URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

2. Juni 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Marken – Richtlinie 2008/95/EG – Art. 5 – Rechte aus der Marke – Art. 6 Abs. 2 – Beschränkung der Wirkungen der Marke – Unmöglichkeit für den Inhaber einer Marke, einem Dritten die Benutzung eines älteren Rechts von örtlicher Bedeutung im geschäftlichen Verkehr zu verbieten – Voraussetzungen – Begriff ‚älteres Recht‘ – Handelsname – Inhaber einer jüngeren Marke, der ein noch älteres Recht hat – Relevanz“

In der Rechtssache C‑112/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 19. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Februar 2021, in dem Verfahren

X BV

gegen

Classic Coach Company vof,

Y,

Z

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter) und D. Gratsias,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der X BV, vertreten durch F. I. van Dorsser, Advocaat,

der Classic Coach Company vof, von Y und von Z, vertreten durch M. G. Jansen, Advocaat,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch É. Gippini Fournier und P.‑J. Loewenthal, dann durch P.‑J. Loewenthal als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 2008, L 299, S. 25).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der X BV, einem Reisebusunternehmen, und der Classic Coach Company vof, ebenfalls einem Reisebusunternehmen (im Folgenden: Classic Coach), sowie zwei natürlichen Personen, Y und Z, über deren behauptete Verletzung der Benelux-Marke, deren Inhaberin X ist.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

Pariser Verbandsübereinkunft

3

Art. 1 Abs. 2 der am 20. März 1883 in Paris unterzeichneten Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums, zuletzt revidiert in Stockholm am 14. Juli 1967 und geändert am 28. September 1979 (United Nations Treaty Series, Bd. 828, Nr. 11851, S. 305, im Folgenden: Pariser Verbandsübereinkunft), bestimmt:

„Der Schutz des gewerblichen Eigentums hat zum Gegenstand die Erfindungspatente, die Gebrauchsmuster, die gewerblichen Muster oder Modelle, die Fabrik- oder Handelsmarken, die Dienstleistungsmarken, den Handelsnamen und die Herkunftsangaben oder Ursprungsbezeichnungen sowie die Unterdrückung des unlauteren Wettbewerbs.“

4

Art. 8 der Pariser Verbandsübereinkunft sieht vor:

„Der Handelsname wird in allen Verbandsländern, ohne Verpflichtung zur Hinterlegung oder Eintragung, geschützt, gleichgültig, ob er einen Bestandteil einer Fabrik‑ oder Handelsmarke bildet oder nicht.“

TRIPS-Übereinkommen

5

Das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (im Folgenden: TRIPS-Übereinkommen) in Anhang 1C des am 15. April 1994 in Marrakesch unterzeichneten Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) wurde mit dem Beschluss 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986-1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche (ABl. 1994, L 336, S. 1) genehmigt.

6

Art. 1 („Wesen und Umfang der Pflichten“) Abs. 2 des TRIPS-Übereinkommens sieht vor:

„Der Begriff ‚geistiges Eigentum‘ im Sinne dieses Übereinkommens umfasst alle Arten des geistigen Eigentums, die Gegenstand der Abschnitte 1 bis 7 des Teils II sind.“

7

In Art. 2 („Übereinkünfte über geistiges Eigentum“) Abs. 1 dieses Übereinkommens heißt es:

„In Bezug auf die Teile II, III und IV dieses Übereinkommens befolgen die Mitglieder die Artikel 1 bis 12 sowie Artikel 19 der Pariser Verbandsübereinkunft …“

8

Art. 16 („Rechte aus der Marke“) Abs. 1 dieses Übereinkommens bestimmt:

„Dem Inhaber einer eingetragenen Marke steht das ausschließliche Recht zu, Dritten zu verbieten, ohne seine Zustimmung im geschäftlichen Verkehr identische oder ähnliche Zeichen für Waren oder Dienstleistungen, die identisch oder ähnlich denen sind, für welche die Marke eingetragen ist, zu benutzen, wenn diese Benutzung die Gefahr von Verwechslungen nach sich ziehen würde. Bei der Benutzung identischer Zeichen für identische Waren oder Dienstleistungen wird die Verwechslungsgefahr vermutet. Die vorstehend beschriebenen Rechte beeinträchtigen bestehende ältere Rechte nicht; sie beeinträchtigen auch nicht die Möglichkeit, dass die Mitglieder Rechte aufgrund von Benutzung vorsehen.“

Unionsrecht

9

Der fünfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/95 lautet:

„Die vorliegende Richtlinie sollte den Mitgliedstaaten das Recht belassen, die durch Benutzung erworbenen Marken weiterhin zu schützen; diese Marken sollten lediglich in ihrer Beziehung zu den durch Eintragung erworbenen Marken berücksichtigt werden.“

