URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

9. September 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 40 – Folgeantrag – Neue Elemente oder Erkenntnisse – Begriff – Umstände, die bereits vor dem rechtskräftigen Abschluss eines Verfahrens über einen früheren Antrag auf internationalen Schutz existierten – Grundsatz der Rechtskraft – Verschulden des Antragstellers“

In der Rechtssache C‑18/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 18. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Januar 2020, in dem Verfahren

XY,

Beteiligter:

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter N. Wahl und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters J. Passer,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und C. Drexel als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und A. Pagáčová als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier und D. Dubois als Bevollmächtigte,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, H. Leupold und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. April 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 40 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen XY und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich) (im Folgenden: Bundesamt) über dessen Ablehnung eines von XY gestellten Antrags auf internationalen Schutz.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2005/85/EG

3

Die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 2005, L 326, S. 13) wurde durch die Richtlinie 2013/32 mit Wirkung vom 21. Juli 2015 aufgehoben. Art. 34 Abs. 2 der Richtlinie 2005/85 bestimmte:

„Die Mitgliedstaaten können im nationalen Recht Vorschriften für die erste Prüfung gemäß Artikel 32 festlegen. Diese Vorschriften können unter anderem

b)

eine Frist festsetzen, innerhalb deren der betreffende Antragsteller nach deren Kenntniserlangung die neuen Informationen vorzulegen hat;

…“

Richtlinie 2013/32

4

In den Erwägungsgründen 3, 18 und 36 der Richtlinie 2013/32 heißt es:

„(3)

Der Europäische Rat ist auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere übereingekommen, auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem hinzuwirken, das sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 in der Fassung des New Yorker Protokolls vom 31. Januar 1967 … stützt, damit der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleibt und niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist.

(18)

Es liegt im Interesse sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Personen, die internationalen Schutz beantragen, dass über die Anträge auf internationalen Schutz so rasch wie möglich, unbeschadet der Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge, entschieden wird.

(36)

Stellt der Antragsteller einen Folgeantrag, ohne neue Beweise oder Argumente vorzubringen, so wäre es unverhältnismäßig, die Mitgliedstaaten zur erneuten Durchführung des gesamten Prüfungsverfahrens zu verpflichten. In diesen Fällen sollten die Mitgliedstaaten einen Antrag gemäß dem Grundsatz der rechtskräftig entschiedenen Sache (res iudicata) als unzulässig abweisen können.“

5

Art. 5 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können bei den Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes günstigere Bestimmungen einführen oder beibehalten, soweit diese Bestimmungen mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“

6

Art. 28 Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Besteht Grund zu der Annahme, dass ein Antragsteller seinen Antrag stillschweigend zurückgenommen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Asylbehörde entweder entscheidet, die Antragsprüfung einzustellen, oder, sofern die Asylbehörde den Antrag nach angemessener inhaltlicher Prüfung gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9)] als unbegründet ansieht, den Antrag abzulehnen.

Die Mitgliedstaaten können insbesondere dann davon ausgehen, dass der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz stillschweigend zurückgezogen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt, wenn er nachweislich

a)

den Aufforderungen zur Vorlage von für den Antrag wesentlichen Informationen gemäß Artikel 4 der Richtlinie [2011/95] oder einer Aufforderung zur persönlichen Anhörung gemäß den Artikeln 14 bis 17 dieser Richtlinie nicht nachgekommen ist, es sei denn, er weist innerhalb einer angemessenen Frist nach, dass sein Versäumnis auf Umstände zurückzuführen war, auf die er keinen Einfluss hatte;

b)

untergetaucht ist oder seinen Aufenthaltsort oder Ort seiner Ingewahrsamnahme ohne Genehmigung verlassen und nicht innerhalb einer angemessenen Frist die zuständige Behörde kontaktiert hat, oder seinen Melde- und anderen Mitteilungspflichten nicht innerhalb einer angemessenen Frist nachgekommen ist, es sei denn, der Antragsteller weist nach, dass dies auf Umstände zurückzuführen war, auf die er keinen Einfluss hatte.

Die Mitgliedstaaten können Fristen oder Leitlinien für die Anwendung dieser Bestimmungen festsetzen.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ein Antragsteller, der sich nach Einstellung der Antragsprüfung gemäß Absatz 1 wieder bei der zuständigen Behörde meldet, berechtigt ist, um Wiedereröffnung des Verfahrens zu ersuchen oder einen neuen Antrag zu stellen, der nicht nach Maßgabe der Artikel 40 und 41 geprüft wird.

