Das Problem ist demnach eher administrativer als grundsätzlicher Natur.

2.1.2   Technische Studien und Forschungsarbeiten

Sie betreffen:

die letzten Arbeiten der Definitionsphase;

die Basisinfrastruktur;

EGNOS, das bald einsatzbereit sein wird;

den europäischen Plan eines europäischen Funknavigationssystems.

2.1.3   Die Weltfunkkonferenz vom Juni 2003

2.1.3.1

Es ging hier um sehr wichtige Fragen für die Europäische Gemeinschaft, die zwei Ziele hatte:

eine Bestätigung des Spektrums der im Jahr 2000 zugewiesenen Frequenzen zu erhalten;

zu gewährleisten, dass die Aufteilung innerhalb dieses Frequenzspektrums nicht zum Nachteil des europäischen Systems ausfällt und dass der Zugang zu diesem Spektrum in gerechter Weise erfolgt und auf dem Prinzip der Interoperabilität beruht.

2.1.3.2

Die Diskussionen fanden in einer durch das historische Monopol des amerikanischen Systems GPS geprägten Atmosphäre statt, aber letzten Endes hat die Europäische Gemeinschaft die erhofften Resultate erzielt, sowohl in Bezug auf die Nutzungsbedingungen des Frequenzspektrums als auch auf die Forderung nach einer unparteiischen, multilateralen Koordinierung.

2.1.4   Die Integration der neuen Mitgliedstaaten und der Kandidatenländer

Es wurden Initiativen für den industriellen Bereich entwickelt, damit diese Länder gemäß dem Wunsche der Kommission voll am Programm GALILEO beteiligt werden.

2.2   Fortschritte bei der internationalen Zusammenarbeit

2.2.1

Die internationale Zusammenarbeit ist, wie der Rat dies bereits mehrfach unterstrichen hat, ein wesentlicher Faktor, um ein Maximum an Nutzen aus dem GALILEO-Programm zu ziehen. Immer mehr Drittstaaten bekunden Interesse. In dieser Hinsicht verfolgt die Kommission ein bilaterales und ein regionales Konzept.

2.2.2

Ein erstes Abkommen ist mit China am 30. Oktober 2003 unterzeichnet worden, Verhandlungen mit Indien und Israel wurden aufgenommen. Ähnliche Schritte wurden in Bezug auf Südkorea, Brasilien, Japan, Kanada, Australien, Mexiko und Chile eingeleitet.

2.2.3

Was die regionale Kooperation angeht, so findet ein Dialog mit der Mittelmeerregion, Lateinamerika und Afrika statt.

2.2.4

Schließlich sind Verhandlungen mit den Staaten aufgenommen worden, die bereits über ein Satellitennavigationssystem verfügen, d. h. Russland und die Vereinigten Staaten. Diese Verhandlungen sind besonders wichtig, da sie darauf abzielen, die technische Kompatibilität und Interoperabilität ihres Systems mit GALILEO zu gewährleisten. Es sei daran erinnert, dass die Vereinigten Staaten anfangs die Berechtigung des GALILEO-Programms bestritten. Auf jeden Fall muss das Konzertierungsverfahren im Laufe der Diskussion auf einer Symmetrie der Rechte und Pflichten eines jeden Partners dem anderen gegenüber beruhen, besonders im Hinblick auf die Ausübung eines eventuellen Vetorechts.

2.3   Übergang zur Errichtungs- und Betriebsphase

Dies ist der entscheidende Punkt. Die Errichtungs- und Betriebsphasen beginnen im Jahre 2006 bzw. 2008.

2.3.1   Konzessionsvergabe

2.3.1.1

Die Konzessionsvergabe wird durch das gemeinsame Unternehmen durchgeführt. Das Verfahren wurde Oktober 2003 eingeleitet. Vier Bewerbungen wurden registriert und genügten den Anforderungen. Sie stammten von Konsortien, bestehend aus den federführenden Parteien und flankiert von einer Gruppierung assoziierter Unternehmen. Alle Bewerber waren der Ansicht, dass mit dem zukünftigen europäischen Satellitennavigationssystem beträchtliche kommerzielle Einkünfte erzielt werden könnten, und gingen davon aus, einen signifikanten Teil der Investitionen aus eigenen Mitteln finanzieren zu können.

2.3.1.2

Diese Tatsache wiegt umso mehr, als der Rat wünscht, dass der Anteil der Gemeinschaftsmittel ein Drittel der erforderlichen Anschubfinanzierung nicht überschreitet. Für die zweite, wettbewerbsorientierte Verhandlungsphase wurden schließlich drei Konsortien ausgewählt (Alcatel/Alenia/Vinci, EADS/Thalès/Inmarsat, Eutelsat).

2.3.1.3

Sechs Finanzierungsquellen wurden ausgemacht:

Verkauf der vom GALILEO-System bereitgestellten Dienste;

Lizenzen und geistige Eigentumsrechte;

Finanzierung durch die Europäische Gemeinschaft;

Darlehen der Europäischen Investitionsbank;

Beteiligungen gewisser Drittländer;

eventuell eine Gebühr auf Empfangsgeräte für Funknavigationssignale per Satellit.

2.3.2   Verwaltungsorgane

2.3.2.1

Die Kommission übermittelte dem Rat und dem Europäischen Parlament einen Vorschlag für eine Verordnung über die Verwaltungsorgane des europäischen Satellitennavigationsprogramms. Es war vorgeschlagen worden, einerseits eine Aufsichtsbehörde und andererseits ein Sicherheitszentrum zu schaffen, das direkt dem Generalsekretär des Rates bzw. dem Hohen Vertreter für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik unterstellt würde. Im Endeffekt dürfte wohl eine Aufsichtsbehörde geschaffen werden, die auch die Zuständigkeit für die Sicherheit bekäme. Ein Sicherheitszentrum würde damit nicht geschaffen, und der Rat selbst würde im Krisenfall in „Realzeit“ die Entscheidungen treffen.

2.3.2.2

Eine andere wichtige Frage in Bezug auf den Organisationsrahmen betrifft die eventuelle Bedrohung der Privatsphäre. Das GALILEO-System als solches beinhaltet jedoch keinerlei Bedrohung der Privatsphäre, da es keine Informationen über seine Benutzer empfängt (es gibt keinen Rücklauf). Dagegen können vom Benutzer abgerufene Daten durch ein anderes System — z. B. Mobiltelefone — weiter übermittelt werden, und auf diese Weise ermöglichen, ihn zu lokalisieren. Die Verantwortung für die Nutzungsregulierung solcher, durch GALILEO bereitgestellten Informationen, obliegt keineswegs den europäischen Trägern, die dieses Programm verwalten, sondern den nationalen Behörden. Die Behörden müssen darauf aufmerksam gemacht werden, welche Vorkehrungen zur begleitenden Kontrolle der Verwendungen von GALILEO und, bereits jetzt schon des Systems GPS, von ihnen zu treffen sind.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss weiß das entschlossene Vorgehen der Kommission zu würdigen, handelt es sich doch um ein Projekt, dessen enorme Bedeutung und große Schwierigkeiten bekannt sind. Im Sinne dieses Erfolgswillens bedürfen einige Fragen besonderer Aufmerksamkeit:

Integration der Sicherheitszwänge in die Konzeption des Systems und seine Verwaltung;

Abschluss der Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten, um zu einer Einigung zu gelangen, basierend auf gleichgewichtigen gegenseitigen Verpflichtungen und dem Ziel der Interoperabilität;

Suche nach einer ausreichenden privaten Finanzierung und Garantie, langfristige Kredite der Europäischen Investitionsbank zu erhalten;

Kosten der Realisierung des Programms im Rahmen des vorgesehenen Etats.

3.2

Der Erfolg dieses großen Projekts hängt davon ab, dass der Rat seine spezifischen und finanziellen Vorgaben aufrechterhält und bekräftigt. Durch sein Engagement für GALILEO hat der Rat seine Ambitionen in bezug auf ihre Raumfahrtpolitik bekundet.

4.   Schlussbemerkungen

4.1

Im „Fazit“ der Kommission klingen gewisse Besorgnisse bzw. Unsicherheiten bezüglich der Finanzierung an. Dieses Problem ist grundlegend, denn wenn die Finanzierung in Frage gestellt würde, dann wäre das ganze Programm in Frage gestellt. Der EWSA kann nur erneut die enorme strategische Bedeutung des Projekts GALILEO für die Europäische Union und die Zukunft ihres Raumfahrtsektors sowie für den Fortschritt des europäischen Einigungswerks unterstreichen, wie er es bereits nachdrücklich und detailliert in seinen Stellungnahmen zum Grün- und Weißbuch der Kommission über die europäische Raumfahrtpolitik zum Ausdruck gebracht hat (1). Er teilt die Genugtuung der Kommission über die sehr effektiven Fortschritte bei der Lancierung des Projekts und wünscht, dass der an den Tag gelegte Optimismus nicht durch Schwierigkeiten gedämpft wird.

Brüssel, den 30. Juni 2004.

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Weißbuch „Die Raumfahrt: Europäische Horizonte einer erweiterten Union — Aktionsplan für die Durchführung der europäischen Raumfahrtpolitik“ (KOM(2003) 673 endg.) — CESE 501/2004 vom 31.3.2004.

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Grünbuch — Europäische Raumfahrtpolitik“ KOM(2003) 17 endg. — ABl. C 220 vom 16.9.2003.


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/38


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen“ (kodifizierte Fassung)

(KOM(2004) 232 endg. — 2004/0074 (COD))

(2004/C 302/09)

Der Rat beschloss am 27. April 2004, den Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 71 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 10. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr CHAGAS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 160 Ja-Stimmen bei 10 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.

Ziel des Vorschlags ist die Kodifizierung der Richtlinie 95/18/EG des Rates vom 19. Juni 1995 über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen (1).

2.

Im Rahmen des Europa der Bürger kommt es sehr darauf an, dass die gemeinschaftlichen Rechtsakte eine einfachere, klarere Form erhalten. Daher haben das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission die Notwendigkeit betont, alle schon häufig geänderten Rechtsakte zu kodifizieren, und am 20. Dezember 1994 ein interinstitutionelles Abkommen geschlossen, das ein beschleunigtes Verfahren ermöglicht. Aus der Kodifizierung darf sich keinerlei inhaltliche Änderung der jeweiligen Rechtsakte ergeben.

3.

Da der vorliegende Kommissionsvorschlag genau in diese Richtung geht, hat der EWSA keinerlei Einwände vorzubringen.

Brüssel, den 30. Juni 2004.

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  ABl. L 143 vom 27.6.1995, S. 70 — Stellungnahme des EWSA: ABl. C 393 vom 31.12.1994, S. 56.


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/39


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1228/2003 hinsichtlich des Zeitpunkts der Anwendung bestimmter Vorschriften auf Slowenien“

(KOM(2004) 309 endg. — 2004/0109 (COD))

(2004/C 302/10)

Der Rat beschloss am 11. Mai 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 10. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr SIMONS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 158 gegen 2 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

1.   Einleitung

1.1

Die Verordnung (EG) Nr. 1228/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Netzzugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel hat die Schaffung eines echten Elektrizitätsbinnenmarktes durch eine Intensivierung des grenzüberschreitenden Stromhandels zum Gegenstand. Für die Tarifgestaltung bei der grenzüberschreitenden Übertragung und die Zuweisung verfügbarer Verbindungskapazitäten sollten faire, kostenorientierte, transparente und unmittelbar geltende Regeln eingeführt werden, die einem Vergleich zwischen effizienten Netzbetreibern aus strukturell vergleichbaren Gebieten Rechnung tragen und die Bestimmungen der Richtlinie 96/92/EG ergänzen, damit für grenzüberschreitende Transaktionen ein effektiver Zugang zu den Übertragungsnetzen gewährleistet ist.

2.   Inhalt des Kommissionsvorschlages

2.1

Die Republik Slowenien hat der Kommission ein Ersuchen um Änderung dieser Verordnung unterbreitet, die es Slowenien ermöglichen würde, sein gegenwärtiges System des Engpassmanagements bezüglich der Verbindungsleitungen mit Österreich und Italien bis zum 1. Juli 2007 weiter zu betreiben. Im Augenblick wird die Hälfte der verfügbaren Gesamtkapazität der betreffenden Verbindungsleitungen auf der Grundlage dieses Systems durch Slowenien zugewiesen. Gemäß einer Vereinbarung zwischen den betreffenden Übertragungsnetzbetreibern werden die anderen Hälften der Gesamtkapazität vom italienischen bzw. österreichischen Betreiber zugewiesen. Nach dem gegenwärtigen slowenischen System wird die verfügbare Kapazität, falls die Gesamtnachfrage nach Kapazität die verfügbare Kapazität überschreitet (Netzengpass), Kapazitätsinteressenten auf einer anteilmäßigen Basis zugewiesen. Die Kapazität wird kostenlos zugewiesen. Ein solches System kann nicht als nichtdiskriminierend und marktorientiert im Sinne der Stromverordnung angesehen werden. Begründet wird diese Ausnahme damit, dass der Umstrukturierungsprozess der slowenischen Industrie noch nicht abgeschlossen ist bzw. auch die Anpassung der slowenischen Stromproduktion an die neuen Marktverhältnisse noch andauert (hohe Investitionskosten in den Umweltschutz).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die Europäische Kommission stützt ihren Vorschlag auf Artikel 95 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, der im Kapitel zur Angleichung der Rechtsvorschriften enthalten ist. Die Sachlage — die Verordnung Nr. 1228/2003 wurde nach dem Abschluss der Beitrittsverhandlungen und nach der Unterzeichnung des Vertrags über den Beitritt Sloweniens zur EU verabschiedet, daher konnte sich Slowenien nicht an der Erarbeitung dieses Textes beteiligen — rechtfertigt durchaus, den diesbezüglichen Beitrittsvertrag bzw. die Beitrittsakte als Grundlage zu nehmen.

3.2

Die Beitrittsakte enthält Bestimmungen über die Anwendung von Beschlüssen der Institutionen, insbesondere wenn sich ein neuer Mitgliedstaat nicht an den Verhandlungen über einen Beschluss, der zwischen dem Datum der Unterzeichnung des Vertrags sowie der Akte und dem tatsächlichen Inkrafttreten am 1. Mai 2004 gefasst wurde, beteiligen konnte. Dieser Fall trifft auf Slowenien zu.

3.3

Das Ersuchen der slowenischen Regierung um eine Ausnahmeregelung zu der Anwendung von Artikel 6 Absatz 1 sowie der damit in Zusammenhang stehenden Bestimmungen aus dem Anhang zu der Verordnung bis zum 1. Juli 2007 und auch der vorliegende Kommissionsvorschlag sollten daher im Sinne dieser Bestimmungen beurteilt werden.

3.4

Diese Beurteilung kann unter dem Lehrsatz „pacta sunt servanda“ nur dann auf eine Ablehnung hinauslaufen, wenn durch die Einwilligung zu dem Vorschlag der Union als Ganzes ein unwiederbringlicher Schaden entstehen würde.

3.5

Die Kommission führt jedoch in ihrem Vorschlag an, dass die praktischen Auswirkungen des Übergangszeitraums auf das Funktionieren des Strombinnenmarktes nur sehr gering sein würden. Dieses Argument ist für den Ausschuss nachvollziehbar. Man kann nämlich schwerlich behaupten, dass Slowenien sich innerhalb des beantragten Übergangszeitraums zu einer nicht unbedeutenden regionalen Drehscheibe im Binnenmarkt wandeln kann.

3.6

Auch das berechtigte Argument, dass die Verordnung Nr. 1228/2003 ja gerade erlassen wurde, um endlich einen wirklichen internationalen Stromhandel zu schaffen (1) und dass das Ersuchen Sloweniens diesem Bestreben zuwiderliefe, wiegt angesichts der Dauer, des Umfangs und der geografischen Begrenzung nicht schwer genug, um die Einwilligung zu verweigern.

3.7

Auch die an sich zutreffende Feststellung, dass ein fairer Wettbewerb u.a. zwischen den europäischen Aluminium- und Stahlproduzenten sowie zwischen Stromerzeugern ein wesentlicher Bestandteil des Binnenmarktes ist, kann hier auch nicht ausschlaggebend sein.

3.8

Auch im Interesse der Gewährleistung eines sicheren und zuverlässigen Elektrizitätssystems in Slowenien und der Ermöglichung von Investitionen in Umweltschutzmaßnahmen während des Übergangszeitraums ist dem Kommissionsvorschlag zuzustimmen.

3.9

Die Annahme des Vorschlags drängt sich für den Ausschuss umso mehr auf, als er in seiner Stellungnahme (2) vom 17. Oktober 2001 zu der Verordnung Nr. 1228/2003 sich zu den Auswirkungen auf die damaligen Beitrittsländer wie folgt äußerte: „Für die Elektrizitäts- und Erdgassektoren der Beitrittsländer sind […] kaum wettbewerbsfähige Infrastrukturen und Bewirtschaftungsmethoden kennzeichnend. Unmittelbare Folge könnte ein hoher Abbau von Arbeitsplätzen in den Unternehmen dieser Sektoren sein, der wiederum zu unerträglichen sozialen Spannungen in den Beitrittsländern führen könnte, vor allem in solchen ohne ein Sozialversicherungssystem, das den in den bestehenden Mitgliedstaaten geltenden Systemen vergleichbar wäre. Die Europäische Union hat daher die Pflicht, diesen Ländern ihre Erfahrungen aus den Liberalisierungsprozessen in Europa zur Verfügung zu stellen und sie finanziell bei der Modernisierung der Unternehmen zu unterstützen. Die Öffnung dieser neuen Märkte muss in Abstimmung auf die Umstrukturierung ihrer Energiesektoren erfolgen, sodass die Unternehmen der Beitrittsländer unter gleichen Ausgangsbedingungen am Wettbewerb teilnehmen können.“

4.   Zusammenfassung und Schlussfolgerung

4.1

Die im Kommissionsvorschlag angeführten Argumente dafür, dass Artikel 6 Absatz 1 und die damit in Zusammenhang stehenden Bestimmungen der Leitlinien von Verordnung Nr. 1228/2003 in Bezug auf den Umgang mit Netzengpässen für Slowenien erst ab dem 1. Juli 2007 gelten sollen, rechtfertigen allein unter dem Gesichtspunkt und mit Blick auf die Bedeutung eines fairen Wettbewerbs im Binnenmarkt an sich noch keine Änderung der besagten Verordnung.

4.2

Der Denkansatz des Ausschusses unter Bezugnahme auf die zeitlichen Umstände des Zustandekommens der Verordnung und der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags rechtfertigt diese Änderung jedoch sehr wohl. Da durch die Einwilligung zu dem beantragten kurzen Übergangszeitraum der Union als Ganzes kein unwiederbringlicher Schaden entstehen würde — vielmehr werden die Sicherheit und Zuverlässigkeit des slowenischen Systems sowie Investitionen in Umweltschutzmaßnahmen sichergestellt — und der Ausschuss der Europäischen Union in seiner Stellungnahme zu der Verordnung Nr. 1228/2003 (3) empfohlen hatte, in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit der damaligen Beitrittsländer unterstützend tätig zu werden, ist der Ausschuss der Ansicht, dass bei der Beurteilung des Ersuchens das Argument ausschlaggebend sein sollte, dass Slowenien nicht die Möglichkeit hatte, sich an der Erarbeitung der Verordnung Nr. 1228/2003 zu beteiligen.

4.3

Abgesehen von der Begründung und der Grundlage des Kommissionsvorschlags, die unter dem vorstehend beschriebenen Blickwinkel ergänzt bzw. angepasst werden sollten, empfiehlt der Ausschuss daher, den Änderungsvorschlag (Ausnahmeregelung zu der Verordnung Nr. 1228/03 bis zum 1. Juli 2007) anzunehmen.

Brüssel, den 30. Juni 2004.

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Netzzugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel“, ABl. C 36 vom 8.2.2002, S. 10.

(2)  ebd.

(3)  Ziffer 6.6 der EWSA-Stellungnahme, ABl. C 36 vom 8.2.2002, S. 10.


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/41


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der industrielle Wandel und der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt“

(2004/C 302/11)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 29. Januar 2004, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Der industrielle Wandel und der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt“.

Die mit den entsprechenden Arbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 7. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr LEIRIÃO, Ko-Berichterstatter Herr CUÉ.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 155 Ja-Stimmen bei 13 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

Zusammenfassung

In dieser Stellungnahme soll untersucht werden, ob die zur Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts eingesetzten Instrumente angemessen sind und ob durch unternehmensfreundliche Rahmenbedingungen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass der industrielle Wandel auf eine mit dem Erfordernis der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu vereinbarende Weise vollzogen werden kann.

Die Tatsache, dass der Abschnitt „Schlussfolgerungen und Empfehlungen“ 17 Punkte umfasst, lässt darauf schließen, dass unserer Analyse zufolge Verbesserungen in verschiedenerlei Hinsicht erforderlich sind - politische Strategien, Instrumente, Kriterien für die Förderfähigkeit der Regionen aus Gemeinschaftsmitteln, Anwendung beispielhafter Praktiken und Bemühungen um Synergien zwischen den verschiedenen Politikbereichen und Instrumenten sowie generelle Koordinierung bei der Umsetzung der strukturgebenden Strategien der EU wie z. B. Lissabon-Strategie, Strukturreformen und nachhaltige Entwicklung.

Die Argumentation stützt sich auf folgende Aspekte, die sich als Leitfaden durch die einzelnen Abschnitte der Stellungnahme ziehen:

Regionalentwicklung als Regulativ für die Globalisierung durch die Bildung von regionalen „Clustern“ als effizientes Mittel, um Unternehmen anzuziehen und zu halten;

soziale Verantwortung der Unternehmen und Anwendung „beispielhafter Praktiken“ als präventiver und antizipativer Ansatz zur Bewältigung des Wandels;

Verhandlungen und sozialer Dialog in den Unternehmen, damit die Umstrukturierung sozialverantwortlich vollzogen wird; dies erfordert eine positive Haltung sowohl der Unternehmen als auch der Gewerkschaften, damit Umstrukturierungslösungen gefunden werden, die nicht nur für die Unternehmen, sondern auch für die Arbeitnehmer und die Gemeinwesen vorteilhaft und damit wirtschaftlich-sozial ausgewogen sind;

partnerschaftliche Zusammenarbeit von Unternehmern, Sozialpartnern, Zivilgesellschaft (Hochschulen, Forschungs- und Innovationszentren, Verbänden usw.) und lokalen Behörden, um die Voraussetzungen für die Steigerung der Produktivität und die Verbesserung des Wachstumspotenzials der Regionen zu schaffen;

Vorschlag für die Schaffung des Konzepts der „meistbegünstigten Region“ für diejenigen Fälle, in denen Regionen mit einem hohen wirtschaftlichen und sozialen Kohäsionsniveau plötzlich Potenzial verlieren, weil Arbeitsplatzeinbußen aufgrund von Unternehmensverlagerungen nicht durch alternative Wirtschaftstätigkeiten abgefedert werden können; diese Regionen würden gezielte Finanzhilfen für die Erneuerung ihres Wirtschaftsgefüges erhalten.

Einleitung

In seiner Initiativstellungnahme zum Thema „Der industrielle Wandel: Bilanz und Aussichten – Eine Gesamtbetrachtung“ (1) hat der EWSA die Auffassung vertreten, dass sich die Beratende Kommission für den industriellen Wandel (BKIW) in ihrer künftigen Arbeit damit beschäftigen sollte, „den Rahmen und die Bedingungen dafür zu stärken, dass der industrielle Wandel sich so vollzieht, dass er sowohl mit dem Erfordernis der Wettbewerbsfähigkeit für die Unternehmen als auch mit dem wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt vereinbar ist“, und hat damit die Grundlagen für die Arbeit dieser Kommission gelegt und die Themen für ihre Stellungnahmen umrissen. Vor diesem Hintergrund wurde der Beschluss gefasst, die vorliegende Stellungnahme zum Thema „Der industrielle Wandel und der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt“ auszuarbeiten.

1.   Definitionen

1.1

Zwecks korrekter Einordnung und Auslegung bezeichnet im Rahmen dieser Stellungnahme der Begriff „industrieller Wandel“ den „normalen und fortwährenden Prozess eines Industriesektors, proaktiv auf die dynamischen Bewegungen innerhalb seines Wirtschaftsumfelds zu reagieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben und Wachstumschancen zu schaffen“ (2); „Umstrukturierung“ ist definiert als „eine besondere Art des industriellen Wandels und [ist] in der Regel ein unvermittelt einsetzender Prozess einer (häufig erzwungenen) Anpassung an die Bedingungen des Wirtschaftsumfelds, mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen, was Unterbrechungen der Geschäftstätigkeit zur Folge hat“ (3). Das Konzept der „Antizipierung“ ist der Schlüssel zu einer reibungslosen Bewältigung des Wandels, da dadurch problematische Umstrukturierungen vermieden werden können. Die Antizipierung ist nichts anderes als die Analyse und Vorhersage der künftigen Wettbewerbsbedingungen und Markterfordernisse, die es ermöglicht, die notwendigen Anpassungen zeitgerecht zu programmieren und dadurch sowohl die sozialen Probleme als auch die Produktivitätsprobleme der Unternehmen zu minimieren.

1.2

Die Globalisierung lässt sich als Bemühen um Intensivierung und Erleichterung der Handelsbeziehungen zwischen den Ländern definieren, wobei Handelshemmnisse zwischen den Ländern beseitigt, Einfuhrzölle verringert (bzw. abgeschafft) und internationale Zusammenschlüsse (wie z. B. EU oder Mercosur) gestärkt werden. Hierbei schaffen die Regierungen der einzelnen Länder Anreize für die Niederlassung ausländischer Unternehmen und ermöglichen die Internationalisierung ihrer sämtlichen Wirtschaftstätigkeiten. Die Globalisierung erfordert auch die Festlegung und Einhaltung gemeinsamer, weltweit gültiger Grundregeln.

1.3

Ziel der Politik des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts ist die Verringerung der bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen sowie die Beschleunigung des Wachstums und die Förderung einer nachhaltigeren Entwicklung, indem die am stärksten benachteiligten Regionen bei der Anpassung an die Herausforderungen der wissensbasierten Wirtschaft unterstützt werden und damit in allen Regionen die Voraussetzungen für die Verwirklichung der Ziele der Lissabon-Strategie geschaffen werden.

Diese Politik muss sich konkret im Bereich der Infrastrukturen, der Umwelt, der unternehmerischen Initiative, des Pro-Kopf-Einkommens, des Zugangs zur Beschäftigung und der sozialen Sicherheit niederschlagen und sich auch auf die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, den Zugang zu den neuen Informationstechnologien, die lebensbegleitende allgemeine und berufliche Bildung sowie die bessere Nutzung und Stärkung des Potenzials der wirtschaftlichen und sozialen Akteure erstrecken.

1.4

Eine gute Definition von „Cluster“ ist die von Michael PORTER (Professor an der Harvard Business School) in seinem Buch „The Competitive Advantage of Nations“, die da lautet „a geographically proximate group of interconnected companies and associated institutions (universities, public agencies or trade associations) in a particular field, linked by competition and cooperation“.

2.   Die Folgen der Globalisierung und die Unausweichlichkeit des industriellen Wandels

2.1

Die gesamte europäische Gesellschaft ist sich gewiss darin einig, dass der industrielle Wandel unausweichlich, weil durch die Globalisierung und somit durch ständige Veränderungen der Weltwirtschaft bedingt ist, die durch eine rasche und tiefgreifende Weiterentwicklung der Märkte und Verhaltensweisen, eine zunehmende technische Komplexität sowie einen starken Einfluss der Verbraucher auf die Gestaltung und Herstellung von Gütern und Dienstleistungsprodukten sowie die Erbringung von Dienstleistungen geprägt sind.

2.2

Die Globalisierung ist die treibende Kraft des weltweiten Wettbewerbs der Arbeitsmärkte und der Produktivität. Die multinationalen Unternehmen leiten ihre Investitionen in Länder mit niedrigen Löhnen, direktem Zugang zu den Märkten und technologischem Know-how um.

2.3

Die Zunahme des Wettbewerbs, die Alterung der Bevölkerung sowie die Erwartungen und der Lebensstandard der Verbraucher führen insgesamt zu Rahmenbedingungen, aus denen sowohl jetzt als auch künftig große Spannungen und Probleme entstehen können.

2.4

Zur Vermeidung derartiger Spannungen und Probleme muss die Europäische Union entschlossen Maßnahmen gegen die Deindustrialisierung Europas ergreifen, d.h. gegen das gleichzeitige Auftreten der drei folgenden Phänomene:

Standortverlagerungen (4),

Beschäftigungs- und Produktionsrückgang,

Verschlechterung der Handelsbilanz.

Es wäre festzuhalten, dass bislang zwar noch nicht alle drei Phänomene gleichzeitig vorliegen, der Rückgang der Beschäftigung und die Verschlechterung der Handelsbilanz jedoch Tatsachen sind.

2.5

Die Reaktionen der EU auf diese Herausforderungen können nur dann Erfolg haben, wenn eine proaktivere Industriepolitik betrieben wird, die systematisch vollständige Transparenz hinsichtlich der spezifischen wie auch der kumulativen Folgen einer jeden Entscheidung schafft, die sich auf die Kostenstrukturen und die Leistungsfähigkeit der europäischen Industrie auswirkt - und zwar sowohl in Bezug auf Querschnittsaspekte als auch in Bezug auf bestimmte Branchen wie z.B. die Stahl- und Textilindustrie -, wobei stets auch die Auswirkungen der Erweiterung auf 25 Mitgliedstaaten berücksichtigt werden müssen.

3.   Die Regionalentwicklung als Regulativ für die Globalisierung — Cluster

3.1

Ein Paradoxon unserer Zeit ist die Tatsache, dass die Ungleichheiten weiterbestehen, obwohl es inzwischen dank der Fortschritte in Wissenschaft und Technik möglich sein müsste, dass alle satt werden; gleichzeitig droht die „neue globale Wirtschaft“ dadurch, dass sie sich auf einen deregulierten Wettbewerb stützt, diese Asymmetrien weiter zu verschärfen.

Vor diesem Hintergrund ist die Regionalentwicklung als Regulativ für die Globalisierung unverzichtbar, da eine Annäherung an die Menschen notwendig ist und diese — unabhängig davon, wo sie leben — Zugang zu Gütern, Dienstleistungen und Chancen haben müssen.

3.2

Der Fortschritt muss überall dahin gebracht werden, wo Menschen leben, da nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden darf, dass die Mobilität, mit deren Hilfe ein Teil der Bevölkerung Anschluss an die Entwicklung finden kann, die Regel ist, zumal gerade die Bedürftigsten auch am stärksten in ihrer Mobilität eingeschränkt sind.

Die Regionen müssen ihre Ziele in Bezug auf den industriellen Wandel und die Umstrukturierungen, die notwendigen Investitionen, die Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor sowie insbesondere die Infrastrukturen im Zusammenhang mit der allgemeinen und beruflichen Bildung definieren.

3.3

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Bildung von regionalen „Clustern“ das effizienteste Mittel ist, um Unternehmen anzuziehen und zu halten, da dies nicht nur die regionale Wettbewerbsfähigkeit steigert, sondern zugleich auch den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt fördert und die möglicherweise durch den industriellen Wandel und die Umstrukturierungen verursachten nachteiligen wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Folgen verhindert.

Als Faktoren, aufgrund deren „Cluster“ geeignet sind, Unternehmen an die Region zu binden und das Know-how in der Region zu erhalten, wären u. a. folgende zu nennen:

Stärkung und Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen;

Möglichkeiten zur Verbesserung des technologischen Know-hows wegen der Präsenz von F&E-Einrichtungen im Rahmen der „Clusterbildung“ (wie dies z. B. bei „Clustern“ in der Automobilindustrie zu beobachten ist);

Vernetzung zwischen Kunden, Zulieferern und Anbietern, die dem Aufbau und Ausbau engerer Beziehungen zwischen den wirtschaftlichen und sozialen Akteuren und vor allem zwischen den einzelnen Gebieten förderlich ist;

Zusammenschluss von Unternehmen zu transnationalen Netzwerken, die die Erschließung neuer Märkte ermöglichen;

Förderung der Mobilität der Arbeitnehmer innerhalb des „Clusters“.

3.4

Da die Unternehmen im derzeitigen wirtschaftlichen Umfeld auf globaler Ebene im Wettbewerb stehen, legen bzw. verlagern sie ihren Standort in „Cluster“, die mit ihrer Wirtschaftstätigkeit im Zusammenhang stehen und aus denen sie Wettbewerbsvorteile ziehen können, die auf allgemeinen Faktoren basieren wie z.B. der Qualifikation der Erwerbsbevölkerung, der Qualität der Verwaltung, den vorhandenen Infrastrukturen, dem lokalen bzw. regionalen Innovations- und Entwicklungsstand sowie generell der Lebensqualität in dem betreffenden Gebiet (wofür z.B. Maßnahmen der Behörden zur Sanierung stillgelegter Industrieflächen notwendig sein können). Die regionalen „Cluster“ können erheblich zur Verbesserung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts beitragen und für Unternehmen ein Anreiz sein, sich in Entwicklungsregionen anzusiedeln, sofern auf gemeinschaftlicher und einzelstaatlicher Ebene Programme zur Förderung der Ansiedlung von Technologieunternehmen, zur Ankurbelung von Entwicklung und Innovation, zur Verbesserung der beruflichen Bildung sowie zur Förderung von Partnerschaften zwischen Unternehmen, Hochschulen, lokalen Behörden, Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft aufgelegt und finanziert werden.

3.5

Die großstädtischen Ballungsräume als Zentren der Kultur und vielfältiger Aktivitäten, wo öffentliche und private Akteure gemeinsam an Lösungen für Wandel und Modernisierung arbeiten, sind für den erfolgreichen Aufbau von „Clustern“ von maßgeblicher Bedeutung, da sie „in erster Linie vom technologischen Wandel betroffen [sind], der sich auf den Verkehr, das Bauwesen und öffentliche Bauvorhaben, die Informations- und Kommunikationstechnologie, das Infrastrukturmanagement etc. auswirkt. Dieser technologische Wandel liegt auch dem industriellen Wandel und der Auslagerung von Produktionen und hochwertigen Dienstleistungen zu Grunde. Die wirtschaftliche Spezialisierung weist auch eine räumliche Komponente auf: Unternehmenscluster arbeiten vernetzt mit Forschungs- und Innovationszentren und den Universitäten und Hochschulen zusammen (5).“

Die große Herausforderung für die großstädtischen Ballungsgebiete liegt auch in den Problemen des sozialen Zusammenhalts wie z.B. Ausgrenzung und Armut, deren Lösung selbstverständlich eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung der europäischen Ballungsgebiete unter Einbeziehung ihrer Verbindungen zu den angrenzenden Gebieten voraussetzt. Die Suche nach geeigneten Lösungen gestaltet sich allerdings schwierig, da aussagekräftige Statistiken fehlen.

4.   Die Auswirkungen des industriellen Wandels und der Umstrukturierungen

Der industrielle Wandel und die Umstrukturierungen bringen diverse Auswirkungen und Herausforderungen für die verschiedenen Branchen und Regionen mit sich.

4.1   Soziale Aspekte

Alle wirtschaftlichen Akteure sind sich darin einig, dass die Umstrukturierung und ihre Konsolidierung eine Voraussetzung für das Überleben der Unternehmen und die Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit ist.

Wenn es in der betroffenen Region keine geeigneten Beschäftigungsalternativen oder Mobilitätsmöglichkeiten gibt, wird die Umstrukturierung zu einem sozialen Problem.

Außerdem müssen die Unternehmen die Grundsätze ihrer sozialen Verantwortung effizient anwenden, indem sie sowohl die Vertretungsorganisationen der Arbeitnehmer als auch die lokalen und regionalen Behörden im Vorfeld der Konzipierung ihrer Maßnahmen beteiligen.

Industrielle Wettbewerbsfähigkeit muss über den sozialen Dialog erreicht werden.

4.2   Die Herausforderungen für die Unternehmen

Die große Herausforderung für die Unternehmen besteht darin, in einem komplexen Umfeld und unter ganz spezifischen sozialen und institutionellen Bedingungen ohne Beeinträchtigung ihrer Wettbewerbsfähigkeit optimal auf den Wandel zu reagieren.

Der industrielle Wandel, den die Großunternehmen vollziehen, hat Auswirkungen auf die kleinen und mittleren Zulieferunternehmen, die nicht vernachlässigt werden dürfen. Es wäre eine Zusammenarbeit im Netzwerk erforderlich, um ihnen eine entsprechende Anpassung zu ermöglichen.

4.3   Die Auswirkungen im Rahmen der Erweiterung, insbesondere auf die Beschäftigung

Es müssen gezielte Entwicklungs- und Beschäftigungsförderungsmaßnahmen konzipiert werden, damit der industrielle Wandel und die Umstrukturierungen in den Erweiterungsländern als eine große Chance verstanden werden, die es zu nutzen gilt, um das Wirtschaftswachstum zu fördern und die Lebensqualität und den Umweltschutz zu verbessern.

Die ausländischen Direktinvestitionen stammen zum größten Teil aus der EU (über 60 % im Jahr 1998) und fließen hauptsächlich in die Tschechische Republik, nach Ungarn und nach Polen. Ende 2001 gingen fast drei Viertel der in den Erweiterungsländern getätigten Investitionen in diese drei Länder. Als Beispiel für eine erfolgreiche Maßnahme ist im Stahlsektor Košice (Slowakische Republik) anzuführen, wo ausländische Direktinvestitionen die Modernisierung der örtlichen Anlagen ermöglicht haben, ohne dass Arbeitskräfte entlassen werden mussten; dies wurde — dank der Mobilität der Arbeitskräfte, der Wirkung entsprechender Anreize, der Innovation und des Wettbewerbs — über Vereinbarungen zwischen den örtlichen Unternehmen erreicht. Je nach der Art der Investitionen wirken sich die Strategien der multinationalen Unternehmen unterschiedlich auf die Beschäftigung aus.

AUSWIRKUNGEN AUF DIE BESCHÄFTIGUNG: DREI DENKBARE SZENARIEN

Strategie der multinationalen Unternehmen

Auswirkungen auf die Beschäftigung

ADI-Herkunftsland

ADI-Empfängerland

(1)

Ausweitung der Netzwerke: stark „ortsgebundene“ bzw. kaum „reexportierbare“ Produkte und Dienstleistungen - Energie - Verkehr - Banken - Handelsketten - Agrarnahrungsmittel – Tourismus

Kurzfristig schwach oder inexistent. Mittel-/ langfristig Reorganisation „Back Office“-Funktionen

Mehr oder weniger stark in Abhängigkeit vom Aufkauf bestehender Unternehmen (mit oder ohne Produktivitätsgewinn) oder der Schaffung ex nihilo

(2)

Horizontale Ausweitung der Kapazitäten: reexportierbare Produkte oder Dienstleistungen - Automobil-/Chemie-/Eisen- und Stahlindustrie

Unmittelbare indirekte Auswirkungen (keine Schaffung von Kapazitäten), mittelfristig Substitutionseffekte möglich, siehe: Seat/ Skoda

Starke Umstrukturierungen bei Übernahme alter Unternehmen

Schaffung von Arbeitsplätzen bei „Greenfield“-Ansiedlung (noch nicht industrialisierte Standorte)

(3)

Verlagerung zwecks Kostensenkung: sehr gut reexportierbare Produkte oder Dienstleistungen - Textilindustrie - Gießereien - Kfz-Zubehör - Elektronische Massenprodukte - EDV-Dienstleistungen mit schwacher oder mittlerer Wertschöpfung

Erhebliche kurz- oder mittelfristige Auswirkungen (Dauer des Substitutionszyklus schwankt je nach Unternehmen)

Starke Umstrukturierungen bei Übernahme alter Unternehmen

Schaffung von Arbeitsplätzen bei „Greenfield“-Ansiedlung

Mittel-/langfristige Gefahren: Verlagerung

(1) & (2):

Bei diesen beiden Szenarien haben wir es mit horizontalen Investitionsstrategien zu tun. Im ersten Fall sind die multinationalen Unternehmen vorrangig bestrebt, neue Märkte zu erobern und ihr Dienstleistungsnetz auszuweiten, wie z.B. Bankdienstleistungen oder Verkehrs- und Energienetze. Im zweiten Fall versuchen die multinationalen Unternehmen, ihre Produktionskapazitäten für leicht reexportierbare Produkte und Dienstleistungen auszubauen.

(3):

Bei diesem Szenario handelt es sich um eine vertikale Verlagerungsstrategie, die stärkere Auswirkungen auf die Beschäftigung hat.

Diese Art von Szenario betrifft Unternehmen, deren Wirtschaftstätigkeiten im Wesentlichen sehr arbeitsintensiv sind (z. B. Textil- und Kfz-Elektronikindustrie).

4.4   Territoriale Auswirkungen

4.4.1

Bei industriellen Umstrukturierungen und Unternehmensverlagerungen ist es notwendig, die Aktiva an Infrastrukturen, Anlagen und Arbeitskräften zu bewerten und Anreize für die Ansiedlung neuer Unternehmen zu schaffen. In bestimmten Fällen ist beim Verlassen einer Region eine Boden- und Untergrundsanierung unverzichtbar, um eine anderweitige Nutzung zu ermöglichen.

Die territoriale Verantwortung derjenigen Investoren, die öffentliche Gelder erhalten haben, muss stärker eingefordert und kontrolliert werden.

Für die Dynamisierung der vom industriellen Wandel betroffenen Regionen sind Kooperationsabkommen zwischen den verschiedenen Akteuren notwendig.

4.5   Auswirkungen auf die Humanressourcen

Sämtliche Akteure müssen sich verpflichten, den schlechter qualifizierten Arbeitskräften Zugang zur beruflichen Bildung zu gewähren. Dies ist eine Voraussetzung für die wirtschaftliche Lebensfähigkeit.

Auf Ebene der Unternehmen sind im Rahmen des Kompetenzmanagements entsprechende Vereinbarungen und gemeinsam zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern abgestimmte Konzepte betreffend den Bedarf an beruflicher Bildung, Kompetenzen und Qualifikationen erforderlich.

4.6   Auswirkungen auf das europäische Sozialmodell

Die Verwirklichung eines hohen Maßes an wirtschaftlichem, sozialem, ökologischem und territorialem Zusammenhalt ist für den Bestand des europäischen Sozialmodells von entscheidender Bedeutung.

Die industrielle Umstrukturierung im Rahmen des europäischen Sozialmodells wird dann gelingen, wenn sie allen Beteiligten nützt.

4.7   Wechselwirkungen zwischen Industrie- und Dienstleistungssektor

4.7.1

Seit den 1970er Jahren wird das Wirtschaftswachstum stärker durch den Dienstleistungssektor als durch die Fertigungsindustrie vorangetrieben. Dennoch sind die Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Sektoren von entscheidender Bedeutung für die Steigerung der Produktivität und der Innovation sowie die Verbesserung der Qualität der Produkte und Dienstleistungen.

Im Hinblick auf Umstrukturierung und industriellen Wandel sind diese Wechselwirkungen insofern erheblich, als die Dienstleistungsunternehmen (z.B. im Bereich F&E) bei Standortverlagerungen in der Regel den Industrieunternehmen folgen.

5.   Die soziale Verantwortung der Unternehmen und der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt

5.1

In der Stellungnahme des EWSA „Der industrielle Wandel: Bilanz und Aussichten — Eine Gesamtbetrachtung“ (6) wird der Standpunkt vertreten, Europa bedürfe „eines neuen, auf 'industriellen Wandel mit menschlichem Antlitz' konzentrierten Paradigmas, dessen maßgebliche Faktoren nachhaltige Entwicklung, sozialer Zusammenhalt und Wettbewerbsfähigkeit sind“. Hintergrund dieser Perspektive sind die im Rahmen der Lissabon-Strategie gesteckten Ziele, und die EU appelliert in diesem Zusammenhang besonders an das soziale Verantwortungsgefühl der Unternehmen, die den Erfordernissen und den beispielhaften Praktiken in den Bereichen lebensbegleitende berufliche Bildung, Arbeitsorganisation, Chancengleichheit, soziale Integration und nachhaltige Entwicklung Rechnung tragen müssen.

5.2

Was das ethisch korrekte Verhalten angeht, können die Unternehmen ihre soziale Verantwortung im Wesentlichen auf zweierlei Weise wahrnehmen:

im Bereich der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen;

im Hinblick auf die Lebensbedingungen an ihrem Standort, d.h. die Mitwirkung der Unternehmen an der wirtschaftlichen Erneuerung und die Förderung von Umweltpraktiken, die für die örtliche Bevölkerung akzeptabel sind.

Von den Unternehmen wird generell erwartet, dass sie die Sozialpartner, die örtlichen Behörden, die Verbraucher und die Zulieferunternehmen auf ihrer jeweiligen Zuständigkeitsebene beteiligen.

5.3

Diese Wahrnehmung der sozialen Verantwortung durch die Unternehmen (in den oben genannten Bereichen) kann den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt fördern, wenn proaktiv ein Präventivkonzept für die Bewältigung des Wandels bzw. der Umstrukturierung entwickelt wird, das allen Beteiligten Vorteile bringt.

6.   „Beispielhafte Praktiken“ für die Umstrukturierung unter dem Blickwinkel der sozialen und territorialen Verantwortung

6.1

Der Europäische Sozialfonds fördert beispielhafte Praktiken im Bereich des industriellen Wandels. Die in der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in Dublin angesiedelte Europäische Stelle für die Beobachtung des Wandels berichtet regelmäßig über beispielhafte Praktiken im Zuge der Maßnahmen zur Förderung der sozialen und territorialen Verantwortung der Unternehmen. Außerdem hat die erste Runde der von der Europäischen Kommission lancierten Anhörung zum Thema „Antizipierung und Bewältigung des Wandels: ein dynamisches Herangehen an die sozialen Aspekte von Unternehmensumstrukturierungen“ Ergebnisse gebracht, anhand deren eine Reihe von beispielhaften Verfahren aufgezeigt werden konnte.

Generell treten derartige beispielhafte Praktiken in folgender Form auf:

Antizipierung von Beschäftigungsfragen im Zusammenhang mit Umstrukturierungen sowie deren Klärung im Vorfeld;

Analyse der direkten und indirekten Auswirkungen auf die Region;

Mobilisierung und Tätigwerden der Akteure vor Ort (Unternehmen, Gewerkschaften, Lokal- und Regionalbehörden, Verbände und Zivilgesellschaft usw.);

die Verbesserung des Stellenwerts von Tarifverhandlungen und das Gebot des „sozialen Dialogs“ zwischen den Unternehmen, den Arbeitnehmervertretungen und den Lokal- und Regionalbehörden sind entscheidende Aspekte bei der Suche nach Lösungen und nach Alternativen zu strategischen Verlagerungsentscheidungen;

soziale Flankierung des Wandels (Umschulung, Weiterbildung, Verbesserung der Kompetenzen der Arbeitnehmer und Verfolgung ihres Berufswegs, Neubelebung der Beschäftigungsgrundlagen, Entwicklung des Industriegefüges, Wege in die Selbstständigkeit usw.);

Selbstverpflichtung der Unternehmen zu Geschäftsabschlüssen mit Arbeitnehmern, die bei der Auslagerung von Tätigkeitsbereichen aus dem Unternehmen ausscheiden und mit diesem Subunternehmerverträge über Dienstleistungen abschließen;

Entwicklung innovativer Lösungen durch die Förderung von unternehmerischer Initiative;

rechtzeitige Unterrichtung des gesamten Netzwerks von kleinen und mittleren Zulieferunternehmen, öffentlichen Dienstleistungsbetrieben und Behörden, Hochschulen und Arbeitgeberverbänden über die Umstrukturierungsabsichten der in der jeweiligen Region niedergelassenen Unternehmen; dies wird erschwert, wenn es sich um multinationale Unternehmen handelt, deren Entscheidungszentrum außerhalb der Region, des Landes oder gar Europas angesiedelt ist.

6.2

Verhandlungen und sozialer Dialog sind für eine sozialverantwortliche Umstrukturierung von entscheidender Bedeutung; eine positive Haltung sowohl der Unternehmen als auch der Gewerkschaften ist daher sehr wichtig, damit Umstrukturierungslösungen gefunden werden, die für die Unternehmen, die Arbeitnehmer und die Gemeinwesen vorteilhaft sind. Die Kommission hat mit Hilfe von Richtlinien (98/59/EG, 2001/23/EG, 94/45/EG und 2002/12/EG), in denen entsprechende Leitvorgaben und Verpflichtungen festgelegt sind, Impulse für derartige Praktiken gegeben. Auf europäischer Ebene ist eine Initiative aus dem Jahr 2002 anzuführen, in der „sozial intelligente“ Umstrukturierungen propagiert wurden und als deren Ergebnis im Juni 2003 einige Leitlinien festgelegt wurden. Sämtliche Alternativen zu Entlassungen müssen geprüft werden.

6.3

Es gibt in diesem Bereich zahlreiche Beispiele für vorbildliche Praktiken europäischer Unternehmen, die bei der Verwirklichung ihrer Modernisierungs- und Umstrukturierungsstrategien in sozialverantwortlicher Weise vorgegangen sind, wie — um nur eines zu nennen — der Stahlkonzern Arcelor — das Ergebnis des Zusammenschlusses von Arbed, Aceralia und Usinor —, der aufgrund struktureller Überkapazitäten in der Flachstahlproduktion und zur Verbesserung der Synergien beschlossen hat, die Hochöfen in Lüttich nach und nach zu schließen und die Produktion in Bremen und Eisenhüttenstadt zurückzufahren. Angesichts des Verlusts von Arbeitsplätzen, den diese Maßnahmen nach sich ziehen, hat sich Arcelor verpflichtet, die Menschen mit ihren Beschäftigungsproblemen nicht allein zu lassen, die betreffenden Standorte zu rehabilitieren und mit Hilfe aller betroffenen Parteien an der Reindustrialisierung der lokalen Wirtschaftsgefüge mitzuwirken.

Ein negatives Beispiel für die Nichtanwendung beispielhafter Praktiken ist hingegen die Umstrukturierung des Automobilsektors im Mezzogiorno (Italien), bei der die Verlagerung eines Teils der Zuliefergeschäfte ins Ausland angestrebt wurde, ohne dass ausreichende Begleitmaßnahmen zur Linderung bzw. Lösung der dadurch verursachten sozialen Probleme vorgesehen bzw. ergriffen wurden.

6.4

Der industrielle Wandel, der für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen notwendig ist, muss von den Behörden u.a. im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung finanziell unterstützt werden; in diesem Kontext muss die Anwendung der neuen Technologien gefördert werden. Darüber hinaus muss auf die Stärkung der sozialen Verantwortung der Unternehmen und das soziale Interesse an der Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen ebenso geachtet werden wie auf die ökologische Nachhaltigkeit der Regionen, in denen die Unternehmen angesiedelt sind.

7.   Der industrielle Wandel und der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalte als Instrumente der nachhaltigen Entwicklung

7.1

Die nachhaltige Entwicklung ist ein zentrales Ziel der EU. Die großen transeuropäischen Projekte wie z.B. die Straßenverkehrsnetze und andere auf europäischer Ebene geplanten Infrastrukturen reichen nicht aus, um die nachhaltige Entwicklung zu fördern und die am stärksten benachteiligten Regionen für die Entwicklung generell zu öffnen. Das zwischen den verschiedenen Ländern und Regionen bestehende Produktions-, Produktivitäts- und Beschäftigungsgefälle ist auf mangelhafte Strukturen bei Schlüsselfaktoren der Wettbewerbsfähigkeit zurückzuführen, d.h. unzulängliche Human- und Finanzressourcen, Umweltprobleme und ungenügende Innovations- und Regionalverwaltungskapazitäten.

7.2

Die Chancen, die der industrielle Wandel durch die Auswirkungen auf das Wirtschaftsgefüge, auf den sozialen und wissenschaftlichen Bereich sowie auf die Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Lokalbehörden eröffnet, wenn Instrumente und Maßnahmen zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts mit Strukturmaßnahmen der Gemeinschaft kombiniert werden, können erheblich zu einer nachhaltigen und ausgewogenen Entwicklung beitragen. Der Wandel erfordert Anpassungs-, Forschungs- und Innovationsanstrengungen sowie ein Umdenken sowohl bei den Arbeitgebern als auch bei den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft, die partnerschaftlich zusammenarbeiten müssen, um die betroffenen Regionen ausgewogen bei der Erhaltung und Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Strukturen zu unterstützen.

