URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

28. Oktober 2020 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Richtlinie 2001/29/EG – Informationsgesellschaft – Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte – Art. 3 Abs. 1 – Öffentliche Wiedergabe – Begriff ‚öffentlich‘ – Auf elektronischem Wege an ein Gericht erfolgte Übermittlung eines geschützten Werks als Beweismittel im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens“

In der Rechtssache C‑637/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Svea hovrätt – Patent- och marknadsöverdomstolen (Berufungsgericht, Patent- und Marktgericht, Stockholm, Schweden) mit Entscheidung vom 20. August 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 27. August 2019, in dem Verfahren

BY

gegen

CX

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), E. Juhász, C. Lycourgos und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: G. Hogan,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der schwedischen Regierung, vertreten durch C. Meyer-Seitz und H. Eklinder als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Simonsson und J. Samnadda als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. September 2020

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsverfahren betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. 2001, L 167, S. 10).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Kläger des Ausgangsverfahrens, der behauptet, Inhaber eines Urheberrechts an einer Fotografie zu sein, und dem Beklagten des Ausgangsverfahrens, einem Nutzer dieses Fotos, wegen der Übermittlung einer Kopie einer Textseite von der Website des Klägers, die diese Fotografie enthält, durch den Beklagten an ein Zivilgericht als Beweismittel im Rahmen eines Verfahrens zwischen ihm und dem Kläger.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 3, 9, 10 und 31 der Richtlinie 2001/29 heißt es:

„(3)

Die vorgeschlagene Harmonisierung trägt zur Verwirklichung der vier Freiheiten des Binnenmarkts bei und steht im Zusammenhang mit der Beachtung der tragenden Grundsätze des Rechts, insbesondere des Eigentums einschließlich des geistigen Eigentums, der freien Meinungsäußerung und des Gemeinwohls.

(9)

Jede Harmonisierung des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte muss von einem hohen Schutzniveau ausgehen, da diese Rechte für das geistige Schaffen wesentlich sind. Ihr Schutz trägt dazu bei, die Erhaltung und Entwicklung kreativer Tätigkeit im Interesse der Urheber, ausübenden Künstler, Hersteller, Verbraucher, von Kultur und Wirtschaft sowie der breiten Öffentlichkeit sicherzustellen. Das geistige Eigentum ist daher als Bestandteil des Eigentums anerkannt worden.

(10)

Wenn Urheber und ausübende Künstler weiter schöpferisch und künstlerisch tätig sein sollen, müssen sie für die Nutzung ihrer Werke eine angemessene Vergütung erhalten, was ebenso für die Produzenten gilt, damit diese die Werke finanzieren können. Um Produkte wie Tonträger, Filme oder Multimediaprodukte herstellen und Dienstleistungen, z. B. Dienste auf Abruf, anbieten zu können, sind beträchtliche Investitionen erforderlich. Nur wenn die Rechte des geistigen Eigentums angemessen geschützt werden, kann eine angemessene Vergütung der Rechtsinhaber gewährleistet und ein zufrieden stellender Ertrag dieser Investitionen sichergestellt werden.

(31)

Es muss ein angemessener Rechts- und Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Kategorien von Rechtsinhabern sowie zwischen den verschiedenen Kategorien von Rechtsinhabern und Nutzern von Schutzgegenständen gesichert werden. Die von den Mitgliedstaaten festgelegten Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf Schutzrechte müssen vor dem Hintergrund der neuen elektronischen Medien neu bewertet werden. … Um ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, sollten diese Ausnahmen und Beschränkungen einheitlicher definiert werden. Dabei sollte sich der Grad ihrer Harmonisierung nach ihrer Wirkung auf die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts bestimmen.“

4

Art. 3 („Recht der öffentlichen Wiedergabe von Werken und Recht der öffentlichen Zugänglichmachung sonstiger Schutzgegenstände“) dieser Richtlinie bestimmt in seinem Abs. 1:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung der Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind, zu erlauben oder zu verbieten.“