10

Art. 1 („Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie sieht vor:

Diese Richtlinie findet auf Individual‑, Kollektiv‑, Garantie- und Gewährleistungsmarken für Waren oder Dienstleistungen Anwendung, die in einem Mitgliedstaat oder beim Benelux-Amt für geistiges Eigentum eingetragen oder angemeldet oder mit Wirkung für einen Mitgliedstaat international registriert worden sind.“

11

Art. 4 („Weitere Eintragungshindernisse oder Ungültigkeitsgründe bei Kollision mit älteren Rechten“) Abs. 4 der Richtlinie bestimmt:

„Jeder Mitgliedstaat kann zudem vorsehen, dass eine Marke von der Eintragung ausgeschlossen ist oder im Falle der Eintragung der Ungültigerklärung unterliegt, wenn und soweit

b)

Rechte an einer nicht eingetragenen Marke oder einem sonstigen im geschäftlichen Verkehr benutzten Zeichen vor dem Tag der Anmeldung der jüngeren Marke oder gegebenenfalls vor dem Tag der für die Anmeldung der jüngeren Marke in Anspruch genommenen Priorität erworben worden sind und diese nicht eingetragene Marke oder dieses sonstige Zeichen dem Inhaber das Recht verleiht, die Benutzung einer jüngeren Marke zu untersagen;

c)

die Benutzung der Marke aufgrund eines sonstigen, nicht in Absatz 2 oder in vorliegendem Absatz unter Buchstabe b genannten älteren Rechts untersagt werden kann, insbesondere aufgrund eines

i)

Namensrechts;

ii)

Rechts an der eigenen Abbildung;

iii)

Urheberrechts;

iv)

gewerblichen Schutzrechts;

…“

12

In Art. 5 („Rechte aus der Marke“) der Richtlinie heißt es:

„(1)   Die eingetragene Marke gewährt ihrem Inhaber ein ausschließliches Recht. Dieses Recht gestattet es dem Inhaber, Dritten zu verbieten, ohne seine Zustimmung im geschäftlichen Verkehr

a)

ein mit der Marke identisches Zeichen für Waren oder Dienstleistungen zu benutzen, die mit denjenigen identisch sind, für die sie eingetragen ist;

b)

ein Zeichen zu benutzen, wenn wegen der Identität oder der Ähnlichkeit des Zeichens mit der Marke und der Identität oder Ähnlichkeit der durch die Marke und das Zeichen erfassten Waren oder Dienstleistungen für das Publikum die Gefahr von Verwechslungen besteht, die die Gefahr einschließt, dass das Zeichen mit der Marke gedanklich in Verbindung gebracht wird.

(2)   Die Mitgliedstaaten können ferner bestimmen, dass es dem Inhaber gestattet ist, Dritten zu verbieten, ohne seine Zustimmung im geschäftlichen Verkehr ein mit der Marke identisches oder ihr ähnliches Zeichen für Waren oder Dienstleistungen zu benutzen, die nicht denen ähnlich sind, für die die Marke eingetragen ist, wenn diese in dem betreffenden Mitgliedstaat bekannt ist und die Benutzung des Zeichens die Unterscheidungskraft oder die Wertschätzung der Marke ohne rechtfertigenden Grund in unlauterer Weise ausnutzt oder beeinträchtigt.

(3)   Sind die Voraussetzungen der Absätze l und 2 erfüllt, so kann insbesondere verboten werden:

a)

das Zeichen auf Waren oder deren Aufmachung anzubringen;

b)

unter dem Zeichen Waren anzubieten, in den Verkehr zu bringen oder zu den genannten Zwecken zu besitzen oder unter dem Zeichen Dienstleistungen anzubieten oder zu erbringen;

c)

Waren unter dem Zeichen einzuführen oder auszuführen;

d)

das Zeichen in den Geschäftspapieren und in der Werbung zu benutzen.

(5)   Die Absätze 1 bis 4 berühren nicht die in einem Mitgliedstaat geltenden Bestimmungen über den Schutz gegenüber der Verwendung eines Zeichens zu anderen Zwecken als der Unterscheidung von Waren oder Dienstleistungen, wenn die Benutzung dieses Zeichens die Unterscheidungskraft oder die Wertschätzung der Marke ohne rechtfertigenden Grund in unlauterer Weise ausnutzt oder beeinträchtigt.“

13

Art. 6 („Beschränkung der Wirkungen der Marke“) der Richtlinie 2008/95 bestimmt:

„(1)   Die Marke gewährt ihrem Inhaber nicht das Recht, einem Dritten zu verbieten,

a)

seinen Namen oder seine Anschrift,

… im geschäftlichen Verkehr zu benutzen …

(2)   Ist in einem Mitgliedstaat nach dessen Rechtsvorschriften ein älteres Recht von örtlicher Bedeutung anerkannt, so gewährt die Marke ihrem Inhaber nicht das Recht, einem Dritten die Benutzung dieses Rechts im geschäftlichen Verkehr in dem Gebiet, in dem es anerkannt ist, zu verbieten.“

