URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

22. April 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Zollkodex der Gemeinschaften – Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 – Art. 29 Abs. 1 – Art. 32 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i – Zollkodex der Union – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Art. 70 Abs. 1 – Art. 71 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i – Ermittlung des Zollwerts – Transaktionswert – Berichtigung – Die Lieferung an die Grenze umfassender Preis“

In der Rechtssache C‑75/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgerichts von Litauen) mit Entscheidung vom 29. Januar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Februar 2020, in dem Verfahren

„Lifosa“ UAB

gegen

Muitinės departamentas prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos,

Beteiligte:

Kauno teritorinė muitinė,

„Transchema“ UAB,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Wahl (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi und des Richters J. Passer,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der „Lifosa“ UAB, Prozessbevollmächtigte: A. Seliava und E. Sinkevičius, advokatai,

der litauischen Regierung, vertreten durch V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche-Duvieusart und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 29 Abs. 1 und Art. 32 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1, im Folgenden: Zollkodex der Gemeinschaften) sowie von Art. 70 Abs. 1 und Art. 71 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, im Folgenden: Zollkodex der Union).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Lifosa“ UAB (im Folgenden: Einführerin) und der Muitinės departamentas prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos (Zolldienststelle des Finanzministeriums, Litauen) wegen der Entscheidung der Zollbehörden, der Einführerin gegenüber u. a. den Zollwert der eingeführten Waren zu berichtigen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Zollkodex der Gemeinschaften

3

Art. 29 Abs. 1 des Zollkodex der Gemeinschaften bestimmte:

„Der Zollwert eingeführter Waren ist der Transaktionswert, das heißt der für die Waren bei einem Verkauf zur Ausfuhr in das Zollgebiet der Gemeinschaft tatsächlich gezahlte oder zu zahlende Preis, gegebenenfalls nach Berichtigung gemäß den Artikeln 32 und 33 und unter der Voraussetzung, dass

b)

hinsichtlich des Kaufgeschäfts oder des Preises weder Bedingungen vorliegen noch Leistungen zu erbringen sind, deren Wert im Hinblick auf die zu bewertenden Waren nicht bestimmt werden kann;

…“

4

Art. 29 Abs. 3 Buchst. a des Zollkodex lautete:

„Der tatsächlich gezahlte oder zu zahlende Preis ist die vollständige Zahlung, die der Käufer an den Verkäufer oder zu dessen Gunsten für die eingeführten Waren entrichtet oder zu entrichten hat, und schließt alle Zahlungen ein, die als Bedingung für das Kaufgeschäft über die eingeführten Waren vom Käufer an den Verkäufer oder vom Käufer an einen Dritten zur Erfüllung einer Verpflichtung des Verkäufers tatsächlich entrichtet werden oder zu entrichten sind. Die Zahlung muss nicht notwendigerweise in Form einer Geldübertragung vorgenommen werden. Sie kann auch durch Kreditbriefe oder verkehrsfähige Wertpapiere erfolgen; sie kann unmittelbar oder mittelbar durchgeführt werden.“

5

In Art. 32 Abs. 1 bis 3 des Zollkodex hieß es:

„(1)   Bei der Ermittlung des Zollwerts nach Artikel 29 sind dem für die eingeführten Waren tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Preis hinzuzurechnen:

e)

i) Beförderungs- und Versicherungskosten für die eingeführten Waren und

bis zum Ort des Verbringens in das Zollgebiet der Gemeinschaft.

(2)   Zuschläge zu dem tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Preis dürfen nach diesem Artikel nur auf der Grundlage objektiver und bestimmbarer Tatsachen vorgenommen werden.

(3)   Zuschläge zu dem tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Preis dürfen bei der Ermittlung des Zollwerts nur vorgenommen werden, wenn dies in diesem Artikel vorgesehen ist.“

Verordnung (EWG) Nr. 2454/93

6

Art. 164 Buchst. c der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung Nr. 2913/92 (ABl. 1993, L 253, S. 1) in Kapitel 4 („Vorschriften zu den Beförderungskosten“) in Teil I Titel V dieser Verordnung bestimmte:

„Bei Anwendung des Artikels 32 Absatz 1 Buchstabe e) … des Zollkodex [der Gemeinschaften] gilt Folgendes:

c)

Werden Waren unentgeltlich oder mit einem Beförderungsmittel des Käufers befördert, so sind die Beförderungskosten, die bis zum Ort des Verbringens bei gleicher Beförderungsart nach dem üblichen Tarif berechnet worden wären, in den Zollwert einzubeziehen.“

Zollkodex der Union

7

Art. 70 („Zollwertbestimmung auf der Grundlage des Transaktionswerts“) des Zollkodex der Union bestimmt:

„(1)   Die vorrangige Grundlage für den Zollwert von Waren ist der Transaktionswert, das heißt der für die Waren bei einem Verkauf zur Ausfuhr in das Zollgebiet der Union tatsächlich gezahlte oder zu zahlende Preis, der erforderlichenfalls anzupassen ist.