Die Mitgliedstaaten können eine Frist von mindestens neun Monaten vorschreiben, nach deren Ablauf das Verfahren nicht wieder eröffnet werden darf beziehungsweise der neue Antrag als Folgeantrag behandelt und nach Maßgabe der Artikel 40 und 41 geprüft werden kann. Die Mitgliedstaaten können vorschreiben, dass das Verfahren des Antragstellers nur ein Mal wieder eröffnet werden darf.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die betreffende Person nicht entgegen dem Grundsatz der Nicht-Zurückweisung abgeschoben wird.

Die Mitgliedstaaten können der Asylbehörde die Wiederaufnahme der Prüfung in dem Verfahrensabschnitt gestatten, in dem sie eingestellt wurde.“

7

In Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

d)

es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, oder

…“

8

Art. 40 („Folgeanträge“) Abs. 1 bis 5 der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„(1)   Wenn eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat gestellt hat, in demselben Mitgliedstaat weitere Angaben vorbringt oder einen Folgeantrag stellt, prüft dieser Mitgliedstaat diese weiteren Angaben oder die Elemente des Folgeantrags im Rahmen der Prüfung des früheren Antrags oder der Prüfung der Entscheidung, gegen die ein Rechtsbehelf eingelegt wurde, insoweit die zuständigen Behörden in diesem Rahmen alle Elemente, die den weiteren Angaben oder dem Folgeantrag zugrunde liegen, berücksichtigen können.

(2)   Für die Zwecke der gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstabe d zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz wird ein Folgeantrag auf internationalen Schutz zunächst daraufhin geprüft, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.

(3)   Wenn die erste Prüfung nach Absatz 2 ergibt, dass neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, wird der Antrag gemäß Kapitel II weiter geprüft. Die Mitgliedstaaten können auch andere Gründe festlegen, aus denen der Folgeantrag weiter zu prüfen ist.

(4)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass der Antrag nur dann weiter geprüft wird, wenn der Antragsteller ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage war, die in den Absätzen 2 und 3 dargelegten Sachverhalte im früheren Verfahren insbesondere durch Wahrnehmung seines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Artikel 46 vorzubringen.

(5)   Wird ein Folgeantrag nach diesem Artikel nicht weiter geprüft, so wird er gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstabe d als unzulässig betrachtet.“

9

Art. 42 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 lautet:

„Die Mitgliedstaaten können im nationalen Recht Vorschriften für die erste Prüfung gemäß Artikel 40 festlegen. Diese Vorschriften können unter anderem

a)

den betreffenden Antragsteller verpflichten, Tatsachen anzugeben und wesentliche Beweise vorzulegen, die ein neues Verfahren rechtfertigen;

b)

die erste Prüfung allein auf der Grundlage schriftlicher Angaben ohne persönliche Anhörung gestatten, ausgenommen die Fälle nach Artikel 40 Absatz 6.

Diese Bestimmungen dürfen weder den Zugang eines Antragstellers zu einem neuen Verfahren unmöglich machen noch zu einer effektiven Aufhebung oder erheblichen Beschränkung dieses Zugangs führen.“

Österreichisches Recht

10

§ 68 Abs. 1 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BGBl. Nr. 51/1991, im Folgenden: AVG) sieht vor:

„Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, sind, wenn die Behörde nicht den Anlass zu einer Verfügung gemäß den Abs. 2 bis 4 findet, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.“

11

§ 69 AVG bestimmt:

„(1)   Dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens ist stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und:

2.

neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten, oder

(2)   Der Antrag auf Wiederaufnahme ist binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, wenn dies jedoch nach der Verkündung des mündlichen Bescheides und vor Zustellung der schriftlichen Ausfertigung geschehen ist, erst mit diesem Zeitpunkt. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann der Antrag auf Wiederaufnahme nicht mehr gestellt werden. Die Umstände, aus welchen sich die Einhaltung der gesetzlichen Frist ergibt, sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12

Am 18. Juli 2015 stellte XY, ein irakischer Staatsangehöriger muslimisch-schiitischen Glaubens, beim Bundesamt einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid vom 29. Januar 2018 abgewiesen wurde. Nachdem der Verfassungsgerichtshof (Österreich) mit Beschluss vom 25. September 2018 den letzten gerichtlichen Rechtsbehelf von XY gegen diesen Bescheid abgelehnt hatte, wurde dieser rechtskräftig.

13

XY stützte sowohl seinen Antrag auf internationalen Schutz als auch seine Beschwerde gegen den Bescheid vom 29. Januar 2018, mit dem dieser Antrag abgewiesen worden war, darauf, dass er bei einer Rückkehr in den Irak um sein Leben bangen müsste, weil er sich geweigert habe, für schiitische Milizen zu kämpfen, und sich das Land immer noch im Krieg befinde.

14

Am 4. Dezember 2018 stellte XY einen Folgeantrag auf internationalen Schutz.

