SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

EVGENI TANCHEV

vom 27. Februar 2020 ( 1 )

Rechtssache C‑897/19 PPU

I.N.,

Beteiligte:

Ruska Federacija

(Vorabentscheidungsersuchen des Vrhovni sud [Oberster Gerichtshof, Kroatien])

„EWR-Abkommen und Freiheit der Inanspruchnahme von Dienstleistungen – Gegenseitiges Vertrauen und das Gemeinsame Europäische Asylsystem – Dublin‑III-Verordnung und assoziierte Schengen-Staaten – Auslieferungsersuchen eines Drittstaats an einen EU-Mitgliedstaat in Bezug auf einen Staatsangehörigen eines EFTA-Staates – Asylgewährung vor Verleihung der Staatsangehörigkeit durch diesen EFTA-Staat an den EWR-Staatsangehörigen, gegen den ein Auslieferungsersuchen vorliegt, wegen des Risikos einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung und eines unfairen Strafverfahrens im Fall der Auslieferung an den ersuchenden Drittstaat – Festnahme und Haft durch einen EU-Mitgliedstaat im Hinblick auf die Auslieferung des EWR-Staatsangehörigen zur Verfolgung derselben Straftaten, die im Asylverfahren im EFTA-Staat geprüft worden waren – Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Bezug auf die Auslieferung – Völkerrechtliches Übereinkommen zwischen Island, Norwegen und der Europäischen Union über Übergabeverfahren und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Frage, ob der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet ist, den EWR-Staat über das Auslieferungsersuchen des Drittstaats zu informieren – Frage, ob der EU-Mitgliedstaat verpflichtet ist, den EWR-Staatsangehörigen an seinen Heimatstaat zu übergeben, anstatt dem Auslieferungsersuchen des Drittstaats nachzukommen – Urteil Petruhhin des Gerichtshofs – Risiko von Straflosigkeit – Art. 4, 19 und 47 der Charta der Grundrechte“

1. 

I.N. ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation (im Folgenden: Russland). Er wurde am 19. Juni 2019 Staatsangehöriger der Republik Island (im Folgenden: Island), nachdem ihm in diesem Staat am 8. Juni 2015 als Flüchtling Asyl gewährt worden war. Am 30. Juni 2019 wurde er von den kroatischen Behörden während eines Urlaubs festgenommen, als er mit seiner Familie im Bus die Grenze zwischen diesem Mitgliedstaat und Slowenien überquerte. Er befindet sich weiterhin in Haft. Die Festnahme erfolgte auf der Grundlage einer internationalen Fahndungsausschreibung, die am 20. Mai 2015 vom Interpol-Büro in Moskau herausgegeben worden war.

2. 

Russland ersucht Kroatien um Auslieferung von I.N. wegen des Vorwurfs der Bestechlichkeit und wird dabei von der kroatischen Staatsanwaltschaft (im Folgenden: Staatsanwaltschaft) als Bevollmächtigte Russlands unterstützt. Die kroatische Verfassung schließt die Auslieferung eigener Staatsangehöriger aus, nicht jedoch von Ausländern wie I.N., wenn es, wie bei Russland der Fall, kein Auslieferungsabkommen gibt. Die Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, dass die Auslieferung unter den Umständen des Ausgangsverfahrens nicht durch Unionsrecht ausgeschlossen wird.

3. 

Island hat um sichere Rückkehr („safe passage“) von I.N. nach Island ersucht, und zwar im Hinblick darauf, dass das Verfahren, in dem seine Strafverfolgung in Russland beantragt wird, vor dem Erwerb der isländischen Staatsangehörigkeit durch I.N. der Grund für die Asylgewährung gewesen sei.

4. 

Für ihr Ersuchen um sichere Rückkehr stützen sich I.N. und Island auf das Unionsrecht, und zwar insbesondere auf EWR-Recht ( 2 ). Gleichzeitig beruft sich Island auf die Art. 18 und 21 AEUV, die nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Petruhhin ( 3 ) bei der Auslieferung von Unionsbürgern, die ihr Recht auf Freizügigkeit in Drittstaaten ausgeübt haben, eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ausschließen, allerdings unter Vorbedingungen, die für das Ausgangsverfahren wichtig und maßgeblich sind.

5. 

Dies ist der wesentliche Inhalt des Vorabentscheidungsersuchens des Vrhovni sud, Hrvatska (Oberstes Gericht, Kroatien; im Folgenden: vorlegendes Gericht). Es bietet dem Gerichtshof Gelegenheit zu einer Entscheidung über Überschneidungen zwischen EWR- und Unionsrecht sowie über die Folgen der Teilnahme von Drittstaaten, wie Island, am Schengen-Besitzstand als assoziierte Schengen-Staaten ( 4 ) und insbesondere Islands Assoziierung bei der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist ( 5 ) (im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung). Die Teilnahme sowohl Islands ( 6 ) als auch Kroatiens an der Dublin‑III-Verordnung, ebenso wie das Gemeinsame Europäische Asylsystem ( 7 ) im weiteren Sinne, sind für das Ausgangsverfahren von besonderer Bedeutung.

6. 

Zu berücksichtigen sind darüber hinaus das Übereinkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Island und Norwegen ( 8 ) (im Folgenden: Übereinkommen über das Übergabeverfahren) und in zweiter Reihe mehrere Rechtsinstrumente des Europarats zu Auslieferungsfragen ( 9 ) und das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ( 10 ). Zu berücksichtigen ist aber auch, dass nach dem Unionsrecht eine Auslieferung unter Bedingungen von unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ausgeschlossen ist, was sowohl für die Auslieferung an Drittstaaten ( 11 ) als auch innerhalb der Union im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl ( 12 ) (was sich in den Art. 19 bzw. 4 der Charta widerspiegelt) und für die Auslieferung bei behaupteten systemischen Mängeln im Justizsystem des Aufnahmelandes, die ein faires Verfahren gefährden (Art. 47 der Charta) ( 13 ), gilt.

7. 

Für die Beantwortung der ersten Vorlagefrage komme ich zu dem Ergebnis, dass die kroatischen Behörden nach den im Urteil Petruhhin ausgearbeiteten Grundsätzen verpflichtet sind, die isländischen Behörden über das Auslieferungsersuchen Russlands in Bezug auf I.N. zu informieren, und weiterhin verpflichtet sind, Island alle in seinem Besitz befindlichen Unterlagen zu übermitteln, die den isländischen Behörden bei der Entscheidung helfen könnten, ob I.N. in Island strafrechtlich verfolgt und um seine Übergabe ersucht werden soll.

8. 

Aufgrund der Verpflichtung zum gegenseitigen Vertrauen in die Qualität und Rechtmäßigkeit der Gesetze der teilnehmenden Staaten, die dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem und insbesondere der Dublin‑III-Verordnung zugrunde liegt, ist es den kroatischen Behörden, einschließlich der Gerichte, ferner untersagt, in Widerspruch zu der in Übereinstimmung mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem das Asylrecht gewährenden Entscheidung eines assoziierten Schengen-Staats, wie Island, zu handeln. Eine derartige Unvereinbarkeit würde entstehen, wenn i) Kroatien Island nicht über das Auslieferungsersuchen bezüglich derselben oder ähnlicher strafrechtlicher Vorwürfe, aufgrund deren Island I.N. Asyl gewährt hat, informieren würde, da Island festgestellt hat, dass es nach der Dublin‑III-Verordnung der zuständige Mitgliedstaat ist ( 14 ); ii) eine kroatische Behörden, einschließlich der Gerichte, in einer Weise, die mit der Asylgewährung für I.N. durch Island im Jahr 2015 unvereinbar wäre, darüber entscheiden würde, ob für diesen das Risiko besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt zu werden.

9. 

Was die Beantwortung der zweiten Frage angeht, ist Kroatien angesichts der Tatsache, dass Island noch kein Auslieferungsersuchen gestellt hat, derzeit nicht verpflichtet, gemäß dem Übereinkommen über das Übergabeverfahren ( 15 ) Schritte zur Übergabe von I.N. an Island zu unternehmen. Die kroatischen Gerichte werden zu bestimmen haben, ob unter den gesamten Umständen ein von Island letztlich ausgestellter Haftbefehl in Verbindung mit dem Übereinkommen über das Übergabeverfahren einen Schutz vor Straflosigkeit bietet, der einer Auslieferung gleichkommt, ohne dass diese Gerichte von ihrer Verpflichtung befreit sein werden, im Einklang mit der Asylgewährung durch Island zu handeln.

I. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

10.

Art. 18 Abs. 1 AEUV bestimmt:

„Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“

11.

Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen ( 16 ) lautet:

„Die Binnengrenzen dürfen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“

12.

Art. 2 des Protokolls (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Besitzstand ( 17 ) lautet:

„Der Schengen-Besitzstand ist unbeschadet des Artikels 3 der Beitrittsakte vom 16. April 2003 und des Artikels 4 der Beitrittsakte vom 25. April 2005 für die in Artikel 1 aufgeführten Mitgliedstaaten anwendbar. Der Rat tritt an die Stelle des durch die Schengener Übereinkommen eingesetzten Exekutivausschusses.“

13.

Art. 6 Abs. 1 des Protokolls (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand ( 18 ) bestimmt:

„Die Republik Island und das Königreich Norwegen werden bei der Durchführung des Schengen-Besitzstands und bei seiner weiteren Entwicklung assoziiert. Die entsprechenden Verfahren hierfür werden in einem Übereinkommen mit diesen Staaten festgelegt, das vom Rat mit einstimmigem Beschluss seiner in Artikel 1 genannten Mitglieder geschlossen wird. Das Übereinkommen enthält auch Bestimmungen über den Beitrag Islands und Norwegens zu etwaigen finanziellen Folgen der Durchführung dieses Protokolls.“

14.

Art. 1 des Schengen-Assoziierungsübereinkommens ( 19 ) bestimmt:

„Die Republik Island und das Königreich Norwegen (nachstehend ‚Island‘ und ‚Norwegen‘ genannt) werden bei der Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union in den Bereichen, die Gegenstand der in den Anhängen A und B genannten Bestimmungen sind, sowie bei der Weiterentwicklung dieser Bestimmungen assoziiert.