(2)   Der tatsächlich gezahlte oder zu zahlende Preis ist die vollständige Zahlung, die der Käufer an den Verkäufer oder der Käufer an einen Dritten zugunsten des Verkäufers für die eingeführten Waren leistet oder zu leisten hat, und schließt alle Zahlungen ein, die als Voraussetzung für den Verkauf der eingeführten Waren tatsächlich geleistet werden oder zu leisten sind.

(3)   Der Transaktionswert ist anwendbar, wenn alle folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

b)

der Verkauf oder der Preis unterliegt keinen Bedingungen oder Leistungen, deren Wert im Hinblick auf die zu bewertenden Waren nicht bestimmt werden kann;

…“

8

Art. 71 („Bestandteile des Transaktionswerts“) des Zollkodex sieht vor:

„(1)   Bei der Ermittlung des Zollwerts nach Artikel 70 sind dem für die eingeführten Waren tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Preis hinzuzurechnen:

e)

die folgenden Kosten bis zum Ort des Verbringens der Waren in das Zollgebiet der Union:

i)

Beförderungs- und Versicherungskosten für die eingeführten Waren und;

(2)   Zuschläge zu dem nach Absatz 1 tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Preis dürfen nach diesem Artikel nur auf der Grundlage objektiver und quantifizierbarer Angaben vorgenommen werden.

(3)   Zuschläge zu dem tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Preis dürfen bei der Ermittlung des Zollwerts nur vorgenommen werden, wenn dies in diesem Artikel vorgesehen ist.“

Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447

9

Art. 138 („Beförderungskosten“) Abs. 3 der Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447 der Kommission vom 24. November 2015 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung Nr. 952/2013 (ABl. 2015, L 343, S. 558) bestimmt:

„Werden Waren unentgeltlich oder mit einem Beförderungsmittel des Käufers befördert, so werden die in den Zollwert einzubeziehenden Beförderungskosten nach dem für die gleichen Beförderungsmittel üblichen Frachttarif berechnet.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

10

Die Einführerin ist eine Gesellschaft mit Sitz in Litauen, die u. a. Düngemittel herstellt. Aufgrund eines am 23. September 2011 geschlossenen Vertrags kaufte sie im Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Oktober 2016 bei einer Zwischenhändlerin, der „Transchema“ UAB, unterschiedliche Mengen technischer Schwefelsäure, die von einer in Belarus ansässigen Gesellschaft, der Naftan JSC (im Folgenden: Herstellerin), hergestellt wurden, und führte sie in das Zollgebiet der Union ein.

11

Für jedes Geschäft wurde ein zusätzlicher Vertrag geschlossen, in dem ein konkreter Preis, der sogenannte Preis „frei Grenze“ (im Folgenden: DAF) nach der Incoterm-Klausel DAF, die zu den von der Internationalen Handelskammer entwickelten Incoterms 2000 gehört, vereinbart wurde, wonach die Herstellerin sämtliche Kosten für die Beförderung der eingeführten Waren bis zum vereinbarten Lieferort an der Grenze zu tragen hat.

12

Der von der Einführerin erklärte Zollwert der Waren gab die tatsächlich gezahlten Beträge an, wie sie in den von der Zwischenhändlerin ausgestellten Rechnungen ausgewiesen wurden.

13

Bei einer Prüfung stellte das Zollamt Kaunas (Litauen) fest, dass der so erklärte Zollwert der eingeführten Waren niedriger war als die Kosten, die von der Herstellerin für die Beförderung dieser Waren mit der Eisenbahn zum Grenzübergang tatsächlich getragen worden waren. Da das Zollamt Kaunas der Ansicht war, dass diese Beförderungskosten dem Transaktionswert der Waren hinzuzurechnen seien, erließ es am 9. Februar 2017 eine Entscheidung, mit welcher der von der Einführerin angegebene Zollwert dahin berichtigt wurde, dass die Kosten für die Beförderung dieser Waren außerhalb des Zollgebiets der Union hinzugerechnet wurden. Demzufolge wurden der Einführerin die Zahlung von 25876 Euro wegen der Berichtigung dieses Zollwerts, von 412 Euro Verzugszinsen für die entsprechende nicht gezahlten Zollschuld, von 187152 Euro für die geschuldete Einfuhrmehrwertsteuer, von 42492 Euro Verzugszinsen für diese Steuer und von einer Geldbuße in Höhe von 42598 Euro auferlegt.