14

Art. 9 („Verwirkung durch Duldung“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)   Hat in einem Mitgliedstaat der Inhaber einer älteren Marke … die Benutzung einer jüngeren eingetragenen Marke in diesem Mitgliedstaat während eines Zeitraums von fünf aufeinander folgenden Jahren in Kenntnis dieser Benutzung geduldet, so kann er für die Waren oder Dienstleistungen, für die die jüngere Marke benutzt worden ist, aufgrund der älteren Marke weder die Ungültigerklärung der jüngeren Marke verlangen noch sich ihrer Benutzung widersetzen, es sei denn, dass die Anmeldung der jüngeren Marke bösgläubig vorgenommen worden ist.

(2)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass Absatz 1 auch für den Inhaber … eines sonstigen in Artikel 4 Absatz 4 Buchstabe b oder c genannten älteren Rechts gilt.

(3)   In den Fällen der Absätze 1 oder 2 kann der Inhaber der jüngeren eingetragenen Marke sich der Benutzung des älteren Rechts nicht widersetzen, auch wenn dieses Recht gegenüber der jüngeren Marke nicht mehr geltend gemacht werden kann.“

15

Die Richtlinie 2008/95 wurde mit Wirkung vom 15. Januar 2019 durch die Richtlinie (EU) 2015/2436 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2015 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 2015, L 336, S. 1) aufgehoben und ersetzt. Der Inhalt von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 findet sich nunmehr im Wesentlichen – mit rein redaktionellen Änderungen – in Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2015/2436. In Anbetracht des im Hinblick auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitraums ist die vorliegende Vorlage zur Vorabentscheidung jedoch anhand der Richtlinie 2008/95 zu prüfen.

Benelux-Übereinkommen

16

Art. 2.20 („Schutzumfang“) Abs. 1 des Benelux-Übereinkommens über geistiges Eigentum (Marken und Muster oder Modelle) vom 25. Februar 2005, unterzeichnet in Den Haag vom Königreich Belgien, dem Großherzogtum Luxemburg und dem Königreich der Niederlande, in Kraft getreten am 1. September 2006 (im Folgenden: Benelux-Übereinkommen), bestimmt:

„Die eingetragene Marke gewährt ihrem Inhaber ein ausschließliches Recht. Unter Vorbehalt der etwaigen Anwendung des allgemeinen Rechts der zivilrechtlichen Haftung gewährt das ausschließliche Recht an der Marke dem Inhaber, es Dritten zu verbieten, ohne seine Zustimmung:

b.

im geschäftlichen Verkehr ein Zeichen zu benutzen, wenn wegen der Identität oder der Ähnlichkeit des Zeichens mit der Marke und der Identität oder Ähnlichkeit der durch die Marke und das Zeichen erfassten Waren oder Dienstleistungen für das Publikum die Gefahr von Verwechslungen besteht, die die Gefahr einschließt, dass das Zeichen mit der Marke gedanklich in Verbindung gebracht wird;

d.

ein Zeichen zu anderen Zwecken als der Unterscheidung von Waren oder Dienstleistungen zu benutzen, wenn die Benutzung dieses Zeichens die Unterscheidungskraft oder die Wertschätzung der Marke ohne rechtfertigenden Grund in unlauterer Weise ausnutzt oder beeinträchtigt.“

17

In Art. 2.23 Abs. 2 („Beschränkung des ausschließlichen Rechts“) des Benelux-Übereinkommens heißt es:

„Das ausschließliche Recht an einer Marke umfasst nicht das Recht, sich der Benutzung eines ähnlichen Zeichens im geschäftlichen Verkehr in dem Gebiet, in dem es anerkannt ist, zu widersetzen, wenn und soweit es durch ein älteres, nach den Rechtsvorschriften eines der Benelux-Staaten anerkanntes Recht von örtlicher Bedeutung geschützt ist.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18

Von 1968 bis 1977 waren zwei Brüder Gesellschafter einer in Amersfoort (Niederlande) ansässigen offenen Handelsgesellschaft, die ein Reisebusunternehmen unter dem Namen „Reis- en Touringcarbedrijf Amersfoort’s Bloei“ betrieb. Seit dem Jahr 1935 und bis zum Jahr 1971 beförderte ihr Vater im Gelegenheitsverkehr Personen mit Reisebussen.

19

Im Jahr 1975 gründete einer dieser Brüder (im Folgenden: Bruder 1) X, die seit dem Jahr 1975 oder 1978 zwei Handelsnamen benutzte, von denen einer teilweise dem Familiennamen der Brüder entsprach.