8.   Die Reformvorschläge des dritten Berichts über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt

8.1

Die Kommission schlägt eine Neugestaltung der EU-Politik des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts mit drei Prioritäten vor:

Konvergenz

Das Ziel ist die Förderung von Wachstum und Beschäftigung in den rückständigsten Mitgliedstaaten und Regionen.

Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung: Vorwegnahme und Förderung des Wandels

Diese Priorität ist im Zusammenhang mit dieser Stellungnahme zu begrüßen, da der industrielle Wandel durch eine Kohäsionspolitik flankiert werden soll, die mittels nationaler und regionaler Programme gezielt auf die Folgen, die Prävention, die Antizipierung und die Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung ausgerichtet ist. Hierbei sollen die politischen Prioritäten der europäischen Beschäftigungsstrategie berücksichtigt und die Qualität und Produktivität der Arbeit sowie die soziale Integration verbessert werden.

Europäische territoriale Zusammenarbeit

Das Ziel ist die Förderung einer harmonischen und ausgewogenen Entwicklung der Union durch Maßnahmen zur Stärkung der grenzübergreifenden und transnationalen Zusammenarbeit.

9.   Bemerkungen zu den Vorschlägen des dritten Kohäsionsberichts, die den industriellen Wandel und Umstrukturierungen betreffen

9.1

Der EWSA stellt befriedigt fest, dass in dem am 18. Februar 2004 vorgelegten Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt das Thema „industrieller und wirtschaftlicher Wandel im Allgemeinen“ explizit und objektiv behandelt wird.

9.2

Er ist insbesondere mit den Grundsätzen einverstanden, auf denen die Strategien des dritten Kohäsionsberichts basieren, sowie mit der Verknüpfung der Lissabon-Strategie mit der künftigen Regionalpolitik, was die Programme zur Verbesserung des Wissensstands sowie die nationalen und regionalen Programme zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in den am stärksten benachteiligten Regionen angeht. Er hält die vorgeschlagenen Maßnahmen jedoch für unzureichend und bemängelt Folgendes:

es werden keine quantifizierten Zielvorgaben für die Verwirklichung der Kohäsionsmaßnahmen auf einzelstaatlicher und regionaler Ebene festgelegt, was den Druck zur Verwirklichung der Ziele von vornherein verringert;

es gibt keine Garantie, dass im nächsten Programmplanungszeitraum 2007-2013 ein größerer Zusammenhalt zwischen den Regionen erreicht wird und nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten, wie dies in den früheren Programmen für die Zeiträume 1994-1999 und 2000-2006 der Fall war; wird dieses Ziel verfehlt, ist dies als Beweis für Schwächen bei der Umsetzung der politischen Maßnahmen und für das Scheitern der auf die am stärksten benachteiligten Regionen ausgerichteten EU-Politik zur Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts zu betrachten;

es fehlt eine gezielte Kontrolle, durch die sichergestellt wird, dass die am stärksten benachteiligten Regionen die für ihre Entwicklung erforderlichen Mittel erhalten, damit nicht — wie dies in der Vergangenheit geschehen ist — die wohlhabenderen Regionen aufgrund ihrer vorteilhafteren Situation in Bezug auf Produktions- und Dienstleistungsinfrastrukturen stärker profitieren als die weniger wohlhabenden Regionen;

es werden keine Anreize für die Unternehmen vorgeschlagen, eine sozialverantwortliche Politik zu betreiben, die sich positiv auf den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt niederschlägt;

es gibt kein effizientes Verfahren für die Koordinierung der Ergebnisse der Kohäsionsmaßnahmen und mit geeigneten Sanktionen für diejenigen Mitgliedstaaten, die die festgelegten Kohäsionsziele nicht erreichen;

es wird nicht zugegeben, dass die Dynamik des industriellen Wandels ein Faktor ist, der in den betroffenen Regionen Ungleichgewichte verursachen oder verschärfen könnte, da möglicherweise Unternehmensverlagerungen stattfinden, die enorme Störungen auf verschiedenen Ebenen verursachen; es besteht die Gefahr, dass das zum gegebenen Zeitpunkt hohe Kohäsionsniveau der betroffenen Regionen sehr negativ beeinflusst und dadurch die mittel- und langfristige Erholungsfähigkeit dieser Regionen in Frage gestellt wird, wofür im Bericht keine spezifischen Präventionsmaßnahmen vorgeschlagen werden.

10.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

10.1

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Vorschläge der Kommission für die Reform der Kohäsionspolitik nicht ausreichend sind und dass diese Gelegenheit zur Bewältigung eines Wandels, der nicht nur unumgänglich, sondern auch als Ausdruck wirtschaftlicher Dynamik und für die Weichenstellung hin zu einer nachhaltigen Entwicklung von entscheidender Bedeutung ist, nicht voll genutzt wird. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die im Rahmen der Lissabon-Strategie geschaffenen Chancen - ihr positiver Ansatz in Bezug auf Wandel, Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenhalt, die Sozialagenda, die die Antizipierung und Bewältigung des Wandels als eine Schlüsselherausforderung definiert, und die europäische Beschäftigungsstrategie, deren zentrales Anliegen die Anpassungsfähigkeit ist - nicht optimiert und koordiniert genutzt werden.

10.2

Nach Ansicht des EWSA ist es notwendig, die wirtschaftliche und die soziale Seite ausgewogen zu berücksichtigen und bei der Bewältigung des industriellen Wandels eine zweigleisige Zielsetzung zu verfolgen: zum einen müssen die globalen sozialen Ziele (Berufsbildung, Beschäftigung, Chancen und soziale Sicherheit) gewahrt und befördert werden, und zum anderen muss das Überleben der Unternehmen gesichert werden, indem gezielte Unterstützungsmaßnahmen ergriffen werden, um die Umstrukturierung und Konsolidierung zu ermöglichen, die für ihr Überleben und die Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit unerlässlich ist. Damit dies erreicht werden kann, sind seitens der wichtigsten Akteure — d. h. des Staates (auf zentraler, regionaler und lokaler Ebene) und der Unternehmen — integrierte und komplementäre Maßnahmen erforderlich.

10.3

Damit die Politik zur Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts auch Erfolg hat, ist nach Ansicht des EWSA eine stärkere und bessere Koordinierung bei der Durchführung der verschiedenen diesbezüglichen Maßnahmen in der EU unerlässlich, als da sind: die bestehenden Richtlinien über die Beteiligung der Arbeitnehmer; der horizontale soziale Dialog in den Industriesektoren; die regelmäßige Befassung der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel (BKIW) des EWSA; die Europäische Stelle zur Beobachtung des Wandels; der Einsatz der Strukturfonds; die Wettbewerbspolitik und die Stärkung der sozialen Verantwortung der Unternehmen. Hierbei ist das Engagement aller interessierten Parteien von entscheidender Bedeutung.

10.4

Der EWSA hält es für notwendig, für Umstrukturierungen eine Reihe von Grundprinzipien als Basis für beispielhafte Praktiken festzulegen, u.a. die Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu fördern, und die Erfordernisse des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts.

10.5

Die anhaltende Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit Europas im Vergleich zu den USA ist nach Ansicht des Ausschusses darauf zurückzuführen, dass nicht genügend Druck auf die Mitgliedstaaten ausgeübt wird, die Fristen für die Umsetzung der grundlegenden Instrumente und Strategien der EU — wie z. B. Lissabon-Strategie, Strukturreformen und nachhaltige Entwicklung — einzuhalten.

Wenn dieser Trend anhält, läuft die EU Gefahr, als Weltwirtschaftsmacht vom zweiten auf den dritten Platz zurückzufallen (Vorsicht, Japan, China und Indien holen auf!). Dies muss verhindert werden. Hierfür sind nach Ansicht des Ausschusses strengere Auflagen und eine aktivere Rolle der Kommission bei der Koordinierung und Kontrolle der effektiven Umsetzung der vorgenannten Strategien erforderlich. Eine der wichtigsten Koordinierungsmaßnahmen wäre die Ernennung eines Kommissionsmitglieds, das für die Begleitung des industriellen Wandels und der Umstrukturierungen zuständig ist, was eine bessere Verknüpfung zwischen Industriepolitik und Umweltschutz ermöglichen würde.

Im Kontext dieser Initiativstellungnahme gibt der EWSA folgende Empfehlungen ab:

a)

Die strategische Betrachtungsweise des Zusammenhalts muss vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen der EU im Sinne eines neuen, weitergefassten Konzepts des Zusammenhalts überdacht werden, das sich nicht auf die ökonomistische Sichtweise der Struktur- und Kohäsionsfonds beschränkt, sondern seiner dreifachen Zielsetzung gerecht wird:

Stärkung der Kohärenz der europäischen Wirtschaft;

Förderung des „europäischen Zusammengehörigkeitsgefühls“;

Förderung der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen der Gemeinschaft.

b)

Es muss von dem Pro-Kopf-BIP als absolutem Kriterium für die Förderfähigkeit abgegangen werden, da dieses Kriterium Ungerechtigkeiten bei der Durchführung der strukturpolitischen Maßnahmen zur Folge hat. Der relative Wohlstand ist bekanntlich nicht nur an nackten Zahlen wie dem Pro-Kopf-BIP abzulesen. Auch das Ausbildungsniveau der Arbeitskräfte, die Infrastrukturdefizite, die Entfernung vom Antriebszentrum der europäischen Wirtschaft und die demographische Struktur müssen als Faktoren bei der Entscheidung über die Förderfähigkeit der einzelnen Regionen mitberücksichtigt werden.

c)

Es muss eine neue Matrix von Kriterien für die Bewertung der Regionen entwickelt werden, um ein aktualisiertes Bild des Zusammenhalts in Europa zu erhalten.

d)

Was den territorialen Zusammenhalt angeht, muss die Ordnung des Gemeinschaftsraums neugestaltet werden, um eine polyzentrische, harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen. Bei dieser Raumplanung muss der interregionale Zusammenhalt in infrastruktureller und wirtschaftlicher Hinsicht berücksichtigt werden, wobei die lokalen, regionalen, nationalen und gemeinschaftlichen Instanzen an der Konzipierung eines Modells für die territoriale Entwicklung Europas zu beteiligen sind, das zu neuen wirtschaftlichen (Investitionen, F&E) und sozialen (Beschäftigung) Strategien führt.

e)

Bei der Festlegung der strukturpolitischen Maßnahmen im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt ist ein zügigeres Vorgehen zur Antizipierung des wirtschaftlichen Wandels im Allgemeinen und der industriellen Umstrukturierungen im Besonderen vonnöten. Die derzeitige Obergrenze für die Finanzmittel der EU (1,24 % des BIP) — und dieser Prozentsatz könnte in der Finanziellen Vorausschau für den Zeitraum 2007-2013 möglicherweise gesenkt werden — ist zu niedrig, um den Bedarf zu decken, was eine Verringerung des Handlungsspielraums bedeutet und eine raschere Verwirklichung der Kohäsionsziele verhindert.

f)

Es ist eine Konzentration auf die Humanressourcen erforderlich, indem verstärkt Mittel für berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen und die eigentliche berufliche Ausbildung bereitgestellt werden, jedoch mit einem flexiblen Ansatz, der die Anpassung an die unterschiedlichen Problemstellungen in den einzelnen Mitgliedstaaten und Regionen erlaubt.

g)

Besondere Unterstützung brauchen diejenigen Regionen, die drastische Umstrukturierungen ihrer industriellen Produktionsstruktur durchmachen, indem diejenigen Sektoren und Regionen ermittelt werden, in denen die Gefahr der Einbuße der Wettbewerbsfähigkeit besonders groß ist, und spezifische Hilfsmaßnahmen vorgeschlagen werden, die die Besonderheiten eines jeden Sektors berücksichtigen. Besonderes Augenmerk muss den Auswirkungen der industriellen Umstrukturierungen in den neuen Mitgliedstaaten gewidmet werden.

h)

Im Zusammenhang mit den Ausführungen des vorhergehenden Absatzes muss der „Grundsatz der meistbegünstigten Region“ festgelegt werden, der eine spezielle finanzielle Unterstützung für die Umstellung der betreffenden Region ermöglicht. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei sowohl der soziale Dialog als auch der zivile Dialog, an dem alle maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte beteiligt sind (Unternehmen, Hochschulen, Forschungszentren, Lokalbehörden, Verbände, Gewerkschaften usw.). Dadurch wäre eine Neubelebung des Wirtschaftsgefüges der betreffenden Region durch die Schaffung neuer, alternativer Wirtschaftstätigkeiten möglich.

i)

Die Entwicklung regionaler „Cluster“ muss gefördert werden, indem Impulse für die Expansion des Informations- und Kommunikationstechnologiesektors sowie der Innovations- und Hochtechnologiebranchen gesetzt werden, um das Potenzial und Know-how der Regionen zu entwickeln und deren Möglichkeiten zu verbessern, Unternehmen anzuziehen und zu halten.

Dadurch kann dazu beigetragen werden, dass der industrielle Wandel und die Umstrukturierungen mit einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Regionen, einer Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts und mehr Beschäftigung einhergehen. Es müssen unbedingt regionale Studien durchgeführt werden, und es muss gemeinsam mit den nationalen und regionalen Verwaltungsebenen festgelegt werden, wie das gesamte Potenzial einer Region für den Aufbau des „Clusters“ genutzt werden kann.

j)

Bei der Konzipierung der politischen Maßnahmen zur industriellen Modernisierung der Regionen müssen die positiven Erfahrungen der Vergangenheit mit sektoriellen Programmen wie RECHAR, RESIDER und RETEXT berücksichtigt werden, damit das gesamte vorhandene Wachstumspotenzial erschlossen werden kann.

k)

Die Kommission muss die Industriepolitik weiter modernisieren und vorantreiben und dabei die Regeln an die veränderten weltweiten Rahmenbedingungen anpassen. Der EWSA begrüßt daher den am 20. April 2004 vorgelegten Vorschlag zur Reform der Industriepolitik (7). Vor allem muss auf die Abstimmung zwischen der Industriepolitik und den anderen Politikbereichen der Gemeinschaft — insbesondere der Umweltpolitik — geachtet werden.

l)

Europa muss streng auf die Einhaltung der IAO-Vorschriften achten, denn wenn nichts unternommen wird, um dem „Sozial- und Steuerdumping“ in anderen Teilen der Welt, die sich nicht an die gleichen Spielregeln des Marktes halten, ein Ende zu bereiten, droht die Gefahr einer Wirtschaftkrise infolge des Verlusts der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen.

m)

Europa muss aufgrund seines hohen technischen und technologischen Know-hows und seiner hochqualifizierten Humanressourcen in der Lage sein, weltweit mitzuspielen, aber dazu muss es seine Politik zur Förderung der Forschung und vor allem auch der Humanressourcen überdenken. Es ist bekannt, dass von den rund 14.000 europäischen Forschern, die in den USA studieren, nur ungefähr 3.000 nach Europa zurückkehren wollen. Dies ist eine äußerst bedenkliche Situation, gegen die unverzüglich geeignete Maßnahmen ergriffen werden müssen. Ein Schritt in die richtige Richtung ist die Initiative „Regions for Knowledge“ (KnowREG), in deren Rahmen am 27. April 2004 beschlossen wurde, 14 Pilotprojekte zur Förderung der Wissensgesellschaft auf lokaler und regionaler Ebene aufzulegen.

n)

Der EWSA unterstreicht, dass der Europäische Rat die Ziele Wettbewerbsfähigkeit und Wissen klar mit der künftigen Regionalpolitik verknüpfen muss.

Brüssel, den 30. Juni 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  ABl. C 10 vom 14.1.2004, S. 105 ff.

(2)  EWSA-Initiativstellungnahme zum Thema „Handelspolitische Aspekte des industriellen Wandels, insbesondere im Stahlsektor“ (CESE 668/2004).

(3)  Ebd.

(4)  Der EWSA wird im September 2004 eine Initiativstellungnahme zum Thema „Ausmaß und Auswirkungen von Betriebsverlagerungen“ verabschieden (CCMI/014).

(5)  Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Die großstädtischen Ballungsgebiete: sozioökonomische Auswirkungen auf die Zukunft Europas“ (CESE 968/2004).

(6)  ABl. C 10 vom 14.1.2004, S. 105 ff.

(7)  Mitteilung der Kommission „Den Strukturwandel begleiten: Eine Industriepolitik für die erweiterte Union“ (KOM(2004) 274 endg.).


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/49


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte von Wanderarbeitnehmern“

(2004/C 302/12)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 29. Januar 2004 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Internationale Konvention zum Schutz der Rechte von Wanderarbeitnehmern“

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 14. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr PARIZA CASTAÑOS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 162 gegen 3 Stimmen bei 11 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Die „Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen“ wurde in der Resolution Nr. 45/158 vom 18. Dezember 1990 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Nach ihrer Ratifizierung durch die ersten zwanzig Staaten ist sie am 1. Juli 2003 in Kraft getreten. Zum jetzigen Zeitpunkt haben 25 Staaten sie ratifiziert (1). Sie ist damit ein geltender internationaler Vertrag, der für die ratifizierenden Staaten verbindlich ist.

1.2

Zweck der Konvention ist der Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde von Menschen weltweit, die aus wirtschaftlichen Gründen oder zum Zwecke der Arbeit auswandern, durch angemessene Rechtsvorschriften und eine gute nationale Praxis. Die Förderung der Demokratie und die Achtung der Menschenrechte müssen die gemeinsame Grundlage für einen angemessenen internationalen migrationspolitischen Rechtsrahmen bilden. Das Übereinkommen soll außerdem die ausgewogene Behandlung der einzelnen Situationen sowohl in den Herkunfts- als auch den Aufnahmeländern der Zuwanderer sicherstellen.

1.3

Die Konvention ist einer der sieben internationalen Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen und begründet den internationalen Schutz grundlegender, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte definierter Menschenrechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen. Die Konvention ist eine integrale, universale Kodifikation der Rechte von Wanderarbeitnehmern und ihrer Familienangehörigen auf der Grundlage des Grundsatzes der Gleichbehandlung. Sie legt die Rechte fest, die für reguläre und irreguläre Zuwanderer zu gelten haben, und stellt Mindestnormen für den Schutz ihrer bürgerlichen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und Arbeitsrechte auf. Sie bestimmt, dass Wanderarbeitnehmer über eine Reihe grundlegender Rechte verfügen müssen, die durch internationale Normen zu schützen sind.

1.4

In Fortführung früherer Übereinkommen der IAO (2) erweitert diese Konvention den Rechtsrahmen für alle weltweiten Wanderungsbewegungen, um eine faire Behandlung der Zuwanderer sicherzustellen und die Ausbeutung irregulärer Einwanderer zu unterbinden. Sie befasst sich mit dem gesamten Prozess der Migration: Vorbereitung, Auswahl, Aus- und Durchreise, Aufenthalt im Beschäftigungsstaat und Rückkehr und Wiedereingliederung im Herkunftsstaat.

1.5

Der Umgang mit Wanderungsbewegungen ist Sache der Staaten. Der EWSA tritt im Einklang mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen für eine engere bilaterale, regionale und internationale Zusammenarbeit zwischen den Herkunfts- und den Aufnahmeländern der Migranten ein. Die Konvention dient nicht der Förderung oder Lenkung von Migrationsbewegungen, sondern soll nur die universelle Anerkennung der grundlegenden Menschenrechte gewährleisten und ihren internationalen Schutz stärken.

1.6

Die Konvention nimmt eine Abstufung der behördlichen Situation von Migranten vor: Allen Betroffenen wird der Schutz der grundlegenden Menschenrechte garantiert; für legale Einwanderer gelten weiter gehende Rechte.

1.7

Mit dieser Konvention bekräftigen die Weltgemeinschaft und die Vereinten Nationen ihren Willen zu einer Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit, um den Menschenhandel und die klandestine Arbeit irregulärer Zuwanderer zu verhindern und zu beseitigen und den Schutz der grundlegenden Menschenrechte von Zuwanderern in der ganzen Welt auszudehnen (3).

2.   Die Rechte der Zuwanderer

2.1

Mit der Konvention sollen die Gleichbehandlung und die gleichen rechtlichen Bedingungen für Wanderarbeitnehmer wie für inländische Arbeitnehmer sichergestellt werden, u.a. durch folgende Bestimmungen:

Verhütung unmenschlicher Lebens- und Arbeitsbedingungen, körperlichen und sexuellen Missbrauchs sowie erniedrigender Behandlungen einschließlich Sklaverei (Artikel 10-11, 25, 54);

Gewährleistung der Rechte der Zuwanderer auf Gedanken-, Meinungs- und Religionsfreiheit (Artikel 12-13);

Anerkennung des Rechts auf Privatleben und persönliche Sicherheit (Artikel 14, 15, 16);

Sicherstellung des effektiven Zugangs zur Justiz durch gerechte Gerichtsverfahren, die das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz und diskriminierungsfreie Behandlung gewährleisten, weshalb für Wanderarbeitnehmer angemessene Gerichtsverfahren mit Dolmetschdiensten vorzusehen sind (Artikel 18, 19, 20);

Gewährleistung des Zugangs der Wanderarbeitnehmer zu Auskünften über ihre Rechte (Artikel 33, 37);

Gewährleistung des gleichberechtigten Zugangs der Wanderarbeitnehmer zu Bildungs- und Sozialleistungen (Artikel 27-28, 30, 43-45, 54);

Anerkennung des Rechts der Wanderarbeitnehmer auf Mitgliedschaft und Mitwirkung in einer Gewerkschaft (Artikel 26, 40).

2.2

Die Konvention bekräftigt außerdem, dass die Zuwanderer das Recht haben müssen, die Verbindung zu ihrem Herkunftsland aufrechtzuerhalten, u.a. durch folgende Bestimmungen:

Anerkennung des Rechts der Zuwanderer, in ihr Herkunftsland zurückzukehren, wenn sie dies wollen, gelegentliche Besuchsreisen zu machen und kulturelle Bindungen aufrechtzuerhalten (Artikel 8, 31, 38);

Anerkennung des Rechts der Zuwanderer, an den politischen Angelegenheiten ihres Herkunftsstaats mitzuwirken (Artikel 41-42);

Anerkennung des Rechts der Zuwanderer, ihre Einkünfte in ihr Heimatland zu überweisen (Artikel 32, 46-48).

2.3

Die Konvention ist von dem Grundgedanken getragen, dass alle Zuwanderer Anspruch auf ein Mindestmaß an Schutz haben. Die Konvention behandelt die beiden Situationen (regulär und irregulär), in der sich die Wanderarbeitnehmer befinden. Sie stellt einen Katalog umfangreicherer Rechte für diejenigen auf, die legal zugewandert sind, bekräftigt aber auch für die irregulären Wanderarbeitnehmer eine Reihe grundlegender Rechte.

2.4

Die Konvention schlägt vor, Maßnahmen zur Unterbindung der illegalen Zuwanderung zu ergreifen, in erster Linie durch die Bekämpfung nicht wirklichkeitsgetreuer Schilderungen, die Menschen zur irregulären Auswanderung veranlassen können, sowie durch die Bestrafung von Menschenhändlern und Arbeitgebern, die Zuwanderer ohne Papiere beschäftigen.

2.5

Es wird ein Ausschuss zum Schutz der Rechte der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen eingerichtet, der die Anwendung der Konvention überwachen soll und sich aus zehn Fachleuten zusammensetzt, die von den Staaten, die die Konvention ratifiziert haben, ernannt werden.

3.   Die Nichtratifizierung der Konvention durch die Industriestaaten

3.1

Die weltweiten Migrationsbewegungen sind die Folge der großen wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zwischen den reichen Staaten des Nordens und den Entwicklungsländern, die sich in einem immer mehr globalisierten Wirtschaftssystem noch weiter vergrößern. Bei den Staaten, die die Konvention ratifiziert haben, handelt es sich jedoch mehrheitlich um Herkunftsstaaten von Wanderarbeitnehmern. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada, Australien, Japan und die übrigen westlichen Länder, die eine große Zahl von Zuwanderern aufnehmen (4), haben die Konvention bis heute weder ratifiziert noch unterzeichnet (5).

3.2

Die Europäische Union, die eine Politik zur Aufstellung internationaler Normen in verschiedenen Bereichen verfolgt (in der WTO für den Welthandel, durch das Kyoto-Protokoll für den Umweltschutz etc.), muss auch dafür Sorge tragen, dass die Grundrechte der Zuwanderer durch internationale Normen geschützt sind.

4.   Die Zuwanderungspolitik der Europäischen Union

4.1

Die Europäische Union ist ein Raum, in dem die Menschenrechte gewährleistet und geschützt sind und in dem die meisten internationalen Rechtsinstrumente der Vereinten Nationen gelten. Darüber hinaus hat sie eigene Instrumente geschaffen, wie das Europäische Menschenrechtsübereinkommen oder die Charta der Grundrechte.

4.2

Die Europäische Union hat ebenfalls diverse Rechtsinstrumente zur Bekämpfung der Diskriminierung entwickelt (6). Dennoch haben verschiedene Fachleute ebenso wie die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (7) darauf aufmerksam gemacht, dass die Zuwanderer in ihren Arbeitsbedingungen unter Diskriminierungen zu leiden haben.

4.3

Seit der Tagung des Europäischen Rates in Tampere arbeitet die EU an einem gemeinsamen Asyl- und Zuwanderungsrecht. In Tampere wurden gute politische Grundlagen dafür geschaffen, dass die Rechtsvorschriften für Zuwanderung und Asyl in der Europäischen Union angeglichen werden und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten bei der Lenkung der Migrationsströme verbessert wird. Außerdem wurde in Tampere vereinbart, dass eine gerechte Behandlung von Drittstaatsangehörigen sichergestellt werden muss und dass Maßnahmen zur Förderung der Integration und zur Bekämpfung der Diskriminierung erforderlich sind.

4.4

Die Kommission hat zahlreiche Rechtsetzungsvorschläge ausgearbeitet, deren Erörterung im Rat jedoch nur schleppend vorankommt (8). Vier Jahre nach Tampere ist das Ergebnis dürftig. Die verabschiedeten Rechtsakte sind enttäuschend und sehr weit von den Zielen von Tampere, den Vorschlägen der Kommission, der Stellungnahme des Parlaments und der des EWSA entfernt. Im Rat ist es sehr schwierig, zu einer Einigung zu gelangen, wegen der Blockademöglichkeiten, die die gegenwärtige Abstimmungsregelung eröffnet, und der Haltung einiger Regierungen.

4.5

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat den Rat in mehreren Stellungnahmen aufgefordert, verantwortungsbewusster, konstruktiver und kooperativer zu handeln. Es wird immer notwendiger, dass die Europäische Union über einen angemessenen gemeinsamen Rechtsrahmen verfügt, um die Zuwanderung auf legale, transparente Weise zu lenken.

4.6

Der EWSA hat in verschiedenen Stellungnahmen (9) empfohlen, dass sich die Europäische Union eine angemessene Politik gibt, um die Wirtschaftsimmigration in legale Bahnen zu lenken, die irreguläre Zuwanderung zu unterbinden und den illegalen Menschenhandel zu bekämpfen.

4.7

Die Richtlinie über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit muss dringend auf der Grundlage des Vorschlags der Kommission (10) und unter Berücksichtigung der Stellungnahme des EWSA (11) angenommen werden.

4.8

Der Europäische Rat hat in Thessaloniki die Mitteilung der Kommission über Einwanderung, Integration und Beschäftigung (12) positiv aufgenommen. Darin wird festgestellt, dass die Arbeitsmigration in die Europäische Union in den nächsten Jahren deutlich zunehmen wird, worauf mit angemessenen Rechtsvorschriften zur Steuerung der Zuwanderung auf legale Weise reagiert werden muss. Die Kommission bekräftigt darüber hinaus, dass integrationspolitische Maßnahmen für die Zuwanderer notwendig sind und alle Formen der Ausbeutung und Diskriminierung bekämpft werden müssen.

4.9

In einigen Mitgliedstaaten steht das Zuwanderungsrecht nicht voll im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsübereinkommen, und auch einige europäische Richtlinien (z.B. über Familienzusammenführung) wurden von verschiedenen nichtstaatlichen Organisationen und vom Europäischen Parlament wegen der Verletzung grundlegender Menschenrechte kritisiert. Nach Ansicht des EWSA müssen die internationalen Menschenrechtsübereinkommen und die EU-Charta der Grundrechte die Grundlage für die gesamte europäische Rechtsetzung im Bereich der Zuwanderung sein.

5.   Die Werte der Europäischen Union in der Welt

5.1

In letzter Zeit hat sich von Seiten der Vereinigten Staaten eine unilaterale Denkweise für die Regelung internationaler Angelegenheiten etabliert. Das gesamte System der Vereinten Nationen leidet an schwerwiegenden Problemen, die das Resultat dieser Situation sind, was das einzige bestehende System für die multilaterale, kooperative Lösung internationaler Konflikte in Gefahr bringt.

5.2

Die Europäische Union bemüht sich unter großen Schwierigkeiten, eine gemeinsame Außenpolitik zu schaffen, in der den Vereinten Nationen eine grundlegende Rolle zukommt. Der künftige Verfassungsvertrag wird dieses außenpolitische Mandat unter den Aufgaben der Gemeinschaft verankern.

5.3

Der Multilateralismus ist die Grundlage der Außenbeziehungen der Europäischen Union, ebenso wie die aktive Mitarbeit im System der Vereinten Nationen. Erst im vergangenen Jahr bekräftigte die Europäische Kommission (13): „Die Herausforderung, vor der die Vereinten Nationen derzeit stehen, ist klar: Die Weltordnungspolitik wird ineffizient bleiben, wenn die multilateralen Institutionen nicht in der Lage sind, eine effektive Umsetzung ihrer Entscheidungen und Normen zu gewährleisten - ob es nun um die großen weltpolitischen Fragen von Frieden und Sicherheit oder um die praktische Erfüllung der Verpflichtungen geht, die auf den jüngsten UN-Konferenzen im sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Bereich eingegangen wurden. Die EU trägt in dieser Hinsicht eine besondere Verantwortung. Zum einen hat sie den Multilateralismus zu einem Grundprinzip ihrer Außenbeziehungen erhoben. Zum anderen könnte und sollte sie anderen als Vorbild dienen, indem sie ihre internationalen Verpflichtungen umsetzt oder gar darüber hinaus geht.“

5.4

Die Globalisierung schafft neue Chancen und neue Probleme für die Weltordnung (14). Die Migrationsbewegungen verursachen gegenwärtig sowohl den emigrierenden Menschen als auch den Herkunfts- und Aufnahmeländern große Probleme. Die Herausforderung, vor der wir stehen, besteht darin, die Probleme in Chancen für alle umzuwandeln: für die emigrierenden Menschen, für die Herkunftsländer und für die Aufnahmeländer. Multilateralismus und internationale Zusammenarbeit sind die Richtschnur für eine gute Weltordnungspolitik und für ein System von der Weltgemeinschaft errichteter, universal anerkannter Normen und Institutionen.

5.5

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, sagte am 29. Januar 2004 im Europäischen Parlament, die internationale Kooperation sei der beste Weg zur Steuerung der weltweiten Migrationsbewegungen, die in den nächsten Jahren zunehmen würden. „Nur durch Zusammenarbeit — bilateral, regional und weltweit — können wir Allianzen zwischen Aufnahme- und Herkunftsländern zum Nutzen aller schmieden, aus der Zuwanderung einen Motor der Entwicklung machen, wirkungsvoll den Menschenhandel bekämpfen und gemeinsame Normen für die Behandlung der Zuwanderer und die Steuerung der Immigration aufstellen.“

5.6

Europa ist ein Raum der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte aller. Um diese Werte in Zukunft zu stärken, müssen die internationalen Übereinkommen zum Schutz der grundlegenden Menschenrechte von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert und ihre Rechtsgrundsätze in das Gemeinschaftsrecht und das einzelstaatliche Recht überführt werden.

5.7

Laut Artikel 7 des Entwurfs einer Verfassung für Europa strebt die Union den Beitritt zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten an, was vom EWSA unterstützt wird. Der Ausschuss unterstützt ebenfalls die Aufnahme der EU-Charta der Grundrechte in die Verfassung, denn sie wird eine gemeinsame Grundlage für die Rechte aller Menschen im Bereich der Europäischen Union darstellen.

5.8

Diese Werte müssen auch für die internationalen Beziehungen der Union bestimmend sein. Auf der Grundlage der internationalen Übereinkommen unter dem Dach der Vereinten Nationen muss Europa den Aufbau eines gemeinsamen Bestands an Rechtsvorschriften für den internationalen Schutz der Grundrechte aller Menschen fördern, ungeachtet ihrer nationalen Herkunft oder ihres Wohnorts.

6.   Empfehlung des EWSA

6.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss spricht sich entsprechend seiner Stellungnahmen zur europäischen Zuwanderungspolitik sowie im Einklang mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments15 dafür aus, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Resolution Nr. 45/158 vom 18. Dezember 1990 verabschiedet wurde und am 1. Juli 2003 in Kraft getreten ist, ratifizieren.

6.2

Der Ausschuss fordert den Präsidenten der Kommission und den amtierenden Ratsvorsitz auf, geeignete politische Schritte zu ergreifen, damit die Mitgliedstaaten innerhalb der nächsten 24 Monate die Ratifizierung der Konvention vornehmen und auch die EU die Konvention ratifiziert, sobald ihr der Verfassungsvertrag die Befugnis zur Unterzeichnung internationaler Abkommen gibt. Um die Ratifizierung zu erleichtern, wird die Kommission eine Aufstellung der für die Konvention relevanten einzelstaatlichen und gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften erstellen. Darüber hinaus werden die Sozialpartner und andere Organisationen der Zivilgesellschaft den EWSA und die Kommission in ihren Bemühungen zugunsten der Ratifizierung unterstützen.

Brüssel, den 30. Juni 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Ägypten, Aserbaidschan, Belize, Bolivien, Bosnien-Herzegowina, Burkina Faso, Ecuador, El Salvador, Ghana, Guatemala, Guinea, Kap Verde, Kirgisistan, Kolumbien, Mali, Marokko, Mexiko, Philippinen, Senegal, Seychellen, Sri Lanka, Tadschikistan, Timor-Leste, Uganda, Uruguay.

(2)  Übereinkommen Nr. 97 von 1949 und Übereinkommen Nr. 143 von 1975.

(3)  Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration leben gegenwärtig 175 Mio. Menschen außerhalb des Landes, in dem sie geboren wurden oder dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.

(4)  In Nordamerika und Westeuropa leben 55 % aller Wanderarbeitnehmer.

(5)  Bei den Unterzeichnerstaaten handelt es sich um Länder, die den Willen bekundet haben, der Konvention in Zukunft beizutreten, wie z. B. Chile, Bangladesch, Türkei, Komoren, Guinea-Bissau, Paraguay, Santo Tomé y Príncipe, Sierra Leone, Togo.

(6)  Richtlinie 2000/43 und Richtlinie 2000/78.

(7)  Siehe den Bericht „Migranten, Minderheiten und Beschäftigung: Ausschluss und Diskriminierung in den 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union“, Oktober 2003.

(8)  Bereits 1994 empfahl die Kommission den Mitgliedstaaten in ihrem Weißbuch über die europäische Sozialpolitik (KOM (1994) 333 endg.) die Ratifizierung der Konvention.

(9)  Siehe die EWSA-Stellungnahmen zur Familienzusammenführung (ABl. C 204 vom 18.7.2000 und ABl. C 241 vom 7.10.2002), zu der Mitteilung der Kommission über eine Migrationspolitik der Gemeinschaft (ABl. C 260 vom 17.9.2001), zum Status der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. C 36 vom 8.2.2002), zu den Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (ABl. C 80 vom 3.4.2002), zu einer gemeinsamen Politik auf dem Gebiet der illegalen Einwanderung (ABl. C 149 vom 21.6.2002), zu den Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Aufnahme eines Studiums, einer Berufsbildung oder eines Freiwilligendienstes (ABl. C 133 vom 6.6.2003) und zur Zuerkennung der Unionsbürgerschaft (ABl. C 208 vom 3.9.2003).

(10)  Siehe ABl. C 332 vom 27.11.2001.

(11)  Stellungnahme des EWSA im ABl. C 80 vom 3.4.2002 (Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS).

(12)  Mitteilung der Kommission KOM(2003) 336 endg. und Stellungnahme des EWSA im ABl. C 80 vom 30.3.2004 (Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS).

(13)  Mitteilung der Kommission „Die Europäische Union und die Vereinten Nationen: ein Plädoyer für den Multilateralismus“ (KOM(2003) 526 endg.).

(14)  „Die Globalisierung bewältigen — die Schwächsten haben keine andere Wahl“.


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/53


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema „2. Pfeiler der Gemeinsamen Agrarpolitik: Perspektiven der Anpassung der Politik zur Entwicklung der ländlichen Gebiete (Die Folgemaßnahmen zur Salzburger Konferenz)“

(2004/C 302/13)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat am 29. Januar 2004 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung beschlossen, eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „2. Pfeiler der Gemeinsamen Agrarpolitik: Perspektiven der Anpassung der Politik zur Entwicklung der ländlichen Gebiete (Die Folgemaßnahmen zur Salzburger Konferenz)“.

Die Fachgruppe „Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz“ wurde mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragt.

Mit Schreiben vom 3. Mai 2004 von Herrn Silva Rodriguez, GD Landwirtschaft, ersuchte die Europäische Kommission den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, baldmöglichst eine Stellungnahme zu diesem Thema vorzulegen. In Anbetracht der Dringlichkeit der Arbeiten beschloss der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni 2004), Herrn Gilbert BROS zum Hauptberichterstatter zu bestellen, und verabschiedete mit 127 Ja-Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Im November 2003 veranstaltete die Kommission in Salzburg eine Konferenz über die Zukunft der Gemeinschaftspolitik für die Entwicklung des ländlichen Raums mit Blick auf die Erweiterung der Europäischen Union. Nach dem Vorbild der Konferenz von Cork für einen „lebendigen ländlichen Raum“ (1) konnten dort:

die wichtigsten an der Konzipierung und Durchführung der Politik für den ländlichen Raum beteiligten Akteure versammelt werden;

eine Erklärung mit Vorschlägen zu den politischen Hauptleitlinien für die an der ländlichen Entwicklung beteiligten Akteure verfasst werden;

die Schwerpunkte für den Einsatz eines „Fonds für den ländlichen Raum“ im Vorfeld der Haushaltsdebatte über die Finanzplanung für den Zeitraum 2007-2013 dargelegt werden.

Deshalb schlägt der Ausschuss vor, die Überlegungen für die Anpassungen der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums für den Zeitraum 2007-2013 auf die Schlussfolgerungen dieser Konferenz zu stützen.

1.2

Da die Vielfalt der ländlichen Gebiete durch die Erweiterung der Europäischen Union steigt, vor allem aber die soziale Frage und die Beschäftigung in den neuen Mitgliedstaaten in den Vordergrund rückt, hält es der Ausschuss für wichtig, für Kohärenz zwischen der Regionalpolitik und dem zweiten Pfeiler der GAP zu sorgen und ihr Verhältnis zueinander auszuleuchten.

1.3

Die Kommission hat zwei Dokumente veröffentlicht: die Finanzplanung für den künftigen Programmplanungszeitraum (2) und den Dritten Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt (3). Aus diesen Dokumenten geht hervor, dass die Lissabon-Strategie für eine wettbewerbsfähige und wissensbasierte Wirtschaft integraler Bestandteil der Regionalpolitik ist und dass die Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums unter die Rubrik „Nachhaltige Bewirtschaftung und Schutz der natürlichen Ressourcen“ eingeordnet wird, die wiederum mit der Strategie zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung verknüpft ist. Diese Rubrik umfasst ferner den ersten Pfeiler der GAP und die Gemeinschaftsprogramme für den Umweltschutz.

1.4

Die Schlussfolgerungen des europäischen Gipfels von Göteborg am 15./16. Juni 2001 (4) haben die Annahme einer europäischen Strategie für nachhaltige Entwicklung ermöglicht, laut der „eines der Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik und ihrer künftigen Entwicklung darin bestehen sollte, einen Beitrag zur Erreichung einer nachhaltigen Entwicklung zu leisten, indem mehr Gewicht auf die Förderung gesunder, qualitativ hochwertiger Erzeugnisse, umweltfreundlicher Produktionsmethoden […] gelegt wird“ (5).

1.5

In den Schlussfolgerungen des Rates „Landwirtschaft und Fischerei“ im Juni 2003 in Luxemburg wird die Stärkung des zweiten Pfeilers mit dem Ziel der „Förderung des Umweltschutzes, der Qualität und des Tierschutzes und als Hilfe für die Landwirte, damit diese die ab 2005 in der Union geltenden Produktionsstandards einhalten können“ (6) bestätigt. Deshalb müssen die Überlegungen zu den drei auf der Salzburger Konferenz gesetzten Aktionsschwerpunkten — eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft, der Umweltschutz und der Beitrag zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in den ländlichen Gebieten — analysiert und vertieft werden.

1.6

Auch die für die Entwicklung des ländlichen Raums verantwortlichen Akteure haben in der Schlusserklärung von Salzburg unterstrichen, dass die EU-Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums dringend deutlich vereinfacht werden müsse. Gleichzeitig müssten die Programmpartner breitere Befugnisse erhalten, um eigenverantwortlich umfassende Strategien entwerfen und durchführen zu können.

1.7

Der Ausschuss schlägt daher vor, im Rahmen dieser Initiativstellungnahme die Kohärenz zwischen der künftigen Regionalpolitik und der künftigen Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums zu untersuchen, um die „Grauzonen“ einzugrenzen, den Vorschlag für die drei künftigen Schwerpunkte der Politik für die Entwicklung des ländlichen Raums zu vertiefen und die Elemente der administrativen Vereinfachung festzulegen.

A.   KOMPLEMENTARITÄT VON POLITIK ZUR REGIONALEN ENTWICKLUNG UND POLITIK ZUR ENTWICKLUNG DES LÄNDLICHEN RAUMS

2.   Die Regionalpolitik: vom Grundsatz des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts zum Grundsatz der territorialen Solidarität

2.1

Die Annahme der Einheitlichen Akte 1986 hat den Integrationsprozess der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten beschleunigt. Das Entwicklungsgefälle und der Wettbewerb zwischen den Regionen der Europäischen Union bewirkte eine echte Kohäsionspolitik, die für die südeuropäischen Staaten und die benachteiligten Regionen ein Gegengewicht zu den Zwängen des Binnenmarkts bilden sollte. Durch den 1993 in Kraft getretenen Vertrag über die Europäische Union (Maastrichter Vertrag) wurde dann die Politik für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt institutionalisiert.

2.2

Gleichzeitig verschärften die Entwicklung der Handelsbeziehungen der Union und die schrittweise Öffnung des Binnenmarkts den Wettbewerb zwischen den europäischen Regionen, die nicht alle über dieselben Stärken verfügten. Daher sollten über die Strukturpolitik in den 90er Jahren folgende Hauptziele erreicht werden:

Abbau des Entwicklungsgefälles durch Förderung der Schaffung von Arbeitsplätzen in den benachteiligten Gebieten;

Ausgleich der Nachteile der Regionen, die nicht über dieselben Stärken und denselben Zugang zum Weltmarkt verfügten;

Förderung der Faktoren zur Wertschöpfung in den benachteiligten Gebieten.

2.3

Mit der 1999 beschlossenen Reform (Agenda 2000) wurden die einzelnen Teile der bestehenden Strukturpolitik weitergeführt und folgende Ziele angestrebt:

Erhöhung der Transferzahlungen der „am besten ausgestatteten“ Regionen an die Regionen mit Wachstumsrückstand (Verringerung der Zahl der Ziele und Aufwendung von 75 % der Gelder für Ziel 1),

Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen diesen Regionen (Interreg III),

Unterstützung der Integration der Regionen mit Entwicklungsrückstand in den Binnenmarkt mit Hilfe des Kohäsionsfonds.

2.4

Die Erklärung der für Raumentwicklung zuständigen Minister der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Potsdam, 10./11. Mai 1999 (7)) und die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Göteborg (Juni 2001) zur Festlegung einer europäischen Strategie für nachhaltige Entwicklung unterstreichen die Notwendigkeit der territorialen Kohäsion als Voraussetzung für eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung aller Gebiete der Europäischen Union. Als letztes Element dieser Entwicklung hat der Konvent in Artikel 3 des Entwurfs einer Verfassung für Europa vorgeschlagen, den territorialen Zusammenhalt als Ziel der Union festzuschreiben (8).

2.5

In der Verordnung Nr. 1260/99 (9) mit allgemeinen Bestimmungen über die Strukturfonds wird außerdem anerkannt, dass die Entwicklung des endogenen Potenzials der ländlichen Gebiete weiterhin ein vorrangiges Ziel der Entwicklung und strukturellen Anpassung der Regionen mit Entwicklungsrückstand ist.

2.6

Angesichts der Entwicklung der Leitprinzipen der Strukturpolitik, d.h. der Förderung von Wachstum und Nachhaltigkeit, fordert der Ausschuss die Kommission und den Rat auf, im Rahmen des territorialen Zusammenhalts darauf hinzuweisen, dass die Entwicklung der ländlichen Gebiete nach wie vor eines der vorrangigen Ziele der Regionalpolitik sein muss. Deshalb muss im Rahmen dieser Politik auch versucht werden, die Probleme der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Weiterbildung und des Zugangs zu den neuen Informationstechnologien (Lissabon-Strategie) im ländlichen Raum umfassend zu lösen.

3.   Die Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums: vom grünen Europa zum Luxemburger Kompromiss

3.1

Die Landwirtschaft hat sich in fast fünfzig Jahren grundlegend verändert. Im Lauf der Zeit haben diese Veränderungen die Entwicklung der Gemeinschaftspolitik für die Agrarstrukturen beeinflusst. 1962 bis 1972 beschränkte sich das Handeln der Gemeinschaft auf die Koordinierung der in der Entwicklung begriffenen Maßnahmen zur Marktlenkung. 1972 bis 1985 entstanden zwei weitere große Kategorien von Maßnahmen: einerseits die in allen Mitgliedstaaten durchzuführenden Querschnittsmaßnahmen (Berufsbildung, Vorruhestand...) und andererseits die regionalen Maßnahmen zur Minderung der strukturellen natürlichen Schwächen und zur Förderung der Landwirtschaft insgesamt.

3.2

Im Zeitraum 1985 bis 1999 führt die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen der notwendigen Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Landwirtschaft und der Anpassung des Produktionspotenzials an die Bedürfnisse des Marktes sowie zwischen Umweltschutz und der Entwicklung der benachteiligten Regionen dazu, dass die Politik zur Förderung der Agrarstrukturen zum landwirtschaftlichen Teil der neuen Strategie für die Regionalpolitik wird. So werden im Rahmen der Strukturpolitik, über die Querschnittsmaßnahmen hinaus, Maßnahmen zum Erhalt des ländlichen Raums, zum Umweltschutz, zur Entwicklung der ländlichen und touristischen Infrastruktur sowie der landwirtschaftlichen Aktivitäten durchgeführt.

3.3

Ausgehend von der Konferenz von Cork wurde im Rahmen der „Agenda 2000“ mit Hilfe von zwei Rechtsinstrumenten (EAGFL-Ausrichtung und EAGFL-Garantie) eine integrierte Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums konzipiert. Diese Instrumente zielen auf eine größere Kohärenz zwischen der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums (zweiter Pfeiler der GAP) einerseits und der Marktpolitik (erster Pfeiler der GAP) andererseits, insbesondere durch die Förderung der Diversifizierung der Wirtschaft im ländlichen Raum ab.

3.4

Ferner wurde das fakultativ anwendbare System zur Modulation der Direktzahlungen eingeführt. Durch eine Kürzung der Ausgleichszahlungen für die Absenkung der im Rahmen der Gemeinsamen Marktorganisationen für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse festgelegten institutionellen Preise ermöglicht es eine Anhebung der Mittelausstattung für Agrarumweltmaßnahmen, Vorruhestandsregelungen, Aufforstungsmaßnahmen und Ausgleichsvergütungen in benachteiligten Gebieten.

3.5

Die Verordnung Nr. 1257/1999 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den EAGFL (10) beruht auf folgenden Überlegungen:

die Maßnahmen für die Entwicklung des ländlichen Raums müssen die Marktpolitik flankieren und ergänzen;

die drei durch die Reform der GAP von 1992 eingeführten flankierenden Maßnahmen müssen die Regelung für die benachteiligten Gebiete (natürliche Einschränkungen) und für die Gebiete mit umweltspezifischen Einschränkungen ergänzen;

weitere Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raums können Bestandteil der integrierten Entwicklungsprogramme für Ziel-1- und Ziel-2-Regionen sein.

3.6

Die 22 Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten in ihre Programmplanung für die Entwicklung des ländlichen Raums einbeziehen können, sind in der Programmplanung für den Zeitraum 2000-2006 folgendermaßen aufgeteilt: 39,2 % für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und die Anpassung der Landwirtschaft, 35 % für die benachteiligten Gebiete und die Agrarumweltmaßnahmen und 25,8 % für die Anpassung und die Entwicklung der ländlichen Gebiete (11).

3.7

Durch die im Juni 2003 angenommene Reform der GAP wurde eine der Aufgaben der Politik für die Entwicklung des ländlichen Raums, die Begleitung der Anpassung der Landwirtschaft an die Bedürfnisse der Gesellschaft, bekräftigt. Der Maßnahmenkatalog wurde um die Förderung der Produktqualität, die Verbesserung der Produktionsstandards (Umweltschutz, Tierschutz), die Umsetzung von Natura 2000 und den Ausbau der Maßnahmen zugunsten der Niederlassung von Junglandwirten erweitert.

3.8

Außerdem ist die Modulation inzwischen auf europäischer Ebene obligatorisch. Dadurch dürfte innerhalb eines vollen Jahres eine Mittelumschichtung von nahezu 1,2 Milliarden EUR von der Marktpolitik auf die Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums erreicht werden.

3.9

Angesichts dieser Entwicklung unterstreicht der Ausschuss, dass es vorrangiges Ziel der zweiten Säule der GAP sein muss, die Anpassung der Landwirtschaft zu flankieren, um den aufgrund der strukturellen Entwicklungen veränderten Erwartungen der Bürger gerecht zu werden.

3.10

In der Mitteilung der Kommission über die Finanzplanung für den Zeitraum 2007-2013 wird ein stabiler und maßvoller Haushalt vorgelegt, der sich auf eine Eigenmittelobergrenze von 1,24 % des BNE der Gemeinschaft stützt. Der Ausschuss unterstützt den Vorschlag der Kommission und hebt hervor, dass eine Kürzung der Eigenmittel der Gemeinschaft zum Zeitpunkt der faktischen Erweiterung der Europäischen Union das falsche Signal geben würde.

3.11

Das Gleiche gilt für die Politik zur Förderung der ländlichen Entwicklung. „Zusätzliche“ Mittel für diese Politik würden nämlich nur aus der Anwendung des Modulationssystems stammen, also lediglich aus einer Mittelübertragung zwischen der ersten und der zweiten Säule der GAP. Deshalb fordert der Ausschuss den Rat und das Europäische Parlament dringend auf, für die Zuweisung angemessener Mittel für diese Politik zu sorgen, die sonst ausgehöhlt würde.

3.12

Die künftige Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums schließlich wird von einer neuen Kommission mit 25 Mitgliedern umgesetzt werden. Bei einer Verwaltung dieser beiden Politiken durch verschiedene Kommissionsmitglieder käme es sehr wahrscheinlich zu Kohärenzverlusten. Der Ausschuss lehnt in diesem Zusammenhang deutlich jedwedes Vorhaben ab, mit den Themenbereichen Landwirtschaft und Entwicklung des ländlichen Raums unterschiedliche Generaldirektionen und Kommissionsmitglieder zu betrauen.

4.   Die Bedeutung der Multifunktionalität der Landwirtschaft in der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums

4.1

Bereits in früheren Stellungnahmen (12) hat der Ausschuss darauf hingewiesen, dass Agrarmärkte naturgemäß instabil und in besonderem Ausmaß für Preisschwankungen anfällig sind. Deshalb sind die Marktorganisationen unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die landwirtschaftlichen Betriebe nachhaltig produzieren können. Der Ausschuss unterstreicht, dass die Aufrechterhaltung der Marktorganisationen für landwirtschaftliche Erzeugnisse auch zum Erfolg der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums beiträgt.

4.2

Bei der jüngsten Reform der GAP vom 26. Juni 2003 wurden die öffentlichen Beihilfen von der Produktion abgekoppelt. Dies macht es umso notwendiger, der wirtschaftlichen Entwicklung der landwirtschaftlichen Tätigkeit eine Perspektive zu geben, damit den neuen Anforderungen wie Artenvielfalt, Landschaftspflege oder Schaffung von Arbeitsplätzen durch den Agrarsektor besser Genüge getan werden kann. Der Ausschuss möchte in diesem Sinn daran erinnern, dass der Landbau in erster Linie deshalb zum Entstehen lebendiger ländlicher Räume beiträgt, weil er eine unmittelbare Verknüpfung zwischen den Tätigkeiten der Menschen und ihrem Lebensraum ermöglicht.