14

Die Einführerin legte gegen diese Entscheidung einen Einspruch bei der Zolldienststelle des Finanzministeriums ein, die die Entscheidung bestätigte.

15

Die Einführerin erhob Klage beim Vilniaus apygardos administracinis teismas (Bezirksverwaltungsgericht Vilnius, Litauen).

16

Mit Urteil vom 28. November 2017 wies das Vilniaus apygardos administracinis teismas (Bezirksverwaltungsgericht Vilnius) die Klage der Einführerin als unbegründet ab, die dagegen beim Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauen) ein Rechtsmittel einlegte.

17

Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ist zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens unstreitig, dass der Kaufpreis für die eingeführten Waren die Kosten für die Lieferung an die Grenze umfasste, die nach den in Rn. 11 des vorliegenden Urteils beschriebenen Lieferbedingungen von der Herstellerin zu tragen waren.

18

Weiter bestand der von der Einführerin in ihren Zollerklärungen angegebene Zollwert dieser Waren in den für diese Waren tatsächlich gezahlten Beträgen, die dem tatsächlichen Wert dieser Waren entsprachen. Dennoch war der so angegebene Zollwert niedriger als die Kosten, die der Herstellerin für die Beförderung dieser Waren mit der Eisenbahn bis zur litauischen Grenze entstanden waren.

19

Hierzu machen die Zollbehörden geltend, dass die Zollanmeldungen nicht alle Bestandteile dieser Waren, die einen wirtschaftlichen Wert hätten, widerspiegelten, wenn für die Ermittlung des Zollwerts der eingeführten Waren deren Transaktionswert nicht durch Hinzurechnung der von der Herstellerin getragenen Beförderungskosten berichtigt würde.

20

Die Einführerin macht dagegen geltend, dass der Kaufpreis der eingeführten Waren deren tatsächlichen Wert widerspiegele, da zum einen die Herstellerin diese Waren nicht verarbeiten oder lagern könne, und zum anderen das Recycling dieser Waren mit sehr hohen Kosten verbunden sei. Obwohl dieser Preis nicht sämtliche der Herstellerin entstandenen Beförderungskosten decke, bleibe er daher gerechtfertigt und für sie wirtschaftlich vorteilhaft, da der in Belarus für das Recycling der eingeführten Waren erhobene Ökosteuerbetrag den angegebenen Zollwert und die Beförderungskosten für diese Waren übersteigen würde.

21

Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht wissen, ob zur Ermittlung des Zollwerts der eingeführten Waren Art. 29 Abs. 1 und Art. 32 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Gemeinschaften sowie Art. 70 Abs. 1 und Art. 71 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Union verlangen, dass die Beförderungskosten dem Transaktionswert der Waren in einer Situation wie der des Ausgangsverfahren hinzugerechnet werden, in der zwar die Verkaufsbedingungen vorsehen, dass der Kaufpreis für diese Waren die Beförderungskosten umfasst, die von der Herstellerin getragenen Beförderungskosten aber höher sind als der Preis, zu dem diese die Waren an die Einführerin verkauft.

22

Unter diesen Umständen hat der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgerichts von Litauen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 29 Abs. 1 und Art. 32 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Gemeinschaften sowie Art. 70 Abs. 1 und Art. 71 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Union dahin auszulegen, dass der Transaktionswert so zu berichtigen ist, dass er alle dem … Hersteller tatsächlich entstandenen Kosten für die Beförderung der Waren zu dem Ort, an dem sie in das Zollgebiet der Union eingeführt wurden, umfasst, wenn wie im vorliegenden Fall erstens … die Verpflichtung zur Deckung dieser Kosten nach den Lieferbedingungen den … Hersteller traf, zweitens diese Beförderungskosten über den vereinbarten und vom … Einführer tatsächlich gezahlten … Preis hinausgingen, drittens aber der vom … Einführer tatsächlich gezahlte … Preis dem tatsächlichen Wert der Waren entsprach, selbst wenn dieser Preis nicht ausreichte, um die dem … Hersteller entstandenen Beförderungskosten vollständig zu decken?