20

Im Jahr 1977, nach dem Ausscheiden des Bruders 1 aus der im Jahr 1968 gegründeten Gesellschaft, führte der andere Bruder (im Folgenden: Bruder 2) dieses Unternehmen in Form einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit seiner Ehegattin als Mitgesellschafterin fort, wobei er den Firmennamen der im Jahr 1968 gegründeten Gesellschaft beibehielt.

21

Im Jahr 1991 gründete der Bruder 2 mit seiner Ehegattin aus steuerlichen Gründen auch eine offene Handelsgesellschaft. Beide Gesellschaften des Bruders 2 und seiner Ehegattin existierten nebeneinander und beide benutzten auf ihren Reisebussen Bezeichnungen mit einem Namen, der dem Namen des Bruders 2 entsprach.

22

Im Jahr 1995, nach dem Tod des Bruders 2, führten seine beiden Söhne Y und Z dessen Unternehmen fort, die zu diesem Zweck die ebenfalls in den Niederlanden ansässige Classic Coach gründeten. Seit einigen Jahren ist auf der Rückseite der Reisebusse von Classic Coach eine Bezeichnung angebracht, die u. a. den Namen des Bruders 2 enthält, genauer gesagt, den Anfangsbuchstaben seines Vornamens, gefolgt von seinem Familiennamen.

23

Im Übrigen ist X Inhaberin einer Benelux-Wortmarke, die am 15. Januar 2008 u. a. für Dienstleistungen der Klasse 39, einschließlich Dienstleistungen eines Reisebusunternehmens, des Abkommens von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken vom 15. Juni 1957 in revidierter und geänderter Fassung eingetragen wurde. Diese Marke entspricht dem gemeinsamen Familiennamen der Brüder 1 und 2.

24

Unter diesen Umständen erhob X Klage bei der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) und beantragte u. a., den Beklagten des Ausgangsverfahrens aufzugeben, jeden Verstoß gegen ihre Benelux-Wortmarke und ihre Handelsnamen zu beenden und auch in Zukunft zu unterlassen.

25

X begründete ihre Klage damit, dass die Beklagten des Ausgangsverfahrens ihre Markenrechte aus Art. 2.20 Abs. 1 Buchst. b und d des Benelux-Übereinkommens und ihre Rechte am Handelsnamen aus Art. 5 der Handelsnaamwet (Gesetz über den Handelsnamen) durch die Verwendung der dem Namen des Bruders 2 entsprechenden Bezeichnung verletzten.

26

Die Beklagten des Ausgangsverfahrens traten der geltend gemachten Markenverletzung entgegen, indem sie sich u. a. auf Art. 2.23 Abs. 2 des Benelux-Übereinkommens beriefen, der im Wesentlichen Art. 6 Abs. 2 der Ersten Richtlinie 89/104/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 1989, L 40, S. 1) umsetzt, der wiederum Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 entspricht. Im Übrigen setzten sich die Beklagten des Ausgangsverfahrens gegen die geltend gemachte Verletzung des Handelsnamens zur Wehr, indem sie sich u. a. auf eine Verwirkung beriefen.

27

Mit Urteil vom 10. Mai 2017 gab die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) der Klage von X statt, doch mit Urteil vom 12. Februar 2019 hob der Gerechtshof Den Haag (Berufungsgericht Den Haag, Niederlande) dieses Urteil auf und wies die Klage von X ab.

28

Der mit der Kassationsbeschwerde von X gegen dieses Urteil befasste Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) äußert Zweifel hinsichtlich der Antwort auf die Frage, wann davon ausgegangen werden kann, dass ein „älteres Recht“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 vorliegt.

29

In dieser Hinsicht sei u. a. denkbar, dass ein älteres Recht nur dann angenommen werden könne, wenn nach den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften die Benutzung der Marke durch ihren Inhaber aufgrund dieses Rechts untersagt werden könne. Aus der Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung gehe nämlich hervor, dass eine im ursprünglichen Vorschlag enthaltene Formulierung, die den Anwendungsbereich der Bestimmung auf ältere Rechte von örtlicher Bedeutung erweitere, die gegenüber der später eingetragenen Marke nicht mehr geltend gemacht werden könnten, schließlich nicht in die Bestimmung eingeflossen sei.

30

Denkbar sei außerdem auch, dass es für die Annahme eines älteren Rechts eines Dritten von Bedeutung sei, ob der Markeninhaber ein noch älteres, nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats anerkanntes Recht an dem als Marke eingetragenen Zeichen habe und, falls ja, ob die Benutzung des vermeintlich älteren Rechts dieses Dritten aufgrund dieses noch älteren Rechts untersagt werden könne.