15

Zur Stützung dieses Antrags machte er geltend, dass er in dem Verfahren über seinen früheren Antrag nicht den wahren Grund für sein Ersuchen um internationalen Schutz angegeben habe, nämlich dass er homosexuell sei. Aufgrund seiner sexuellen Orientierung müsse er im Irak um sein Leben bangen, da diese in seinem Land und „in seiner Religion“ verboten sei. Erst nach seiner Ankunft in Österreich sei ihm dank der Unterstützung durch einen Verein, mit dem er ab Juni 2018 in Kontakt gestanden sei, klar geworden, dass er keiner persönlichen Verfolgung ausgesetzt sei, wenn er sich zu seiner Homosexualität bekenne.

16

Mit Bescheid vom 28. Januar 2019 wies das Bundesamt den Folgeantrag von XY als unzulässig zurück, weil dieser Antrag im Sinne von § 68 Abs. 1 AVG darauf gerichtet sei, einen früheren abschlägigen Bescheid in Frage zu stellen, der rechtskräftig geworden sei. Außerdem ordnete es die Rückkehr des Betroffenen in den Irak an und erließ ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot für Österreich.

17

XY erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (Österreich). Mit Erkenntnis vom 18. März 2019 gab dieses Gericht der Beschwerde nur insoweit statt, als sie sich auf das Einreiseverbot für Österreich bezog, und wies sie im Übrigen ab.

18

Da XY im Verfahren über den ersten Antrag auf internationalen Schutz nicht auf seine Homosexualität hingewiesen habe, stehe die Rechtskraft des Bescheids, mit dem der erste Antrag abgewiesen worden sei, der Berücksichtigung dieses Umstands entgegen.

19

XY erhob Revision an den Verwaltungsgerichtshof (Österreich), mit der er sich gegen die Zurückweisung seines Folgeantrags wegen Unzulässigkeit wendet. Er habe eine neue Tatsache angeführt, die die Feststellung der Zulässigkeit dieses Antrags hätte ermöglichen müssen und nicht in seiner Homosexualität bestehe, sondern in der aufgrund seines Aufenthalts in Österreich nunmehr gegebenen Fähigkeit, sie zu artikulieren.

20

Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Zulässigkeit eines Folgeantrags auf internationalen Schutz mangels einschlägiger Sonderbestimmungen im österreichischen Recht anhand der allgemein für das Verwaltungsverfahren geltenden Bestimmungen zu beurteilen sei, um insbesondere die Beachtung der Rechtskraft zu gewährleisten, die ein Bescheid über einen früheren Antrag erlangt habe.

21

Nach § 68 Abs. 1 AVG seien Anbringen, die die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheids begehrten, grundsätzlich wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.

22

Das vorlegende Gericht erläutert insoweit, dass bei wiederholten Anträgen auf internationalen Schutz nach der nationalen Rechtsprechung nur solche Umstände die Eröffnung eines neuen Verfahrens rechtfertigen könnten, die erst nach Erlass des rechtskräftigen Bescheids, mit dem das frühere Verfahren abgeschlossen worden sei, hervorkämen und die Lage des Antragstellers wesentlich veränderten.

23

Dagegen könne, wie sich aus § 69 Abs. 1 Z 2 AVG ergebe, ein Folgeantrag, der auf einen vor Erlass dieses Bescheids verwirklichten Sachverhalt gestützt werde, nur zur Wiederaufnahme des früheren Verfahrens führen, und dies auch nur dann, wenn der Antragsteller diesen Sachverhalt im früheren Verfahren ohne sein Verschulden nicht geltend gemacht habe.

24

In diesem Zusammenhang wirft das vorlegende Gericht erstens die Frage auf, ob die in Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 enthaltene Wendung der neuen Elemente oder Erkenntnisse, die zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, so zu verstehen ist, dass sie sich nur auf neu entstandene Elemente oder Erkenntnisse bezieht oder ob darunter auch jenes Vorbringen eines Antragstellers fällt, das sich auf Elemente oder Erkenntnisse bezieht, die bereits vor dem rechtskräftigen Abschluss eines früheren Verfahrens existierten.

25

Das österreichische Verwaltungsrecht folge der ersten dieser Auslegungen. Daher könne eine Person, die um internationalen Schutz nachsuche, auf der Grundlage von Elementen oder Erkenntnissen, die vor dem Abschluss des Verfahrens über den früheren Antrag existiert hätten, nach österreichischem Recht nur die Wiederaufnahme des früheren Verfahrens erwirken, und dies auch nur dann, wenn sie diese Tatsachen im früheren Verfahren ohne ihr Verschulden nicht geltend gemacht habe.