5

Art. 4 („Verbreitungsrecht“) sieht in seinem Abs. 1 vor:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern in Bezug auf das Original ihrer Werke oder auf Vervielfältigungsstücke davon das ausschließliche Recht zusteht, die Verbreitung an die Öffentlichkeit in beliebiger Form durch Verkauf oder auf sonstige Weise zu erlauben oder zu verbieten.“

6

Art. 9 („Weitere Anwendung anderer Rechtsvorschriften“) der Richtlinie lautet:

„Diese Richtlinie lässt andere Rechtsvorschriften insbesondere in folgenden Bereichen unberührt: Patentrechte, Marken, Musterrechte, Gebrauchsmuster, Topografien von Halbleitererzeugnissen, typografische Schriftzeichen, Zugangskontrolle, Zugang zum Kabel von Sendediensten, Schutz nationalen Kulturguts, Anforderungen im Bereich gesetzlicher Hinterlegungspflichten, Rechtsvorschriften über Wettbewerbsbeschränkungen und unlauteren Wettbewerb, Betriebsgeheimnisse, Sicherheit, Vertraulichkeit, Datenschutz und Schutz der Privatsphäre, Zugang zu öffentlichen Dokumenten sowie Vertragsrecht.“

Nationales Recht

7

§ 2 des Lag (1960:729) om upphovsrätt till litterära och konstnärliga verk (upphovsrättslagen) (Gesetz [729:1960] über das Urheberrecht an literarischen und künstlerischen Werken [Urheberrechtsgesetz, im Folgenden URL]) bestimmt:

„Vorbehaltlich der in diesem Gesetz vorgesehenen Beschränkungen umfasst das Urheberrecht das ausschließliche Recht, über das Werk zu verfügen, indem es vervielfältigt oder der Öffentlichkeit in seiner ursprünglichen oder in einer in eine andere Literatur- oder Kunstform veränderten, übersetzten oder umgearbeiteten Form oder nach einer anderen Technik zugänglich gemacht wird.

Vervielfältigung meint jede unmittelbare oder mittelbare, vorübergehende oder dauerhafte Vervielfältigung des Werks unabhängig davon, in welcher Form oder auf welche Art und Weise dies geschieht und ob das Werk ganz oder in Teilen vervielfältigt wird.

Das Werk wird der Öffentlichkeit in den folgenden Fällen zugänglich gemacht:

1.   Indem es öffentlich wiedergegeben wird. Öffentliche Wiedergabe meint die drahtgebundene oder drahtlose Zugänglichmachung eines Werks für die Öffentlichkeit ausgehend von einem anderen Ort als dem, an dem die Öffentlichkeit das Werk genießen kann. Sie umfasst Wiedergaben, durch die jeder Einzelne an einem von ihm selbst gewählten Ort und zu einem von ihm selbst gewählten Zeitpunkt Zugang zum Werk erhält.

4.   Indem Exemplare des Werks zum Verkauf, zur Vermietung oder zum Verleih angeboten oder auf andere Weise öffentlich verbreitet werden.

Der öffentlichen Wiedergabe und der öffentlichen Aufführung gleichgestellt sind Wiedergaben und Aufführungen, die im geschäftlichen Verkehr für oder vor einem größeren geschlossenen Personenkreis erfolgen.“

8

§ 49a URL sieht vor:

„Der Urheber einer Fotografie hat das ausschließliche Recht, Exemplare dieses Bildes anzufertigen und diese der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dieses Recht besteht unabhängig von der angewandten Technik und unabhängig davon, ob das Bild in seiner ursprünglichen oder in einer geänderten Fassung genutzt wird.“

9

Nach der Tryckfrihetsförordningen (Verordnung über die Pressefreiheit) gehört zur Förderung eines freien Meinungsaustauschs und einer umfassenden Information das Recht jedes Einzelnen auf Zugang zu öffentlichen Dokumenten. Insoweit sieht dieses Gesetz vor, dass jedes bei einem Gericht eingereichte Verfahrensschriftstück, unabhängig davon, in welcher Form und auf welche Art und Weise es eingereicht wird, als öffentliches Dokument anzusehen ist. Daraus folgt, dass jedermann Zugang zu einem bei einem Gericht eingereichten Verfahrensschriftstück beantragten kann, es sei denn, es handelt sich um vertrauliche Informationen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10

Der Kläger und der Beklagte des Ausgangsverfahrens sind natürliche Personen, die jeweils eine Website betreiben.