31

Im vorliegenden Fall habe der Gerechtshof Den Haag (Berufungsgericht Den Haag) entschieden, dass die Inhaberin der Benelux-Marke X hinsichtlich des als Marke eingetragenen Zeichens über noch ältere Handelsnamensrechte als die Beklagten des Ausgangsverfahrens verfüge. Nach Ansicht dieses Gerichts habe X wegen der Verwirkung durch Duldung ihr Recht jedoch verwirkt, die Benutzung des dem Namen des Bruders 2 entsprechenden Handelsnamens durch die Beklagten des Ausgangsverfahrens aufgrund dieser älteren Rechte am Handelsnamen zu untersagen. Somit befinde sich X in einer Situation, in der sie die Benutzung dieses Handelsnamens durch die Beklagten des Ausgangsverfahrens nicht aufgrund ihrer noch älteren Rechte am Handelsnamen untersagen könne.

32

Die Beurteilung der Begründetheit der gegen diese Beurteilung des Gerechtshof Den Haag (Berufungsgericht Den Haag) gerichteten Kassationsbeschwerde hänge von der Tragweite des Begriffs „älteres Recht“ in Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 ab. In diesem Zusammenhang stellt der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) klar, dass von der Prämisse auszugehen sei, dass alle im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Handelsnamen in den Niederlanden anerkannte Rechte im Sinne von Art. 6 Abs. 2 dieser Richtlinie seien.

33

Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist für die Feststellung, dass ein „älteres Recht“ eines Dritten im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 vorliegt,

a)

ausreichend, dass dieser Dritte ein nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats anerkanntes Recht vor der Eintragung der Marke im geschäftlichen Verkehr benutzt hat, oder

b)

erforderlich, dass dieser Dritte nach den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften die Benutzung der Marke durch ihren Inhaber aufgrund dieses älteren Rechts untersagen kann?

2.

Ist bei der Beantwortung von Frage 1 auch noch von Bedeutung, ob der Markeninhaber ein noch älteres (nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats anerkanntes) Recht an dem als Marke eingetragenen Zeichen hat, und, falls ja, ist dann von Bedeutung, ob der Markeninhaber die Benutzung des vermeintlich „älteren Rechts“ durch den Dritten aufgrund dieses noch älteren, anerkannten Rechts untersagen kann?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

34

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 dahin auszulegen ist, dass er für die Feststellung des Bestehens eines „älteren Rechts“ im Sinne dieser Bestimmung verlangt, dass der Inhaber dieses Rechts die Benutzung der jüngeren Marke durch ihren Inhaber verbieten kann.

35

Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, geht es im Ausgangsverfahren um eine Kollision von mehreren identischen oder ähnlichen Handelsnamen, die alle nach nationalen Rechtsvorschriften anerkannt sind und von denen einer zu einem späteren Zeitpunkt von seinem Inhaber als Marke eingetragen worden ist. Nach den Angaben in dieser Entscheidung kann sich der Inhaber der eingetragenen Marke nach den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften aufgrund des älteren Handelsnamens, den er selbst benutzt, der Benutzung des identischen oder ähnlichen Handelsnamens durch einen Dritten jedoch wegen der Verwirkung durch Duldung nicht mehr widersetzen.

36

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „älteres Recht“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 im Licht der entsprechenden Begriffe, die in den Vorschriften des Völkerrechts enthalten sind, so auszulegen ist, dass er mit diesen vereinbar bleibt, wobei auch der Kontext dieser Begriffe und die Zielsetzung der einschlägigen Bestimmungen der Übereinkünfte im Bereich des geistigen Eigentums zu berücksichtigen sind (vgl. entsprechend Urteil vom 2. April 2020, Stim und SAMI, C‑753/18, EU:C:2020:268, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass der Handelsname ein Recht darstellt, das unter den Begriff „geistiges Eigentum“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 des TRIPS-Übereinkommens fällt. Darüber hinaus ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 dieses Übereinkommens, dass der speziell in Art. 8 der Pariser Verbandsübereinkunft vorgeschriebene Schutz der Handelsnamen in das TRIPS-Übereinkommen ausdrücklich aufgenommen worden ist. Die Mitglieder der WTO sind nach dem TRIPS‑Übereinkommen somit zum Schutz der Handelsnamen verpflichtet (Urteil vom 16. November 2004, Anheuser-Busch, C‑245/02, EU:C:2004:717, Rn. 91).

38

Außerdem muss es sich nach Art. 16 Abs. 1 Satz 3 des TRIPS-Übereinkommens um ein bestehendes älteres Recht handeln, wobei das Wort „bestehend“ bedeutet, dass das betreffende Recht in den zeitlichen Geltungsbereich des TRIPS-Übereinkommens fallen und zu dem Zeitpunkt, zu dem es von seinem Inhaber den Ansprüchen des Inhabers der Marke, mit der es angeblich kollidiert, entgegengehalten wird, noch immer geschützt sein muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2004, Anheuser-Busch, C‑245/02, EU:C:2004:717, Rn. 94).