26

Angesichts des offenen Wortlauts von Art. 40 der Richtlinie 2013/32 ließe sich aber auch die zweite der oben in Rn. 24 angeführten Auslegungen dieses Artikels vertreten, auf die sich XY im vorliegenden Fall stütze. Für diesen Fall stellt sich dem vorlegenden Gericht zweitens die Frage, ob in Ermangelung nationaler Bestimmungen zur Umsetzung von Art. 40 der Richtlinie 2013/32, die speziell die Behandlung von Folgeanträgen regelten, die Wiederaufnahme des früheren Verfahrens ausreiche, um insbesondere Art. 40 Abs. 3 dieser Richtlinie umzusetzen. Nach dieser Bestimmung werde der Folgeantrag gemäß Kapitel II der Richtlinie weiter geprüft, wenn die erste Prüfung nach Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie ergebe, dass neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden seien, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitrügen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen sei.

27

Drittens stellt das vorlegende Gericht – das davon ausgeht, dass zum einen neue Elemente oder Erkenntnisse, die in dem Verfahren über einen früheren Antrag nicht geltend gemacht worden seien und bereits vor der das Verfahren rechtskräftig abschließenden Entscheidung existiert hätten, zur Stützung eines Folgeantrags geltend gemacht werden könnten, und zum anderen, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens keine ordnungsgemäße Umsetzung von Art. 40 der Richtlinie 2013/32 gewährleiste – fest, dass es diese so ausgelegte Bestimmung gebiete, § 68 AVG unangewendet zu lassen. Nach § 68 AVG stehe nämlich die Rechtskraft dem entgegen, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsuche, im Rahmen eines neuen Antrags „neue“ Elemente oder Erkenntnisse geltend mache, die bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des rechtskräftigen Bescheids über die Ablehnung ihres ersten Antrags existiert hätten.

28

Die Nichtanwendung von § 68 AVG auf einen neuen Antrag auf internationalen Schutz würde den Antragstellern hingegen die Möglichkeit verleihen, zur Stützung ihres Antrags „neue“ Elemente oder Erkenntnisse ohne zeitliche Beschränkung geltend zu machen. § 69 AVG, der diese Möglichkeit auf den Fall beschränke, dass diese Elemente oder Erkenntnisse ohne Verschulden des Antragstellers im früheren Verfahren nicht geltend gemacht worden seien, sei nämlich nur auf die Wiederaufnahme dieses Verfahrens und nicht auf einen solchen neuen Antrag auf internationalen Schutz anwendbar.

29

In diesem Zusammenhang sei fraglich, ob durch Art. 40 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 ungeachtet dessen, dass das österreichische Recht keine Sondernormen zu seiner Umsetzung enthalte, die Möglichkeit eines Antragstellers, zur Stützung eines Folgeantrags neue Elemente oder Erkenntnisse geltend zu machen, auf den Fall beschränkt werden könne, dass solche Elemente oder Erkenntnisse in dem Verfahren über den früheren Antrag ohne Verschulden des Antragstellers nicht geltend gemacht worden seien. Insoweit hängen die Zweifel des vorlegenden Gerichts auch damit zusammen, dass eine Bejahung dieser Frage bedeuten würde, dass eine nicht umgesetzte Richtlinienbestimmung unmittelbare Wirkung zulasten eines Einzelnen hätte, was jedoch nach der nationalen Rechtsprechung und der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht zulässig sei.

30

Nach alledem hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Erfassen die in Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 enthaltenen Wendungen „neue Elemente oder Erkenntnisse“, die „zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind“, auch solche Umstände, die bereits vor rechtskräftigem Abschluss des früheren Asylverfahrens vorhanden waren?

Falls die erste Frage bejaht wird:

2.

Ist es in jenem Fall, in dem neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im früheren Verfahren ohne Verschulden des Fremden nicht geltend gemacht werden konnten, ausreichend, dass es einem Asylwerber ermöglicht wird, die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen früheren Verfahrens verlangen zu können?

3.

Darf die Behörde, wenn den Asylwerber ein Verschulden daran trifft, dass er das Vorbringen zu den neu geltend gemachten Gründen nicht bereits im früheren Asylverfahren erstattet hat, die inhaltliche Prüfung eines Folgeantrags infolge einer nationalen Norm, die einen im Verwaltungsverfahren allgemein geltenden Grundsatz festlegt, ablehnen, obwohl der Mitgliedstaat mangels Erlassung von Sondernormen die Vorschriften des Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 nicht ordnungsgemäß umgesetzt und infolgedessen auch nicht ausdrücklich von der in Art. 40 Abs. 4 dieser Richtlinie eingeräumten Möglichkeit, eine Ausnahme von der inhaltlichen Prüfung des Folgeantrags vorsehen zu dürfen, Gebrauch gemacht hat?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

31

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass die Wendung „neue Elemente oder Erkenntnisse“, die „zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind“, im Sinne dieser Bestimmung nur Elemente oder Erkenntnisse umfasst, die nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über einen früheren Antrag auf internationalen Schutz eingetreten sind, oder ob sie auch Elemente oder Erkenntnisse beinhaltet, die bereits vor Abschluss dieses Verfahrens existierten, aber vom Antragsteller nicht geltend gemacht wurden.