Dieses Übereinkommen begründet gegenseitige Rechte und Pflichten gemäß den in ihm vorgesehenen Verfahren.“

15.

Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 der Akte über den Beitritt der Republik Kroatien ( 20 ) lautet:

„(1)   Die Bestimmungen des Schengen-Besitzstands, die in dem dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokoll über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand (im Folgenden ‚Schengen-Protokoll‘) aufgeführt sind, und die darauf aufbauenden oder anderweitig damit zusammenhängenden Rechtsakte, die in Anhang II aufgeführt sind, sowie alle weiteren vor dem Tag des Beitritts erlassenen Rechtsakte dieser Art sind ab dem Tag des Beitritts für Kroatien bindend und in Kroatien anzuwenden.

(2)   Die Bestimmungen des in den Rahmen der Union einbezogenen Schengen-Besitzstands und die darauf aufbauenden oder anderweitig damit zusammenhängenden Rechtsakte, die nicht in Absatz 1 genannt sind, sind zwar für Kroatien ab dem Tag des Beitritts bindend, sie sind aber in Kroatien jeweils nur nach einem entsprechenden Beschluss anzuwenden, den der Rat nach einer nach den geltenden Schengen-Evaluierungsverfahren durchgeführten Prüfung der Frage, ob die erforderlichen Voraussetzungen für die Anwendung aller Teile des einschlägigen Besitzstands – einschließlich der wirksamen Anwendung aller Schengen-Bestimmungen im Einklang mit den vereinbarten gemeinsamen Standards und mit den grundlegenden Prinzipien – in Kroatien gegeben sind, gefasst hat …“ ( 21 )

B.   EWR-Recht

16.

Art. 4 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ( 22 ) (im Folgenden: EWR-Abkommen) bestimmt:

„Unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Abkommens ist in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“

17.

In Art. 36 Abs. 1 des EWR-Abkommens heißt es:

„Im Rahmen dieses Abkommens unterliegt der freie Dienstleistungsverkehr im Gebiet der Vertragsparteien für Angehörige der EG-Mitgliedstaaten und der EFTA-Staaten, die in einem anderen EG-Mitgliedstaat beziehungsweise einem anderen EFTA-Staat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, keinen Beschränkungen.“

C.   Recht des Mitgliedstaats

18.

Art. 9 des Ustav Republike Hrvatske (Verfassung der Republik Kroatien) (Narodne novine, Nrn. 56/90, 135/97, 113/00, 28/01, 76/10 und 5/14) lautet:

„Ein Staatsangehöriger der Republik Kroatien kann nicht des Landes verwiesen werden, noch kann ihm die Staatsangehörigkeit entzogen werden; er kann auch nicht an einen anderen Staat ausgeliefert werden, es sei denn, es besteht die Pflicht zur Vollstreckung einer gemäß einem völkerrechtlichen Vertrag oder dem Besitzstand der Europäischen Union erlassenen Auslieferungs- oder Übergabeentscheidung.“

19.

Nach Art. 12 Abs. 1 Nrn. 1, 3 und 4 des Zakon o međunarodnoj pravnoj pomoći u kaznenim stvarima (Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen) (Narodne novine 178/04, im Folgenden: ZOMPO), kann ein Auslieferungsersuchen abgelehnt werden, 1. wenn das Ersuchen eine Tat betrifft, die als eine politische Straftat oder als eine mit einer solchen zusammenhängende Tat angesehen wird, …, 3. wenn die Bewilligung des Ersuchens zu einer Beeinträchtigung der Souveränität, der Sicherheit, der Rechtsordnung oder sonstiger wichtiger Interessen der Republik Kroatien führen würde und 4. wenn die begründete Annahme besteht, dass die Person, um deren Auslieferung ersucht wird, im Fall ihrer Auslieferung aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugungen strafrechtlich verfolgt oder bestraft würde oder ihre Stellung aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden könnte.

20.

Art. 55 ZOMPO bestimmt:

„(1)   Wenn das zuständige Gericht feststellt, dass die gesetzlichen Auslieferungsvoraussetzungen nicht erfüllt sind, lehnt es das Auslieferungsersuchen durch Beschluss ab und stellt diesen unverzüglich dem Vrhovni sud [(Oberster Gerichtshof)] der Republik Kroatien zu, der ihn nach Anhörung des zuständigen Staatsanwalts bestätigt, aufhebt oder abändert.“

II. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

21.

Wie bereits erwähnt, schrieb Interpol Moskau am 20. Mai 2015 I.N. mit dem Ersuchen um „Festnahme“ zwecks Strafverfolgung wegen Korruption, und zwar wegen (passiver) Bestechlichkeit (Art. 290 Abs. 5 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation) international zur Fahndung aus. I.N. wird vorgeworfen, als Leiter der Abteilung für die Lizenzvergabe und die Zertifizierung des russischen Ministeriums für Ausnahmezustände in der Republik Karelien im Rahmen einer vorherigen Absprache mit anderen Bediensteten dieses Ministeriums und unter Missbrauch seines Amtes Bestechungsgelder in Höhe von 833 000 Rubel (RUB) (ungefähr 11 700 Euro) von Unternehmensvertretern angenommen und ihnen im Gegenzug Lizenzen für die Montage, die technische Unterstützung und die Reparatur in Bezug auf Brandschutzeinrichtungen in Gebäuden und auf Baustellen erteilt zu haben.

22.

Am 30. Juni 2019 wurde I.N. auf der Grundlage der genannten internationalen Fahndungsausschreibung an einem kroatischen Grenzübergang festgenommen. An der Grenze legte I.N. ein isländisches Reisedokument für Flüchtlinge mit der Nr. … mit einer Gültigkeitsdauer vom 25. Februar 2019 bis zum 25. Februar 2021 vor.

23.

Am 1. Juli 2019 wurde I.N. vom Ermittlungsrichter am Županijski sud u Zagrebu (im Folgenden: Gespanschaftsgericht Zagreb) angehört. Dieses ordnete am 1. Juli 2019 an, dass I.N. gemäß Art. 47 ZOMPO bis zur Auslieferung in Haft gehalten wird. I.N. ist weiterhin in Haft, da mehrere Rechtsmittel erfolglos waren.

24.

Am 1. August 2019 übermittelte die Direktion für konsularische Angelegenheiten, Visa- und Ausländerstelle beim Ministerium für auswärtige und europäische Angelegenheiten der Republik Kroatien dem Gespanschaftsgericht Zagreb eine Verbalnote der Botschaft Islands, in der es heißt, dass I.N. isländischer Staatsangehöriger sei und über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht in Island verfüge. In der Verbalnote wird ausgeführt, dass I.N. die isländische Staatsangehörigkeit am 19. Juni 2019 erworben habe. Vor dem Erwerb der Staatsangehörigkeit sei er Inhaber eines Reisedokuments für Flüchtlinge mit der Nr. … gewesen. In der Verbalnote heißt es auch, es sei der Wunsch der isländischen Regierung, dass I.N. schnellstmöglich die sichere Rückkehr nach Island ermöglicht werde.

25.

Am 6. August 2019 erhielt das Gespanschaftsgericht Zagreb ein auf die Vorschriften des Europäischen Auslieferungsübereinkommens ( 23 ) gestütztes Ersuchen der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation um Auslieferung von I.N. an Russland. Die Auslieferung wurde zwecks Strafverfolgung wegen Bestechlichkeit im Sinne von Art. 290 Abs. 3 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation in neun Fällen und Bestechlichkeit im Sinne von Art. 290 Abs. 5 Buchst. a des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation in fünf Fällen beantragt. Da es kein Auslieferungsabkommen zwischen Kroatien und Russland gibt, wurden zur Begründung des Auslieferungsersuchens auch Unterlagen gemäß den Bestimmungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vorgelegt.

26.

In dem Ersuchen wird ausgeführt, dass die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation garantiere, dass das Auslieferungsersuchen nicht gestellt worden sei, um die Person aus politischen Gründen bzw. aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Volkszugehörigkeit oder politischen Überzeugungen zu verfolgen, dass dem Ausländer I.N. alle Verteidigungsmöglichkeiten einschließlich anwaltlichen Beistands zur Verfügung gestellt würden und dass er keiner Folter und keiner grausamen oder unmenschlichen, die Menschenwürde verletzenden Behandlung oder Strafe ausgesetzt werde.

27.

Am 5. September 2019 befand der mit dem Fall befasste Senat des Gespanschaftsgerichts Zagreb, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Auslieferung des ausländischen Staatsangehörigen I.N. zum Zwecke der Strafverfolgung gemäß den Art. 33, 34 und 37 ZOMPO erfüllt seien.

28.

I.N. legte am 30. September 2019 beim vorlegenden Gericht Beschwerde gegen den Beschluss des Gespanschaftsgerichts Zagreb ein. Ausweislich des Vorabentscheidungsersuchens macht er geltend, dass das konkrete, ernsthafte und vernünftigerweise vorhersehbare Risiko bestehe, dass er im Fall seiner Auslieferung der Folter und einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werde. In der Beschwerdebegründung führt er u. a. aus, dass ihm in Island gerade wegen der konkreten Verfolgung in Russland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei, dass er Inhaber eines gültigen isländischen Reisedokuments für Flüchtlinge sei und dass das Gespanschaftsgericht Zagreb mit dem angefochtenen Beschluss de facto den internationalen Schutz aufgehoben habe, der ihm in Island gewährt worden sei. Außerdem habe das Gespanschaftsgericht Zagreb das Urteil Petruhhin ( 24 ) des Gerichtshofs falsch ausgelegt.

29.

Nach der Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts ist ein Auslieferungsersuchen abzulehnen, wenn das tatsächliche Risiko besteht, dass der Auszuliefernde im Fall seiner Auslieferung der Folter oder einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt würde. In der Vorlageentscheidung wird darauf hingewiesen, dass diese Punkte im Rahmen des Beschwerdeverfahrens noch zu prüfen seien.

30.