39

Auch wenn nach Art. 8 der Pariser Verbandsübereinkunft der Schutz des Handelsnamens gewährleistet werden muss, ohne dass er von einer Verpflichtung zur Eintragung abhängig gemacht werden kann, stehen darüber hinaus grundsätzlich weder Art. 16 Abs. 1 des TRIPS-Übereinkommens noch Art. 8 der Pariser Verbandsübereinkunft dem entgegen, dass das Bestehen des Handelsnamens nach nationalem Recht von Voraussetzungen hinsichtlich einer Mindestbenutzung oder eines Mindestbekanntheitsgrades des Namens abhängt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2004, Anheuser-Busch, C‑245/02, EU:C:2004:717, Rn. 96 und 97).

40

Der Begriff des älteren Rechts bedeutet, dass die Grundlage des betreffenden Rechts vor dem Erwerb der Marke, mit der dieses Recht angeblich kollidiert, entstanden sein muss. Es handelt sich nämlich um den Ausdruck des grundsätzlichen Vorrangs des älteren ausschließlichen Rechts, der einen der Grundsätze des Markenrechts und allgemeiner des gesamten Rechts des gewerblichen Eigentums bildet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2004, Anheuser-Busch, C‑245/02, EU:C:2004:717, Rn. 98).

41

Im Übrigen ist nach Art. 4 Abs. 4 Buchst. c der Richtlinie 2008/95 unter dem Begriff „älteres Recht“ u. a. ein gewerbliches Schutzrecht zu verstehen, wobei es sich dabei nur um eine Art geistigen Eigentums handelt. Aus Art. 1 Abs. 2 der Pariser Verbandsübereinkunft geht hervor, dass der Handelsname ein gewerbliches Schutzrecht darstellt.

42

In diesem Zusammenhang dient Art. 4 Abs. 4 Buchst. c der Richtlinie 2008/95 zwar hauptsächlich anderen als den in Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 genannten Zwecken, nämlich dem Inhaber eines älteren Rechts zu ermöglichen, sich der Eintragung einer Marke zu widersetzen oder die Ungültigerklärung einer eingetragenen Marke zu verlangen, doch muss der in diesen beiden Bestimmungen verwendete Begriff „älteres Recht“ dieselbe Bedeutung haben, da der Unionsgesetzgeber im vorliegenden Fall keinen anderen Willen zum Ausdruck gebracht hat (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Oktober 2011, Football Association Premier League u. a., C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631, Rn. 188).

43

Folglich kann ein Handelsname ein älteres Recht im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 darstellen.

44

Zu den Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union – unabhängig von den Wertungen in den Mitgliedstaaten – eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, wobei der Wortlaut der fraglichen Bestimmung, der Kontext, in dem sie verwendet wird, sowie die Ziele der Regelung, zu der sie gehören, zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. November 2021, LR Ģenerālprokuratūra, C‑3/20, EU:C:2021:969, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45

Insoweit ist zum Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung neben den Voraussetzungen, die sich erstens auf die Benutzung eines solchen Rechts im geschäftlichen Verkehr, zweitens auf die Vorzeitigkeit dieses Rechts, drittens auf dessen örtliche Bedeutung und viertens auf die Anerkennung dieses Rechts durch die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats beziehen, keineswegs vorsieht, dass der Dritte, um dieses Recht gegen den Inhaber einer jüngeren Marke geltend machen zu können, die Benutzung der jüngeren Marke verbieten können muss.

46

Diese Auslegung wird sowohl durch den Kontext, in dem diese Bestimmung steht, als auch durch die allgemeine Systematik der Richtlinie 2008/95 gestützt. Nach Art. 4 Abs. 4 Buchst. b und c dieser Richtlinie kann nämlich jeder Mitgliedstaat vorsehen, dass eine Marke von der Eintragung ausgeschlossen ist oder im Falle der Eintragung der Ungültigerklärung unterliegt, u. a. wenn und soweit die Rechte an einem im geschäftlichen Verkehr benutzten Zeichen vor dem Tag der Anmeldung der jüngeren Marke oder gegebenenfalls vor dem Tag der für die Anmeldung der jüngeren Marke in Anspruch genommenen Priorität erworben worden sind und dieses Zeichen dem Inhaber das Recht verleiht, die Benutzung einer jüngeren Marke zu untersagen, sowie wenn und soweit die Benutzung der Marke aufgrund eines älteren Rechts, wie etwa eines gewerblichen Schutzrechts, untersagt werden kann.

