URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

26. Januar 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie (EU) 2016/680 – Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c – Grundsätze in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten – Zweckbindung – Datenminimierung – Art. 6 Buchst. a – Klare Unterscheidung zwischen den personenbezogenen Daten verschiedener Kategorien von Personen – Art. 8 – Rechtmäßigkeit der Verarbeitung – Art. 10 – Umsetzung – Verarbeitung biometrischer Daten und genetischer Daten – Begriff ‚Verarbeitung, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats zulässig ist‘ – Begriff ‚unbedingte Erforderlichkeit‘ – Ermessen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7, 8, 47, 48 und 52 – Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Unschuldsvermutung – Einschränkung – Vorsätzliche Offizialstraftat – Beschuldigte Personen – Erhebung fotografischer und daktyloskopischer Daten für die Zwecke ihrer Registrierung sowie Entnahme einer biologischen Probe zur Erstellung eines DNA-Profils – Verfahren der zwangsweisen Durchführung der Erhebung – Systematische Erhebung“

In der Rechtssache C‑205/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 31. März 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 31. März 2021, in dem Strafverfahren gegen

V. S.,

Beteiligter:

Ministerstvo na vatreshnite raboti, Glavna direktsia za borba s organiziranata prestapnost,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter D. Gratsias (Berichterstatter), M. Ilešič, I. Jarukaitis und Z. Csehi,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der bulgarischen Regierung, vertreten durch M. Georgieva und T. Mitova als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, A.‑L. Desjonquères, D. Dubois und T. Stéhelin als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Kranenborg, M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. Juni 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und c, von Art. 6 Buchst. a sowie der Art. 8 und 10 der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates (ABl. 2016, L 119, S. 89) sowie der Art. 3, 8, 48 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen V. S., die nach ihrer Beschuldigung die Erhebung ihrer biometrischen und genetischen Daten durch die Polizei für die Zwecke ihrer Registrierung verweigerte.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

DSGVO

3

Im 19. Erwägungsgrund der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, im Folgenden: DSGVO) heißt es:

„Der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, sowie der freie Verkehr dieser Daten sind in einem eigenen Unionsrechtsakt geregelt. Deshalb sollte diese Verordnung auf Verarbeitungstätigkeiten dieser Art keine Anwendung finden. …“

4

Art. 2 („Sachlicher Anwendungsbereich“) Abs. 1 und 2 der DSGVO bestimmt:

„(1)   Diese Verordnung gilt für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen.

(2)   Diese Verordnung findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten

a)

im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt,

d)

durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit.“

5

Art. 9 („Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten“) Abs. 1, 2 und 4 der DSGVO bestimmt:

„(1)   Die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person ist untersagt.

(2)   Absatz 1 gilt nicht in folgenden Fällen:

a)

Die betroffene Person hat in die Verarbeitung der genannten personenbezogenen Daten für einen oder mehrere festgelegte Zwecke ausdrücklich eingewilligt …

b)

die Verarbeitung ist erforderlich, damit der Verantwortliche oder die betroffene Person die ihm bzw. ihr aus dem Arbeitsrecht und dem Recht der sozialen Sicherheit und des Sozialschutzes erwachsenden Rechte ausüben und seinen bzw. ihren diesbezüglichen Pflichten nachkommen kann …

c)

die Verarbeitung ist zum Schutz lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person oder einer anderen natürlichen Person erforderlich …

d)

die Verarbeitung erfolgt auf der Grundlage geeigneter Garantien durch eine politisch, weltanschaulich, religiös oder gewerkschaftlich ausgerichtete Stiftung, Vereinigung oder sonstige Organisation ohne Gewinnerzielungsabsicht im Rahmen ihrer rechtmäßigen Tätigkeiten …

e)

die Verarbeitung bezieht sich auf personenbezogene Daten, die die betroffene Person offensichtlich öffentlich gemacht hat,

f)

die Verarbeitung ist zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen oder bei Handlungen der Gerichte im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit erforderlich,

g)

die Verarbeitung ist auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich,

h)

die Verarbeitung ist für Zwecke der Gesundheitsvorsorge oder der Arbeitsmedizin, für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Beschäftigten, für die medizinische Diagnostik, die Versorgung oder Behandlung im Gesundheits- oder Sozialbereich oder für die Verwaltung von Systemen und Diensten im Gesundheits- oder Sozialbereich …

i)

die Verarbeitung ist aus Gründen des öffentlichen Interesses im Bereich der öffentlichen Gesundheit, wie dem Schutz vor schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren oder zur Gewährleistung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei der Gesundheitsversorgung und bei Arzneimitteln und Medizinprodukten, auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Rechte und Freiheiten der betroffenen Person, insbesondere des Berufsgeheimnisses, vorsieht, erforderlich, oder

j)

die Verarbeitung ist … für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke, für wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke … erforderlich.

(4)   Die Mitgliedstaaten können zusätzliche Bedingungen, einschließlich Beschränkungen, einführen oder aufrechterhalten, soweit die Verarbeitung von genetischen, biometrischen oder Gesundheitsdaten betroffen ist.“

Richtlinie 2016/680

6

In den Erwägungsgründen 9 bis 12, 14, 26, 27, 31 und 37 der Richtlinie 2016/680 heißt es:

„(9)

[I]n der [DSGVO sind] allgemeine Bestimmungen für den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Verkehr personenbezogener Daten in der Union niedergelegt.

(10)

In der Erklärung Nr. 21 zum Schutz personenbezogener Daten im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der polizeilichen Zusammenarbeit im Anhang zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den Vertrag von Lissabon annahm, erkannte die Regierungskonferenz an, dass es sich aufgrund der Besonderheiten dieser Bereiche als erforderlich erweisen könnte, auf Artikel 16 AEUV gestützte spezifische Vorschriften über den Schutz personenbezogener Daten und den freien Verkehr personenbezogener Daten im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der polizeilichen Zusammenarbeit zu erlassen.

(11)

Daher sollte diesen Bereichen durch eine Richtlinie Rechnung getragen werden, die spezifische Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, enthält, wobei den Besonderheiten dieser Tätigkeiten Rechnung getragen wird. …

(12)

Die Tätigkeiten der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden sind hauptsächlich auf die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten ausgerichtet, dazu zählen auch polizeiliche Tätigkeiten in Fällen, in denen nicht von vornherein bekannt ist, ob es sich um Straftaten handelt oder nicht. … Die Mitgliedstaaten können die zuständigen Behörden mit anderen Aufgaben betrauen, die nicht zwangsläufig für die Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, ausgeführt werden, so dass die Verarbeitung von personenbezogenen Daten für diese anderen Zwecke insoweit in den Anwendungsbereich der [DSGVO] fällt, als sie in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

(14)

Da diese Richtlinie nicht für die Verarbeitung personenbezogener Daten gelten sollte, die im Rahmen einer nicht unter das Unionsrecht fallenden Tätigkeit erfolgt, sollten die nationale Sicherheit betreffende Tätigkeiten, Tätigkeiten von Agenturen oder Stellen, die mit Fragen der nationalen Sicherheit befasst sind, und die Verarbeitung personenbezogener Daten, die von den Mitgliedstaaten bei Tätigkeiten vorgenommen wird, die in den Anwendungsbereich des Titels V Kapitel 2 des [EU‑]Vertrags … fallen, nicht als Tätigkeiten betrachtet werden, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen.

(26)

… Die personenbezogenen Daten sollten für die Zwecke, zu denen sie verarbeitet werden, angemessen und erheblich sein. Es sollte insbesondere sichergestellt werden, dass nicht übermäßige personenbezogene Daten erhoben werden und sie nicht länger aufbewahrt werden, als dies für den Zweck, zu dem sie verarbeitet werden, erforderlich ist. Personenbezogene Daten sollten nur verarbeitet werden dürfen, wenn der Zweck der Verarbeitung nicht in zumutbarer Weise durch andere Mittel erreicht werden kann. …

(27)

Zur Verhütung, Ermittlung und Verfolgung von Straftaten müssen die zuständigen Behörden personenbezogene Daten, die im Zusammenhang mit der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung einer bestimmten Straftat erhoben wurden, auch in einem anderen Kontext verarbeiten können, um sich ein Bild von den kriminellen Handlungen machen und Verbindungen zwischen verschiedenen aufgedeckten Straftaten herstellen zu können.

(31)

Bei der Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der polizeilichen Zusammenarbeit geht es naturgemäß um betroffene Personen verschiedener Kategorien. Daher sollte gegebenenfalls und so weit wie möglich klar zwischen den personenbezogenen Daten der einzelnen Kategorien betroffener Personen unterschieden werden wie Verdächtige, verurteilte Straftäter, Opfer und andere Parteien, beispielsweise Zeugen, Personen, die über einschlägige Informationen verfügen, oder Personen, die mit Verdächtigen oder verurteilten Straftätern in Kontakt oder in Verbindung stehen. Dies sollte nicht der Anwendung des Rechts auf die Unschuldsvermutung, wie es in der Charta und in der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] gewährleistet ist, in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bzw. des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entgegenstehen.

(37)

Personenbezogene Daten, die ihrem Wesen nach hinsichtlich der Grundrechte und Grundfreiheiten besonders sensibel sind, verdienen einen besonderen Schutz, da im Zusammenhang mit ihrer Verarbeitung erhebliche Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten auftreten können. …“

7

Art. 1 („Gegenstand und Ziele“) Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Diese Richtlinie enthält Bestimmungen zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit.

(2)   Gemäß dieser Richtlinie haben die Mitgliedstaaten

a)

die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen, insbesondere deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten, zu schützen und

b)

sicherzustellen, dass der Austausch personenbezogener Daten zwischen den zuständigen Behörden in der Union – sofern er nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen ist – nicht aus Gründen, die mit dem Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten verbunden sind, eingeschränkt oder verboten wird.“

8

Art. 2 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 und 3 der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Diese Richtlinie gilt für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zu den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken.

(3)   Diese Richtlinie findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten

a)

im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt,

…“

9

In Art. 3 der Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

1.

‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (im Folgenden ‚betroffene Person‘) beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann;

2.

‚Verarbeitung‘ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung;

7.

‚zuständige Behörde‘

a)

eine staatliche Stelle, die für die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, zuständig ist …

12.

‚genetische Daten‘ personenbezogene Daten zu den ererbten oder erworbenen genetischen Eigenschaften einer natürlichen Person, die eindeutige Informationen über die Physiologie oder die Gesundheit dieser natürlichen Person liefern und insbesondere aus der Analyse einer biologischen Probe der betreffenden natürlichen Person gewonnen wurden;

13.