4.2.1

Die territoriale Verankerung der Produktionssysteme, die Mittel zur Aufwertung von Agrarerzeugnissen, insbesondere durch die Entwicklung geschützter Ursprungsbezeichnungen und geographischer Angaben zur Herstellung, und der Direktverkauf sind einige der Aspekte der Multifunktionalität der Landwirtschaft, die der Entwicklung des ländlichen Raums zugute kommen.

4.3

Die Landwirtschaft wird in einer Union mit 25 Mitgliedstaaten mehr als 13 Millionen direkter Arbeitsplätze und mehr als 5 Millionen indirekter Arbeitsplätze in den ihr vor- und nachgelagerten Sektoren stellen. Diese Arbeitsplätze sind auf Grund ihrer Natur stark an das jeweilige Gebiet gebunden. Ferner verstärkt die Entwicklung des innergemeinschaftlichen Handels hin zu einem immer größeren Anteil von Verarbeitungserzeugnissen der landwirtschaftlichen Lebensmittelproduktion die Verbindung zwischen dem Landbau und dem Sektor für landwirtschaftliche Lebensmittelproduktion. Somit wird die Aufrechterhaltung und die Verteilung des Landbaus in den ländlichen Räumen eine Priorität, da die Integration der ländlichen Gebiete in die regionale Wirtschaft andernfalls behindert würde.

4.4

Künftig wird sich der Landbau auf 45 % des europäischen Territoriums erstrecken, d. h. 190 Millionen Hektar (EU-27). 2001 standen mehr als 10 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche für Agrarumweltmaßnahmen unter Vertrag. 15 % der im Rahmen der Habitat- und Vogelschutzrichtlinie ausgewiesenen Schutzgebiete sind landwirtschaftliche Nutzflächen. Und 38 % der landwirtschaftlichen Nutzflächen in der EU-15 sind als Stickstoff gefährdet eingestuft worden. Diese Maßnahmen stehen im Einklang mit lokalen Umweltpflege- bzw. Raumordnungszielen. Die vorrangige Rolle der landwirtschaftlichen Tätigkeit bei der Raumbewirtschaftung steht weiterhin außer Frage.

4.5

Der Ausschuss möchte erneut darauf aufmerksam machen, dass die multifunktionalen Aspekte der landwirtschaftlichen Produktion in mehrfacher Hinsicht zur Erhaltung eines lebendigen ländlichen Raums beitragen. Die Kommission und der Rat sollten in der Präambel jeder weiteren Leitlinie für die Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums darauf hinweisen.

4.6

Der Ausschuss unterstützt zwar die Schlussfolgerungen der Salzburger Konferenz zur Diversifizierung der Wirtschaft im ländlichen Raum, betont jedoch, dass nicht der Fehler begangen werden sollte, den ländlichen Raum zu verstädtern, d.h. die Entwicklungsmaßnahmen für die städtischen Gebiete sollten nicht auf die ländlichen Gebiete übertragen werden. In diesem Zusammenhang erarbeitet der Ausschuss derzeit eine Initiativstellungnahme zum Thema „stadtnahe Landwirtschaft“ (13). Der Schwerpunkt „Diversifizierung der Wirtschaft im ländlichen Raum“ im Rahmen der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums sollte deshalb nur wenige, eng mit der Landwirtschaft verknüpfte Bereiche umfassen; insbesondere Dienstleistungen für die ländliche Bevölkerung zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, Entwicklung des Agrartourismus und Unterstützung der Mehrfachtätigkeit auf der Grundlage einer landwirtschaftlichen Aktivität.

5.   Die Besonderheiten und Grenzen der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums

5.1

Aus den Schlussfolgerungen des dritten Kohäsionsberichts geht hervor, dass die fortbestehenden regionalen Ungleichheiten hinsichtlich nachhaltiger Produktion, Produktivität und Schaffung neuer Arbeitsplätze auf strukturelle Unzulänglichkeiten bei den Schlüsselfaktoren für die Wettbewerbsfähigkeit zurückzuführen sind. Der Ausschuss betont, dass sich die Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums auch an diesen Grundsätzen orientieren muss, um einen Beitrag zur strukturellen Entwicklung der ländlichen Gebiete zu leisten.

5.2

Mit der Erweiterung der Europäischen Union wächst das Problem der wirtschaftlichen Entwicklung der ländlichen Gebiete, da in den neuen Mitgliedstaaten eine hohe „verdeckte Arbeitslosigkeit“ vorhanden ist. Dadurch wird die Unterscheidung zwischen Regionalpolitik und Politik für die Entwicklung des ländlichen Raums noch komplizierter. Der Ausschuss schlägt vor, im Interesse einer besseren Verständlichkeit die der Regionalpolitik und der Politik für die Entwicklung des ländlichen Raums gemeinsamen Themen im Rahmen einer weiteren Verordnung über die Strukturfonds zu präzisieren und die Zahl der im Rahmen des einen oder anderen dieser Politikbereiche zu finanzierenden Maßnahmen zu begrenzen.

5.3

Aufgrund der Gebietsgebundenheit der direkten und indirekten Beschäftigung und der Ausdehnung der Kulturlandschaft sind flankierende Maßnahmen im Hinblick auf die Anpassung der Landwirtschaft an die veränderten Erwartungen der Bürger nach wie vor vorrangig. Durch die Erhaltung und Förderung der landwirtschaftlichen Tätigkeiten tragen auch der erste und der zweite Pfeiler der GAP zur Verwirklichung der ländlichen Entwicklungsziele bei.

5.4

Die Erweiterung der Europäischen Union stellt für die Zukunft der Gemeinsamen Agrarpolitik ebenfalls eine wichtige Herausforderung dar. Der Ausschuss betont, dass dem Erfahrungsaustausch und der Übertragung von Verfahren bei der Umsetzung des Zweiten Pfeilers der GAP in Zukunft ebenfalls ein besonderer Stellenwert eingeräumt werden müsse.

5.5

Schließlich möchte der Ausschuss hervorheben, dass dünn besiedelte Regionen wie Inseln, arktische Gebiete und Berggebiete aufgrund ihrer dauerhaften naturgegebenen Strukturschwächen immer noch nicht umfassend von der Vollendung des Binnenmarktes profitieren können. Bei der Durchführung der Regionalpolitik sowie der Politik zur Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums muss diesem Aspekt Rechnung getragen werden, indem ein höherer Kofinanzierungs-Anteil zum Ausgleich dieser Nachteile vorgeschlagen wird. Der Ausschuss setzt sich derzeit in einer Initiativstellungnahme (14) damit auseinander, wie eine bessere wirtschaftliche Integration von Regionen mit naturgegebenen Strukturschwächen erreicht werden kann.

5.6

Schließlich unterstreicht der Ausschuss, dass sich die Möglichkeiten der öffentlichen Hand, eine harmonische Entwicklung der Territorien der Europäischen Union sicherzustellen, nicht in der Politik zur Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums und der Regionalpolitik erschöpfen. Auch eine geeignete territoriale Verankerung der Leistungen der Daseinsvorsorge trägt zum territorialen Zusammenhalt bei.

B.   VERTIEFUNG DER VORSCHLÄGE ZUR VERBESSERUNG DER MASSNAHMEN

6.   Die im Rahmen des Luxemburg-Kompromisses vom 26. Juni 2003 beschlossenen Maßnahmen

6.1

Die Reform der GAP im Juni 2003 führte zu einer stärkeren Verbindung zwischen dem zweiten Pfeiler, der der Entwicklung des ländlichen Raums gewidmet ist, und der Anpassung des ersten Pfeilers. Dabei wurden einige neue Begleitmaßnahmen zum ersten Pfeiler der GAP eingeführt, so dass ihre Anzahl von 22 auf 26 angestiegen ist.

6.1.1

Zwei neue Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensmittelqualität wurden eingeführt. (freiwillige Teilnahme an einem nationalen Programm zur Vergabe anerkannter Qualitätszeichen und Absatzförderungsaktionen und Veranstaltungen, bei denen die Verbraucher über die landwirtschaftlichen Erzeugnisse mit Qualitätszeichen informiert werden). In den zwei weiteren neuen Maßnahmen wird der Schwerpunkt auf die Anpassung der Produktionstechniken an die europäischen Normen im Bereich Umwelt, artgerechte Tierhaltung sowie Pflanzen- und Tiergesundheit gelegt.

6.1.2

Mehrere bestehende Maßnahmen wurden angepasst (Berücksichtigung der Fragen der tiergerechten Haltung im Rahmen der Agrarumweltmaßnahmen, verstärkte öffentliche Unterstützung für die Niederlassung von Junglandwirten, Umsetzung der Habitat- und der Vogelrichtlinie (Natura 2000) und Finanzierung von Investitionen in der Forstwirtschaft im Rahmen der Waldbewirtschaftung anhand bestimmter Sozial- und Umweltkriterien).

6.2

In Bezug auf die neuen Mitgliedstaaten wurde ein vorläufiges Programm zur Entwicklung des ländlichen Raums für die Jahre 2004-2006 angenommen. Zusätzlich zu den vier neuen Begleitmaßnahmen sieht dieses Programm eine Unterstützung für Verbände von Landwirten und für semi-subsistenzwirtschaftliche Betriebe sowie die Finanzierung der technischen Unterstützung und eine Ergänzung zu den Direktbeihilfen des ersten Pfeilers der GAP vor.

7.   Neue Wege für die drei Schwerpunkte von Salzburg

7.1

Die Vollendung des Binnenmarktes sowie seine schrittweise Öffnung für die Agrarwirtschaften mit naturgegebenen komparativen Vorteilen oder weniger strengen Umweltauflagen macht eine weitere Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Agrarmodells notwendig.

7.2

Der Ausschuss befürwortet, dass Investitionshilfen für die landwirtschaftlichen Betriebe im Rahmen der Politik für die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums ausgeweitet werden müssen. Die Investitionen, die es den landwirtschaftlichen Betrieben ermöglichen, Umweltauflagen zu erfüllen und die Tierhaltungs- und Arbeitsbedingungen zu verbessern, sollten gefördert werden, zumal wenn sie die landwirtschaftliche Tätigkeit in einem Gebiet festigen.

7.3

Der Ausschuss hält es für erforderlich, die Maßnahme zur Einrichtung der landwirtschaftlichen Beratungsdienste im Hinblick auf die Unterstützung bei der Anpassung an die neuen Produktionsnormen vorzuziehen. Tatsächlich kann diese Maßnahme erst ab 2006 in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Die Cross Compliance jedoch wird ab 2005 angewendet.

7.4

Die Abschwächung der Instrumente zur Regulierung der Märkte für Agrarerzeugnisse, die Klimaveränderungen und die Maßnahmen im Zusammenhang mit den Krisen der Lebensmittelsicherheit machen seit einigen Jahren deutlich, wie wichtig es ist, den Umsatz der landwirtschaftlichen Betriebe zu steuern. In diesem Zusammenhang hat die Kommission im Rahmen der Reform der GAP im Jahr 2003 angekündigt, in einem Bericht zu untersuchen, ob ein Teil der Modulation auf nationaler Ebene für die Bewältigung von Risiken, Krisen und Naturkatastrophen verwendet werden kann. Der Ausschuss erinnert daran, dass die Kommission diesen Bericht, in dem auch die nationalen und gemeinschaftlichen Maßnahmen zur Entwicklung von Systemen zur Versicherung der Landwirte zu erörtern wären, vor Ablauf des Jahres 2004 vorlegen muss. Der Ausschuss würde es für angebracht halten, eine eventuelle begleitende Nutzung des zweiten Pfeilers zu analysieren.

7.5

Die künftige Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums sollte den zweiten Schwerpunkt auf den Umweltschutz und die Raumbewirtschaftung legen, wobei Agrarumweltmaßnahmen und der Ausgleich naturgegebener Strukturschwächen auf der Grundlage gemeinsamer Kriterien im Hinblick auf die Gewährleistung des territorialen Gleichgewichts die wichtigsten Instrumente sein sollten.

7.6

Die Reform der GAP macht die Gewährung von Direktbeihilfen an die Landwirte von der Einhaltung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften (19 Richtlinien und Verordnungen) in den Bereichen Umwelt, öffentliche Gesundheit, Tier- und Pflanzengesundheit sowie artgerechte Tierhaltung abhängig. Der Ausschuss betont, dass dieser neue Aspekt des ersten Pfeilers der GAP nicht mit den Agrarumweltmaßnahmen zu verwechseln ist. Die Agrarumweltmaßnahmen sind nicht als Rechtsvorschriften zu verstehen, sondern fördern die freiwilligen und partizipativen Maßnahmen von Landwirten zur Durchführung umweltgerechter und den natürlichen Lebensraum schützender landwirtschaftlicher Produktionsverfahren.

7.7

Der Ausschuss verweist darauf, dass die verwaltungsrechtlichen Bestimmungen zur Durchführung der Agrarumweltmaßnahmen vereinfacht werden müssen. Desgleichen müssen die Ziele dieser Maßnahmen unter Berücksichtigung der Subsidiarität festgelegt werden. Da der Gemeinschaftshaushalt gleich bleibt, fragt sich der Ausschuss auch, inwieweit der Anwendungsbereich dieser Maßnahmen auf andere Problemfelder im Umweltbereich ausgeweitet werden muss. Der Schwerpunkt sollte jedoch auf diejenigen Agrarumweltmaßnahmen gelegt werden, die die Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktionssysteme mit dem Ziel eines ausgewogenen Agrarsystems fördern.

7.7.1

Aufgrund der Erklärung des Europäischen Rats von Göteborg sollten Agrarumweltmaßnahmen verpflichtender Bestandteil aller nationalen Programme sein.

7.7.2

Der Ausschuss hebt hervor, dass die Finanzierung von Natura 2000 nicht zu Lasten der bestehenden Maßnahmen gehen darf. Die Kommission sollte deshalb neue Finanzierungsmöglichkeiten auftun, um die durch die Umsetzung der Habitat- und Vogelschutz-Richtlinie verursachten Kosten auszugleichen.

7.8

Der dritte Schwerpunkt der zukünftigen Politik zur Entwicklung des ländliches Raums sollte die Diversifizierung der ländlichen Wirtschaft in Verbindung mit dem Landbau sein, die dazu beitragen sollte, die Bevölkerung im ländlichen Raum zu halten.

7.9

Aus dem dritten Kohäsionsbericht der Kommission geht hervor, dass drei Bereiche — Tourismus, Handwerk und ländliches Erbe — sowohl Gegenstand der regionalen Politik als auch der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums sein müssen. Dieses Gleichgewicht muss weiterhin gewährleistet werden. Augenscheinlich sollen die ländlichen Infrastrukturen nicht mehr durch die Strukturfonds finanziert werden. Der Ausschuss spricht sich dagegen aus, dass diese Art von Investitionen aus der Regionalpolitik herausgenommen und auf die Politik zur Förderung der ländlichen Entwicklung übertragen wird.

7.10

In Anbetracht der Entwicklung der Regionalpolitik schlägt der Ausschuss ferner vor, dass die Maßnahmen zur Erneuerung bzw. Aufwertung des ländlichen Kulturerbes, die nicht Teil des Tourismus im ländlichen Raum sind, nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der Regionalpolitik fallen sollen.

7.11

Schließlich schlägt der Ausschuss vor, eine Reihe von Dienstleistungen zur Verbesserung der Lebensqualität der ländlichen Bevölkerung (beispielsweise Ersatzleistungen für Landwirte) unter den Schwerpunkt „Wirtschaft im ländlichen Raum“ einzuordnen.

C.   VERBESSERUNG DER BEDINGUNGEN FÜR DIE DURCHFÜHRUNG DER POLITIK ZUR ENTWICKLUNG DES LÄNDLICHEN RAUMS

8.

Eine Verbesserung der Verwaltungsbedingungen muss zuallererst an der Kontinuität der Programmplanung für die Entwicklung des ländlichen Raums ansetzen. Der Ausschuss unterstützt daher die Kommission bei ihren Anstrengungen, eine neue Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums auszuarbeiten, um die „Latenzzeit“ zwischen zwei Programmplanungszeiträumen so weit wie möglich zu begrenzen.

8.1

Die in einigen Mitgliedstaaten aufgetretenen Schwierigkeiten bei der verwaltungsmäßigen Umsetzung der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums zeugen davon, dass der Einsatz von mehreren Finanzinstrumenten nach unterschiedlichen Regeln die Durchschaubarkeit des öffentlichen Handelns beeinträchtigen kann. So konnte der Fortschritt, der mit der Verlagerung des Schwerpunktes der Maßnahmen auf die Entwicklung des ländlichen Raums in ein- und derselben Verordnung erzielt wurde, von den Anspruchsberechtigten als eine zusätzliche Komplikation der Verwaltungsvorgänge aufgefasst werden.

8.2

Die Vereinfachung der Programmplanung besteht darin, dass die Maßnahmen der Politik für die Entwicklung des ländlichen Raums nunmehr im Rahmen eines einzigen Fonds verwaltet werden. Der Ausschuss betont jedoch, dass die Kohärenz zwischen den Modalitäten für die Verwaltung dieses einzigen Fonds und den Modalitäten für die Verwaltung der anderen Fonds gewährleistet sein muss.

8.3

Die Gliederung der zukünftigen Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums in drei Schwerpunkte (Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft, Raumbewirtschaftung und Diversifizierung der ländlichen Wirtschaft) muss bei der Ausarbeitung der nächsten Verordnung über die Entwicklung des ländlichen Raums ebenfalls zum Tragen kommen. In der Verordnung könnten die Interventionsgrundsätze geregelt, die Ziele der drei Schwerpunkte festgelegt und die möglichen Maßnahmenarten aufgezählt werden (Investitionsbeihilfen, zinsvergünstigte Darlehen, mehrjährige öffentliche Förderung mit bestimmten Vergünstigungen, technische Unterstützung, Finanzierungsmethoden usw.). Die Modalitäten für die Umsetzung der gewählten Maßnahmen sollten auf nationaler Ebene nach dem Subsidiaritätsprinzip geregelt werden. Die Verwaltung eines einzigen Beschlusses je Mitgliedstaat in Form eines strategischen Dokuments hätte den Vorteil, dass ein fester Gemeinschaftsrahmen für den Programmplanungszeitraum aufgestellt werden könnte.

8.4

Das derzeitige Verfahren zur Annahme von Änderungen der Maßnahmen im STAR-Ausschuss (Verwaltungsausschuss für Agrarstrukturen und die Entwicklung des ländlichen Raums) ist nicht flexibel genug, da das Verfahren zur Ex-ante-Bewertung nach wie vor zu lang ist. Der Ausschuss schlägt vor, dass sich das neue Verfahren an dem Verfahren zur Validierung von staatlichen Beihilfen orientieren soll. Mit anderen Worten: Wird der Plan zur Entwicklung des ländlichen Raums am Anfang der Programmplanung angenommen, dann könnten die Änderungen bei der Durchführung der Maßnahmen der Kommission zur Prüfung der Rechtmäßigkeit vorgelegt werden (Ex-post-Bewertung).

8.5

Die Validierung der operationellen Programme ist in Abhängigkeit vom Verwaltungsmodell der Mitgliedstaaten eine Frage der nationalen bzw. subnationalen Subsidiarität. Der Kommission obläge es folglich, für die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen aufgrund der durchgeführten Maßnahmen zu sorgen, die Rechtmäßigkeit der Interventionsmodalitäten zu prüfen und die Kohärenz mit den Strukturfonds sicherzustellen. Der Ausschuss unterstreicht zudem, dass die Kommission aufgrund ihrer Erfahrungen den Erfahrungsaustausch im Rahmen der technischen Unterstützung insbesondere der neuen Mitgliedstaaten begleiten könnte.

8.6

Der Ausschuss hält eine Reduzierung der Etappen bei der Programmvalidierung für wünschenswert. Dabei ist der Verantwortungsbereich der Entscheidungsträger auf allen Ebenen einzugrenzen (Kommission, Mitgliedstaaten und Gebietskörperschaften).

8.7

Ein einziger Fonds für alle Maßnahmen im Rahmen der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums bedeutet gleichzeitig eine Vereinfachung der Finanzverwaltung. Dieser neue Fonds müsste in seinen wichtigsten Merkmalen den Strukturfonds entsprechen. Mit anderen Worten müsste er

auf einem vorausschauenden einjährigen Zeitplan beruhen,

eine Mehrjahresplanung beinhalten und

flexiblere Zahlungsmodalitäten aufweisen als der EAGFL, Abteilung Garantie (Verpflichtungsermächtigungen — Zahlungsermächtigungen).

8.8

Die Frage der Kontrollen ist ebenfalls Teil einer vereinfachten verwaltungsmäßigen Durchführung der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums. Der Ausschuss befürwortet die von der Kommission im dritten Kohäsionsbericht dargelegten Grundzüge, insbesondere in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Kontrollaufgaben. Wird ein bestimmter Grenzwert unterschritten, so könnte der betreffende Mitgliedsstaat für die jeweiligen Programme sein nationales Kontrollsystem in Anspruch nehmen. Der Ausschuss betont, dass diese Grundzüge bei der Durchführung der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums im Hinblick auf wirksame Kontrollen und somit eine korrekte Verwendung der Gemeinschaftsmittel Anwendung finden sollten.

8.9

Die im Rahmen der Agenda 2000 für die Strukturfonds eingeführte leistungsgebundene Reserve wird eher als eine Strafmaßnahme aufgefasst, die im Falle von Verwaltungsproblemen bei der Umsetzung der Programme greift. Ferner könnte eine Zuweisung, die einzig und allein nach dem Kriterium der Mittelausschöpfung erfolgt, negative Auswirkungen haben, weil sie zu einer raschen Planung und einer strengen Erfolgskontrolle der Operationsausführung führt, was wiederum der Durchführung eines Mehrjahresprogramm zuwiderlaufen würde. Deshalb betont der Ausschuss, dass der Grundsatz der leistungsgebundenen Reserve nicht auf die künftige Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums angewendet werden sollte.

8.10

Die partnerschaftliche Zusammenarbeit führt ebenfalls zu einer leichteren Umsetzung der Programme. Der Ausschuss hält es für wünschenswert, dass jeder Mitgliedstaat nach dem Vorbild der Regionalpolitik von der Phase der Programmentwicklung bis zur Phase der Umsetzung, einschließlich der Folgemaßnahmen, für eine Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Verwaltungsebenen sowie mit den Sozialpartnern und den Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft sorgt.

8.11

Seit der Einleitung der Initiative LEADER im Jahr 1989 wurde der Schwerpunkt auf die Suche nach neuen Ansätzen zur Entwicklung des ländlichen Raums gelegt, was zum Erfolg dieser Initiative der Kommission beigetragen hat. Ferner hat die derzeitige Programmplanungsphase die Multiplikatorwirkung des Erfahrungsaustauschs verdeutlicht, der die Partnerschaften zwischen lokalen Verbänden der verschiedenen Länder erleichtert. Der Ausschuss hebt hervor, dass die Initiative LEADER weiterhin die lokalen Initiativen begleiten sollte, wobei insbesondere über eine im Rahmen der Politik zur Förderung der ländlichen Entwicklung festgelegten Aktionslinie nach neuen Wegen der Entwicklung der ländlichen Gebiete zu suchen wäre. Die frühzeitige Feststellung des Bedarfs an Weiterbildungsmaßnahmen in einem ländlichen Gebiet, die Suche nach neuen Absatzmärkten für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse sowie die Entwicklung von Synergien zwischen den Wirtschaftsakteuren ein- und desselben Gebiets sind Themen, die der Zukunft der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums eine neue Ausrichtung geben können. Der Ausschuss befürwortet daher die Fortführung der Initiative LEADER im Rahmen der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums, um diesbezüglich nach innovativen Lösungsansätzen zu suchen.

Brüssel, den 30. Juni 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Europäische Konferenz über ländliche Entwicklung vom 7. bis 9. November 1996 in Cork (Irland);

http://www.europa.eu.int/comm/agriculture/rur/cork_de.htm.

(2)  KOM(2004) 101 endg.

(3)  KOM(2004) 107 endg.

(4)  Europäischer Rat von Göteborg, 15./16. Juni 2001;

http://europa.eu.int/comm/gothenburg_council/sustainable_en.htm bzw.

(5)  http://europa.eu.int/comm/gothenburg_council/sustainable_fr.htm.

(6)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat von Göteborg (15./16. Juni 2001) — Dokument Nr. 200/1/01, Ziffer 31.

(7)  2516. Tagung des Rates LANDWIRTSCHAFT UND FISCHEREI am 11., 12., 17., 18., 19., 25. und 26. Juni 2003 in Luxemburg (Presse 164), Seite 7, Ziffer 3.

Potsdam, Mai 1999;

(8)  http://europa.eu.int/comm/regional_policy/sources/docoffic/official/reports/som_de.htm.

Artikel 3: Die Ziele der Union: „Die Union [...] fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.“

(9)  http://europa.eu.int/futurum/constitution/part1/title1/index_de.htm#Article3.

(10)  Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 des Rates vom 21. Juni 1999 mit allgemeinen Bestimmungen über die Strukturfonds; ABl. Nr. L 161 vom 26.6.1999, S. 1–42.

(11)  Verordnung (EG) Nr. 1257/1999 des Rates vom 17. Mai 1999 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) und zur Änderung bzw. Aufhebung bestimmter Verordnungen; ABl. L 160 vom 26.6.1999, S. 80-102.

(12)  Fact Sheet „Rural development in the European Union“ („Ländliche Entwicklung in der Europäischen Union“) — S. 9, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Union 2003.

„Eine Politik zur Konsolidierung des europäischen Agrarmodells“, CES 953/99, ABl. C 368 vom 20.12.1999, S. 76-86. „Die Zukunft der GAP“, CES 362/2002, ABl. C 125 vom 27.5.2002, S. 87-99.

(13)  „Stadtnahe Landwirtschaft“, Entwurf einer Stellungnahme CESE 1324/2003 (Annahme auf der September-Plenartagung 2004).

(14)  „Bessere Integration von Regionen mit anhaltenden naturbedingten Strukturschwächen“, Vorentwurf einer Stellungnahme R/CES 631/2004 (Annahme auf der September-Plenartagung 2004).


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/60


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Dritten Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt — Eine neue Partnerschaft für den Zusammenhalt: Konvergenz, Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenarbeit“

(KOM(2004) 107 endg.)

(2004/C 302/14)

Die Europäische Kommission beschloss am 8. Dezember 2003, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen: „ Dritter Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt — Eine neue Partnerschaft für den Zusammenhalt: Konvergenz, Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenarbeit “

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten des Ausschusses beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 8. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr BARROS VALE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 118 Ja-Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Der „Dritte Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt“ unter dem Motto „Eine neue Partnerschaft für den Zusammenhalt: Konvergenz, Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenarbeit“ umfasst eine Bilanz der Kohäsionspolitik in der Europäischen Union und insbesondere der Fortschritte beim wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt sowie eine Vorausschau.

1.2

Der Bericht ist in vier Hauptteile gegliedert und enthält zudem auf den ersten Seiten eine Zusammenfassung sowie Schlussfolgerungen mit einem Vorschlag für die Reform der Kohäsionspolitik:

Teil 1 — Zusammenhalt, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und Wachstum - Aktuelle Lage und Tendenzen;

Teil 2 — Auswirkungen der Politik der Mitgliedstaaten auf den Zusammenhalt;

Teil 3 — Auswirkungen der Gemeinschaftspolitik: Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und Zusammenhalt;

Teil 4 — Auswirkungen und zusätzlicher Nutzen der Strukturpolitik.

1.3

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Ergebnisse, die in den letzten Jahren in der Kohäsionspolitik, einem der grundlegenden Politikbereiche der Europäischen Union, erreicht wurden. Er ist der Auffassung, dass die in diesem Bericht enthaltenen Vorschläge den Zielen entsprechen, für die sich der Ausschuss bereits in einer Reihe von Dokumenten ausgesprochen hat.

1.3.1

In diesem Zusammenhang begrüßt der Ausschuss auch, dass die Kommission Vorschläge zur Renationalisierung der Kohäsionspolitik unberücksichtigt lässt.

1.4

Um der Komplexität und thematischen Vielfalt des Berichts gerecht zu werden und eine bessere Darstellung der Problematik zu ermöglichen, orientiert sich der Aufbau der vorliegenden Stellungnahme an dem des Kommissionsberichts. Im Schlussteil dieser Stellungnahme werden die bisherigen Entwicklungen bewertet und die Zukunftsperspektiven erläutert.

2.   TEIL I — Zusammenhalt, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und Wachstum - Aktuelle Lage und Tendenzen

2.1

Auf der Grundlage verschiedener statistischer Daten wird in dem Bericht auf den Stand des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts in Europa und die etwaigen positiven Auswirkungen auf die Konvergenz eingegangen.

2.2

In dem Dokument werden die Fortschritte der „Kohäsionsländer“ in Bezug auf die reale Konvergenz — anhand von Daten für 2001 und teilweise für 2002 — recht eingehend behandelt und verschiedene Perspektiven aufgezeigt. Die Analyse erstreckt sich auch auf den Stand des Zusammenhalts in einem erweiterten Europa.

2.3

Dieser Teil des Berichts beschäftigt sich somit mit dem Anstieg des Pro-Kopf-BIP und der Beschäftigung in den Kohäsionsländern während der letzten Jahre im Vergleich zum Rest der EU und mit der Entwicklung der Disparitäten in der EU15 in den letzten zehn Jahren, wobei der besondere Schwerpunkt auf den Ziel-1-Regionen liegt. Des Weiteren wird die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Mitgliedstaaten während der jüngsten Vergangenheit untersucht, wobei auf die Wirtschaftsleistung dieser Länder eingegangen und darauf hingewiesen wird, dass für eine Annäherung dieser Länder an das durchschnittliche Einkommensniveau der EU hohe Wachstumsraten über einen längeren Zeitraum erforderlich sein werden.

2.4

Die Bevölkerungsalterung in der Union sowie die maßgeblichen Faktoren für Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung, wie z.B. Innovation und Wissen, gehören zusammen mit dem Umweltschutz im Rahmen der Ziele von Göteborg zu den Aspekten, auf die in diesem Teil des Berichts abgehoben wird.

2.5   Allgemeine Aspekte

2.5.1

In den letzten zehn Jahren und vor allem während der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre ist der Zusammenhalt in der EU sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene deutlich gestiegen, d.h. die Disparitäten sowohl zwischen den Ländern als auch zwischen den Regionen haben sich verringert. Diese Entwicklung war jedoch ausgeprägter auf Ebene der Mitgliedstaaten als auf Ebene der Regionen.

2.5.2

Trotz des positiven Beitrags der Strukturfonds und trotz der bisher erzielten Fortschritte bestehen auch weiterhin sehr große Unterschiede im Hinblick auf Wohlstand und Wirtschaftsleistung, was auf die strukturellen Schwächen einiger Länder und Regionen zurückzuführen ist.

2.5.3

Außerdem bereitet die Wettbewerbsfähigkeit der am wenigsten wohlhabenden Regionen nach wie vor Probleme. Einige Regionen Europas sind zu stark abgeschieden, es fehlt an qualifizierten Arbeitskräften und Investitionen, und sie verfügen nicht über die Mittel, um den Anschluss an die Informationsgesellschaft zu schaffen.

2.5.4

Im Bereich des sozialen Zusammenhalts und der Beschäftigung wurden anscheinend am wenigsten Fortschritte erzielt:

2.5.4.1

Die Langzeitarbeitslosigkeit hält beharrlich an.

2.5.4.2

Ein leichter Anstieg der Beschäftigung in der EU15 im Jahr 2001 hat in Verbindung mit dem Beschäftigungsrückgang in den Beitrittsländern während der letzten Jahre zu einer immer größeren Verschärfung der regionalen Disparitäten geführt.

2.5.4.3

Das natürliche Bevölkerungswachstum ist in etlichen Regionen Europas rückläufig und wird in den nächsten Jahren voraussichtlich noch weiter zurückgehen (den demographischen Prognosen zufolge ist in den einzelnen Mitgliedstaaten und den Beitrittsländern mit nur wenigen Ausnahmen ein Rückgang zu erwarten).

2.5.4.4

Für die Beschäftigung am relevantesten ist jedoch die Tatsache, dass die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schneller schrumpft als die Gesamtbevölkerung. Nach den Prognosen für 2025 werden 35 % der Erwerbstätigen in der EU15 über 50 Jahre alt sein, im Vergleich zu 26 % im Jahr 2000. Parallel dazu wird der Anteil der Menschen über 65 kontinuierlich weitersteigen.

2.5.4.5

Die Daten lassen einen Anstieg des Altersabhängigkeitsquotienten erkennen. In der EU15 beträgt der Anteil der über 65-Jährigen an der Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter derzeit fast 25 %, d.h. auf jede Person im Rentenalter kommen vier 15- bis 64-Jährige. Bis 2025 wird dieser Anteil auf 36 % ansteigen, d.h. auf jede Person im Rentenalter werden weniger als drei Personen im erwerbsfähigen Alter kommen. In den Beitrittsländern wird dieser Anteil von weniger als 20 % auf über 30 % ansteigen.

2.5.4.6

In dem Bericht wird allerdings deutlich gemacht, dass aus diesen Daten nicht hervorgeht, wie viele Menschen im erwerbsfähigen Alter auch tatsächlich beschäftigt sein werden und damit die Renten der über 65-Jährigen finanzieren können (2002 waren in der EU15 lediglich 64 % der Personen im erwerbsfähigen Alter auch tatsächlich erwerbstätig und in den Beitrittsländern sogar nur 56 %, wobei diese Zahlen aber je nach Land und Region stark variieren).

2.5.5

Im Bericht wird darauf hingewiesen, dass mit dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten im Mai 2004 die Disparitäten - sowohl was das Einkommen als auch die Beschäftigung betrifft - zwischen den Ländern und Regionen der Europäischen Union noch größer werden. Diese Länder haben zwar in den letzten Jahren ein starkes Wachstum verzeichnet, aber ihr Pro-Kopf-BIP und vielfach auch ihre Beschäftigungsquote liegen noch deutlich unter dem EU15-Durchschnitt.

2.5.6

Aufgrund der zunehmenden Verflechtung im Handel und bei Investitionen kann über die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Mitgliedstaaten die erforderliche Dynamik entstehen, um EU-weit die Weichen für höhere Wachstumsraten zu stellen und diese aufrechtzuerhalten. Die positiven Impulse werden sich vor allem in Deutschland und Italien bemerkbar machen.

2.5.7

In der erweiterten Union können die Mitgliedstaaten nach ihrem Pro-Kopf-BIP in KKS in drei Gruppen eingeteilt werden:

in der ersten Gruppe, die 12 der gegenwärtig 15 Mitgliedstaaten umfasst, liegt das Pro-Kopf-BIP deutlich über dem Durchschnitt der EU25 (10 Prozentpunkte oder mehr);

in der zweiten Gruppe mit insgesamt sechs Ländern — die restlichen drei derzeitigen Mitgliedstaaten Spanien, Portugal und Griechenland plus Zypern, Slowenien, Malta und die Tschechische Republik — liegt das Pro-Kopf-BIP zwischen 73 % und 92 % des EU25-Durchschnitts;

in der dritten Gruppe mit acht Ländern (einschließlich Rumänien und Bulgarien) liegt das Pro-Kopf-BIP unter 60 % des Gemeinschaftsdurchschnitts.

2.5.8

In dem Kapitel über den territorialen Zusammenhalt wird herausgestellt, dass die grenzüberschreitende, transnationale und interregionale Zusammenarbeit zwischen den Regionen einen wichtigen Beitrag zu einer ausgewogenen Entwicklung des Gemeinschaftsgebiets leistet.

2.5.9

Im Hinblick auf die Bestimmungsfaktoren für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit bestehen dem Bericht zufolge weiterhin regionale Disparitäten:

was die Humanressourcen angeht, haben die am wenigsten wohlhabenden Regionen einen hohen Anteil an Schulabbrechern; die Anzahl derjenigen, die an Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen, liegt in den Kohäsionsländern mit Ausnahme Irlands weit unter dem Durchschnitt und ist in den Beitrittsländern vielfach noch niedriger.

in dem Bericht werden verschiedene Indikatoren angeführt, an denen sich die großen Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten der EU15 bei der Innovation ablesen lassen. Die Ausgaben für FuE belegen den Rückstand der Ziel-1-Regionen (die Unternehmensausgaben für FuE liegen im Verhältnis zum BIP erheblich unter dem europäischen Durchschnitt und belaufen sich auf etwas mehr als ein Fünftel des Gemeinschaftsdurchschnitts).

2.5.9.1

In den Beitrittsländern wird bezogen auf das BIP weitaus weniger für FuE ausgegeben als in den meisten Mitgliedstaaten der EU15, jedoch nur geringfügig weniger als in den Ziel-1-Regionen.

2.5.9.2

Wie in der EU15 konzentriert sich auch in den Beitrittsländern ein relativ hoher Anteil der FuE-Ausgaben in den wohlhabenderen Regionen.

2.5.9.3

Die regionalen Disparitäten beim Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) bestehen ebenfalls weiter.

2.5.10

In dem Bericht wird darauf hingewiesen, dass zunächst verschiedene Voraussetzungen für eine nachhaltige Regionalentwicklung und die Verfolgung von Strategien zur Beschäftigungsförderung geschaffen werden müssen. Dem Bericht zufolge muss auf nationaler Ebene durch ein stabilitäts- und wachstumsförderndes Umfeld sowie steuerliche und gesetzliche Rahmenbedingungen dafür gesorgt werden, dass das Vertrauen der Unternehmen steigt. Auf regionaler Ebene sind angemessene materielle Infrastrukturen und qualifizierte Arbeitskräfte erforderlich, insbesondere in den Ziel-1-Regionen und den Beitrittsländern, wo noch in beiden Bereichen gravierende Defizite bestehen. In dem Bericht wird grundsätzlich herausgestellt, dass in den Regionen eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein müssen, die in unmittelbarerem Zusammenhang mit den „immateriellen“ Faktoren der Wettbewerbsfähigkeit stehen, wie z. B. Innovation, FuE und die Nutzung der IKT, damit die Ziele der Lissabon-Strategie verwirklicht werden können.

2.5.11

In dem Bericht wird außerdem festgestellt, dass beim Umweltschutz mit Blick auf die Umsetzung der Ziele von Göteborg wesentliche Unterschiede bestehen.

2.6   Kohäsionsländer

2.6.1

Eine eingehende Prüfung der Konvergenz bei Pro-Kopf-BIP, Beschäftigung und Produktivität in den Kohäsionsländern lässt den Schluss zu, dass diese Länder auch weiterhin Boden gutmachen und ihr Wachstum im Zeitraum 1994-2001 über dem Gemeinschaftsdurchschnitt lag. Irland wird als deutliches Beispiel dafür angeführt, wie wirksam die von den Strukturfonds geleistete Unterstützung ist, wenn sie mit einer wachstumsorientierten Politik des jeweiligen Staates einhergeht.

2.6.2

Wie in dem Bericht betont wird, hat sich seit der Veröffentlichung des letzten Berichts das Wirtschaftswachstum in der EU spürbar verlangsamt, was unweigerlich Konsequenzen für den Zusammenhalt hatte, nicht nur weil infolgedessen die Arbeitslosigkeit gestiegen ist, sondern auch weil sich die Bedingungen für eine weitere Verringerung der regionalen Disparitäten beim Einkommen und bei der Beschäftigung verschlechtert haben.

2.6.3

Von der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in der EU, die in praktisch allen Mitgliedstaaten zu verzeichnen war, war von den Kohäsionsländern Portugal am stärksten betroffen. Falls sich die Prognosen für 2004 bestätigen, steht vor dem Hintergrund der Daten für 2001 dem Bericht zufolge zu befürchten, dass die in Portugal erreichte Annäherung an den Gemeinschaftsdurchschnitt wieder verloren geht.

2.6.4

Dem Bericht zufolge hat sich der Unterschied im Pro-Kopf-BIP zwischen den am wenigsten wohlhabenden Regionen der EU — auf die die Kohäsionspolitik vorrangig ausgerichtet war — und den übrigen Regionen bis 2001 verringert. Es ist derzeit aber nicht möglich zu sagen, wie die Entwicklung seit 2001 verlaufen ist, da für die letzten Jahre keine regionalen Daten vorliegen.

2.7   Beitrittsländer

2.7.1

In den Beitrittsländern sind die regionalen Disparitäten beim Pro-Kopf-BIP erheblich größer geworden. In der Tschechischen Republik und der Slowakei ist das Pro-Kopf-BIP der 20 % der Bevölkerung, die in den wohlhabendsten Regionen leben, etwas mehr als doppelt so hoch wie das der 20 %, die in den am wenigsten wohlhabenden Regionen leben.

2.7.2

Dem Bericht zufolge wird eine hohe Wachstumsrate über einen längeren Zeitraum erforderlich sein, damit sich das Einkommensniveau dieser Länder dem Gemeinschaftsdurchschnitt annähern kann. Das Wachstum in diesen Ländern würde auch das Wachstum der EU-Wirtschaft insgesamt steigern und zur Verringerung der Arbeitslosigkeit und zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts beitragen.

2.7.3

In den Beitrittsländern hat sich das Wachstum — teilweise aufgrund der Wachstumsschwäche der EU, ihres wichtigsten Exportmarktes — seit 2001 verlangsamt, was zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führte.

2.7.4

2002 betrug die Beschäftigungsquote in den zehn Beitrittsländern im Durchschnitt 56 % und war damit bedeutend geringer als der EU15-Durchschnitt, der bei rund 64 % lag. In sämtlichen Beitrittsländern mit Ausnahme Zypern blieb die Beschäftigungsquote hinter den im Rahmen der Lissabon-Strategie für Europa festgelegten Zahlen zurück (67 % für 2005 und 70 % für 2010).

2.8   Die Erweiterung

2.8.1

Im Zuge der Erweiterung werden sich die Disparitäten zwischen den wohlhabendsten und den am wenigsten wohlhabenden Mitgliedstaaten verschärfen. Die neuen Mitgliedstaaten hatten zwar in den letzten Jahren ein stärkeres Wachstum zu verzeichnen als die EU15, aber der Abstand beim Pro-Kopf-BIP ist nach wie vor sehr groß. Lediglich in Malta, Zypern, der Tschechischen Republik und Slowenien lag das Pro-Kopf-BIP in KKS im Jahr 2002 bei über 60 % des EU15-Durchschnitts. In Polen, Estland und Litauen lag der Wert bei rund 40 %, in Lettland bei rund 35 % und in Bulgarien und Rumänien bei rund 25 % des Durchschnitts.

2.8.2

Die Erweiterung wird sich auf die Disparitäten zwischen den Regionen noch stärker auswirken als auf die zwischen den Ländern. Den jüngsten Schätzungen (2001) zufolge leben 73 Millionen Menschen, etwa 19 % der EU15-Bevölkerung, in Regionen mit einem Pro-Kopf-BIP von weniger als 75 % des Gemeinschaftsdurchschnitts. Die Erweiterung wird dazu führen, dass in der EU25 die Zahl der Menschen, die in Regionen mit einem Pro-Kopf-BIP von weniger als 75 % des Durchschnitts leben, auf rund 123 Millionen anwächst. Mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens wird die Zahl weiter auf 153 Millionen steigen, d.h. auf mehr als das Doppelte derer, die zum jetzigen Zeitpunkt in solchen Regionen leben.

2.8.3

Der Bericht stellt fest, dass — falls am Kriterium für die Förderfähigkeit im Rahmen von Ziel 1 festgehalten würde — infolge des statistischen Effekts der Erweiterung, der zu einem Absinken des durchschnittlichen Pro-Kopf-BIP führt, einige Regionen ihren Anspruch auf Strukturhilfe verlören, obgleich ihr Pro-Kopf-BIP nach der Erweiterung genau dasselbe sein wird wie vorher. Davon betroffen sind beispielsweise mehrere Regionen in Deutschland, Spanien, Griechenland, Italien und Portugal.

3.   TEIL 2 — Beitrag der Politik der Mitgliedstaaten zum Zusammenhalt

3.1

In Teil 2 des Berichts wird der Beitrag der Politik der Mitgliedstaaten zur Kohäsionspolitik der Europäischen Union untersucht. Er wird dabei als Ergänzung aufgefasst, da in beiden Fällen eine ausgewogenere Verteilung der Realeinkommen und Lebenschancen in den Regionen sowie eine gleichmäßigere Entwicklung des gesamten Territoriums (Mitgliedstaat bzw. EU als Ganzes) angestrebt werden.

3.1.1

Die Kommission weist darauf hin, dass die für die Verringerung der öffentlichen Ausgaben erforderlichen Einschränkungen einen Anreiz zur Verbesserung der Qualität der Programme darstellen, auch wenn nicht abzusehen ist, inwieweit dies zu einer höheren Effizienz der regionalen Kohäsionspolitik führt.

3.1.2

Der Bericht enthält Daten, die — obwohl unvollständig — eindeutig belegen, dass ein Großteil der öffentlichen Ausgaben in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten (insbesondere für den Sozialschutz) im Zusammenhang mit dem europäischen Gesellschaftsmodell steht und — absichtlich oder nicht — wesentlich zum Abbau der Disparitäten in Bezug auf Realeinkommen und Lebenschancen beiträgt.

3.1.3

Hinsichtlich der Änderungen bei der Verteilung der öffentlichen Ausgaben wird die Tatsache hervorgehoben, dass trotz der Bevölkerungsalterung und des zunehmenden Rentneranteils zwischen 1995 und 2002 in der EU der Anteil der Ausgaben für den Sozialschutz am BIP tendenziell abnahm (mit Ausnahme einiger Länder wie Deutschland, Griechenland, Portugal oder — in geringerem Maße — Italien).

3.1.4

Im Bericht wird ferner festgestellt, dass die Regionalentwicklungspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ist, was mit institutionellen Faktoren (im Wesentlichen dem Grad der Dezentralisierung der politischen Zuständigkeiten im Bereich der Wirtschaftsförderung), aber auch mit einer unterschiedlichen Vorstellung von den für die wirtschaftliche Entwicklung bestimmenden Faktoren zusammenhängt.

3.1.5

Dem Bericht zufolge gehört es zu den wichtigen Strategien für Regionalentwicklung, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen, da sie für neue Arbeitsplätze sorgen und ein Mittel für den Transfer von Technologien und Know-how darstellen. Ein wesentliches Ziel der Regionalförderung besteht deshalb darin, Regionen für ausländische Investoren attraktiver zu machen.

3.1.6

Trotz ihrer Unvollständigkeit lassen die Daten erkennen, dass sich die Investitionen unverhältnismäßig stark auf die wirtschaftlich dynamischsten Regionen innerhalb eines Landes bzw. im gesamten EU-Gebiet konzentrieren.

3.1.7

Die Regierungen der Kohäsionsländer, aber auch der Beitrittsländer stehen vor einem besonderen Dilemma: einem möglichen trade-off zwischen der Notwendigkeit, die am wenigsten entwickelten Regionen als Investitionsstandorte attraktiv zu machen, und der Tatsache, dass Investitionen naturgemäß in die dynamischsten Regionen fließen.

4.   TEIL 3 — Beitrag der Gemeinschaftspolitik: Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und Zusammenhalt

4.1

Im Zweiten Kohäsionsbericht stand der Beitrag der Gemeinschaftspolitik zum Zusammenhalt im Mittelpunkt. In Teil 3 des Dritten Berichts geht es nun um die Frage, inwieweit sich diese Politik seit 2001, insbesondere unter Berücksichtigung der in Lissabon und Göteborg festgelegten Ziele, verändert hat.

4.1.1

Die infolge der Lissabonner Strategie ergriffenen Initiativen lassen Fortschritte vor allem bei der Verwendung der neuen Technologien erkennen (Schulen mit Internetzugang oder elektronische Behördendienste in allen Beitrittsländern, von denen einige in gewissen Bereichen weiter fortgeschritten sind als die derzeitigen EU-Mitgliedstaaten).

4.1.2

Über die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten hinaus veranschaulicht der Bericht die positiven Auswirkungen der Europäischen Beschäftigungsstrategie auf den Arbeitsmarkt (Rückgang der durchschnittlichen Arbeitslosenquote in der EU und Erhöhung der Erwerbsquote).

4.1.3

Bei der Beschreibung der übrigen Gemeinschaftspolitiken, die den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt stärken (vornehmlich die Verkehrs-, Telekommunikations-, Energie-, Agrar-, Fischerei- und Umweltpolitik), wird die Entwicklung der transeuropäischen Verkehrs-,Telekommunikations- und Energieversorgungsnetze hervorgehoben, die vor allem seit 1991 eine Erhöhung der Anbindungen ermöglicht haben. In den nächsten Jahren werden insbesondere in den Beitrittsländern noch deutlichere Auswirkungen erwartet.

4.1.4

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die nachhaltige Entwicklung in Übereinstimmung mit dem Kyoto-Protokoll eine der Prioritäten der Energiepolitik ist, wird es den Randgebieten durch die Erschließung neuer Energiequellen ermöglicht, einerseits ihre Energieversorgung zu diversifizieren und andererseits ihre Lebensqualität zu verbessern. Investitionen in den Umweltschutz können ebenfalls erheblich zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen.

4.1.5

Im Bericht wird die Komplementarität von staatlichen Beihilfen und Kohäsionspolitik hervorgehoben. Eine strikte Kontrolle staatlicher Beihilfen ist notwendig, um die Ziele von Lissabon und Göteborg zu erreichen. Deshalb wurden die Mitgliedstaaten aufgefordert, ihre Strategien an horizontalen Zielen auszurichten.

4.2

Schließlich wird darauf hingewiesen, dass die Schaffung eines sicheren Umfelds, in dem die Gesetze eingehalten werden, eine Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung ist.

5.   TEIL 4 — Zusätzlicher Nutzen und Auswirkungen der Strukturpolitik

5.1

Dieser Teil des Berichts bietet eine Übersicht über die Ergebnisse der Kohäsionspolitik im Zeitraum 1994-1999 und die vorläufigen Ergebnisse der Durchführung bestimmter Programme im Zeitraum 2000-2006. Es werden verschiedene Aspekte der Kohäsionspolitik analysiert, z.B. der Beitrag der Strukturpolitik zum nachhaltigen Wachstum der rückständigsten Regionen, die Auswirkungen der Kohäsionspolitik außerhalb der Ziel-1-Regionen, die Rolle des Europäischen Sozialfonds (ESF) im Bereich der Investitionen in die Beschäftigung sowie in die allgemeine und berufliche Bildung, die Rolle der Strukturpolitik bei der Förderung der Zusammenarbeit und die mittels der Heranführungshilfen erzielten Ergebnisse in den neuen Mitgliedstaaten.

5.2

Unter den dargestellten Ergebnissen sind folgende besonders erwähnenswert:

5.2.1

In den Zeiträumen 1989-1993 und 1994-1999 verzeichneten fast alle unter Ziel 1 fallenden Länder einen erheblichen Zuwachs der Investitionen der öffentlichen Hand.

5.2.2

Strukturfondsmittel wurden für den Ausbau der transeuropäischen Verkehrsnetze verwendet, was die Attraktivität der betreffenden Regionen steigerte und die Wirtschaftstätigkeit förderte.

5.2.3

Es wurde festgestellt, dass für die Entwicklung einer wissensbasierten Wirtschaft Investitionen in Infrastruktur und Ausrüstung allein nicht ausreichen. Deshalb sollten im letzten Jahrzehnt strukturpolitische Maßnahmen (vor allem in Ziel-1-Regionen) auch zum Ausbau der Forschungs- und Entwicklungskapazität beitragen.

5.2.4

Die Hilfen aus den Strukturfonds wirkten sich ferner positiv auf den Umweltschutz aus.

5.2.5

In neueren empirischen Studien wird die tatsächliche Konvergenz zwischen den Regionen untersucht und festgestellt, dass ein positiver Zusammenhang zwischen der Höhe der Strukturbeihilfen und dem realen BIP-Wachstum besteht.

5.2.6

Auf der Grundlage von Simulationen bezüglich der makroökonomischen Effekte der Strukturpolitik im Zeitraum 1994-1999 wird geschätzt, dass infolge der Strukturinterventionen im Jahr 1999 das reale BIP in Griechenland 2,2 %, in Spanien 1,4 %, in Irland 2,8 % und in Portugal 4,7 % höher ausfiel. Diese Divergenzen spiegeln den unterschiedlichen Öffnungsgrad der Volkswirtschaften wider, der in den beiden letztgenannten Fällen besonders hoch ist.