47

Im Unterschied zu den insbesondere in Art. 4 Abs. 4 Buchst. b und c der Richtlinie 2008/95 vorgesehenen Eintragungshindernissen oder Ungültigkeitsgründen bei Kollision mit älteren Rechten, die entweder die Eintragung einer Marke verhindern oder deren Ungültigerklärung erwirken sollen, sieht Art. 6 Abs. 2 dieser Richtlinie jedoch nur eine Beschränkung der in Art. 5 der Richtlinie vorgesehenen Rechte aus einer eingetragenen Marke vor.

48

Darüber hinaus dürfen „ältere Rechte“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 nur von örtlicher Bedeutung sein, was bedeutet, dass sie sich in geografischer Hinsicht nicht auf ein so weites Gebiet erstrecken dürfen wie eine eingetragene Marke, die normalerweise das gesamte Gebiet erfasst, für das sie eingetragen worden ist.

49

Ein solcher Ansatz, bei dem die Beschränkung der Rechte aus einer eingetragenen Marke weniger strengen Voraussetzungen unterliegt als die Verhinderung der Eintragung einer Marke oder deren Ungültigerklärung, steht auch im Einklang mit den Zielen der Richtlinie 2008/95, mit der allgemein ein Gleichgewicht hergestellt werden soll zwischen dem Interesse des Inhabers einer Marke an der Wahrung ihrer Hauptfunktion und dem Interesse der anderen Wirtschaftsteilnehmer an der Verfügbarkeit von Zeichen, die ihre Waren und Dienstleistungen bezeichnen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar, C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Diese Auslegung wird durch die Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung nicht in Frage gestellt, auch wenn die Entstehungsgeschichte eines Unionsrechtsakts relevante Anhaltspunkte für seine Auslegung liefern kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Januar 2022, Deutschland u. a./Kommission, C‑177/19 P bis C‑179/19 P, EU:C:2022:10, Rn. 82). Im vorliegenden Fall ist beim Erlass der Richtlinie 89/104, die später durch die Richtlinie 2008/95 kodifiziert worden ist, der von der italienischen Delegation im Rat der Europäischen Union vorgeschlagene Wortlaut des jetzigen Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 nicht vollständig eingeflossen. Nach dem Vorschlag dieser Delegation gälte die Beschränkung der Wirkungen der Marke „auch wenn das ältere Recht gegenüber der später eingetragenen Marke nicht mehr geltend gemacht werden kann.“

51

Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass der Unionsgesetzgeber den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 nur auf ältere Rechte beschränken wollte, die es ihrem Inhaber ermöglichen, die Benutzung der jüngeren Marke zu verbieten. Eine solche Voraussetzung nähme dieser Bestimmung nämlich ihre praktische Wirksamkeit, da damit die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung den Voraussetzungen für die Anwendung der weiteren Eintragungshindernisse oder Ungültigkeitsgründe nach Art. 4 Abs. 4 Buchst. b und c dieser Richtlinie gleichgesetzt würden.

52

Folglich genügt es nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 grundsätzlich, dass das ältere Recht von örtlicher Bedeutung, wie etwa ein Handelsname, nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats anerkannt ist und im geschäftlichen Verkehr benutzt wird, um dem Inhaber einer jüngeren Marke entgegengehalten werden zu können.

53

Eine nationale Regelung, die verlangt, dass das ältere Recht seinem Inhaber das Recht verleiht, die örtliche Benutzung einer später eingetragenen Marke zu verbieten, ginge über die Anforderungen des Art. 6 der Richtlinie 2008/95 hinaus, wobei diese Bestimmung zusammen mit den Art. 5 und 7 dieser Richtlinie eine umfassende Harmonisierung der Vorschriften über die Rechte aus der Marke vornimmt und damit die Rechte von Inhabern von Marken in der Union festlegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar, C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die seit langem bestehende gleichzeitige redliche Benutzung zweier identischer Zeichen, die identische Waren bezeichnen, die Hauptfunktion der Marke, d. h. die Gewährleistung der Herkunft der Waren oder Dienstleistungen gegenüber den Verbrauchern, nicht beeinträchtigt oder beeinträchtigen kann. Im Fall eines zukünftigen unredlichen Verhaltens bei der Benutzung dieser Zeichen könnte ein solcher Sachverhalt jedoch gegebenenfalls im Licht der Vorschriften des unlauteren Wettbewerbs zu prüfen sein (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar, C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 82 und 83).

55

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 dahin auszulegen ist, dass er für die Feststellung des Bestehens eines „älteren Rechts“ im Sinne dieser Bestimmung nicht verlangt, dass der Inhaber dieses Rechts die Benutzung der jüngeren Marke durch ihren Inhaber verbieten kann.