‚biometrische Daten‘ mit speziellen technischen Verfahren gewonnene personenbezogene Daten zu den physischen, physiologischen oder verhaltenstypischen Merkmalen einer natürlichen Person, die die eindeutige Identifizierung dieser natürlichen Person ermöglichen oder bestätigen, wie Gesichtsbilder oder daktyloskopische Daten;

…“

10

Art. 4 („Grundsätze in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten“) Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass personenbezogene Daten

a)

auf rechtmäßige Weise und nach Treu und Glauben verarbeitet werden,

b)

für festgelegte, eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise verarbeitet werden,

c)

dem Verarbeitungszweck entsprechen, maßgeblich und in Bezug auf die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, nicht übermäßig sind,

…“

11

Art. 6 („Unterscheidung verschiedener Kategorien betroffener Personen“) dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass der Verantwortliche gegebenenfalls und so weit wie möglich zwischen den personenbezogenen Daten verschiedener Kategorien betroffener Personen klar unterscheidet, darunter:

a)

Personen, gegen die ein begründeter Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen haben oder in naher Zukunft begehen werden,

b)

verurteilte Straftäter,

c)

Opfer einer Straftat oder Personen, bei denen bestimmte Fakten darauf hindeuten, dass sie Opfer einer Straftat sein könnten, und

d)

andere Parteien im Zusammenhang mit einer Straftat, wie Personen, die bei Ermittlungen in Verbindung mit der betreffenden Straftat oder beim anschließenden Strafverfahren als Zeugen in Betracht kommen, Personen, die Hinweise zur Straftat geben können, oder Personen, die mit den unter den Buchstaben a und b genannten Personen in Kontakt oder in Verbindung stehen.“

12

Art. 8 („Rechtmäßigkeit der Verarbeitung“) der Richtlinie bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Verarbeitung nur dann rechtmäßig ist, wenn und soweit diese Verarbeitung für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde zu den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken wahrgenommenen wird, und auf Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts der Mitgliedstaaten erfolgt.

(2)   Im Recht der Mitgliedstaaten, das die Verarbeitung innerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie regelt, werden zumindest die Ziele der Verarbeitung, die personenbezogenen Daten, die verarbeitet werden sollen, und die Zwecke der Verarbeitung angegeben.“

13

Art. 9 („Besondere Verarbeitungsbedingungen“) Abs. 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:

„(1)   Personenbezogene Daten, die von zuständigen Behörden für die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecke erhoben werden, dürfen nicht für andere als die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecke verarbeitet werden, es sei denn, eine derartige Verarbeitung ist nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten zulässig. Wenn personenbezogene Daten für solche andere Zwecke verarbeitet werden, gilt die [DSGVO], es sei denn, die Verarbeitung erfolgt im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

(2)   Sind nach dem Recht der Mitgliedstaaten zuständige Behörden mit der Wahrnehmung von Aufgaben betraut, die sich nicht mit den für die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecke wahrgenommenen Aufgaben decken, gilt die [DSGVO] für die Verarbeitung zu diesen Zwecken …, es sei denn, die Verarbeitung erfolgt im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.“

14

Art. 10 der Richtlinie 2016/680 lautet:

„Die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung ist nur dann erlaubt, wenn sie unbedingt erforderlich ist und vorbehaltlich geeigneter Garantien für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person erfolgt und

a)

wenn sie nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten zulässig ist

b)

der Wahrung lebenswichtiger Interessen der betroffenen oder einer anderen natürlichen Person dient oder

c)

wenn sie sich auf Daten bezieht, die die betroffene Person offensichtlich öffentlich gemacht hat.“

15

Art. 52 („Recht auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde“) Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass jede betroffene Person unbeschadet eines anderweitigen verwaltungsrechtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfs das Recht auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde hat, wenn sie der Ansicht ist, dass die Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten gegen die nach dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften verstößt.“

16

Art. 53 („Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen eine Aufsichtsbehörde“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass jede natürliche oder juristische Person unbeschadet eines anderweitigen verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelfs das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen einen sie betreffenden rechtsverbindlichen Beschluss einer Aufsichtsbehörde hat.“

17

Art. 54 („Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter“) der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass jede betroffene Person unbeschadet eines verfügbaren verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelfs einschließlich des Rechts auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde gemäß Artikel 52 das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf hat, wenn sie der Ansicht ist, dass die Rechte, die ihr aufgrund von nach dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften zustehen, infolge einer nicht mit diesen Vorschriften im Einklang stehenden Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten verletzt wurden.“

18

Art. 63 („Umsetzung“) Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2016/680 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten erlassen und veröffentlichen bis zum 6. Mai 2018 die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen. …

Bei Erlass dieser Vorschriften nehmen die Mitgliedstaaten in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten der Bezugnahme.

(4)   Die Mitgliedstaaten teilen der [Europäischen] Kommission den Wortlaut der wichtigsten nationalen Rechtsvorschriften mit, die sie auf dem unter diese Richtlinie fallenden Gebiet erlassen.“

Bulgarisches Recht

NK

19

Nach Art. 11 Abs. 2 des Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: NK) ist eine Straftat vorsätzlich begangen, wenn sich der Täter der Art seiner Handlung bewusst war und den Eintritt des strafbaren Erfolgs beabsichtigte oder zuließ. Bei den meisten Straftaten nach dem Strafgesetzbuch handelt es sich um vorsätzliche Straftaten.

20

Nach Art. 255 NK wird mit Freiheitsentzug von einem bis zu sechs Jahren und mit einer Geldstrafe von 2000 bulgarischen Lewa (BGN) (etwa 1000 Euro) bestraft, „wer sich [auf bestimmte, im Gesetz ausdrücklich genannte Weise] der Feststellung oder Zahlung von Steuerschulden in großer Höhe entzieht“.

21

Nach Art. 321 Abs. 2 und 3 in Verbindung mit Art. 94 Nr. 20 NK wird mit „Freiheitsentzug“ von drei bis zu zehn Jahren bestraft, wer sich an einer kriminellen Vereinigung beteiligt, die zu Bereicherungszwecken gegründet wurde, um Verbrechen zu begehen, die mit „Freiheitsentzug“ von mehr als drei Jahren bedroht sind. Dort wird außerdem klargestellt, dass es sich bei dieser Straftat um eine vorsätzliche Straftat handelt und dass sie nach den allgemeinen Rechtsvorschriften verfolgt wird.

NPK

22

Art. 46 Abs. 1 und Art. 80 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: NPK) sehen vor, dass Straftaten entweder von Amts wegen – d. h. die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage – oder im Wege der Privatklage verfolgt werden. Nahezu sämtliche Straftaten nach dem NK werden von Amts wegen verfolgt.

23

Art. 219 Abs. 1 NPK sieht vor, dass, „wenn hinreichende Beweise dafür vorliegen, dass eine bestimmte Person eine von Amts wegen zu verfolgende Straftat begangen hat“, diese Person beschuldigt wird und über die Beschuldigung in Kenntnis gesetzt wird. Sie kann verschiedenen verfahrensrechtlichen Zwangsmaßnahmen unterworfen werden, wobei sie sich jedoch verteidigen, Erklärungen abgeben oder Beweismittel vorlegen kann.

ZZLD

24

Nach Art. 51 des Zakon za zashtita na lichnite danni (Gesetz über den Schutz personenbezogener Daten) (DV Nr. 1 vom 4. Januar 2002, im Folgenden: ZZLD) ist die Verarbeitung genetischer und biometrischer Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person nur zulässig, wenn dies unbedingt erforderlich ist, wenn die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person angemessen gewährleistet sind und wenn dies im Unionsrecht oder im bulgarischen Recht vorgesehen ist. Ist die Verarbeitung im Unionsrecht oder im bulgarischen Recht nicht vorgesehen, müssen für ihre Zulässigkeit lebenswichtige Interessen betroffen sein, oder die Daten müssen von der betroffenen Person öffentlich gemacht worden sein.

ZMVR

25

Nach Art. 6 des Zakon sa Ministerstvo na vatreshnite raboti (Gesetz über das Innenministerium) (DV Nr. 53 vom 27. Juni 2014, im Folgenden: ZMVR) übt das Innenministerium bestimmte Haupttätigkeiten aus, darunter eine operative Untersuchungstätigkeit, eine Überwachungstätigkeit und eine Ermittlungstätigkeit in Bezug auf Straftaten sowie eine Informationstätigkeit.

26

Nach Art. 18 Abs. 1 ZMVR besteht die Informationstätigkeit darin, Informationen einzuholen, zu verarbeiten, zu ordnen, zu speichern und zu verwenden. Nach Art. 20 Abs. 1 dieses Gesetzes stützt sich die Informationstätigkeit auf Informationen, die auf von den Behörden des Innenministeriums erstellten Aufzeichnungsträgern reproduziert werden oder einer solchen Reproduktion unterliegen.

27

Art. 25 Abs. 1 ZMVR ermächtigt das Innenministerium, zur Durchführung seiner Tätigkeiten personenbezogene Daten zu verarbeiten. Unter Berücksichtigung von Art. 6 ZMVR folgt daraus, dass das Innenministerium personenbezogene Daten verarbeitet, um seine Haupttätigkeiten auszuüben, d. h. seine operative Untersuchungstätigkeit, seine Überwachungstätigkeit und seine Ermittlungstätigkeit in Bezug auf Straftaten.

28

Art. 25 Abs. 3 ZMVR sieht vor, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten nach diesem Gesetz gemäß der DSGVO und dem ZZLD erfolgt.

29

Nach Art. 25a Abs. 1 ZMVR ist die Verarbeitung personenbezogener Daten, die genetische Daten und biometrische Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person umfassen, nur unter den in Art. 9 DSGVO bzw. Art. 51 ZZLD vorgesehenen Voraussetzungen zulässig.

30

Nach Art. 27 ZMVR werden die von der Polizei nach Art. 68 ZMVR registrierten Daten ausschließlich im Rahmen des Schutzes der nationalen Sicherheit, der Kriminalitätsbekämpfung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verwendet.

31

In Art. 68 ZMVR heißt es:

„(1)

Die Polizeibehörden nehmen eine polizeiliche Registrierung der Personen vor, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden. …

(2)

Die polizeiliche Registrierung stellt eine Kategorie der Verarbeitung personenbezogener Daten der in Abs. 1 genannten Personen dar, die unter den Voraussetzungen dieses Gesetzes erfolgt.

(3)

Für die Zwecke der polizeilichen Registrierung nehmen die Polizeibehörden Folgendes vor:

1.

Erhebung der in Art. 18 des [Zakon za balgarskite lichni dokumenti (Gesetz über die bulgarischen Identitätsdokumente)] genannten personenbezogenen Daten;

2.

Abnahme von Fingerabdrücken und Aufnahme von Lichtbildern;

3.

Entnahme von Proben zur Erstellung eines DNA-Profils der Personen.

(4)

Für die Vornahme der in Abs. 3 Nr. 1 angeführten Tätigkeiten bedarf es keiner Zustimmung der Person.

(5)

Die Personen sind zur Zusammenarbeit verpflichtet und dürfen die Ausübung der in Abs. 3 angeführten Tätigkeiten durch die Polizeibehörden weder behindern noch erschweren. Im Fall der Weigerung der Person werden die in Abs. 3 Nrn. 2 und 3 angeführten Tätigkeiten zwangsweise vorgenommen, mit Bewilligung des zuständigen erstinstanzlichen Gerichts, in dessen Zuständigkeit die von Amts wegen verfolgte Straftat fällt, wegen der die Person beschuldigt wird.

…“

NRISPR

32

Die Naredba za reda za izvarshvane i snemane na politseyska registratsia (Verordnung zur Regelung der Einzelheiten der Durchführung der polizeilichen Registrierung) (DV Nr. 90 vom 31. Oktober 2014) in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: NRISPR), die auf der Grundlage von Art. 68 Abs. 7 ZMVR erlassen wurde, legt die Einzelheiten der Vornahme der in dieser Vorschrift vorgesehenen polizeilichen Registrierung fest.

33

Nach Art. 2 NRISPR sind die Ziele der polizeilichen Registrierung der Schutz der nationalen Sicherheit, die Kriminalitätsbekämpfung und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung.