5.2.7

Die Strukturinterventionen gehen mit einem deutlichen Anstieg der Investitionen (insbesondere in Infrastruktur und Humankapital) einher, der 1999 schätzungsweise 24 % in Portugal und 18 % in Griechenland betrug.

5.2.8

Augenscheinlich haben die Strukturbeihilfen die „nationale Konvergenz“ in einigen Fällen gefördert (Irland), während sie in anderen Fällen eher den Auswirkungen einer Polarisierung der Wirtschaftstätigkeit entgegengewirkt haben (Spanien). Die Erfahrung zeigt jedoch, dass ein solcher trade-off zwischen „regionaler“ und „nationaler“ Konvergenz vor allem von der räumlichen Verteilung der Wirtschaftstätigkeit und der Siedlungskerne innerhalb des betreffenden Lands abhängt.

5.2.9

Die Strukturfonds tragen zur wirtschaftlichen Integration bei. Die europäischen Volkswirtschaften sind immer enger miteinander verflochten, wie die Handels- und Investitionsströme zwischen ihnen zeigen. Das Handelsaufkommen der Kohäsionsländer mit dem Rest der EU hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Diese Situation beweist, dass die anderen EU-Länder aus den Strukturbeihilfen für benachteiligte Regionen ebenfalls Vorteile gezogen haben. Im Zeitraum 2002-2006 fließt schätzungsweise ein Viertel derartiger Ausgaben (24,1 %) in den Rest der Union zurück, vornehmlich, weil diese Länder ihre Maschinen- und Ausrüstungsgüterexporte in die Kohäsionsländer steigern können. Der entsprechende Prozentsatz ist im Falle von Griechenland (42,3 % der Strukturbeihilfen) und Portugal (35,2 %) besonders hoch.

5.2.10

Neben Ziel-1-Regionen unterstützen Strukturfondsinterventionen auch die Wirtschaftsentwicklung in anderen Regionen der EU, die von Strukturproblemen betroffen sind (Gebiete mit rückläufiger industrieller Entwicklung, ländliche Gebiete). Der Bericht enthält Ergebnisse aus neueren Untersuchungen über die wichtigsten Auswirkungen dieser Gemeinschaftsbeihilfen im Zeitraum 1994-1999: Die Beihilfen trugen dabei zur Umstrukturierung traditioneller Industriezweige und zur Diversifizierung wirtschaftlicher Aktivitäten sowie zur Schaffung von Arbeitsplätzen in den Fördergebieten bei.

5.2.11

Eine genaue Analyse ergibt, dass die Beihilfen in den Bereichen FuE, Innovation und Technologietransfer hinsichtlich der Schaffung neuer Arbeitsplätze und des Erhalts bestehender Arbeitsplätze besonders wirksam waren. Gleichwohl ist die Innovationsfähigkeit — von einigen Ausnahmen abgesehen — in den meisten Ziel-2-Regionen weit weniger ausgeprägt als in den fortgeschrittensten Regionen der EU. Dies steht im Gegensatz zu ihrer Ausstattung mit Infrastruktur (vor allem Verkehrs- und Telekommunikationssystemen) und Humankapital. Darüber hinaus wurden große Anstrengungen zur Sanierung von Industriebrachen und zur Verbesserung der Umwelt (insbesondere in städtischen Gebieten) unternommen.

5.2.12

In Bezug auf die Beihilfen für Landwirtschaft, ländliche Entwicklung und Fischerei enthält der Bericht u.a. die Ergebnisse der Maßnahmen, die im Zeitraum 1994-1999 im Rahmen von Ziel 5a und 5b finanziert wurden.

5.2.13

Ein wesentlicher Teil der Fördermittel aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) wurde zur Unterstützung von Ziel-1-Regionen, aber auch anderen Regionen der EU verwendet. Im Zeitraum 1994-1999 wirkten die ESF-Beihilfen für Ziel-3- und Ziel-4-Regionen der Arbeitslosigkeit (insbesondere der Langzeitarbeitslosigkeit) entgegen und sorgten für Verbesserungen für ethnische Minderheiten und bei der Gleichstellung von Männern und Frauen.

5.2.14

Eine Reihe von Gemeinschaftsinitiativen zur Förderung der Zusammenarbeit und Vernetzung stellt eine wichtige Ergänzung zur Kohäsionspolitik dar. Beispielsweise wurden unter INTERREG II die Einrichtung von Netzwerken zwischen Ländern, der Erfahrungsaustausch zwischen Regionen und die Verbreitung von Wissen gefördert. Hinsichtlich des Abbaus der Isolierung ergibt sich jedoch ein uneinheitliches Bild. In einigen Regionen wurden Straßenverbindungen und Hafenanlagen wesentlich verbessert (z.B. in Griechenland, Deutschland und Finnland), während die Auswirkungen in bestimmten Grenzgebieten (z.B. zwischen Portugal und Spanien) weniger ins Gewicht fielen.

5.2.15

Des Weiteren wird die Bedeutung der Gemeinschaftsinitiative URBAN für die Entwicklung der städtischen Gebiete und die Verbesserung der Lebensqualität hervorgehoben.

5.2.16

Im Bericht wird festgestellt, dass die Erweiterung eine große Herausforderung für die Kohäsionspolitik darstellt. Die Beihilfen aus den Strukturfonds werden in den neuen Mitgliedstaaten bei der Verbesserung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit und der Angleichung des Pro-Kopf-BIP an das Durchschnittsniveau der EU eine wichtige Rolle spielen. Auf Seiten der Beitrittsländer bedarf es einer sorgfältigen Vorbereitung, um die erhaltenen Beihilfen verwalten und einsetzen zu können. Die Heranführungshilfen sollten auch eine Art Übung sein, damit die betreffenden Länder einen effizienten Umgang mit Finanzmitteln erlernen können, bevor sie dann nach ihrem Beitritt sehr viel umfangreichere Beihilfen erhalten. Allerdings müssen die Verwaltungskapazität und die Dezentralisierung der Programmdurchführung nach 2006 weiter verstärkt werden.

6.   Bemerkungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

6.1

Die im Bericht dargestellten Ergebnisse zeigen, dass die Kohäsionspolitik offenkundig positive Folgen gezeitigt hat.

6.2

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist jedoch insofern besorgt, als die Ziele der Kohäsionspolitik in den Mitgliedstaaten in stärkerem Maße erreicht worden sind als in den Regionen. Trotz positiver Tendenz bestehen weiterhin regionale Unterschiede bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Der Ausschuss weist ferner darauf hin, dass diese Disparitäten durch die Erweiterung verstärkt werden und dies eine zentrale Herausforderung für die Kohäsionspolitik darstellen wird.

6.3

Der Ausschuss teilt die Auffassung, dass die erhebliche Vergrößerung des Binnenmarkts infolge der Erweiterung neue, wenngleich für die EU-Mitgliedstaaten unterschiedliche Chancen bietet. Wegen der zunehmenden wechselseitigen Abhängigkeit bei Handel und Investitionen kann die Wirtschaftsentwicklung in den neuen Mitgliedstaaten zu einer Erhöhung der Zuwachsraten im gesamten Unionsgebiet führen (die Strukturfonds tragen zur wirtschaftlichen Integration bei, wie die Zunahme der Handels- und Investitionsströme zwischen ihnen zeigt).

6.4

Der Ausschuss stellt zudem fest, dass die Strukturfonds nicht nur der Wirtschaft der förderfähigen Regionen zugute kommen. Ein Großteil der Beihilfen für die Regionen mit Entwicklungsrückstand fließt in Form von Exportsteigerungen in die fortgeschrittensten Regionen der EU zurück. Im Zeitraum 2002-2006 beträgt dieser Rückfluss schätzungsweise rund ein Viertel (24,1 %) der Strukturinterventionen unter Ziel 1. Langfristig wird die Entwicklung in diesen Regionen auch den Regionen und Ländern, die Nettozahler sind, neue Märkte eröffnen und sich günstig auf ihre Wirtschaft auswirken.

6.5

Die Daten lassen erkennen, dass sich die Investitionen unverhältnismäßig stark auf die wirtschaftlich dynamischsten Regionen eines Landes bzw. des gesamten EU-Gebiets konzentrieren, was die Regierungen der Kohäsionsländer, aber auch der Beitrittsländer vor ein besonderes Dilemma stellt.

6.6

Als positiv erweist sich die Koordinierung zwischen mehreren sektorspezifischen Gemeinschaftspolitiken hinsichtlich des Kohäsionsziels (vor allem in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Forschung und Technologie, berufliche und allgemeine Bildung).

6.7

Wichtig sind die Gemeinschaftsbeihilfen auch für Regionen außerhalb von Ziel 1, da sie zum Abbau wirtschaftlicher und sozialer Unterschiede beitragen.

6.8

Die Verlangsamung der Wirtschaftsentwicklung hat grundsätzlich negative Folgen für die Beschäftigung. Die Beschäftigungsquote in der EU15 ist weit entfernt von dem ehrgeizigen Ziel, das der Europäische Rat von Lissabon festgelegt hat. Allerdings überdeckt der Durchschnittswert die erheblichen Unterschiede in der gesamten Union.

6.9

Die demografische Entwicklung, vor allem die Alterung der Erwerbstätigen, spielt für die Zukunft des Arbeitsmarktes in der EU eine entscheidende Rolle. Diese Entwicklung macht auch eine verstärkte Förderung der Ausbildung und des lebenslangen Lernens notwendig.

6.10

Die demografischen Prognosen verdeutlichen, dass es wichtig ist, in den nächsten Jahren ein hohes Beschäftigungsniveau zu erreichen, um sozialen Spannungen vorzubeugen. Dies sollte mit einem nachhaltigen Produktionsanstieg einhergehen.

6.11

Es besteht Einvernehmen darüber, dass sich die europäische Wirtschaft auf wissensbasierte Aktivitäten, Innovationen und neue Informations- und Kommunikationstechnologien konzentrieren muss, damit sie wettbewerbsfähiger wird und der Beschäftigungsstand und der Lebensstandard steigen. Mit einem Wort, es geht um die Verwirklichung der Ziele der Lissabon-Strategie.

7.   Prioritäten der Kohäsionspolitik

7.1

Der Ausschuss begrüßt die Neugestaltung der Kohäsionspolitik der EU für den Zeitraum nach 2006, die auf einer begrenzten Zahl von Prioritäten (I — Konvergenz, II — Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung, III — Europäische regionale Zusammenarbeit) beruht und vorwiegend im Rahmen der Strategien von Lissabon und Göteborg auf nationaler und regionaler Ebene umgesetzt werden soll.

7.2

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die im Bericht enthaltenen Daten die Notwendigkeit vor Augen führen, das Kohäsionsziel in einer erweiterten Union mit größerem Nachdruck zu verfolgen. Deshalb ist er einverstanden, dass im Rahmen des Konvergenzziels vornehmlich Regionen mit einem Pro-Kopf-BIP unter 75 % des Gemeinschaftsdurchschnitts gefördert werden. Darüber hinaus begrüßt er die Sonderbehandlung der vom „statistischen Effekt“ betroffenen Regionen, für die ein Förderniveau vorgesehen ist, das höher ist als das 1999 für die Regionen im phasing out-System festgelegte.

7.3

Der Ausschuss begrüßt die vorgeschlagene Ausrichtung des Kohäsionsfonds auf das Konvergenzziel. Der Kohäsionsfonds sollte dabei weiterhin national (d. h. auf Mitgliedstaaten mit einem BIP unter 90 % des Gemeinschaftsdurchschnitts) ausgerichtet sein, ohne dass sein Einsatz durch regionale Kriterien eingeschränkt wird.

7.4

Der Ausschuss hält es für sinnvoll, die Kohäsionspolitik über die Mitgliedstaaten und Regionen mit Entwicklungsrückstand hinaus auszuweiten (vor allem um die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern und die Disparitäten zwischen den Regionen zu verringern sowie die Europäische Beschäftigungspolitik zu unterstützen) und befürwortet die Konzentration auf wenige Prioritäten im Bereich der Wettbewerbsfähigkeit (wissensbasierte Wirtschaft, Zugänglichkeit, Umweltschutz und Leistungen der Daseinsvorsorge).

7.5

Der Ausschuss ist auch damit einverstanden, dass im Rahmen der zweiten Priorität die derzeit unter Ziel 1 förderfähigen Regionen, die nicht die Förderkriterien im Rahmen der Konvergenzpriorität erfüllen, eine Sonderbehandlung erhalten, indem sie während eines Übergangszeitraums (phasing in) verstärkt unterstützt werden.

7.6

Da die Förderung der grenzüberschreitenden, transnationalen und interregionalen Zusammenarbeit für die territoriale Integration in Europa ein wichtiger Faktor war und ist, unterstützt der Ausschuss den Vorschlag der Kommission auf der Grundlage der Erfahrungen mit der Initiative INTERREG ein neues Ziel „territoriale Zusammenarbeit“ festzulegen. Dabei soll an den Kategorien „grenzüberschreitend“, „interregional“ und „transnational“ festgehalten und es den Mitgliedstaaten weiterhin ermöglicht werden, die Küstengebiete in die Kategorie „grenzüberschreitend“ aufzunehmen. Darüber hinaus müssen sich die Regionen, die an die neuen Mitgliedstaaten grenzen, der veränderten Situation anpassen, weshalb ein spezifisches Programm für diese Regionen aufgelegt werden sollte. Der Ausschuss ist deshalb einverstanden, die Finanzmittel für das Ziel „Europäische territoriale Zusammenarbeit“ (im Vergleich zu den für die Initiative INTERREG vorgesehenen Mitteln) deutlich aufzustocken.

7.7

Der Ausschuss begrüßt die Absicht der Kommission, die Schaffung eines neuen Rechtsinstruments in Form von „grenzüberschreitenden regionalen Gebietskörperschaften“ vorzuschlagen, um die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und lokalen Behörden zu erleichtern und um die Beziehungen an den Außengrenzen (vor allem mit den neuen Nachbarstaaten) zu stärken.

7.8

Der Ausschuss stimmt der Auffassung der Kommission zu, dass die Programme auf einem „integrierten Konzept für individuelle territoriale Besonderheiten“ aufbauen und auf die notwendige Bekämpfung der unterschiedlichen Formen sozialer Diskriminierung abzielen sollten.

7.9

Der Ausschuss begrüßt, dass die Kommission der städtischen Dimension große Bedeutung beimisst, indem sie sie in einschlägigen Aktionsprogrammen berücksichtigt und dabei ihr Augenmerk auf die Probleme der Städte richtet, die sie als Motoren der Regionalentwicklung anerkennt. Wie die Kommission hält der Ausschuss die Zusammenarbeit zwischen Städten für ein Schlüsselelement der territorialen Zusammenarbeit.

7.10

Für besonders wichtig hält der Ausschuss die Zusage, die neuen in ländlichen Gebieten eingesetzten Instrumente in die Gemeinsame Agrarpolitik nach und nach einzubinden und bei den Beihilfen die derzeitige Konzentration auf Regionen und Länder mit großem Entwicklungsrückstand, die unter die Konvergenzprogramme fallen, unverändert beizubehalten. Er weist auch darauf hin, dass nicht nur landwirtschaftliche Projekte gefördert werden sollten, sondern auch andere, die die Entwicklung des ländlichen Raums ermöglichen.

8.   Verwaltungssystem

8.1

Der Ausschuss ist damit einverstanden, die Zahl der Finanzinstrumente für die Kohäsionspolitik auf drei (EFRE, ESF und Kohäsionsfonds) zu begrenzen und sowohl die Ziele als auch die damit verbundenen Finanzinstrumente grundsätzlich zu reduzieren. Dies wird zur Vereinfachung und Effizienz der Programmplanung beitragen.

8.2

Der Ausschuss befürwortet die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, den lokalen Gebietskörperschaften und den Wirtschafts- und Sozialpartnern.

8.3

Der Ausschuss hält es auch für richtig, dass der regelmäßigen Bewertung der territorialen Auswirkungen der Regionalpolitik große Bedeutung beigemessen wird — einschließlich, wie von der Kommission empfohlen, der Bewertung der Auswirkungen der Handelsentwicklung.

8.4

Er ist der Auffassung, dass in künftigen Berichten der Kommission die Frage der Gleichstellung von Frauen und Männern und der Bewertung des Beitrags der Kohäsionspolitik zu diesem Ziel mehr Raum einnehmen sollte.

8.5

In Bezug auf das Verwaltungssystem begrüßt der Ausschuss die Beibehaltung der vier Prinzipien Programmplanung, Partnerschaft, Konzentration und Zusätzlichkeit sowie die Vereinfachung durch stärkere Dezentralisierung. Nach Auffassung des Ausschusses darf die stärkere Dezentralisierung aber nicht die Tatsache in Frage stellen, dass die Kommission die Durchführung der Programme aufmerksam verfolgen, für die Kohärenz der Regionalpolitik auf EU-Ebene sorgen und Abweichungen, die den betreffenden Zielen abträglich sind, verhindern muss. Die Kommission muss nicht nur streng darauf achten, dass die Fonds korrekt verwaltet und Unregelmäßigkeiten ausgeschlossen werden, sondern auch darauf, dass die finanzierten Projekte die Zwecke erfüllen, für die sie entwickelt wurden.

9.   Partnerschaft bei der Durchführung der Strukturfonds

9.1

Der Ausschuss hat eine Stellungnahme zum Thema „Partnerschaft bei der Durchführung der Strukturfonds“ (1) verabschiedet, in der er u.a. folgende Ansichten vertritt:

9.2

Die Begleitausschüsse gemäß Artikel 35 der Strukturfondsverordnung sind ein wichtiger Punkt, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Die neuen wichtigen Aufgaben, die diesen Gremien bzw. ihren Nachfolgern übertragen werden, erfordern eine Revision der Mechanismen für die Beteiligung der Sozialpartner.

9.3

Vor allem muss dafür gesorgt werden, dass die Beteiligung der Wirtschafts- und Sozialpartner in den Begleitausschüssen obligatorisch und durch die Zuerkennung des Stimmrechts aufgewertet wird, da dadurch die Position der Partner im Hinblick auf die in diesem Gremium erörterten Fragen klargestellt wird.

9.4

Die Kommission sollte eine aktualisierte Studie über die verschiedenen Partnerschaftsmodelle auf nationaler und regionaler Ebene in Auftrag geben, die als Informationsgrundlage für die Bewertung und Verbreitung weniger bekannter, aber für die Zukunft belangvoller Praktiken genutzt werden kann.

9.5

Nach Ansicht des Ausschusses muss unbedingt gewährleistet werden, dass diejenigen, die ein bestimmtes Programm zu bewerten haben, von der für die Durchführung des Programms zuständigen nationalen Behörde unabhängig sind; auch in diesem Bereich können die institutionellen Partner und die Wirtschafts- und Sozialpartner aufgrund ihrer Kenntnisse über die konkreten Ergebnisse der verschiedenen Interventionen eine größere Rolle spielen.

9.6

Die Auswahl der Partner und die Transparenz im Hinblick auf ihre Aufgaben und Zuständigkeiten ist nach Auffassung des Ausschusses von allergrößter Wichtigkeit.

9.7

Es stellt sich die Frage, ob es miteinander zu vereinbaren ist, wenn die in den verschiedenen Phasen beteiligten Partner zugleich Projektträger sind; es müssen entsprechende Bestimmungen für die Auswahl der Partner festgelegt werden, die gewährleisten, dass keine Organisationen in die Partnerschaft einbezogen werden, die dem Staat unterstehen und daher funktionell oder strukturell in der Unabhängigkeit ihres Handelns eingeschränkt sind.

9.8

Neben den Organisationen, die traditionell den Wirtschafts- und Sozialpartnern zugerechnet werden (Gewerkschaften, Industrie-, Bauern-, Handwerks- und Handelsverbände, dritter Sektor, Genossenschaften usw.), müssen verstärkt die so genannten funktional unabhängigen Einrichtungen wie z.B. die Handelskammern, Universitäten, Träger des sozialen Wohnungsbaus u.a. in die Strukturpolitik der Gemeinschaft einbezogen werden.

9.9

Infolge der Zusammensetzung der Partnerschaften und der möglichen Ineffizienz der Verfahren aufgrund der Kumulierung von Funktionen, die mit dem Erfordernis von Transparenz und Unabhängigkeit der Entscheidungen nicht vereinbar sind — wie z. B. die Beteiligung an der Programmplanung/Begleitung/Bewertung von Personen, die vielfach gleichzeitig Begünstigte der Programme sind — können Probleme auftreten.

9.10

In der Regel dürfte die Gefahr einer Unvereinbarkeit oder eines Interessenkonflikts dann bestehen, wenn derjenige, der zu entscheiden hat, auch Begünstigter im Rahmen der Strukturfonds sein kann.

9.11

Der Ausschuss ist außerdem der Meinung, dass die Wirtschafts- und Sozialpartner Anspruch auf finanzielle Hilfe und spezielle Schulungsmaßnahmen haben müssen, um ihre Aufgaben uneingeschränkt wahrnehmen zu können; diese Möglichkeit gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur selten bzw. praktisch überhaupt nicht.

9.12

In einigen Fällen ist die geringe Beteiligung der Partner darauf zurückzuführen, dass sie nicht genug und nicht ausreichend qualifizierte Fachleute besitzen, um eine aktive Beteiligung in den Strukturfondsgremien, in denen sie mitwirken könnten und sollten, auch wirklich sicherzustellen.

9.13

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten besonders auf den bürokratischen Aufwand achten und ihn auf ein vertretbares Minimum verringern müssen. Durch eine überzogene und unverhältnismäßige Komplexität der Verwaltungsvorgänge, die zumeist kontraproduktive Hemmnisse und Praktiken zur Folge hat, wird das Partnerschaftsprinzip häufig von Grund auf in Frage gestellt.

9.14

Nach Ansicht des Ausschusses wäre es von großem Vorteil, eine Mindestbeteiligung in einer Gemeinschaftsverordnung zu verankern, die es den Mitgliedstaaten überlässt, in ihren nationalen Rechtsvorschriften oder Durchführungsbestimmungen Detailregelungen für den Umfang der Beteiligung festzulegen. Durch diese Regelungen sollten Möglichkeiten für verstärkte Informationen und intensivere, stabilere und kontinuierlichere Formen der Beteiligung der Wirtschafts- und Sozialpartner geschaffen werden.

9.15

Die Rolle der Wirtschafts- und Sozialpartner, der Inhalt der Vorschläge und die Beteiligungsverfahren sind in den einzelnen Phasen der Vorbereitung, Finanzierung, Begleitung und Bewertung der Strukturinterventionen zwangsläufig voneinander verschieden. Es muss deshalb geklärt werden, was von den Partnern erwartet wird, welche Maßnahmen die Partner ergreifen müssen, um einen größtmöglichen Erfolg der Programme zu gewährleisten, auf wie viele Ebenen sich die Beteiligung der Partner erstreckt und in welchen politischen und technischen Gremien die Partner mitwirken sollen.

9.16

Die Partnerschaft ist in zwei Phasen der Strukturfondsinterventionen von entscheidender Bedeutung:

in der „politischen“ Phase der Programmierung der Mittel und der grundsätzlichen Entscheidungen sowohl auf gemeinschaftlicher als auch einzelstaatlicher Ebene;

in der Phase der Begleitung und Bewertung der Interventionen.

10.   Beiträge des EWSA zur laufenden Debatte über das Thema „Eine neue Partnerschaft für den Zusammenhalt: Konvergenz, Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenarbeit“

10.1   Prioritäten der Kohäsionspolitik

10.1.1

Der Ausschuss begrüßt die Absicht der Kommission, im Rahmen der Konvergenzpriorität einen spezifischen Mechanismus zum Ausgleich aller Nachteile der Regionen in äußerster Randlage und der Regionen mit anhaltenden Strukturschwächen zu schaffen.

10.1.2

Der Ausschuss empfiehlt, im Rahmen der Förderstrategie für verschiedene Regionen zu überprüfen, inwiefern die verfügbaren quantitativen Daten den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt tatsächlich widerspiegeln und inwiefern sie sich nicht aus dem statistischen Effekt solcher externer Faktoren ergeben, die für die wirtschaftliche und soziale Situation dieser Regionen häufig irrelevant sind (wie z. B. Off-shore-Niederlassungen, die die verwendeten Indikatoren verfälschen).

10.2   Komplementarität der sektorspezifischen Gemeinschaftspolitiken

10.2.1

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass Komplementarität der sektorspezifischen Gemeinschaftspolitiken im Hinblick auf das Kohäsionsziel besonders wichtig ist. Dies gilt insbesondere für die Bereiche FuE, Informationsgesellschaft und Verkehr. Er billigt die Absicht der Kommission, dafür zu sorgen, dass eine ausgewogene Berücksichtigung der Aspekte Kohäsion und Wettbewerb ein zentraler Punkt der verschiedenen Gemeinschaftspolitiken wird.

10.2.2

Angesichts der Tatsache, dass mehr als 50 % der für FuE bestimmten Fondsmittel im Wesentlichen einer sehr begrenzten Zahl von Regionen in der EU zugute kommen, fordert der Ausschuss nachdrücklich eine Komplementarität mit den sektorspezifischen Politiken, um dieser übermäßigen Konzentration entgegenzuwirken und mehr Anreize für den Technologietransfer zwischen den Regionen zu schaffen.

10.3   Haushalt

10.3.1

Angesichts der ambitionierten Aufgaben, die die Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit den Zielen der Erweiterung und der Lissabon-Strategie auf die EU übertragen haben, wäre es unvernünftig anzunehmen, dass am derzeitigen Haushaltsvolumen festgehalten werden könnte. In den letzten Jahren hat der Ausschuss mehrere Stellungnahmen verabschiedet, in denen er die Anhebung der Obergrenze des Gemeinschaftshaushalts fordert. Angesichts der von der Kommission im Rahmen der Finanziellen Vorausschau für den Zeitraum 2007-2013 vorgeschlagenen Höchstgrenze von 1,24 % betrachtet der EWSA die Tatsache, dass 0,41 % für die Kohäsionspolitik (0,46 % einschließlich der Mittelzuweisungen für die ländliche Entwicklung und die Fischerei) vorgesehen werden, nur als Ergebnis dieser Deckelung der Gesamtmittel, die nach Auffassung des Ausschusses nicht ausreichen werden, um die vorgeschlagenen ehrgeizigen Ziele zu erreichen..

10.3.1.1

Da künftig mehr Finanzmittel erforderlich sind, um der aus der Erweiterung resultierenden Verschärfung der regionalen Unterschiede zu begegnen, müssen in erster Linie die derzeit durch die Kohäsionspolitik begünstigten Regionen die Kosten der Erweiterung schultern, denn sie werden de facto weniger Gemeinschaftsmittel erhalten.

10.3.1.2

Der Ausschuss hält diese Situation unter politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten für unhaltbar, da sie dem Grundsatz der gleichmäßigen Verteilung der Kosten der Erweiterung zuwiderläuft.

10.3.1.3

Der Ausschuss versteht nicht, wie das einvernehmliche politische Ziel der Erweiterung und Vertiefung der Union mit einem stagnierenden oder sogar geringeren Mittelaufwand vereinbart werden kann, obwohl dieses Ziel den Mitgliedstaaten doch mehr abverlangt. Er wendet sich dabei gegen eine einseitige Vorstellung vom europäischen Integrationsprozess, die einzig und allein auf konjunkturelle Schwierigkeiten und fehlende Weitsicht einiger der wichtigsten an diesem Prozess beteiligten Akteure zurückzuführen ist.

11.   Weitere Empfehlungen

11.1

Der Ausschuss erachtet es als äußert wichtig, die wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Kriterien, anhand deren die für die Priorität „Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“ vorgesehenen Mittel unter den Mitgliedstaaten aufgeteilt werden, mit größerer Objektivität und Konsequenz festzulegen. Dabei verdienen nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Kriterien besondere Aufmerksamkeit.

11.2

Hinsichtlich der Durchführung der Fondsinterventionen ist der Ausschuss der Ansicht, dass an der Entwicklung neuer Formen der Einbeziehung der institutionellen sowie wirtschaftlichen und sozialen Partner — weit über die Beteiligung an den Planungs-, Verwaltungs-, Überwachungs- und Bewertungsgremien hinaus — weiter gearbeitet werden sollte.

11.3

Der Ausschuss unterstützt den Vorschlag, Mechanismen nach dem Vorbild der Globalzuschüsse einzuführen und die Mitgliedstaaten zur Einrichtung dieser Mechanismen — zumindest bei einem kleinen Teil der Gemeinschaftlichen Förderkonzepte — zu verpflichten. Die Vorteile dieser Mechanismen sind ein geringerer Verwaltungsaufwand, größere Schnelligkeit und die Nichtbelastung der Haushalte der Mitgliedstaaten (mit Blick auf die grundsätzlich angespannte Situation der öffentlichen Haushalte).

11.4

Darüber hinaus sollten öffentlich-private Partnerschaften gefördert werden, um die derzeitigen Zwänge im Bereich der öffentlichen Haushalte zu umgehen sowie ihre langfristige Finanzierung zu gewährleisten.

11.5

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Vorschriften zur Bekämpfung von Missbrauch im Zusammenhang mit Betriebsverlagerungen verstärkt werden sollten, insbesondere durch exemplarische Sanktionen und die Rückzahlung des Betrags der erhaltenen Fördermittel, wenn bewiesen ist, dass die Desinvestition nicht in einem Verlust an Wirtschaftlichkeit der betreffenden Produktionseinheit begründet ist, sondern lediglich in der Absicht, durch die Verlagerung an weitere Fördermittel zu gelangen.

11.6

Nach Auffassung des Ausschusses sollte den KMU im Rahmen der Unternehmensförderung wegen ihrer sozialen und wirtschaftlichen Rolle mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden - vor allem aber wegen ihrer Fähigkeit, Arbeitsplätze und Wohlstand zu schaffen, und ihres stärkeren Engagements für die Entwicklung der Region, in der sie sich befinden.

11.7

Schließlich stellt die Verwirklichung einer Politik des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts in einer erweiterten EU mit Sicherheit eine der größten Herausforderungen dar, denen sich die EU in Zukunft stellen muss. Da die Kohäsionspolitik einen wesentlichen Faktor für das Zusammenwachsen der Völker und der Regionen der EU darstellt, fordert der Ausschuss die Mitgliedstaaten auf, die Reform zu einem Erfolg zu machen — und damit die jüngsten Rückschläge im Integrationsprozess vergessen zu machen, sodass die Bürger wieder an das europäische Aufbauwerk glauben können.

11.8

Der Ausschuss hält es für entscheidend, dass die Mitgliedstaaten — unabhängig von den einschlägigen Maßnahmen der Union - ihre kohäsionspolitischen Anstrengungen fortsetzen und verstärken.

11.9

Die Gründe für die neue Struktur und Prioritätensetzung der Kohäsionspolitik der Union liegen einerseits in der Erweiterung und andererseits in der Begrenztheit der verfügbaren Mittel — nicht aber in der tatsächlichen Verringerung regionaler und sozialer Unterschiede. Künftig werden einige Mitgliedstaaten und Regionen, die bis jetzt große Nutznießer der europäischen Kohäsionspolitik sind, schrittweise aus der Förderung durch einen wesentlichen Teil der einschlägigen Instrumente herausfallen. Da dies aber selbstverständlich nicht bedeutet, dass sie das angestrebte Entwicklungs- und Kohäsionsniveau bereits erreicht haben, verdienen sie entsprechende Aufmerksamkeit im Rahmen der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten.

Brüssel, den 30. Juni 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Absatz 9 entstammt der Stellungnahme des EWSA zum Thema „Partnerschaft bei der Durchführung der Strukturfonds“, ABl. C 10 vom 14.1.2004, S. 21.


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/70


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Wirtschafts- und Sozialausschuss: Besteuerung von Dividenden natürlicher Personen im Binnenmarkt“

(KOM(2003) 810 endg.)

(2004/C 302/15)

Der Rat beschloss am 19. Dezember 2003 gemäß Artikel 262 EG–Vertrag, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe „Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt“ nahm ihre Stellungnahme am 8. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr RETUREAU.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli (Sitzung vom 30. Juni) mit 151 Stimmen gegen 1 Stimme bei 12 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Die Mitteilung, zu der der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme ersucht wurde, betrifft im Wesentlichen die Besteuerung von Dividenden natürlicher Personen aus Portfolioinvestitionen.

1.2

Sie ist eine Folgemaßnahme zu der Mitteilung der Kommission zur Unternehmensbesteuerung (1), in der bereits vorgeschlagen wurde, Orientierungshilfen zu wichtigen EuGH-Urteilen in diesem Bereich auszuarbeiten, in diesem Fall das die Dividendenbesteuerung natürlicher Personen betreffende Urteil in der Rechtssache Verkooijen (2). Die Gleichsetzung von Dividendenzahlungen aus dem Ausland und in das Ausland mit einem Kapitalverkehr ist eine richterliche Konstruktion; die Dividenden werden in dem Vertrag nicht ausdrücklich erwähnt – ebenso wenig in der Richtlinie.

1.3

Die Unterschiede in den Steuersystemen der Mitgliedstaaten stellen hinsichtlich der „Doppelbesteuerung von Unternehmensgewinnen […], die an einzelne Anteilseigner in Form von Dividenden ausgeschüttet werden“ (3) eine Quelle für erhebliche Diskriminierung wie auch ein Hindernis für den freien Kapitalverkehr im Binnenmarkt dar.

1.4

Die vorgeschlagenen Orientierungshilfen betreffen die Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf die verschiedenen Formen der Dividendenbesteuerung in den Mitgliedstaaten und zielen darauf ab, im Lichte der vorgenannten Rechtsprechung des Gerichtshofs Beschränkungen von Einkünften aus Portfolio-Anlagen abzubauen. Darüber hinaus zielt der Vorschlag auch auf eine Verringerung der zu hohen Quellensteuer in den Herkunftsländern der Dividendenzahlungen ab.

1.5

Ziel ist es, den Mitgliedstaaten „Orientierungshilfen zur Vereinbarkeit ihrer Regelungen mit den Anforderungen des Binnenmarkts“ sowie zu „den Vertragsgrundsätzen zum freien Kapitalverkehr“ zu geben.

1.6

Sollten die Mitgliedstaaten den vorgeschlagenen Ansatz zur Beseitigung der Steuerhemmnisse, die einem freien Verkehr von Investitionen in Aktien-Portfolios im Wege stehen, nicht akzeptieren, so könnte die Kommission in ihrer Eigenschaft als Hüterin der Verträge auf Artikel 226 EG-Vertrag zurückgreifen.

1.7

Der Gerichtshof kann aus den Fragen des vorlegenden Gerichts unter Berücksichtigung des von diesem mitgeteilten Sachverhalts das herausschälen, was die Auslegung des Gemeinschaftsrechts betrifft, um diesem Gericht die Lösung der ihm vorliegenden Rechtsfrage zu ermöglichen. (4)

2.   Dividendenbesteuerung im Binnenmarkt

2.1

Die Besteuerung von Unternehmenserträgen beinhaltet eine Besteuerung des Gewinns, wobei der Steuersatz je nach Land zwischen 12,5 % und 40 % variiert (durchschnittlich etwa 30 %). Die Besteuerung von Dividenden aus dem Unternehmensgewinn nach Abzug der Körperschaftsteuer (KSt) kann durch eine Quellensteuer, die von der ausgeschütteten Dividende abgezogen wird, durch eine Einkommensteuer in Höhe des Grenzsteuersatzes oder eine Schedulensteuer erfolgen.

2.2

Die Besteuerung der Unternehmensgewinne und der Dividenden stellt laut Kommission eine „wirtschaftliche Doppelbesteuerung“ dar und natürliche Personen sind außerdem der Gefahr einer internationalen rechtlichen Doppelbesteuerung ausgesetzt (Besteuerung von im Ausland ausgeschütteten Dividenden durch zwei verschiedene Staaten).

2.2.1

Das OECD-Musterabkommen auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (OECD-MA), das zur Vermeidung der internationalen rechtlichen Doppelbesteuerung erarbeitet wurde, behandelt nicht die wirtschaftliche Doppelbesteuerung.

2.2.2

Nach dem OECD-MA sollten Quellensteuern, die auf Dividenden im Ursprungsland entrichtet wurden, in einfacher beschränkter Form auf die Steuer, die der Anleger in seinem Ansässigkeitsstaat für Dividenden zu entrichten hat, angerechnet werden.

2.2.3

Das OECD-MA gilt für alle Dividendenbesteuerungssysteme, auch in Mischformen (klassisches, Schedulen-, Anrechnungs- sowie Freistellungssystem).

3.   Die Rechtssache Verkooijen und einige andere einschlägige Urteile

3.1

In dem entsprechenden Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache Verkooijen ging es darum, dass Herrn Verkooijen die Befreiung von der Einkommensteuer auf Dividendeneinkünfte versagt wurde, da sich die ausschüttende Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat als im Gebiet der Niederlande befand.

3.2

Diese Befreiung galt für Einkünfte aus Aktien oder Gesellschaftsanteilen, von deren Dividenden in den Niederlanden eine Quellensteuer einbehalten wurde; die Freistellung bezog sich jedoch nicht auf Einkünfte, die aus Aktien in anderen Staaten erzielt wurden.

3.2.1

Erstens war die Befreiung als Maßnahme konzipiert, die das Eigenkapitalniveau der Unternehmen verbessern und niederländische Aktien für Privatpersonen interessanter machen sollte; zweitens sollte sie insbesondere für Kleinanleger in gewissem Umfang die wirtschaftliche Doppelbesteuerung durch eine Ausnahme der ersten 1000 Gulden kompensieren.

3.2.1.1

Bei der Besteuerung der Einkünfte von Herrn Verkooijen hat der Finanzbeamte die Dividenden mit der Begründung nicht befreit, dass Herr Verkooijen hierauf keinen Anspruch habe, da die erhaltenen Dividenden „nicht der niederländischen Steuer auf Dividenden“ unterlägen.

3.2.2

Mit einer Vorabentscheidungsfrage seitens des zuständigen einzelstaatlichen Gerichts befasst hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass die Einnahme von Dividenden aus dem Ausland mit Kapitalbewegungen untrennbar verbunden sei; die steuerliche Ungleichbehandlung und benachteiligende Behandlung von Dividenden aus dem Ausland inländischen gegenüber stelle demnach eine unzulässige Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar.

3.2.2.1

Der Gerichtshof stellte klar, dass eine Rechtsvorschrift wie die des konkreten Falles „bewirkt, dass Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die in den Niederlanden wohnen, davon abgeschreckt werden, ihr Kapital in Gesellschaften anzulegen, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat haben.“

3.2.2.2

„Außerdem wirkt sich eine solche Bestimmung gegenüber Gesellschaften, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind, einschränkend aus, weil sie für sie ein Hindernis darstellt, in den Niederlanden Kapital zu sammeln.“

3.3

In der Rechtssache Schmid (5) hat der Generalanwalt angemerkt, dass Dividenden von Aktien aus dem Ausland, die in Österreich nicht unter die Kapitalertragsteuerabzug mit Abgeltungswirkung fallen, demzufolge in voller Höhe der Einkommensteuer unterliegen und im Übrigen nicht einmal für den reduzierten Steuersatz in Frage kommen. Der Generalanwalt hat daraus gefolgert, dass ein Verstoß gegen den freien Kapitalverkehr gegeben sei.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

In Steuerangelegenheiten sind nach wie vor die Mitgliedstaaten zuständig. Die geltenden Artikel 56 und 58 EG-Vertrag legen jedoch Grenzen für diese Kompetenz der Mitgliedstaaten fest, die weder eine Grundfreiheit verletzen noch das Gemeinschaftsrecht umgehen dürfen. Artikel 56 verbietet Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs, während Artikel 58 zwar anerkennt, dass die Mitgliedstaaten weiterhin das Recht haben, „die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln,“ und „die unerlässlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften, insbesondere auf dem Gebiet des Steuerrechts und der Aufsicht über Finanzinstitute, zu verhindern, […] oder Maßnahmen zu ergreifen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gerechtfertigt sind“; dennoch dürften die zu diesem Zweck ergriffenen Maßnahmen „weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs […] darstellen“.

4.2

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt eine inhaltliche Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen und verurteilt internationale Doppelbesteuerungen.

4.3

Seit der Erweiterung der Union und den noch ausgeprägteren Unterschieden bei der Besteuerung von Dividenden mit Körperschaft- und Einkommensteuer hält es der Ausschuss für dringend geboten, dass alle Mitgliedstaaten dazu ermutigt werden, — soweit noch nicht geschehen — auf der Mindestgrundlage des OECD-Musterabkommens völkerrechtliche Übereinkünfte zur Vermeidung der Doppelbesteuerung zu schließen, um auf nationaler Ebene eine Gleichbehandlung der Dividenden von Portfolio-Anlegern zu erzielen, unabhängig davon, an welchem Ort in der Gemeinschaft diese ihren Ursprung haben.

4.4

Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass der Vertrag auch den freien Kapitalverkehr nach oder aus dritten Ländern vorsieht und dass zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten bilateral eine Reihe internationaler Abkommen besteht.

4.5

Vollkommene Steuerneutralität könnte bei einer Kombination aller in der Mitteilung aufgestellten Voraussetzungen und einer Beschränkung auf das Gebiet der Gemeinschaft im Idealfall nur durch einen einheitlichen gemeinschaftlichen Körperschaftsteuersatz innerhalb eines Freistellungssystems erreicht werden und auch das nur unter der Voraussetzung, dass darüber hinaus die Bedingungen, unter denen die ESt auferlegt wird, in allen betroffenen Staaten gleich sind, und sofern man davon ausgeht, dass Einkünfte aus Aktien das alleinige Einkommen des Steuerpflichtigen aus Portfolioinvestitionen darstellen. Die Kommission räumt übrigens selbst ein, dass vollkommene Steuerneutralität nur erreicht werden könnte, wenn die Steuersysteme der Mitgliedstaaten vollständig harmonisiert würden.

4.6

Die Steuerhoheit der Parlamente und Staaten, die über die Besteuerung der natürlichen und juristischen Personen und den Staatshaushalt entscheiden, ist historisch gesehen eine der Grundlagen der europäischen Demokratien. Die Gleichheit der Bürger vor öffentlichen Ämtern stellt ein grundlegendes Prinzip von Verfassungsrang dar. Beim derzeitigen europäischen Integrationsstand halten die Mitgliedstaaten aus gewichtigen Gründen noch an ihren nationalen Kompetenzen in Steuerangelegenheiten fest, wie dies in den Verträgen bestimmt ist. Es versteht sich von selbst, dass sich dies in Zukunft ändern kann. Der Ausschuss hofft jedenfalls, dass der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten diese nicht zu Steuerdumping verleitet.

4.7

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die vorgeschlagenen Orientierungsleitlinien, sofern sie sich nur auf Fragen beziehen, die der Gerichtshof effektiv behandelt hat, unter diesen Umständen in den entsprechenden Zuständigkeitsbereich der Kommission und der Mitgliedstaaten fallen. Sollte in diesem Sinne entschieden werden, müssten das Europäische Parlament und die beratenden Einrichtungen der Gemeinschaft in die Entwicklung der einschlägigen Verfahrensweise in vollem Umfang einbezogen werden.

4.8

Der Ausschuss fragt sich schließlich, ob das Androhen einer Anrufung des Gerichtshofs tatsächlich die unverzichtbare Suche nach Lösungen erleichtern kann; nichtsdestoweniger ist der Ausschuss der Auffassung, dass die betroffenen Mitgliedstaaten schnell Bestimmungen verabschieden müssen, um die Benachteiligungen bei Dividendenzahlungen aus dem Ausland und in das Ausland zu beenden. Zudem könnte die Einschaltung des Gerichtshofs darauf hinauslaufen, dass der Gerichtshof außerhalb der verbliebenen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zu einem Ersatz für einen gemeinschaftlichen Steuergesetzgeber gemacht werden soll, wodurch die Gewaltenteilung gefährdet würde.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Der Ausschuss stellt fest, dass das vergleichsweise einfache Analysebeispiel der Kommission nur eine Hypothese der Anlage in Aktien abdeckt, nämlich Aktien-Portfolioinvestitionen in Gesellschaften, die einen Sitz in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten haben. Ein Portfolio kann aus Aktien von Gesellschaften zusammengesetzt sein, die in mehreren Mitgliedstaaten und außerhalb der EU ansässig sind.

5.2

Der Ausschuss merkt zudem an, dass Einkünfte aus Wertpapieren darüber hinaus aus Fondsgesellschaften oder Pensionsfonds in Formen resultieren können, die die nationale Herkunft der ausgeschütteten Dividendenanteile und des ausgeschütteten Wertzuwachses nicht erkennen lassen. Darüber hinaus werden bisweilen unterschiedliche Steuerregelungen auf den Wertzuwachs solcher Anlageformen und auf den ausgeschütteten Gewinn angewendet, was bei den von einer natürlichen Person, die ihr eigenes Aktienportefeuille besitzt, direkt vereinnahmten Dividenden nicht der Fall ist. Diese Fragen werden von der Kommission nicht behandelt.

5.3

Der Ausschuss stellt fest, dass ferner die Frage der Wertzuwachs-Besteuerung von an der Börse gehandelten Wertpapieren nicht Gegenstand der Mitteilung ist. Der Bezug von Dividenden stellt für einen Einzelnen nicht das einzige Ziel einer Aktien-Portfolio-Anlage dar. Die Wertsteigerung von Börsenpapieren und die möglichen Gewinnmitnahmen sind bisweilen ein noch tiefer gehender Grund für eine solche Geldanlage; sie sind aus der Verwaltung eines Portfolios und der entsprechenden Einkünfte nicht wegzudenken. Dieses Problem sollte sicherlich ebenfalls untersucht werden.

5.4

Hinsichtlich der Debatte über die wirtschaftliche Doppelbesteuerung ist der Ausschuss der Auffassung, dass es nicht illegitim ist, zwischen natürlichen und juristischen Personen zu unterscheiden, und zwar ganz unabhängig davon, welche Besteuerungsmethoden und –sätze angewandt werden. Die den Aktionären ausgeschütteten Anteile stellen für diese verfügbares Einkommen dar, allerdings sind nicht unbedingt alle Unternehmenserträge Gegenstand einer Ausschüttung. Ein Teil dient zur Eigenfinanzierung der Gesellschaft, was den Börsenwert erhöht und das Vermögen der Aktionäre wachsen lässt; dieser Teil des Ertrags wird in den Annahmen der Kommission nur von KSt und nicht von ESt erfasst. Es sollte daher auch aufgezeigt werden, ob der Wertzuwachs bei seiner Realisierung besteuert wird oder nicht und zu welchen Bedingungen; die Mitteilung klammert diese nach Meinung des Ausschusses wesentliche Frage aus.

6.   Schlussfolgerungen

6.1

Nach Ansicht des Ausschusses stellen die auf Nichtdiskriminierung abzielenden Behandlungsweisen der Doppelbesteuerung und eventueller Quellensteuern bei inländischen Dividenden und Dividendenzahlungen aus dem Ausland und in das Ausland wichtige Ziele dar, ohne dass sie das grundlegende Prinzip der Gleichheit natürlicher Personen vor öffentlichen Ämtern auf nationaler Ebene in Frage stellen. Die Mitgliedstaaten könnten ferner eine Zusammenarbeit zwischen den Ländern anstreben, die ähnliche Steuerpraktiken haben, um die besten verfügbaren Steuerpraktiken zu prüfen.

6.2

Die Fragen, die der Ausschuss in seinen besonderen Bemerkungen angeschnitten hat, könnten im Hinblick auf eine weiter gehende Harmonisierung vor allem bei der Körperschaftsteuer und der Einkommens- und der Wertzuwachsbesteuerung auf einer späteren Stufe geprüft werden, um ein besseres Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten.

6.3

Der Ausschuss ist abschließend der Auffassung, dass die Mitteilung der Kommission die Perspektive eröffnet, dass Probleme gelöst werden, die Gegenstand zahlreicher Verfahren des Gerichtshofs waren; dieser Weg sollte in Zukunft vermieden werden, um den Gerichtshof nicht in unnötiger Weise durch Anfragen in diesem Bereich zu überlasten.

Brüssel, den 30. Juni 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  „Ein Binnenmarkt ohne steuerliche Hindernisse“, KOM(2001) 582 endg.

(2)  Rs. C-35/98 Verkooijen [2000] Slg. I-4071.

(3)  Ruding-Bericht vom März 1992, S. 207-208.

(4)  Urteil vom 28. Januar 1992, Bachmann, CR09204/90, Slg. I-249.

(5)  Rechtssache C-516/99, 30. Mai 2002.


ANHANG

zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Die folgenden Änderungsanträge, die mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen als Ja-Stimmen erhalten haben, wurden vom Ausschuss im Verlauf der Beratungen abgelehnt:

Ziffer 4.6

Letzten Satz streichen.

Ergebnis der Abstimmung:

Nein-Stimmen:

84

Ja-Stimmen:

58

Stimmenthaltungen:

9

Ziffer 4.8

Ziffer streichen.

Ergebnis der Abstimmung:

Nein-Stimmen:

85

Ja-Stimmen:

53

Stimmenthaltungen:

16


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/74


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen und die Sozialpartner auf Gemeinschaftsebene hinsichtlich der Überprüfung der Richtlinie 93/104/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung“

(KOM(2003) 843 endg.)

(2004/C 302/17)

Die Kommission beschloss am 5. Januar 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe „Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft“ nahm ihre Stellungnahme am 14. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr HAHR.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 154 gegen 71 Stimmen bei 13 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsdokuments

1.1

Die Mitteilung betrifft die Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993 in der durch die Richtlinie 2000/34/EG geänderten Fassung; sie enthält Mindestvorschriften für die Arbeitszeitgestaltung, mit denen die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer besser geschützt werden sollen.

1.2

Mit dieser Mitteilung wird ein dreifacher Zweck verfolgt:

1.2.1

Erstens soll die Anwendung der beiden Bestimmungen bewertet werden, für die eine Überprüfung vor Ablauf von sieben Jahren ab der für die Umsetzung durch die Mitgliedstaaten festgesetzten Frist, also vor dem 23. November 2003, vorgesehen ist. Es handelt sich dabei um die in Artikel 17 Absatz 4 genannten Abweichungen vom Bezugszeitraum für die Anwendung des Artikels 6 (wöchentliche Höchstarbeitszeit) und um die in Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i genannte Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Artikel 6 nicht anzuwenden, wenn erforderliche Maßnahmen sicherstellen, dass das Einverständnis der einzelnen Arbeitnehmer, mehr als 48 Stunden pro Woche zu arbeiten (generell bekannt als Opt-out), gewährleistet ist.

1.2.2

Zweitens sollen die Auswirkungen der Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs hinsichtlich der Definition der Arbeitszeit und der Anrechnung des Bereitschaftsdienstes sowie die neuen Entwicklungen zur Gewährleistung einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie analysiert werden.

1.2.3

Schließlich sollen das Europäische Parlament und der Rat, aber auch der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Ausschuss der Regionen sowie die Sozialpartner zu einer möglichen Neufassung des Textes gehört werden.

1.2.4

Es sei darauf hingewiesen, dass das Europäische Parlament am 11. Februar 2004 eine Entschließung angenommen hat, in der die völlige Abschaffung der Opt-out-Bestimmungen gefordert wird. Am 19. Mai veröffentlichte die Kommission ein zweites Konsultationspapier. Der Kommission zufolge ist das Dokument als Verhandlungsimpuls für die Sozialpartner gedacht; kommen keine Verhandlungen zustande, werden zumindest richtungsweisende Informationen darüber erwartet, wie die später ggf. von der Kommission vorzuschlagende Rechtsetzung in groben Zügen aussehen soll.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hält das Konsultationsverfahren, das die Kommission in einem Bereich anwendet, der auf einzelstaatlicher Ebene Gegenstand von Tarifverträgen ist, für unangemessen. Die Kommission hätte vorrangig die Sozialpartner konsultieren müssen, bevor sie das Verfahren zur Konsultation der europäischen Institutionen, des EWSA und des Ausschusses der Regionen einleitete.

2.2

Die Kommission unterbreitet somit keine konkreten Änderungsvorschläge zu der Richtlinie, sondern erwartet bei dieser Konsultation im Hinblick auf eine künftige Überarbeitung der Richtlinie Reaktionen zu fünf wesentlichen Punkten:

Dauer des Bezugszeitraums — derzeit vier Monate, mit der Möglichkeit, unter gewissen Umständen sechs Monate oder ein Jahr zuzulassen;

Definition der Arbeitszeit nach den jüngsten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs über Bereitschaftsdienstzeiten;

Bedingungen für die Anwendung der Ausnahmen (Opt-out-Klausel);

Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie;

Möglichkeiten des optimalen Ausgleichs.