Zur Vorlagefrage

23

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 29 Abs. 1 und Art. 32 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Gemeinschaften sowie Art. 70 Abs. 1 und Art. 71 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Union dahin auszulegen sind, dass für die Ermittlung des Zollwerts eingeführter Waren dem Transaktionswert dieser Waren die dem Hersteller für die Beförderung dieser Waren bis zum Ort ihres Verbringens in das Zollgebiet der Union tatsächlich entstandenen Kosten hinzuzurechnen sind, wenn nach den vereinbarten Lieferbedingungen der Hersteller diese Kosten zu tragen hat, diese Kosten den vom Einführer tatsächlich gezahlten Preis übersteigen, aber dieser Preis dem tatsächlichen Wert der Waren entspricht.

24

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass mit der Zollwertregelung der Union ein gerechtes, einheitliches und neutrales System geschaffen werden soll, das die Anwendung willkürlicher oder fiktiver Zollwerte ausschließt. Der Zollwert muss demnach den tatsächlichen wirtschaftlichen Wert einer eingeführten Ware widerspiegeln und folglich alle Bestandteile dieser Ware, die einen wirtschaftlichen Wert haben, berücksichtigen. Der für die Waren tatsächlich gezahlte Preis ist, auch wenn er grundsätzlich die Grundlage der Zollwertermittlung bildet, ein Faktor, der gegebenenfalls Berichtigungen unterliegt, sofern dies erforderlich ist, um die Ermittlung eines willkürlichen oder fiktiven Zollwerts zu verhindern (Urteil vom 20. Juni 2019, Oribalt Rīga, C‑1/18, EU:C:2019:519, Rn. 22 und 23 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass der für die eingeführten Waren gezahlte Preis ihrem tatsächlichen Wert entspreche und dass es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass der vom Einführer für diese Waren tatsächlich gezahlte Preis fiktiv sei, weil er auf einem Betrug oder Rechtsmissbrauch beruhe.

26

Folglich scheint der Ausgangsrechtsstreit keinen willkürlichen oder fiktiven Zollwert zu betreffen, was vom vorlegenden Gericht zu überprüfen ist, sondern nur die Frage, ob in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art. 29 Abs. 1 und Art. 32 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Gemeinschaften sowie Art. 70 Abs. 1 und Art. 71 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Union für die Ermittlung des Zollwerts eingeführter Waren dem Transaktionswert dieser Waren die Kosten für die Beförderung der Waren, die nach den Vertragsbedingungen von der Herstellerin zu tragen und im Kaufpreis enthalten sind, hinzuzurechnen sind, wenn durch diesen Preis nicht die gesamten Beförderungskosten gedeckt werden können.

27

Zum Ersten ist der Transaktionswert der eingeführten Waren nach Art. 29 Abs. 1 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 70 Abs. 1 des Zollkodex der Union die „vorrangige Grundlage“ für die Ermittlung des Zollwerts dieser Waren. Nur ergänzend können dieser Grundlage gemäß Art. 32 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 71 des Zollkodex der Union bestimmte weitere Bestandteile hinzugerechnet werden, um den tatsächlichen wirtschaftlichen Wert dieser Waren widerzuspiegeln.

28

Art. 32 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 71 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Union erlauben es zwar, den tatsächlich gezahlten Preis durch Hinzurechnen von Beförderungskosten zu ergänzen, doch wird nach diesen Bestimmungen verlangt, dass diese Kosten nicht bereits in den Preis einbezogen worden sind, was dann der Fall ist, wenn in den Verkaufsbedingungen ein Preis „frei Grenze“ vereinbart wird.

29

Dieser Ansatz wird durch Art. 164 Buchst. c der Verordnung Nr. 2454/93 und Art. 138 Abs. 3 der Durchführungsverordnung 2015/2447 bestätigt. Diese Bestimmungen erlauben es nämlich nur dann, die Beförderungskosten dem Transaktionswert der eingeführten Waren hinzuzurechnen, wenn die Beförderung entweder unentgeltlich oder mit einem Beförderungsmittel des Einführers erfolgt.

30

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass aber zum einen im Ausgangsverfahren nichts dafür spreche, dass der vereinbarte Kaufpreis die Beförderungskosten für die eingeführten Waren nicht umfasse, und dass zum anderen der vom Einführer gezahlte Preis dem tatsächlichen Wert dieser Waren entspreche.

31

Folglich sind in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens weder die in Art. 32 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Gemeinschaften und in Art. 71 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Union vorgesehenen Voraussetzungen noch diejenigen nach Art. 164 Buchst. c der Verordnung Nr. 2454/93 und Art. 138 Abs. 3 der Durchführungsverordnung 2015/2447 erfüllt.