32

Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sowohl die einheitliche Anwendung des Unionsrechts als auch der Gleichheitsgrundsatz verlangen, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union autonom und einheitlich auszulegen sind, wobei diese Auslegung unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts der Bestimmung, sondern auch ihres Regelungszusammenhangs und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Zwecks zu erfolgen hat (Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

So ist erstens festzustellen, dass Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 bestimmt, dass für die Zwecke der gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz ein Folgeantrag zunächst daraufhin geprüft wird, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind (Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 36).

34

Nur wenn im Vergleich zum ersten Antrag auf internationalen Schutz tatsächlich solche neuen Elemente oder Erkenntnisse vorliegen, wird gemäß Art. 40 Abs. 3 dieser Richtlinie die Prüfung der Zulässigkeit des Folgeantrags fortgesetzt, um zu prüfen, ob diese neuen Elemente oder Erkenntnisse erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist (Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 37).

35

Auch wenn der Wortlaut von Art. 40 der Richtlinie 2013/32 den Begriff „neue Elemente oder Erkenntnisse“, die einen Folgeantrag stützen können, nicht präzisiert (Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 29), sieht Art. 40 in seinen Abs. 2 und 3 gleichwohl vor, dass diese neuen Elemente oder Erkenntnisse, auf die ein solcher Antrag gestützt werden kann, „zutage getreten“ oder „vom Antragsteller vorgebracht worden“ sein müssen.

36

Diese Bestimmungen stellen also klar, dass ein Folgeantrag sowohl auf Elemente oder Erkenntnisse gestützt werden kann, die insofern neu sind, als sie nach Erlass einer Entscheidung über den früheren Antrag zutage getreten sind, als auch auf Elemente oder Erkenntnisse, die insofern neu sind, als sie vom Antragsteller zum ersten Mal vorgebracht worden sind.

37

Aus diesem Wortlaut ergibt sich somit, dass ein Element oder eine Erkenntnis als neu im Sinne von Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 anzusehen ist, wenn die Entscheidung über den früheren Antrag erlassen wurde, ohne dass dieses Element oder diese Erkenntnis der für die Bestimmung der Rechtsstellung des Antragstellers zuständigen Behörde zur Kenntnis gebracht wurde. In dieser Bestimmung wird nicht danach unterschieden, ob die Elemente oder die Erkenntnisse, auf die ein Folgeantrag gestützt wird, vor oder nach dem Erlass dieser Entscheidung zutage getreten sind.

38

Diese Auslegung von Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 wird zweitens durch den Kontext bestätigt, in den sich diese Bestimmung einfügt.

39

Wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, können die Mitgliedstaaten nach Art. 40 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 vorsehen, dass der Antrag nur geprüft wird, wenn der Antragsteller ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage war, die in den Abs. 2 und 3 dieses Art. 40 genannten Elemente oder Erkenntnisse im früheren Verfahren vorzubringen. Wenn also die Mitgliedstaaten von der Möglichkeit nach diesem Art. 40 Abs. 4 keinen Gebrauch machen, ist der Antrag als zulässig anzusehen und damit zu prüfen, selbst wenn der Antragsteller zur Stützung des Folgeantrags nur Elemente oder Erkenntnisse vorgebracht hat, die er im Zuge der Prüfung des früheren Antrags hätte vorbringen können und die zwangsläufig vor dem rechtskräftigen Abschluss des früheren Verfahrens existierten.

40

Drittens wird diese Auslegung von Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 auch durch sein Ziel bestätigt.

41

Das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags zielt nämlich, wie aus dem 36. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 hervorgeht, darauf ab, den Mitgliedstaaten zu gestatten, jeden Folgeantrag, der gestellt wird, ohne dass neue Beweise oder Argumente vorgebracht werden, als unzulässig abzuweisen, um den Grundsatz der rechtskräftig entschiedenen Sache (res iudicata) zu beachten, der für eine frühere Entscheidung gilt (Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 49).

42

Daraus folgt, dass sich die Prüfung der Frage, ob sich ein Folgeantrag auf neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, stützt, auf die Prüfung beschränken sollte, ob Elemente oder Erkenntnisse zur Stützung dieses Antrags vorliegen, die im Rahmen der Entscheidung über den früheren Antrag nicht geprüft worden sind und auf die diese bestandskräftige Entscheidung nicht gestützt werden konnte (Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 50).