Das vorlegende Gericht ist sich jedoch im Unklaren darüber, ob es vor Erlass einer Entscheidung über das gestellte Auslieferungsersuchen aufgrund des Unionsrechts verpflichtet ist, Island, das I.N. die Staatsangehörigkeit verliehen hat, über dieses Auslieferungsersuchen zu informieren, so dass dieser Staat gegebenenfalls um die Übergabe seines Staatsangehörigen zwecks Strafverfolgung, um der Gefahr der Straflosigkeit entgegenzuwirken, ersuchen kann.

31.

Angesichts der Zweifel über die Anwendbarkeit des Unionsrechts hat das vorlegende Gericht das Verfahren am 26. November 2019 ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 18 AEUV dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat der Europäischen Union, der über die Auslieferung eines Staatsangehörigen eines Staates, der kein Mitgliedstaat der Europäischen Union, aber ein zum Schengen-Raum gehörender Staat ist, an einen Drittstaat zu entscheiden hat, verpflichtet ist, diesen Schengen-Staat über das Auslieferungsersuchen zu informieren?

2.

Falls die vorstehende Frage bejaht wird: Ist diese Person gemäß dem Übereinkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Island und Norwegen an den Schengen-Staat zu übergeben, wenn dieser um ihre Übergabe zum Zwecke der Strafverfolgung im Sinne des Auslieferungsersuchens ersucht hat?

32.

Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 5. Dezember 2019 beim Gerichtshof eingegangen, und es ist die Anwendung des Eilvorlageverfahrens beschlossen worden.

33.

I.N., die Staatsanwaltschaft, die Republik Kroatien und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. I.N. und die Kommission sowie die Hellenische Republik, Irland, die Republik Island, das Königreich Norwegen und die EFTA-Überwachungsbehörde haben an der mündlichen Verhandlung vom 31. Januar 2020 teilgenommen.

III. Zusammenfassung der schriftlichen und mündlichen Erklärungen

34.

I.N. trägt vor, dass die isländischen Behörden festgestellt hätten, dass er gegen seine Vorgesetzten in der öffentlichen Verwaltung wegen deren korrupter Aktivitäten gegenüber den zuständigen russischen Behörden ausgesagt habe, dass aber aufgrund der Verbindungen seiner Vorgesetzten zu hochrangigen Beamten in der öffentlichen Verwaltung er an deren Stelle strafrechtlich verfolgt worden sei.

35.

Die Strafverfolgung sei rechtswidrig und unklar, und Kroatien verstoße gegen Art. 6 EMRK. Sein Status als Flüchtling bestehe fort und hätte berücksichtigt werden müssen. Nach kroatischem Recht könne er kein Asyl beantragen, weil ihm bereits Asyl gewährt worden sei; es gebe eine Rechtsprechung des kroatischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 2018, wonach die kroatischen Gerichte verpflichtet seien, die Gewährung von internationalem Schutz nach der Dublin‑III-Verordnung zu berücksichtigen ( 25 ).

36.

Der Begriff der Gleichbehandlung in Bezug auf die vier Freiheiten sei für die Beziehungen zwischen den EWR-Mitgliedstaaten und den Mitgliedstaaten der Union von zentraler Bedeutung (vgl. 15. Erwägungsgrund und Art. 4 des EWR-Abkommens). Dasselbe gelte für die einheitliche Auslegung des EWR-Abkommens und der Rechtsvorschriften der Union. Das Ziel sei Homogenität zwischen beiden Rechtssystemen (Art. 105 des EWR-Abkommens).

37.

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 18 AEUV gelte entsprechend, da diese Bestimmung in Art. 4 des EWR-Abkommens inhaltlich wiedergegeben werde. Somit müsse eine Person, die sich in einer Situation befinde, die in den Anwendungsbereich des EWR-Abkommens falle, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit gleich behandelt werden ( 26 ), und das Ausgangsverfahren falle in den Anwendungsbereich von Art. 36 des EWR-Abkommens, der im Wesentlichen Art. 56 AEUV über den freien Dienstleistungsverkehr wiedergebe. Könnten sich EWR-Staatsangehörige nicht auf den Schutz vor Auslieferung gemäß dem Urteil Petruhhin ( 27 ) berufen, würden sie weniger häufig die Dienste von Reiseveranstaltern, die Reisen in ganz Europa anbieten, in Anspruch nehmen.

38.

Der freie Verkehr im EWR von wirtschaftlich nicht aktiven Personen, der nicht unter eine der vier Freiheiten falle, werde zuweilen vom EWR-Abkommen erfasst, weil die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten ( 28 ), durch den Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 158/2007 vom 7. Dezember 2007 zur Änderung des Anhangs V (Freizügigkeit der Arbeitnehmer) und des Anhangs VIII (Niederlassungsrecht) des EWR-Abkommens ( 29 ) in das EWR-Recht übernommen worden sei. In den Urteilen Gunnarsson ( 30 ) und Jabbi ( 31 ) habe der EFTA-Gerichtshof die Richtlinie 2004/38 weit ausgelegt, um das Fehlen einer Art. 21 AEUV über die Unionsbürgerschaft entsprechenden EWR-Rechtsvorschrift auszugleichen.

39.

Die Verhinderung von Straflosigkeit sei ein legitimes Ziel, das eine Beschränkung der Grundfreiheiten rechtfertige, aber dasselbe Ziel könne durch weniger einschränkende Maßnahmen als durch Auslieferung erreicht werden ( 32 ). I.N. verweist auf das Übereinkommen über das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Island und Norwegen ( 33 ), das inhaltlich fast vollständig dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ( 34 ) entspreche. I.N. verweist darauf, dass die Definition des Europäischen Haftbefehls in Art. 1 des Beschlusses 2002/584/JI und die in Art. 2 Abs. 5 des Übergabeverfahrensabkommens ( 35 ) ähnlich seien.

40.

Die Staatsanwaltschaft vertritt die Ansicht, I.N. habe, da Island kein Mitgliedstaat der Europäischen Union sei, zum Zeitpunkt seiner Festnahme die Rechte genossen, die sich aus dem EWR-Abkommen, nicht aber die Rechte, die sich aus dem AEUV in Bezug auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Union ergäben. Das EWR-Recht auf Freizügigkeit sei enger gefasst als die Rechte nach Art. 21 AEUV, und die EWR-Freizügigkeitsrechte erstreckten sich nicht auf Auslieferung. Folglich sei der Grundsatz der Nichtdiskriminierung in Art. 4 des EWR-Abkommens nicht auf das Ausgangsverfahren anwendbar ( 36 ).

41.

Zudem sei es im kroatischen Auslieferungsverfahren nicht üblich, Beschuldigte in ihren Staatsangehörigkeitsstaat zu überstellen, statt sie an den um Auslieferung ersuchenden Staat zu übergeben. Dies sei keine weniger einschränkende Maßnahme im Sinne des Urteils Petruhhin, denn dadurch verlängere sich die Haftzeit mit Blick auf die Auslieferung. Es sei daher nicht erforderlich, Island über das Auslieferungsverfahren zu informieren, von dem es ohnehin Kenntnis habe.

42.

Irland hat den Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung aufgefordert, das Urteil Petruhhin unter Anwendung des Ansatzes von Generalanwalt Bot in dieser Rechtssache ( 37 ) zu überdenken, wonach Nichtstaatsangehörige und Staatsangehörige, soweit es um Vorschriften gehe, die die Auslieferung an Drittstaaten ausschlössen, sich nicht in vergleichbaren Situationen befänden. Im Hinblick auf eine erneute Erörterung der Ergebnisse im Urteil Petruhhin verweist Irland insbesondere auf dessen Rn. 47, 48 und 49.

43.

Griechenland hat in der mündlichen Verhandlung die Auffassung vertreten, dass die Petruhhin-Grundsätze anzuwenden seien. I.N. habe seine Freizügigkeitsrechte ausgeübt und dürfe nicht aufgrund seiner Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Griechenland schließe zwar nicht aus, dass mit der Auslieferung an einen Drittstaat ein legitimer Zweck verfolgt werden könne, wie etwa die Verhinderung von Straflosigkeit. Doch sei es wichtig, dass das vorlegende Gericht bewerte, warum I.N. der Flüchtlingsstatus verliehen worden sei. Hierzu hat Griechenland auf die Art. 3, 4, 28 und 36 des EWR-Abkommens verwiesen ( 38 ).

44.

Die EFTA-Überwachungsbehörde hat in der mündlichen Verhandlung die Auffassung vertreten, der EWR sei eine Rechtsordnung sui generis, die auf gegenseitigem Vertrauen und auf Zusammenarbeit beruhe und werde durch enge gemeinsame Grundwerte der EU- und EFTA-Staaten gekennzeichnet ( 39 ). Art. 3 des EWR-Abkommens über Treu und Glauben sei Art. 4 EUV gleichwertig. Das System zeichne sich durch eine dynamische Angleichung der materiellen Rechtsvorschriften aus, und die EFTA-Staaten seien in Bezug auf die Legislativvorschläge der Kommission den EU-Mitgliedstaaten gleichgestellt (Art. 99 Abs. 1 des EWR-Abkommens); es folge ein stetiger Konsultationsprozess (Art. 99 Abs. 3 des EWR-Abkommens). Einschlägige Rechtsakte der Union würden dem EWR-Abkommen hinzugefügt und würden, sofern nicht angepasst, Besitzstand werden (Art. 102 des EWR-Abkommens). Homogenität werde durch die Art. 6 und 105 des EWR-Abkommens gewährleistet. Die Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs und des Gerichtshofs stärke diese dynamische Angleichung, und die Unterschiede zwischen beiden erstreckten sich nicht auf seine Grundlagen und Werte.

45.

Die EFTA-Überwachungsbehörde vertritt daher die Auffassung, dass Kroatien die Freizügigkeit von I.N. beschränkt habe und dass die Petruhhin-Rechtsprechung in gleicher Weise für EWR-Staatsangehörige gelte. Bei Anwendung von Art. 4 des EWR-Abkommens in Verbindung mit der entsprechenden EWR-Freizügigkeitsbestimmung gelange man zu demselben Ergebnis.

46.

