URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)
13. Oktober 2022 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verkehr – Verordnung (EWG) Nr. 3577/92 – Art. 1 und 4 – Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 – Art. 1 – Direktvergabe von öffentlichen Dienstleistungsaufträgen – Öffentliche Schnellfährdienste für den Personenverkehr – Gleichstellung mit auf dem Seeweg erbrachten Eisenbahnverkehrsdiensten“
In der Rechtssache C‑437/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 21. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Juli 2021, in dem Verfahren
Liberty Lines SpA
gegen
Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti,
Beteiligte:
Rete Ferroviaria Italiana SpA,
Bluferries Srl,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters M. Ilešič in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten sowie der Richter I. Jarukaitis und Z. Csehi (Berichterstatter),
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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der Liberty Lines SpA, vertreten durch A. Abbamonte, F. Di Gianni, C. Morace, G. Pregno und A. Scalini, Avvocati, |
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der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Berti Suman, Procuratore dello Stato, und F. Sclafani, Avvocato dello Stato, |
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der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara, P. Ondrůšek, G. von Rintelen und G. Wils als Bevollmächtigte, |
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Unionsrechts über die Vergabe von öffentlichen Dienstleistungsaufträgen, die öffentliche Schnellfährdienste für den Personenverkehr zum Gegenstand haben. |
2 |
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Liberty Lines SpA und dem Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti (Ministerium für Infrastruktur und Verkehr, Italien) (im Folgenden: MIT) wegen der Direktvergabe des Schnellfährdienstes für den Personenverkehr zwischen dem Hafen von Messina (Italien) und dem Hafen von Reggio Calabria (Italien) in der Straße von Messina an die Bluferries Srl., ohne eine konkrete Ausschreibung durchgeführt zu haben. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EWG) Nr. 3577/92
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In Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 3577/92 des Rates vom 7. Dezember 1992 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf den Seeverkehr in den Mitgliedstaaten (Seekabotage) (ABl. 1992, L 364, S. 7) heißt es: „Mit Wirkung vom 1. Januar 1993 gilt der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs im Seeverkehr innerhalb eines Mitgliedstaats (Seekabotage) für Gemeinschaftsreeder, deren Schiffe in einem Mitgliedstaat registriert sind und unter der Flagge eines Mitgliedstaats fahren, sofern diese Schiffe alle Voraussetzungen erfüllen, um zur Kabotage in diesem Mitgliedstaat zugelassen zu werden. …“ |
4 |
Art. 2 dieser Verordnung bestimmt: „Im Sinne dieser Verordnung sind
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Art. 4 dieser Verordnung bestimmt: „(1) Ein Mitgliedstaat kann mit Schiffahrtsgesellschaften, die sich an Liniendiensten von, zwischen und nach Inseln beteiligen, als Voraussetzung für das Recht zur Erbringung von Kabotageleistungen Verträge über Verkehrsdienste aufgrund von Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes schließen oder ihnen entsprechende Verpflichtungen auferlegen. Beim Abschluss von Verträgen über Verkehrsdienste aufgrund von Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes sowie bei der Auferlegung entsprechender Verpflichtungen haben die Mitgliedstaaten darauf zu achten, dass kein Gemeinschaftsreeder diskriminiert wird. (2) Bei der Auferlegung von Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes beschränken sich die Mitgliedstaaten auf Auflagen hinsichtlich der anzulaufenden Häfen, der Regelmäßigkeit, Beständigkeit und Häufigkeit des Verkehrs, der Dienstleistungskapazität, der zu erhebenden Gebühren sowie der Schiffsbesatzung. Für die etwaige Gewährung eines Ausgleichs für solche Verpflichtungen kommen stets alle Gemeinschaftsreeder in Betracht. …“ |
Verordnung (EG) Nr. 1370/2007
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Art. 1 („Zweck und Anwendungsbereich“) der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates (ABl. 2007, L 315, S. 1) sieht in Abs. 2 vor: „Diese Verordnung gilt für den innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Personenverkehr mit der Eisenbahn und andere Arten des Schienenverkehrs sowie auf der Straße, mit Ausnahme von Verkehrsdiensten, die hauptsächlich aus Gründen historischen Interesses oder zu touristischen Zwecken betrieben werden. Die Mitgliedstaaten können diese Verordnung auf den öffentlichen Personenverkehr auf Binnenschifffahrtswegen und, unbeschadet der Verordnung (EWG) Nr. 3577/92 … auf das Meer innerhalb der Hoheitsgewässer anwenden.“ |