34

Nach Art. 11 Abs. 2 NRISPR wird der Person, die polizeilich registriert werden soll, eine auszufüllende Erklärung ausgehändigt, in der sie äußern kann, ob sie den Maßnahmen des Fotografierens, der Daktyloskopie und der Entnahme einer DNA-Probe zustimmt oder nicht zustimmt. Nach Art. 11 Abs. 4 NRISPR stellt die Polizei in dem Fall, dass die Person nicht zustimmt, beim zuständigen Gericht einen Antrag auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung dieser Maßnahmen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

35

Die bulgarischen Behörden leiteten gegen zwei Handelsgesellschaften auf der Grundlage von Art. 255 NK ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit der Feststellung und Zahlung von Steuerschulden ein.

36

Mit am 1. März 2021 ergangenem Beschluss nach Art. 219 NPK, der V. S. am 15. März 2021 zugestellt wurde, wurde diese zur Beschuldigten erklärt. Ihr wurde auf der Grundlage von Art. 321 Abs. 3 Nr. 2 NK in Verbindung mit Abs. 2 dieses Artikels vorgeworfen, zusammen mit drei weiteren Personen an einer kriminellen Vereinigung beteiligt zu sein, die zu Bereicherungszwecken gebildet worden sei, um in abgestimmter Weise im bulgarischen Hoheitsgebiet Straftaten nach Art. 255 NK zu begehen.

37

Nach Zustellung des Beschlusses über die Beschuldigung, wurde V. S. aufgefordert, sich der polizeilichen Registrierung zu unterziehen. Sie füllte ein Erklärungsformular aus, in dem sie angab, dass sie darüber informiert worden sei, dass es eine Rechtsgrundlage für die Vornahme dieser Registrierung gebe, und dass sie sich weigere, sich der Erhebung der sie betreffenden daktyloskopischen und fotografischen Daten für die Zwecke ihrer Registrierung und der Entnahme von Proben zum Zweck der Erstellung ihres DNA-Profils zu unterziehen. Die Polizei nahm die Erhebung nicht vor und wandte sich an das vorlegende Gericht.

38

In dem an das vorlegende Gericht gerichteten Antrag der Polizeibehörden wurde darauf hingewiesen, dass hinreichende Beweise für die Schuld der in dem betreffenden Strafverfahren verfolgten Personen, einschließlich V. S., gesammelt worden seien. In dem Antrag wird näher ausgeführt, dass V. S. offiziell wegen einer Straftat nach Art. 321 Abs. 3 Nr. 2 NK in Verbindung mit Abs. 2 dieses Artikels verfolgt werde und dass sie es abgelehnt habe, sich der Erhebung der sie betreffenden daktyloskopischen und fotografischen Daten für die Zwecke ihrer Registrierung und der Entnahme von Proben zur Erstellung ihres DNA-Profils zu unterziehen, wobei die Rechtsgrundlage für die Erhebung dieser Daten genannt wird. Schließlich wird das vorlegende Gericht mit diesem Antrag ersucht, die zwangsweise Durchführung dieser Erhebung zu bewilligen. Dem Antrag waren lediglich Kopien des Beschlusses über die Beschuldigung von V. S. und der Erklärung, mit der sie sich weigert, der polizeilichen Registrierung zuzustimmen, als Anlagen beigefügt.

39

Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob die für die polizeiliche Registrierung geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften des bulgarischen Rechts mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

40

Erstens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass sich die Bestimmungen von Art. 25 Abs. 3 und von Art. 25a ZMVR auf die DSGVO und nicht auf die Richtlinie 2016/680 bezögen. Die DSGVO finde nach ihrem Art. 2 Abs. 2 Buchst. d jedoch keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten, vielmehr regle Art. 1 Abs. 1 der genannten Richtlinie eine solche Verarbeitung. Außerdem verbiete Art. 9 DSGVO ausdrücklich die Verarbeitung genetischer und biometrischer Daten, und die Kriminalitätsbekämpfung gehöre nicht zu den in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehenen Ausnahmen von diesem Verbot. Schließlich könne Art. 51 ZZLD für sich genommen nicht die Zulässigkeit einer Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten begründen, da diese im Unionsrecht oder im nationalen Recht vorgesehen sein müsse.

41

In Anbetracht dessen fragt sich das vorlegende Gericht, ob angenommen werden kann, dass die Verarbeitung genetischer und biometrischer Daten zu strafrechtlichen Zwecken trotz der Bezugnahme auf Art. 9 DSGVO nach nationalem Recht zulässig ist, da sie nach Art. 10 der Richtlinie 2016/680 eindeutig zulässig sei, auch wenn diese in den einschlägigen Bestimmungen des ZMVR nicht erwähnt werde.

42

Zweitens fragt sich das vorlegende Gericht für den Fall, dass davon auszugehen sein sollte, dass Art. 10 der Richtlinie 2016/680 ordnungsgemäß in das nationale Recht umgesetzt wurde oder dass in diesem Recht eine wirksame Rechtsgrundlage für die Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten besteht, ob die Anforderung nach Art. 10 Buchst. a dieser Richtlinie, wonach eine solche Verarbeitung nach dem Unionsrecht oder nach dem Recht eines Mitgliedstaats zulässig sein muss, erfüllt ist, wenn zwischen den einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts ein Widerspruch besteht.

43

Das vorlegende Gericht ist nämlich der Ansicht, dass ein Widerspruch zwischen Art. 25a ZMVR, der, indem er auf Art. 9 DSGVO Bezug nehme, die Erhebung biometrischer und genetischer Daten nicht zu erlauben scheine, und Art. 68 ZMVR, der sie zweifellos erlaube, bestehe.

44

Drittens weist das vorlegende Gericht zum einen darauf hin, dass es nach Art. 219 Abs. 1 NPK unerlässlich sei, hinreichende Beweise für die Schuld einer bestimmten Person zu sammeln, damit diese Person beschuldigt werden könne. Insoweit fragt sich dieses Gericht, ob das in dieser Bestimmung vorgesehene Kriterium dem in Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 genannten entspricht, der Personen betreffe, gegen die „ein begründeter Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen haben“. Es neigt zu der Annahme, dass für die Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten zwingend stichhaltigere Beweise als jene, die nach dem NPK erforderlich seien, um eine Person zu beschuldigen, vorliegen müssten, da die Beschuldigung dazu diene, die Person über die gegen sie bestehenden Verdachtsmomente und die Möglichkeit zu informieren, sich zu verteidigen.

45

Zum anderen stellt das vorlegende Gericht fest, dass Art. 68 ZMVR nicht vorsehe, dass es im Rahmen des Verfahrens der zwangsweisen Durchführung der polizeilichen Registrierung irgendeine Kontrolle hinsichtlich des Vorliegens eines begründeten Verdachts im Sinne von Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 ausüben müsste. Vielmehr genüge es nach dieser Vorschrift des ZMVR, festzustellen, dass die Person wegen einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werde. Es sei daher nicht befugt, zu beurteilen, ob zur Stützung dieser Beschuldigung hinreichende oder stichhaltige Beweise vorlägen; es habe auch nicht die faktische Möglichkeit, diese Beurteilung vorzunehmen, da es keinen Zugang zu den Akten habe, sondern nur zu Fotokopien des Beschlusses über die Beschuldigung und der Erklärung über die Verweigerung der Erhebung von Daten durch die Polizei. Daher fragt sich das vorlegende Gericht, ob unter diesen Umständen einer Person, die sich geweigert hat, der Polizei die sie betreffenden fotografischen, daktyloskopischen und genetischen Daten zur Verfügung zu stellen, ein effektiver gerichtlicher Rechtsschutz und die Beachtung des Rechts auf die Unschuldsvermutung zugutekommen, die in den Art. 47 bzw. 48 der Charta garantiert werden.

46

Viertens leitet das vorlegende Gericht aus Art. 4 Abs. 1 Buchst. b und c, Art. 8 Abs. 1 und 2 sowie Art. 10 der Richtlinie 2016/680 ab, dass das nationale Recht den zuständigen Behörden bei der Erhebung biometrischer und genetischer Daten durch Aufnahme von Lichtbildern, Abnahme von Fingerabdrücken und Entnahme von DNA-Proben ein gewisses Ermessen einräumen müsse. Dieses Ermessen müsse sich sowohl auf die Frage beziehen, ob diese Erhebung erfolgen müsse, als auch auf die Frage, ob sie alle vorgenannten Datenkategorien umfassen müsse. Schließlich ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass aus dem in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Erfordernis der „unbedingten Erforderlichkeit“ abzuleiten sei, dass die Erhebung solcher Daten nur bei Vorliegen einer ordnungsgemäßen Begründung ihrer Erforderlichkeit bewilligt werden könne.

47

Allerdings gelte die polizeiliche Registrierung zwingend für alle Personen, die vorsätzlicher Offizialstraftaten beschuldigt würden, und für die drei Kategorien personenbezogener Daten, auf die sich diese Vorschrift beziehe, nämlich Lichtbilder, Fingerabdrücke und DNA-Proben.

48

Außerdem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass im ZMVR nur die Zwecke dieser Verarbeitung angeführt seien, nämlich die Ausübung einer Untersuchungstätigkeit, auch im Hinblick auf den Schutz der nationalen Sicherheit, der Kriminalitätsbekämpfung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Hingegen verlange das nationale Recht nicht, dass die konkrete Erforderlichkeit der Erhebung biometrischer und genetischer Daten festgestellt werde und dass beurteilt werde, ob die Gesamtheit dieser Daten oder nur ein Teil davon genüge.

49

Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob die im nationalen Recht vorgesehene Voraussetzung für die Bewilligung der polizeilichen Registrierung, nämlich die Beschuldigung der betroffenen Person wegen einer vorsätzlichen Offizialstraftat, genügt, um den Anforderungen nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und c, Art. 8 Abs. 1 und 2 und Art. 10 der Richtlinie 2016/680 gerecht zu werden.

50

Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Wird Art. 10 der Richtlinie 2016/680 durch Bezugnahme auf die ähnliche Vorschrift des Art. 9 der DSGVO im nationalen Gesetz – Art. 25 Abs. 3 und Art. 25a des ZMVR – wirksam umgesetzt?

2.

Wird die in Art. 10 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 52, Art. 3 und Art. 8 der Charta aufgestellte Anforderung, dass eine Einschränkung der Unversehrtheit und des Schutzes personenbezogener Daten gesetzlich vorgesehen sein muss, erfüllt, wenn einander widersprechende nationale Vorschriften in Bezug auf die Zulässigkeit einer Verarbeitung von genetischen und biometrischen Daten für die Zwecke der polizeilichen Registrierung vorliegen?

3.

Ist mit Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 48 der Charta ein nationales Gesetz – Art. 68 Abs. 4 des ZMVR – vereinbar, das die Verpflichtung des Gerichts vorsieht, die zwangsweise Erhebung personenbezogener Daten (Aufnahme von Karteifotos, Abnahme des Fingerabdrucks und Entnahme von Proben zur Erstellung eines DNA-Profils) anzuordnen, wenn sich eine Person, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt wird, weigert, bei der Erfassung dieser personenbezogenen Daten freiwillig mitzuwirken, ohne dass das Gericht beurteilen kann, ob begründeter Verdacht besteht, dass die Person die Straftat, derer sie beschuldigt wird, begangen hat?

4.

Ist mit Art. 10, mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und c sowie mit Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/680 ein nationales Gesetz vereinbar – Art. 68 Abs. 1 bis 3 des ZMVR –, das als allgemeine Regel die Aufnahme von Karteifotos, die Abnahme des Fingerabdrucks und die Entnahme von Proben zur Erstellung eines DNA-Profils für alle Personen vorsieht, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden?