Die EFTA-Überwachungsbehörde verweist auch auf den Beschluss vom 6. September 2017, Peter Schotthöfer & Florian Steiner ( 40 ). Unionsbürger und EWR-Staatsangehörige, die von der Freizügigkeit Gebrauch machten, seien vor einer Auslieferung an Drittstaaten zu schützen, wenn sie, wie in Art. 19 der Charta angegeben, einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt würden.

47.

Nach Darstellung der EFTA-Überwachungsbehörde enthält der Beschluss Peter Schotthöfer & Florian Steiner einen absoluten Grundsatz. Kroatien müsse in die von Island vorgenommene Einschätzung der Folgen einer Auslieferung vertrauen. Es müsse die Vermutung gelten, dass die Gründe für die Asylgewährung stichhaltig seien ( 41 ). Diese Gründe seien nicht dadurch in Wegfall gekommen, dass I.N. die isländische Staatsangehörigkeit erhalten habe. Art. 15 der Anerkennungsrichtlinie ( 42 ) werde im isländischen Recht in Bezug genommen. Art. 21 AEUV könne Freizügigkeitsrechte, die ansonsten nach EWR-Recht bestünden, nicht beschränken. Im Besitzstand im Bereich der Freizügigkeit werde kein Unterschied gemacht, ob eine Beschränkung auf Zivilrecht, Strafrecht oder öffentlichem Recht beruhe.

48.

Island hat in der mündlichen Verhandlung Ausführungen zu den Reisen von I.N. gemacht. Er habe einen Flug mit seiner Frau und seinen zwei Kindern von Island nach Wien genommen und anschließend einen Bus, um nach Zagreb zu fahren und weiter zu einem Ferienaufenthalt an der kroatischen Küste.

49.

Island hält die Petruhhin-Rechtsprechung für auf das Ausgangsverfahren anwendbar, da Art. 36 des EWR-Abkommens über Dienstleistungen Art. 56 AEUV entspreche, und es werde im Urteil Cowan (C‑186/87) des Gerichtshofs ( 43 ) festgestellt, dass Tourismusdienstleistungen Dienstleistungen seien; zudem sei die Richtlinie 2004/38 in das EWR-Recht aufgenommen worden. Island beruft sich auch auf das Urteil des EFTA-Gerichtshofs in der Rechtssache Wahl/Island ( 44 ) und meint, dass Art. 4 des EWR-Abkommens Art. 18 AEUV gleichwertig sei.

50.

Island hält Kroatien für verpflichtet, ihm die notwendigen Informationen zu übermitteln, um entscheiden zu können, ob es I.N. strafrechtlich verfolgen und ihn dann gemäß dem Übereinkommen über das Übergabeverfahren ( 45 ) ausliefern müsse.

51.

Die Gewährung des internationalen Schutzes durch die isländische Direktion für Einwanderung am 8. Juni 2015 sei auf der Grundlage von Beweisen erfolgt, die als detailliert, frei von Widersprüchen, klar, konsistent, glaubhaft und realistisch angesehen worden seien. Die Gewährung basiere auch auf der allgemeinen Menschenrechtslage in Russland zu dieser Zeit, wie sie in Berichten von NGO und nationalen und internationalen Berichten dargestellt werde, auf der weitverbreiteten Korruption in Verwaltung und Justiz sowie auf den ungewöhnlich niedrigen Erfolgsquoten von Berufungen in Strafsachen (1 %). Island sei, als ihm internationaler Schutz gewährt wurde, sich der roten Ausschreibung von Interpol gegen I.N. wegen der von ihm angeblich begangenen Straftaten bewusst gewesen. Anfragen aus Russland über den Verbleib von I.N. seien von Island nicht beantwortet worden. Seit 2015 sei von 47 gestellten Anträgen zwölf russischen Staatsangehörigen internationaler Schutz gewährt worden; vier davon beträfen I.N. und seine Familie.

52.

Island hat in der mündlichen Verhandlung ferner ausgeführt, dass die Einhaltung der Charta auch im Rahmen des EWR erforderlich sei ( 46 ) und dass I.N. vor den systemischen Mängeln in der russischen Justiz ( 47 ) zu schützen gewesen sei.

53.

Auf die Frage, was mit einem Ersuchen um „safe passage“ gemeint sei, hat Island erläutert, dass die isländische Botschaft in Berlin am 24. Juli 2019 eine Verbalnote darüber erhalten habe, dass I.N. im Vormonat festgenommen worden sei. Der Botschafter habe auf die Verbalnote gemäß des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen ( 48 ) geantwortet, dass es der Wunsch der Regierung sei, dass das Verfahren zügig durchgeführt werde und die sichere Rückreise so bald wie möglich gewährt werden möge. Das Übereinkommen über das Übergabeverfahren sei zu diesem Zeitpunkt nicht anwendbar gewesen ( 49 ).

54.

Island hat ausgeführt, dass es möglicherweise für das Strafverfahren gegen I.N. gemäß Art. 6 der isländischen Strafprozessordnung zuständig sei, aber dies sei eine Frage, die von der unabhängigen Staatsanwaltschaft entschieden werden müsse. Als isländischer Staatsangehöriger könne I.N. nach dem isländischen Auslieferungsgesetz nicht ausgeliefert werden.

55.

Norwegen hat in der mündlichen Verhandlung die Auffassung vertreten, das EWR-Abkommen enthalte keine Bestimmung, die Art. 21 AEUV gleichwertig sei. Die einschlägigen EWR-Bestimmungen seien die Art. 4, 28 und 36, aber es sei allein Sache des vorlegenden Gerichts, zu entscheiden, welche der Freiheiten, wenn überhaupt, zur Anwendung kämen, und es könne nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass I.N. Dienstleistungsempfänger gewesen sei; auch dies sei eine Frage, die ein kroatisches Gericht zu entscheiden habe. Ebenso wenig könne die Richtlinie 2004/38 einschlägig sein. Auslieferungsersuchen würden darin nicht geregelt. Strafsachen fielen nicht unter das EWR-Abkommen.

56.

Der Oberste Gerichtshof Norwegens habe den EFTA-Gerichtshof aufgefordert, seine Rechtsprechung im Urteil Jabbi ( 50 ) zu überprüfen, in dem festgestellt worden sei, dass die Richtlinie 2004/38 so ausgelegt werden könne, dass sie Rechte gewähre, die denen des Art. 21 AEUV entsprächen. Diese Aufforderung zur Überprüfung sei in der anhängigen Rechtssache Campbell ( 51 ) erfolgt. Norwegen hält das Urteil Jabbi für mit Art. 6 EWR unvereinbar und fordert den Gerichtshof auf, festzustellen, dass Rechte, die ausschließlich auf Art. 21 AEUV beruhen, mangels einer entsprechenden Bestimmung nicht in den Anwendungsbereich des EWR-Abkommens fallen.

57.

In Bezug auf die erste Vorlagefrage vertritt Norwegen die Ansicht, das Übereinkommen über das Übergabeverfahren zwischen Island und Norwegen sei ein gewöhnlicher völkerrechtlicher Vertrag, der nicht Teil des EWR-Rechts sei und nicht in gleicher Weise wie der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl ( 52 ) ausgelegt werden könne. Kontext und Ziele seien unterschiedlich, auch wenn der Wortlaut ähnlich sei. Im Urteil Petruhhin seien Kontext und Ziel unterstrichen worden.

58.

Im Urteil Petruhhin sei festgestellt worden, dass eine Ungleichbehandlung durch die Verhinderung von Straflosigkeit gerechtfertigt werden könne und die Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels geeignet sein müssten. Zu prüfen sei, ob es eine Maßnahme gebe, die die Ausübung der Freizügigkeit weniger einschränke, die Straflosigkeit aber ebenso wirksam verhindere wie die Auslieferung ( 53 ).

59.

Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI erlaube dem nationalen Gericht die Einräumung eines derartigen Vorrangs. Das Übereinkommen über das Übergabeverfahren gestatte dies jedoch nicht, da es ein anderes Ziel und einen anderen Kontext habe sowie kein Ziel des gegenseitigen Vertrauens, das dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI ( 54 ) gleichwertig sei oder das in Art. 3 Abs. 2 EUV (vgl. Urteil Petruhhin) genannte Ziel zum Inhalt habe. Das Urteil Petruhhin habe sich für die Einräumung dieses Vorrangs auch auf Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI bezogen. In dem Übereinkommen über das Übergabeverfahren, dessen Erwägungsgründe nur auf „gegenseitiges Vertrauen“ Bezug nähmen, gebe es keine ähnliche Bestimmung. Art. 3 des EWR-Abkommens verlange von den EWR-Vertragsstaaten, die Zusammenarbeit zu fördern, aber es fehlten die zusätzlichen Anforderungen nach Art. 4 EUV. Nach Art. 19 Abs. 1 des Übereinkommens über das Übergabeverfahren sei die Prüfung aller maßgeblichen Umstände, insbesondere der in Art. 1 des Übereinkommens genannten, erforderlich.

60.

Was die zweite Frage betreffe, so seien die Grundrechte Teil des EWR-Rechts ( 55 ) und Art. 19 der Charta schließe die Auslieferung bei Bedingungen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Bestrafung aus ( 56 ). Das vorlegende Gericht müsse die Beweise für ein tatsächliches Risiko einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung bei einer Auslieferung an Russland würdigen ( 57 ) und die Entscheidung der isländischen Behörden, den Flüchtlingsstatus zu gewähren, sowie die Beweise, auf die diese Entscheidung gestützt worden sei, berücksichtigen.

61.

Kroatien führt aus, dass die Art. 28 und 36 des EWR-Abkommens den Art. 45 und 56 AEUV entsprächen ( 58 ), während Art. 21 AEUV Personen erfasse, die aus Gründen, die nicht mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit zusammenhingen, in andere Mitgliedstaaten reisten. Art. 21 AEUV betreffe EWR-Staatsangehörige, da die Richtlinie 2004/38 nicht auf wirtschaftliche Tätigkeiten beschränkt sei.

62.

Da I.N. seine Freizügigkeitsrechte ausgeübt habe, falle seine Situation in den Anwendungsbereich der Verträge im Sinne von Art. 18 AEUV und des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ( 59 ), das Art. 4 des EWR-Abkommens entspreche.