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Art. 2 Buchst. h dieser Verordnung definiert die „Direktvergabe“ als „die Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags an einen bestimmten Betreiber eines öffentlichen Dienstes ohne Durchführung eines vorherigen wettbewerblichen Vergabeverfahrens“. |
8 |
Art. 5 Abs. 6 dieser Verordnung bestimmt: „Sofern dies nicht nach nationalem Recht untersagt ist, können die zuständigen Behörden entscheiden, öffentliche Dienstleistungsaufträge im Eisenbahnverkehr – mit Ausnahme anderer schienengestützter Verkehrsträger wie Untergrund- oder Straßenbahnen – direkt zu vergeben. …“ |
Italienisches Recht
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Das Decreto del Ministero dei Trasporti e della Navigazione, n. 138 T, recante rilascio a Ferrovie dello Stato – Società Trasporti e Servizi per Azioni la concessione ai fini della gestione dell’infrastruttura ferroviaria nazionale (Dekret Nr. 138 T des Ministeriums für Verkehr und Schifffahrt zur Erteilung der Konzession für den Betrieb der nationalen Eisenbahninfrastruktur an die Ferrovie dello Stato – Società Trasporti e Servizi per Azioni) vom 31. Oktober 2000 in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Dekret Nr. 138 T/2000) bestimmt in Art. 2 Abs. 1 Buchst. e, dass der Gegenstand der betreffenden Konzession die Eisenbahnverbindung auf dem Seeweg zwischen der italienischen Halbinsel und Sizilien bzw. Sardinien ist. |
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Art. 47 Abs. 11bis („Initiativen für den Schienenverkehr“) des Decreto-legge n. 50 – Disposizioni urgenti in materia finanziaria, iniziative a favore degli enti territoriali, ulteriori interventi per le zone colpite da eventi sismici e misure per lo sviluppo (Gesetzesdekret Nr. 50 mit finanziellen Dringlichkeitsmaßnahmen, Initiativen zugunsten der Gebietskörperschaften, weiteren Initiativen für von Erdbeben betroffene Gebiete und Maßnahmen zur Entwicklung) vom 24. April 2017 (GURI Nr. 95 vom 24. April 2017 – Supplemento ordinario Nr. 20), mit Änderungen umgewandelt in das Gesetz Nr. 96 vom 26. Juni 2017 (GURI Nr. 144 vom 23. Juni 2017), in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 50/2017) sieht vor: „Zur Verbesserung der Flexibilität der Eisenbahnverbindungen für den Personenverkehr zwischen Sizilien und der [italienischen] Halbinsel kann der Dienst der Eisenbahnverbindung auf dem Seeweg nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. e des [Dekrets Nr. 138 T/2000] auch unter Einsatz von Schnellschiffen nach einem Betriebsmodell erbracht werden, das mit dem Eisenbahnverkehrsdienst von und nach Sizilien, insbesondere den Strecken der Hin- und Rückfahrt, ‚Messina – Villa San Giovanni‘ und ‚Messina – Reggio Calabria‘, korreliert und im Rahmen der Mittel, die in den geltenden Rechtsvorschriften für den Programmvertrag – Teil Dienstleistungen – zwischen dem Staat und der Rete ferroviaria italiana Spa vorgesehen sind, vorbehaltlich der darin festgelegten Dienste durchzuführen ist.“ |
11 |
Das decreto legislativo n. 50 – Codice dei contratti pubblici (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 50 – Gesetzbuch über öffentliche Aufträge) vom 18. April 2016 (GURI Nr. 91 vom 19. April 2016 – Supplemento ordinario Nr. 10) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung führt in seinem Art. 17 Abs. 1 Buchst. i öffentliche Personenverkehrsdienste auf der Schiene oder per Untergrundbahn unter den spezifischen Ausschlüssen von Dienstleistungsaufträgen und ‑konzessionen auf. |
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
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Mit einer am 31. Januar 2015 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten Bekanntmachung leitete das MIT ein offenes Verfahren zur Vergabe eines Auftrags betreffend einen Schnellfährdienst für den Personenverkehr zwischen den Häfen von Messina und Reggio Calabria in der Straße von Messina für die Dauer von drei Jahren ein. Der geschätzte Wert dieses Auftrags belief sich auf 21025000 Euro. Der Auftrag wurde auf der Grundlage des Kriteriums des wirtschaftlich günstigsten Angebots an die Ustica Lines SpA, später Liberty Lines, vergeben. |
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Der entsprechende Vertrag wurde am 24. Juni 2015 geschlossen und die Erbringung der betreffenden Dienstleistung begann am 1. Oktober 2015. Nach diesem Vertrag hatte das MIT auch die Möglichkeit, den Vertrag um zwölf Monate zu verlängern, sofern die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung standen und der betreffende öffentliche Auftraggeber an der Erbringung dieser Dienstleistung weiterhin interessiert war. |