51

Mit Schreiben vom 5. August 2022 teilte der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) dem Gerichtshof mit, dass infolge einer am 27. Juli 2022 in Kraft getretenen Gesetzesänderung der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) aufgelöst worden sei und dass bestimmte Strafsachen, die bei diesem Gericht anhängig gewesen seien, einschließlich der Rechtssache im Ausgangsverfahren, ab diesem Zeitpunkt an den Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) verwiesen worden seien.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur zweiten Frage

52

Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 im Licht der Art. 3, 8 und 52 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Erhebung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizeibehörden für ihre Untersuchungstätigkeiten zu Zwecken der Kriminalitätsbekämpfung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nach dem Recht eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 10 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 zulässig ist, wenn zum einen die nationalen Vorschriften, die die Rechtsgrundlage für diese Zulässigkeit bilden, auf Art. 9 DSGVO verweisen und dabei den Inhalt des genannten Art. 10 der Richtlinie 2016/680 wiedergeben, und zum anderen diese nationalen Vorschriften widersprüchliche Anforderungen an die Zulässigkeit einer solchen Erhebung zu stellen scheinen.

Zur Zulässigkeit

53

In ihren schriftlichen Erklärungen stellt die Kommission die Zulässigkeit der ersten und der zweiten Frage mit der Begründung in Frage, dass das vorlegende Gericht zum einen lediglich wissen wolle, ob Art. 10 der Richtlinie 2016/680 tatsächlich in das nationale Recht umgesetzt worden sei, ohne hinsichtlich der genauen Bedeutung dieser Vorschrift Zweifel zu äußern oder Fragen aufzuwerfen, und zum anderen unter Verstoß gegen Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs nicht die Gründe darlege, aus denen es Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit der betreffenden Vorschriften des Unionsrechts habe.

54

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen. Folglich gilt für Fragen nationaler Gerichte eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die Auslegung, um die er ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 20. Oktober 2022, Digi, C‑77/21, EU:C:2022:805, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55

Um es dem Gerichtshof zu ermöglichen, zu einer dem nationalen Gericht dienlichen Auslegung des Unionsrechts zu gelangen, muss das Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt, enthalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juli 2015, Gullotta und Farmacia di Gullotta Davide & C., C‑497/12, EU:C:2015:436, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56

Was die erste und die zweite Frage anbelangt, geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das vorlegende Gericht im Rahmen des Ausgangsverfahrens wissen möchte, ob die in Art. 10 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 genannte Voraussetzung, wonach die Verarbeitung der in dieser Vorschrift genannten genetischen und biometrischen Daten nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten zulässig sein muss, hinsichtlich der in diesem Verfahren fraglichen polizeilichen Registrierung erfüllt ist.

57

Wie das vorlegende Gericht in diesem Ersuchen im Wesentlichen ausführt, ersucht es den Gerichtshof in diesem Zusammenhang um Hinweise zur Auslegung dieser Voraussetzung. Zum einen möchte es mit seiner ersten Frage wissen, ob der genannte Art. 10 als durch eine nationale Rechtsvorschrift, die lediglich auf Art. 9 DSGVO Bezug nimmt, deren Inhalt aber dem dieses Art. 10 entspricht, als ordnungsgemäß umgesetzt angesehen werden kann. Zum anderen möchte es, falls dies bejaht wird, mit seiner zweiten Frage wissen, ob die Erhebung genetischer und biometrischer Daten für die Zwecke ihrer Registrierung durch die Polizei als „nach dem Recht eines Mitgliedstaats zulässig“ im Sinne von Buchst. a des genannten Art. 10, d. h. als im Sinne von Art. 52 Abs. 1 Buchst. a der Charta „gesetzlich vorgesehen“ angesehen werden kann, wenn die Vorschriften des nationalen Rechts, die die Rechtsgrundlage für diese Verarbeitung bilden, widersprüchliche Regeln in Bezug auf die Zulässigkeit einer solchen Verarbeitung aufzustellen scheinen.

58

Folglich hat das vorlegende Gericht im Vorabentscheidungsersuchen die anwendbaren Vorschriften des Unionsrechts, seine Fragen zur Auslegung dieses Rechts und die Gründe, die es dazu veranlasst haben, dem Gerichtshof die erste und die zweite Frage vorzulegen, genau bezeichnet. Außerdem geht aus diesem Ersuchen klar hervor, dass die Auslegung der genannten Vorschriften einen Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens aufweist, da die etwaige Feststellung des vorlegenden Gerichts – in Anbetracht der Hinweise des Gerichtshofs –, dass die in Rede stehenden Vorschriften des nationalen Rechts die in Art. 10 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 aufgestellte Voraussetzung nicht erfüllen, dieses Gericht dazu veranlassen kann, den bei ihm anhängigen Antrag der Polizeibehörden auf zwangsweise Erhebung biometrischer und genetischer Daten von V. S. für die Zwecke ihrer Registrierung zurückzuweisen.

59

Folglich sind die erste und die zweite Frage zulässig.

Zur Beantwortung der Vorlagefragen

60

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die zweite Frage zwar die Art. 3, 8 und 52 der Charta betrifft, aber aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, dass sich die Fragen des vorlegenden Gerichts nur darauf beziehen, ob mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung das in Abs. 1 des letztgenannten Artikels genannte Erfordernis, wonach jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein muss, beachtet wird. Folglich ist die Prüfung der ersten und zweiten Frage allein anhand dieses Art. 52 der Charta vorzunehmen.

61

Als Erstes ist festzustellen, dass im Licht des 19. Erwägungsgrundes der DSGVO sowie der Erwägungsgründe 9 bis 12 der Richtlinie 2016/680 und gemäß Art. 2 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie eine Verarbeitung personenbezogener Daten durch eine „zuständige Behörde“ im Sinne von Art. 3 Nr. 7 dieser Richtlinie, je nachdem, ob sie den in deren Art. 1 Abs. 1 genannten Zwecken der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, oder anderen Zwecken als diesen dient, entweder in den Anwendungsbereich der spezifischen Vorschriften der genannten Richtlinie oder in den Anwendungsbereich der allgemeinen Vorschriften der genannten Verordnung fallen kann, abgesehen von den in Art. 2 Abs. 3 dieser Richtlinie und Art. 2 Abs. 2 dieser Verordnung abschließend aufgeführten Ausnahmen von diesen Anwendungsbereichen.

62

Insbesondere ist festzustellen, dass sowohl Art. 9 DSGVO als auch Art. 10 der Richtlinie 2016/680 Bestimmungen über die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten enthalten, die als sensible Daten angesehen werden, darunter genetische und biometrische Daten.

63

Insoweit sieht Art. 10 der Richtlinie 2016/680 vor, dass die Verarbeitung dieser sensiblen Daten „nur dann erlaubt [ist], wenn sie unbedingt erforderlich ist und vorbehaltlich geeigneter Garantien für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person erfolgt“ und nur in drei Fällen, so u. a., nach Buchst. a dieses Artikels, wenn sie nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten zulässig ist. Hingegen sieht Art. 9 Abs. 1 DSGVO ein grundsätzliches Verbot der Verarbeitung solcher sensiblen Daten vor, versehen mit einer Liste von Fällen, die in Abs. 2 dieses Artikels aufgeführt sind und in denen von diesem Verbot abgesehen werden kann, wobei in dieser Liste kein Fall genannt wird, der demjenigen einer Datenverarbeitung für Zwecke wie die in Art. 1 Abs. 1 der genannten Richtlinie genannten entspräche und der die Anforderung nach Art. 10 Buchst. a dieser Richtlinie erfüllen würde. Folglich kann eine Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten durch die zuständigen Behörden zu Zwecken, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/680 fallen, zwar erlaubt sein, sofern sie gemäß den Anforderungen nach Art. 10 dieser Richtlinie unbedingt erforderlich ist, mit geeigneten Garantien einhergeht und im Unionsrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen ist, jedoch wird dies bei einer Verarbeitung dieser Daten, die in den Anwendungsbereich der DSGVO fällt, nicht zwangsläufig der Fall sein.

64

Als Zweites ist die Tragweite der Anforderung nach Art. 10 Buchst. a der Richtlinie 2016/680, wonach die Verarbeitung personenbezogener Daten „nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten zulässig“ sein muss, im Licht der in Art. 52 Abs. 1 der Charta verankerten Anforderung zu bestimmen, wonach jede Einschränkung der Ausübung eines Grundrechts „gesetzlich vorgesehen“ sein muss.

65

Insoweit geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass diese Anforderung bedeutet, dass die Rechtsgrundlage, die eine solche Einschränkung zulässt, deren Tragweite hinreichend klar und präzise definieren muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66

Außerdem ergibt sich aus der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung, dass es hinsichtlich der unionsrechtlichen Bestimmungen, nach denen das nationale Recht eine Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erlauben kann, und hinsichtlich der für diese Erlaubnis geltenden Voraussetzungen keine Unklarheit geben darf. Die betroffenen Personen und die zuständigen Gerichte müssen nämlich in der Lage sein, insbesondere die Voraussetzungen, unter denen diese Verarbeitung erfolgen kann, sowie die Zwecke, denen sie rechtmäßig dienen kann, genau bestimmen zu können. Die Vorschriften der DSGVO und diejenigen der Richtlinie, die für diese Anforderungen gelten, können jedoch verschieden sein.

67

Daher ist es dem nationalen Gesetzgeber zwar freigestellt, im Rahmen ein und desselben legislativen Instruments die Verarbeitung personenbezogener Daten zu Zwecken, die unter die Richtlinie 2016/680 fallen, und zu anderen Zwecken, die unter die DSGVO fallen, vorzusehen, jedoch ist er gemäß den in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen verpflichtet, sich zu vergewissern, dass keine Unklarheiten hinsichtlich der Anwendbarkeit des einen oder des anderen Unionsrechtsakts auf die Erhebung biometrischer und genetischer Daten bestehen.

68

Als Drittes ist es in Bezug auf die Fragen des vorlegenden Gerichts nach einer etwaigen nicht ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie 2016/680 wichtig, zwischen den Vorschriften des nationalen Rechts, die die Umsetzung dieser Richtlinie, insbesondere ihres Art. 10, gewährleisten, und den Vorschriften zu unterscheiden, nach denen eine Verarbeitung von Daten, die zu den in dieser Vorschrift genannten besonderen Kategorien gehören, namentlich biometrischen und genetischen Daten, im Sinne von Buchst. a dieses Art. 10 zulässig sein kann.

69

Insoweit verpflichtet die Richtlinie 2016/680 zwar, wie aus ihrem Art. 63 Abs. 1 Unterabs. 2 hervorgeht, die Mitgliedstaaten ausdrücklich dazu, zu gewährleisten, dass auf diese Richtlinie in den zu ihrer Umsetzung erforderlichen Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei deren amtlicher Veröffentlichung Bezug genommen wird, was in jedem Fall den Erlass einer positiven Maßnahme zur Umsetzung dieser Richtlinie bedeutet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2021, Kommission/Spanien [Richtlinie über personenbezogene Daten – Strafrechtlicher Bereich], C‑658/19, EU:C:2021:138, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung), jedoch verlangt sie nicht, dass die Vorschriften des nationalen Rechts, die die Verarbeitung von Daten im Anwendungsbereich dieser Richtlinie erlauben, eine solche Bezugnahme enthalten. So sieht Art. 63 Abs. 4 der Richtlinie 2016/680 lediglich vor, dass die Mitgliedstaaten der Kommission den Wortlaut der wichtigsten nationalen Rechtsvorschriften mitteilen, die sie auf dem unter diese Richtlinie fallenden Gebiet erlassen.

