23.1.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/21


Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Rejonowy w Słupsku (Polen), eingereicht am 19. September 2022 — Strafverfahren gegen M. S., J. W., M. P.

(Rechtssache C-603/22)

(2023/C 24/30)

Verfahrenssprache: Polnisch

Vorlegendes Gericht

Sąd Rejonowy w Słupsku (Polen)

Beteiligte des Ausgangsstrafverfahrens

M. S., J. W., M. P., Prokurator Rejonowy w Słupsku, D.G. — Prozesspfleger von M.B. und B.B.

Vorlagefragen

1.

Sind Art. 6 Abs. 1, 2, 3 Buchst. a und 7 sowie Art. 18 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 25, 26 und 27 der Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind (1), dahin auszulegen, dass die handelnden Behörden ab dem Zeitpunkt, zu dem gegen einen Verdächtigen, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ein Tatvorwurf erhoben wird, verpflichtet sind, sicherzustellen, dass das Kind das Recht auf Unterstützung durch einen Pflichtverteidiger hat, wenn es keinen Wahlverteidiger hat (weil das Kind oder der Träger der elterlichen Verantwortung nicht von sich aus für einen solchen Beistand gesorgt hat), und die Beteiligung eines Verteidigers an Handlungen im Ermittlungsverfahren wie der Vernehmung des Minderjährigen als Beschuldigter sicherzustellen, und dass sie einer Handlung in Form der Vernehmung eines Minderjährigen ohne Beteiligung eines Verteidigers entgegenstehen?

2.

Ist Art. 6 Abs. 6 und Abs. 8 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 16, 30, 31 und 32 der Richtlinie 2016/800 dahin auszulegen, dass es in Sachen, die mit einer Freiheitsstrafe bedrohte Straftaten betreffen, in keinem Fall zulässig ist, von der unverzüglichen Unterstützung durch einen Verteidiger abzuweichen, und dass eine vorübergehende Abweichung von der Anwendung des Rechts auf Unterstützung durch einen Verteidiger im Sinne von Art. 6 Abs. 8 der Richtlinie nur im vorgerichtlichen Stadium des Verfahrens und nur unter den in Art. 6 Abs. 8 Buchst. a und b genau genannten Umständen möglich ist, die in der grundsätzlich anfechtbaren Entscheidung über die Vernehmung in Abwesenheit eines Rechtsbeistands ausdrücklich anzugeben sind?

3.

Für den Fall, dass zumindest eine der unter 1. und 2. gestellten Fragen bejaht wird: Sind die Bestimmungen der genannten Richtlinie daher dahin auszulegen, dass sie nationalen Bestimmungen wie den folgenden entgegenstehen:

a)

Art. 301 Satz 2 der Strafprozessordnung (Kodeks postępowania karnego), wonach der Beschuldigte nur auf seinen Antrag hin unter Beteiligung eines bestellten Verteidigers vernommen wird und das Nichterscheinen des Verteidigers zur Vernehmung des Beschuldigten kein Hinderungsgrund für die Vernehmung ist,

b)

Art. 79 § 3 der Strafprozessordnung, wonach bei einer Person, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (Art. 79 § 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung), die Teilnahme des Verteidigers nur in der Hauptverhandlung und in den Sitzungen vorgeschrieben ist, in denen die Anwesenheit des Angeklagten vorgeschrieben ist, d. h. im Gerichtsverfahren?

4.

Sind die in den Fragen 1 und 2 genannten Bestimmungen sowie der Grundsatz des Vorrangs und der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien dahin auszulegen, dass sie ein nationales Gericht, das mit einer unter die Richtlinie 2016/800 fallenden Strafsache befasst ist, und jede staatliche Behörde berechtigen (oder verpflichten), mit der Richtlinie unvereinbare Bestimmungen des nationalen Rechts, wie die in Frage 3 genannten, außer Acht zu lassen und folglich — wegen Ablaufs der Umsetzungsfrist — die nationale Norm durch die oben genannten unmittelbar wirksamen Bestimmungen der Richtlinie zu ersetzen?

5.

Sind Art. 6 Abs. 1, 2, 3 und 7 und Art. 18 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 und Abs. [3] sowie mit den Erwägungsgründen 11, 25 und 26 der Richtlinie 2016/800 in Verbindung mit Art. 13 und dem 50. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (2) dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren, die bei Verfahrensbeginn Kinder waren, im Verlauf des Verfahrens aber das 18. Lebensjahr vollendet haben, Prozesskostenhilfe garantieren muss, die bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verpflichtend ist?

6.