43

Jede andere Auslegung von Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32, die bedeuten würde, dass die für die Bestimmung der Rechtsstellung des Antragstellers zuständige Behörde einen Folgeantrag allein deshalb als unzulässig ansehen müsste, weil er auf Elemente oder Erkenntnisse gestützt ist, die der Antragsteller zur Stützung seines früheren Antrags hätte vorbringen können, ginge über das hinaus, was erforderlich ist, um die Wahrung des Grundsatzes der Rechtskraft sicherzustellen, und würde die angemessene und vollständige Prüfung der Situation des Antragstellers beeinträchtigen.

44

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass die Wendung „neue Elemente oder Erkenntnisse“, die „zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind“, im Sinne dieser Bestimmung sowohl Elemente oder Erkenntnisse, die nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über den früheren Antrag auf internationalen Schutz eingetreten sind, als auch Elemente oder Erkenntnisse umfasst, die bereits vor Abschluss des Verfahrens existierten, aber vom Antragsteller nicht geltend gemacht wurden.

Zur zweiten Frage

45

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass die Prüfung eines Folgeantrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Wiederaufnahme des Verfahrens über den früheren Antrag vorgenommen werden kann oder ob ein neues Verfahren eingeleitet werden muss.

46

Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 eine Bearbeitung der Folgeanträge in zwei Etappen vorsieht. In der ersten wird zunächst die Zulässigkeit dieser Anträge geprüft, während in der zweiten dann die Anträge in der Sache geprüft werden (Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 34).

47

Zwar enthalten Art. 40 Abs. 2 bis 4 und Art. 42 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 einige Verfahrensvorschriften für die erste Etappe der Bearbeitung von Folgeanträgen betreffend deren Zulässigkeit, die Richtlinie sieht jedoch keinen spezifischen verfahrensrechtlichen Rahmen für die Bearbeitung dieser Anträge in der Sache vor. Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie verlangt nämlich lediglich, dass die Prüfung zulässiger Folgeanträge in der Sache gemäß Kapitel II dieser Richtlinie vorgenommen wird, in dem die Grundsätze und Garantien geregelt sind, die die Mitgliedstaaten in dem von ihnen festgelegten verfahrensrechtlichen Rahmen zu beachten haben.

48

Unter diesen Umständen bleibt es den Mitgliedstaaten unbenommen, Verfahrensvorschriften für die Bearbeitung von Folgeanträgen vorzusehen, sofern zum einen die in der Richtlinie 2013/32 festgelegten, insbesondere die in ihrem Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 40 genannten Zulässigkeitsvoraussetzungen eingehalten werden und zum anderen die Bearbeitung in der Sache im Einklang mit den genannten Grundsätzen und Garantien erfolgt.

49

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die Bestimmungen des österreichischen Rechts, die für die Wiederaufnahme des mit einem Bescheid über einen früheren Antrag abgeschlossenen Verfahrens gelten, die Einhaltung dieser Voraussetzungen gewährleisten und mit diesen Grundsätzen und Garantien im Einklang stehen.

50

Der Gerichtshof kann dem vorlegenden Gericht jedoch auf der Grundlage der Angaben in der ihm vorgelegten Akte entsprechende Hinweise geben.

51

Was insbesondere die Zulässigkeitsvoraussetzungen betrifft, geht aus dieser Akte hervor, dass die Wiederaufnahme eines Verwaltungsverfahrens im österreichischen Recht in § 69 AVG geregelt ist, wonach für eine solche Wiederaufnahme drei Voraussetzungen erfüllt sein müssen. So ist erforderlich, dass erstens die zur Stützung des Folgeantrags vorgebrachten neuen Tatsachen oder Beweismittel allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches gegenüber dem früheren Bescheid anderslautenden Bescheid herbeigeführt hätten, dass zweitens diese Tatsachen oder Beweismittel in dem Verfahren über den früheren Antrag ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und dass drittens der Folgeantrag binnen einer Frist von zwei Wochen, die im Wesentlichen mit dem Zeitpunkt beginnt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, jedenfalls aber binnen drei Jahren nach Erlassung des Bescheids über den früheren Antrag eingebracht wird.

52

Wie der Generalanwalt in Nr. 68 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, entspricht die erste dieser Voraussetzungen im Wesentlichen der zweiten Voraussetzung in Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32, wonach die neuen Elemente oder Erkenntnisse „erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist“, während die zweite in § 69 AVG festgelegte Voraussetzung der den Mitgliedstaaten durch Art. 40 Abs. 4 der Richtlinie eingeräumten Möglichkeit entspricht, nämlich vorzusehen, „dass der Antrag nur dann weiter geprüft wird, wenn der Antragsteller ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage war, die in den Absätzen 2 und 3 dargelegten Sachverhalte im früheren Verfahren … vorzubringen“.