2.2.1

Zur erschöpfenden Beantwortung der fünf Fragen der Kommission ist neben der gründlichen Kenntnis der allgemeinen Arbeitsrichtlinie 93/104/EG auch eine Analyse darüber notwendig, wie die Umsetzung in die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften erfolgt und welche Auswirkungen sie auf das frühere einzelstaatliche Arbeitsrecht und die nationalen Branchentarifverträge hat. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stellt fest, dass der von der Kommission veröffentlichte Bericht (1) und der Inhalt der aktuellen Mitteilung zu diesen Auswirkungen nur teilweise Klarheit schaffen. Die Bemerkungen des Ausschusses werden daher notwendigerweise eher allgemeinerer Natur sein.

2.2.2

Um den Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer in Übereinstimmung mit den Sozialvorschriften des EG-Vertrags (Artikel 136 ff.) und mit der Richtlinie 89/391/EWG zu gewährleisten, sieht die allgemeine Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG im Einzelnen Folgendes vor:

eine durchschnittliche Höchstarbeitszeit in einem Siebentageszeitraum von 48 Stunden einschließlich der Überstunden;

eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden pro 24-Stunden-Zeitraum;

eine Ruhepause bei einer täglichen Arbeitszeit von mehr als sechs Stunden;

eine Mindestruhezeit von 24 Stunden pro Siebentageszeitraum;

einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen;

eine durchschnittliche maximale Nachtarbeitszeit von 8 Stunden pro 24-Stunden-Zeitraum.

2.2.3

In der Richtlinie werden auch die Bedingungen festgesetzt, unter denen die Mitgliedstaaten im Wege der Rechtsetzung und die einzelstaatlichen Sozialpartner in Tarifverträgen von den Bestimmungen der Richtlinie abweichen dürfen. Abweichungen sind nur unter der Bedingung zulässig, dass die übergeordneten Grundsätze des Schutzes der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer beachtet werden.

2.2.4

Eine erschöpfende Auswertung der Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Frage, ob die ursprünglich angestrebten Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer in der Union erreicht werden konnten, liegt leider nicht vor. Der Ausschuss geht jedoch davon aus, dass eine solche Auswertung erfolgt ist bzw. auf längere Frist erfolgen wird. Inhaltliche Änderungen der Richtlinie müssen deshalb wohlüberlegt und gut untermauert sein und besonders die Lageeinschätzung der Sozialpartner berücksichtigen.

2.2.5

Gleichzeitig ist allerdings zu bedenken, dass der Inhalt der Richtlinie auf Diskussionen und Überlegungen aus einer Zeit aufbaut, die mehr als 14 Jahre zurückliegt. Die Urteile des Gerichtshofes, die die Auslegung des Arbeitszeit- und Ruhezeitbegriffs betreffen, haben etliche Mitgliedstaaten in akute Bedrängnis gebracht. Vor diesem Hintergrund nimmt der Ausschuss das nun von der Kommission eingeleitete Konsultationsverfahren mit Interesse zur Kenntnis, auch wenn er die diesbezüglich bereits geäußerten Vorbehalte betont. Hierdurch können wertvolle Anhaltspunkte in Bezug auf die Durchführung der Richtlinie und der daraus abgeleiteten Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten gewonnen werden; dies wird den eingangs erwähnten Informationsmangel beheben. In diesem Konsultationsprozess kommt den Sozialpartnern durch die Bestimmungen des EG-Vertrages eine sehr wichtige Rolle zu.

2.2.6

Die Arbeitszeit und ihre Gestaltung sind Faktoren, die das Verhältnis zwischen den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften sowie die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im täglichen Berufsleben entscheidend prägen. Deshalb ist die Ausgestaltung der Arbeitzeitregeln in Tarifverträgen von grundlegendem Interesse für die Sozialpartner, die in diesen Fragen große Sachkenntnis und Erfahrung besitzen.

2.2.7

Die einzelstaatliche Rechtsetzung im Bereich der Arbeitszeit fußt im Allgemeinen auf der gemeinsamen Verantwortung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer für eine zufrieden stellende Gestaltung der Arbeitszeit. Ausgehend von den Arbeitszeitbestimmungen und im Rahmen von Tarifverträgen obliegt den Sozialpartnern der Mitgliedstaaten auf verschiedenen Ebenen die Lösung der Arbeitszeitfragen, die sich am Arbeitsplatz ergeben.

2.2.8

Betrachtet man formaljuristisch die Bestimmungen der Arbeitszeitrichtlinie über die Ruhezeiten in einem 24-Stunden-Zeitraum, die Pausen, die wöchentlichen Ruhezeiten und die Wochenarbeitszeit, so lässt sich im Vergleich mit den nach Artikel 17 zulässigen Abweichungen der Schluss ziehen, dass die Richtlinie eine flexible Lösung auf Verhandlungsbasis gestattet; bei dieser Betrachtung bleiben freilich die Folgen, die sich aus den Urteilen des Gerichtshofes in Sachen Bereitschaftsdienst ergeben, außen vor. Gleichzeitig ist allerdings festzustellen, dass die Arbeitszeitrichtlinie einen relativ komplizierten Teil des Gemeinschaftsrechts darstellt. Deshalb schlägt der Ausschuss vor, dass die Kommission im Zuge eines Vorschlags zu einer Überarbeitung der Richtlinie auch die Möglichkeiten für ihre Vereinfachung prüft und beachtet. Die Vereinfachung darf allerdings nicht auf Kosten des Schutzes der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer gehen.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1   Bezugszeiträume

3.1.1

Bereits zur Zeit der Entstehung der Richtlinie setzten in Europa Überlegungen über die Jahresarbeitszeit ein. Der Begriff „Jahresarbeitszeit“ kann am einfachsten als ein System definiert werden, bei dem der Bezugszeitraum für die durchschnittliche Wochenarbeitszeit ein Jahr bzw. 365 Tage beträgt.

3.1.2

Die Richtlinie zur Gestaltung der Arbeitszeit enthält nämlich in Artikel 6 eine Bestimmung über eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 48 Stunden. Diese kann auf vier oder aufgrund der Ausnahmebestimmungen in Artikel 17 auf sechs oder zwölf Monate (2) bezogen werden. Die Richtlinie eröffnet somit einen gewissen Ermessensspielraum beim Arbeitszeitausgleich innerhalb des Bezugszeitraums. Bei der Arbeitszeitgestaltung müssen natürlich die Bestimmungen über tägliche Ruhezeiten, wöchentliche Ruhezeiten, Nachtarbeit usw. eingehalten sowie der übergeordnete Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer beachtet werden.

3.1.3

Die Kommission stellt in ihrer Mitteilung fest, dass es „nicht immer einfach [ist], die nationalen Rechtsvorschriften zu analysieren, mit denen die Artikel 6 und 16 umgesetzt werden“ (3) (in denen es um die maximale Wochenarbeitszeit und den Bezugszeitraum geht), sondern dass sich „allgemein […] die Bestätigung einer Tendenz zu einem jährlichen Bezugszeitraum feststellen [lässt]“ (4).

3.1.4

Die Frage ist, wie viel Einfluss die Bezugszeiträume auf die Gesundheit und die Sicherheit des Arbeitnehmers haben. Die Kommission geht auf diese Frage nicht ein. Selbstverständlich ist ein erhöhtes Arbeitsaufkommen innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums eine Belastung, aber da der jährliche Bezugszeitraum tatsächlich durch viele Tarifverträge in hohem Maße angewendet wird, kann davon ausgegangen werden, dass etwaige negative Auswirkungen auf Gesundheit und Sicherheit bei einem längeren Bezugszeitraum durch die Tarifpartner ausgeglichen werden, wenn gleichwertige Ausgleichruhezeiten gewährt werden.

3.1.5

Ein zugunsten des verlängerten Bezugszeitraumes ins Felde geführtes Argument ist die größere Flexibilität, die Unternehmen im Umgang mit der Arbeitszeit erhalten. Eine solche Flexibilität herrscht dank der Tarifverträge bereits in vielen Ländern; das Problem der geringen Flexibilität betrifft eher diejenigen Länder, in denen Tarifverträge traditionell eine untergeordnete Rolle spielen. Es wäre wichtig, auch im Bereich der Arbeitszeiten eine Stärkung des Tarifvertragssystems zu fordern, auch in den Ländern und Sektoren, in denen es nicht besonders stark ausgeprägt ist.

3.1.6

Der EWSA stellt fest, dass es in Artikel 137 des EG-Vertrages, der die Grundlage für die Arbeitszeitrichtlinie bildet, heißt, dass die aufgrund dieses Artikels anzunehmenden „Richtlinien […] keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben [sollen], die der Gründung und Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen entgegenstehen“.

3.1.7

Da ein Bezugszeitraum von zwölf Monaten bereits in vielen Mitgliedstaaten durch Tarifverträge angewendet wird, vertritt der EWSA die Auffassung, dass die derzeitige Regelung mit der Möglichkeit, den Bezugszeitraum durch Tarifverträge auszuweiten, den Sozialpartnern die notwendige Flexibilität gewährt, um Arbeitszeiten an die jeweilige Situation in den Mitgliedstaaten, Sektoren und Betrieben anzupassen. Diese Regelung sollte daher beibehalten werden.

3.1.8

In Anbetracht der besonderen Arbeitszeitverhältnisse für Führungskräfte spricht sich der Ausschuss dafür aus, dass die Verbände, die diese Kategorien von Arbeitnehmern vertreten, unmittelbar in die Verfahren und Beratungen zur Festlegung der Rahmenbedingungen für die Arbeitszeit einbezogen werden. Dies würde spezielle Bestimmungen erfordern.

3.2   Definition der Arbeitszeit

3.2.1

Die Arbeitszeitrichtlinie enthält in Artikel 2 eine Definition des Arbeitszeitbegriffes. Als Arbeitszeit gilt „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. In Artikel 2 Absatz 2 wird im Gegenzug „jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit“ als Ruhezeit definiert.

3.2.2

Der Gerichtshof setzte sich zweimal mit der Arbeitszeitdefinition der Richtlinie auseinander. In seinem ersten Urteil (5), das die Arbeitszeit der Ärzte in medizinischen Einrichtungen betrifft, stellte der Gerichtshof fest, dass der ärztliche Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie zu betrachten ist, falls der Arzt in der betreffenden medizinischen Einrichtung physisch anwesend sein muss. „Bereitschaftszeit“ bzw. „Bereitschaftsdienst“ sind demnach als Verpflichtung zu verstehen, physisch an dem vom Arbeitgeber zugewiesenen Platz anwesend zu sein und in Erwartung von Arbeitsaufgaben zu dessen Verfügung zu stehen. In seinem Urteilsspruch in der Rechtssache Jaeger (6) bestätigte der Gerichtshof seine frühere Auslegung und stellte fest, dass während des Bereitschaftsdienstes auch die Zeiten außerhalb der tatsächlichen Inanspruchnahme als Arbeit des Arztes im Sinne der Richtlinie zu werten seien. Er entschied ferner, dass die Ruhezeit umgehend zu nehmen ist.

3.2.3

Der Ausschuss macht darauf aufmerksam, dass die Gerichtsurteile, besonders im Gesundheitswesen, aber auch in anderen Branchen, weitreichende Konsequenzen für die Arbeitsorganisation haben können. Mehrere Mitgliedstaaten haben in ihrem einzelstaatlichen Recht Bestimmungen zum Bereitschaftsdienst. Diese Bestimmungen sind zwar nicht deckungsgleich, ihr gemeinsamer Nenner ist allerdings, dass der Bereitschaftsdienst überhaupt nicht oder nur in gewissem Umfang als Arbeitszeit betrachtet wird. Er wird aber auch nicht als Ruhezeit gewertet.

3.2.4

Beachtenswert ist, dass die Tragweite der Arbeitszeitdefinition gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie vor der Verabschiedung der Richtlinie offenbar nicht erschöpfend analysiert oder erörtert wurde. Nur so erklärt sich die Überraschung, die die Urteile bei den EU-Institutionen und in den Mitgliedstaaten hervorgerufen haben, besonders da eine ganze Reihe von Mitgliedstaaten die Bereitschaftszeit in ihrem einzelstaatlichen Arbeitszeitrecht geregelt hat.

3.2.5

Der Ausschuss schließt sich dem Standpunkt der Kommission an, wonach das Problem auf mehrere Arten gelöst werden könnte. In der derzeitigen Situation möchte der Ausschuss keine der einzelnen Lösungen propagieren. Die gewählte Lösung sollte vor allem:

im Zusammenhang mit der Arbeitszeit einen besseren Schutz von Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer gewährleisten;

den Unternehmen und den Mitgliedstaaten mehr Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung einräumen;

eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen;

eine unverhältnismäßige Belastung der Unternehmen, insbesondere der KMU, vermeiden.

3.3   Anwendung von Ausnahmen gemäß Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i (Opt-out)

3.3.1

Artikel 18 der Richtlinie gibt den Mitgliedstaaten das Recht, von Artikel 6 der Richtlinie, der die Begrenzung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden vorschreibt, durch eine gesetzliche Regelung abzuweichen. Dazu müssen allerdings verschiedene Bedingungen erfüllt sein:

a)

Der Arbeitnehmer muss sich bereit erklärt haben, länger zu arbeiten;

b)

dem Arbeitnehmer dürfen keine Nachteile entstehen, wenn er nicht bereit ist, eine größere Anzahl von Arbeitsstunden zu leisten;

c)

der Arbeitgeber muss aktuelle Listen über alle Arbeitnehmer führen, die eine solche Arbeit leisten;

d)

die Listen sind den zuständigen Behörden zur Verfügung zu stellen.

Festzustellen bleibt, dass auch Arbeitnehmer, die unter die Opt-out-Klausel gemäß Artikel 18 fallen, Anrecht auf eine tägliche ununterbrochene Ruhezeit von 11 Stunden und eine Pause nach sechs Stunden Arbeit haben.

3.3.2

Die Arbeitszeitrichtlinie baut auf einigen unklaren, nicht expressis verbis vorgebrachten Annahmen auf, die als Vorstellung von einer „gesunden Arbeitszeitkultur“ gedeutet werden können. Laut Artikel 137 des EG-Vertrages „unterstützt und ergänzt die Gemeinschaft die Tätigkeit der Mitgliedstaaten“ zur Verbesserung der Arbeitsumwelt und „zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer“. Die Existenz der Arbeitszeitrichtlinie und vor allem ihre praktische Umsetzung in den meisten Mitgliedstaaten beweisen, dass auf breiter Front der Wille vorhanden ist, zumindest die ungesunde Arbeitszeitkultur zu begrenzen. Die Opt-out-Möglichkeit nach Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i kann deshalb ausdrücklich nur dann zur Anwendung kommen, wenn der Mitgliedstaat die übergeordneten Prinzipien des „Schutzes der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer“ respektiert.

3.3.3

Eine Beurteilung der Daseinsberechtigung der Opt-out-Möglichkeit muss davon abhängig gemacht werden, ob ein Zusammenhang zwischen einer Wochenarbeitszeit von mehr als 48 Stunden und der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer nachgewiesen werden kann. Die Kommission schreibt in ihrer Mitteilung, dass eine Analyse der Auswirkungen der Ausnahmeregelung auf die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer „nicht möglich zu sein [scheint], weil es an zuverlässigen Daten fehlt“ (7). Gleichzeitig erwähnt sie jedoch eine aktuelle Studie, die auf eine mögliche Verbindung zwischen langen Arbeitszeiten und körperlicher Gesundheit hinweist, besonders bei einer Arbeitszeit von mehr als 48-50 Stunden pro Woche. Der EWSA hatte sich bereits in seiner Stellungnahme zum Richtlinienvorschlag von 1990 wie folgt geäußert: „Aus zahlreichen Untersuchungen geht nämlich hervor, dass überlange Arbeitszeiten ohne Ruhezeiten […] die Gesundheit der betreffenden Arbeitnehmer beeinträchtigen und für arbeitsbedingte Erkrankungen und Gesundheitsverschleiß verantwortlich sein können (8).“

3.3.4

Ein im Zusammenhang mit der Opt-out-Möglichkeit wichtiges Kriterium ist die Freiwilligkeit. Den Bestimmungen der Richtlinie zufolge soll dem Arbeitnehmer stets die Entscheidung überlassen sein, nicht mehr als durchschnittlich 48 Stunden pro Woche zu arbeiten. Diese Bestimmungen sind als realitätsfern kritisiert worden, da ein Arbeitnehmer z. B. bei der Einstellung die Unterschrift unter eine solche Vereinbarung kaum verweigern werde.

3.3.5

In der Mitteilung der Kommission wird eine Arbeitgeberuntersuchung in Großbritannien erwähnt, der zufolge 48 % der Arbeitnehmer im Baugewerbe länger als 48 Stunden pro Woche arbeiten (9). Angesichts der Tatsache, dass es sich in vielen Fällen sicherlich um Arbeiten handelt, die körperliche Belastbarkeit und Genauigkeit erfordern, ist dies ein erstaunlich hoher Wert. Der Nutzen für den Arbeitgeber aus den letzten Arbeitsstunden – in denen der Arbeitnehmer wegen der Überstundenzulagen ohnehin eine teure Arbeitskraft ist – ist relativ gering. Somit muss gefragt werden, ob die allgemein lange Arbeitszeit in Großbritannien nicht mit anderen strukturellen Problemen zusammenhängt.

3.3.6

Eine wichtige Frage ist, wie sich lange Arbeitszeiten auf die Familie auswirken. Wie kommen Familien mit Kindern klar, in denen beide Elternteile länger als 48 Stunden pro Woche arbeiten? Verhält es sich so, dass die allgemein lange Arbeitszeit einen Elternteil – in den meisten Fällen die Frau - ganz oder teilweise vom Arbeitsmarkt verdrängt? Trifft dies zu, wäre die Opt-out-Möglichkeit mit Blick auf die Erfüllung des Zieles der Lissabon-Strategie, der zufolge bis 2010 EU-weit 60 % der weiblichen Bevölkerung im Erwerbsleben stehen sollen, als kontraproduktiv zu betrachten. Überraschend ist die Tatsache, dass der Unterschied zwischen der Erwerbsquote britischer Männer und britischer Frauen unter dem EU-Durchschnitt liegt, während andererseits Großbritannien nach den Niederlanden das EU-Land ist, in dem relativ die meisten Frauen - etwa die Hälfte - einer Teilzeittätigkeit nachgehen (10). Laut Mitteilung der Kommission arbeiten 26,2 % der britischen Männer länger als 48 Stunden pro Woche, während der entsprechende Anteil an den Frauen bei 11,5 % liegt (11). Eine im British Medical Journal veröffentlichte Studie (12) gelangt zu dem Schluss, dass eine fehlende Überstundenkontrolle für weibliche Beschäftigte ein Gesundheitsrisiko darstellt, speziell wenn die Betroffenen manuelle Tätigkeiten verrichten und Familie haben. Die Opt-out-Möglichkeit scheint somit auch einen negativen Effekt auf die Chancengleichheit von Männern und Frauen zu haben. Eine eingehendere Analyse dieses Aspekts wäre vonnöten.

3.3.7

Der EWSA möchte sich in diesem Stadium nicht zu der Opt-out-Möglichkeit äußern. Um Stellung zu dieser Frage zu beziehen, wäre eine tiefer gehende Analyse der Situation unter Einbeziehung der Sozialpartner notwendig.

3.4   Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben

3.4.1

Was bedeutet bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie für den einzelnen Arbeitnehmer? Welcher Stellenwert kommt dem Familienleben zu? Eltern von Kleinkindern dürfte die Beantwortung dieser Frage nicht schwer fallen. Stellt man dieselbe Frage einem kinderlosen Paar, fällt die Antwort sicherlich ganz anders aus. Ein alleinerziehender Vater wiederum wird mit einer dritten Antwort aufwarten. Mithin lässt sich die Frage nach der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht eindeutig beantworten.

3.4.2

Ganz allgemein dürfte jedoch die Aussage zutreffen, dass die Möglichkeit zur persönlichen Beeinflussung bzw. Steuerung der eigenen Arbeitssituation von den meisten Menschen als positiv empfunden und als Beitrag zu einem guten Arbeitsklima gewertet wird. Besonders gilt dies für Eltern von Kleinkindern. Das Europäische Parlament hat eine Entschließung zur Arbeitszeitgestaltung angenommen. Darin

unterstreicht es, dass Frauen stärker negativen Auswirkungen auf ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen ausgesetzt sind, wenn sie die Doppelbelastung von Berufstätigkeit und familiären Verpflichtungen zu tragen haben;

verweist es auf den beängstigenden Trend, dass Frauen zwei Teilzeitbeschäftigungen nachgehen, häufig mit einer kombinierten Arbeitswoche, die die gesetzlich zulässige Höchstarbeitszeit überschreitet, um genug Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen;

unterstreicht es, dass die Kultur der vielen Arbeitsstunden in höher qualifizierten Berufen und leitenden Stellungen ein Hindernis für die Mobilität von Frauen nach oben darstellt und die Geschlechtertrennung am Arbeitsplatz verstärkt (13).

Der EWSA schließt sich nachdrücklich dieser Aussage an, allerdings mit dem Zusatz, dass dieses Problem nicht nur Frauen, sondern grundsätzlich Eltern betrifft, die Probleme haben, Beruf und die familiären Verpflichtungen miteinander in Einklang zu bringen. Hinzu kommt, dass mit solchen Situationen auch Gesundheitsgefahren verbunden sind können.

3.4.3

Der EWSA möchte darauf hinweisen, dass ein wichtiger Aspekt der Arbeitszeitgestaltung sein muss, dass alle die nicht vollständig durch das Berufs- und das Familienleben gebundene Zeit für eine intensivere Teilhabe an Gesellschaft und Demokratie nutzen können.

3.4.4

Derzeit gibt es im Gemeinschaftsrecht und im einzelstaatlichen Recht Bestimmungen, die Familienleben und Kindererziehung mit beruflicher Tätigkeit vereinbar machen sollen. So bestehen z.B. Bestimmungen über Elternurlaub, Teilzeitbeschäftigung, Telearbeit, Gleitzeit usw. Der Ausschuss würde es begrüßen, wenn eine „Bestandsaufnahme“ der bereits bestehenden Bestimmungen unter Einbeziehung der Sozialpartner durchgeführt würde, bevor neue Maßnahmen und deren Diskussion vorgeschlagen werden. Der EWSA regt an, dass die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen mit einer einschlägigen Studie beauftragt wird. Die Stiftung hat bereits einen Bericht vorgelegt, der teilweise auf die aktuellen Problemstellungen eingeht (14).

Brüssel, den 30. Juni 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Bericht der Kommission — Stand der Umsetzung der Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung („Arbeitszeitrichtlinie“), KOM(2000) 787 endg.

(2)  

1.

von vier auf sechs Monate durch Tarifvertrag oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern (Bezugnahme auf Art. 17 (3) im ersten Satz von Art. 17 (4)).

2.

Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten zulassen, den Bezugszeitraum im Wege von Tarifverträgen oder Vereinbarungen der Sozialpartner auf maximal zwölf Monate auszudehnen „mit der Maßgabe, dass sie dabei die allgemeinen Grundsätze der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer wahren“ und „aus objektiven, technischen oder arbeitsorganisatorischen Gründen“.

(3)  KOM(2003) 843 endg., S. 6.

(4)  KOM(2003) 843 endg., S. 7.

(5)  Urteil des Gerichtshofs vom 3. Oktober 2000 in der Rechtssache C-303/98 (Simap).

(6)  Urteil des Gerichtshofs vom 9. Oktober 2003 in der Rechtssache C-151/02 (Jaeger), noch nicht veröffentlicht.

(7)  KOM(2003) 843 endg., S. 17.

(8)  ABl. C 60 vom 8.3.1991, S. 26.

(9)  KOM(2003) 843 endg., S. 13.

(10)  Bericht der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: „Bericht zur Gleichstellung von Frau und Mann — 2004“ (KOM(2004) 115 endg., S. 16.

(11)  KOM(2003) 843 endg.

(12)  ALA-Mursula et al.: „Effect of employee worktime control on health: a prospective cohort study“, Occupational and Environmental Medicine Journal, Band 61, Seite 254-261, Nr. 3, März 2004.

(13)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. Februar 2004 zur Arbeitszeitgestaltung (Revision der Richtlinie 93/104/EG), P5_TA-PROV(2004)0089, Ziffer 20-22.

(14)  „A new organisation of time over working life“ („ Neuorganisation der Zeit im Verlauf des Arbeitslebens“), Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, 2003.


ANHANG

zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgender Änderungsantrag, der mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen als Ja-Stimmen erhielt, wurde im Verlauf der Beratungen abgelehnt:

Ziffer 3.1.7

Wie folgt ersetzen:

„In ihrer Mitteilung vom 19. Mai schlägt die Kommission eine Ausdehnung des Bezugszeitraums vor, wobei sie jedoch noch keinen konkreten Vorschlag unterbreitet. Aus diesem Grund beabsichtigt der EWSA nicht, zum gegenwärtigen Zeitpunkt Stellung zu nehmen. Der Ausschuss wird sich äußern, wenn er zu dem Richtlinienentwurf gehört wird.“

Begründung

Zu zwei anderen Themen (Definition der Arbeitszeit, Ziffer 3.2.5, und der Opt-out-Möglichkeit, Ziffer 3.3.7) äußert sich der EWSA in Erwartung konkreterer Vorschläge nicht. Daher ist ein entsprechendes Vorgehen auch hinsichtlich des Bezugszeitraums gerechtfertigt.

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen:

84

Nein-Stimmen:

135

Stimmenthaltungen:

7


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/80


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Beziehungen EU/Türkei mit Blick auf die Tagung des Europäischen Rats im Dezember 2004“

(2004/C 302/18)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 28. Januar 2004, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Die Beziehungen EU/Türkei mit Blick auf die Tagung des Europäischen Rats im Dezember 2004“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe „Außenbeziehungen“ nahm ihre Stellungnahme am 7. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr Tom ETTY.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 1. Juli) mit 166 gegen 17 Stimmen bei 28 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Hintergrund

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beobachtet die Entwicklung in der Türkei seit vielen Jahren. Die Türkei ist seit 1963 mit der EU bzw. der EG assoziiert, stellte 1987 einen Beitrittsantrag und befindet sich seit 1995 in Zollunion mit der EU.

1.2

Über den mit der türkischen Zivilgesellschaft eingerichteten Gemischten Beratenden Ausschuss (GBA), der seit 1995 erfolgreich tätig ist, ist der EWSA über die Anliegen der sozialen und wirtschaftlichen Interessengruppen der Türkei in Bezug auf die EU-Mitgliedschaft des Landes gut informiert. Er hat diesen Erwartungen stets Rechnung getragen und hofft inständig, dass der Europäische Rat zu dem Schluss gelangt, dass die Türkei inzwischen die auf dem Kopenhagener Gipfel im Jahre 1993 festgelegten politischen Kriterien erfüllt, und denn auch die unverzügliche Eröffnung der Beitrittsverhandlungen beschließt.

1.3

Seit Jahrzehnten signalisiert die Türkei unzweideutig ihre Hinwendung zu Europa.

1.4

Die Türkei ist ein säkularer Staat mit einer überwiegend islamischen Bevölkerung. Das Land begreift sich als eine moderne, säkulare Demokratie. Für Länder mit einer islamischen Bevölkerungsmehrheit, die ihre politischen Strukturen im Sinne einer Trennung von Religion und Staat und der Demokratie stärken möchten, ist die Türkei ein wichtiges Vorbild. Ein EU-Beitritt der Türkei würde das hohe Niveau belegen, das die EU im Hinblick auf Pluralismus erreicht hat, ihre Fähigkeit zur Gestaltung des Dialogs zwischen Kulturen und Religionen sowie ihre Rolle als treibende Kraft des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

1.5

Demographisch betrachtet ist die Türkei ein junges Land mit einer stark wachsenden Wirtschaft mit großem Potenzial. Allerdings wäre es verfehlt, das Land nur als großen Markt für den europäischen Export oder als „Spielwiese“ für günstige Investitionen zu betrachten.

1.6

Die Türkei entwickelt seit vielen Jahren ihre Rolle einerseits als Pufferzone, andererseits als Brücke zwischen West und Ost, hat sich aber immer als europäisch betrachtet. Träte die Türkei tatsächlich der EU bei, könnte das Land dank seiner ausgezeichneten Beziehungen zu Zentralasien, dem Nahen Osten und dem Golf die Bestrebungen der EU zur Konfliktprävention noch unmittelbarer unterstützen.

2.   Einleitung

2.1

Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei werden gegenwärtig und für den Rest des Jahres von der Frage beherrscht, ob Beitrittsverhandlungen eröffnet werden oder nicht. Der Europäische Rat wird im Dezember 2004 darüber beschließen.

2.2

Dieser Beschluss wird nach einer über 15-jährigen Wartezeit der Türkei auf eine klare Antwort hinsichtlich ihres EU-Beitrittsgesuchs ein entscheidendes Ereignis darstellen. Auf der Tagung des Europäischen Rats im Dezember 1999 in Helsinki erhielt die Türkei den Status eines Beitrittskandidaten. Auf der Ratstagung in Kopenhagen im Dezember 2002 wurde beschlossen, eine Entscheidung über die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen auf der Grundlage einer Bewertung zu treffen, wenn die Türkei bis dahin die 1993 in Kopenhagen festgelegten politischen Kriterien erfülle. Die Umsetzung dieser Kriterien gilt als unabdingbare Voraussetzung auf dem Weg zu einer Vollmitgliedschaft.

2.3

Die anstehende Entscheidung ist natürlich nicht nur für die Türkei, sondern auch für die EU von größter Bedeutung.

2.4

Bislang konnte die Europäische Kommission der Türkei bei ihrer Bewertung der relevanten Fortschritte eine positive Entwicklung bescheinigen. Die Kommission bezeichnet die Ergebnisse des Reformprozesses in den letzten zwei bis drei Jahren als außerordentlich beeindruckend. Allerdings müssten bei der Unabhängigkeit der Justiz, der Redefreiheit, der Rolle der Streitkräfte und bei den kulturellen Rechten, zumal im südöstlichen Landesteil, noch weitere erhebliche Fortschritte erzielt werden.

Das Europäische Parlament gelangt in seinem jüngsten Bericht zur Türkei zu einer ähnlichen Beurteilung. Dort heißt es, dass die Türkei trotz aller bislang unternommenen Anstrengungen die politischen Kopenhagener Kriterien immer noch nicht erfüllt. Die Verfassung aus dem Jahre 1982, die zur Zeit der Militärregierung in Kraft gesetzt wurde, weist gravierende Mängel auf. Die Reformen seit 2001 haben deren grundlegend autoritären Charakter immer noch nicht geändert. Weitere Punkte des Berichts, die gemäß Parlamentsbericht ernsthaft Anlass zu Besorgnis geben, sind die praktische Umsetzung der Reformen, die immer noch vorkommende Anwendung der Folter auf Polizeiwachen, die Behinderung der Arbeit von Menschenrechtsorganisationen und die mangelnde Achtung der Rechte der Minderheiten (insbesondere der Kurden).

2.5

Die Türkei hat nicht nur in der Rechtsetzung ein imponierendes Programm auf den Weg gebracht, sondern auch wichtige Schritte zur Überwachung der praktischen Umsetzung dieser neuen Gesetze unternommen.

2.6

Diese Stellungnahme ist unter anderem auf der Grundlage der einschlägigen Arbeit des GBA EU/Türkei zustande gekommen. Dadurch konnte der EWSA die Ansichten, Hoffnungen und Erwartungen eines bedeutenden Teils der türkischen Zivilgesellschaft mit berücksichtigen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Eine Klarstellung vorab: Die Kernfragen, die aus Sicht des EWSA zum jetzigen Zeitpunkt zu erörtern sind, beziehen sich in erster Linie auf die politischen Themen Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Menschenrechte und Schutz von Minderheiten, wie vom Europäischen Rat in Kopenhagen 2002 festgelegt.

3.2

Die wirtschaftlichen Kriterien und der Acquis werden hier nur insoweit erörtert, als sie mit Blick auf die Fortschritte der Türkei in diesem Bereich als ein Beitrag zur Stärkung der Menschenrechte, der Zivilgesellschaft und der Demokratie betrachtet werden können.

3.3

Der EWSA hat die jüngsten relevanten Informationen sorgsam zur Kenntnis genommen, insbesondere den regelmäßigen Bericht der Kommission 2003 über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, den Bericht des Europäischen Parlaments über die Türkei vom April 2004 und den Bericht des Europarats über die Menschenrechtslage in der Türkei vom Dezember 2003. Der Ausschuss teilt die allgemeine Einschätzung dieser Berichte in Bezug auf den Stand des Reformprozesses. Er sieht den Mehrwert dieser Stellungnahme in der Erörterung derjenigen Aspekte der politischen Kriterien, die für die im Ausschuss vertretenen wirtschaftlichen und sozialen Interessengruppen besonders relevant sind. Diese Aspekte werden daher im Mittelpunkt dieser Stellungnahme stehen.

3.4

Als besonders wichtige Aspekte der politischen Kriterien betrachtet der EWSA:

die Einhaltung der Menschenrechte und insbesondere des Rechts auf Vereinigungsfreiheit und des Rechts auf Kollektivverhandlungen; die Rechte der Frauen und die kulturellen Rechte der Minderheiten);

die Demokratie und insbesondere den möglichen Beitrag der wirtschaftlichen und sozialen Interessengruppen und der Zivilgesellschaft insgesamt zum politischen Beschlussfassungsprozess;

Redefreiheit, Pressefreiheit und

die Rolle der Streitkräfte in der türkischen Gesellschaft, insbesondere in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht.

3.5

Auf dem EU-Gipfel von Helsinki 1999 wurde klar zum Ausdruck gebracht, dass die Reformanstrengungen der Türkei auf der Grundlage derselben Kriterien, die auch für die übrigen beitrittswilligen Länder gelten, bewertet werden würden.

3.6

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass einige Länder, mit denen vor mehreren Jahren Beitrittsverhandlungen aufgenommen wurden, die politischen Kriterien zum Zeitpunkt der Eröffnung der Verhandlungen offenkundig noch nicht umfassend erfüllten. In einigen davon bestehen diese Diskrepanzen fort, auch nach dem EU-Beitritt. Zu nennen wären dabei insbesondere wichtige Aspekte wie Korruption und Unabhängigkeit der Justiz sowie die Behandlung von Minderheiten. In Anbetracht dessen muss nach Ansicht des EWSA klargestellt werden, dass die Türkei nicht nur auf der Grundlage derselben Kriterien, die auch für die übrigen beitrittswilligen Länder gelten, überprüft wird, sondern dass diese Kriterien auch auf gleiche Weise angewendet werden.

3.7

Aus dem Beschluss des Europäischen Rats vom Dezember 2002, nach der genannten Frist darüber zu befinden, ob Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eröffnet werden oder nicht, kann nur gefolgert werden, dass der Rat zu diesem Zeitpunkt der Ansicht war, dass die Türkei genügend Fortschritte gemacht habe, um die Erwartung zu rechtfertigen, dass die verbleibenden Mängel durch umfassende Reformbemühungen in den kommenden 24 Monaten behoben werden könnten. Andernfalls wäre es sinnlos und unfair gewesen, der Türkei diese Aussicht zu eröffnen.

3.7.1

Für die Lösung einiger der noch offenen zentralen Probleme, wie die Rolle der Streitkräfte in der Gesellschaft und die Behandlung von Minderheiten (insbesondere der Kurden im Südosten), deren komplizierte Geschichte viele Jahrzehnte zurückreicht, erscheinen zwei Jahre als sehr knapp bemessen. Es kann daher vernünftigerweise davon ausgegangen werden, dass der Rat keine vollkommene Erfüllung der politischen Kriterien bis Dezember 2004 erwartet hat.

3.7.2

Wenn diese Auslegung des Ratsbeschlusses vom Dezember 2002 korrekt ist, dann muss geklärt werden, bei welchen Aspekten der politischen Kriterien wie viel Fortschritt von der Türkei realistischerweise vor Eröffnung der Verhandlungen erwartet werden kann.

3.8

In der derzeitigen Diskussion über die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wird regelmäßig auf die Zypern-Frage verwiesen. Die positive Rolle, die die Türkei bei der Suche nach einer Lösung dieses Problems gespielt hat und die sich in den 65 % Stimmen der türkischen Zyprer zugunsten der Wiedervereinigung der Insel widerspiegelte, muss beachtet werden. Zweifelsohne handelt es sich bei der Zypern-Frage um ein Thema von höchster Bedeutung, sowohl unter prinzipiellen Gesichtspunkten als auch in Anbetracht der politischen Realitäten. Bei getreuer Einhaltung des Beschlusses des Europäischen Rates von Kopenhagen vom Dezember 2002 (siehe Ziffer 2.2) kann die EU die Lösung der Zypern-Frage nicht zu einer neuen Bedingung für die Eröffnung der Verhandlungen machen, da dies eine nachträglich gestellte Zusatzbedingung wäre.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Menschenrechte

4.1.1

Die wirtschaftlichen und sozialen Interessengruppen sind stark von Fragen im Zusammenhang mit dem Recht auf Vereinigungsfreiheit und dem Recht auf Kollektivverhandlungen betroffen, die in den IAO-Übereinkommen Nr. 87 und 98 sowie in der Europäischen Sozialcharta verankert sind. Die Türkei hat die beiden IAO-Übereinkommen ratifiziert und ist der Europäischen Sozialcharta beigetreten, allerdings mit Vorbehalten in Bezug auf Artikel 5 (Vereinigungsrecht) und Artikel 6 (Recht auf Kollektivverhandlungen, Streikrecht) der Charta.

4.1.2

In den letzten beiden Jahrzehnten ist es insbesondere infolge des Militärputsches vom September 1980 zu ernsten Verletzungen dieser Rechte gekommen. Das Militärregime ging sogar so weit, eine Reihe schwerwiegender Verstöße gegen grundlegende Gewerkschaftsrechte in der Verfassung von 1982 zu verankern.

4.1.3

Einige der betreffenden Artikel und der daraus abgeleiteten Rechtsvorschriften sind in den vergangenen Jahren geändert worden.

4.1.4

Allerdings bestehen nach wie vor erhebliche Abweichungen von den grundlegenden IAO-Übereinkommen. Insbesondere Artikel 54 der Verfassung beinhaltet noch weitgehende Einschränkungen des Streikrechts. Artikel 51 der Verfassung, der den Rahmen für die Wahl von Gewerkschaftsvertretern absteckt, wurde geändert, so dass er dem IAO-Übereinkommen Nr. 87 entspricht. Initiativen zur Änderung ähnlicher Bestimmungen im Gesetz Nr. 2821 über die Gewerkschaften und Gesetz Nr. 2822 über Tarifvereinbarungen, Streiks und Aussperrungen sind in Vorbereitung. Der Bericht des IAO-Sachverständigenausschusses über ratifizierte Übereinkommen an die Internationale Arbeitskonferenz für das Jahr 2004 lässt allerdings erkennen, dass die Regierung unter Berufung auf dieses Gesetz vor kurzem ein Gerichtsverfahren gegen den DISK, einen der im Gemischten Beratenden Ausschuss EU/Türkei vertretenen Gewerkschaftsbünde, angestrengt hat.

4.1.5

Seit mehr als zwanzig Jahren üben die Aufsichtsgremien der IAO (der unabhängige Sachverständigenausschuss für die Anwendung der Übereinkommen, der Ausschuss der internationalen Arbeitskonferenz für die Anwendung der Übereinkommen und der Verwaltungsratsausschuss für Vereinigungsfreiheit) schwere Kritik an diesen Verstößen und haben aufgezeigt, wie die Türkei diese Praktiken beenden könnte. Die jeweiligen türkischen Regierungen haben sich nur enttäuschend langsam um eine Verbesserung der Lage bemüht; leider deutet bislang nichts auf eine Verbesserung der Situation hin.

4.1.6

In einem Bericht über den sozialen Dialog und die wirtschaftlichen und sozialen Rechte in der Türkei für die zwölfte Sitzung des GBA EU/Türkei (1) wurden insbesondere die Einschränkungen des Vereinigungsrechts und des Streikrechts im öffentlichen Sektor herausgestellt. Leider bestehen diese bis auf den heutigen Tag, obwohl eine Reihe von Reformen in der Gesetzgebung unternommen wurden, die die Gewerkschaften und das Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis betreffen.

4.1.7

Das Recht auf die freie Vereinigung in Nichtregierungsorganisationen wird u.a. hinsichtlich Mitgliedschaft, Finanzierung und Tätigkeitsbereich durch das Vereinigungsgesetz rechtlich eingeschränkt. In der Tat werden diese NRO in der Praxis häufig ernstlich in ihrer Arbeit behindert. NRO, die auf friedliche Weise gegen die Regierung Stellung beziehen, haben unter Bespitzelung, enger Überwachung, Zensur usw. zu leiden.

4.1.8

Stiftungen für (religiöse) Minderheiten stoßen insbesondere im Zusammenhang mit Eigentumsrechten auf große Probleme. Die Regierung scheint jedoch bereit zu sein, diese Beschränkungen ihrer Freiheit abzustellen. Für das Frühjahr 2004 wurden Verbesserungen angekündigt, die aber immer noch auf sich warten lassen.

4.1.8.1

Ernsthafte Probleme bestehen immer noch bei der Ausbildung der Geistlichen religiöser Minderheiten, besonders bei den griechisch-orthodoxen Priestern. Das Priesterseminar von Halki ist seit nunmehr dreißig Jahren geschlossen.

4.1.9

Was die Rechte der Frauen anbelangt, stellt der Ausschuss mehrere schwerwiegende Verstöße fest, obwohl die Türkei die grundlegenden IAO-Übereinkommen über die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit (Nr. 100) und das Übereinkommen über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf (Nr. 111) ratifiziert hat. Die Übereinkommen werden mit gewissen Ausnahmen (z.B. vorhandene gesetzliche Zugangsbeschränkungen für Frauen zu bestimmten Berufen) gesetzlich umgesetzt. In der Praxis ist die Umsetzung vielfach unzureichend, beispielsweise was das gleiche Arbeitsentgelt für gleiche Arbeit oder den Zugang zu bestimmten qualifizierten Arbeitsplätzen anbelangt. Ähnliche Probleme existieren in vielen Mitgliedstaaten der EU.

4.1.9.1

Große Sorge bereitet das Vorhandensein mächtiger krimineller Vereinigungen zur Ausbeutung der erzwungenen Prostitution sowie ein nationaler und internationaler Menschenhandel mit Frauen, Jungen und Mädchen und Organen.

4.1.10

Trotz bedeutsamer Gesetzesänderungen gibt es in der Praxis nach wie vor gravierende Probleme bei der Behandlung der Kurden. Ihre kulturellen Rechte als Minderheit sind noch nicht ausreichend gewahrt, obwohl in jüngster Zeit bemerkenswerte Verbesserungen zu verzeichnen sind, darunter die Ausstrahlung von Rundfunksendungen in kurdischer Sprache. In der Türkei ist der Minderheitenstatus den religiösen Gruppen des Landes vorbehalten; die Türkei stützt sich dabei auf den Vertrag von Lausanne von 1923, in dem nur von religiösen Minderheiten die Rede ist.

4.2   Demokratie

4.2.1

An dieser Stelle möchte der EWSA erneut die potenzielle Bedeutung des neuen Wirtschafts- und Sozialrats der Türkei hervorheben. Durch eine gezielte Konsultierung der wichtigsten Interessengruppen seitens der Regierung kann er erheblich zu einer stärkeren Demokratisierung der Beschlussfassung in wichtigen wirtschaftlichen und sozialen Fragen beitragen. In dieser Hinsicht bedeutet seine Einrichtung wesentlich mehr als nur einen Aspekt des sozialen Dialogs, wie die Kommission dies in ihrem regelmäßigen Bericht einstuft.

4.2.2

Der türkische Wirtschafts- und Sozialrat wurde 2001 errichtet. Seinen Vorsitz führt der Ministerpräsident, und ihm gehören mehrere andere Minister des Kabinetts an. Seit seiner Einsetzung wurde er bis vor anderthalb Jahren, als die gegenwärtige Regierung ihr Amt antrat, nicht einberufen. Er ist inzwischen drei Mal ordentlich zusammengetreten, doch arbeitet er sicherlich nicht so, wie in dem in Ziffer 4.1.6 erwähnten Bericht des GBA EU/Türkei über den sozialen Dialog und die wirtschaftlichen und sozialen Rechte empfohlen wurde. Es scheint sich eher um eine Gesprächsrunde zu handeln, in der Erklärungen abgegeben und vage Diskussionen geführt werden, statt um ein einflussreiches Gremium, in dem sich wirtschaftliche und soziale Interessengruppen, offiziell von der Regierung konsultiert, ernsthaft um einen Konsens in schwierigen, ihre Zuständigkeit und Tätigkeit betreffenden Fragen bemühen. Ein solches Gremium mit adäquater Arbeitsweise lässt sich natürlich nicht über Nacht schaffen. Bisher jedoch hat die Regierung es versäumt, den in dem WSR vertretenen Organisationen eine Motivation zu ernsthaften Bemühungen zu geben, z.B. indem sie ihnen glaubhaft versichert, dass im WSR erreichte sinnvolle Kompromisse tatsächlich Eingang in die staatliche Politik finden und dort spürbar etwas bewirken würden. Der EWSA hofft auf die Zusammenarbeit der türkischen Regierung mit dem Wirtschafts- und Sozialrat, damit dieser in die Lage versetzt wird, einen nachhaltigen Beitrag zur Demokratisierung in der Türkei zu leisten. Im Februar 2004 hat die Regierung ihre Absicht bekundet, die Zusammensetzung des Wirtschafts- und Sozialrates, speziell ihre eigene dominante Position in diesem Gremium, zu überprüfen.

4.2.3

Der EWSA unterstreicht darüber hinaus die Bedeutung der Rede- und Pressefreiheit für den demokratischen Prozess in der Türkei. Er würdigt die große Zahl von Reformen gerade in diesem Bereich, teilt allerdings die Sorge des Menschenrechtskommissars des Europarats, wonach einige der Änderungen (z.B. in der Verfassung) in einer Weise ausgelegt werden könnten, dass sie sich sogar als restriktiver erweisen als die Bestimmungen, die sie ersetzen. Außerdem ist die praktische Anwendung und Auslegung der neuen Artikel der entscheidende Praxistest für diese Reformen, wie auch für diejenigen in anderen Bereichen. Erste Erfahrungen mit Gerichtsverfahren deuten diesbezüglich leider auf wenig Konsistenz hin.

4.3   Die Rolle der Streitkräfte in der türkischen Gesellschaft

4.3.1

Der EWSA ist sich der wichtigen Rolle bewusst, die die Streitkräfte in der Geschichte des Landes und in der heutigen türkischen Gesellschaft gespielt haben und noch spielen. Er erkennt an, dass diese Rolle durchaus auch positiv zu bewerten ist. Allerdings ist ebenfalls festzustellen, dass viele der derzeitigen Schwierigkeiten der Türkei bei der Erfüllung der in Kopenhagen 1993 festgelegten politischen Kriterien von der außerordentlich umfassenden und tiefgreifenden Präsenz der Armee in der Gesellschaft herrühren. Diese gesellschaftliche Verwicklung des Militärs muss auf der Grundlage eines konkreten Programms und eines strengen zeitlichen Fahrplans beendet werden.

4.3.2

Der EWSA ist sich im Klaren darüber, dass sich eine über die normale Aufgabe von Streitkräften (Verteidigung, innere Sicherheit) so weit hinausgehende und in vielen Lebensbereichen so dominante Rolle nicht sehr kurzfristig zurückschrauben lässt. Es muss der Türkei jedoch unmissverständlich zu verstehen gegeben werden, dass, wenn sie EU-Mitglied werden will, die Rolle der Armee auf diejenigen Aufgaben beschränkt werden muss, die sie auch in den anderen Mitgliedstaaten wahrnimmt, d. h. Begrenzung auf die Sicherung der äußeren und der inneren Sicherheit des Landes und Teilnahme an internationalen Einsätzen unter der demokratischen Kontrolle durch das Parlament.

4.3.3

Abgesehen von den bereits durch die Europäische Kommission und das Europäische Parlament erörterten Aspekten (u.a. Rolle und Zusammensetzung des Nationalen Sicherheitsrates, politische Verantwortlichkeit für den Militärhaushalt, militärische Vertretung in zivilbürgerlichen Gremien im Bereich Bildung und audiovisuelle Medien) ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Streitkräfte und ihre Offiziere auch herausragende wirtschaftliche Stellungen einnehmen. Ein Gesetz aus dem Jahre 2003 legt fest, dass die zwei außerordentlichen Fonds der Streitkräfte bis Ende 2004 in das Staatsbudget überführt werden und bis 2007 als gesonderte Haushaltsposten erlöschen. Dies bedeutet, dass der Militärhaushalt ab 2007 völlig unter demokratischer Kontrolle stehen wird. Einstweilen stellen die Streitkräfte jedoch noch einen bedeutenden Machtfaktor in der türkischen Gesellschaft und Wirtschaft dar: Ihr weitreichender — formeller und informeller — Einfluss muss, ebenso wie jede andere Wirtschaftstätigkeit, transparent gemacht werden (2). Dieser wirtschaftliche Aspekt ist in den Diskussionen auf EU-Ebene über die herausragende Rolle der Streitkräfte in der türkischen Gesellschaft bisher vernachlässigt worden; lediglich das Europäische Parlament hat in seinem jüngsten Bericht darauf aufmerksam gemacht.

5.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

5.1

Der EWSA betrachtet die Türkei als eine in der Entwicklung befindliche Demokratie, die insbesondere seit Dezember 2002 bedeutende Anstrengungen unternommen hat, um den politischen Kopenhagener Kriterien nachzukommen.

5.2

Die Türkei muss nicht nur die gleichen politischen Kriterien erfüllen wie die anderen Bewerberländer, bevor die Verhandlungen eröffnet werden können; auch bei der Bewertung ihrer Reformanstrengungen muss die gleiche Messlatte angelegt werden wie bei den anderen Beitrittsstaaten. Die EU muss alles tun, um den leisesten Anschein, dass mit zweierlei Maß gemessen wird, zu vermeiden.

5.3

Der Beschluss des Europäischen Rates von Kopenhagen 2002 lässt darauf schließen, dass die EU zu jenem Zeitpunkt die Überzeugung hegte, dass die Türkei bei ernsthaften Bemühungen binnen zweier Jahre die politischen Kriterien erfüllen könne. In einigen Bereichen, die von langjährigen Traditionen und Praktiken geprägt sind, kann dies nur bedeuten, dass eine volle Erfüllung der politischen Kriterien bis Dezember 2004 unmöglich ist, sondern dass vielmehr eine „kritische Masse“ an tatsächlichem Fortschritt angestrebt wurde, die für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ausreichen würde. Sogar einige der beitretenden Mitgliedstaaten, die den gesamten Verhandlungsprozess durchlaufen haben, erfüllen die politischen Kriterien bis auf den heutigen Tage nicht erschöpfend.

5.3.1

Die EU kann und muss jedoch von der Türkei verlangen, dass sie in diesen speziellen Bereichen bis Ende 2004 derart glaubwürdige Fortschritte vorweisen kann, dass ab diesem Zeitpunkt ein „Rückfall“ unmöglich sein wird. Betroffen hiervon sind u.a. natürlich die Rolle der Streitkräfte und die Behandlung von Minderheiten, insbesondere der Kurden im Südosten. Der EWSA betont nachdrücklich, dass die Reformen hinsichtlich der Begrenzung des Einflusses der Streitkräfte in der Gesellschaft insgesamt sowie in Bezug auf die kulturellen Rechte der Minderheiten mit der gegenwärtigen Geschwindigkeit und Richtung fortgesetzt werden müssen, und hofft, dass künftig keine regressive Entwicklung eintritt, die den Prozess der Beitrittsverhandlungen in Gefahr bringen könnte.

5.3.2

Die Rolle der Streitkräfte muss auf entschiedene Weise auf ihre grundlegenden Aufgaben der Verteidigung und Sicherheit zurückgeführt werden, um die EU davon zu überzeugen, dass der eingeleitete Prozess unumkehrbar ist. Der Militärhaushalt muss der uneingeschränkten demokratischen Kontrolle unterworfen werden. Der wirtschaftliche Einfluss der Armee muss transparent gemacht werden, und es müssen geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um diese Transparenz auf lange Sicht zu gewährleisten.