32

Eine andere Auslegung dieser Bestimmungen liefe darauf hinaus, vom Einführer zu verlangen, dass er die Beförderungskosten für die eingeführten Waren doppelt entrichtet, und folglich davon auszugehen, dass Einfuhren, die Verkaufsbedingungen unterliegen und eine Einbeziehung dieser Kosten in den Kaufpreis der Waren vorsehen, von Amts wegen eine Berichtigung des Transaktionswerts erfahren müssten.

33

Der Umstand, dass im vorliegenden Fall die von der Herstellerin getragenen Kosten für die Beförderung der eingeführten Waren den von der Einführerin tatsächlich gezahlten Preis übersteigen, kann an dieser Schlussfolgerung nichts ändern, sofern dieser Preis den tatsächlichen Wert der Waren widerspiegelt, was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

34

Zum Zweiten scheint die von der Europäischen Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen angesprochene Gefahr, dass ein Wirtschaftsteilnehmer den Verpflichtungen zur Ermittlung des Zollwerts der eingeführten Waren unter Berufung auf seine Vertragsautonomie entgehen könnte, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht begründet zu sein. Eine solche Gefahr würde nämlich voraussetzen, dass die Beförderungskosten für diese Waren nicht entrichtet worden sind, was, wie das vorlegende Gericht ausführt, hier nicht der Fall ist. Außerdem ergibt sich die Berücksichtigung der Verkaufsbedingungen bei der Ermittlung des Zollwerts dieser Waren aus Art. 29 Abs. 1 des Zollkodex der Gemeinschaften und aus Art. 70 Abs. 1 des Zollkodex der Union.

35

Ein Wirtschaftsteilnehmer kann sich dem Unionsrecht zwar nicht unter Berufung auf seine vertraglichen Verpflichtungen entziehen, die Ermittlung des Zollwerts eingeführter Waren darf allerdings nicht abstrakt festgelegt werden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs beruht sie auf den Bedingungen, zu denen das einzelne Kaufgeschäft durchgeführt worden ist, selbst wenn diese von den Handelsgewohnheiten abweichen oder bei dem betreffenden Vertragstyp als ungewöhnlich gelten können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Februar 1986, Van Houten International, 65/85, EU:C:1986:53, Rn. 13). So hat der Gerichtshof entschieden, dass bei der Beurteilung, ob der Zollwert der eingeführten Waren deren tatsächlichen wirtschaftlichen Wert widerspiegelt, die konkrete Rechtsstellung der Parteien des Kaufvertrags zu berücksichtigen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2010, Gaston Schul, C‑354/09, EU:C:2010:439, Rn. 38). Die Nichtberücksichtigung der Kaufbedingungen bei der Ermittlung des Zollwerts dieser Waren verstieße daher nicht nur gegen Art. 29 Abs. 1 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 70 Abs. 1 des Zollkodex der Union, sondern würde darüber hinaus zu einem Ergebnis führen, das es nicht erlaubte, den tatsächlichen wirtschaftlichen Wert dieser Waren widerzuspiegeln.

36

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 29 Abs. 1 und Art. 32 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Gemeinschaften sowie Art. 70 Abs. 1 und Art. 71 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i des Zollkodex der Union dahin auszulegen sind, dass für die Ermittlung des Zollwerts eingeführter Waren dem Transaktionswert dieser Waren die dem Hersteller für die Beförderung dieser Waren bis zum Ort ihres Verbringens in das Zollgebiet der Union tatsächlich entstandenen Kosten nicht hinzuzurechnen sind, wenn nach den vereinbarten Lieferbedingungen der Hersteller diese Kosten zu tragen hat, und zwar auch dann, wenn diese Kosten den vom Einführer tatsächlich gezahlten Preis übersteigen, sofern dieser Preis dem tatsächlichen Wert der Waren entspricht, was zu überprüfen Sachen des vorlegenden Gerichts ist.

Kosten

37

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 29 Abs. 1 und Art. 32 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften sowie Art. 70 Abs. 1 und Art. 71 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union sind dahin auszulegen, dass für die Ermittlung des Zollwerts eingeführter Waren dem Transaktionswert dieser Waren die dem Hersteller für die Beförderung dieser Waren bis zum Ort ihres Verbringens in das Zollgebiet der Europäischen Union tatsächlich entstandenen Kosten nicht hinzuzurechnen sind, wenn nach den vereinbarten Lieferbedingungen der Hersteller diese Kosten zu tragen hat, und zwar auch dann, wenn diese Kosten den vom Einführer tatsächlich gezahlten Preis übersteigen, sofern dieser Preis dem tatsächlichen Wert der Waren entspricht, was zu überprüfen Sachen des vorlegenden Gerichts ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Litauisch.