11

In einem Rechtsstreit vor den schwedischen Zivilgerichten übermittelte der Beklagte des Ausgangsverfahrens dem Gericht, bei dem jene Rechtssache anhängig war, als Beweismittel eine Kopie einer Textseite, die eine Fotografie enthielt. Diese Textseite stammte von einer Website des Klägers des Ausgangsverfahrens.

12

Der Kläger des Ausgangsverfahrens, der behauptet, er habe ein Urheberrecht an dieser Fotografie, beantragte, den Beklagten des Ausgangsverfahrens zu verurteilen, an ihn Schadensersatz wegen Urheberrechtsverletzung sowie wegen Verstoßes gegen den besonderen Schutz für Fotografien nach den §§ 2 bzw. 49a URL zu zahlen. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens bestreitet, schadensersatzpflichtig zu sein.

13

Das in erster Instanz befasste Gericht entschied, dass diese Fotografie nach § 49a URL geschützt sei. Es stellte fest, dass zu dieser Fotografie, da sie in einem Verfahrensschriftstück an ein Gericht übermittelt worden sei, nach den geltenden Rechtsvorschriften jedermann auf Antrag Zugang haben könne. Das Gericht schloss daraus, dass der Beklagte diese Fotografie im Sinne des URL an die Öffentlichkeit verbreitet habe. Es ging allerdings davon aus, dass nicht nachgewiesen sei, dass dem Kläger des Ausgangsverfahrens ein Nachteil entstanden sei, und wies infolgedessen seine Klage ab.

14

Der Kläger des Ausgangsverfahrens legte gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht, dem Svea hovrätt, Patent- och marknadsöverdomstolen (Berufungsgericht, Patent- und Marktgericht, Stockholm, Schweden), ein.

15

Dieses Gericht führt aus, dass es insbesondere darüber zu entscheiden habe, ob die Übermittlung einer Kopie dieser Fotografie in einem Verfahrensschriftstück eine im Sinne des Urheberrechts unerlaubte Verbreitung des Werks an die Öffentlichkeit oder öffentliche Wiedergabe darstellen könne. Die Parteien hätten dabei in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit klargestellt, dass die fragliche Fotografie als elektronische Kopie per E‑Mail an das angerufene Gericht übermittelt worden sei. Das vorlegende Gericht möchte ebenfalls wissen, ob davon auszugehen sei, dass ein Gericht unter den Begriff „Öffentlichkeit“ falle.

16

In diesem Zusammenhang weist es darauf hin, dass in Fällen, in denen ein geschütztes Werk in einem Verfahrensschriftstück an ein Gericht übermittelt werde, im Unionsrecht über die Auslegung der Begriffe „öffentliche Wiedergabe“ und „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ Unsicherheit bestehe, insbesondere in Bezug auf die Frage, ob zum einen ein Gericht als dem Begriff „Öffentlichkeit“ im Sinne der Richtlinie 2001/29 unterfallend angesehen werden könne und ob zum anderen der Begriff „Öffentlichkeit“ für die Zwecke der Anwendung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie dieselbe Bedeutung habe.

17

Zudem sei festzustellen, ob im Fall einer Übermittlung eines Verfahrensschriftstücks an ein Gericht unabhängig davon, ob dies in der Form eines „materiellen“ Dokuments oder als Anhang zu einer E‑Mail erfolge, diese Übermittlung, da sie in beiden Fällen dieselben Wirkungen erzeuge und dieselben Ziele habe, eine „öffentliche Wiedergabe“ oder eine „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ darstelle.