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Am 14. September 2018 teilte Liberty Lines dem MIT mit, dass der Vertrag enden werde, und wies darauf hin, dass sie, wenn der Vertrag nicht verlängert werde, die betreffende Dienstleistung ab dem 1. Oktober 2018 nicht mehr erbringen werde. Das Ministerium antwortete auf diese Mitteilung nicht. |
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Es beschloss jedoch, die Erbringung der betreffenden Dienstleistung ab diesem Zeitpunkt ohne eine Ausschreibung an Bluferries zu vergeben, die im Alleineigentum von Rete Ferroviaria Italiana (im Folgenden: RFI) stand, die bereits Konzessionärin dieses Dienstes auf der Strecke „Messina – Villa San Giovanni“, ebenfalls in der Straße von Messina, war. Die Vergabe des betreffenden Auftrags wurde von Liberty Lines vor dem Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien) angefochten. |
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Im Laufe des Verfahrens vor diesem Gericht stellte sich zum einen heraus, dass diese Vergabe vom MIT beschlossen worden war. In einem vom betreffenden Minister unterzeichneten Schreiben vom 26. September 2018 wurde darauf hingewiesen, dass bei Ablauf des mit Liberty Lines geschlossenen Vertrags am 1. Oktober 2018 die Kontinuität des betreffenden Fährdienstes gewährleistet werden müsse und dass zu diesem Zweck die „Flexibilität der Eisenbahnverbindungen zwischen Sizilien und der italienischen Halbinsel“ durch die „Aufnahme“ der betreffenden Verbindung in den zwischen dem italienischen Staat und RFI geschlossenen Programmvertrag sichergestellt werden könne. Zum anderen antwortete RFI dem MIT am 8. Oktober 2018 und bat es um Erörterung der „wesentlichen Einzelheiten der Betrauung mit diesem Dienst… im Hinblick auf seine Fortsetzung“ sowie der Notwendigkeit, eine „Anpassung“ dieses Programmvertrags vorzunehmen. |
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Das Regionale Verwaltungsgericht Latium wies die Klage von Liberty Lines ab und begründete dies im Wesentlichen damit, dass die Richtlinie 2014/25/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17/EG (ABl. 2014, L 94, S. 243) und die Verordnung Nr. 1370/2007 die Direktvergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge für den Eisenbahnverkehr auf dem Seeweg wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erlaubten. Der betreffende Dienst sei nämlich als Eisenbahnverkehrsdienst einzustufen, dessen Vergabe nicht der Verpflichtung unterliege, eine Ausschreibung durchzuführen. Die Möglichkeit, den betreffenden Fährdienst als Eisenbahnverkehrsdienst einzustufen, ergebe sich gerade aus Art. 47 Abs. 11bis des Gesetzesdekrets Nr. 50/2017. |
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Liberty Lines legte gegen dieses Urteil Rechtsmittel beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), dem vorlegenden Gericht, ein und machte u. a. geltend, dass keine Dringlichkeit vorliege, die den Rückgriff auf eine Direktvergabe im vorliegenden Fall rechtfertige, da das MIT die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation gerade dadurch herbeigeführt habe, dass es den betreffenden Vertrag nicht verlängert habe bzw. keine Ausschreibung eingeleitet habe, und dass der betreffende Fährdienst einem Eisenbahnverkehrsdienst nicht gleichgestellt werden könne, da Bluferries Tragflügelboote verwende, d. h. Schiffe, die nicht über die für den Transport von Eisenbahnwaggons erforderlichen Einrichtungen verfügten. |
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Das vorlegende Gericht fragt sich, ob eine Bestimmung wie Art. 47 Abs. 11bis des Gesetzesdekrets Nr. 50/2017 mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Diese Bestimmung schließe die Vergabe des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Schnellfährdienstes für den Personenverkehr unter Verstoß gegen die Verordnung Nr. 3577/92 in ungerechtfertigter Weise und ohne hinreichende Begründung insbesondere in Bezug auf die Überprüfung eines „Marktversagens“ vom Anwendungsbereich der Vorschriften im Bereich der öffentlichen Aufträge aus. Weiter scheine diese Bestimmung RFI als Gesellschaft für den Betrieb der nationalen Eisenbahninfrastruktur ein besonderes oder ausschließliches Recht für den Betrieb dieses Verkehrsdienstes zu verleihen. Dies könnte, wiederum zugunsten von RFI, eine staatliche Beihilfemaßnahme begründen, die den Wettbewerb verfälsche oder zu verfälschen drohe. |
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Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Steht das Unionsrecht, insbesondere die Grundsätze des freien Dienstleistungsverkehrs und der größtmöglichen Öffnung des Wettbewerbs bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge einer Bestimmung wie Art. 47 Abs. 11bis des Gesetzesdekrets Nr. 50/2017 entgegen, die