70

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Wirkungen einer Richtlinie, wenn sie ordnungsgemäß umgesetzt worden ist, den Einzelnen durch Durchführungsmaßnahmen des betreffenden Mitgliedstaats treffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Mai 1986, Johnston, 222/84, EU:C:1986:206, Rn. 51), im Unterschied zu einer Verordnung, deren Vorschriften im Allgemeinen unmittelbare Wirkung in den nationalen Rechtsordnungen haben, ohne dass nationale Durchführungsmaßnahmen erforderlich wären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. April 2022, IFAP, C‑447/20 und C‑448/20, EU:C:2022:265, Rn. 88 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Daraus folgt, dass der nationale Gesetzgeber, wenn er die Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten durch die zuständigen Behörden im Sinne von Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie 2016/680 vorsieht, die entweder in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie oder in den der DSGVO fallen können, aus Gründen der Klarheit und Genauigkeit zum einen ausdrücklich auf die Vorschriften des nationalen Rechts, die die Umsetzung von Art. 10 dieser Richtlinie gewährleisten, und zum anderen auf Art. 9 dieser Verordnung Bezug nehmen kann. Hingegen kann dieses Erfordernis der Klarheit und Genauigkeit nicht zusätzlich die Erwähnung der genannten Richtlinie erfordern.

71

Als Viertes ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 288 Abs. 3 AEUV vorgesehene Pflicht eines Mitgliedstaats, alle zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Ziels erforderlichen Maßnahmen zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, einschließlich der Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeiten, obliegt. Folglich müssen die nationalen Gerichte bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts dieses so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der betreffenden Richtlinie auslegen, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2019, Profi Credit Polska, C‑419/18 und C‑483/18, EU:C:2019:930, Rn. 73 und 75 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

72

Somit ist das vorlegende Gericht bei einem offensichtlichen Widerspruch, wie er von diesem Gericht im Rahmen der zweiten Frage beschrieben wird, zwischen Bestimmungen nationaler Rechtsvorschriften, die die Verarbeitung genetischer und biometrischer Daten durch die zuständigen Behörden zu unter die Richtlinie 2016/680 fallenden Zwecken auszuschließen scheinen, einerseits und anderen Bestimmungen dieser nationalen Rechtsvorschriften, die eine solche Verarbeitung erlauben, andererseits, verpflichtet, diese Bestimmungen so auszulegen, dass die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie gewahrt bleibt. Insbesondere hat das vorlegende Gericht, wenn es feststellt, dass es Bestimmungen gibt, die geeignet sind, der in Art. 10 Buchst. a der Richtlinie genannten Anforderung zu genügen, zu prüfen, ob diese Bestimmungen nicht in Wirklichkeit einen anderen Anwendungsbereich haben als die Bestimmungen, mit denen sie in Widerspruch zu stehen scheinen.

73

In diesem Zusammenhang ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2016/680 die Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten durch die zuständigen Behörden im Sinne von Art. 3 Nr. 7 dieser Richtlinie im Rahmen anderer Aufgaben als derjenigen, die für die in Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Zwecke durchgeführt werden, nicht ausschließt. Ebenso verbietet, wie sich aus Rn. 63 des vorliegenden Urteils ergibt, Art. 9 DSGVO, der für die Verarbeitung dieser Daten, sofern sie nicht unter die in Art. 2 Abs. 2 DSGVO abschließend aufgezählten Ausnahmen fällt, gilt, diese Verarbeitung nicht absolut, sofern sie einem der in Art. 9 Abs. 2 DSGVO genannten Fälle entspricht. Unter diesen Umständen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Bezugnahme auf die DSGVO in diesen nationalen Bestimmungen nicht in Wirklichkeit auf Datenverarbeitungen durch die zuständigen Behörden zu anderen als den unter die Richtlinie 2016/680 fallenden Zwecken abstellt, so dass diese Bestimmungen nicht im Widerspruch zu den Bestimmungen stehen, die gemäß Art. 10 Buchst. a der genannten Richtlinie die Verarbeitung solcher Daten zu Zwecken vorsehen, die unter diese Richtlinie fallen.

74

Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung zum einen hervor, dass es sich bei den Bestimmungen des nationalen Rechts, die den vom vorlegenden Gericht vorgelegten Fragen zugrunde liegen, um materiell-rechtliche Bestimmungen handelt, die die Tätigkeiten des Innenministeriums regeln. Die erste dieser Bestimmungen sieht vor, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten durch dieses Ministerium nach diesem Gesetz im Einklang mit der DSGVO und dem nationalen Rechtsakt zur Umsetzung der Richtlinie 2016/680 erfolgt, und die zweite dieser Bestimmungen legt fest, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten, die genetische Daten und biometrische Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person umfassen, nur unter den in Art. 9 der genannten Verordnung oder im nationalen Rechtsakt zur Umsetzung von Art. 10 der genannten Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen zulässig ist. Zum anderen geht aus dieser Entscheidung auch hervor, dass die materiell-rechtliche Bestimmung, die eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für die Erhebung biometrischer und genetischer Daten im Rahmen der polizeilichen Registrierung bietet, ausschließlich Zwecken des Schutzes der nationalen Sicherheit, der Kriminalitätsbekämpfung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung dient.

75

Folglich ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die doppelte Bezugnahme auf Art. 9 DSGVO und auf die Vorschrift des nationalen Rechts, die den genannten Art. 10 umsetzt, dadurch gerechtfertigt sein kann, dass der Anwendungsbereich der Vorschrift des materiellen Rechts, die eine solche doppelte Bezugnahme enthält, alle Tätigkeiten der Dienststellen des Innenministeriums umfasst, die nach den Angaben der bulgarischen Regierung sowohl die in Art. 1 Abs. 1 der genannten Richtlinie angeführten Tätigkeiten als auch andere Tätigkeiten, die unter die genannte Verordnung fallen können, umfasst. Des Weiteren ist es Sache dieses Gerichts, sich zu vergewissern, dass – u. a. in Bezug auf die materiell-rechtliche Bestimmung, die eine Rechtsgrundlage für die Erhebung biometrischer und genetischer Daten im Rahmen der polizeilichen Registrierung bietet – alle einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts im Einklang mit dem Unionsrecht dahin ausgelegt werden können, dass aus diesen Bestimmungen hinreichend klar, präzise und unmissverständlich hervorgeht, in welchen Fällen die Vorschriften des nationalen Rechts zur Umsetzung der in Rede stehenden Richtlinie gelten und in welchen Fällen die Vorschriften der DSGVO einschlägig sind.

76

Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 10 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 im Licht von Art. 52 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizeibehörden für ihre Untersuchungstätigkeiten zu Zwecken der Kriminalitätsbekämpfung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nach dem Recht eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 10 Buchst. a dieser Richtlinie zulässig ist, wenn das Recht dieses Mitgliedstaats eine hinreichend klare und präzise Rechtsgrundlage für die Zulässigkeit dieser Verarbeitung enthält. Der Umstand, dass der nationale Gesetzgebungsakt, der eine solche Rechtsgrundlage enthält, im Übrigen auf die DSGVO und nicht auf die Richtlinie 2016/680 Bezug nimmt, ist für sich genommen nicht geeignet, diese Zulässigkeit in Frage zu stellen, sofern die Auslegung aller anwendbaren Bestimmungen des nationalen Rechts hinreichend klar, präzise und unmissverständlich ergibt, dass die fragliche Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie und nicht in den dieser Verordnung fällt.

Zur dritten Frage

77

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 sowie die Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die vorsehen, dass das zuständige Strafgericht im Fall der Weigerung einer Person, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt wird, freiwillig an der Erhebung der sie betreffenden biometrischen und genetischen Daten für die Zwecke ihrer Registrierung mitzuwirken, verpflichtet ist, die zwangsweise Durchführung dieser Erhebung zu bewilligen, ohne befugt zu sein, zu beurteilen, ob ein begründeter Verdacht besteht, dass die betreffende Person die Straftat, derer sie beschuldigt wird, begangen hat.

78

Zunächst ist festzustellen, dass diese Frage vom vorlegenden Gericht in Bezug auf ein Strafverfahren gestellt wird, in dessen Rahmen eine Bestimmung des nationalen Rechts anwendbar ist, nach der im Fall der Weigerung der betroffenen Person, an der Erhebung der sie betreffenden biometrischen und genetischen Daten für die Zwecke ihrer Registrierung mitzuwirken, die zu Zwecken erfolgt, die unter Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 fallen, das für die Entscheidung über die strafrechtliche Verantwortlichkeit dieser Person zuständige Gericht befugt ist, diese Erhebung zu bewilligen. Außerdem gilt diese Bestimmung des nationalen Rechts für Daten betreffend Personen, die vorsätzlicher Offizialstraftaten beschuldigt werden. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts handelt es sich bei der großen Mehrheit der im Strafgesetzbuch vorgesehenen Straftaten um vorsätzliche Straftaten, und bei fast allen um Offizialstraftaten. Nach den das bulgarische Strafverfahren betreffenden Vorschriften wird eine Person beschuldigt, wenn hinreichende Beweise dafür vorliegen, dass sie sich der Begehung einer Offizialstraftat schuldig gemacht hat.

79

Darüber hinaus sehen die das bulgarische Strafverfahren betreffenden Vorschriften den Erläuterungen zufolge, die die bulgarische Regierung im Rahmen der schriftlichen Antworten auf die Fragen des Gerichtshofs gegeben hat, vor, dass die Beschuldigung zu jedem Zeitpunkt des Ermittlungsverfahrens, das die erste Phase des Strafverfahrens darstellt, in der Ermittlungshandlungen und die Sammlung von Beweismitteln vorgenommen werden, und in jedem Fall vor dem Abschluss der Ermittlungen erfolgen kann. Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht und wie auch die bulgarische Regierung erläutert hat, kann die betroffene Person nach ihrer Beschuldigung Material zu ihrer Verteidigung vorbringen, insbesondere im Rahmen der Phase der Mitteilung von Ermittlungsmaterial, die nach Abschluss der Ermittlungen erfolgt.

80

Das vorlegende Gericht weist allerdings darauf hin, dass die fraglichen nationalen Rechtsvorschriften dem Gericht, das die Erhebung biometrischer und genetischer Daten betreffend die beschuldigte Person für die Zwecke ihrer Registrierung bewillige, nicht die Befugnis zur Würdigung der Beweise, auf die sich die Beschuldigung stütze, übertrügen, die bei den Ermittlungsbehörden liege. Es stellt des Weiteren klar, dass dieses Gericht über diesen Antrag auf Bewilligung nur auf der Grundlage einer Kopie des Beschlusses über die Beschuldigung und der Erklärung, mit der die betroffene Person die Erhebung dieser Daten verweigere, entscheide.

81

In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die dritte Frage des vorlegenden Gerichts, wie die bulgarische Regierung und die Kommission vorgebracht haben, sich in drei Teile gliedert. Erstens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680, der sich auf die Kategorie der Personen bezieht, gegen die ein begründeter Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen haben oder in naher Zukunft begehen werden, nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die zwangsweise Erhebung biometrischer und genetischer Daten betreffend eine natürliche Person für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, bezüglich deren hinreichende Beweise dafür, dass sie sich der Begehung einer vorsätzlichen Offizialstraftat schuldig gemacht hat, vorliegen, die nach nationalem Recht ihre Beschuldigung ermöglichen. Zweitens möchte es wissen, ob das Gericht, das über die zwangsweise Durchführung dieser Erhebung zu entscheiden hat, in Anbetracht der Grenzen seines Ermessens in der Lage ist, der betroffenen Person einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gemäß Art. 47 der Charta zu gewährleisten. Drittens möchte es wissen, ob die Achtung des Rechts auf die Unschuldsvermutung nach Art. 48 der Charta trotz dieser Grenzen gewährleistet werden kann.