Zur zweiten Frage

56

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 dahin auszulegen ist, dass einem Dritten ein „älteres Recht“ im Sinne dieser Bestimmung in einer Situation zuerkannt werden kann, in der der Inhaber der jüngeren Marke ein noch älteres, nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats anerkanntes Recht an dem als Marke eingetragenen Zeichen hat, und, gegebenenfalls, ob sich der Umstand, dass der Inhaber der Marke und des noch älteren Rechts nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats die Benutzung des jüngeren Rechts durch den Dritten nicht mehr aufgrund des noch älteren Rechts verbieten kann, auf das Bestehen eines „älteren Rechts“ im Sinne dieser Bestimmung auswirkt.

57

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/95 grundsätzlich nicht die Beziehung zwischen den verschiedenen Rechten regelt, die als „ältere Rechte“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie eingestuft werden können, sondern deren Beziehung zu den durch Eintragung erworbenen Marken.

58

Die Richtlinie 2008/95 findet nämlich nach ihrem Art. 1 im Wesentlichen auf Marken Anwendung, die eingetragen oder angemeldet worden sind.

59

Ferner regeln Art. 4 Abs. 4 Buchst. b und c sowie Art. 6 Abs. 2 dieser Richtlinie Kollisionen von eingetragenen Marken oder angemeldeten Marken mit älteren Rechten.

60

Diese Feststellung wird sowohl durch den Wortlaut des fünften Erwägungsgrundes der Richtlinie 2008/95 gestützt, der die Beziehung von den durch Benutzung erworbenen Marken zu den durch Eintragung erworbenen Marken betrifft, als auch durch Art. 9 Abs. 3 dieser Richtlinie, aus dem hervorgeht, dass dieser Artikel hinsichtlich der Verwirkung durch Duldung nur die Beziehung von älteren Rechten zu jüngeren eingetragenen Marken regelt.

61

Folglich wird die Beziehung zwischen den verschiedenen Rechten, die als „ältere Rechte“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 eingestuft werden können, hauptsächlich durch das innerstaatliche Recht des betreffenden Mitgliedstaats geregelt.

62

Daher kommt es für die Anwendung von Art. 6 Abs. 2 dieser Richtlinie darauf an, dass – wie sich aus der in Rn. 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt – das vom Dritten geltend gemachte Recht nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats anerkannt ist und dass dieses Recht zu dem Zeitpunkt, zu dem es von seinem Inhaber den Ansprüchen des Inhabers der Marke, mit der es angeblich kollidiert, entgegengehalten wird, noch immer geschützt ist.

63

In diesem Zusammenhang kann sich der Umstand, dass der Inhaber der jüngeren Marke ein noch älteres, nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats anerkanntes Recht an dem als Marke eingetragenen Zeichen hat, auf das Bestehen eines „älteren Rechts“ im Sinne dieser Bestimmung auswirken, soweit sich der Inhaber der Marke, indem er sich auf dieses noch ältere Recht stützt, der Geltendmachung eines älteren Rechts tatsächlich widersetzen oder diese beschränken kann. Dies gemäß dem einschlägigen nationalen Recht zu prüfen, ist im vorliegenden Fall Sache des vorlegenden Gerichts.

64

In einer Situation, in der ein von einem Dritten geltend gemachtes Recht nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nicht mehr geschützt ist, kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass dieses Recht ein nach diesen Rechtsvorschriften anerkanntes „älteres Recht“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 darstellt.

65

Unter diesen Umständen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 dahin auszulegen ist, dass einem Dritten ein „älteres Recht“ im Sinne dieser Bestimmung in einer Situation zuerkannt werden kann, in der der Inhaber der jüngeren Marke ein noch älteres, nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats anerkanntes Recht an dem als Marke eingetragenen Zeichen hat, soweit der Inhaber der Marke und des noch älteren Rechts nach diesen Rechtsvorschriften die Benutzung des jüngeren Rechts durch den Dritten nicht mehr aufgrund seines noch älteren Rechts verbieten kann.

Kosten

66

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken ist dahin auszulegen, dass er für die Feststellung des Bestehens eines „älteren Rechts“ im Sinne dieser Bestimmung nicht verlangt, dass der Inhaber dieses Rechts die Benutzung der jüngeren Marke durch ihren Inhaber verbieten kann.

 

2.

Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 ist dahin auszulegen, dass einem Dritten ein „älteres Recht“ im Sinne dieser Bestimmung in einer Situation zuerkannt werden kann, in der der Inhaber der jüngeren Marke ein noch älteres, nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats anerkanntes Recht an dem als Marke eingetragenen Zeichen hat, soweit der Inhaber der Marke und des noch älteren Rechts nach diesen Rechtsvorschriften die Benutzung des jüngeren Rechts durch den Dritten nicht mehr aufgrund seines noch älteren Rechts verbieten kann.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.