53

Die ersten beiden Voraussetzungen in § 69 AVG scheinen daher den in Rn. 52 des vorliegenden Urteils genannten Zulässigkeitsvoraussetzungen für Folgeanträge zu entsprechen.

54

Zur dritten in § 69 AVG vorgesehenen Voraussetzung, die die Fristen nach österreichischem Recht für die Einbringung eines Folgeantrags betrifft, ist festzustellen, dass Art. 40 der Richtlinie 2013/32 solche Fristen weder vorsieht noch die Mitgliedstaaten ausdrücklich ermächtigt, sie vorzusehen.

55

Aus dem Kontext, in den sich Art. 40 der Richtlinie 2013/32 einfügt, ergibt sich, dass der Umstand, dass er die Mitgliedstaaten nicht ermächtigt, Ausschlussfristen für die Stellung eines Folgeantrags festzulegen, bedeutet, dass er die Festlegung solcher Fristen verbietet.

56

Hierzu ist zum einen festzustellen, dass die Richtlinie 2013/32 keine Frist für die Ausübung der Rechte festlegt, die sie dem Antragsteller im Rahmen des Verwaltungsverfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz verleiht.

57

Außerdem hat der Gesetzgeber, wenn er den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumen wollte, Fristen festzulegen, innerhalb deren der Antragsteller handeln muss, dies ausdrücklich getan, wie Art. 28 der Richtlinie belegt.

58

Zum anderen ergibt sich, wie der Generalanwalt in den Nrn. 75 bis 78 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, aus dem Vergleich der Richtlinie 2013/32 mit ihrer Vorläuferin, der Richtlinie 2005/85, insbesondere aus Art. 42 der Richtlinie 2013/32 und Art. 34 der Richtlinie 2005/85 über die Verfahrensvorschriften für Folgeanträge auf internationalen Schutz bzw. auf Asyl, dass der Unionsgesetzgeber die Zulässigkeit von Folgeanträgen auf internationalen Schutz nicht von der Einhaltung einer Frist für das Vorbringen neuer Elemente oder Erkenntnisse abhängig machen wollte. Der Wortlaut von Art. 42 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 entspricht nämlich nicht dem von Art. 34 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2005/85, der den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumte, vom Antragsteller zu verlangen, dass er die neuen Informationen innerhalb einer bestimmten Frist vorbringt, die ab dem Zeitpunkt der Erlangung dieser Informationen zu laufen begann. Die Beseitigung dieser Möglichkeit in der Richtlinie 2013/32 bedeutet, dass die Mitgliedstaaten eine solche Frist nicht mehr vorsehen dürfen.

59

Diese Auslegung wird im Übrigen durch Art. 5 der Richtlinie 2013/32 bestätigt, wonach die Mitgliedstaaten bei den Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes nur insoweit vom Regelungsgehalt dieser Richtlinie abweichen dürfen, als sie für den Antragsteller günstigere Vorschriften vorsehen oder beibehalten, und damit die Anwendung ungünstigerer Vorschriften ausgeschlossen ist. Dies gilt insbesondere für die Festsetzung von Ausschlussfristen zulasten des Antragstellers.

60

Art. 42 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 im Lichte von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie untersagt es den Mitgliedstaaten daher, für die Stellung eines Folgeantrags Ausschlussfristen vorzusehen.

61

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass die Prüfung eines Folgeantrags auf internationalen Schutz in der Sache im Rahmen der Wiederaufnahme des Verfahrens über den ersten Antrag vorgenommen werden kann, sofern die auf diese Wiederaufnahme anwendbaren Vorschriften mit Kapitel II der Richtlinie 2013/32 im Einklang stehen und für die Stellung dieses Antrags keine Ausschlussfristen gelten.

Zur dritten Frage

62

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 40 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat, der keine Sondernormen zur Umsetzung dieser Bestimmung erlassen hat, gestattet, in Anwendung der allgemeinen Vorschriften über das nationale Verwaltungsverfahren die Prüfung eines Folgeantrags in der Sache abzulehnen, wenn die neuen Elemente oder Erkenntnisse, auf die dieser Antrag gestützt wird, zur Zeit des Verfahrens über den früheren Antrag existierten und in diesem Verfahren durch Verschulden des Antragstellers nicht vorgebracht wurden.

63

Das vorlegende Gericht stellt diese Frage für den Fall, dass es nach Abschluss der Prüfung, die es gemäß Rn. 49 des vorliegenden Urteils vorzunehmen hat, der Auffassung sein sollte, dass die auf die Wiederaufnahme des Verfahrens über den früheren Antrag zwecks Prüfung eines Folgeantrags anwendbaren österreichischen Rechtsvorschriften nicht gewährleisteten, dass die Voraussetzungen für die Zulässigkeit dieses Antrags erfüllt seien, oder nicht mit den Grundsätzen und Garantien des Kapitels II der Richtlinie 2013/32 vereinbar seien.