Zur Tragweite von Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680

82

Art. 6 der Richtlinie 2016/680 verpflichtet die Mitgliedstaaten, vorzusehen, dass der für die Verarbeitung Verantwortliche „gegebenenfalls und so weit wie möglich“ klar zwischen den personenbezogenen Daten verschiedener Kategorien betroffener Personen unterscheidet, wie sie unter den Buchst. a bis d dieses Artikels genannt werden, d. h. Personen, gegen die ein begründeter Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen haben oder in naher Zukunft begehen werden, verurteilte Straftäter, Opfer einer Straftat oder Personen, bei denen bestimmte Fakten darauf hindeuten, dass sie Opfer einer Straftat sein könnten, sowie andere Parteien im Zusammenhang mit einer Straftat, wie Personen, die bei Ermittlungen in Verbindung mit der betreffenden Straftat oder beim anschließenden Strafverfahren als Zeugen in Betracht kommen, Personen, die Hinweise zur Straftat geben können, oder Personen, die mit den unter den Buchst. a und b des genannten Artikels genannten Personen in Kontakt oder in Verbindung stehen.

83

Die Mitgliedstaaten müssen somit sicherstellen, dass eine klare Unterscheidung zwischen den Daten der verschiedenen Kategorien betroffener Personen getroffen wird, damit auf diese, wie der Generalanwalt in Nr. 27 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, nicht unterschiedslos das gleiche Maß an Eingriffen in ihr Grundrecht auf Schutz ihrer personenbezogenen Daten, unabhängig davon, welcher Kategorie sie zugehören, angewandt wird. Insoweit entspricht, wie sich aus dem 31. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 ergibt, die in Art. 6 Buchst. a dieser Richtlinie definierte Kategorie von Personen der Kategorie der Personen, die verdächtigt werden, eine Straftat begangen zu haben.

84

Aus dem Wortlaut von Art. 6 der Richtlinie 2016/680 ergibt sich jedoch, dass die Verpflichtung, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten auferlegt, nicht absolut gilt. Zum einen besagt nämlich die darin enthaltene Wendung „gegebenenfalls und so weit wie möglich“, dass es dem für die Verarbeitung Verantwortlichen obliegt, in jedem Einzelfall zu bestimmen, ob eine klare Unterscheidung zwischen den personenbezogenen Daten der verschiedenen Kategorien betroffener Personen getroffen werden kann. Zum anderen weist das Wort „darunter“ in dieser Vorschrift darauf hin, dass die dort aufgeführten Kategorien von Personen nicht abschließend sind.

85

Im Übrigen ist festzustellen, dass das Vorliegen einer hinreichenden Zahl von Beweisen für die Schuld einer Person grundsätzlich zu einem begründeten Verdacht führt, dass diese Person die betreffende Straftat begangen hat. Somit scheinen nationale Rechtsvorschriften, die die zwangsweise Erhebung biometrischer und genetischer Daten natürlicher Personen für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, wenn hinreichende Beweise dafür vorliegen, dass die betroffene Person der Begehung einer Straftat schuldig ist, mit dem Ziel von Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 in Einklang zu stehen.

86

Nach alledem steht Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegen, die die zwangsweise Erhebung biometrischer und genetischer Daten von Personen für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, bezüglich deren hinreichende Beweise dafür vorliegen, dass sie sich der Begehung einer vorsätzlichen Offizialstraftat schuldig gemacht haben, und die aus diesem Grund beschuldigt worden sind.

Zur Achtung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz

87

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz jeder Person zuzuerkennen ist, die sich auf durch das Unionsrecht garantierte Rechte oder Freiheiten beruft, wenn sie gegen eine sie beschwerende Entscheidung vorgeht, die diese Rechte oder Freiheiten verletzen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 55, 57 und 58 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

88

Daher muss jeder beschuldigten Person, die sich der Erhebung sie betreffender fotografischer, daktyloskopischer und genetischer Daten im Rahmen eines Verfahrens wie der polizeilichen Registrierung, das den Anforderungen von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 entsprechen muss, widersetzt hat, gemäß der Vorgabe des Art. 47 der Charta das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Gericht gegen die Entscheidung über die Bewilligung der zwangsweisen Durchführung dieser Erhebung zustehen, damit sie die Rechte geltend machen kann, die sie aus den in dieser Vorschrift vorgesehenen Garantien herleitet, namentlich das Recht darauf, dass die Erhebung biometrischer und genetischer Daten gemäß Art. 10 Buchst. a dieser Richtlinie im Einklang mit der nationalen Regelung, nach der sie zulässig ist, durchgeführt wird. Diese Garantie bedeutet insbesondere, dass das zuständige Gericht überprüfen kann, ob die Maßnahme der Beschuldigung, die die rechtliche Grundlage für diese polizeiliche Registrierung bildet, gemäß den nationalen Strafverfahrensvorschriften in Anbetracht des Vorliegens hinreichender Beweise dafür erlassen wurde, dass die betroffene Person der Begehung einer vorsätzlichen Offizialstraftat schuldig ist.

89

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann und dass es gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta eingeschränkt werden kann, sofern diese Einschränkungen erstens gesetzlich vorgesehen sind, zweitens den Wesensgehalt der in Rede stehenden Rechte und Freiheiten achten und drittens unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 49 und 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

90

Im Übrigen ist festzustellen, dass Art. 54 der Richtlinie 2016/680 die Mitgliedstaaten verpflichtet, vorzusehen, dass eine Person, die der Ansicht ist, dass die Rechte, die ihr aufgrund von nach dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften zustehen, infolge einer nicht mit diesen Vorschriften im Einklang stehenden Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten verletzt wurden, das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf hat. Hieraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber die Ausübung des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf nicht selbst beschränkt hat und es den Mitgliedstaaten freisteht, diese Ausübung zu beschränken, sofern sie die in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Anforderungen beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 63 und 64).

91

Es ist daher zu prüfen, ob – unbeschadet des im nationalen Recht nach Art. 54 der Richtlinie 2016/680 vorgesehenen gerichtlichen Rechtsbehelfs – der Umstand, dass das zuständige Gericht im Hinblick auf die Bewilligung einer Maßnahme der zwangsweisen Durchführung der Erhebung biometrischer und genetischer Daten beschuldigter Personen keine Überprüfung in der Sache der Voraussetzungen für die Beschuldigung, auf der die Maßnahme der zwangsweisen Durchführung beruht, vornehmen darf, eine zulässige Einschränkung des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz darstellt.

92

Was die erste Voraussetzung in Rn. 89 des vorliegenden Urteils anbelangt, so ist es gemäß der in Rn. 65 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Grenzen, die das nationale Recht seinem Ermessen im Rahmen eines Antrags auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung der Erhebung biometrischer und genetischer Daten betreffend eine beschuldigte Person für die Zwecke ihrer Registrierung setzt, in diesem Recht hinreichend klar und präzise bestimmt sind.

93

Was die zweite Voraussetzung anbelangt, ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass zum Wesensgehalt des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. gehört, dass die Person, die Inhaber dieses Rechts ist, Zugang zu einem Gericht erhalten kann, das über die Befugnis verfügt, die Achtung der ihr durch das Unionsrecht garantierten Rechte sicherzustellen und zu diesem Zweck alle für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen zu prüfen (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

94

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich jedoch auch, dass diese Voraussetzung als solche nicht bedeutet, dass der Inhaber des Rechts auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz über einen unmittelbaren Rechtsbehelf verfügt, der in erster Linie darauf abzielt, eine bestimmte Maßnahme in Frage zu stellen, sofern es im Übrigen vor den verschiedenen zuständigen nationalen Gerichten einen oder mehrere Rechtsbehelfe gibt, die es ihm ermöglichen, inzident eine gerichtliche Kontrolle dieser Maßnahme zu erreichen, die die Beachtung der ihm durch das Unionsrecht garantierten Rechte und Freiheiten gewährleistet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

95

Die dritte Frage beruht, wie der Generalanwalt in Nr. 36 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, konkret auf der Annahme, dass sich dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, in dem die zwangsweise Durchführung der Erhebung biometrischer und genetischer Daten betreffend eine beschuldigte Person für die Zwecke ihrer Registrierung erfolgt, ein gerichtliches Verfahren anschließt. Wenn das Vorliegen einer hinreichenden Zahl belastender Beweise, das Voraussetzung dafür ist, dass die betroffene Person gezwungen werden kann, sich der Erhebung ihrer biometrischen und genetischen Daten zu unterziehen, aber nicht zum Zeitpunkt des Antrags auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung überprüft werden kann, muss sie zwingend in diesem gerichtlichen Verfahren überprüft werden können, in dem das angerufene Gericht die Möglichkeit haben muss, alle relevanten Rechts- und Tatsachenfragen zu prüfen, insbesondere um festzustellen, ob diese biometrischen und genetischen Daten nicht unter Verletzung der Rechte, die der betroffenen Person durch das Unionsrecht garantiert werden, erlangt wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 81 und 83 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

96

Jedenfalls muss das nationale Recht gemäß Art. 54 der Richtlinie 2016/680 dem Betroffenen die Möglichkeit bieten, die zwangsweise Erhebung seiner biometrischen und genetischen Daten im Rahmen eines gerichtlichen Rechtsbehelfs wirksam anzufechten, mit dem er eine Verletzung seiner Rechte aus dieser Richtlinie durch diese Erhebung geltend machen kann, und zwar unbeschadet eines verfügbaren verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelfs einschließlich des Rechts auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde. Daher muss die betroffene Person auch in dem Fall, dass sich an das strafrechtliche Ermittlungsverfahren kein gerichtliches Verfahren anschließt, insbesondere, wenn das Verfahren eingestellt wird, in der Lage sein, eine umfassende gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Verarbeitung der betreffenden Daten zu erlangen. Wenn also das nationale Recht, um der in dem genannten Art. 54 vorgesehenen Verpflichtung nachzukommen, solche Garantien bietet, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, so ist die Wahrung des Wesensgehalts des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz auch dann zu vermuten, wenn das Gericht, das die zwangsweise Durchführung der betreffenden Erhebung bewilligt, zum Zeitpunkt seiner Entscheidung über diese zwangsweise Durchführung selbst nicht über das für die Gewährung eines solchen Schutzes erforderliche Ermessen verfügt.

97

Zur dritten Voraussetzung ist zunächst festzustellen, dass die Erhebung genetischer und biometrischer Daten betreffend im Rahmen eines Strafverfahrens beschuldigte Personen für die Zwecke ihrer Registrierung den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 genannten Zwecken dient, insbesondere den – von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen darstellenden – Zwecken der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten.

98

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Erhebung zu dem im 27. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 genannten Ziel beitragen kann, wonach die zuständigen Behörden zur Verhütung, Ermittlung und Verfolgung von Straftaten personenbezogene Daten, die im Zusammenhang mit der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung einer bestimmten Straftat erhoben wurden, auch in einem anderen Kontext verarbeiten können müssen, um sich ein Bild von den kriminellen Handlungen machen und Verbindungen zwischen verschiedenen aufgedeckten Straftaten herstellen zu können.