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Zur Vorlagefrage
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Vorab ist zum einen festzustellen, dass der zweite Teil der Vorlagefrage im Wesentlichen die Wettbewerbsauswirkungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Direktvergabe, soweit sie für den Fährdienst zwischen Sizilien und der italienischen Halbinsel zugunsten der RFI einen „Vorbehalt schafft“ oder „zu schaffen geeignet erscheint“, betrifft. Im Vorabentscheidungsersuchen erläutert das vorlegende Gericht nämlich, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Bestimmung zugunsten dieses Unternehmens eine „staatliche Beihilfemaßnahme, die den Wettbewerb verfälscht oder verfälschen kann“, sein könnte. |
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Das vorlegende Gericht macht jedoch keine Angaben zu dem im Rahmen der Direktvergabe der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dienstleistung geschlossenen Vertrag, insbesondere zu der Entschädigung, die von den italienischen Behörden im Rahmen der Durchführung dieses Vertrags möglicherweise gewährt wurde, obwohl diese Angaben erforderlich sind, um dem Gerichtshof eine sachdienliche Antwort auf den zweiten Teil dieser Frage zu ermöglichen. |
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Unter diesen Umständen braucht der zweite Teil der Vorlagefrage nicht geprüft zu werden. |
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Zum anderen ist zum ersten Teil der Vorlagefrage festzustellen, dass das vorlegende Gericht zwar in der Vorlagefrage die Vorschriften des Unionsrechts, die seiner Ansicht nach der in dieser Frage angeführten nationalen Bestimmung entgegenstehen könnten, nicht angibt, aus den Gründen des Vorabentscheidungsersuchens aber hervorgeht, dass es davon ausgeht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Schnellfährdienste für den Personenverkehr in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 3577/92 fallen, und sich fragt, ob diese nationale Bestimmung gegen das Unionsrecht verstößt, indem sie diese Kategorie von Dienstleistungen von den Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge ausnimmt. |
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Nach Ansicht der italienischen Regierung fallen jedoch auch Fährdienste wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1370/2007, so dass es den zuständigen Behörden nach Art. 5 Abs. 6 dieser Verordnung freistehe, für diese Art von Verkehrsdiensten öffentliche Dienstleistungsaufträge direkt zu vergeben. |
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Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1370/2007 nach ihrem Art. 1 Abs. 2 Satz 1 für den innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Personenverkehr mit der Eisenbahn und andere Arten des Schienenverkehrs sowie auf der Straße gilt. Außerdem können die Mitgliedstaaten die Verordnung nach ihrem Art. 1 Abs. 2 Satz 2 auch auf den Personenverkehr auf dem „Meer innerhalb der Hoheitsgewässer“ anwenden. |
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Somit ist es grundsätzlich möglich, dass die Verordnung Nr. 1370/2007 unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen Art. 47 Abs. 11bis des Gesetzesdekrets Nr. 50/2017 den Seeverkehr mit Schnellschiffen unter bestimmten Voraussetzungen dem Eisenbahnverkehr gleichstellt, für den Seeverkehr mit Schnellschiffen gilt. |
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Aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 1370/2007 geht jedoch auch hervor, dass diese Verordnung auf den öffentlichen Personenverkehr auf Binnenschifffahrtswegen „unbeschadet“ der Verordnung Nr. 3577/92 anzuwenden ist, so dass bei einem Konflikt deren Bestimmungen Vorrang haben. |
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Folglich ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob die Verordnung Nr. 3577/92, insbesondere ihr Art. 1 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die die Gleichstellung von Fährdiensten mit Eisenbahnverkehrsdiensten zum Gegenstand hat, wenn diese Gleichstellung zur Folge hat, dass die betreffende Dienstleistung von der Anwendung der Regelung über die Vergabe öffentlicher Aufträge, die für sie andernfalls gelten würde, ausgenommen wird. |
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Insoweit ist daran zu erinnern, dass Art. 1 der Verordnung Nr. 3577/92 klar zum Ausdruck bringt, dass in der Europäischen Union der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs bei der Seekabotage gilt (Urteile vom 20. Februar 2001, Analir u. a., C‑205/99, EU:C:2001:107, Rn. 20, und vom 9. März 2006, Kommission/Spanien, C‑323/03, EU:C:2006:159, Rn. 43). |