63.

Im Licht des Urteils Petruhhin ( 60 ) müssten zur Verhinderung von Straflosigkeit und zur Anwendung von Maßnahmen, die die Freizügigkeit am wenigsten einschränken, alle im Strafrecht vorgesehenen Maßnahmen der Rechtshilfe und der Zusammenarbeit Anwendung finden. Zu diesem Zweck verweist Kroatien auf den Anwendungsbereich der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands gemäß Art. 6 des Protokolls Nr. 19 über den Schengen-Besitzstand, der in den Rahmen des Unionsrechts, der für Island und Norwegen gelte, übernommen worden sei.

64.

Kroatien verweist auf das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen ( 61 ). Das grundlegende Ziel dieses Übereinkommens bestehe in der Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der die Freizügigkeit von Personen garantiere, sowohl für Unionsbürger als auch für Ausländer, die sich auf dem Gebiet der Union aufhielten.

65.

Das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen sehe die Einführung grundlegender Bestimmungen über die Rechtshilfe in Strafsachen vor (Titel III „Polizei und Sicherheit“, Kapitel 2) vor, auf denen derzeit die Entwicklung der Rechtshilfe in Strafsachen beruhe. Der Schengen-Besitzstand umfasse auch das Schengener Informationssystem ( 62 ).

66.

Demnach sei dem Informationsaustausch mit dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die betreffende Person besitze, der Vorrang einzuräumen, um diesem Mitgliedstaat die Möglichkeit zu geben, die Person im Rahmen seiner Zuständigkeit für außerhalb des nationalen Hoheitsgebiets begangene Handlungen zu verfolgen und einen Haftbefehl im Einklang mit dem Übereinkommen über das Übergabeverfahren zu erlassen.

67.

Schließlich sei der Grundsatz der Nichtzurückweisung und des Verbots, jemanden einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung auszusetzen, ein Grundprinzip des internationalen Flüchtlingsrechts. Sollte I.N. in Kroatien Asyl beantragen, würde dies nach Art. 43 Abs. 1 des kroatischen Asylgesetzes versagt, da von einem Mitgliedstaat des EWR internationaler Schutz gewährt worden sei.

68.

Kroatien weist darauf hin, dass Island die Dublin‑III-Verordnung ( 63 ) anwende und an Eurodac ( 64 ) teilnehme. Man könne daher davon ausgehen, dass Irland die unionsrechtlichen Bestimmungen über Asyl und internationalen Schutz befolge. Island habe im Jahr 2014 mit dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen ( 65 ) ein Abkommen über die Art seiner Beteiligung geschlossen ( 66 ).

69.

Obwohl es derzeit kein EWR-weites System für die gegenseitige Anerkennung von Asylentscheidungen gebe, sei der Rechtsrahmen durch das Gemeinsame Europäische Asylsystem festgelegt und seien die Asylbedingungen in den einzelnen Staaten einheitlich.

70.

Die Kommission vertritt im Gegensatz zu Kroatien die Auffassung, dass Islands Status als Vertragspartei des EWR-Abkommens für die Entscheidung über den Rechtsstreit wichtiger sei als seine Mitgliedschaft im Schengen-Raum. Mit bestimmten Regelungen im EWR-Abkommen komme man zum gleichen Ergebnis wie im Urteil Petruhhin. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission eingeräumt, dass im Ausgangsverfahren bestimmte Teile des Petruhhin-Puzzles fehlten, wie etwa der Umstand, dass I.N. kein Unionsbürger sei; diese Teile könnten aber durch andere Bestimmungen des EWR-Abkommens ersetzt werden.

71.

Ziel des EWR-Abkommens sei nach dessen Art. 1 „eine beständige und ausgewogene Stärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter gleichen Wettbewerbsbedingungen und die Einhaltung gleicher Regeln zu fördern, um einen homogenen Europäischen Wirtschaftsraum … zu schaffen“.

72.

Die Kommission verweist auf die Gemeinsame Erklärung der Vertragsparteien zum Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 158/2007 zur Aufnahme der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in das EWR-Abkommen ( 67 ), mit dem die Richtlinie 2004/38 in das EWR-Recht übernommen worden ist. Darin heiße es u. a., dass der Begriff der Unionsbürgerschaft keine Entsprechung im EWR-Abkommen habe und dass das EWR-Abkommen keine Rechtsgrundlage für die politischen Rechte von EWR-Staatsangehörigen biete.

73.

Alle Rechte und Freiheiten der Richtlinie 2004/38 seien jedoch in das EWR-Recht übernommen worden. Unter bestimmten Bedingungen hätten EWR-Staatsangehörige das Recht, sich im EWR zu bewegen und sich bis zu drei Monate in einem EWR-Vertragsstaat aufzuhalten, ohne einer Diskriminierung ausgesetzt zu sein, auch wenn sie nicht erwerbstätig seien ( 68 ). Die Kommission meint, es sei Sache des vorlegenden Gerichts, zu entscheiden, ob die Situation von I.N. in den sachlichen Anwendungsbereich der Art. 28 oder 36 des EWR-Abkommens und der Richtlinie 2004/38 falle, und weist darauf hin, dass I.N. möglicherweise als Tourist von seinem Recht auf Inanspruchnahme von Dienstleistungen Gebrauch gemacht habe ( 69 ). Für I.N. gelte auf jeden Fall der Anwendungsbereich des EWR-Abkommens, da er Island in Richtung Kroatien verlassen habe. Er habe daher Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung (Art. 4 des EWR-Abkommens und Art. 18 AEUV).

74.

Nach Ansicht der Kommission beruht die Entscheidung des Gerichtshofs im Urteil Petruhhin im Wesentlichen nicht auf dem abstrakten Begriff der Unionsbürgerschaft, sondern auf dem Freizügigkeitsrecht und auf Art. 18 AEUV. Ausgangspunkt dafür, dass im Urteil Pisciotti ( 70 ) der im Urteil Petruhhin verwendete Ansatz angewendet worden sei, sei das Vorliegen einer Diskriminierung nach Art. 18 AEUV, der Art. 4 des EWR-Abkommens entspreche.

75.

Es sei zweckmäßig, so die Kommission, das Urteil des Gerichtshofs O. und B. ( 71 ) mit dem Urteil des EFTA-Gerichtshofs in der Rechtssache Jabbi ( 72 ) zu vergleichen. Im Urteil O. und B. habe der Gerichtshof für einen Drittstaatsangehörigen, der ein Familienangehöriger eines Unionsbürgers im Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgers gewesen sei, aus Art. 21 AEUV ein Aufenthaltsrecht abgeleitet. Im Urteil in der Rechtssache Jabbi komme der EFTA-Gerichtshof zu demselben Ergebnis, indem er die Richtlinie 2004/38 auf Staatsangehörige der EWR-Staaten angewendet habe, die keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübten, obwohl der Gerichtshof eine derartige Anwendung der Richtlinie 2004/38 im Urteil O. und B. abgelehnt habe.

76.

Die Kommission weist darauf hin, dass das EWR-Abkommen die „privilegierten Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft, ihren Mitgliedstaaten und den EFTA-Staaten“ hervorhebe, „welche auf Nachbarschaft, den traditionellen gemeinsamen Werten“ ( 73 ) und „gemeinsamen Regeln“ ( 74 ) beruhten, wobei es das Ziel der Vertragsparteien sei, „eine einheitliche Auslegung und Anwendung dieses Abkommens und der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen, die in ihrem wesentlichen Gehalt in [das EWR‑]Abkommen übernommen werden, zu erreichen und beizubehalten und eine Gleichbehandlung der Einzelpersonen und Marktteilnehmer … hinsichtlich der vier Freiheiten zu erreichen“ ( 75 ). Mit den Art. 105 und 106 des EWR-Abkommens werde eine einheitliche Auslegung festgelegt ( 76 ).

77.

Daher sollte dem Ansatz im Urteil Petruhhin gefolgt werden, da den isländischen Behörden ein Rechtsinstrument zur Verfügung stehe, das dem Europäischen Haftbefehl ( 77 ) entspreche, nämlich das Übereinkommen über das Übergabeverfahren. Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass die kroatischen Behörden Island über den Eingang des Auslieferungsersuchens Russlands informieren müssten, damit, sofern Island im Rahmen des Übereinkommens über das Übergabeverfahren ein Strafverfahren gegen seinen Staatsangehörigen einleiten könne, sie um Übergabe dieser Person ersuchen könne. Kroatien sei verpflichtet, diesem Ersuchen Vorrang einzuräumen ( 78 ). Nach Erhalt dieses Ersuchens sei Kroatien verpflichtet, I.N. an Island zu übergeben.

IV. Analyse

A.   Ermittlung der Schlüsselelemente des Rechtsstreits in einem mehrschichtigen Rechtssystem

78.

Vorauszuschicken ist, dass im Ausgangsverfahren sieben Rechtssysteme im Spiel sind: drei nationale Rechtssysteme, und zwar die von Island, Kroatien und Russland, und drei transnationale Rechtssysteme, nämlich die Europäische Union, der Europarat und der Europäische Wirtschaftsraum, sowie die weltweit geltenden Rechtsinstrumente des Völkerrechts, wie das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen ( 79 ). Diese Rechtssysteme überschneiden sich in mehreren konzentrischen Kreisen, ohne dass ein Rechtssystem die Vorherrschaft über das andere beanspruchen kann, sofern nicht bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände eines dieser Rechtssysteme (jedoch nicht die von Russland oder Island) auf den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts übergreifen kann ( 80 ).

79.

Allerdings stellt sich im Ausgangsverfahren unmittelbar keine derartige Frage. So ist die supranationale Rechtsordnung, wie sie die Union kennzeichnet, als zusätzliche Verfassungsordnung weder hierarchisch höher oder niedriger als die des vorlegenden Gerichts ( 81 ) noch als eine der anderen sich überschneidenden Rechtsordnungen. Sie wirken als sich gegenseitig beeinflussende Synergien ( 82 ).

80.