99

Im vorliegenden Fall werden mit der durch das nationale Recht eingeführten polizeilichen Registrierung – wie die bulgarische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen angegeben und im Rahmen einer schriftlichen Antwort auf eine vom Gerichtshof gestellte Frage näher ausgeführt hat – zwei wesentliche Zwecke verfolgt. Zum einen werden diese Daten gesammelt und verarbeitet, um sie mit anderen Daten abzugleichen, die bei Ermittlungen zu anderen Straftaten erhoben wurden. Dieser Zweck betrifft nach Ansicht dieser Regierung auch den Abgleich mit Daten, die in anderen Mitgliedstaaten erhoben wurden. Zum anderen können diese Daten auch für die Zwecke des Strafverfahrens verarbeitet werden, in dessen Rahmen die betreffende Person beschuldigt wird.

100

Die Würdigung der Beweise, auf die sich die Beschuldigung der betroffenen Person stützt, und damit die Erhebung ihrer biometrischen und genetischen Daten vorübergehend der gerichtlichen Kontrolle zu entziehen, kann sich jedoch während des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens als gerechtfertigt erweisen. Eine solche Kontrolle in diesem Verfahren könnte nämlich den Ablauf der strafrechtlichen Ermittlungen, in deren Verlauf diese Daten erhoben werden, behindern und die Fähigkeit der Ermittler, weitere Straftaten auf der Grundlage eines Abgleichs dieser Daten mit Daten, die bei anderen Ermittlungen gesammelt wurden, aufzuklären, übermäßig einschränken. Diese Einschränkung des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ist daher nicht unverhältnismäßig, wenn das nationale Recht später eine effektive gerichtliche Kontrolle gewährleistet.

101

Nach alledem steht Art. 47 der Charta dem nicht entgegen, dass ein nationales Gericht bei der Entscheidung über einen Antrag auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung der Erhebung biometrischer und genetischer Daten einer beschuldigten Person für die Zwecke ihrer Registrierung nicht die Möglichkeit hat, die Beweise zu würdigen, auf denen diese Beschuldigung beruht, sofern das nationale Recht später eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Voraussetzungen dieser Beschuldigung, aus denen sich die Bewilligung der Erhebung dieser Daten ergibt, gewährleistet.

Zur Achtung der Unschuldsvermutung

102

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 48 Abs. 1 der Charta, dessen Inhalt dem von Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten entspricht, jeder Angeklagte bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig gilt.

103

Der Gerichtshof hat insbesondere anerkannt, dass sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt, dass u. a. die Unschuldsvermutung verletzt wird, wenn eine gerichtliche Entscheidung über einen Angeklagten den Eindruck vermittelt, dass er schuldig sei, obwohl seine Schuld nicht zuvor rechtsförmlich nachgewiesen worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2021, Dalli/Kommission, C‑615/19 P, EU:C:2021:133, Rn. 224 und die dort angeführte Rechtsprechung).

104

Des Weiteren sollte, wie aus dem 31. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 hervorgeht, die Festlegung verschiedener Kategorien von Personen, denen gemäß Art. 6 dieser Richtlinie unterschiedliche Verarbeitungen ihrer personenbezogenen Daten entsprechen müssen, nicht der Anwendung des Rechts auf die Unschuldsvermutung, wie es in der Charta und in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet ist, entgegenstehen.

105

Zu den Fragen des vorlegenden Gerichts in Bezug auf die Achtung des Rechts auf die Unschuldsvermutung durch eine gerichtliche Entscheidung, mit der die Erhebung biometrischer und genetischer Daten betreffend beschuldigte Personen für die Zwecke ihrer Registrierung bewilligt wird, ist erstens festzustellen, dass, falls das nationale Recht vorsieht, dass diese Erhebung auf die Kategorie der Personen beschränkt ist, die Beschuldigte sind, d. h. auf eine Kategorie von Personen, deren strafrechtliche Verantwortlichkeit noch nicht festgestellt worden ist, diese Erhebung als solche nicht als geeignet angesehen werden kann, im Sinne der in Rn. 103 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung den Eindruck der Behörden widerzuspiegeln, dass diese Personen schuldig seien.

106

Zweitens ist festzustellen, dass eine gerichtliche Entscheidung, mit der die Erhebung biometrischer und genetischer Daten betreffend beschuldigte Personen für die Zwecke ihrer Registrierung bewilligt wird, wenn sie sich darauf beschränkt, die Beschuldigung der betroffenen Person und deren Weigerung, sich dieser Erhebung zu unterziehen, zu protokollieren, nicht als Stellungnahme bezüglich der Schuld dieser Person und folglich auch nicht als Verstoß gegen die Vermutung der Unschuld dieser Person ausgelegt werden kann.

107

Der Umstand, dass das Gericht, das eine solche gerichtliche Entscheidung zu erlassen hat, in diesem Stadium des Strafverfahrens nicht beurteilen kann, ob die Beweise, auf denen die Beschuldigung der betroffenen Person beruht, ausreichend sind, stellt für diese nämlich eine Garantie für die Achtung des Rechts auf die Unschuldsvermutung dar.

108

Eine solche Garantie ist umso mehr geboten, wenn das nationale Recht, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bestimmung, vorsieht, dass das Gericht, das für die Entscheidung über die zwangsweise Durchführung der Erhebung biometrischer und genetischer Daten betreffend beschuldigte Personen für die Zwecke ihrer Registrierung zuständig ist, dasjenige ist, das in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens über die strafrechtliche Verantwortlichkeit dieser Person zu entscheiden haben wird. Die Achtung des Rechts auf die Unschuldsvermutung erfordert nämlich, dass dieses Gericht, wenn es diese Prüfung vornimmt, unparteiisch und unvoreingenommen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a., C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 88).

109

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das in Art. 48 der Charta verankerte Recht auf die Unschuldsvermutung dem nicht entgegensteht, dass beschuldigte Personen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren einer Maßnahme zur Erhebung sie betreffender biometrischer und genetischer Daten für die Zwecke ihrer Registrierung unterzogen werden, die von einem Gericht bewilligt worden ist, das in diesem Stadium nicht die Befugnis hat, die Beweise zu würdigen, auf denen die Beschuldigung beruht.

110

Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 sowie die Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, die vorsehen, dass das zuständige Strafgericht im Fall der Weigerung einer Person, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt wird, freiwillig an der Erhebung der sie betreffenden biometrischen und genetischen Daten für die Zwecke ihrer Registrierung mitzuwirken, verpflichtet ist, eine Maßnahme der zwangsweisen Durchführung dieser Erhebung zu bewilligen, ohne befugt zu sein, zu beurteilen, ob ein begründeter Verdacht besteht, dass die betreffende Person die Straftat, derer sie beschuldigt wird, begangen hat, sofern das nationale Recht später eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Voraussetzungen dieser Beschuldigung, aus denen sich die Bewilligung zur Erhebung dieser Daten ergibt, gewährleistet.

Zur vierten Frage

111

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

112

Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht und in den Rn. 46 und 49 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, fragt das vorlegende Gericht im Rahmen der vierten Frage nach der Tragweite der in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c, Art. 8 Abs. 1 und 2 sowie Art. 10 der Richtlinie 2016/680 aufgestellten Anforderungen.

113

Des Weiteren weist das vorlegende Gericht, wie in den Rn. 46 bis 48 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, darauf hin, dass diese Bestimmungen es seiner Ansicht nach zwar erfordern, dass die zuständigen Behörden bei der Bestimmung der Erforderlichkeit der Erhebung biometrischer und genetischer Daten über einen Ermessensspielraum verfügen und diese Erforderlichkeit angemessen begründen, die polizeiliche Registrierung, die in den im Ausgangsverfahren anwendbaren Rechtsvorschriften vorgesehen sei, jedoch zwingend für alle Personen gelte, die vorsätzlicher Offizialstraftaten beschuldigt würden, sowie für die drei Kategorien biometrischer und genetischer Daten im Sinne der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorschrift des nationalen Rechts, ohne dass diese Rechtsvorschriften verlangen würden, dass die konkrete Erforderlichkeit der Erhebung aller dieser Datenkategorien festgestellt werde.

114

Folglich ist die vierte Frage so zu verstehen ist, dass sie im Wesentlichen darauf abzielt, festzustellen, ob Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie mit Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, ohne die Verpflichtung der zuständigen Behörde vorzusehen, zum einen zu bestimmen und nachzuweisen, ob bzw. dass diese Erhebung für die Erreichung der konkret verfolgten Ziele erforderlich ist, und zum anderen, ob bzw. dass diese Ziele nicht durch die Erhebung nur eines Teils der betreffenden Daten erreicht werden können.

115

Es ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass die Fragen des vorlegenden Gerichts die Anforderung nach Art. 10 dieser Richtlinie betreffen, wonach die Verarbeitung der in dieser Vorschrift genannten besonderen Kategorien von Daten „nur“ dann erlaubt ist, „wenn sie unbedingt erforderlich ist“.

116

Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass, wie in den Rn. 62 und 63 des vorliegenden Urteils ausgeführt, Art. 10 der Richtlinie 2016/680 eine spezielle Bestimmung darstellt, die die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten, einschließlich biometrischer und genetischer Daten, regelt. Wie aus der Rechtsprechung hervorgeht, besteht der Zweck dieser Vorschrift darin, einen erhöhten Schutz gegen eine solche Verarbeitung zu gewährleisten, die aufgrund der besonderen Sensibilität der betreffenden Daten und des Kontexts, in dem sie verarbeitet werden, erhebliche Risiken für durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte und Grundfreiheiten, wie das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, mit sich bringen kann, wie sich aus dem 37. Erwägungsgrund der genannten Richtlinie ergibt (vgl. entsprechend Urteil vom 24. September 2019, GC u. a. (Auslistung sensibler Daten), C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 44).

117

Zweitens ist, wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 ergibt, die Anforderung, dass die Verarbeitung solcher Daten „nur“ dann erlaubt ist, „wenn sie unbedingt erforderlich ist“, dahin auszulegen, dass sie verschärfte Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung sensibler Daten festlegt, im Vergleich zu denjenigen, die sich aus Art. 4 Abs. 1 Buchst. b und c sowie aus Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie ergeben, die sich lediglich auf die „Erforderlichkeit“ einer Verarbeitung von Daten beziehen, die allgemein in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen.

118

So wird zum einen durch die Verwendung des Adverbs „nur“ vor dem Ausdruck „wenn sie unbedingt erforderlich ist“ betont, dass die Verarbeitung besonderer Kategorien von Daten im Sinne von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 nur in einer begrenzten Zahl von Fällen als erforderlich angesehen werden kann. Zum anderen bedeutet der Umstand, dass die Erforderlichkeit der Verarbeitung solcher Daten „unbedingt“ sein muss, dass diese Erforderlichkeit besonders streng zu beurteilen ist.

119

Der von der französischen Regierung angeführte Umstand, dass sich Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in einigen Sprachfassungen auf Fälle bezieht, in denen die Datenverarbeitung „strikt erforderlich“ ist, ist insoweit nicht entscheidend. Dieser terminologische Unterschied ändert nämlich nichts an der Art des Kriteriums, auf das damit abgestellt wird, und am geforderten Anforderungsniveau, da diese Sprachfassungen ebenfalls eine verschärfte Voraussetzung für die Erlaubnis der Verarbeitung sensibler Daten festlegen, die eine strengere Beurteilung ihrer Erforderlichkeit beinhaltet als in Fällen, in denen die verarbeiteten Daten nicht in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift fallen.