31 |
Nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 3577/92 kann ein Mitgliedstaat mit Schifffahrtsgesellschaften, die sich u. a. an Liniendiensten von und nach Inseln beteiligen, als Voraussetzung für das Recht zur Erbringung von Kabotageleistungen Verträge über Verkehrsdienste aufgrund von Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes schließen oder ihnen entsprechende Verpflichtungen auferlegen. Nach Unterabs. 2 dieser Vorschrift haben die Mitgliedstaaten beim Abschluss von Verträgen über Verkehrsdienste aufgrund von Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes sowie bei der Auferlegung entsprechender Verpflichtungen darauf zu achten, dass kein Unionsreeder diskriminiert wird. |
32 |
Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass zwar die Dienstleistung der Schnellfährverbindung für den Personenverkehr in der Straße von Messina zwischen den Häfen von Messina und Reggio Calabria für den Zeitraum vom 1. Oktober 2015 bis zum 30. September 2018 nach Abschluss eines offenen Verfahrens und auf der Grundlage des Kriteriums des wirtschaftlich günstigsten Angebots vergeben wurde, der Vertrag über die Erbringung der betreffenden Dienstleistung ab dem 1. Oktober 2018 aber ohne vorherige Ausschreibung vergeben wurde. |
33 |
Hierzu ist festzustellen, dass die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge nicht identisch sind, wenn es sich um öffentliche Personenverkehrsdienste auf dem Seeweg oder um öffentliche Personenverkehrsdienste mit der Eisenbahn handelt. |
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Art. 5 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1370/2007 erlaubt nämlich nur für öffentliche Dienstleistungsaufträge im Eisenbahnverkehr mit Ausnahme anderer Arten des Schienenverkehrs wie Untergrundbahnen oder Straßenbahnen unter bestimmten Voraussetzungen eine Direktvergabe, d. h., wie in Art. 2 Buchst. h dieser Verordnung klargestellt wird, ohne vorheriges wettbewerbliches Vergabeverfahren. |
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Außerdem schreibt, wie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils ausgeführt wird, Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 3577/92 vor, dass ein Mitgliedstaat, der Verträge über Verkehrsdienste aufgrund von Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes schließt oder entsprechende Verpflichtungen auferlegt, dies auf einer allen Unionsreedern gegenüber nicht diskriminierenden Grundlage tun muss, und sieht anders als die Verordnung Nr. 1370/2007 keine Möglichkeit zur Direktvergabe vor. |
36 |
Da die Mitgliedstaaten die Verordnung Nr. 1370/2007 nur unbeschadet der Verordnung Nr. 3577/92 auf den öffentlichen Personenverkehr auf Binnenschifffahrtswegen anwenden dürfen, dürfen Verträge über den öffentlichen Personenverkehr auf Binnenschifffahrtswegen gemäß den Bestimmungen der letztgenannten Verordnung nicht ohne vorheriges wettbewerbliches Vergabeverfahren geschlossen werden. |
37 |
Folglich kann nicht zugelassen werden, dass eine nationale Maßnahme eine Neueinstufung bestimmter Dienstleistungen vornimmt, die deren wahre Natur nicht berücksichtigt und dazu führt, dass sie von der Anwendung der für sie geltenden Vorschriften ausgenommen sind. |
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Dieser Schlussfolgerung kommt eine besondere Bedeutung zu, wenn eine solche Neueinstufung zur Folge hat, dass diese Dienstleistungen ohne wettbewerbliches Vergabeverfahren, das sonst erforderlich wäre, direkt vergeben werden können. |
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Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 3577/92, insbesondere ihr Art. 1 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Gleichstellung von Fährdiensten mit Eisenbahnverkehrsdiensten zum Gegenstand hat, wenn diese Gleichstellung zur Folge hat, dass die betreffende Dienstleistung von der Anwendung der Regelung über die Vergabe öffentlicher Aufträge, die für sie gilt, ausgenommen wird. |
Kosten
40 |
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt: |
Die Verordnung (EWG) Nr. 3577/92 des Rates vom 7. Dezember 1992 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf den Seeverkehr in den Mitgliedstaaten (Seekabotage), insbesondere ihr Art. 1 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1, |
ist dahin auszulegen, dass |
sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Gleichstellung von Fährdiensten mit Eisenbahnverkehrsdiensten zum Gegenstand hat, wenn diese Gleichstellung zur Folge hat, dass die betreffende Dienstleistung von der Anwendung der Regelung über die Vergabe öffentlicher Aufträge, die für sie gilt, ausgenommen wird. |
Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.