Kurz gesagt, durch die Anordnung dieser Rechtssysteme – die zahlreichen Rechtsordnungen, die vorliegend den rechtlichen Rahmen bilden – ist jedes der Systeme interhierarchisch; sie bilden aber keine intrahierarchische Einheit.

81.

Die erste Aufgabe des Gerichtshofs besteht also darin, die Rechtsregeln zu ermitteln, die es ihm ermöglichen, die Vorlagefragen im Rahmen des sogenannten mehrschichtigen Verbunds der europäischen Verfassungsgerichte ( 83 ), nämlich des Gerichtshofs, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und vorliegend des Obersten Gerichtshofs von Kroatien, zu beantworten ( 84 ). Tatsächlich wird aus diesem Trio im Ausgangsverfahren ein Quartett angesichts der Bedeutung der Rolle des EFTA-Gerichtshofs und seiner Rechtsprechung für die Entscheidung dieser Rechtssache.

82.

Zwar gibt es im AEUV keine ausdrückliche Bestimmung, die Art. 6 EWR entspricht ( 85 ), doch hat der Gerichtshof, nachdem er festgestellt hat, dass eines der Hauptziele des EWR-Abkommens darin bestehe, den innerhalb des Gebiets der Union verwirklichten Binnenmarkt auf die EFTA-Staaten auszuweiten, festgestellt, dass mehrere Bestimmungen des EWR-Abkommens darauf abzielten, „eine möglichst einheitliche Auslegung des Abkommens im gesamten EWR sicherzustellen … In diesem Rahmen ist es Sache des Gerichtshofes, darüber zu wachen, dass die Vorschriften des EWR-Abkommens, die im Wesentlichen mit denen des Vertrages identisch sind, innerhalb der Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt werden“ ( 86 ). Dieses sogenannte Homogenitätsprinzip unterstreicht die Stellung des EWR in dem hier untersuchten mehrschichtigen Verfassungsverbund ( 87 ).

83.

Die Schlüsselelemente für die Lösung des Rechtsstreits sind folgende: 1. der Umfang des Rechts auf Freizügigkeit und auf Inanspruchnahme von Dienstleistungen sowie das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, das sowohl durch den AEUV (Art. 56 und 18) ( 88 ) als auch durch das EWR-Abkommen (Art. 36 und 4) geschützt ist; 2. die objektive Rechtfertigung einer eindeutigen Beschränkung dieses Rechts; 3. die Rechtsvorschriften und Umstände, die unter den im Ausgangsverfahren gegebenen Umständen für eine objektive Rechtfertigung relevant sind, einschließlich der sich aus dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem ergebenden Regeln, der Rolle des gegenseitigen Vertrauens und des völkerrechtlichen Übereinkommens, nämlich des Übereinkommens über das Übergabeverfahren; 4. die Gewährleistung des Grundrechts von I.N., keiner unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung oder eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt zu werden, das durch die Art. 6 und 13 EMRK sowie die Art. 4, 19 und 47 der Charta geschützt wird ( 89 ).

B.   Feststellung der maßgeblichen Rechtsvorschriften

1. Freiheit der Inanspruchnahme von Dienstleistungen

a) Art. 36 und Art. 4 des EWR-Abkommens

84.

Für die Ermittlung der Rechtsvorschriften kann auf der Grundlage der dem Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Unterlagen über die Tätigkeiten von I.N. bei der Einreise in das kroatische Hoheitsgebiet, nämlich das Unternehmen einer Urlaubsreise (siehe oben, Nr. 48), davon ausgegangen werden, dass er Empfänger von Dienstleistungen gemäß Art. 36 des EWR-Abkommens über den freien Dienstleistungsverkehr war. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass Art. 36 des EWR-Abkommens „Art. 56 AEUV [entspricht]“, so dass eine Beschränkung von Art. 56 AEUV „grundsätzlich auch diesem Art. 36 zuwiderläuft“ ( 90 ). Der Gerichtshof hat auch festgestellt, dass Art. 4 des EWR-Abkommens in seinem Wortlaut mit Art. 18 AEUV quasi übereinstimmt, so dass sie „einheitlich auszulegen sind“ ( 91 ). Es ist daran zu erinnern, dass I.N. bei der Inanspruchnahme touristischer Dienstleistungen in Bezug auf den Schutz vor Auslieferung aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert wurde.

85.

Hervorzuheben ist, dass der EFTA-Gerichtshof das Urteil Cowan des Gerichtshofs ( 92 ) anwandte, als er das Recht auf Inanspruchnahme einer Dienstleistung prüfte ( 93 ) und sich in diesem Kontext der Frage des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit stellte. Dies lässt sich auf das Ausgangsverfahren übertragen, in dem sich die Frage der Prüfung dieses Rechts vor dem Gerichtshof und nicht vor dem EFTA-Gerichtshof stellt.

86.

Tatsächlich war die Beschränkung des Rechts von I.N. auf Inanspruchnahme touristischer Dienstleistungen weitaus schwerwiegender (Strafhaft zum Zwecke der Auslieferung während eines Urlaubs) als die Beschränkung, um die es im Urteil Cowan ( 94 ) ging, nämlich um den Ausschluss von der Teilhabe an einem Entschädigungsfonds wegen einer Gewalttat während des Urlaubs, die allerdings nach dem Urlaub geschah.

87.

Wie die EFTA-Überwachungsbehörde in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat, ist die Tatsache, dass die Beschränkung im Rahmen der Anwendung des Strafrechts stattgefunden hat, ohne Bedeutung (oben, Nr. 47), da der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Unterscheidung zwischen zivil‑, verwaltungs- oder strafrechtlichen Beschränkungen nicht bekannt ist. Hinzu kommt, dass bereits vor dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens feststand, dass strafrechtliche Vorschriften die Freizügigkeit beschränken können ( 95 ), und dass das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit vom Gerichtshof bereits im Rahmen eines Strafverfahrens angewendet wurde ( 96 ).

88.

Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass es entgegen dem Vorbringen Norwegens in der mündlichen Verhandlung (oben, Nr. 55) nicht alleinige Sache der Gerichte der Mitgliedstaaten ist, festzustellen, welche Freiheiten in einer bestimmten Rechtssache betroffen sind, und dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs dessen Aufgabe ist, dem vorlegenden Gericht die für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits notwendigen Hinweise im Hinblick auf das Unionsrecht zu geben ( 97 ).

89.

Für die Beantwortung der Vorlagefragen werde ich daher auf die Art. 36 und 4 des EWR-Abkommens abstellen (siehe unten, Nr. 124).

b) Irrelevanz von Art. 21 AEUV für das Ausgangsverfahren

90.

Nachdem die Art. 36 und 4 des EWR-Abkommens als die maßgeblichen Rechtsvorschriften festgestellt sind, kann die Diskussion, ob die den Unionsbürgern nach Art. 21 AEUV gewährten Rechte auf EWR-Staatsangehörige übertragbar sind, unbeschadet der Erörterung dieser Frage in den Erklärungen, beiseitegelassen werden ( 98 ). Wie der Bevollmächtigte der EFTA-Überwachungsbehörde in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, kann Art. 21 AEUV nicht dazu führen, dass bereits im Rahmen des EWR-Abkommens gegebene Freizügigkeitsrechte beschränkt werden (siehe oben, Nr. 47).

91.

Unabhängig davon, welche Stellung den Rechten gemäß Art. 21 AEUV nach EFTA-Recht zukommt, eine Frage, die demnächst vom EFTA-Gerichtshof erneut zu prüfen sein wird ( 99 ) (siehe oben, Nr. 56), hat sie doch keinen Einfluss auf das Ergebnis des Ausgangsverfahrens ( 100 ). Es genügt an dieser Stelle der Hinweis, dass die Skepsis, ob die ausschließlich auf Art. 21 AEUV gestützte Rechtsprechung des Gerichtshofs, zu der die Kommission einen oben in Nr. 75 wiedergegebenen Überblick gegeben hat, begründet erscheint, da Art. 21 AEUV mit dem Vertrag von Lissabon von 2007 in die Verträge aufgenommen wurde, also lange nach dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens am 1. Januar 1994 ( 101 ).

2. Objektive Rechtfertigung

a) Verhinderung von Straflosigkeit als eine objektive Rechtfertigung für die Beschränkung der Freiheit der Inanspruchnahme von Dienstleistungen

92.

Das Recht des freien Verkehrs von Tourismusdienstleistungen unterliegt einer objektiven Rechtfertigung nach EWR-Recht ( 102 ), genauso wie nach Art. 56 AEUV. Kann sich Kroatien auf die Verhinderung der Straflosigkeit als objektive Rechtfertigung für die Beschränkung der Freizügigkeitsrechte von I.N. nach Art. 36 des EWR-Abkommens berufen, wenn es I.N. zum Zweck der Auslieferung in Haft hält, kroatische Staatsangehörige aber nicht die gleiche Behandlung erfahren?

93.

Erst an dieser Stelle ist das Urteil Petruhhin ( 103 ) für das Ausgangsverfahren von Bedeutung, auch wenn es ein Schlüsselelement des Verfahrens vor den kroatischen Gerichten gewesen zu sein scheint und somit den Akteninhalt möglicherweise übermäßig beeinflusst hat.

94.

Der Gerichtshof hat im Urteil Petruhhin festgestellt, dass das Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen, die eine Straftat begangen haben, straflos bleiben, „im Unionsrecht als legitim einzustufen [ist]“ ( 104 ). Diese grundsätzliche Zulassung zur Rechtfertigung der Beschränkung der Freizügigkeit zwecks Verhinderung von Straflosigkeit wurde in den nachfolgenden Urteilen Pisciotti ( 105 ) und Raugevicius ( 106 ) wiederholt.

95.

Das zwingende Erfordernis der Homogenität zwischen dem EWR-Recht und dem Unionsrecht scheint zu erfordern, Kroatien zu ermächtigen, bei der Haft und der Auslieferung von I.N. auf die Gefahr von Straflosigkeit abzustellen. Da Beschränkungen der Freizügigkeit strafrechtlich begründet werden können, wäre es unlogisch, einem Mitgliedstaat zu verbieten, sich zur Rechtfertigung auf Erwägungen zu berufen, die gleichermaßen in der Anwendung des Strafrechts begründet sind.