Für den Fall, dass Frage 5 bejaht wird: Sind die oben genannten Bestimmungen der Richtlinie daher dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Bestimmung wie Art. 79 § 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung entgegenstehen, wonach der Angeklagte in einem Strafverfahren nur bis zum Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahrs einen Verteidiger haben muss?

7.

Sind die in Frage 5 genannten Bestimmungen sowie der Grundsatz des Vorrangs und der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien dahin auszulegen, dass sie ein nationales Gericht, das mit einer unter die Richtlinie 2016/800 fallenden Strafsache befasst ist, und jede staatliche Behörde berechtigen (oder verpflichten), mit der Richtlinie unvereinbare Bestimmungen des nationalen Rechts wie die in Frage [6] genannten außer Acht zu lassen und Bestimmungen des nationalen Rechts wie Art. 79 § 2 der Strafprozessordnung in einer richtlinienkonformen (unionsrechtsfreundlichen) Auslegung anzuwenden, d. h. die Bestellung eines Pflichtverteidigers für einen Beschuldigten, der bei Erhebung der Tatvorwürfe gegen ihn noch nicht 18 Jahre alt war, im Verlauf des Verfahrens aber das 18. Lebensjahr vollendet hat und gegen den das Strafverfahren noch anhängig ist, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens aufrechtzuerhalten, wenn dies in Anbetracht der Umstände, die die Verteidigung erschweren, notwendig ist, oder — wegen Ablaufs der Umsetzungsfrist — die nationale Norm durch die oben genannten unmittelbar wirksamen Bestimmungen der Richtlinie zu ersetzen?

8.

Sind Art. 4 Abs. 1 bis 3 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 18, 19 und 22 der Richtlinie 2016/800 und Art. 3 Abs. 2 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 19 und 26 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (3) dahin auszulegen, dass die zuständigen Behörden (Staatsanwaltschaft, Polizei) spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung eines Verdächtigen durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde sowohl den Verdächtigen als auch gleichzeitig den Träger der elterlichen Verantwortung unverzüglich über die Rechte, die für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind, und über die Verfahrensschritte informieren müssen, insbesondere über die Verpflichtung zur Bestellung eines Verteidigers für einen minderjährigen Beschuldigten und die Folgen der Nichtbestellung eines Wahlverteidigers für einen minderjährigen Beschuldigten (Bestellung eines Pflichtverteidigers), und müssen diese Informationen bei Kindern, die Beschuldigte sind, in einer einfachen und verständlichen Sprache mitgeteilt werden, die dem Alter des Minderjährigen angemessen ist?

9.

Ist Art. 7 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit dem 31. Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (4) in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen, dass die Behörden eines Mitgliedstaats, die ein Strafverfahren durchführen, an dem ein Kind als Beschuldigter bzw. Angeklagter beteiligt ist, verpflichtet sind, das Kind als Beschuldigten in einer verständlichen und seinem Alter angemessenen Weise über das Recht, die Aussage zu verweigern, und das Recht, sich nicht selbst zu belasten, zu belehren?

10.

Sind Art. 4 Abs. 1 bis 3 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 18, 19 und 22 der Richtlinie 2016/800 und Art. 3 Abs. 2 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 19 und 26 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen, dass die in diesen Bestimmungen festgelegten Anforderungen nicht erfüllt sind, wenn unmittelbar vor der Vernehmung eines minderjährigen Beschuldigten eine allgemeine Belehrung ausgehändigt wird, ohne dass die spezifischen Rechte aus der Richtlinie 2016/800 berücksichtigt werden, und diese Belehrung nur dem Beschuldigten, der ohne Verteidiger handelt, und nicht dem Träger der elterlichen Verantwortung ausgehändigt wird und sie in einer dem Alter des Verdächtigen nicht angemessenen Sprache formuliert ist?

11.

Sind die Art. 18 und 19 in Verbindung mit dem 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/800 und Art. 12 Abs. 2 in Verbindung mit dem 50. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 und 2, Art. 10 Abs. 2 und dem 44. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass sie — in Bezug auf Aussagen eines Beschuldigten bei einer polizeilichen Vernehmung, die ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und ohne angemessene Belehrung des Beschuldigten über seine Rechte durchgeführt wird, ohne dass der Träger der elterlichen Verantwortung über die Rechte und allgemeinen Aspekte der Durchführung des Verfahrens unterrichtet wird; Informationen, auf die das Kind nach Art. 4 der Richtlinie 2016/800 Anspruch hat — das nationale Gericht, das mit einem unter die genannten Richtlinien fallenden Strafverfahren befasst ist, und jede staatliche Behörde dazu verpflichten (oder berechtigen), sicherzustellen, dass der Beschuldigte bzw. Angeklagte in die Lage versetzt wird, in der er sich ohne die fraglichen Verstöße befinden würde, und somit dazu, einen solchen Beweis nicht zuzulassen, insbesondere wenn die bei einer solchen Vernehmung erlangten belastenden Informationen zur Verurteilung der betreffenden Person verwendet werden sollen?