5.3.3

Die EU muss ihre Gespräche mit der Türkei über die Definition von Minderheiten (für die sich die Türkei auf den Vertrag von Lausanne stützt) fortsetzen und dabei auf die Schwierigkeiten eingehen, die die Türkei mit der vorbehaltlosen Ratifizierung und praktischen Umsetzung relevanter internationaler Instrumente hat. In diesen Gesprächen muss die EU umfassend die Tatsache berücksichtigen, dass auch einige ihrer 25 Mitgliedstaaten eine eng gefasste Definition von Minderheiten anwenden, die ebenso problematisch ist.

5.3.3.1

Der EWSA verweist auf die vom GBA unlängst ausgearbeiteten Berichte zum Thema regionale Entwicklung (3) und betont die Bedeutung einer von der EU unterstützten, aktiven Regionalentwicklungspolitik in der Türkei, durch die die Bevölkerung in den südöstlichen (und anderen) Landesteilen aktiv in die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ihrer Region eingebunden wird. Die stufenweise Annahme der EU-Standards in der Regionalpolitik durch die Türkei stellt eine Gelegenheit zum Aufbau einer umfassenderen, gefestigteren Partnerschaft in der Zivilgesellschaft dar: besonders zwischen den freien, unabhängigen und repräsentativen wirtschaftlichen und sozialen Interessengruppen einerseits und den staatlichen Stellen aller relevanten Ebenen andererseits. Sie müssen zusammen eine gemeinsame Perspektive der Entwicklungspolitik finden. Der Erfahrungsaustausch zwischen sozioökonomischen Organisationen der Türkei und der EU muss gefördert werden.

5.3.3.2

Der EWSA registriert mit Interesse Initiativen der türkischen Regierung, wie das Gesetz von 2000 über die Entschädigung von Personen, die im Zuge der Antiterrormaßnahmen der Sicherheitskräfte Schaden erlitten haben, das Programm für Inlandsvertriebene und das Projekt für Rehabilitation und Rückkehr ins Heimatdorf. Für die Glaubwürdigkeit der Reformen, die die Rechte der Bevölkerung im Südosten des Landes stärken sollen, hält es der EWSA für unabdingbar, dass den Opfern mit diesen Initiativen vor Dezember 2004 konkret geholfen wird.

5.4

In anderen Bereichen, wie z. B. der Wahrung der Menschenrechte, über die die Türkei schon seit langer Zeit Gespräche mit der IAO und dem Europarat führt und in denen Reformen nicht im gleichen Maße eine radikale Änderung lang etablierter Machtpositionen, Traditionen und Überzeugungen erfordern, muss die Türkei in der Lage sein, erhebliche Fortschritte aufzuweisen und die ihr inzwischen schon sehr lang bekannten Anforderungen bis Ende 2004 zu erfüllen. Beispielsweise müssen bis dahin die Verletzungen der IAO-Übereinkommen Nr. 87 und 98, die nunmehr bereits seit einem Vierteljahrhundert andauern, beseitigt worden sein. Ferner müssen die undemokratischen Beschränkungen der Arbeit nichtstaatlicher Organisationen im Vereinigungsgesetz und im Alltag aufgehoben werden. Der derzeitige Reformprozess in der Türkei gibt Anlass zu Optimismus. Bis zu der gesetzten Frist müssen jedoch auf diesem Gebiet konkrete und vollständige Ergebnisse vorliegen.

5.5

Der türkische Wirtschafts- und Sozialrat sollte bereits in diesem Jahr wesentlich ernsthafter in die Ausarbeitung der Wirtschafts- und Sozialpolitik eingebunden werden. Die Regierung muss ihn zu zentralen Fragen in diesen Politikbereichen konsultieren und seine Stellungnahmen und Ratschläge nachprüfbar ernst nehmen. Nur wenn den wirtschaftlichen und sozialen Interessengruppen wirklich Verantwortung übertragen wird und sie für die Wahrnehmung dieser Verantwortung Anerkennung erfahren, kann die Regierung von ihnen erwarten, dass sie den Wirtschafts- und Sozialrat und die darauf bezogenen Absichtsbekundungen der Regierung ernst nehmen. Mit Interesse nimmt der EWSA zur Kenntnis, dass die Regierung die Modalitäten des Wirtschafts- und Sozialrates überdenken will. Allerdings darf dies kein Vorwand sein, die aktive Teilnahme der organisierten Zivilgesellschaft an der Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Türkei weiter zu verzögern.

5.6

Um die türkische Zivilgesellschaft zu stärken, muss die Regierung nicht nur ihre Einmischung in die Aktivitäten anerkannter NRO und der wirtschaftlichen und sozialen Interessengruppen beenden. Vielmehr sollte sie die Bildung dieser Gruppen begünstigen, ihre Arbeit erleichtern und mit ihnen zusammenarbeiten.

5.7

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen beschlossen werden muss, falls die Türkei bis zum Dezember d.J. folgende Bedingungen erfüllt:

es werden Maßnahmen hinsichtlich der Rolle der Streitkräfte in der türkischen Gesellschaft ergriffen, wie in Ziffer 4.3.1 und 4.3.2 beschrieben;

die Türkei muss anhand von konkreten Maßnahmen ihre Absicht unter Beweis stellen, dass sie energisch beim Kurs der Gesetzesreformen zu Gunsten der kulturellen Rechte der Kurden in den südöstlichen Provinzen des Landes bleibt;

sie beginnt mit der praktischen Umsetzung der Absichtsbekundungen und Zusagen hinsichtlich der freiwilligen Rückkehr, Rehabilitation und Entschädigung heimatvertriebener Opfer der Gewalt in den 1980er und 1990er Jahren im Südosten des Landes;

die Rechtsetzung und die Rechtspraxis müssen grundlegende gewerkschaftliche Rechte und Freiheiten in Übereinstimmung mit den IAO-Übereinkommen Nr. 87 und 98 gewährleisten;

die Türkei beseitigt alle antidemokratischen Züge aus dem Vereinigungsrecht und unterlässt in der Praxis jegliche Behinderung der freien Arbeit von Organisationen der Zivilgesellschaft, einschließlich religiöser Stiftungen;

sie stellt die Bedingungen für ein freies und unabhängiges Funktionieren des Wirtschafts- und Sozialrates der Türkei her und schafft die Grundlagen für eine ernsthafte, konstruktive Zusammenarbeit von Regierung und Wirtschafts- und Sozialrat.

5.8

Nach Ansicht des EWSA stellen die bislang von der türkischen Regierung durchgeführten Reformen im Hinblick auf die gesellschaftliche Rolle der Streitkräfte und die kulturellen Rechte der Kurden im Südosten des Landes einen glaubhaften Fortschritt im Sinne von Ziffer 5.3.1 dar.

5.9

Falls des Weiteren die Kriterien in den übrigen vier Spiegelstrichen von Ziffer 5.7 bis Dezember 2004 erfüllt sind, sieht der EWSA die Schaffung einer tragfähigen Basis für die Eröffnung der Verhandlungen als gegeben an, die in angemessener Frist zu für beide Seiten fruchtbaren Resultaten führen werden. In diesem Fall ist der EWSA der Auffassung, dass jede der europäischen Institutionen, darunter auch er selbst beginnen sollte, alle Aspekte der Auswirkungen darzulegen, die der Beitritt der Türkei auf das Funktionieren und die Konzeption der Europäischen Union hätte — eine Europäische Union, die dadurch tief greifend erweitert und vertieft würde, wofür ein großes Verständnis der europäischen Öffentlichkeit erforderlich wäre.

5.10

Ungeachtet des Beschlusses des Europäischen Rates auf seiner Tagung im Dezember wird der EWSA seine erfolgreiche Zusammenarbeit mit der türkischen Zivilgesellschaft fortführen.

Brüssel, den 1. Juli 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  „Social dialogue and economic and social rights in Turkey“, [Anm. der Übers.: Eine deutsche Fassung liegt nicht vor].

(2)  Beispiele hierfür sind der Pensionsfonds der Armeeoffiziere, der eine Bank und eine Holding besitzt, und seine Stellung als türkischer Partner im Rahmen eines großen Joint Venture in der Automobilindustrie. Den Angaben von OYAK zufolge ist diese Holding als finanziell und verwaltungstechnisch unabhängige Körperschaft organisiert, die wie jede andere Einrichtung dieser Art dem türkischen Zivil- und Handelsrecht unterliegt. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, den eigenen Mitgliedern ergänzend zu den vom sozialen Sicherungssystem des türkischen Staats gezahlten Leistungen mit Zuwendungen zu helfen. Im Prinzip kann OYAK mit dem zweiten Pfeiler der entsprechenden Pensionssysteme in der EU verglichen werden.

Alle Mitglieder der Streitkräfte, darunter auch die Zivilangestellten, sind Mitglieder des OYAK-Pensionsfonds. Sie bleiben ständige Mitglieder des OYAK. Abgesehen von der Bildung seiner Mitgliederbasis agiert OYAK in Bezug auf seine Investitions- oder Geschäftstätigkeit, Mitteltransfers oder staatlichen Beihilfen bzw. jede andere Art von finanzieller Unterstützung unabhängig vom Staat und den türkischen Streitkräften. OYAK ist ein Berufspensionsfonds, der Entsprechungen im EU-Raum hat.

Im Rahmen seiner Politik der Transparenz veröffentlicht OYAK Jahresberichte, die für die breite Öffentlichkeit bestimmt sind; die Rechenschaftsberichte von sowohl dieser Institution als auch von den ihr nachgeordneten Organisationen werden jedes Jahr von internationalen Wirtschaftsprüfungsunternehmen auditiert. OYAK erbringt Zusatzrentenleistungen.

(3)  „Regionale Disparitäten in der Türkei“ von Frau CASSINA und Herrn GUVENC.


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/86


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Modernisierung des Sozialschutzes für mehr und bessere Arbeitsplätze: Ein umfassender Ansatz, um dazu beizutragen, dass Arbeit sich lohnt“

(KOM(2003) 842 endg.)

(2004/C 302/19)

Die Kommission beschloss am 5. Januar 2004 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 14. Juni 2004 an. Berichterstatterin war Frau ST HILL.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 1. Juli) mit 130 gegen 13 Stimmen bei 24 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

In diesem Frühjahr bat der Europäische Rat um die hier behandelte Mitteilung und trat zusammen, um über die Fortschritte bei der Verbesserung und Modernisierung der Sozialschutzsysteme mit dem Ziel diese beschäftigungsfreundlicher zu gestalten, zu beraten. Dieses Ziel sollte durch verstärkte Betonung der Wirksamkeit von Anreizen erreicht werden. Dabei geht es um Leistungssysteme der Mitgliedstaaten, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Erwerbsrenten und Beihilfen zur Linderung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Diesem Treffen ging der Schlussbericht der Task-Force Beschäftigung (1) der Europäischen Kommission vom November 2003 voraus. In den Mitteilungen über diese beiden maßgebenden Ereignisse werden die größten beschäftigungspolitischen Herausforderungen Europas hervorgehoben und Reformen aufgezeigt, die durchgeführt werden müssen, wenn Europa die in der Lissabon-Strategie selbst gesteckten Ziele erreichen soll.

Es besteht Einigkeit darüber, dass die Europäische Union Gefahr das auf dem Europäischen Rat von Lissabon formulierte anspruchsvolle Ziel, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu werden — einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, bis 2010 dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und größerem sozialem Zusammenhalt zu verbinden — mit Verspätung erreicht. In beiden Dokumente wird festgestellt, dass die in Lissabon gesteckten Ziele zwar ehrgeizig sind, Europa es sich aber nicht leisten kann, sie nicht zu erreichen. Die Bereitschaft der Mitgliedstaaten zu verstärkten Anstrengungen ist die Grundvoraussetzung dafür, die Lissabon-Ziele zu realisieren.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt weisen alle offiziellen Indikatoren darauf hin, dass der Erfolg bei der Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen von folgenden vier zentralen Erfordernissen abhängt:

1.

Die Anpassungsfähigkeit der Arbeitskräfte und der Unternehmen muss gesteigert werden.

2.

Mehr Menschen müssen auf den Arbeitsmarkt gebracht werden.

3.

Es muss mehr und effizienter in Humankapital investiert werden.

4.

Die Reformen müssen durch bessere Governance wirksamer umgesetzt werden.

Während diese weitgehend angebotsseitigen Voraussetzungen eindeutig im Zuständigkeitsbereich der nationalen Regierungen liegen, wird in dieser Stellungnahme darüber hinaus die Notwendigkeit einer wirklichen öffentlich-privaten Partnerschaft für Arbeit, die sich lohnt, aufgegriffen, die auch die Verantwortungsbereiche der Arbeitgeber in diesem wichtigen Vorhaben berücksichtigt.

1.2

Die jüngsten Lagebewertungen sind auch durch das Bestreben motiviert, sicherzustellen, dass den Anreizen zur Vergrößerung des Arbeitskräfteangebots effektiv Maßnahmen gegenüberstehen, die für einen angemessenen Sozialschutz für alle bei gleichbleibender Wirksamkeit der öffentlichen Ausgaben in diesem Bereich sorgen. Eine solche Ausgewogenheit ist von ausschlaggebender Bedeutung, wenn die Länder eine langfristige potenzielle Gefahr vermeiden wollen, die sich durch die Alterung der europäischen Bevölkerung ergibt, eine Perspektive, die nicht nur ernste Auswirkungen auf die Erhaltung einer optimalen Erwerbsbevölkerung hat, sondern auch die Lebensfähigkeit der europäischen Sozialsysteme gefährdet. Eine verstärkte Bindung von benachteiligten Gruppen wie Mütter, rassische Minderheiten, Menschen mit Behinderungen und junge Menschen mit prekären Beschäftigungsverhältnissen an den Arbeitsmarkt stellt ein wichtiges Ziel im Hinblick auf die effiziente Verknüpfung von Sozialschutz und Beschäftigungsförderungsmaßnahmen dar. In der vorliegenden Stellungnahme werden diese Gruppen herausgegriffen, weil es für die Politik weniger sinnvoll ist, eine erschöpfende Auflistung aller vorstellbaren Benachteiligungen zu erstellen und weil es für die oben genannten Gruppen schwierig ist, ihre Benachteiligungen zu überwinden, da aufgrund mangelnder arbeitsmarktpolitischer Trennschärfe nach wie vor nicht unter verschiedenen Arten von Benachteiligungen unterschieden wird.

1.3

Auf EU-Ebene werden die Bemühungen der Mitgliedstaaten, ihre Sozialschutzsysteme zu modernisieren und beschäftigungsfreundlicher zu gestalten, durch eine verstärkte Koordinierung der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik angetrieben. Die EU hat sich für 2010 ehrgeizige Ziele gesetzt: die Gesamtbeschäftigungsquote soll auf 70 %, die Beschäftigungsquote der Frauen auf 60 % und die der 55- bis 64-Jährigen auf 50 % erhöht werden. Diese Ziele beruhen auf verschiedenen Leitlinien und Empfehlungen, die in den Grundzügen der Wirtschaftspolitik, den Beschäftigungsleitlinien und den gemeinsamen Zielen der offenen Koordinierungsmethode in den Bereichen Renten und soziale Eingliederung niedergelegt sind.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Es ist wichtig, dass diese Modernisierung in einer mittel- und langfristigen Perspektive angegangen wird, da das Unterfangen, mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt zu bringen, auch mit Kosten verbunden ist, sowohl für die Arbeitslosen und die nicht Erwerbstätigen als auch für den Staat, so dass die Reformen erst einmal erhöhte Kosten mit sich bringen könnten, bevor die wirtschaftliche Belastungen des Staates durch Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung schließlich verringert werden. Öffentliche und private Investitionen in die Vorbereitung der Bevölkerung auf die wissensbasierte Wirtschaft und die kontinuierliche Entwicklung des Humankapitals der erwerbsfähigen Bevölkerung ist zwar ein langfristiger Prozess, der bis zu seinem Abschluss über 20 Jahre in Anspruch nehmen kann, aber dies ist der beste Weg für einen erfolgreichen Umbau des Arbeitsmarkts eines Landes. Für gering qualifizierte Arbeitnehmer sollten öffentliche und private Investitionen getätigt werden, dergestalt dass ihnen sowohl von öffentlichen Einrichtungen als auch von Arbeitgebern Fortbildungsmöglichkeiten geboten werden, so dass sie den sich ändernden Anforderungen einer wissensbasierten Wirtschaft gewachsen sind. Die Auswirkungen langfristiger, angebotsseitiger Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung bestehen in der Verringerung des Angebots gering qualifizierter Arbeit, des Abbaus der Arbeitslosigkeit (insbesondere der Langzeitarbeitslosigkeit), sie steigern die Beschäftigungsquote (insbesondere von Frauen) und sie steigern die Gesamtproduktivität. Diese Ergebnisse sind dauerhaft. Eine rein angebotsorientierte Strategie reicht jedoch nicht aus. Hinzu kommen muss eine Erhöhung der Nachfrage nach Arbeitskräften, d. h. die Erhöhung des Arbeitsplatzangebotes durch eine aktive beschäftigungsfreundliche und beschäftigungsfördernde Wirtschafts- und Finanzpolitik. Einige Mitgliedstaaten, die auf den schnellen Erfolg der beruflichen Unterbringung gering qualifizierter Arbeitnehmer setzten, anstatt qualifiziertes Humankapital heranzubilden, werden jedoch wohl kaum dauerhafte Lösungen für das Dilemma solcher Arbeitnehmer finden, dass sie während ihres Berufslebens nämlich wiederholt Phasen schlecht bezahlter Arbeitsverhältnisse bzw. der Arbeitslosigkeit durchmachen. D. h. die Effekte können, so rasch wie sie sich einstellen, urplötzlich auch wieder ausbleiben. Unmittelbare Auswirkungen sind zwar möglich, können aber ebenso rasch wieder verschwinden, da gering qualifizierte Beschäftigung in der heutigen globalisierten Wirtschaft kein nachhaltiges Auskommen sichert. Deshalb ist hier Kosteneffizienz eine genauso wichtige Parole wie Kostensenkung.

2.2

Zwar bleiben die in den Sozialleistungs- und Steuersystemen vorgesehenen traditionellen finanziellen Anreize der Kern der Maßnahmen, mit denen Arbeit lohnend gemacht werden soll, doch wird anderen Anreizen wie Kinderbetreuung, Zugang und besondere Einrichtungen für Behinderte, Bildung und gute Gesundheitsversorgung in zunehmendem Maße eine ebenfalls wichtige Rolle zuerkannt. Deshalb sind umfassende einzelstaatliche Ansätze mit einem breiten Spektrum finanzieller und sonstiger Anreize zur Förderung der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen eher zu empfehlen als Ansätze, die einseitig auf die eine oder die andere Methode ausgerichtet sind. Auch hier sollten Fragen der Betreuung und der Investitionen in Humankapital unter dem langfristigen Aspekt der Nachhaltigkeit aus der Warte der Empfänger betrachtet werden (z. B. der Kinder der arbeitenden Eltern und nicht der arbeitenden Eltern selbst), da diese Rechte und Maßnahmen eine unumstößliche Grundlage für die beschleunigte Entwicklung von Humankapital im Arbeitsmarktumfeld späterer Jahre bilden. Die EU-Strukturfonds sollten zur besseren Unterstützung gering qualifizierter Arbeitnehmer sowie für langfristig wichtige Investitionen in Humankapital und soziale Infrastrukturen herangezogen werden.

2.3

Viele Mitgliedstaaten legen zwar zusammen mit den Sozialpartnern stärkeres Gewicht auf aktive Maßnahmen, die den Menschen bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt oder einer beruflichen Neuorientierung mittels Verbesserung ihrer Qualifikationen helfen, indem sie ihre Beschäftigungsfähigkeit verbessern, doch muss den ausschlaggebenden Faktoren der Nachfrage nach Arbeitskräften viel mehr Beachtung geschenkt werden, wozu steuerliche Anreize und die Förderung einer guten Arbeitgeberpraxis gehören, damit schwache Gruppen in der Wirtschaft, wie ältere Arbeitnehmer oder Arbeitslose, unterstützt werden. Der EWSA fordert die zuständigen EU-Organe auf, nachfragestimulierende Maßnahmen, die sich positiv auf Umfang und Qualität der Beschäftigung auswirken, zu fördern und zu verbessern. Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer müssen an dem Projekt der Arbeit, die sich lohnt, beteiligt werden. Nachfragestimulierende Maßnahmen erfordern folglich einen ausgewogenen, auf den Vorteil aller Beteiligter bedachten Ansatz. Dieser soll es den Arbeitgebern ermöglichen, sich auf ihre zentralen wirtschaftlichen Tätigkeiten zu konzentrieren und Arbeitsplätze zu schaffen, und die Arbeitssuchenden in die Lage versetzen, Arbeitsplätze finden zu können, deren Lohnniveau über dem Arbeitslosengeld, der Arbeitslosen- oder Sozialhilfe liegt und existenzsichernd sind. Der Ausschuss hat bereits darauf hingewiesen, dass „Steuer- und Sozialleistungssysteme der Mitgliedstaaten (...) so ausgerichtet sein (sollen), dass es sich für Arbeitnehmer lohnt, in den Arbeitsmarkt einzutreten, dort zu bleiben und voranzukommen, (...) und mit Maßnahmen verknüpft (sein müssen), die die Anzahl der zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze steigern“ (2).

2.4

Die öffentliche Unterstützung beim Zusammenbringen von Beruf und Familie soll Familien bei der Wahrnehmung von Aufgaben helfen, die von essenzieller Bedeutung für die Organisation und den Fortbestand der Gesellschaft sind. Im Einzelnen bedeutet dies Unterstützung von Familien bei der Geburt, Betreuung und Erziehung von Kindern und bei der Versorgung pflegebedürftiger, vor allem kranker, behinderter oder älterer Familienangehöriger. Angesichts der Alterung der Bevölkerung gewinnen diese Maßnahmen zunehmend an Bedeutung als ein Mittel, den Trend der sinkenden Geburtenraten umzukehren.

2.5

Es ist jedoch wichtig, dass sich die Art, wie solche Familienleistungen finanziell geregelt sind, nicht negativ auf die Arbeitsanreize auswirkt. In einigen Ländern trägt die Trennung zwischen Familienzulagen für Beschäftigte auf der einen und Leistungen bei Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite dazu bei, die finanziellen Arbeitsanreize, insbesondere für Mütter und ältere Familienangehörige betreuende Frauen, zu erhöhen. Der Mangel an erschwinglicher Kinderbetreuung aufgrund hoher Kosten oder räumlicher Zugänglichkeit gilt als ein wesentliches Hemmnis für die Erwerbsbeteiligung von Eltern, vor allem von Frauen. Deshalb ist es nachdrücklich zu begrüßen und zu unterstützen, dass einem bezuschussten, ausreichenden und erschwinglichen Kinderbetreuungsangebot bei der Förderung vor allem der weiblichen Erwerbsbeteiligung eine Schlüsselrolle zuerkannt wird. In einigen Mitgliedstaaten sehen Frauen im gebärfähigen Alter zusehends davon ab, Kinder zu bekommen, da die mit der Kinderbetreuung verbundenen Personalkosten für Frauen schlichtweg zu hoch sind und auf eine Art Besteuerung arbeitender Mütter hinauslaufen. Mögen diese Verhaltensweisen aus einzelstaatlicher Sicht kurzsichtig erscheinen, so bedeuten sie erst recht ein Sparen der politischen Entscheidungsträger an der falschen Stelle, denn es kann durchaus mehr getan werden, um den ständigen Geburtenrückgang in Europa zu stoppen, indem gewährleistet wird, dass durch nicht-finanzielle Anreize die Beschäftigungsquote von Frauen gesteigert wird.

2.6

Berufliche und geografische Mobilität sind für ein hohes Maß an wirtschaftlicher Effizienz entscheidend. Deshalb müssen Maßnahmen ergriffen werden, die dafür sorgen, dass Ansprüche aus gesetzlichen und betrieblichen Altersversorgungssystemen bei einem Wechsel des Arbeitgebers oder des Wohnsitzes innerhalb der EU erhalten bleiben. Wichtig ist es auch, an diejenigen zu denken, die eine Beschäftigung aufnehmen oder die von Arbeitnehmern zu Unternehmern werden, damit sie angemessenen sozialen Schutz genießen. Es bestehen ebenfalls Spielräume zur Reduzierung einer nur zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit dienenden Mobilität, indem stagnierende lokale Wirtschaften mittels öffentlich-privater Partnerschaften, die sich auf lokale Arbeitsmärkte konzentrieren, belebt werden. Eine höhere berufliche Mobilität kann einerseits zwar zu einer Verlagerung spezieller Qualifikationen von einem Gebiet in ein anderes führen, doch bewirkt Mobilität andererseits auch, dass der Einzelne frei dorthin übersiedeln kann, wo es eine effektive Nachfrage nach seinen Fertigkeiten gibt und Chancen für die Ausnutzung eines Technologietransfers bestehen, der seine gegenwärtigen Qualifikationen aufwertet. Deshalb darf Mobilität nicht nur kurzsichtig als Verlust betrachtet werden, sondern vielmehr als eine wirkungsvollere Allokation relevanter Qualifikationen und Talente dort, wo sie am meisten nachgefragt werden.

2.7

Körperliche und geistige Erwerbsunfähigkeit verringert das Arbeitskräfteangebot deutlich, insbesondere in der Altersklasse der 50- und 60-Jährigen, die eine vorrangige Zielgruppe der europäischen Strategie „Arbeit lohnend machen“ sind. In manchen Mitgliedstaaten beziehen bis zu einem Fünftel oder sogar einem Viertel der Personen in den Altersgruppen 55-59 und 60-64 eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Diese Tatsache deutet auf erhebliche Belastungen in der gegenwärtigen Arbeitswelt mit hohem physischen und psychischen Verschleiß hin. Diesem Problem, das mit arbeitsmedizinischen Fragen verbunden ist, muss durch geeignete Strategien des präventiven Arbeits- und Gesundheitsschutzes und der Verbesserung der Arbeitsbedingungen begegnet werden. Soweit keine vollständige Erwerbsunfähigkeit, sondern lediglich eine Erwerbsminderung besteht, sind die Möglichkeiten für die Betroffenen, einen ihren Einschränkungen entsprechenden, angepassten Arbeitsplatz zu bekommen, gering. Daher muss das Angebot an Arbeitsplätzen in diesem Bereich erhöht werden, um auch eingeschränkt erwerbsfähigen Menschen eine Chance zu geben. Viele Menschen, die sich in dieser Lage verschleierter Arbeitslosigkeit befinden, würden aber gerne eine Erwerbstätigkeit auszuüben, insofern sie noch leistungsfähig genug sind. Die Mitgliedstaaten müssen notwendige Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass behinderte Arbeitnehmer durch Arbeitslosen- und Arbeitsunfähigkeitsleistungen nicht in die ausweglose Lage der Arbeitslosigkeit gezwungen werden, sondern dass vielmehr die unterschiedlichen Bereiche der Sozialpolitik im Interesse der behinderten Arbeitnehmer einander stärker ergänzen. Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass es verschiedene Grade der Behinderung, sprich: verminderter Erwerbsfähigkeit gibt und ein neuer Denkansatz Behinderung als eine Reaktion der Gesellschaft auf eine Person definiert, die dadurch erst als behindert eingestuft wird, statt als eine körperliche oder sonstige Einschränkung an sich, die bestimmt, ob eine Person behindert ist oder nicht. Der Ausschuss möchte in diesem Zusammenhang vor Maßnahmen warnen, die zur unbeabsichtigten Verschleierung der tatsächlichen Arbeitslosenrate führen. Engere Zusammenarbeit zur Beachtung und Verbesserung des Austausches vorbildlicher Maßnahmen im Bereich der Berufsunfähigkeit in den verschiedenen Mitgliedstaaten, die die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen wahren und ihnen gerecht werden, sind wichtig. Ebenfalls erforderlich ist ein offener koordinierter Rahmen für bewährte Praktiken und erfolgreiche Maßnahmen im Sinne der Bereitstellung von Leistungen, die der Förderung von Beschäftigung und Selbstständigkeit aller unabhängig von ihrer körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit dienen.

2.8

Der Europäische Rat von Stockholm hat im Bereich älterer Arbeitnehmer das ehrgeizige Ziel formuliert, die Beschäftigungsquote von Personen im Alter zwischen 55 und 64 Jahren auf 50 % zu heben (2002 lag diese Quote bei 40,1 %, für die Altersgruppe 60-64 Jahre sogar lediglich bei 25 %). Der Europäische Rat von Barcelona hatte den Mitgliedstaaten ein ergänzendes, ebenfalls ehrgeiziges Ziel gesetzt, bis 2010 das durchschnittliche effektive Renteneintrittsalter um fünf Jahre zu erhöhen. Von dem Erreichen dieser Ziele hängt entscheidend ab, ob die zukünftige finanzielle Nachhaltigkeit des Sozialschutzes gesichert und insbesondere ob ein angemessenes Einkommen für zukünftige Rentner gewährleisten werden kann. Der Ausschuss hält dies grundsätzlich für eine sinnvolle Zielsetzung, sofern der Arbeitsmarkt auch eine Beschäftigung älterer Arbeitnehmer zulässt und besondere Maßnahmen für ältere Arbeitnehmer getroffen werden, die deren Arbeitsmarktchancen nachhaltig verbessern. Ohne ausreichende altersgerechte Arbeitsplätze hätte diese Forderung vor allem steigende Altersarbeitslosigkeit und Rentenkürzungen zur Folge.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1

Neben spezifischen, gezielten wirtschaftspolitischen Maßnahmen ist das Vorhaben, Arbeit lohnend zu machen, eine Frage des Prozesses. Ein reformwürdiger Bereich ist die Lage von Arbeitnehmern, die vorzeitig vor Erreichen des Renteneintrittsalters aus dem Erwerbsleben ausscheiden. So können beispielsweise in vielen Mitgliedstaaten Personen mit langen Beitragszeiten vor dem üblichen Rentenalter Rente beanspruchen, was allerdings häufig mit erheblichen finanziellen Nachteilen verbunden ist. Diese Arbeitnehmer könnten eventuell immer noch einen wirtschaftlichen Beitrag leisten, und eine Entscheidung dafür sollte erleichtert werden, insbesondere durch die Schaffung altersgerechter Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt. Ein vorzeitiges Ausscheiden von Frauen aus der Erwerbstätigkeit ist nicht immer Ergebnis einer freiwilligen Entscheidung, sondern steht häufig in Zusammenhang mit frauenfeindlicher Diskriminierung am Arbeitsplatz. Dies wirkt sich auch auf Rentenansprüche von Frauen aus, die ihre berufliche Laufbahn zumeist wegen Schwangerschaft und Kinder/Altenbetreuung unterbrochen haben, in unsichere „weibliche“ Niedriglohnbeschäftigungen abgedrängt wurden und unter dem geschlechtspezifischen Lohngefälle zu leiden hatten, wodurch sich Länge, Zahl und Höhe ihrer Beitragszahlungen zu Altersversorgungssystemen verringert und ihre wirtschaftlichen Ruhestandsperspektiven durch vorzeitigen Abbruch ihrer bezahlten Tätigkeit noch weiter verschlechtert haben. Armut als zusehends weibliches Phänomen gibt seit langem schon Anlass zur Sorge, und die Überalterung Europas macht es erforderlich, dass sich die Politik umgehend um die Verbesserung der wirtschaftlichen Möglichkeiten von Frauen in allen Lebensphasen kümmert. So wäre etwa eine höhere Bewertung von Ersatzzeiten für die Zeiten der Kinderbetreuung in der Berechnung der Pensionsansprüche eine wesentliche Maßnahme, die Nachwirkungen der Benachteiligung von Frauen im aktiven Berufsleben in der Zeit des Ruhestandes abzumildern vermag.

3.2

Ein weiterer Bereich, in dem allgemeine Tatenlosigkeit überwunden und geeignete Verwaltungsreformen durchgeführt werden müssen, ist die Gewährleistung der Gleichstellung von Frauen und Männern bei Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität der Arbeit. In einigen der neuen Mitgliedstaaten wird der Zugang von Frauen zur Beschäftigung durch zahlreiche sozial- und beschäftigungspolitische Maßnahmen eingeschränkt, während in anderen mit zusätzlichen steuer- und sozialpolitischen Maßnahmen eine hohe weibliche Erwerbsquote gefördert wird. Diese vormals hohen Erwerbsquoten sind während des Übergangs zur Marktwirtschaft gesunken. Es ist von großer Bedeutung, dass die von Arbeitnehmerinnen erzielten Fortschritte auf dem Weg zur vollen Beteiligung am Arbeitsmarkt nicht einem für Gleichstellungsfragen blinden Ansatz für die Umstrukturierung dieser Volkswirtschaften geopfert werden. Einzelstaatliche Entscheidungsträger müssen aufgefordert werden, denjenigen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen Priorität einzuräumen, für die Arbeit, die sich lohnt, die größte Herausforderung darstellt, anstatt weiterhin so zu tun, als ob alle Kategorien von Unterbeschäftigten oder Arbeitslosen gleichermaßen benachteiligt seien.

4.   Besondere Bemerkungen zu den sieben Lektionen der Kommission

4.1

Erste Lektion: Der EWSA ist der Auffassung, dass die Möglichkeit der Einführung neuer Sozialschutzinstrumente ungeachtet eines besseren Einsatzes des bestehenden Instrumentariums nicht ausgeschlossen werden darf, sondern vielmehr weiterentwickelt und auf gegenseitige Ergänzung ausgerichtet werden sollte. So entsprechen zum Beispiel die stark zersplitterten und uneinheitlichen Leistungssysteme für junge Leute offenbar nicht mehr der neuen Realität der längeren Dauer dieses Lebensabschnitts. Da es für diese Altersgruppe keine spezifischen Instrumente des Sozialschutzes gibt, sieht sich ein Teil der Jugend gezwungen, sich hastig für einen schlecht qualifizierten Bildungsweg oder eine solche berufliche Bildung zu entscheiden — mit schwerwiegenden Folgen für die gesamte Dauer ihres Lebens und mit entsprechenden Auswirkungen auf die Sozialausgaben der öffentlichen Hand. Es mangelt an neuen Instrumenten des Sozialschutzes für das gesamte Erwerbsleben, in dem Zeitabschnitte der Ausbildung, der Erwerbstätigkeit und der Übernahme anderer Pflichten aufeinander folgen, ohne dass dies zu Ausgrenzung oder Armut führt, wobei dieser Mangel die Mobilität und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt beträchtlich einschränkt (sechste Lektion).

4.2

Der EWSA hält es für äußerst wichtig, genau zu beobachten, wie sich die zahlreichen Initiativen, die die Mitgliedstaaten zur „Aktivierung“ der Sozialleistungen eingeleitet haben, mittelfristig auswirken.

4.3

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Zeit für starke europäische Anreize (vor allem im Hinblick auf die Sozialpartner und in Zusammenarbeit mit ihnen) für eine Abstimmung der ergänzenden Sozialschutzsysteme gekommen ist, die ja nach Auffassung der Kommission zunehmend zu einem wichtigen Element des sozialen Schutzes werden (siebte Lektion).

5.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

5.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss fordert die Mitgliedstaaten zu gleichlaufenden Anstrengungen auf, damit sich Arbeit lohnt, indem sie Beschäftigung zu einer wirtschaftlich wirklich attraktiven Alternative zu Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfebezug machen und dazu alle Hindernisse, die einer Erwerbstätigkeit im Wege stehen, ins Visier nehmen. Einzelstaatliche Maßnahmen müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit geringem Einkommen und geringer Qualifikation Beschäftigung ermöglichen und Armuts- und Arbeitslosigkeitsfallen vermeiden. Deshalb ist die Hauptaufgabe der Mitgliedstaaten zur Steigerung der Attraktivität der Arbeit, ein gemeinsames und angemessenes Niveau von Hilfen für Arbeitsaufnahme und Arbeitslosigkeit zu schaffen, die den Menschen einen Anreiz bieten, weiter im Arbeitsmarkt zu verbleiben. Der Ausschuss unterscheidet zwischen auf kurzfristige, kurzlebige Erfolge ausgerichteten Maßnahmen für gering qualifizierte Arbeitnehmer und langfristigeren Investitionen in das Humankapital, die der Schlüssel zu dem Ziel sind, Arbeit langfristig und nachhaltig lohnend zu machen, insbesondere für die schwächsten Gruppen auf dem Arbeitsmarkt.

5.2

Der Ausschuss weist auf die maßgeblichen Möglichkeiten für Beiträge privater Unternehmen und Arbeitgeber hin, um die europäischen Beschäftigungsziele zu erreichen. Dabei sollte nach praktikablen nachfrageseitigen Maßnahmen gesucht werden, die auf das gewandelte Arbeitgeberverhalten eingehen, um den Ziele der Lissabon-Strategie für bessere und nachhaltige Beschäftigung in ganz Europa zu entsprechen. Die Europäische Kommission sollte Beispiele und Erfahrungen für Fälle zusammentragen und verbreiten, in denen Unternehmen durch ihr bedachtes Verhalten mehr und bessere Arbeitsplätze geschaffen haben, sowie nach Möglichkeiten zur Reproduzierung solcher Erfolge suchen.

5.3

Neben der Förderung vorbildlicher Praktiken muss unangemessenes Unternehmerverhalten einschließlich Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der sexuellen Ausrichtung, der Religion oder des Alters sanktioniert werden, um Innovation, verstärkte Beschäftigung und die Möglichkeit längerer Lebensarbeitszeiten in den europäischen Wirtschaftssystemen zu fördern. Diskriminierungen in der Arbeitswelt drängen fähige Arbeitnehmer in den Graubereich oder informellen Sektor mit niedriger Produktivität, geringen Ausbildungs- und Investitionsanreizen und fehlendem Sozialschutz. Solch irrationales Wirtschaftsverhalten beeinträchtigt nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit Europas, sondern beraubt auch die Volkswirtschaften dringend benötigter Steuereinnahmen.

5.4

Deshalb muss in den Mitgliedstaaten eine Reihe von Mechanismen und Leistungssystemen angewandt werden, in denen Instrumente zur Steuerung des Arbeitskräfteangebots und der Arbeitskräftenachfrage in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Die kombinierten Auswirkungen von Leistungen und Einkommenssteuersätzen auf die Haushalte müssen sorgfältig abgewogen und abgeschätzt werden. Besondere Aufmerksamkeit ist dabei den Anreizstrukturen zu widmen, die diese kombinierten Effekte für einkommensschwache Haushalte darstellen. Sonstige Maßnahmen, wie Kinderbetreuungsangebote, flexible Arbeitszeiten, Arbeitsplatzsicherheit Arbeitsmobilität und Fortbildungsangebote sind ebenfalls wesentliche Bestandteile eines umfassenden Maßnahmenkatalogs für Arbeit, die sich lohnt.

Brüssel, den 1. Juli 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Jobs, Jobs, Jobs — Mehr Beschäftigung in Europa schaffen — Bericht der Task-Force Beschäftigung unter dem Vorsitz von Wim Kok, 26. November 2003. Siehe ebenfalls Stellungnahme des EWSA zu „Beschäftigungspolitischen Maßnahmen“ — ABl. C 110 vom 30.4.2004.

(2)  Siehe Stellungnahme des EWSA zu den „Beschäftigungspolitischen Maßnahmen“, ABl. C 110 vom 30.4.2004, Ziffer 4.1.


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/90


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Die Zukunft des Textil- und Bekleidungssektors in der erweiterten Europäischen Union“

(KOM(2003) 649 endg.)

(2004/C 302/20)

Die Europäische Kommission beschloss am 28. Oktober 2003, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 4. Mai 2004 an. Berichterstatter war Herr PEZZINI, Mitberichterstatter war Herr NOLLET.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 1. Juli) mit 81 Ja-Stimmen bei 1 Gegenstimme folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Die gebremste Dynamik und die großen Entwicklungsmöglichkeiten der europäischen Textilindustrie werden durch die Tatsache belegt, dass in diesem Sektor nach wie vor 2,1 Mio. Arbeitnehmer beschäftigt sind, zu denen noch über eine halbe Million Arbeitskräfte in den neuen Mitgliedstaaten hinzugekommen sind. Die Branche leistet dank der erheblichen Anstrengungen in puncto Verfahrens- und Produktinnovation mit einem unmittelbaren Geschäftsvolumen von über 200 Mrd. Euro pro Jahr immer noch einen Beitrag zum Reichtum Europas und weist hohe Wachstumsraten auf, insbesondere im Bereich der so genannten neuen Textilien, d.h. der technischen Textilien (1), die unter Einsatz modernster Technologien erzeugt werden. Auf diesen Bereich entfallen bereits über 30 % der Gesamtproduktion. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung schließlich können bis zu 8-10 % des Umsatzes erreichen.

1.2

Die Europäische Union ist weltweit führend im Handel mit Erzeugnissen der Textil- und Bekleidungsbranche (T/B-Sektor): die Vorstellung, die globale Arbeitsteilung würde unausweichlich zu einer Verdrängung der Industrieländer in der weltweiten Textilproduktion führen, hat sich — jedenfalls für Europa — als falsch erwiesen. Europa ist nach wie vor der weltweit größte Exporteur von Textilerzeugnissen und der zweitgrößte Exporteur im Bekleidungssektor auf einem Weltmarkt, der im Jahr 2002 ein Import-/Exportvolumen von über 350 Mrd. Euro (6 % des Welthandels) erreicht hat.

1.2.1

Es sollte nicht verschwiegen werden, dass China der weltweit größte Exporteur im Bereich der Bekleidungsindustrie ist.

1.3

Europa war bis jetzt in der Lage, seine qualitäts- und organisationsbedingten Vorteile auszunutzen, die in kleinen Serien, dem Modesystem, Spitzenprodukten von hohem kreativen Gehalt, rascher Anpassung an die Nachfrage sowie schneller Fertigung und schnellem Vertrieb bestehen. Ferner wurden Innovationen im Bereich der der Produktionsprozesse und der — aufgrund des Einsatzes von Nanotechnologie und neuer Garne — intelligenten Materialien eingeführt. Diese führten die zur Schaffung technischer Textilien, die in höchstem Maße wettbewerbsfähig sind und bei denen ein wachsender Handelsüberschuss zu verzeichnen ist. Auch die jüngsten Anwendungen chemischer Prozesse auf Textilien haben die Entstehung neuer Produkte gefördert. Allerdings sind die Bedingungen für den Zugang zu den globalen Märkten im T/B-Sektor uneinheitlich. Während in der EU Zollsätze gelten, die im Schnitt unter 9 % liegen, belegen zahlreiche Drittstaaten diese Produkte mit Zollsätzen von bis zu 30 %, wobei weitere, nicht tarifäre Hemmnisse den Handel zusätzlich erschweren.

1.4

Der europäische T/B-Sektor konnte eine Reihe tiefgreifender Umwälzungen meistern, indem es ihm gelang, sich rasch den gegenwärtigen technologischen Wandel zunutze zu machen, sich auf die Entwicklung der verschiedenen Produktionskosten entsprechend einzustellen und unmittelbar auf das Auftauchen neuer weltweiter Wettbewerber zu reagieren. Die Reaktion der europäischen Industrie bestand zum einen in erheblichen Modernisierungsbemühungen mittels wettbewerbsorientierter Umstrukturierungen und der Integration technologischer Prozesse. Zum anderen bestand sie in einer neuen Positionierung auf dem Weltmarkt dank vernetzter Organisationsstrukturen in den Bereichen Produktion, Vertrieb, Innovation und technologisches Marketing.

1.5

Die Bruttoinvestitionen betrugen im Jahr 2002 ca. 9 % der Wertschöpfung des Sektors und beliefen sich auf ca. 5 Mrd. Euro. Davon entfallen natürlich fast 70 % auf die Textilbranche und etwa 30 % auf die Bekleidungsindustrie. Die Handelsbilanz weist im Textilbereich einen Überschuss auf, während im Bekleidungsbereich die Importe überwiegen. Ferner ist der T/B-Sektor, zu dem auch die Schuhindustrie gehört, ein ausgesprochen heterogener und vielgestaltiger Industriesektor mit einer breit gefächerten Produktpalette, die so unterschiedliche Produkte wie synthetische High-Tech-Fasern und Wollerzeugnisse, Baumwolle und Industriefilter, Putzlappen und Haute Couture, Hauspantoffeln und High-Tech-Schuhe zum Schutz gegen ätzende Chemikalien umfasst.

1.6

Die Textil-, Bekleidungs- und Schuhindustrie konzentriert sich auf die fünf bevölkerungsreichsten Länder der Union, aus deren Unternehmen über drei Viertel der europäischen Produktion kommen. Auch die Wertschöpfung konzentriert sich auf diese Länder, unter denen Italien eindeutig an erster Stelle steht — gefolgt vom Vereinigten Königreich, von Frankreich, Deutschland und, etwas abgeschlagen, Spanien. Aus der Gruppe der kleineren Länder ragen in puncto Wertschöpfung Portugal, Belgien und Griechenland heraus. Belgien spielt eine wichtige Rolle auf dem Gebiet der technischen und intelligenten Textilien. Was die neuen Mitgliedstaaten betrifft, so spielt die Branche in Polen, Estland und Litauen wie auch in den Bewerberländern Türkei, Rumänien und Bulgarien eine besonders wichtige Rolle.

1.7

Was die Beschäftigungsrate betrifft, so sank sie in den letzten fünf Jahren um durchschnittlich 2,6 % pro Jahr. Ausgenommen von dieser Tendenz sind allein Spanien und Schweden (+2 %), die Zuwächse der sektoralen Beschäftigungszahlen im Zeitraum 1995-2002 verzeichnen. Die Unternehmen der europäischen Industrie, die voll und ganz in den Prozess der Globalisierung der Märkte eingebunden ist, haben umfassende Umstrukturierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen durchgeführt, wobei sie sich unter Rückgriff auf das Outsourcing arbeitsintensiverer Produktionsprozesse auf die Verarbeitungsschritte konzentriert haben, die — auch infolge des Einsatzes der Informations- und Kommunikationstechnologien, neuer Technologien und effizienterer Herstellungsverfahren — höhere Qualifikationen erfordern.

1.8

Was den Handel betrifft, so macht es die mit dem Ende des Multifaserabkommens (MFA) verbundene, für 2005 vorgesehene Beseitigung der Einfuhrkontingentierung für alle Seiten erforderlich, gründlich über die Schaffung neuer Handelsbedingungen für Textilerzeugnisse nachzudenken, damit die europäische Industrie weltweit wettbewerbsfähig bleibt und zugleich für die ärmsten sowie die besonders verletzlichen Länder die gebotenen fairen Konditionen gewährleistet werden. Es liegt klar auf der Hand, dass der Durchführung des Barcelona-Prozesses Priorität eingeräumt werden muss, der zu einem Europa und alle Mittelmeeranrainerstaaten umfassenden Freihandelsraum führen und somit dem Europa-Mittelmeerraum konkreten Gehalt verleihen soll.

2.   Der Kommissionsvorschlag

2.1

In der Kommissionsmitteilung wird die komplexe Problematik des T/B-Sektors behandelt und eine Stärkung seiner Wettbewerbsfähigkeit sowie seine Dynamisierung angestrebt. Dies erfolgt im Hinblick auf eine konkrete Anwendung der Lissabon-Strategie auf diesen Sektor.

2.2

In der Mitteilung werden Maßnahmen im Rahmen der Industrie- und Handelspolitik vorgeschlagen, wobei folgenden Bereichen besondere Beachtung zuteil wird: Beschäftigung, Forschung und technologische Entwicklung, Innovation, Berufsbildung, Regionalentwicklung, nachhaltige Entwicklung, soziale Unternehmensverantwortung, Gesundheitswesen, Verbraucherschutz, Bekämpfung von Markenpiraterie, Schutz der Markenrechte sowie des gewerblichen und geistigen Eigentums, Wettbewerbspolitik und öffentliche Beihilferegelungen.

2.3

Die Kommission empfiehlt, die Wirksamkeit und Effizienz der industriepolitischen Maßnahmen auf folgenden Aktionsfeldern zu verbessern:

Forschung, Entwicklung und Innovation, neue und intelligente Materialien, Nanotechnologie, neue Produktionsverfahren und umweltfreundliche Technologien, Konzentration auf den Modesektor und den Bereich der Kreativitätsförderung;

Soziale Unternehmensverantwortung: Einhaltung internationaler Arbeitsrechts- und Umweltschutznormen, verantwortliches Management des industriellen Wandels und Mitwirkung der Arbeitnehmer;

Bildung und Ausbildung: bessere Finanzierungsmöglichkeiten für KMU durch vereinfachte Verfahren, Informationsverbreitung und koordinierte Maßnahmen;

Entwicklung der Vernetzungsmöglichkeiten und -fähigkeiten;

Programm von Doha zur Senkung und Harmonisierung der Zollsätze und Beseitigung nicht tarifärer Handelshemmnisse;

Vervollständigung des euromediterranen Raums bis 2005, damit der freie Warenverkehr von Textilprodukten in Ländern mit gleichen Ursprungsregeln und mit vereinbarten Systemen der Verwaltungszusammenarbeit gewährleistet wird;

Kennzeichnungspflicht für den Import in die EU, Überprüfung der Verwendung der Kennzeichen für Waren und Produkte bezüglich der Einhaltung internationaler Arbeitsrechts- und Umweltbestimmungen;

EU-Handelspräferenzen, Konzentration auf die 49 ärmsten Länder (die am wenigsten entwickelten Länder — LDC-Länder) (2); für sie sollte die Möglichkeit einer Vorzugsbehandlung auch für Zwischenerzeugnisse im Bekleidungssektor eingeräumt werden;

Bekämpfung von Betrug und Markenpiraterie, Verstärkung der bestehenden Maßnahmen und Durchführung neuer Maßnahmen zum Schutz des gewerblichen und geistigen Eigentums, Kontrollen zur Unterbindung illegaler Handelspraktiken; Ausbau des gemeinschaftlichen Zollsystems;

Markenzeichen „Made in Europe“ zur Förderung europäischer Qualitätsprodukte und zum Schutz der Verbraucher;

Strukturfonds, Verwendung und neue Ausrichtung, insbesondere im Rahmen der Finanziellen Vorausschau für den Zeitraum 2007 bis 2013.

2.4

Die Kommissionsmitteilung enthält ferner Überlegungen zu Maßnahmen auf Ebene

der Akteure;

der Mitgliedstaaten;

der Europäischen Union.

2.4.1

Zur Überprüfung der Maßnahmen auf den verschiedenen Ebenen sowie deren Umsetzung wird die Einsetzung einer hochrangigen Sektorgruppe vorgeschlagen. Sie soll mit Vertretern der Kommission, der Mitgliedstaaten und der Sozialpartner besetzt werden und zwischen Frühjahr 2005 und Ende 2006 regelmäßige Berichte erarbeiten.

3.   Standpunkte der Vertreter der Textilwirtschaft

Der Ausschuss veranstaltete am 21. Januar 2004 in seinem Gebäude in Brüssel eine Anhörung von Vertretern der Textilwirtschaft. Die in diesem Kapitel zum Ausdruck gebrachten Standpunkte tragen den eingegangenen schriftlichen Beiträgen sowie den in der Anhörung vorgetragenen Ausführungen (3) Rechnung.

3.1

Die vertretenen gesellschaftlichen Kräfte — Unternehmer, Gewerkschaften, lokale Verwaltungen — forderten einstimmig, dass unverzüglich Maßnahmen zur Eindämmung der mit sehr wenig Verzögerung auftretenden Auswirkungen bestimmter Importe aus einigen Ländern — insbesondere China, Indien und Pakistan — auf die europäischen Unternehmen in diesem Sektor ergriffen werden.

3.2

Angesichts des Näherrückens des Jahres 2005, in dem die mengenmäßigen Beschränkungen abgeschafft werden, wurden dringend folgende Maßnahmen gefordert:

Möglichkeit, neue Mittel einzusetzen;

Sondermaßnahmen im Rahmen der Strukturfonds;

Investitionen in die Ausbildung und folglich in die Humanressourcen;

Kennzeichnungspflicht für alle Herkunftsländer der Produkte;

Gewährleistung der Rückverfolgbarkeit aller Herstellungsabschnitte;

Schutz der Gesundheit der Verbraucher durch entsprechende Unbedenklichkeitsbescheinigungen;

auf Gegenseitigkeit basierende Zolltarife im Handel mit Ländern, die im T/B-Sektor einen hohen Entwicklungsstand haben;

Überprüfung der Abkommen mit Drittländern und Beseitigung der Zollvergünstigungen für Länder, die nicht die Regeln des Handels, der sozialen Gerechtigkeit und der nachhaltigen Entwicklung respektieren oder die Atomwaffen produzieren;

Revision des Organisationssystems der europäischen Zollbehörden mit dem Ziel der Vereinfachung und der zielgenaueren Durchführung der Kontrollen, damit die Betrugsfälle, die mittlerweile ein unerträgliches Ausmaß angenommen haben, wirksam bekämpft werden;

Bereitstellung umfangreicher Mittel für Forschung und Innovation und Unterstützung der Unternehmen, insbesondere der KMU, bei der Diversifikation ihrer Produktion im Hinblick auf technische und intelligente Textilien.