96.

Dies ist jedoch eine andere Frage, als festzustellen, ob unter den Gesamtumständen des Ausgangsverfahrens die bisherigen Handlungen der kroatischen Behörden nur dann „durch objektive Erwägungen gerechtfertigt werden, wenn sie zum Schutz der Belange, die sie gewährleisten sollen, erforderlich sind, und auch nur insoweit, als diese Ziele nicht mit weniger einschränkenden Maßnahmen erreicht werden“ ( 107 ).

b) Die Nichtnormierung des gegenseitigen Vertrauens im EWR-Recht ist kein Hindernis für die Anwendung des Petruhhin-Ansatzes

97.

Zunächst teile ich das Vorbringen Norwegens in der mündlichen Verhandlung, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, wie er sich seit dem Vertrag von Lissabon von 2007 in der Europäischen Union entwickelt hat, im EWR-Recht keine Anwendung findet. Ungeachtet des Sui-generis-Charakters des EWR-Rechtssystems und der Nähe der Beziehungen zwischen den EFTA- und EU-Mitgliedstaaten, die von der EFTA-Überwachungsbehörde beschrieben wurden (siehe oben, Nr. 44) sowie der Bestimmungen des EWR-Abkommens über die privilegierte Beziehung des EWR mit der Union, auf die die Kommission hingewiesen hat (siehe oben, Nr. 76), bleibt es bei der Tatsache, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Zeit vor dem Vertrag von Lissabon verhältnismäßig noch in den Kinderschuhen steckte ( 108 ). Wie Norwegen feststellt (siehe oben, Nr. 59), hat Art. 3 Abs. 2 EUV keine Entsprechung im EWR-Abkommen.

98.

Ich stimme jedoch nicht mit Norwegen überein, soweit es die Auffassung vertritt, dass der Umstand, dass der Gerichtshof im Urteil Petruhhin auf den Europäischen Haftbefehl als eine in die Freizügigkeit weniger eingreifende Alternative zurückgegriffen habe, zeige, dass der Gerichtshof damit habe feststellen wollen, dass der Rückgriff auf einen Europäischen Haftbefehl die alleinige akzeptable Alternative sei, auf die sich ein Angeklagter stützen könne, wenn sich ein Mitgliedstaat auf die Verhinderung von Straflosigkeit als Rechtfertigung für die Beschränkung der Freizügigkeit berufe.

99.

Dies wird durch das Urteil Pisciotti bestätigt, in dem im Gegensatz zum Urteil Petruhhin hinsichtlich der gegenseitigen Zusammenarbeit nicht auf Bestimmungen des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl ( 109 ) Bezug genommen wurde (vgl. das oben in den Nrn. 57 und 59 wiedergegebene Vorbringen Norwegens). Im Urteil Pisciotti lag der Schwerpunkt eher auf der Verfügbarkeit eines Mechanismus, nach dem die Angeklagten tatsächlich wirksam verfolgt werden können. Der Gerichtshof hat hierzu ausgeführt:

„Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass dem Informationsaustausch mit dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene hat, der Vorzug gegeben werden muss, um den Behörden dieses Mitgliedstaats gegebenenfalls die Möglichkeit zu geben, einen Europäischen Haftbefehl zu Verfolgungszwecken zu erlassen. Ein Mitgliedstaat, in den sich ein Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, begeben hat, ist daher im Fall eines Auslieferungsersuchens eines Drittstaats, mit dem der erstgenannte Mitgliedstaat ein Auslieferungsabkommen geschlossen hat, verpflichtet, den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, zu informieren und ihm gegebenenfalls auf sein Ersuchen im Einklang mit den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 den Unionsbürger zu übergeben, sofern dieser Mitgliedstaat nach seinem nationalen Recht für die Verfolgung dieser Person wegen im Ausland begangener Straftaten zuständig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 48 und 50).“ ( 110 )

100.

Der Schwerpunkt des Urteils lag daher meiner Ansicht nach auf der Verfügbarkeit einer Alternative, die im gleichen oder ähnlichen Umfang wie die Auslieferung der Straflosigkeit entgegenwirkt. Ob die von Island bislang getroffenen Maßnahmen diese Anforderung erfüllen, werde ich nachstehend in den Nrn. 119 bis 123 prüfen.

c) Gegenseitiges Vertrauen und das Gemeinsame Europäische Asylsystem

101.

Ich erkenne zwar an, dass Kroatien gemäß der Vereinbarung über den Beitritt zur Europäischen Union nur zum Teil am Schengen-Besitzstand teilnimmt (siehe oben, Nr. 15) ( 111 ), doch gilt dies nicht für die Teilnahme Kroatiens am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem. Kroatien ist nicht nur ein vollwertiger Teilnehmer an der Dublin‑III-Verordnung ( 112 ) (deren Folgen der Gerichtshof im Urteil A.S. ( 113 ) behandelt hat) und der Eurodac-Verordnung ( 114 ), Kroatien hat auch die Anerkennungsrichtlinie ( 115 ), die Verfahrensrichtlinie ( 116 ) und die Aufnahmerichtlinie ( 117 ) umgesetzt und wendet sie regelmäßig an. Für Kroatien gilt daher Art. 80 AEUV, wonach für die Umsetzung der Gemeinsamen Europäischen Asylpolitik „der Grundsatz der Solidarität [gilt]“.

102.

Die allgemeinen Parameter für die Teilnahme an der Dublin‑III-Verordnung, und zwar sowohl für Mitgliedstaaten als auch für Schengen-assoziierte Staaten wie Island, sind von Generalanwältin Sharpston in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache A.S. und Jafari ( 118 ) erörtert worden. Sie hat dazu Folgendes ausgeführt:

„Das GEAS wurde in einem Kontext entwickelt, in dem davon auszugehen war, dass alle beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der auf dem Genfer Abkommen und dem Protokoll von 1967 sowie der EMRK beruhenden Rechte, und dass die Mitgliedstaaten einander daher insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Gerade aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens hat der Unionsgesetzgeber die [Dublin‑II-Verordnung] erlassen, um die Behandlung der Asylanträge zu rationalisieren und zu verhindern, dass das System dadurch stockt, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und um die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrags zuständigen Staates zu erhöhen und damit dem ‚forum shopping‘ zuvorzukommen, wobei all dies hauptsächlich bezweckt, die Bearbeitung der Anträge im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen. Diese Fragen berühren den Kern des Gedankens eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, und insbesondere des GEAS, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Einhaltung des Unionsrechts sowie insbesondere der Grundrechte durch andere Mitgliedstaaten beruht.“ ( 119 )

103.

Was Island betrifft, so hat die Europäische Gemeinschaft im Jahr 2001 ein Übereinkommen mit Island und Norwegen über die Kriterien und Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in Island oder Norwegen gestellten Asylantrags ( 120 ) geschlossen. Folglich ist Island, wie von Kroatien dargelegt (vgl. oben, Nr. 68), Teilnehmer an der Dublin‑III-Verordnung und an Eurodac ( 121 ) und durch ein völkerrechtliches Übereinkommen am Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen beteiligt; die EFTA-Überwachungsbehörde hat zudem darauf hingewiesen (vgl. oben, Nr. 47), dass im isländischen Recht auf Art. 15 der Anerkennungsrichtlinie Bezug genommen wird.

104.

Diese Faktoren in Verbindung mit der breiter angelegten Beteiligung Islands am Schengen-Besitzstand als Schengen-assoziierter Staat ( 122 ) verpflichten Kroatien und Island zu gegenseitigem Vertrauen in Bezug auf Entscheidungen, die im Rahmen der Gemeinsamen Europäischen Asylpolitik, insbesondere im Rahmen der Dublin‑III-Verordnung, getroffen werden.

105.

Es ist darauf hinzuweisen, dass sich der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur auf das Vertrauen in die Achtung der Grundrechte der Asylsuchenden und die ordnungsgemäße Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention beschränkt ( 123 ). Er erstreckt sich auf das Unionsrecht im Allgemeinen ( 124 ). Dabei wird vorausgesetzt, dass die Dublin‑III-Verordnung in Island ordnungsgemäß angewendet wurde, bzw. muss – wie die EFTA-Überwachungsbehörde ausgeführt hat (siehe oben, Nr. 47) – davon ausgegangen werden, dass die Asylentscheidung Islands stichhaltig war, da es selbst sich als Teilnehmerstaat nach Kapitel III der Dublin-Verordnung für zuständig angesehen und die Entscheidung in der mündlichen Verhandlung verteidigt hat (siehe oben, Nr. 51). Dieser Ansatz steht auch im Einklang mit den Prioritäten und organisatorischen Anforderungen der Dublin‑III-Verordnung, wie sie von Generalanwältin Sharpston in ihren Schlussanträgen (siehe oben, Nr. 102) erläutert worden sind (Rationalisierung der Behandlung von Asylanträgen, Vermeidung von Blockaden, Förderung der Rechtssicherheit, Vermeidung einer missbräuchlichen Wahl des Gerichtsstands).

106.

Zwar hat der Gerichtshof die Wirkungsweise des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens bisher nur im Hinblick auf die Sicherung der Grundrechte von Asylsuchenden abgeschwächt ( 125 ). Es wäre aber axiomatisch, wenn das gegenseitige Vertrauen im Rahmen der Dublin‑III-Verordnung verringert werden könnte, mit dem Ergebnis, dass diese Rechte genommen werden.

107.

Kroatien liegt also richtig mit seinem Vorbringen (vgl. oben, Nr. 68), dass davon ausgegangen werden muss, dass Island die unionsrechtlichen Bestimmungen über Asyl und internationalen Schutz einhält und dass alle Mechanismen der Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten im Umgang mit I.N. Anwendung finden ( 126 ). Gegenseitiges Vertrauen im Zusammenhang mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem ist die Art des gegenseitigen Vertrauens, das bei der Bewertung der bisherigen Reaktion Kroatiens auf die Ersuchen Islands anhand der Petruhhin-Prinzipien zu berücksichtigen ist, und nicht das gegenseitige Vertrauen im Zusammenhang mit der Zusammenarbeit in Strafsachen nach Unionsrecht oder der Ausweitung und Weiterentwicklung der dem EWR-Abkommen innewohnenden Regelungen über Treu und Glauben. Gemäß dem sechsten Erwägungsgrund des Protokolls (Nr. 19) über den Schengen-Besitzstand ( 127 ) muss ein „besonderes Verhältnis“ zu Island und Norwegen aufrechterhalten werden.