12.

Sind daher die in Frage 11 genannten Bestimmungen sowie der Grundsatz des Vorrangs und der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung dahin auszulegen, dass sie das nationale Gericht, das mit einem unter die genannten Richtlinien fallenden Strafverfahren befasst ist, und jede staatliche Behörde verpflichten, mit diesen Richtlinien unvereinbare Bestimmungen des nationalen Rechts außer Acht zu lassen, wie Art. 168a der Strafprozessordnung, wonach ein Beweis nicht allein deshalb für unzulässig erklärt werden kann, weil er unter Verstoß gegen die Verfahrensvorschriften oder durch eine verbotene Handlung im Sinne von Art. 1 § 1 des Strafgesetzbuchs (Kodeks karny) erlangt wurde, es sei denn, der Beweis wurde im Zusammenhang mit der Ausübung der Dienstpflichten durch einen Beamten infolge von Totschlag, vorsätzliche Körperverletzung oder Freiheitsberaubung erlangt?

13.

Sind Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen, dass der Staatsanwalt als Organ, das an Ausübung der Rechtspflege beteiligt ist, über die Rechtsstaatlichkeit wacht und zugleich Herr des Ermittlungsverfahrens ist, verpflichtet ist, im Ermittlungsverfahren einen effektiven Rechtsschutz im Anwendungsbereich der genannten Richtlinie zu gewährleisten, und dass er bei der effektiven Anwendung des Unionsrechts seine Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu garantieren hat?

14.

Für den Fall, dass eine der Fragen 1 bis 4, 5 bis 8 und 9 bis 12 bejaht wird, und insbesondere für den Fall der Bejahung von Frage 13: Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV (Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes) in Verbindung mit Art. 2 EUV, insbesondere im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Achtung der Rechtsstaatlichkeit in seiner Auslegung durch den Gerichtshof (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, EU:C:2021:1034), und der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte verankerte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit in seiner Auslegung durch den Gerichtshof (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C-64/16, EU:C:2018:117), dahin auszulegen, dass diese Grundsätze wegen der Möglichkeit, mittelbaren Druck auf die Richter auszuüben, und der Möglichkeit, dass der Generalstaatsanwalt den nachgeordneten Staatsanwälten in diesem Bereich verbindliche Weisungen erteilt, einer nationalen Gesetzgebung entgegenstehen, die eine Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von einem Exekutivorgan wie dem Justizminister erkennen lässt, und auch einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Unabhängigkeit des Gerichts und die Unabhängigkeit des Staatsanwalts bei der Anwendung des Unionsrechts einschränkt, insbesondere:

a)

Art. 130 § 1 des Gesetzes vom 27. Juli 2001 über die Verfassung der ordentlichen Gerichte (Ustawa z dnia 27 lipca 2001 r. — Prawo o ustroju sądów powszechnych), wonach der Justizminister — in Verbindung mit der Verpflichtung des Staatsanwalts, Fälle, in denen ein Richter unter Anwendung des Unionsrechts entscheidet, zu melden — eine sofortige Unterbrechung der Amtsausübung des Richters von höchstens einem Monat bis zum Erlass einer Entscheidung des Disziplinargerichts anordnen kann, wenn der Justizminister aufgrund der Art der vom Richter begangenen und in der unmittelbaren Anwendung des Unionsrechts bestehenden Handlung der Auffassung ist, dass die Autorität des Gerichts oder wesentliche dienstliche Interessen dies erfordern;

b)

Art. 1 § 2, Art. 3 § 1 Nrn. 1 und 3, Art. 7 § § 1 bis 6 und § 8 sowie Art. 13 § § 1 und 2 des Gesetzes vom 28. Januar 2016 über die Staatsanwaltschaft (Ustawa z dnia 28 stycznia 2016 r. — Prawo o prokuraturze), aus denen zusammen hervorgeht, dass der Justizminister, der zugleich der Generalstaatsanwalt und die oberste Anklagebehörde ist, Weisungen erteilen kann, die für nachgeordnete Staatsanwälte auch insoweit verbindlich sind, als sie die unmittelbare Anwendung des Unionsrechts einschränken oder behindern?


(1)  ABl. 2016, L 132, S. 1.

(2)  ABl. 2013, L 294, S. 1.

(3)  ABl. 2012, L 142, S. 1.

(4)  ABl. 2016, L 65, S. 1.