18

Unter diesen Umständen hat das Svea hovrätt, Patent- och marknadsöverdomstolen (Berufungsgericht, Patent- und Marktgericht, Stockholm) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist dem Begriff „Öffentlichkeit“ in Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 eine einheitliche Bedeutung beizumessen?

2.

Falls Frage 1 zu bejahen ist: Ist ein Gericht als „Öffentlichkeit“ im Sinne dieser Artikel anzusehen?

3.

Falls Frage 1 zu verneinen ist:

a)

Ist ein Gericht dann als „Öffentlichkeit“ anzusehen, wenn jemand dort ein urheberrechtlich geschütztes Werk wiedergibt?

b)

Ist ein Gericht dann als „Öffentlichkeit“ anzusehen, wenn jemand dort ein urheberrechtlich geschütztes Werk verbreitet?

4.

Ist es für die Beurteilung der Frage, ob die Einreichung eines urheberrechtlich geschützten Werks bei Gericht als „öffentliche Wiedergabe“ oder „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ anzusehen ist, von Bedeutung, dass das nationale Recht Vorschriften betreffend den Zugang zu Dokumenten enthält, wonach bei einem Gericht eingereichte Dokumente grundsätzlich, d. h., sofern sie keine vertraulichen Informationen enthalten, auf Antrag für jedermann zugänglich sind?

Zu den Vorlagefragen

19

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Fotografie in Form einer elektronischen Kopie per E‑Mail an das angerufene Gericht übermittelt wurde.

20

Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass die öffentliche Wiedergabe eines Werks, die nicht die Verbreitung materieller Vervielfältigungsstücke desselben ist, nicht unter den Begriff „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29, sondern unter den der „öffentlichen Wiedergabe“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Nederlands Uitgeversverbond und Groep Algemene Uitgevers, C‑263/18, EU:C:2019:1111, Rn. 45, 51 und 52).

21

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff „öffentliche Wiedergabe“ die auf elektronischem Weg an ein Gericht erfolgende Übermittlung eines geschützten Werks als Beweismittel im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens zwischen Privatpersonen abdeckt.

22

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 vereint der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ zwei kumulative Tatbestandsmerkmale, nämlich eine Handlung der Wiedergabe eines Werks und seine öffentliche Wiedergabe (Urteil vom 31. Mai 2016, Reha Training, C‑117/15, EU:C:2016:379, Rn. 37, sowie vom 19. Dezember 2019, Nederlands Uitgeversverbond und Groep Algemene Uitgevers, C‑263/18, EU:C:2019:1111, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Wie sich aus dieser Rechtsprechung ergibt, kann erstens jede Handlung, mit der ein Nutzer in voller Kenntnis der Folgen seines Verhaltens Zugang zu geschützten Werken gewährt, eine Handlung der Wiedergabe im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 darstellen (Urteil vom 14. Juni 2017, Stichting Brein, C‑610/15, EU:C:2017:456, Rn. 26).

24

Das ist bei der auf elektronischem Weg erfolgenden Übermittlung eines geschützten Werks als Beweismittel im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens zwischen Privatpersonen an ein Gericht der Fall.

25

Zweitens setzt der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 auch voraus, dass die geschützten Werke tatsächlich öffentlich wiedergegeben werden (Urteil vom 14. Juni 2017, Stichting Brein, C‑610/15, EU:C:2017:456, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Insoweit umfasst der Begriff „Öffentlichkeit“ eine unbestimmte Zahl möglicher Adressaten und setzt im Übrigen recht viele Personen voraus (Urteile vom 15. März 2012, SCF, C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 84, vom 31. Mai 2016, Reha Training, C‑117/15, EU:C:2016:379, Rn. 41, und vom 29. November 2017, VCAST, C‑265/16, EU:C:2017:913, Rn. 45).