64

In einem solchen Fall müsste der Folgeantrag von XY nämlich im Rahmen eines neuen Verwaltungsverfahrens geprüft werden, das mangels einer Maßnahme zur Umsetzung von Art. 40 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 in das österreichische Recht unter § 68 AVG fiele. Im Gegensatz zu § 69 AVG, der die Wiederaufnahme eines früheren Verwaltungsverfahrens regelt, macht § 68 AVG die Möglichkeit der Eröffnung eines neuen Verfahrens nicht davon abhängig, dass den Antragsteller kein Verschulden daran trifft, dass er es unterlassen hat, die von ihm zur Stützung des Folgeantrags geltend gemachten Elemente und Erkenntnisse im Verfahren über den früheren Antrag vorzubringen, wenn sie bereits zur Zeit dieses Verfahrens existierten.

65

Für die Beantwortung dieser dritten Frage ist, wie der Generalanwalt in Nr. 93 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, festzuhalten, dass die Mitgliedstaaten nach dem fakultativen Art. 40 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 vorsehen können, dass der Antrag nur geprüft wird, wenn der Antragsteller ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage war, die in den Abs. 2 und 3 dieses Art. 40 dargelegten Sachverhalte im früheren Verfahren vorzubringen. Da die Wirkungen dieses Art. 40 Abs. 4 davon abhängen, dass die Mitgliedstaaten spezifische Umsetzungsvorschriften erlassen, ist diese Bestimmung nicht unbedingt und hat damit keine unmittelbare Wirkung.

66

Jedenfalls kann eine Richtlinienbestimmung nach ständiger Rechtsprechung nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf diese Bestimmung als solche vor dem nationalen Gericht nicht möglich ist (Urteile vom 26. Februar 1986, Marshall, 152/84, EU:C:1986:84, Rn. 48, und vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 65).

67

Dies wäre aber der Fall, wenn Art. 40 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen wäre, dass die Zulässigkeit eines Folgeantrags selbst dann, wenn keine nationale Umsetzungsmaßnahme getroffen wurde, davon abhängen würde, dass der Antragsteller es ohne sein Verschulden unterlassen hat, die zur Stützung des Folgeantrags vorgebrachten neuen Elemente oder Erkenntnisse, die bereits zur Zeit des Verfahrens über den früheren Antrag existierten, in diesem Verfahren geltend zu machen.

68

Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 40 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat, der keine Sondernormen zur Umsetzung dieser Bestimmung erlassen hat, nicht gestattet, in Anwendung der allgemeinen Vorschriften über das nationale Verwaltungsverfahren die Prüfung eines Folgeantrags in der Sache abzulehnen, wenn die neuen Elemente oder Erkenntnisse, auf die dieser Antrag gestützt wird, zur Zeit des Verfahrens über den früheren Antrag existierten und in diesem Verfahren durch Verschulden des Antragstellers nicht vorgebracht wurden.

Kosten

69

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist dahin auszulegen, dass die Wendung „neue Elemente oder Erkenntnisse“, die „zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind“, im Sinne dieser Bestimmung sowohl Elemente oder Erkenntnisse, die nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über den früheren Antrag auf internationalen Schutz eingetreten sind, als auch Elemente oder Erkenntnisse umfasst, die bereits vor Abschluss dieses Verfahrens existierten, aber vom Antragsteller nicht geltend gemacht wurden.

 

2.

Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 ist dahin auszulegen, dass die Prüfung eines Folgeantrags auf internationalen Schutz in der Sache im Rahmen der Wiederaufnahme des Verfahrens über den ersten Antrag vorgenommen werden kann, sofern die auf diese Wiederaufnahme anwendbaren Vorschriften mit Kapitel II der Richtlinie 2013/32 im Einklang stehen und für die Stellung dieses Antrags keine Ausschlussfristen gelten.

 

3.

Art. 40 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat, der keine Sondernormen zur Umsetzung dieser Bestimmung erlassen hat, nicht gestattet, in Anwendung der allgemeinen Vorschriften über das nationale Verwaltungsverfahren die Prüfung eines Folgeantrags in der Sache abzulehnen, wenn die neuen Elemente oder Erkenntnisse, auf die dieser Antrag gestützt wird, zur Zeit des Verfahrens über den früheren Antrag existierten und in diesem Verfahren durch Verschulden des Antragstellers nicht vorgebracht wurden.

 

Prechal

Wahl

Biltgen

Rossi

Passer

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. September 2021.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Die Präsidentin der Dritten Kammer

A. Prechal


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.