3.3

Der italienische T/B-Sektor, der von allen europäischen Ländern diesen Gefahren am stärksten ausgesetzt ist, hat ein gemeinsames Dokument vorgelegt, das mit allen Herstellern — den Groß- und den Kleinunternehmen — sowie mit den Gewerkschaftsvertretern des Landes abgestimmt wurde. Darin werden einige Prioritäten aufgestellt mit der Empfehlung, diese rasch mit konkreten und wirksamen Maßnahmen umzusetzen. Gemäß dem einhelligen Standpunkt des Dokuments „könnte Untätigkeit zum jetzigen Zeitpunkt hohe soziale und wirtschaftliche Kosten für Europa nach sich ziehen“.

3.3.1

Im Folgenden die wichtigsten Punkte dieses Dokuments:

3.3.2

Gemeinschaftserzeugnisse werden nur in 22 Länder zum Nullsatz eingeführt, auf anderen Märkten hingegen werden sie mit Zollsätzen zwischen 15 % und 60 % belegt und durch zahllose nichttarifäre Handelsbarrieren behindert. Der T/B-Sektor wird insbesondere ab 2005 nicht mehr in der Lage sein, die Folgen der Vergünstigungen zu verkraften, die heute den maßgeblichen Wettbewerbern der EU (China, Indien, Pakistan, Indonesien) eingeräumt werden. Diese Vergünstigungen müssten im Übrigen auf die weniger weit entwickelten Staaten und auf die kleinen Herstellerländer begrenzt werden, die sich ihrerseits ab 2005 in einer besonders prekären Lage befinden.

3.3.3

Es wird gefordert, auf die Kennzeichnung durch das allgemeine Zeichen „Made in EU“ zu verzichten und stattdessen ein ausführlicheres „Made in Italy — EU“, „Made in France — EU“ etc. vorzuschreiben. Bereits heute werden 60 % aller im Handel befindlichen Produkte freiwillig mit der Herkunftsangabe gekennzeichnet. Eine Kennzeichnungspflicht würde auch Kontrollen und Sanktionen nach sich ziehen; der gegenwärtige breite Ermessensspielraum ermöglicht indes Fälschung und Betrug in großem Maßstab, die der europäischen Industrie doppelt schaden. Ferner wird der europäische Käufer gegenüber Konsumenten in den USA, Japan, China und Australien benachteiligt. Es ist nicht nachvollziehbar, wieso er nicht mittels Kennzeichnungspflicht über dieselben Informationen wie die anderen verfügen sollte. Wüsste der europäische Verbraucher über die Herkunft der Produkte Bescheid, so könnte er nicht nur die Angemessenheit des Preises, sondern auch das Preis-/Leistungs-Verhältnis im Hinblick auf die eigenen Bedürfnisse besser abschätzen.

3.3.4

Wiederholt wurde auf die Zusammenhänge zwischen Textilien und Gesundheitsproblemen hingewiesen. Viele Hautkrankheiten sind auf die Verwendung qualitativ mangelhafter Textilprodukte zurückzuführen. Auch aus diesem Grund erscheint es angezeigt, dem Verbraucher die Wahl der Herkunft des Produkts zu überlassen.

3.3.5

Die illegale Einfuhr von Bekleidungsartikeln hat ein beunruhigendes Ausmaß angenommen, und unwahre Herkunftsangaben „Made in ...“ nehmen auf den internationalen Märkten zu. Es wird gefordert, die Kontrollen und Sanktionen zu verschärfen.

3.3.6

Die Entwicklung neuer Materialien, neuer Herstellungsprozesse und sauberer Technologien als Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung haben für den T/B-Sektor besondere Bedeutung.

3.3.7

Die Unternehmerverbände und die Gewerkschaftsorganisationen bekräftigen, dass sie immer schon die Grundsätze beherzigt haben, auf denen der „Verhaltenskodex des europäischen Textil- und Bekleidungssektors“ fußt, denn dieser wurde unmittelbar in die landesweiten Tarifverträge in den EU-Mitgliedstaaten aufgenommen. Daher wird die Kommission aufgefordert, soziale Aspekte bei internationalen Vereinbarungen zu berücksichtigen.

3.3.8

Sozialdumping (Herstellung von Produkten bei niedrigen Lohnkosten unter Missachtung der Arbeitnehmerrechte und durch Einsatz von Kinder- und Zwangsarbeit) ist moralisch verwerflich, berechtigt aber nicht unmittelbar zur Anwendung von Anti-Dumping-Zöllen. Deshalb müssten die Industrieländer und vor allem Europa Sozialdumping mittels härterer Klauseln und insbesondere mithilfe des APS (4) viel entschlossener bekämpfen. Im Umweltbereich bedeutet Umweltdumping, dass die Herstellungskosten zu Lasten der Umwelt gesenkt werden.

3.3.9

Die internationalen Organisationen sollten mit Unterstützung der Industrieländer besondere Programme zur Verbreitung der Kenntnisse über die Grundsätze nachhaltiger Entwicklung lancieren und sich dabei an die Entwicklungsländer wenden — so wie die Gemeinschaft mit unlängst beigetretenen Staaten verfährt.

3.3.10

Die Verwendung von Kennzeichen, die auf die Einhaltung internationaler Umweltbestimmungen als Voraussetzung für den Import in die EU hinweisen, könnte im Rahmen dieses Ziels ein geeigneter Anreiz sein.

3.3.11

Ziel ist es, mittels umfassender inhaltlicher Überarbeitung der Abkommen die Umwelt zu schützen und den europäischen Unternehmen realistische Produktions- und Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten.

4.   Bemerkungen des Ausschusses

4.1

Der Ausschuss hat die vor allem in den letzten Jahren durchgeführten Initiativen der Kommission mit dem Zweck, den T/B-Sektor wieder ins Zentrum des gemeinschaftlichen Interesses zu stellen, mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Insbesondere stellt er fest, dass auf den jüngst von verschiedenen Generaldirektionen in Brüssel veranstalteten Konferenzen (5) durch die Vorstellung vorbildlicher Praktiken in verschiedenen Bereichen wie Innovation, Handel und Vermarktung eine Debatte unter den zahlreichen Besuchern dieser Konferenzen angeregt wurde.

4.2

Leider blieb das Echo dieser anregenden Veranstaltungen auf lokaler Ebene hinter den Erwartungen zurück. Das verdeutlicht wiederum, dass wir uns über die Art und Weise, wie Wissen und Information genutzt werden können, Gedanken machen müssen, damit es gelingt, allen Beteiligten und Betroffenen dieses Wissen in umfangreicherer Form zugänglich zu machen.

4.2.1

Die umfassende Einbeziehung der Branchenverbände, der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer auf allen Ebenen muss weiterverfolgt werden und muss den ganzen Innovationsprozess durchziehen.

4.2.2

Nur eine bewährte Politik der Konzertierung zwischen den Sozialpartnern, auch auf der Grundlage der in den „bilateralen Gremien“ (6) gesammelten Erfahrungen, sowie gemeinsame Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung des Sektors können es ermöglichen, die Herausforderungen der Globalisierung zu bewältigen, die insbesondere in diesem Sektor zu „ernstzunehmenden Befürchtungen“ führen, wie Kommissionsmitglied LAMY zu Recht feststellte.

4.3

„Die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie ist einer der zentralen Bereiche, in denen sowohl die Europäische Union als auch die Mitgliedstaaten eine aktive Rolle spielen müssen, damit die im Rahmen der Lissabon-Strategie festgelegten Ziele erreicht werden“, so sinngemäß die Schlussfolgerungen des Rates (Industrie) vom 27. November 2003 (ABl. C 317 vom 30.12.2003, S. 2). Zweifellos ist der Textilsektor von allen Industriesektoren gegenwärtig am stärksten von dem Phänomen der Deindustrialisierung betroffen, das mit den neuen Formen des Welthandels einhergeht.

4.3.1

Vor allem aus diesen Gründen steht der T/B-Sektor vor einem langwierigen Prozess der Umstrukturierung und Modernisierung bei gleichzeitigem deutlichen Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität, der Produktion und Beschäftigung. Angesichts der Bedeutung dieses Sektors hat der Rat in seinen oben genannten Schlussfolgerungen die Kommission gebeten, bis Juli 2004 über mögliche Initiativen im Rahmen eines Aktionsplans zur Unterstützung des T/B-Sektors Bericht zu erstatten.

4.4

Nach Auffassung des Ausschusses sollte sich die Kommission — auch auf der Grundlage der in ihrem Dokument enthaltenen Überlegungen — baldmöglichst mit erhöhter Aufmerksamkeit folgenden Punkten zuwenden:

4.4.1

der Wiederaufnahme der Verhandlungen über die Doha-Entwicklungsagenda. Dazu sollte sie ihr Dokument [KOM(2003) 734 vom 26. November 2003] um einige unmissverständliche Hinweise ergänzen, die von der Arbeitswelt, den Unternehmern und den Verbrauchern gegeben wurden (7);

4.4.2

der Rolle des Zolls bei einer integrierten Verwaltung der Außengrenzen (8) und den vom Ausschuss in seiner Stellungnahme vorgebrachten Bemerkungen — zusammen mit anderen Empfehlungen, die Teil dieser Stellungnahme sind;

4.4.3

den Ursprungsregeln im Präferenzhandel der Gemeinschaft (KOM(2003) 787 endg.) zur Festlegung der Zollsätze, die sich aus der neuen multilateralen Verhandlungsrunde, aus den Freihandelsabkommen und aus der Förderung nachhaltiger Entwicklung ergeben werden. Wie vom Ausschuss mehrmals in dieser Stellungnahme gefordert, sind „die Verwaltung sowie die Kontroll- und Schutzmechanismen so zu definieren, dass eine loyale Anwendung der Präferenzregelungen gewährleistet ist und sowohl die Wirtschaftsbeteiligten als auch die auf dem Spiel stehenden finanziellen Interessen vor Missbrauch geschützt sind“ (9);

4.4.4

den Bedingungen der Partnerschaft mit China (10). Verschiedene Gemeinschaftsressourcen werden dazu verwandt, die Konkurrenz zwischen dem Land und der EU zu verstärken (Programm für den Unternehmensnachwuchs, Programm Berufsbildung, Kap. B7-3);

4.4.5

der Vorbereitung eines mit entsprechenden Mitteln ausgestatteten Gemeinschaftsprogramms zur Förderung der Forschung, der Innovation — auch im nicht technologischen Bereich — und der Berufsbildung im T/B-Sektor (unter dem Aspekt der Anpassungsfähigkeit vor allem der Kleinunternehmer und der Arbeitnehmer an die neuen internationalen Rahmenbedingungen und an die Verbraucherwünsche). Dieser Grundsatz wird übrigens auch deutlich vom Europäischen Parlament in seiner im Februar 2004 angenommenen Entschließung zur Zukunft der Textil- und Bekleidungsindustrie zum Ausdruck gebracht;

4.4.6

Maßnahmen zum Schutz der Verbraucher, die immer stärker auf mögliche Gesundheitseffekte bestimmter Produkte, von denen viele direkt auf der Haut getragen werden, achten. Dies steht auch im Zusammenhang mit der zunehmenden Verbreitung von Kontaktallergien oder anderen Hautproblemen (11). Nach dem Muster der europäischen Rechtsvorschriften zur Transparenz im Lebensmittelsektor muss eine analoge Regelung eingeführt werden, die es dem Verbraucher mithilfe einer obligatorischen Kennzeichnung ermöglicht, die Herkunft des Garns und Gewebes sowie den und Ort der Konfektion des Endprodukts in Erfahrung zu bringen.

4.5

Zwar könnte die Einführung eines obligatorischen Kennzeichens „Made in ...“ durchaus dazu beitragen, den Verbraucher davon zu überzeugen, dass er beim Kauf eines Kleidungsstücks einen Preis bezahlt, der den Herstellungs- und Modestandards des Ursprungsorts entspricht, wobei als Ursprungsland das Land der Konfektion angegeben werden muss und nicht das Land der Erzeugung. Aber der Kommissionsvorschlag eines „Made in Europe“ überzeugt nicht. Ein einheitliches europäisches Kennzeichen wird nicht den Besonderheiten und den Spitzenproduktionen der einzelnen Länder gerecht, die bei aller Einheit eine Vielfalt darstellen.

4.5.1

Bezüglich der im Kommissionsvorschlag enthaltenen Alternativlösungen im Bereich der Ursprungskennzeichnung muss nach Auffassung des Ausschusses ein Ansatz verfolgt werden, der die obligatorische Kennzeichnung sowohl für importierte Erzeugnisse als auch für im Binnenmarkt hergestellte Erzeugnisse vorsieht, sofern diese Produkte in der Europäischen Union vermarktet werden. Auf diese Weise kann der Verbraucher insbesondere besser zum Kauf von Produkten bewogen werden, die nicht nur hinsichtlich ihrer Eigenschaften, sondern auch hinsichtlich der Beachtung der Arbeitnehmerrechte bei ihrer Herstellung ethisch verantwortet sind.

4.6

Die Kultur „sozialer Unternehmensverantwortung“ muss sich zwar als europäisches Modell erst noch durchsetzen, doch es ist auch notwendig, dass sie mittels konkreter Instrumente, die auf Verbraucherebene überprüft werden können und somit zu relevanten Handelsfaktoren werden, auf die Entwicklungsländer ausdehnt wird (12).

4.7

Die Umweltbestimmungen und Rechtsvorschriften über die Sicherheit am Arbeitsplatz müssen für den Endverbraucher in zunehmendem Maße erkennbar werden, damit sie als Wettbewerbsvorteil eingesetzt werden können.

4.7.1

Die unmissverständliche Haltung der Union in der Frage der nachhaltigen Entwicklung und folglich der Einhaltung des Kyoto-Protokolls innerhalb der vereinbarten Fristen kann von Erfolg gekrönt sein und von der europäischen Industrie positiv aufgenommen werden, wenn dafür auch die mit diesem Engagement verbundenen Anstrengungen anerkannt und respektiert werden. Wenn man dies nicht berücksichtigt und keine Schritte zur Vermeidung des unlauteren Wettbewerbs unternimmt, denn erschwert man nicht nur die Verbreitung der Kultur des Fortschritts, der die europäischen Unternehmer und Arbeitnehmer verhaftet sind, sondern beschleunigt möglicherweise auch die Deindustrialisierung Europas. Davon würden einige multinationale Handelsriesen profitieren (13), die auf die Produktion derjenigen Länder zurückgreifen können, die für diese Grundsätze weniger empfänglich sind — Grundsätze, die uns daran erinnern, dass wir Teil einer „sozialen Marktwirtschaft“ sind.

4.7.2

Die von der Kommission unternommenen Anstrengungen zur Verringerung des Energieverbrauchs — auch mittels der Verbreitung einer „umweltgerechten Gestaltung energiebetriebener Produkte“ (14) — können mit der Zeit Erfolg haben, wenn die europäischen Industrien, insbesondere die T/B-Industrie, noch über einen Absatzmarkt — und folglich über Herstellungsmaschinen — verfügen. Andernfalls müsste der Vorschlag auch auf als Entwicklungsländer klassifizierte Länder ausdehnt werden, damit diese den Energieverbrauch der Maschinen senken können, die zur Herstellung ihrer Waren dienen.

4.8

Der Ausschuss fordert, den in diesem Sektor besonders stark vertretenen Kleinst- und Kleinunternehmen auch auf europäischer Ebene permanent besondere Beachtung zu schenken, insbesondere mit Blick auf das gegenwärtige Finanzsystem, das dazu neigt, Großunternehmen zu bevorzugen. Der Ausschuss begrüßt im Übrigen die von der Kommission unternommenen Anstrengungen zur Verdeutlichung der Probleme der Kleinst- und Kleinunternehmen sowie zur Entwicklung von Unternehmergeist in der europäischen Kultur (15).

4.9

Der Ausschuss ist nicht nur der Auffassung, dass die Zahl der Länder, die in den Genuss des Allgemeinen Präferenzsystems (APS) kommen — wie bereits gesagt — gesenkt werden muss, sondern denkt auch, dass die heute von der EU angewandten Zollsätze, die zu den weltweit niedrigsten gehören, nicht weiter gesenkt werden dürfen. Jedenfalls nicht solange, bis einige Länder mit sehr wettbewerbsfähigen Exporten im T/B-Sektor nicht vergleichbare Zollsätze anwenden. Die Anwendung des Grundsatzes der Gegenseitigkeit oder der „Vergleichbarkeit der Marktzugänge mit den von der Europäischen Union ab 2005 angewandten Einfuhrbedingungen“ wird auch vom Europäischen Parlament in seiner Entschließung zum T/B-Sektor der Europäischen Union vom 29. Januar 2004 empfohlen. Der Ausschuss tritt für die Liberalisierung des Handels ein, ist aber gegen eine unilaterale Liberalisierung. Andere Länder sollten bereit sein, ihre Märkte für Erzeugnisse des T/B-Sektors der EU ebenfalls zu öffnen.

4.9.1

Zur Bekämpfung der gravierenden Probleme in puncto Marken- und Produktpiraterie müssen die Zollkontrollen an den Außengrenzen verstärkt und ihre Vereinheitlichung im Rahmen effektiver gemeinsamer europäischer Zollbehörden vorangetrieben werden, wobei für die neuen Mitgliedstaaten besondere Fördermaßnahmen vorzusehen sind.

4.9.2

Der Ausschuss teilt die große Sorge der betroffenen Akteure über die Häufigkeit von Betrugsfällen und ist der Ansicht, dass alle erdenklichen Maßnahmen zu ihrer Verringerung ergriffen werden sollten. Die Zollbehörden haben mehrfach darauf hingewiesen, dass sie nicht über ausreichendes Personal für die Kontrollen — insbesondere in den Häfen — verfügen. Im Hafen von Neapel beispielsweise treffen pro Tag durchschnittlich 1000 Container ein, und nur drei Personen stehen für Kontrollen zur Verfügung. Im Durchschnitt werden weniger als 1 % der Container geöffnet (wobei sie nur geöffnet werden, ohne dass eine Inspektion des Inhalts erfolgt)!

4.9.3

Angesichts dieser Situation, die durch Betrügereien des Organisierten Verbrechens verschärft wird, das in vielen europäischen Häfen über Einfluss verfügt, ist folgende Lösung denkbar: Der Import bestimmter Produkte sollte über bestimmte dafür ausgerüstete Häfen abgewickelt werden. Neben intensiveren Kontrollen durch die Zollbehörden sollten dort auch Vertreter des jeweiligen Sektors anwesend sein.

4.9.4

In diesem Sinne drückt sich im Grunde genommen auch das Europäische Parlament in Ziffer 11 seiner Entschließung aus, wo die Kommission dazu aufgefordert wird, die Hersteller zum Aufbau eines Informations- und Überwachungsnetzes zu bewegen und sie dabei zu unterstützen. Dieses Netz soll zur Identifikation der Herkunft gefälschter oder nachgeahmter Erzeugnisse dienen mit dem Zweck, sie vom Markt nehmen zu können.

4.9.5

Eine andere Lösung bestünde darin, die versiegelten Container auf die Bestimmungsorte aufzuteilen, um die Anzahl der in den Häfen zu kontrollierenden Container drastisch zu reduzieren und dadurch effizientere Kontrollen zu ermöglichen.

4.10

Auch die Herkunftsländer müssen zur Intensivierung der Warenkontrollen angehalten werden. Begünstigte Länder, die Betrug dulden und keine wirkungsvollen Kontrollverfahren einführen, sollten zeitweise von den Vergünstigungen ausgeschlossen werden. Die EU muss wegen entgangener Zolleinnahmen jedes Jahr mehr als 2,2 Mrd. Euro für die Finanzierung des APS aufwenden. Andererseits erhalten alle begünstigten Länder zusammen jährlich Vergünstigungen in dieser Größenordnung. Angesichts Vergünstigungen von solcher Tragweite, die sich häufig auch noch auf die Arbeitsmarktkrise in zahlreichen Regionen Europas auswirken, muss der EU das Recht eingeräumt werden, die Grundsätze und Bedingungen festzulegen, nach denen diese Vergünstigungen gewährt werden.

4.10.1

Der Ausschuss ist sich vollkommen der Tatsache bewusst, dass de facto die Außengrenzen der EU nicht nur entlang der Landesgrenzen ihrer Mitgliedstaaten verlaufen, sondern zunehmend auch im Hoheitsgebiet derjenigen Länder angesiedelt sind, aus denen ihre Einfuhren stammen. Der EWSA hat bereits eine Stellungnahme zu dieser Thematik erarbeitet.

4.11

Die Ursprungsregeln sind zu komplex, zu schwierig anzuwenden, können leicht missverstanden werden und erfordern die genaue Kenntnis einer Vielzahl von Regelwerken. Sie behindern deshalb den Handel und verleiten zum Betrug. Viel zu häufig fungieren begünstigte Staaten einfach als Durchgangsstationen für Erzeugnisse aus nicht begünstigten Staaten.

4.12

Der Ausschuss fordert die Kommission — insbesondere die GD Handel — auf, eindeutige Normen für die den Entwicklungsländern zu gewährenden Vergünstigungen festzulegen, insbesondere in Bezug auf den Schutz der Arbeitnehmerrechte, den Umweltschutz, die Bekämpfung des Drogenhandels, die Achtung der Menschenrechte, die nachhaltige Entwicklung sowie andere Aspekte im Zusammenhang mit dem Verbraucherschutz und dem Tierschutz.

4.13

Was den Gemeinsamen Zolltarif (GZT) betrifft, so ist sich der Ausschuss der Tatsache bewusst, dass auch die jüngste Verordnung Nr. 1789/2003 zur Änderung der Verordnung Nr. 2658/87, die am 1.1.2004 in Kraft getreten ist, Ergebnis einer Reihe von Kompromissen ist, die die Anwendung des GZT erschweren und verkomplizieren und folglich Betrug und Umgehung fördern. Die Position „Kleidung und Bekleidungszubehör“, die den Kapiteln 61, 62 und 63 entspricht, betrifft 466 Warenposten. Für 398 von ihnen gilt ein Zollsatz von 12 %, für die übrigen 68 hingegen gelten Zollsätze, die sich von der völligen Befreiung über folgende Sätze abstufen: 2 %, 4 %, 5,3 %, 6,2 %, 6,3 %, 6,5 %, 6,9 %, 7,2 %, 7,5 %, 7,6 %, 7,7 %, 8 %, 8,9 %, 10 %, 10,5 %. Auch die übrigen Kapitel (64: Schuhe, Gamaschen; 65: Kopfbedeckungen und Teile davon; 66: Regenschirme; 67: Federn und künstliche Blumen) weisen Zollsätze auf, die von 1,7 % über 2,2 %, 2,7 %, 4,7 %, 5 %, 5,2 % und 7 % bis hin zu 8 % reichen.

4.13.1

Für die insgesamt 1516 Positionen der Kapitel 50 bis 67 KN (Kombinierte Nomenklatur), die von Textilien über Konfektionswaren zu Schuhen reichen, gelten über 20 unterschiedliche Zollsätze. All diese, sich nur geringfügig voneinander unterscheidenden Sätze sind lediglich ein Problem und belegen die Schwäche des Systems. Dieses könnte viel rationaler und widerstandsfähiger gegen die Pressionen wirtschaftlicher Zentren sein, die im Zuge der Maximierung ihrer Gewinne nur zahlreiche Unternehmen in Schwierigkeiten bringen. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Festlegung einer beschränkten Anzahl von Zollsätzen — maximal drei oder vier — Betrügereien spürbar vermindern und das System enorm vereinfachen würde.

4.14

Der Ausschuss misst der Förderung der grundlegenden Arbeitsnormen und des fairen Handels, dem Umweltschutz sowie der Bekämpfung des Drogenhandels besondere Bedeutung bei. Die gegenwärtige Regelung (APS — Allgemeines Präferenzsystem) reduziert den Gemeinsamen Zolltarif (GZT) um 40 % und ermöglicht somit — bei einem GZT von unter 5 % — allen Entwicklungsländern den Export der Erzeugnisse ihrer Textil-, Bekleidungs- und Schuhindustrie in die europäischen Länder, wenn sie sich zur Einhaltung sozial- und umweltrechtlicher Bestimmungen verpflichten. Andererseits hat sich das System im Hinblick auf die Einhaltung ethischer Grundsätze als unwirksam erwiesen. Die als Anreiz konzipierte Sonderregelung zur Bekämpfung des Drogenhandels, von der über 12 Staaten profitiert haben, hat keinerlei Auswirkungen im Drogenhandel gezeitigt. Auf der anderen Seite mussten zahlreiche europäische Kleinbetriebe ihre Aktivitäten infolge eines übermächtigen Konkurrenzdrucks einstellen, der durch Produktionskosten entstanden war, die in keinem Verhältnis zu den von einer zeitgemäßen Regelung im Sinne der nachhaltigen Entwicklung verursachten Kosten stehen (16).

4.15

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass das Engagement des Rates, der Kommission und des Europäischen Parlaments verstärkt werden muss, damit all diejenigen Länder vom APS ausgeschlossen werden können, die — obwohl sie auf den Export von Erzeugnissen ihrer Textil-, Bekleidungs- und Schuhindustrie in die EU angewiesen sind — gegen grundlegende Arbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (17) (ILO) verstoßen (18).

4.16

Der EWSA ist überzeugt, dass das Pro-Kopf-BIP nicht das einzige Eignungskriterium für die Einbeziehung eines Staates in die Präferenzregelungen sein darf. Er teilt auch die vielerseits geäußerten Bedenken, dass die Vorteile des APS in zu großem Maße Ländern zugute kommen, die am wenigsten darauf angewiesen sind. Um zu gewährleisten, dass die Unterstützung durch das APS wirklich nur den bedürftigsten Ländern zugute kommt, empfiehlt der EWSA, in den neuen Leitlinien folgende Kategorien von Staaten von den Vergünstigungen auszuschließen:

OPEC-Mitgliedstaaten (19);

Staaten, die von den Vereinten Nationen nicht als „Entwicklungsländer“ ausgewiesen sind;

Staaten, die Atomwaffenprogramme verfolgen;

Staaten, die als Steueroasen fungieren;

Staaten, die bilaterale oder regionale Handelsabkommen mit der EU abgeschlossen haben (20);

Staaten, die gegen die grundlegenden Arbeitsnormen von IAO/IAA verstoßen (21).

4.17

Auch die Technologiepole und Innovationszentren der gesamten EU müssen einen Beitrag zur verstärkten Vernetzung sowie zum Erfahrungsaustausch mit den Unternehmern der Branche, den Universitäten und den zivilgesellschaftlichen Organisationen leisten.

4.18

Technische Materialien, High-Tech-Textilien und High-Tech-Schuhe erzielen in Europa und der Welt immer größere Marktanteile. Die europäischen KMU können heute und in Zukunft dank gefestigter Grundlagenerfahrungen eine wichtige Rolle bei der Herstellung von Spitzenerzeugnissen spielen, die aus neuen chemischen Prozessen und aus der Entwicklung neuer Technologien resultieren.

4.19

Nach Ansicht des Ausschusses müssen konzertierte Aktionen der Kommission und der Mitgliedstaaten zur Finanzierung und Unterstützung einer Vielzahl moderner Dienste, die die Unternehmensleistungen verbessern und damit zum Ausgleich zwischen Nachfrage und Angebot bei innovativen Produkte beitragen, erprobt und durchgeführt werden.

4.19.1

Es wäre sinnvoll, die Entstehung neuer Berufsbilder durch Maßnahmen im Rahmen des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des Sechsten Rahmenprogramms für Forschung und Entwicklung zu fördern und zu beschleunigen. Die KMU könnten durch diese Berufsfelder, die über besondere technische und operative Fähigkeiten verfügen und die als Innovationskatalysatoren fungieren, in entsprechenden Projekten flankierend unterstützt werden. Besondere Aufmerksamkeit sollte jenen Mitgliedstaaten gewidmet werden, in denen der T/B-Sektor von strategischer Bedeutung ist.

4.19.2

Folgende Qualifikationen sind u. a. für die Unterstützung der Unternehmen bei der Optimierung und Ausweitung der Produktion technischer Textilien und von High-Tech-Schuhen notwendig: Fähigkeit zur Analyse von Technologiekontrollen, zur Förderung von Umstellungsprojekten und zur Erkundung neuer Möglichkeiten.

4.19.3

Der Ausschuss ist davon überzeugt, dass unter Rückgriff auf die vor Ort vorhandenen Möglichkeiten wie Technologiepole, Universitäten, strukturierter Dialog zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und lokalen Gebietskörperschaften insbesondere die KMU durch solche Akteure unterstützt werden könnten, um sich auf einem höheren Technologie- und Wettbewerbsniveau zu positionieren (22).

4.20

Dem Ausschuss — wie auch der Kommission und dem Parlament — ist ferner bekannt, dass der T/B- und Schuhsektor in der Europäischen Union zu 70 % aus Kleinunternehmen (mit weniger als 50 Beschäftigten) besteht. Ca. 20 % der Unternehmen verfügen über 50 bis 249 Beschäftigte, die restlichen 10 % haben 250 Arbeitnehmer und mehr. Der Anteil der Frauen an der Beschäftigung ist höher als in anderen Branchen. Das die Unternehmen über das gesamte Territorium Europas verstreut sind, erschwert natürlich Maßnahmen zur Innovationsförderung und zur technologischen Aktualisierung.

4.21

Der Ausschuss, der über seine Mitglieder in direktem Kontakt zur organisierten Zivilgesellschaft steht, hat mehrmals auf die kontinuierlichen und fortgesetzten Betrügereien hingewiesen, die ein breites Spektrum von Waren betreffen, die die Gemeinschaftsgrenzen überschreiten. Zu den augenfälligsten Betrugsarten gehören:

Zollanmeldungen, die nicht mit den abgefertigten Waren übereinstimmen (23);

Waren ohne Konformitätsbescheinigung, die für den Verbraucher häufig Gefahren bergen;

Waren, die unter Verletzung der geistigen Eigentumsrechte hergestellt werden;

Waren, die Dreiecksgeschäften, an denen mehrere Staaten beteiligt sind, unterzogen werden (24);

Waren, die nicht den Ursprungsregeln entsprechen (25);

gefälschte oder nachgeahmte Waren.

4.21.1

Dieses Problem wurde jüngst in geeigneter Form statistisch untersucht. Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Union endlich eine Verordnung angenommen hat, die die Vernichtung gefälschter Waren durch die Zollverwaltungen ermöglicht (26).

4.21.2

Nach Ansicht des Ausschusses ist die Verordnung aber von begrenzter Wirkung!

4.21.3

Die Leiter der Zollverwaltungen bemängeln, dass die Gemeinschaftsregelung (die die Unterteilung der EU in verschiedene Rechtsgebiete überwinden soll) unzulänglich sei und dass Personal und Mittel für die Kontrolle eines so umfassenden und flexiblen Markts fehlten.

4.21.4

Im ersten Halbjahr 2003 wurden von den europäischen Zollbehörden mehr als 50 Millionen gefälschte Produkte oder im Rahmen von Markenpiraterie produzierte Waren beschlagnahmt (27). Die Betrugsfälle haben sich im Bekleidungssektor von 2000 bis 2002 verdoppelt und im Bereich Parfüms und Kosmetika sogar verdreifacht (28). Angesichts des enormen Umfangs der durchgekommenen illegalen Waren handelt es sich dabei allerdings nur um die Spitze des Eisbergs.

4.21.5

Was den Ursprung dieser Produkte betrifft, so stammen sie in 66 % der Fälle aus Asien, in erster Linie aus China und Thailand. Nach Aussage von Kommissionsmitglied BOLKESTEIN „(…) werden inzwischen alle Gegenstände des täglichen Bedarfs gefälscht, nicht nur Luxusgüter. Deshalb sind die KMU in immer stärkerem Maße unmittelbar von den Fälschungen betroffen“ (29).

4.21.6

Der Umfang dieser Betrügereien bereitet den europäischen Unternehmen immer größere Schwierigkeiten und zwingt häufig die Kleinunternehmen zur Einstellung ihrer Aktivitäten, da sie vom Markt verdrängt werden.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Die Europäische Gemeinschaft gewährt den Entwicklungsländern bereits seit 1971 – zuerst im Rahmen des GATT, dann der WTO (Welthandelsorganisation), erhebliche Nachlässe auf den Gemeinschaftlichen Zolltarif (GZT).

5.1.1

Die aus den Entwicklungsländern in die EU importierten und als nicht sensibel erachteten Produkte sind fast vollständig von den Zöllen befreit.

5.1.2

Die sensiblen Produkte, darunter Textilien, Bekleidung und Schuhe, profitieren von einer Ermäßigung von in Höhe von 20 % (des normalen Satzes), die im Rahmen der Sonderregelungen auf 40 % ansteigt (30).

5.1.3

Im Jahr 2003 wurden 116 Länder von den Vereinten Nationen als Entwicklungsländer anerkannt. Tatsächlich profitieren aber 174 Länder von den EU-Vergünstigungen (31).

5.1.4

Asien ist mit einem Anteil von 70 % im Jahr 2002 bei weitem der größte Nutznießer der von der Gemeinschaft gewährten Zollvergünstigungen. China allein kommt in den Genuss von 25 % aller Vergünstigungen.

5.1.5

Die durchschnittlich im T/B-Schuhsektor von der EU erhobenen Zollsätze liegen für diese Länder bei 4,8 %; in den USA werden hingegen 8,9 %, in Japan 6,6 % und in Kanada 12 % erhoben. Die entsprechenden in China erhobenen Zollsätze liegen bei 20 %, in Thailand werden 29 %, in Indien 35 % und in Indonesien 40 % erhoben (32).

5.2

Die Hersteller des Europa-Mittelmeerraumes im T/B-Schuhsektor stoßen laufend auf erhebliche Behinderungen beim Zugang zu den asiatischen Märkten. Die Länder dieser Märkte behindern den Handelsaustausch durch nicht tarifäre Handelshemmnisse, die für die gesamte europäische Industrie ein ernstes Problem darstellen (33).

5.3

Der durchschnittliche Anteil der Textilindustrie (34) an der Wertschöpfung der verarbeitenden Industrie in der gesamten EU liegt bei etwa 2,5 %. Einige Länder weisen einen relativ hohen Anteil auf, wie Luxemburg mit 8,7 %, Portugal mit 6,3 %, Griechenland mit 5,1 %, Italien mit 4,6 % und Belgien mit 4,3 % (35). In den neuen EU-Mitgliedstaaten kommt der Textil- und Bekleidungsindustrie noch größere Bedeutung zu; so gehen etwa in Litauen (36) 16,1 % der Verkaufserlöse und in Estland (37) 10,5 % der Produktion des verarbeitenden Gewerbes auf die Textilindustrie zurück.

6.   Schlussfolgerungen

6.1

Für die zahlreichen europäischen Unternehmer in diesem Sektor wird diese Realität als ungerecht und als bestrafend empfunden. Denn sie müssen das Nachsehen haben in einer Auseinandersetzung, die nicht immer auf eine durch Fairness, unternehmerische Fähigkeiten und Wahrung der Menschenrechte in der Arbeitswelt geprägte Art und Weise ausgetragen wird. Vielmehr ist eine mittel- bis langfristige Zukunftsperspektive für einen wettbewerbsfähigen und fortschrittlichen europäischen Textil- und Bekleidungssektor vonnöten, die auf der Teilhabe und dem Konsens der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie der politischen Entscheidungsträger auf den verschiedenen Ebenen in der Union beruht.

6.1.1

Die Wahrung der grundlegenden von der ILO festgelegten Arbeitnehmerrechte muss sowohl anhand der konkreten ILO-Kontrollverfahren als auch durch eine enge Zusammenarbeit der ILO mit der WTO sichergestellt werden. Die EU hat sich verstärkt dafür einzusetzen, dass die im Rahmen der ILO vereinbarten Grundsätze des Arbeitnehmerschutzes zum Bezugspunkt für die WTO werden.

6.2

Die Zollermäßigungen könnten nur den 49 am wenigsten entwickelten Ländern gewährt werden. Die Verhandlungen der Doha-Runde sollten zu mehr auf Gegenseitigkeit beruhenden Beziehungen zwischen dem Europa-Mittelmeerraum und den asiatischen Ländern führen. In der DOHA-Runde sollte eine weltweite Vereinbarung getroffen werden, dass alle Zölle im Textil- und Bekleidungssektor innerhalb eines bestimmten Zeitraumes, z. B. innerhalb von 5 Jahren, auf ein einheitliches Niveau von maximal 15 % zu senken sind.

6.3

Die Zollkontrollen der Union müssen verstärkt werden mit dem Ziel, baldmöglichst zu einem gemeinsamen Zollsystem zu kommen, das sich im Einklang mit den Rechtsakten zum Binnenmarkt befindet.

6.4

Im Sinne der Bekämpfung von Nachahmung und Betrug sowie der besseren Verbraucherinformation könnte ein System zur Ursprungskennzeichnung (38) (mit geographischen, sozialen und ökologischen Angaben) entwickelt werden.

6.4.1

Der Ausschuss schlägt aus diesem Grunde vor, Möglichkeiten zur Rückverfolgbarkeit der Textilien zu untersuchen. Dadurch würden Verstöße gegen die Ursprungsbestimmungen und Betrügereien mit nachgeahmten Produkten erschwert werden.

6.5

Der Ausschuss unterstützt die Kommission bei ihren Anstrengungen, die Mittel zum Schutz des Handels und die Maßnahmen gegen Dumping und Subventionierung wirksamer zu gestalten. Er fordert die Kommission ferner dazu auf, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, insbesondere bei angezeigten und nachgewiesenen Betrugsfällen. Die EU sollte sich im Rahmen der Verhandlungen der Doha-Runde für eine viel größere Disziplin bei der Anwendung von Sicherheitsmaßnahmen, Maßnahmen gegen Dumping und anderen Schutzmaßnahmen wie Änderungen in den Ursprungsbestimmungen usw. einsetzen.

6.6

Die Kommission muss sich stärker dafür einsetzen, dass die TRIPS (handelsbezogenen Rechte an geistigem Eigentum) innerhalb der WTO gewährleistet und von den Staaten anerkannt werden.

6.7

Die Innovationsfähigkeit muss — vor allem in den KMU — durch auf lokaler Ebene konzipierte Projekte verstärkt werden, unter Einbeziehung aller sozialen Kräfte sowie der Forschungszentren. Europa verfügt über traditionsreiche Hochschulinstitute, die sich mit dem Textilsektor befassen. Es wäre von außerordentlichem Interesse, ein Spitzenforschungs-Netzwerk zu schaffen, das mittels enger Kontakte zur Unternehmens- und Arbeitswelt auf die im Rahmen des Sechsten Rahmenprogramms gebotenen Möglichkeiten zurückgreifen und Zukunftsperspektiven für die technologische Entwicklung der Branche aufzeigen könnte.

6.7.1

Innovationsfähigkeit — mit Blick auf neue Fasern und Verbundgewebe, die mittels Einsatz von in der Nanotechnologie-Forschung entwickelten Nanopartikeln veredelt werden und dadurch mehr Funktionalität, Sicherheit, Wärme– und Kälteschutz und Tragkomfort bieten muss — neben modischer Aktualität und ästhetischem Wert der konfektionierten Waren – zu einer der Stärken der europäischen Textilindustrie werden.

6.7.2

Vliesstoffe, d. h. besondere, chemisch behandelte und als Klebemittel fungierende Stoffe werden in immer mehr Bereichen verwendet, wie z.B. im Sport, im Bauwesen, in der Raumfahrttechnik, dem Transportwesen usw. Wie bereits ausgeführt, handelt es sich dabei um einen in ständigem Wachstum begriffenen Markt, der auf Möglichkeiten für zukunftsträchtige Produktdiversifikationen hin untersucht werden muss (39).

6.8

Die BKIW (Beratende Kommission für den industriellen Wandel) verfügt über vielfältige Erfahrungen, die bei der jahrzehntelangen Bewältigung von Problemen im Bereich der Entwicklung des Kohle- und Stahlmarktes gewonnen wurden (40). Sie könnte eine herausragende Mittlerrolle zwischen Kommission und Textilbranche bei der Förderung der Produktdiversifizierung spielen.

6.8.1

Es ist abzusehen, dass Weiterbildungsmaßnahmen für die im Zuge der Umstrukturierung freigesetzten Arbeitnehmer notwendig werden. Es wäre sinnvoll, das Interesse der Unternehmer für diese neuen Verbundmaterialien zu wecken und zu mehren. Eine nachhaltige künftige Entwicklung kann nur erreicht werden, wenn die Jugendlichen dabei unterstützt werden, die neuen Produkte und ihre Umweltfreundlichkeit kennen und schätzen zu lernen. Dieses Ziel kann mithilfe europäischer Einrichtungen wie der BKIW, die über Erfahrungen im sozialen und technischen Bereich verfügen, leichter erreicht werden.

6.9

Die Textil-, Konfektions- und Lederbranche ist der erste Sektor, auf den die neue vertikale Politik angewandt wird, die unlängst von der Kommission — in Ergänzung zu den traditionellen horizontalen Maßnahmen für die Industrie — eingeführt wurde. Es scheint allen Beobachtern, insbesondere den in diesem Bereich tätigen Unternehmern und Arbeitnehmern, am Herzen zu liegen, dass die Kommission — mit Beteiligung der Regierungen und der Sozialpartner — diesem Sektor bei der technischen Weiterentwicklung und der Bewältigung der Herausforderungen der Globalisierung helfen kann.

6.9.1

Neben den im Rahmen der Gemeinschaftspolitiken schon bestehenden „technologischen Plattformen“ (41) könnte eine vierte Plattform konzipiert werden, die sich mit dem vielfältigen und innovativen Aspekten eines zukunftorientierten Textilsektors befasst.

6.10

In allen entwickelten Ländern findet ein Prozess der Deindustrialisierung statt. Der durch den tertiären Sektor erwirtschaftete Mehrwert beträgt in der EU mittlerweile 70 % des gesamten BIP (die Industrie erwirtschaftet 22 %, die Bauwirtschaft 5 % und die Landwirtschaft 3 %) (42). Doch diesem Phänomen sollte nicht Vorschub geleistet werden, weil ein Großteil der Wertschöpfung im Dienstleistungssektor den Unternehmen dient oder auf die Unternehmen zurückgeht: Handel und Verkehr: 21,6 %, Finanz- und Unternehmensdienstleistungen: 27,2 %, öffentliche Verwaltung: 21,6 % (43).

6.11

Der EWSA ist der Auffassung, dass nun auf die Optimierung der WTO-Regeln hingewirkt werden muss, und zwar mit der ganzen Kraft, die der europäisch geprägte Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ freisetzt. Gegenwärtig können Importe zwar nur dann untersagt werden, wenn sie eine Gefahr darstellen, aber es ist notwendig, unverzüglich für die Durchsetzung bestimmter sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Prioritäten zu sorgen, da die EU als Wirtschaftsakteur die Möglichkeit hat, die globale Wirtschaftssteuerung dadurch effektiver zu gestalten, „dass sie die nachhaltige Entwicklung auf dem ganzen Planeten durch eine Kombination internationaler Zusammenarbeit und guter innenpolitischer Praxis verbreitet“ (44).

6.11.1

Die Kosten, die bei der Durchführung dieser Maßnahmen für die Entwicklungsländer entstehen, könnten teilweise durch Programme im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit kompensiert werden, sofern diese auf eine Verhaltensänderung im kommerziellen Bereich abzielen und laufend überprüft werden.

6.12

Vielleicht haben wir eine Phase der Globalisierung erreicht, in der mehr auf die von den Bürgern signalisierten „Vorlieben und kollektiven Empfindlichkeiten“ geachtet werden muss, wenn internationale Spannungen gemindert und ideologisch motivierte Handelskonflikte verhindert werden sollen, die in letzter Zeit ständig zunehmen und scheinbar mit den gegenwärtigen Verfahren und Regeln nicht gelöst werden können.

Brüssel, den 1. Juli 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Die so genannten technischen Textilien werden immer häufiger in folgenden Bereichen eingesetzt: Bekleidung, Agrartechnik, Bausektor, Geotechnik, Gebäudetechnik, Industrietechnik, Medizintechnik, Transporttechnik, Umwelttechnik, Verpackungstechnik, Sicherheitstechnik und Sporttechnik, siehe Anlage 2.

(2)  Zu den 49 am wenigsten entwickelten Ländern gehören 40 AKP-Länder (Afrika, Karibik, Pazifik) und 9 Länder außerhalb dieser Gruppe (Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Kambodscha, Laos, Myanmar, Malediven, Nepal und Jemen).

(3)  Anwesend waren Frau Concepció FERRER I CASALS, Mitglied des Europäischen Parlaments und Vorsitzende des Forums für Textil, Bekleidung und Leder des Europäischen Parlaments, und von Kommissionsseite Herr Luís Filipe GIRÃO, Referatsleiter in der GD Unternehmen, sowie Herr GHAZI BEN AHMED von der GD Handel. Die ca. 60 Teilnehmer kamen u. a. aus Italien, Deutschland, Frankreich, der Türkei, Litauen und Belgien.

(4)  Stellungnahme des EWSA, CESE 313/2004 (REX/141).

(5)  Konferenz vom 15.10.2002, „Hochtechnologie in der europäischen Bekleidungsindustrie“, Borschette-Konferenzzentrum, Brüssel; Konferenz vom 20.3.2003, „Die Zukunft der Textil- und Bekleidungsindustrie im erweiterten Europa“; Symposium vom 5./6. Mai 2003, „Die Zukunft des Handels mit Textilwaren und Bekleidung nach 2005“, Charlemagne-Gebäude, Brüssel.

(6)  Die bilateralen Gremien bestehen aus Vertretern der Kleinunternehmer und der Arbeitnehmer, die dem Gegenseitigkeitsprinzip folgend Maßnahmen zur Finanzierung von Unterstützungs-, Weiterbildungs- und Innovationsaktionen für Eigentümer und Beschäftigte von Kleinst- und Kleinunternehmen durchführen.

(7)  Siehe Anhörung vom 21. Januar 2004 und die Schlussfolgerungen in Ziffer 13.

(8)  KOM(2003) 452 vom 24.7.2003.

(9)  Vgl. KOM(2003) 787 endg. vom 18.12.2003.

(10)  KOM(2003) 533 endg. vom 10.9.2003.

(11)  Im Textilsektor kommen hauptsächlich 1 000 der insgesamt 5 000 verwendeten chemischen Substanzen zum Einsatz. Hinzuzurechnen ist eine unbestimmte Zahl von aus mehreren Substanzen bestehenden heterogenen Gemischen, von denen einige gesundheitsschädlich sind, und die vor allem beim Färben und anderen Weiterverarbeitungsschritten eingesetzt werden. In der EU werden die gesundheitsschädlichen Substanzen gemäß den geltenden umweltrechtlichen und gesundheitlichen Bestimmungen ausgesondert, entsorgt oder behandelt. Die entsprechenden Kosten gehen zu Lasten der europäischen Unternehmen.

(12)  Vgl. KOM(2004) 101 vom 10.2.2004: Mitteilung der Kommission: Unsere gemeinsame Zukunft aufbauen. Die EU als globaler Partner, S. 24.

(13)  Vgl. Eurostat: Das weltweite BIP. Über 55 % des weltweiten BIP, das im Jahr 2002 34 000 Mrd. Euro betrug, gingen auf ca. 45 000 multinationale Unternehmen zurück.

(14)  Richtlinienvorschlag KOM(2003) 453 vom 1.8.2003.

(15)  Siehe u. a. folgende Dokumente: KOM(2001) 98 vom 1.3.2001; KOM(2001) 366 vom 18.7.2001; KOM(2003) 21 vom 21.1.2003; KOM(2002) 345 vom 1.7.2002; KOM(2001) 122 vom 7.3.2001; KOM(2002) 68 vom 6.2.2002; KOM(2003) 27 vom 21.1.2003.

(16)  Vgl. Stellungnahme APS, REX/141, Ziffern 6.6.2, 6.6.2.1., 6.6.2.2. und 6.6.2.3.

(17)  C29 — über Zwangsarbeit; C87 — über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts; C 98 — über das Vereinigungsrecht und das Recht zu Kollektivverhandlungen; C100 — über die Gleichheit des Entgelts; C 105 — über die Abschaffung der Zwangsarbeit; C111 — über Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf); C138 — über das Mindestalter; C182 — über die schlimmsten Formen von Kinderarbeit.

(18)  Vgl. APS REX/141 Ziffer 6.6.2.3.

(19)  Venezuela, Algerien, Nigeria, Libyen, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, Katar, Kuwait, Irak, Iran, Indonesien.

(20)  (Allgemeines Präferenzsystem), Ziffer 6.6.1.2.

(21)  Siehe ebenda.

(22)  Kleinunternehmer möchten häufig von der Produktion oder Konfektionierung herkömmlicher Erzeugnisse zur Herstellung neuer Produkte, die aus technischen oder „intelligenten“ Textilien hergestellt sind, übergehen, wofür sie aber nicht die auf technischem und kommerziellen Gebiet erforderlichen Kenntnisse und Informationen haben.

(23)  Der Zollsatz ist von der Art der eingeführten Waren abhängig. Es werden oft andere Waren angemeldet, für die niedrigere Zollsätze als für die tatsächlich importierten Waren gelten.

(24)  Grünbuch „Die Zukunft der Ursprungsregeln im Präferenzhandel der Gemeinschaft“, KOM (2003) 787 endg., Ziffer 1.2.2.

(25)  Ebenda.

(26)  Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 vom 22. Juli 2003. Tritt am 1. Juli 2004 in Kraft.

(27)  IP 03/1589 vom 24.11.2003.

(28)  Ebenda .

(29)  Ebenda.

(30)  Sonderregelung zum Schutz der Arbeitnehmerrechte; Sonderregelung für den Umweltschutz, Sonderregelung zur Bekämpfung der Drogenproduktion und des Drogenhandels.

(31)  Anhang I zur Verordnung 2501/2001.

(32)  Quelle: Europäische Kommission.

(33)  Die am weitesten verbreiteten nicht tarifären Handelshemmnisse sind: zusätzliche Steuern oder Abgaben, Aufschläge auf geringe Importmengen; Bewertungspraktiken der Zollbehörden, die nicht auf die für die eingeführten Waren zu zahlenden Abgaben angerechnet werden; kostspielige und diskriminierende Sonderregelungen im Bereich der Kennzeichnung oder des Markenrechts; Bestimmungen zur Genehmigung der Einfuhr; schwierige Vorschusszahlungsverfahren.

(34)  Posten 17.1 bis 17.6.

(35)  Quelle: Eurostat, Die verarbeitende Industrie der EU von 1992 bis 2002.

(36)  Quelle: Statistisches Amt der Republik Litauen, 2003.

(37)  Quelle: Statistisches Amt der Republik Estland, 2003.

(38)  Grünbuch „Die Zukunft der Ursprungsregeln im Präferenzhandel der Gemeinschaft“, KOM(2003) 787 vom 18. 12.2003.

(39)  Karbonfasergewebe und Kevlargewebe sind widerstandsfähiger, leichter und geschmeidiger als Metalle.

(40)  Siehe die von der BKIW übernommen Tätigkeiten des Rates der EGKS.

(41)  Luft- und Raumfahrt, Kommunikationswesen und Stahl.

(42)  Quelle: Eurostat, Struktur der Bruttowertschöpfung, 2002.

(43)  Quelle: Eurostat, ebenda.

(44)  KOM(2004) 101 endg. vom 10.2.2004, Unsere gemeinsame Zukunft aufbauen, S. 26.


ANLAGE 1

zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Der folgende Änderungsantrag, der mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen als Ja-Stimmen erhalten hat, wurde im Verlauf der Beratungen abgelehnt:

Die Ziffern 6.1.1 streichen.

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen:

31

Nein-Stimmen:

32

Stimmenthaltungen:

9


7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/101


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die großstädtischen Ballungsgebiete: sozioökonomische Auswirkungen auf die Zukunft Europas“

(2004/C 302/21)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 15. Juli 2003, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Die großstädtischen Ballungsgebiete: sozioökonomische Auswirkungen auf die Zukunft Europas“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe „Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt“ nahm ihre Stellungnahme am 8. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr van IERSEL.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 1. Juli) mit 129 Ja-Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   ZUSAMMENFASSUNG

1.1

Im Zusammenhang mit der Regionalpolitik der Europäischen Union beleuchtet der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss in dieser Stellungnahme insbesondere die Bedeutung der großstädtischen Ballungsgebiete in Europa.