27

Hinsichtlich der „Unbestimmtheit“ der Öffentlichkeit hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass es um die Zugänglichmachung eines Werks in geeigneter Weise für Personen allgemein, also nicht auf besondere Personen beschränkt, die einer privaten Gruppe angehören, geht (Urteile vom 15. März 2012, SCF, C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 85, und vom 31. Mai 2016, Reha Training, C‑117/15, EU:C:2016:379, Rn. 42).

28

Im vorliegenden Fall ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 42 bis 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, davon auszugehen, dass eine Wiedergabe wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende an eine klar definierte und geschlossene Gruppe von Personen gerichtet ist, die bei einem Gericht Aufgaben im öffentlichen Interesse wahrnehmen, und nicht an eine unbestimmte Zahl möglicher Adressaten.

29

Somit erfolgt diese Wiedergabe nicht gegenüber Personen allgemein, sondern gegenüber einzelnen Personen eines bestimmten Fachpersonals. Daher ist davon auszugehen, dass die auf elektronischem Weg erfolgende Übermittlung eines geschützten Werks als Beweismittel in einem gerichtlichen Verfahren zwischen Privatpersonen an ein Gericht nicht als „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 eingestuft werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 19. November 2015, SBS Belgium, C‑325/14, EU:C:2015:764, Rn. 23 und 24).

30

Nicht von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass im nationalen Recht Vorschriften über den Zugang zu öffentlichen Dokumenten vorgesehen sind. Denn dieser Zugang wird nicht von dem Nutzer gewährt, der das Werk an das Gericht übermittelt hat, sondern von diesem Gericht gegenüber Einzelnen, die einen entsprechenden Antrag stellen, aufgrund einer Verpflichtung und gemäß einem Verfahren, die in dem nationalen Recht vorgesehen sind, das den Zugang zu öffentlichen Dokumenten regelt und dessen Vorschriften von der Richtlinie 2001/29 nicht berührt werden, wie dies ausdrücklich in deren Art. 9 bestimmt ist.

31

Es ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus den Erwägungsgründen 3 und 31 der Richtlinie 2001/29 ergibt, die in Rn. 29 des vorliegenden Urteils festgehaltene Auslegung es ermöglicht, insbesondere vor dem Hintergrund der elektronischen Medien einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen der Inhaber von Urheber- und verwandten Schutzrechten am Schutz ihres in Art. 17 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Rechts am geistigen Eigentum auf der einen Seite und dem Schutz der Interessen und Grundrechte der Nutzer von Schutzgegenständen sowie dem Allgemeininteresse auf der anderen Seite zu wahren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Pelham u. a., C‑476/17, EU:C:2019:624, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Insbesondere hat der Gerichtshof bereits Gelegenheit gehabt, darauf hinzuweisen, dass sich weder aus Art. 17 Abs. 2 der Charta noch aus seiner Rechtsprechung ergibt, dass das in dieser Bestimmung verankerte Recht des geistigen Eigentums schrankenlos und sein Schutz daher bedingungslos zu gewährleisten wäre, da es gegen die anderen Grundrechte abgewogen werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Pelham u. a., C‑476/17, EU:C:2019:624, Rn. 33 und 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), zu denen das in Art. 47 der Charta verbürgte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gehört.

33

Dieses Recht würde jedoch ernsthaft gefährdet, wenn ein Rechtsinhaber in der Lage wäre, der Übermittlung von Beweismitteln an ein Gericht allein mit der Begründung zu widersprechen, diese Beweismittel enthielten ein urheberrechtlich geschütztes Werk.

34

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff „öffentliche Wiedergabe“ nicht die auf elektronischem Weg an ein Gericht erfolgende Übermittlung eines geschützten Werks als Beweismittel im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens zwischen Privatpersonen abdeckt.

Kosten

35

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff „öffentliche Wiedergabe“ nicht die auf elektronischem Weg an ein Gericht erfolgende Übermittlung eines geschützten Werks als Beweismittel im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens zwischen Privatpersonen abdeckt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Schwedisch.