120

Außerdem war, wie auch die Kommission ausgeführt hat, die Anforderung, dass eine Datenverarbeitung nach Art. 10 der Richtlinie 2016/680 nur dann erlaubt ist, wenn sie unbedingt erforderlich ist, nicht in dem Vorschlag für eine Richtlinie (KOM[2012] 10 endgültig), der dieser Richtlinie zugrunde lag, enthalten, sondern wurde später vom Unionsgesetzgeber eingeführt, der damit eindeutig eine verschärfte Voraussetzung der Erforderlichkeit der Datenverarbeitung aufstellen wollte, die dem mit dieser Vorschrift verfolgten Ziel entspricht, das darin besteht, Personen verstärkt gegenüber der Verarbeitung sensibler Daten zu schützen.

121

Drittens ist in Bezug auf den Inhalt der Anforderung, dass die Verarbeitung sensibler Daten „nur“ dann erlaubt ist, „wenn sie unbedingt erforderlich ist“, festzustellen, dass die spezifischen Anforderungen des Art. 10 der Richtlinie 2016/680 eine besondere, auf bestimmte Datenkategorien anwendbare Umsetzung der Grundsätze der Art. 4 und 8 dieser Richtlinie darstellen, die bei jeder Verarbeitung von Daten, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen, beachtet werden müssen. Folglich ist die Tragweite dieser verschiedenen Anforderungen in Anbetracht dieser Grundsätze zu bestimmen.

122

Insbesondere muss zum einen die „unbedingte Erforderlichkeit“ – im Sinne von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 – der Erhebung biometrischer und genetischer Daten von beschuldigten Personen für die Zwecke ihrer Registrierung in Anbetracht der Zwecke dieser Erhebung bestimmt werden. Gemäß dem Grundsatz der Zweckbindung in Art. 4 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie müssen diese Zwecke „festgelegt, eindeutig und rechtmäßig“ sein. Zum anderen entspricht die Anforderung, dass die Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten „nur“ dann erlaubt ist, „wenn sie unbedingt erforderlich ist“, zwar, wie in den Rn. 117 bis 119 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, der Anforderung eines erhöhten Schutzes bestimmter Datenkategorien, jedoch stellt sie keine spezifische Anwendung des in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der genannten Richtlinie festgelegten Grundsatzes der Datenminimierung – wonach personenbezogene Daten dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein müssen – auf die in dem genannten Art. 10 angeführten Datenkategorien dar.

123

Des Weiteren muss die Tragweite dieser Anforderung – im Licht von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der genannten Richtlinie – auch im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt werden, wonach die Mitgliedstaaten u. a. vorsehen müssen, dass die Verarbeitung nur dann rechtmäßig ist, wenn und soweit sie für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde zu den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie genannten Zwecken wahrgenommenen wird, sowie auf Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie, der vorscheibt, dass im Recht der Mitgliedstaaten, das die Verarbeitung innerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie regelt, zumindest die Ziele der Verarbeitung, die personenbezogenen Daten, die verarbeitet werden sollen, und die Zwecke der Verarbeitung angegeben werden.

124

Insoweit dürfen die Zwecke der Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten nicht mit zu allgemeinen Begriffen bezeichnet werden, sondern müssen hinreichend genau und konkret definiert werden, um eine Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ dieser Verarbeitung zu ermöglichen.

125

Außerdem bedeutet die Anforderung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Verarbeitung sensibler Daten, dass in diesem Zusammenhang die Einhaltung des Grundsatzes der Datenminimierung besonders streng kontrolliert werden muss.

126

Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass, wie aus dem 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 hervorgeht, die Anforderung der Erforderlichkeit erfüllt ist, wenn das mit der betreffenden Datenverarbeitung verfolgte Ziel nicht in zumutbarer Weise ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden kann, die weniger stark in die Grundrechte der betroffenen Personen, insbesondere die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten, eingreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybínes etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung). Insbesondere muss sich der für die Verarbeitung Verantwortliche im Hinblick auf den erhöhten Schutz von Personen bei der Verarbeitung sensibler Daten vergewissern, dass dieses Ziel nicht durch die Heranziehung anderer als der in Art. 10 der Richtlinie 2016/680 aufgeführten Datenkategorien erreicht werden kann.

127

Zweitens bedeutet die Anforderung der „unbedingten Erforderlichkeit“ in Anbetracht der erheblichen Risiken, die die Verarbeitung sensibler Daten für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen insbesondere im Zusammenhang mit den Aufgaben der zuständigen Behörden für die in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 genannten Zwecke darstellt, dass der besonderen Bedeutung des Zwecks, der mit einer solchen Verarbeitung erreicht werden soll, Rechnung getragen wird. Diese Bedeutung kann u. a. anhand der Art des verfolgten Ziels beurteilt werden, insbesondere des Umstands, ob die Verarbeitung einem konkreten Zweck dient, der mit der Verhütung von Straftaten oder einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit von einem gewissen Schweregrad, der Verfolgung solcher Straftaten oder dem Schutz vor einer solchen Bedrohung zusammenhängt, sowie im Licht der besonderen Umstände, unter denen diese Verarbeitung erfolgt.

128

Nach alledem ist festzustellen, dass nationale Rechtsvorschriften, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen vorsehen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, grundsätzlich gegen die Anforderung in Art. 10 der Richtlinie 2016/680 verstößt, wonach die Verarbeitung der in dieser Vorschrift genannten besonderen Kategorien von Daten „nur“ dann erlaubt ist, „wenn sie unbedingt erforderlich ist“.

129

Solche Rechtsvorschriften können nämlich unterschiedslos und allgemein zur Erhebung biometrischer und genetischer Daten der meisten beschuldigten Personen führen, da der Begriff „vorsätzliche Offizialstraftat“ besonders allgemein gehalten ist und auf eine große Zahl von Straftaten unabhängig von ihrer Art und Schwere angewendet werden kann.

130

Zwar beschränken solche Rechtsvorschriften den Anwendungsbereich der Erhebung biometrischer und genetischer Daten auf Personen, die in der Ermittlungsphase eines Strafverfahrens beschuldigt werden, d. h. auf Personen, gegen die ein begründeter Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen haben, im Sinne von Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680. Jedoch kann der bloße Umstand, dass eine Person einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt wird, nicht als ein Faktor angesehen werden, der für sich genommen die Annahme zuließe, dass die Erhebung ihrer biometrischen und genetischen Daten im Hinblick auf die damit verfolgten Zwecke und unter Berücksichtigung der sich daraus ergebenden Verletzungen von Grundrechten, insbesondere des Rechts auf Achtung des Privatlebens und des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten, die durch die Art. 7 und 8 der Charta garantiert werden, unbedingt erforderlich ist.

131

So kann es zum einen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, die ihre Beschuldigung rechtfertigt, was voraussetzt, dass bereits genügend Beweise für eine Beteiligung dieser Person an der Straftat gesammelt wurden, Fälle geben, in denen die Erhebung sowohl biometrischer als auch genetischer Daten für die Zwecke des laufenden Strafverfahrens nicht konkret erforderlich ist.

132

Zum anderen kann die Wahrscheinlichkeit, dass die biometrischen und genetischen Daten einer beschuldigten Person im Rahmen anderer Verfahren als dem, in dessen Rahmen die Beschuldigung erfolgt ist, unbedingt erforderlich sind, nur unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren bestimmt werden, wie etwa Art und Schwere der mutmaßlichen Straftat, der sie beschuldigt wird, der besonderen Umstände dieser Straftat, des etwaigen Zusammenhangs der Straftat mit anderen laufenden Verfahren, der Vorstrafen oder des individuellen Profils der betreffenden Person.

133

Unter diesen Umständen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es, um die Wirksamkeit von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 zu gewährleisten, möglich ist, die nationalen Rechtsvorschriften, die diese zwangsweise Durchführung vorsehen, unionsrechtskonform auszulegen. Das vorlegende Gericht wird insbesondere zu prüfen haben, ob das nationale Recht die Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Erhebung sowohl biometrischer als auch genetischer Daten der betreffenden Person für die Zwecke ihrer Registrierung erlaubt. Dazu müsste es u. a. möglich sein, zu prüfen, ob die Art und die Schwere der Straftat, deren die betroffene Person im Ausgangsverfahren verdächtigt wird, oder andere relevante Faktoren, wie die in Rn. 132 des vorliegenden Urteils angeführten, Umstände darstellen können, die eine solche „unbedingte Erforderlichkeit“ belegen können. Außerdem müsste gewiss sein, dass nicht bereits die Erhebung von Personenstandsdaten, die ebenfalls im Rahmen der polizeilichen Registrierung vorgesehen ist, wie die bulgarische Regierung im Rahmen einer schriftlichen Antwort auf eine vom Gerichtshof gestellte Frage bestätigt hat, die Erreichung der verfolgten Ziele ermöglicht.

134

Sollte das nationale Recht eine solche Kontrolle der Maßnahme der Erhebung biometrischer und genetischer Daten nicht gewährleisten, wird das vorlegende Gericht die volle Wirksamkeit des genannten Art. 10 sicherzustellen haben, indem es den Antrag der Polizeibehörden auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung dieser Erhebung ablehnt.

135

Nach alledem ist Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie mit Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, ohne die Verpflichtung der zuständigen Behörde vorzusehen, zum einen zu überprüfen und nachzuweisen, ob bzw. dass diese Erhebung für die Erreichung der konkret verfolgten Ziele unbedingt erforderlich ist, und zum anderen, ob bzw. dass diese Ziele nicht durch Maßnahmen erreicht werden können, die einen weniger schwerwiegenden Eingriff in die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person darstellen.

Kosten

136

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 10 Buchst. a der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates ist im Licht von Art. 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass

die Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizeibehörden für ihre Untersuchungstätigkeiten zu Zwecken der Kriminalitätsbekämpfung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nach dem Recht eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 10 Buchst. a dieser Richtlinie zulässig ist, wenn das Recht dieses Mitgliedstaats eine hinreichend klare und präzise Rechtsgrundlage für die Zulässigkeit dieser Verarbeitung enthält. Der Umstand, dass der nationale Gesetzgebungsakt, der eine solche Rechtsgrundlage enthält, im Übrigen auf die Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) und nicht auf die Richtlinie 2016/680 Bezug nimmt, ist für sich genommen nicht geeignet, diese Zulässigkeit in Frage zu stellen, sofern die Auslegung aller anwendbaren Bestimmungen des nationalen Rechts hinreichend klar, präzise und unmissverständlich ergibt, dass die fragliche Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie und nicht in den dieser Verordnung fällt.

 

2.

Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 sowie Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

sind dahin auszulegen, dass

sie nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, die vorsehen, dass das zuständige Strafgericht im Fall der Weigerung einer Person, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt wird, freiwillig an der Erhebung der sie betreffenden biometrischen und genetischen Daten für die Zwecke ihrer Registrierung mitzuwirken, verpflichtet ist, eine Maßnahme der zwangsweisen Durchführung dieser Erhebung zu bewilligen, ohne befugt zu sein, zu beurteilen, ob ein begründeter Verdacht besteht, dass die betreffende Person die Straftat, derer sie beschuldigt wird, begangen hat, sofern das nationale Recht später eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Voraussetzungen dieser Beschuldigung, aus denen sich die Bewilligung zur Erhebung dieser Daten ergibt, gewährleistet.

 

3.

Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie mit Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie

ist dahin auszulegen, dass

er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, ohne die Verpflichtung der zuständigen Behörde vorzusehen, zum einen zu überprüfen und nachzuweisen, ob bzw. dass diese Erhebung für die Erreichung der konkret verfolgten Ziele unbedingt erforderlich ist, und zum anderen, ob bzw. dass diese Ziele nicht durch Maßnahmen erreicht werden können, die einen weniger schwerwiegenden Eingriff in die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person darstellen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.