1.2

Die großstädtischen Ballungsgebiete sind sowohl aus wirtschaftlicher wie auch aus demographischer Sicht für die Zukunft von großer Bedeutung. Diese Gebiete stehen vor einer ganzen Reihe schwerwiegender Probleme und Herausforderungen. Bislang wurde dieses Thema auf EU-Ebene und bei den europäischen Institutionen noch nicht konkret behandelt.

1.3

Der EWSA fordert, dass die wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung der großstädtischen Ballungsgebiete Europas als fester Punkt in die Agenda der Gemeinschaft aufgenommen wird. Zu diesem Zweck sind Angaben für die europäische Ebene und ein Informationsaustausch über Eurostat sowie ein besonderes Argument seitens der Kommission unentbehrlich.

1.4

Es liegt im Interesse der EU, im Anschluss an Debatten innerhalb der einzelnen Staaten eine europäische Debatte über die künftige Ausrichtung der großstädtischen Ballungsgebiete anzustoßen und zu untersuchen, welchen Mehrwert die Europäische Union beitragen kann. Ferner weist der EWSA insbesondere auf den direkten Zusammenhang zwischen der Rolle der europäischen Metropolen und der Lissabon-Strategie hin. Ausschlaggebend für die Umsetzung der Ziele der Lissabon-Strategie ist die Art und Weise, wie diese Ziele in den großstädtischen Ballungsgebieten umgesetzt werden sollen.

1.5

Daher empfiehlt der EWSA, dass die großstädtischen Ballungsgebiete neben der Schaffung eines gemeinsamen Forums für diese Gebiete und die Kommission auch auf dem Rat Wettbewerbsfähigkeit und dem Informellen Rat Raumplanung und Städtefragen erörtert werden.

2.   EINLEITUNG

2.1

Die Welt verändert sich rasch. In allen Bereichen erleben wir wirtschaftliche, technologische und soziale Entwicklungen. Diese Entwicklungen haben nicht nur weitreichende Auswirkungen auf die Industrie, den Dienstleistungssektor und den Arbeitsmarkt, sondern selbstverständlich auch auf die Städte und Regionen sowie die Gesellschaft und somit auch auf die Art und Weise, wie die Staaten und Regionen verwaltet werden.

2.2

In dieser Stellungnahme konzentriert sich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss aus drei Gründen auf die großstädtischen Ballungsgebiete mit ihren wirtschaftlichen Einflussbereichen: Erstens stehen sie im Zentrum dieser raschen Entwicklungen, zweitens leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur europäischen Wachstumsstrategie und schließlich profitieren zahlreiche kleinere Exzellenzzentren in der Europäischen Union von ihnen.

2.3

Ein großstädtisches Ballungsgebiet besteht aus einem Zentrum, einer einzelnen Stadt oder einem städtischen Ballungsgebiet sowie einem Umland, den benachbarten Gemeinden, aus dem viele Pendler täglich zu ihrer Arbeit ins Zentrum anreisen. Der Begriff des großstädtischen Ballungsgebiets lehnt sich daher weitgehend an den Begriff der Arbeitsmarktregion bzw. des funktionalen Stadtgebiets (1) an. Er berücksichtigt das Vorhandensein eines Umlands, das stark auf ein Zentrum ausgerichtet und dessen Wachstum eng an das Wachstum dieses Zentrums gekoppelt ist. Der Einzugsbereich großstädtischer Ballungsgebiete erstreckt sich auf einen Arbeitsweg von bis zu einer Stunde. Ballungsgebiete umfassen sowohl städtische als auch ländliche Bereiche.

2.4

Das Zentrum muss über eine Mindesteinwohnerzahl (2) bzw. eine Mindestzahl an Arbeitsplätzen verfügen, um zu den großstädtischen Zentren bzw. Ballungsgebieten gerechnet zu werden. Eine weitere Voraussetzung ist eine Mindestzahl an Berufspendlern zwischen den Wohnorten im Umland und den Arbeitsplätzen im Zentrum (3). Diese Mindestgrößen wurden praktisch willkürlich festgelegt und variieren daher. Der Mangel an einheitlichen Definitionen auf europäischer Ebene erschwert einen internationalen Vergleich.

2.5

In den vergangenen zehn Jahren hat sich ein neuer Typ großstädtischer Ballungsgebiete entwickelt. Wenn mehrere Großräume ein Netz bilden und sich ihre Arbeitsmarktregionen teilweise überschneiden, bilden sie polyzentrische großstädtische Ballungsgebiete. Dies ist z. B. bei der niederländischen Randstad mit 7 Millionen Einwohnern, der Region Rhein-Ruhr mit 11 Millionen Einwohnern, der Region Wien-Bratislava mit 4,6 Millionen Einwohnern, der Öresundregion mit 2,5 Millionen Einwohnern und der Region Lille mit 1,9 Millionen Einwohnern der Fall (4).

2.6

Je nach ihrer Bedeutung und ihren Funktionen haben die großstädtischen Ballungsgebiete eine regionale, nationale, europäische oder weltweite Ausstrahlungskraft. Schätzungen zufolge gibt es in der erweiterten Europäischen Union ca. 50 großstädtische Ballungsgebiete mit mehr als einer Million Einwohnern.

2.7

Es sei darauf hingewiesen, dass die in dieser Stellungnahme behandelten großstädtischen Ballungsgebiete sozioökonomische Gebiete und Gegebenheiten abdecken, die nicht identisch mit den europäischen regionalen Verwaltungseinheiten sind, die für die NUTS-Regionen angesetzt (NUTS = Nomenclature des Unités Territoriales Statistiques) und zu offiziellen Zwecken von Eurostat und den europäischen Institutionen genutzt werden. Das Konzept der Verwaltungsregion hat in Europa sehr unterschiedliche Bedeutungen. Außer in seltenen Ausnahmefällen sind die geografischen Grenzen dieser Regionen größer oder enger als die der großstädtischen Ballungsgebiete (5). Daher eignen sich die Bereiche der Verwaltungsregionen nicht zur Untersuchung und dem Vergleich der sozioökonomischen Entwicklung der großstädtischen Ballungsgebiete auf europäischer Ebene.

2.8

Im Februar 2004 veröffentlichte die Europäische Kommission ihren Dritten Kohäsionsbericht. Dieser Bericht gibt der Debatte über die Regionalpolitik und den wirtschaftlichen Fortschritt einen neuen Anstoß. Gleiches gilt für die Raum- und Stadtentwicklung. Für die Zukunft wird im Dritten Bericht die Verknüpfung zwischen der Regionalpolitik und der Lissabon-Strategie betont. Neben der Kohäsionspolitik, der Politik für die territoriale Zusammenarbeit und der Beschäftigungspolitik wird die Wettbewerbsfähigkeit zur dritten tragenden Säule der Regionalpolitik. In diesem Zusammenhang wird im Dritten Bericht vor allem die Rolle der Städte und der städtischen Großräume hervorgehoben.

2.9

Den Anstoß für neue Ansätze und Ideen geben häufig die Globalisierung, die Vollendung des Binnenmarkts, auch für die neuen Mitgliedstaaten, und die Lissabon-Strategie. Bei großstädtischen Ballungsgebieten geht es selbstverständlich nicht nur um Regionalpolitik, sondern auch um Industriepolitik, Wissen, Verkehr, europäische Netze, die nachhaltige Entwicklung und die Lebensqualität.

2.10

Weltweit erhält die „Urban Renaissance“, die Renaissance der Stadt, mehr und mehr Aufmerksamkeit. In den meisten EU-Mitgliedstaaten ist sie ein aktuelles Thema.

2.11

Die Lage der großstädtischen Ballungsgebiete und die Frage ihrer Verwaltung wurden auf europäischer Ebene bisher noch nie eingehend untersucht. Sie bildeten daher noch nie ein spezifisches Ziel der EU-Politik. Nach Ansicht des EWSA ist es an der Zeit, dass die Analyse vertieft wird und alle Beteiligten der Frage nachgehen, wie die Bevölkerung vor Ort und die Europäische Union von einer guten Verwaltung auf regionaler Ebene profitieren können. Eine Untersuchung der Lage der großstädtischen Ballungsgebiete kann nur dann sinnvoll sein, wenn sie auf zuverlässigen und objektiven quantitativen Daten auf europäischer Ebene aufbaut. Diese Daten fehlen jedoch weitgehend. Daher hält es der EWSA für erforderlich, dass sich die Europäische Union um die Erstellung dieser Daten bemüht.

3.   DIE LAGE DER GROSSSTÄDTISCHEN BALLUNGSGEBIETE

3.1

Mehr als drei Viertel der europäischen Bevölkerung leben in Stadtgebieten oder im städtischen Umland. Zwischen der Lissabon-Strategie und den großstädtischen Ballungsgebieten besteht ein direkter Zusammenhang. Die künftige Wettbewerbsfähigkeit der Union wird vielfach von Faktoren abhängen, die in diesen Gebieten angesiedelt sind. Innovation und Information werden von den Metropolen an andere europäische Städte ausgesandt. Der Wohlstand der großstädtischen Ballungsgebiete ist eine Grundvoraussetzung für die Lösung der Probleme im Rahmen des sozialen und territorialen Zusammenhalts in ihrem eigenen Gebiet und in den anderen europäischen Städten und Regionen.

3.2

Die großstädtischen Ballungsgebiete stehen in Europa wie auf der ganzen Welt vor mehreren großen Problemen: der Globalisierung, die mit der Integration der internationalen Waren-, Dienstleistungs-, Kapital-, Wissensmärkte, der Märkte für qualifizierte und ungelernte Arbeitskräfte einhergeht, was zu einer raschen Umgestaltung ihrer Produktivsysteme führt, der nachhaltigen Entwicklung, die einen sorgsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen voraussetzt sowie dem Problem des sozialen und territorialen Zusammenhalts und der Lebensqualität.

3.2.1

Viele Städte und Metropolen durchlaufen gerade einen erfolgreichen Prozess zur Umgestaltung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und institutionellen Struktur. Dies sind die wirtschaftsstarken städtischen Regionen, Knotenpunkte nationaler und internationaler Kommunikationsnetze, die an alle schnellen Verkehrsverbindungen und Telekommunikationsnetze angebunden sind und deren Wirtschaft schon seit langem auf einer ausgeprägten Diversifizierung und vor allem auf der Bereitstellung von hochwertigen Dienstleistungen an Personen und Unternehmen aufbaut. Auch unter den Regionen, die von traditionellen Industriezweigen abhängen und zunächst eine Krise durchlitten, finden sich ausgezeichnete Beispiele für diese Entwicklung. Dazu gehören beispielsweise Lille, Barcelona und Bilbao.

3.2.2

In den zehn neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind ähnliche Prozesse im Gange, insbesondere in den Großräumen Warschau, Prag und Budapest.

3.3

Mit der europäischen Regionalpolitik wird seit Jahren das Ziel verfolgt, die Voraussetzungen für Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit weniger entwickelter Regionen zu verbessern. Zu diesem Zweck wurden spezifische Programme aufgestellt. Auf dieser Grundlage wurde ein ausgefeiltes System zur Verteilung finanzieller Ressourcen geschaffen. In vielen Fällen haben die betroffenen Regionen wirtschaftliche Fortschritte, gelegentlich sogar große Fortschritte, als Ergebnis dieser Politik der Europäischen Union gemacht.

3.4

Die Bewertung der Regionen in Europa war daher bisher auf eine Untersuchung derjenigen Regionen beschränkt, die über die Strukturfonds gefördert wurden.

3.5

Die relativ gesehen günstige oder ungünstige wirtschaftliche und soziale Entwicklung anderer Regionen darf nicht vernachlässigt werden. Der EWSA hält eine diesbezügliche eingehende Untersuchung auf europäischer Ebene für erforderlich. Diese Untersuchung ist auch im Hinblick auf die Debatte über den Dritten Bericht über den regionalen Zusammenhalt wünschenswert, da hier neue Ansätze entwickelt werden sollen. Ferner könnte hierdurch das Verständnis der heutigen wirtschaftlichen Entwicklungen und ihrer Auswirkungen auf die Anpassung der Gesellschaft, der Lebens- und Arbeitsbedingungen verbessert werden. Schließlich kann eine solche Untersuchung zu einer Anpassung einiger EU-Politiken führen, um spezifische regionale Entwicklungen und Erfordernisse, auch der großstädtischen Ballungsgebiete, auf geeignete Weise zu berücksichtigen.

3.6

Bemerkenswert ist, dass überall — in zentral wie auch in dezentral verwalteten Staaten — eine Debatte über die gewünschte neue Ausgewogenheit zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung geführt wird. Die staatlichen Behörden prüfen sowohl neue Bottom-up-Ansätze als auch Top-down-Ansätze. Diese Prozesse sind aufgrund von Verwaltungstraditionen und alteingesessenen Interessen in den betroffenen Regionen selbstverständlich schwer in die Praxis umzusetzen. Trotz institutioneller Blockaden der einen oder anderen Seite zeichnet sich doch eine immer größere Einsicht für die Notwendigkeit einer integrierten Verwaltung der großstädtischen Ballungsgebiete im Interesse des Wohlergehens und des Wohlstands der Bürger und Unternehmen ab.

3.7

Die großstädtischen Ballungsräume in Europa können leicht in verschiedene Kategorien eingeteilt werden. Einerseits gibt es Metropolen wie z. B. London, Paris, die Region Rhein-Ruhr, die Randstad oder Madrid mit jeweils mehr als 5 Millionen Einwohnern, andererseits jedoch auch in fast allen Mitgliedstaaten einige weniger große, aber mitunter bereits erfolgreiche und sehr ehrgeizige großstädtische Ballungsgebiete mit großem Entwicklungspotenzial, wie z.B. im Umkreis der Hauptstädte und um wichtige Wirtschaftszentren herum.

3.8

Wie bereits erwähnt, waren einige dieser Wirtschaftszentren früher strukturschwache Gebiete. Sie verdanken ihren Aufschwung gemeinsamen Bemühungen öffentlicher und privater Akteure in der Region. Es sollte hinzugefügt werden, dass sich großstädtische Ballungsgebiete in den neuen Mitgliedstaaten in einer Übergangsphase befinden und sich ihre eigenen komparativen Vorteile schaffen werden, um sich auf den internationalen Märkten behaupten zu können.

3.9

Auf europäischer Ebene entstehen immer mehr großstädtische Ballungsgebiete. 1993 haben sich deutsche großstädtische Ballungsgebiete in einem Projekt „Zukunftsregionen“ zusammengeschlossen. 2003 forderte die britische Regierung die entsprechenden Regionen auf, Strategien für ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu entwickeln. Die dänische Regierung unterstützt die Initiative für eine aufsehenerregende grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen dem dänischen Kopenhagen und dem schwedischen Malmö, um diesen Raum zu einem wichtigen Wirtschaftszentrum im Ostseeraum zu machen. In den Niederlanden wird in jüngster Zeit die Entwicklung der Randstad hin zu einem großstädtischen Ballungsgebiet internationaler Größenordnung gefördert. In Spanien wird in Bezug auf Barcelona und Bilbao ähnliches versucht, und es gibt noch weitere Beispiele.

3.10

In den Mitgliedstaaten vollzieht sich die Regionalisierung schrittweise, was sich auf den Aufbau der Verwaltung der großstädtischen Ballungsgebiete und ihre Kapazitäten für die Steuerung ihrer wirtschaftlichen Entwicklung auswirkt. Zugleich bemühen sich verschiedene Staaten aktiv um die wirtschaftliche Entwicklung der Großstädte. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Initiative der britischen Regierung, die eine Arbeitsgruppe gebildet hat, in der die acht großen Kernstädte bzw. „Core Cities“, neun regionale Entwicklungsagenturen und mehrere Ministerien vertreten waren, um ein Aktionsprogramm zur Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Großstädte und somit der Wettbewerbsfähigkeit des ganzen Landes aufzustellen (6). Die französische Regierung stellte im Anschluss an die Veröffentlichung eines Berichts über die Städte in Europa (7) eine nationale Strategie auf, um die Attraktivität der großen französischen Metropolen für Europa zu steigern (8).

3.11

Die jüngere Geschichte zeigt eindeutig, dass sich die Einstellung in Bezug auf die Entwicklung der großstädtischen Regionen in unserer Zeit ändert. Konsultationsstrukturen in diesem Bereich bestehen, wenn überhaupt, nur auf nationaler Ebene. Neben den nationalen Konsultationsstrukturen gibt es jedoch auch Initiativen zur Förderung europäischer Plattformen, auf denen sich die wesentlichen Akteure im Bereich der Stadtentwicklung treffen. Eurocities z. B. zum Thema der Wissensgesellschaft und, in jüngerer Zeit, METREX (Network of European Metropolitan Regions and Areas). Insgesamt finden diese Kontakte und Treffen jedoch nicht systematisch statt. Gleichzeitig scheint aber auch das Klima für strukturiertere Initiativen günstig zu sein.

4.   AKTUELLE ENTWICKLUNGEN

4.1

Die Metropolenbildung zeichnet sich durch die Zunahme städtischer Ballungsgebiete aus sowie durch eine zunehmende Konzentration der Bevölkerung, der Wirtschaft und der Schaffung von Reichtum in einem geografischen Gebiet, das sich immer weiter ausdehnt und nicht genau abgegrenzt ist. Dieses Wachstum geht häufig einher mit einer sozialen und räumlichen Zersplitterung (soziale Segregation, räumliche Spezialisierung, Kriminalität und Unsicherheit). Eine Metropole hat, anders als eine Stadt, keine politische Institution. Ihre Probleme werden über Verhandlungen der Akteure auf zahlreichen Ebenen gelöst. Die räumliche Zersplitterung kann öffentliche und private Investitionen verlangsamen und behindern. Eine Regionalpolitik, die eine Verringerung dieser räumlichen Zersplitterung zum Ziel hat, indem sie die Verwaltung der großstädtischen Ballungsgebiete an die aktuellen Entwicklungen anpasst, ist daher zu begrüßen. Positive Beispiele in diesem Bereich sind Barcelona und Stuttgart. Sie zeigen, dass auch die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle spielt.

4.2

Die Globalisierung: Die städtischen Regionen in Europa werden durch Prozesse und durch eine Dynamik strukturiert, die sich zunehmend in einem globalen Zusammenhang abspielen. Die europäischen Großstädte sind Gelenke in einem globalen Gerüst von Metropolen, die sich in einem ständigen Entwicklungsprozess befinden. New York, London, Tokio, Hongkong, aber auch Frankfurt, Paris, die niederländische Randstad, Brüssel, Mailand und Madrid spielen hier eine große Rolle. Diese Metropolen „steuern“ die Weltwirtschaft über die internationalen Institutionen, Banken, internationalen Großunternehmen, die von dort aus gelenkt und kontrolliert werden, sowie mit Hilfe der Informations- und Kommunikationstechnologie. In den nächsten Jahren werden sich auch die wichtigsten asiatischen Metropolen in dieses Gefüge einreihen.

4.3

Die Europäisierung: der interaktive Prozess der politischen, wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und raumplanerischen Anpassung an die europäische Integration und die EU-Erweiterung. Die Vollendung des Binnenmarkts, die Einführung des Euro und die Erweiterung werden zu einer langfristigen und umfassenden Integration und Dispersion der Wirtschaftstätigkeit in der Europäischen Union beitragen. Je mehr nationale Grenzen abgebaut werden, desto mehr entwickelt sich eine natürliche Tendenz, die wirtschaftlichen Pole auf dem Kontinent zu stärken. Der allmähliche Aufbau regionenübergreifender und ggf. grenzüberschreitender Pole (Kopenhagen-Malmö, die niederländische und die belgische Provinz Limburg und Aachen, der Großraum Lille in Frankreich und Belgien) zeigt, dass die wirtschaftliche Entwicklung sich immer weniger an historisch bedingte und oftmals künstliche politische und administrative Grenzen hält.

4.4

Die großstädtischen Ballungsgebiete sind im Wesentlichen Orte der Forschung, Innovation und der Entstehung neuer Wirtschaftsaktivitäten. In ihnen konzentrieren sich Tätigkeiten mit großem Mehrwert, vor allem Dienstleistungen für Unternehmen. Die Informations- und Kommunikationstechnologien spielen dabei eine entscheidende Rolle. Die wirtschaftliche Dynamik nimmt vorrangig in den städtischen Ballungsgebieten, die privilegierte Orte für die Innovation, die Wissensgesellschaft und die Bildung darstellen, konkrete Form an.

4.5

Alle diese Gebiete sind durch physische und virtuelle Netze aller Art miteinander verbunden, die vom Umfang und der Bedeutung der Wirtschaftscluster in den einzelnen Regionen abhängen. Dieser Prozess wird sich vermutlich noch ausweiten und vertiefen. Die europäische Verkehrspolitik (transeuropäische Netze) fördert diese Netze ebenso zu Recht wie die Liberalisierung im Luftverkehr.

4.6

Die Lissabon-Strategie mit ihrem Ziel einer wissensbasierten wettbewerbsfähigen Gesellschaft unter Berücksichtigung des sozialen Zusammenhalts und der Nachhaltigkeit hat für die großstädtischen Ballungsgebiete eine besondere Bedeutung. Ihre Umsetzung könnte für die großstädtischen Ballungsgebiete eine neue Aufgabe darstellen.

4.7

Diese neue Aufgabe entspringt teilweise der zunehmenden Bedeutung der vernetzten Gesellschaft, die eine neue Grundlage für Wohlstand schafft, neue Investitionen anzieht und zu neuen Ansätzen bei der Bildung und Ausbildung junger Menschen und für den Arbeitsmarkt insgesamt führt. Daher besteht ein Wechselspiel zwischen dem neuerlichen Interesse an Städten und großstädtischen Ballungsgebieten und der modernen angewandten Technik, v.a. der IKT (Informations- und Kommunikationstechnologie) und der schnellen Internetanschlüsse, das sich stark auf das Leben der Bürger auswirkt. Durch die IKT werden die Produktions- und Dienstleistungsstrukturen und somit auch die Raumplanung, die Entwicklung der Städte und der großstädtischen Ballungsgebiete nachhaltig beeinflusst.

4.8

Durch die Globalisierung von Investitionen, die Mobilität des Wissens und die Interaktion zwischen Universitäten, Hochschulen, Technologieeinrichtungen und dem Privatsektor kann die Bildung von Wirtschaftsclustern nach dem berühmten „Diamant-Modell“ von Porter gefördert werden. Dies liefert eine wichtige Grundlage für die vernetzte Gesellschaft, in der die großstädtischen Ballungsgebiete eine Hauptrolle spielen.

4.9

Die großstädtischen Ballungsgebiete sind auch wichtige kulturelle und touristische sowie Freizeitzentren. Ihr baugeschichtliches Erbe ist ein wesentlicher Bestandteil ihrer Geschichte und ihrer Identität. Gerade durch ihre Universitäten, Museen, Theater, Opernhäuser und Konzertsäle wird die europäische Kultur erhalten und verbreitet. Sie spielen eine wichtige Rolle für die Schaffung und Verbreitung von Kultur. In den Metropolen finden auch die größten Sportveranstaltungen und Musikkonzerte als Massenattraktionen statt.

4.10

Der Kosmopolitismus der Metropolen ist ein wichtiger Baustein für die Entwicklung der Medienindustrie. Die Medienindustrie (Presse, Bücher, Radio, Fernsehen, Filme, Video, Werbung, Telekommunikation) und die Kreativindustrie insgesamt sind hier boomende Branchen.

4.11

Akteure sowohl der sozioökonomischen wie der kulturellen Organisationen unternehmen Anstrengungen, um Integrations- und Mitbestimmungsprozesse neu zu definieren. Neben dem Handeln der Behörden kommt der Zivilgesellschaft bei der Dynamik der Städte eine sehr wichtige Rolle zu. In vielen Fällen ist der Erfolg eines großstädtischen Ballungsgebiets weitgehend durch die Kooperation und die Interaktion der öffentlichen und privaten Ebene begründet.

4.12

Diese Kooperation und Interaktion zwischen öffentlicher und privater Ebene sind für die großstädtischen Ballungsgebiete von entscheidender Bedeutung. Erfahrungsgemäß sind sie auf dieser Ebene leichter und erfolgreicher durchzuführen als auf nationaler Ebene. Die Ebene der großstädtischen Ballungsgebiete eignet sich grundsätzlich dafür, mit allen beteiligten Akteuren die Raumplanungsziele für eine städtische Region und die für die Umsetzung erforderlichen Mittel festzulegen.

4.13

Im Gegensatz zu Tendenzen, die in den USA zu beobachten sind, entwickeln sich die europäischen Städte heute zunehmend sowohl als Städte wie auch als Ballungsgebiete. Die Stadtzentren sind immer noch Aktivitätspole und Orte der Begegnung. Die großstädtischen Ballungsgebiete spielen ferner eine wesentliche Rolle für die Festigung des europäischen Gesellschaftsmodells.

4.14

Die europäische Wirtschaft befindet sich mit der Erweiterung und der Integration des Binnenmarkts in einer wichtigen Übergangsphase. Dieser Prozess setzt in beiderlei Hinsicht sowohl Wettbewerb als auch Partnerschaft zwischen den einzelnen Gebieten, v.a. den großstädtischen Ballungsgebieten, voraus. Diesen kommt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle zu. Das Fehlen einer Verwaltung auf der Ebene der großstädtischen Ballungsgebiete stellt eine Schwäche für die Aufstellung und Umsetzung der Strategien für die wirtschaftliche Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit sowie für Partnerschaftsmaßnahmen dar.

5.   SPEZIFISCHE SOZIALE ASPEKTE

5.1

Die Großstädte sind in stärkerem Maße als andere Gebiete von Problemen im Zusammenhang mit dem sozialen Zusammenhalt und dem territorialen Ungleichgewicht betroffen. Die großstädtischen Ballungsgebiete können Beispiele für die Wiederherstellung des sozialen und territorialen Gleichgewichts in der Europäischen Union sein. Es muss jedoch immer berücksichtigt werden, dass diese Verbesserungen nur dann erzielt werden können, wenn ihre wirtschaftliche Entwicklung auf einer soliden und dauerhaften Grundlage aufbaut.

5.2

Jedes großstädtische Ballungsgebiet hat seinen eigenen Charakter. Doch trotz der kulturellen und sozialen Unterschiede sowie der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung sind in ganz Europa ähnliche Phänomene zu erkennen. Glücklicherweise sind sich sowohl öffentliche als auch private Akteure in den meisten Fällen immer mehr der Notwendigkeit einer Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle bewusst, allerdings ist häufig auch noch sehr viel zu tun.

5.3

Wo der wirtschaftliche Wandel stattgefunden hat bzw. gerade stattfindet, verursachte bzw. verursacht der Übergang zur nächsten Phase des Konjunkturzyklus hohe Arbeitslosigkeit, vor allem bei den Jugendlichen und den über Fünfzigjährigen. Vor allem die großstädtischen Ballungsgebiete sind hiervon betroffen. Es muss jedoch auch gesagt werden, dass dieser schmerzhafte Prozess häufig zur Schaffung völlig neuer wirtschaftlicher Tätigkeiten mit neuen Beschäftigungsmöglichkeiten führt, die besser für die Zukunft gerüstet sind.

5.4

Der wirtschaftliche Wandel führt auch zu Standortverlagerungen, vor allem arbeitsintensiver Branchen, was eine strukturelle Arbeitslosigkeit in monoindustriellen Regionen hervorruft. Dieses Phänomen zeigt sich auch in großstädtischen Ballungsgebieten, die häufig über die Fähigkeit verfügen, ihre wirtschaftliche Grundlage zu ändern. Im Rahmen dieses Modernisierungsprozesses ist oft der Übergang von der Schwerindustrie zur Dienstleistungs- und Hochtechnologiegesellschaft zu beobachten, beispielsweise in den Regionen Bilbao, Lille oder Rhein-Ruhr.

5.5

Immer mehr Migranten aus Drittländern strömen in die EU. Zwar bestehen große Unterschiede in der Art, wie Migranten in den einzelnen Ländern und Städten integriert werden, doch steht Europa hier insgesamt zweifellos einem großen Problem gegenüber, das insbesondere die großstädtischen Ballungsgebiete betrifft. Der EWSA hat in seinen Stellungnahmen schon mehrfach gefordert, dass die Union gemeinsame Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Einwanderungs- und Asylpolitik ausarbeiten solle. Die Union wird neue Wirtschaftsmigranten aus demographischen, sozialen und beschäftigungspolitischen Gründen aufnehmen (9), und zwar sowohl Fachkräfte als auch weniger qualifizierte Arbeitskräfte. Durch die gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften muss die legale Einwanderung gefördert und der illegalen Einwanderung ein Riegel vorgeschoben werden. Ferner muss die Union die Integration der Migranten in das Aufnahmeland erleichtern und Diskriminierungen vermeiden (10).

5.6

In vielen Städten und großstädtischen Ballungsgebieten kommt es zu einer Konzentration von Einwanderern, die auf Grund ihres Mangels an beruflichen Qualifikationen, ihrer schlechten Sprachkenntnisse, von gesellschaftlicher Diskriminierung und von fehlenden integrationsfördernden Maßnahmen keinen Zugang zu qualifizierten Arbeitsplätzen finden. Dies führt zu Ungleichheiten in Bezug auf das Einkommen und damit auch in Bezug auf die Wohnverhältnisse und die Verfügbarkeit öffentlicher Dienstleistungen, u. a. Schulen und Gesundheitsversorgung. Die von diesem Problem stark betroffenen, benachteiligten Stadtviertel bedürfen erhöhter Aufmerksamkeit.

5.7

Die Metropolenbildung führt häufig zur Zunahme der sozialen Ungleichheiten und zur Verschärfung der räumlichen Disparitäten. Hierbei findet eine Konzentration sozial benachteiligter Gruppen, darunter einer Großzahl jugendlicher Arbeitsloser und älterer Niedrigverdiener, in bestimmten Stadtvierteln statt, in denen es dadurch zu einer Kumulierung vieler Nachteile kommt. Die Ausgrenzung der benachteiligten Bevölkerungsgruppen und die unzulängliche Qualität der öffentlichen Dienstleistungen in diesen Vierteln verstärken sich gegenseitig und führen zu praktisch ausweglosen Situationen. Häufig haben die Ursachen für die Ausgrenzung in den Städten eine kumulierende Wirkung, auch wenn viele Jahre lang Maßnahmen zur Aufwertung und Wiedereingliederung krisenbetroffener Stadtviertel unternommen wurden. Für einen möglichst großen Erfolg sind großflächig angelegte, auf der Ebene des großstädtischen Ballungsgebiets koordinierte Maßnahmen erforderlich.

5.8

Die Sicherheit in großstädtischen Ballungsgebieten ist häufig ein aktuelles Thema, das sich auch wesentlich auf den sozialen Zusammenhalt und eine ausgewogene Entwicklung auswirken kann. Es ist paradox, dass großstädtische Ballungsgebiete durch ihre Vorzüge und demographischen Besonderheiten bestimmten Risiken extrem ausgesetzt sind. Einerseits kann jeder noch so kleine Unsicherheitsfaktor, der eines ihrer lebenswichtigen Organe bedroht, ihr gesamtes System empfindlich stören. Andererseits werden durch die Großstadtcharakteristika Bevölkerungs- und Warenströme gefördert, die zum Aufbau illegaler Aktivitäten in Verbindung mit nationalen oder internationalen kriminellen Netzen führen können. Sie können die Tätigkeiten von Aktivisten erleichtern, die Anonymität und logistische Voraussetzungen ausnutzen und aus dem vorhandenen menschlichen Potenzial schöpfen. Die Nervenzentren der Metropolen sind zur vorrangigen Zielscheibe der neuen Formen des Terrorismus geworden. Diese Entwicklungen sind mit Blick auf die derzeitige politische Weltlage von besonderem Interesse.

5.9

Der Umweltschutz und die Einhaltung der Ziele einer nachhaltigen Entwicklung sind weitere Probleme, die sich den großstädtischen Ballungsgebieten stellen. Sie müssen internationale Verpflichtungen einhalten: das Kyoto-Protokoll, die Agenda 21, den Vertrag von Maastricht, das Gemeinschaftsprogramm für Maßnahmen im Hinblick auf eine dauerhafte und umweltgerechte Entwicklung 1993 bis 1998. Zu diesem Zweck müssen die wirtschaftliche Entwicklung und der Umweltschutz, die sich gegenseitig verstärken können, über die Organisation der Stadtentwicklung (Verkehrssysteme, Ausweisung von Naturräumen, Abfall- und Abwasserentsorgung, Lärmreduzierung, Schutz historischer Zentren, Schutz des Natur- und landwirtschaftlichen Erbes usw.) darauf abgestimmt werden.

5.10

Das schnelle Wachstum einiger großstädtischer Ballungsgebiete, gepaart mit der Ausweitung und Intensivierung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten, führt zu Problemen für die Infrastruktur und den öffentlichen und privaten Verkehr. Die zunehmende Verstopfung der Straßen macht aus ökologischen und ökonomischen Gründen bessere technische Lösungen erforderlich. Jede Umweltschutzmaßnahme verursacht dem öffentlichen und dem privaten Sektor hohe Kosten. Die dringend erforderlichen öffentlichen Mittel sind generell nicht ausreichend, und bislang ist der Erfolg öffentlich-privater Partnerschaften eher bescheiden.

5.11

Die Probleme in den großstädtischen Ballungsgebieten werden verschärft, wenn die Verwaltung der Regionen nicht Schritt hält mit der wirtschaftlichen Entwicklung und der Bevölkerungszunahme, der zunehmenden Bebauung und der wachsenden Zahl von Pendlern. Häufig spiegelt die Verwaltungsstruktur von großstädtischen Ballungsgebieten ein Bild längst vergangener Zeiten wider. Dies wiederum beeinträchtigt eine effiziente Verwaltungsführung und somit auch eine effiziente Wirtschaftspolitik. Eine gute Koordination zwischen Verwaltung und Wirtschaft bzw. im weiteren Sinne zwischen öffentlichem und privatem Sektor ist eine der Voraussetzungen für eine gute „Governance“ der großstädtischen Ballungsgebiete.

5.12

In dieser Hinsicht variiert die Lage sehr stark. Mitunter ist das Ballungsgebiet kleiner als das Verwaltungsgebiet, zu dem es gehört. Häufiger verteilt sich ein Ballungsgebiet auf mehr als ein Verwaltungsgebiet. Fast immer umfasst ein großstädtisches Ballungsgebiet mehrere Gemeinden oder andere Verwaltungseinheiten. Die meisten regionalen und nationalen Behörden betrachten diese Tatsache als gegeben und nicht verhandelbar.

5.13

Jede Regierung hat ihre eigene Problemlösungsstrategie. Die Großstädte versuchen, voneinander zu lernen, doch gibt es zu wenig Beratung und Austausch auf EU-Ebene, um ein Benchmarking oder bewährte Verfahren zu fördern.

5.14

Zwar sind die oben beschriebenen Phänomene charakteristisch für alle großstädtischen Ballungsgebiete, doch gehen die einzelnen Regionen sehr unterschiedlich hiermit um. Es gibt herausragende Beispiele, bei denen die regionale Regierung, i.d.R. mit Unterstützung der nationalen Regierung, gemeinsam mit dem privaten Sektor und der organisierten Zivilgesellschaft Veränderungen vornimmt und neue Strukturen für die Zukunft schafft. Durch solche Maßnahmen erfahren die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen eine Verbesserung und diese Regionen werden sichtbar wettbewerbsfähiger und gesellschaftlich besser angepasst. Die Europäische Union sollte solche Beispiele dadurch optimieren, dass sie Konsultationen im Hinblick auf bewährte Verfahren durchführt und Mittel und Wege der Union für Verbesserungen erörtert.

6.   EUROPÄISCHE REGIONALSTATISTIKEN UND DIE GROSSSTÄDTISCHEN BALLUNGSGEBIETE

6.1

Die europäische Statistik hat sich nach Maßgabe der europäischen Politik entwickelt. So ist dank der Gemeinsamen Agrarpolitik zwar die Zahl der Rinder und Schweine pro Region bekannt, doch liegen keine Angaben über die Beschäftigung oder den Mehrwert der Wirtschaftszweige der Großstädte (großstädtischen Ballungsgebiete) und ihren wirtschaftlichen Einflussbereich vor, da es keine diesbezügliche Politik gibt, jedoch auch aufgrund der geringfügigen Mittel, die Europa bis vor kurzem für städtische Statistiken aufgewendet hat. Dem Referat für Städte und Regionen von Eurostat gehören nur fünf Mitarbeiter an. Die Mittelausstattung von Eurostat steht in keinem Verhältnis zu seinem Auftrag.

6.2

Die vergleichenden sozioökonomischen Studien über großstädtische Ballungsgebiete für das gesamte Gebiet der Europäischen Union, die von den mit der wirtschaftlichen Entwicklung und Regionalförderung beauftragten Behörden, den Universitäten, Fachberatern oder der Europäischen Kommission durchgeführt werden, sind häufig nur recht vage und unvollständige Beschreibungen. Sie basieren auf den von Eurostat veröffentlichten Regionalstatistiken. Die Angaben von Eurostat bieten den Vorzug, dass sie auf europäischer Ebene einheitliche Definitionen verwenden. Doch verfügen sie auch über einen größeren Nachteil: Die regionale Gliederung von Eurostat, die Klassifikation der Gebietseinheiten für die Statistik (NUTS), ist ein Flickenteppich nationaler Verwaltungseinheiten. Diese Einteilung ist ein Bild der politischen und administrativen Geschichte der Staaten. Abgesehen von einigen Ausnahmen ist sie geografisch nicht geeignet, Angaben über wirtschaftliche, soziale und ökologische Gegebenheiten der großstädtischen Ballungsgebiete auf europäischer Ebene zuverlässig zu erfassen und zu vergleichen. Die NUTS-Gliederung wurde nicht hierfür geschaffen.

6.3

Die Eurostat-Statistiken liefern daher keine Angaben zur Bevölkerung, zur Wirtschaftstätigkeit, Arbeitslosigkeit oder Produktion in großstädtischen Ballungsgebieten, folglich ist auch keine Bewertung bzw. kein Vergleich strategischer Indikatoren möglich, wie z.B. Bevölkerungswachstum, Mehrwert der Produktion, Beschäftigung, Arbeitslosigkeit oder Gesamtproduktivität pro Arbeitsplatz. Die Untersuchung von Studienergebnissen zu den sog. großstädtischen Ballungsgebieten privater Fachberater oder staatlicher Einrichtungen zeigt, dass das Fehlen zuverlässiger und geografisch vergleichbarer Angaben zu falschen bzw. mitunter widersprüchlichen Schlussfolgerungen in Bezug auf die in großstädtischen Ballungsgebieten Europas „beobachteten“ sozioökonomischen Entwicklungen führen kann (beispielsweise bezüglich der Produktivitätsentwicklung in einer Region).

6.4

Das Fehlen von Angaben über die sozioökonomische Entwicklung der großstädtischen Regionen und Ballungsgebiete in Europa ist aus zwei wesentlichen Gründen nachteilig:

6.4.1

Die großstädtischen Ballungsgebiete sind der Motor für das Wachstum. Die dort entstehenden Wirtschaftstätigkeiten und die sich hieraus ergebenden Vorteile breiten sich auf andere städtische Zentren in den einzelnen Ländern aus. Um das Beste aus den Möglichkeiten und Beschränkungen zu machen, die sich aus dem geänderten internationalen Umfeld ergeben, benötigen die großstädtischen Ballungsgebiete ein ständig aktualisiertes Benchmarking ihrer Leistungsfähigkeit auf europäischer Ebene.

6.4.2

Ferner sollte es auf europäischer Ebene zuverlässige Analysen und Vergleiche wichtiger Aspekte geben, darunter die Einwanderungsproblematik, die Beschäftigungsqualität, Armut und Ausgrenzung, Umwelt, Sicherheit etc.

6.5

Die Vereinigten Staaten stellen seit mehreren Jahrzehnten vergleichbare und sehr aktuelle Angaben zu ihren 276 großstädtischen Ballungsgebieten zusammen, die über das Internet (11) jedermann zugänglich sind. In Europa, wo jedes Land seine eigene Definition von Städten (und teilweise auch von Metropolen) gebraucht, ist es schwieriger, eine gemeinsame Definition für großstädtische Ballungsgebiete aufzustellen. Unter der Voraussetzung, dass es heute wichtig ist, für die Umsetzung der Lissabon-Strategie über zuverlässige und vergleichbare Angaben zu großstädtischen Ballungsgebieten in Europa zu verfügen, hält der EWSA den Zeitpunkt für gekommen, dass Eurostat gemeinsam mit den nationalen Statistikämtern eine Definition für diese aufstellt und zahlreiche einschlägige Daten gesammelt werden.

6.6

Das von der Europäischen Kommission eingeleitete und derzeit durchgeführte zweite Städte-Audit wird Angaben zu den Lebensbedingungen der Einwohner von 258 Städten und Ballungsgebieten liefern. Dieses Projekt wird einen wertvollen Beitrag zu den Überlegungen über den sozialen Zusammenhalt leisten. Dennoch wird es nicht zur Aufstellung vergleichbarer sozioökonomischer Indikatoren für die großstädtischen Ballungsgebiete auf europäischer Ebene beitragen. Die Indikatoren werden nämlich auf Ebene der Städte und Ballungsgebiete jedes Landes nach ihrer jeweiligen Definition bewertet. Ferner werden die Indikatoren für London, Paris und Berlin in den Grenzen ihrer jeweiligen Verwaltungsregion (Greater London, Île-de-France und Bundesland Berlin) bewertet.

6.7

Mit dem Projekt ESPON (Europäisches Beobachtungsnetzwerk für Raumordnung) soll das Wissen über die diesbezüglichen Gegebenheiten verbessert werden. In diesem Zusammenhang mangelt es in der gesamten Union insbesondere an Wirtschaftsdaten für die kommunale Ebene, jedoch auch für die NUTS 3-Ebene. Dieses Projekt zeigt die zahlreichen Mängel des europäischen Statistiksystems sehr anschaulich auf.

6.8

Alles bisher Gesagte unterstreicht, dass Eurostat personell und finanziell aufgestockt werden muss, wenn es zuverlässige und vergleichbare Angaben zu Städten und großstädtischen Ballungsgebieten produzieren soll.

6.9

Eine vor kurzem veröffentlichte Studie, die auf Angaben der Europäischen Arbeitskräfteerhebung innerhalb der Grenzen großstädtischer Ballungsräume mit mehr als 1 Million Einwohnern in Nordwesteuropa aufbaut, verdient es, erwähnt zu werden (12). Sie zeigt, dass es möglich ist, für Großstädte dieser Größenordnung, die durch gemeinsame Kriterien abgegrenzt werden, auf europäischer Ebene zu Grenzkosten zahlreiche vergleichbare sozioökonomische Daten zu erzeugen, indem auf eine jährlich durchgeführte und von Eurostat koordinierte Erhebung der nationalen Statistikämter zurückgegriffen wird. Diese Studie sollte versuchsweise auf weitere Großstädte in Europa ausgeweitet werden.

7.   SCHLUSSFOLGERUNGEN UND EMPFEHLUNGEN

7.1

Seit einigen Jahrzehnten finden in mehreren Mitgliedstaaten und auf regionaler Ebene Untersuchungen und Beratungen über die neue Realität der großstädtischen Ballungsgebiete in Europa statt. Doch obwohl diese Ballungsgebiete auf nationaler und internationaler Ebene viel sichtbarer als früher sind, wurde ihre Bedeutung im Rahmen der Umsetzung der Lissabon-Strategie bislang nicht anerkannt.

7.2

Den großstädtischen Ballungsgebieten kommt eine Schlüsselfunktion für die Umsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ziele der Lissabon-Strategie zu. Sie sind das wesentliche Terrain für die Durchführung der Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Forschung, Innovationen, Spitzentechnologien, Entwicklung neuer Tätigkeiten und Förderung von Unternehmensgeist. In ihrer Eigenschaft als Verkehrs- und Telekommunikations-Knotenpunkte erleichtern sie die Vernetzung der Unternehmen, der Hochschulen und der Forschungszentren. Der EWSA unterstreicht, dass eine bessere Mobilisierung des wirtschaftlichen Wachstumspotenzials von Europa die aktive Unterstützung aller öffentlichen und privaten Akteure, die an der nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung der großstädtischen Ballungsgebiete beteiligt sind, erfordert. Anders ausgedrückt, in Anbetracht der wichtigen Rolle der großstädtischen Ballungsgebiete in Europa ist die Lissabon-Strategie zum Scheitern verurteilt, wenn ihre Ziele nicht in den großstädtischen Ballungsgebieten verwirklicht werden können.

7.3

Ein Grund für die unzureichende Beachtung dieser Entwicklung auf Regierungsebene liegt in der Tatsache, dass die politisch-administrativen Regionen nur selten den geografischen Grenzen der großstädtischen Ballungsgebiete entsprechen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gibt es daher auf europäischer Ebene keinerlei zuverlässige Daten, die eine vergleichende Beschreibung der sozioökonomischen Lage und der ihr zu Grunde liegenden Einflüsse in den großstädtischen Ballungsgebieten ermöglichen würden.

7.4

Nach Ansicht des EWSA liegen folgende Maßnahmen im Interesse der Union:

Die großstädtischen Ballungsgebiete der 25 EU-Mitgliedstaaten sind zu definieren;

jedes Jahr sollten einschlägige Daten über diese Gebiete zusammengetragen werden, insbesondere die Angaben der Europäischen Arbeitskräfteerhebung;

die wichtigsten Indikatoren der Lissabon-Strategie sollten für die großstädtischen Ballungsgebiete bewertet werden;

in diesen Ballungsgebieten müssen Cluster von Wirtschaftszweigen mit hohem Mehrwert ausgemacht werden;

die Kommission sollte regelmäßig einen Bericht über die wirtschaftliche und soziale Lage der großstädtischen Ballungsgebiete und ihre Einstufung vorlegen.

7.5

Die Beschaffung dieser Informationen und ihre allgemeine Zugänglichkeit dürfte folgende Vorteile bewirken:

Förderung der Anerkennung der großstädtischen Ballungsgebiete und Erweiterung der Kenntnisse über ihre sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Gegebenheiten;

Erleichterung der Bewertung ihrer Vor- und Nachteile auf europäischer Ebene;

Verbesserung der Konzipierung und Durchführung europäischer und nationaler Politiken durch ihre Anpassung an die besonderen Wesenszüge der Ballungsgebiete;

Information der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften über die wettbewerbspolitische Positionierung ihres jeweiligen Gebiets auf europäischer Ebene – diese Art von Information ist derzeit, wenn es sie überhaupt gibt, kostspielig und unzuverlässig;

Bereicherung der Debatte über die europäische Regionalpolitik durch die Förderung des Dialogs zwischen allen Betroffenen über die objektiven Grundlagen;

Bereitstellung maßgeblicher Informationen für den Privatsektor im Hinblick auf nachhaltige Unternehmensstrategien.

7.6

Aus diesen Gründen unterstützt der EWSA nachdrücklich den 2003 von METREX vorgelegten Vorschlag, ein europäisches Programm für die großstädtischen Ballungsgebiete zu schaffen (13). Ein Programm in diesem Sinne, METROPOLITAN könnte als Forum für Treffen und für den Meinungsaustausch genutzt werden. Ferner könnten in diesem Rahmen Arbeitsgruppen eingerichtet werden, die bewährte Verfahren in den in dieser Stellungnahme behandelten Bereichen untersuchen und verbreiten.

7.7

Der EWSA begrüßt, dass der „Wettbewerbsfähigkeit“ und der Verknüpfung der neu gestalteten Regionalpolitik mit der Lissabon-Strategie im Dritten Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt wesentliche Bedeutung eingeräumt wird, was für die großstädtischen Ballungsgebiete besonders wichtig ist. Für sie könnten einige Ziele unter dem Titel „Wettbewerbsfähigkeit“ und „Wissen“ über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung gefördert werden.

7.8

Der EWSA hält die Einrichtung einer Abteilung „städtische Großräume“ innerhalb von Eurostat, die jedes Jahr die betreffenden Daten zusammenträgt, für unerlässlich.

7.9

Dass die geografische Abgrenzung aller großstädtischen Ballungsgebiete und die Beschaffung vergleichbarer Informationen und Angaben mit Schwierigkeiten verbunden sein könnte, darf nicht als Vorwand für eine eventuelle Untätigkeit genutzt werden. Daher schlägt der EWSA vor, so schnell wie möglich ein seinen Empfehlungen entsprechendes Pilotprogramm mit einer begrenzten Zahl von Ballungsgebieten aufzustellen, und zwar in Zusammenarbeit mit Eurostat, den nationalen Statistikämtern und den betroffenen großstädtischen Ballungsgebieten.

7.10

Der EWSA hofft, dass die europäischen Institutionen den in dieser Stellungnahme skizzierten Leitlinien zustimmen werden. Daher würde er sich neben der Einrichtung eines Forums mit den großstädtischen Ballungsgebieten und der Europäischen Kommission wünschen, dass die Lage dieser Ballungsgebiete auch auf dem Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ und dem Informellen Rat Raumplanung und Städtefragen erörtert würde.

Brüssel, den 1. Juli 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  In seiner Stellungnahme vom 14. Mai 1998 zum Thema „Wege zur Stadtentwicklung in der Europäischen Union“ entwickelte der Ausschuss der Regionen das Konzept des funktionalen Stadtgebiets, um eine Metropole mit ihrem Einflussbereich zu beschreiben. Die Städte haben sich erst zu Ballungsgebieten und dann zu Metropolen entwickelt, die sich dann zu städtischen Regionen ausgeweitet haben. Dieses Konzept betont ferner die bestehenden Wechselbeziehungen zwischen den territorialen Einheiten, die eine städtische Region bilden: Arbeitsmarkt, Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort, Verkehrsnetze, Handelszentren, Ansiedlung neuer Wirtschaftstätigkeiten, Immobilienmarkt, Parkanlagen, Umweltschutz usw.

(2)  Beispielsweise 500 000 Einwohner (Definition gemäß METREX), vgl. die Auflistung der großstädtischen Ballungsgebiete in Europa mit mehr als 500 000 Einwohnern in Anhang I.

(3)  Beispielsweise 10 % der Erwerbsbevölkerung mit einem Arbeitsplatz im Zentrum, die in den Gemeinden im Umland wohnen (Definition gemäß GEMACA).

(4)  Die Randstad besteht aus dem Großraum Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und Utrecht. Die Region Rhein-Ruhr setzt sich aus dem Großraum Bonn, Köln, Düsseldorf, Duisburg, Essen und Dortmund zusammen. Die Region Wien-Bratislava besteht aus den Großräumen Wien und Bratislava. Die Öresundregion umfasst den Großraum Kopenhagen/Malmö, während die französisch-belgische Region Lille aus mehreren Mittelstädten sowie zahlreichen kleineren Städten und Gemeinden besteht.

(5)  Beispiele: London: 7 400 000 Einwohner in der Verwaltungsregion (NUTS 2) im Vergleich zu 13 230 000 im Ballungsraum London. Département du Nord (NUTS 3): 2 600 000 Einwohner im Vergleich zu 970 000 Einwohnern im französischen Teil des Großraums Lille.

(6)  „Cities, regions and competitiveness“, Office of the Deputy Prime Minister and other public partners, Juni 2003.

(7)  Les villes européennes, analyse comparative — Céline Rozenblat, Patricia Cicille (DATAR 2003).

(8)  www.datar.gouv.fr — CIADT (interministerieller Ausschuss für Raumordnung und Raumentwicklung) vom 18. Dezember 2003.

(9)  Mitteilung der Kommission über Einwanderung, Integration und Beschäftigung (KOM(2003) 336 endg.).

(10)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Einwanderung, Integration und Beschäftigung“, ABl. C 80 vom 30.3.2004, S. 92.

(11)  http://data.bls/gov/servlet/SurveyOutputSerlet.

(12)  Die Studie wurde im Rahmen des Programms INTERREG II von GEMACA (Group for European Metropolitan Comparative Analysis) durchgeführt und in den Cahiers de l'IAURIF No 135 veröffentlicht; www.iaurif.org/en/doc/studies/cahiers/cahier_135/index.htm.

(13)  METREX — The network of European Regions and Areas — Wesentliche Ziele des vorgeschlagenen europäischen Programms METROPOLITAN:

1 —

Anerkennung der Bedeutung der Metropolen in Europa,

2 —

Förderung einer effektiven „Metropolitan Governance“,

3 —

Förderung der Aufstellung integrierter Strategien für Metropolregionen durch alle Stakeholder,

4 —

Förderung einer Politik für Metropolregionen zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit, ihres sozialen und territorialen Zusammenhalts.