108.

Hinzuzufügen ist, dass das gegenseitige Vertrauen, das Kroatien Island entgegenzubringen hat, in keiner Weise durch die Tatsache beeinflusst wird, dass I.N. die isländische Staatsangehörigkeit erworben hat. Erstens behielten die von Island ausgestellten Dokumente, mit denen I.N. der Flüchtlingsstatus verliehen wurde, ihre Gültigkeit, als er die kroatische Grenze überquerte. Zweitens war es I.N. sowohl nach kroatischem Recht (siehe oben, Nrn. 35 und 67) als auch nach der Dublin‑III-Verordnung ( 128 ) verwehrt, Asyl zu beantragen, weil er bereits in einem Dublin-Teilnehmerstaat Asyl erhalten hatte. Drittens blieb die Asylgewährung in Island relevant für den Schutz von I.N. vor Verhaltensweisen, die durch das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ( 129 ) ausgeschlossen sind, und um eine missbräuchliche Wahl des Gerichtsstands zu verhindern, was eines der Hauptziele der Dublin‑III-Verordnung ist ( 130 ). Viertens wurde I.N. der Flüchtlingsstatus nicht durch eines der im Unionsrecht dafür vorgesehenen Verfahren entzogen ( 131 ).

109.

Es ist richtig, dass es nach Art. 1 Buchst. c Unterabs. 3 des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ein Grund für die Beendigung der Stellung als Flüchtling ist, wenn die betreffende Person „eine neue Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie erworben hat, genießt“. Im Hinblick auf den Zweck des Abkommens kann die Beendigung durch den Erwerb einer Staatsangehörigkeit jedoch nur gelten, „wenn die Grundlage für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr besteht und der Schutz daher nicht mehr notwendig oder gerechtfertigt ist“ ( 132 ). Wie das Ausgangsverfahren zeigt, können die Besonderheiten der Handhabung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems dazu führen, dass der Flüchtlingsstatus auch nach dem Erwerb einer neuen Staatsangehörigkeit „notwendig“ bleibt, um Schutz zu gewährleisten. Dies ist der Kontext, in dem die Auflistung des Art. 1 Buchst. c Unterabs. 3 des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge zu verstehen ist und der dessen wörtliche Auslegung ausschließt. In der Präambel des Abkommens heißt es, dass „die Organisation der Vereinten Nationen wiederholt die tiefe Verantwortung zum Ausdruck gebracht hat, die sie für die Flüchtlinge empfindet, und sich bemüht hat, diesen in möglichst großem Umfange die Ausübung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten zu sichern“ ( 133 ).

110.

Schließlich würde den Grundrechten von I.N. nichts mehr zuwiderlaufen, als wenn der Schutz, den er dadurch erworben hat, dass Island die Dublin‑III-Verordnung angewandt und ihm die isländische Staatsangehörigkeit zuerkannt hat, aufgehoben würde.

d) Maßgebliche Rechtsvorschriften zum Schutz der Grundrechte von I.N.

111.

In Bezug auf die Grundrechte geht es I.N. darum, eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder Bestrafung sowie ein unfaires Verfahren zu vermeiden. Insoweit wird I.N. aufgrund des in der kroatischen Verfassung verankerten Verbots der Auslieferung von Staatsangehörigen anders behandelt als ein kroatischer Staatsangehöriger.

112.

An dieser Stelle ist der Hinweis angebracht, dass das Ausgangsverfahren ein Beispiel darstellt für sich überschneidende Synergien konzentrischer Kreise, die die Reihe der in Rede stehenden völkerrechtlichen Rechtsinstrumente zusammenfassen, nämlich die EMRK, die Charta und das EWR-Abkommen, da die in Betracht kommenden materiellen Rechte in allen drei Rechtsinstrumenten gleichermaßen geschützt sind, auch wenn diese ansonsten als konkurrierend angesehen werden könnten. Das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung ist Teil der gemeinsamen europäischen Verfassungskultur.

113.

Es ist darauf hinzuweisen, dass der EGMR festgestellt hat, dass „obwohl der EFTA-Gerichtshof die Auffassung vertreten hat, dass die Bestimmungen des EWR-Abkommens, um die Kohärenz zwischen dem EWR-Recht und dem Unionsrecht zu stärken, ‚im Licht der Grundrechte auszulegen sind‘“ (vgl. u. a. Urteil des EFTA-Gerichtshofs in der Rechtssache Yankuba Jabbi, E‑28/15 [2016], Rn. 81), das EWR-Abkommen weder die Charta der Grundrechte der Europäischen Union noch irgendeinen Verweis auf andere Rechtsinstrumente, wie etwa das Abkommen, beinhaltet“ ( 134 ).

114.

Für das Ausgangsverfahren ist dies jedoch ganz einfach unerheblich, da die Pflicht der Gerichte der Vertragsstaaten, vor einer Auslieferung das Risiko, einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden, zu prüfen, in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK verankert ist ( 135 ). Der Brückenschlag zum Unionsrecht und zur Charta folgt aus der Feststellung dieses Gerichtshofs, dass „das in Art. 4 der Charta enthaltene Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung dem in Art. 3 EMRK enthaltenen Verbot entspricht und dass es in seiner Bedeutung und seinem Anwendungsbereich gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta mit dem in dieser Konvention niedergelegten Verbot übereinstimmt“ ( 136 ). Das Schutzniveau der individuellen Grundrechte kann durch einen erweiterten Anwendungsbereich der Charta ausgeweitet werden (z. B. in Bezug auf den Eigentumsschutz nach der Charta, wie er in Art. 17 der Charta und dem darin enthaltenen ausdrücklichen Verweis auf das geistige Eigentum zum Ausdruck kommt), aber eine solche Situation ist im Ausgangsverfahren nicht gegeben.

115.

Die Brücke zum EWR-Recht bildet die Tatsache, dass die EMRK eine seit langer Zeit geltende wichtige Quelle des EWR-Rechts darstellt (im ersten Erwägungsgrund heißt es, dass der EWR „auf Frieden, Demokratie und Menschenrechte“ errichtet wird), und dies erstreckt sich auf die Bindung der Vertragsparteien des EWR-Abkommens an die Grundrechte, sofern sie von EWR-Vorschriften abweichen ( 137 ).

116.

Nach Unionsrecht, wie nach EMRK-Recht, gilt das Verbot der Auslieferung bei Bedingungen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zugunsten eines jeden, unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit. Dies kommt in dem Wort „Niemand“ in Art. 19 Abs. 2 der Charta zum Ausdruck, und mit dieser Bestimmung werden die vom EGMR zu Art. 3 EMRK ausgearbeiteten Grundsätze in das Unionsrecht eingeführt ( 138 ). Daher ist die Tatsache, dass I.N. nicht die Unionsbürgerschaft besitzt, für die Ausübung dieses materiellen Rechts wegen der Reichweite des persönlichen Anwendungsbereichs dieser Bestimmung unerheblich. Art. 19 Abs. 2 gilt unabhängig von der Frage der Diskriminierung und der Unionsbürgerschaft ( 139 ).

117.

Was das Verbot der Auslieferung zu einem unfairen Verfahren wegen systemischer Mängel unter Verletzung von Art. 47 der Charta betrifft, hat der Gerichtshof dieses bisher nur im innereuropäischen Kontext und dann auch nur im Rahmen des Europäischen Haftbefehls anerkannt ( 140 ). Wie in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Minister for Justice and Equality ( 141 ) ausgeführt, verbietet der EGMR jedoch den Vertragsstaaten, eine Person auszuliefern, wenn diese im Bestimmungsland im Widerspruch zu Art. 6 EMRK tatsächlich einer eklatanten Rechtsverweigerung unterworfen zu werden droht ( 142 ). Ich bin daher der Ansicht, dass sich der sachliche Anwendungsbereich von Art. 47 der Charta gleichermaßen auf einen Sachverhalt erstreckt, in dem jemand unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit ( 143 ) einer solchen Rechtsverweigerung in einem Drittstaat ausgesetzt wird, sofern seine Situation in den Anwendungsbereich der Charta fällt. Dies beruht auf Art. 52 Abs. 3 der Charta, wonach die Rechte der Charta, die Rechten in der EMRK entsprechen, in derselben Weise auszulegen sind, wobei es im Ermessen der Union liegt, einen noch weiter gehenden Schutz zu gewähren. Anders gesagt: Wenn Art. 6 EMRK bei Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung die Auslieferung ausschließt, dann gilt dies auch für Art. 47 der Charta.

118.

Die Situation, in der sich I.N. befindet, unterliegt dem Anwendungsbereich der Charta auf zweierlei Weise: Erstens sind Beschränkungen der Freizügigkeit sowohl nach EWR-Recht als auch nach den Grundrechten der Union nur im Einklang mit den Grundrechten zulässig ( 144 ). Zweitens sind angesichts der Tatsache, dass das vorlegende Gericht nach der Dublin‑II-Verordnung verpflichtet ist, den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einzuhalten, alle einschlägigen Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung, wie z. B. Art. 3 Abs. 1 und sein (implizites) Verbot von Mehrfach-Asylanträgen, im Einklang mit der Charta auszulegen und anzuwenden ( 145 ).

V. Maßgeblicher Sachverhalt und Beantwortung der Vorlagefragen

119.

Die Vorlagefragen habe ich, wie oben in den Nrn. 7 bis 9 angegeben, auf der Grundlage der in Teil IV dargelegten Rechtsgrundsätze und des folgenden maßgeblichen Sachverhalts beantwortet.

120.

Dem Wortlaut der zweiten Vorlagefrage zufolge hat Island um die Übergabe von I.N. „zum Zwecke der Strafverfolgung im Sinne des Auslieferungsersuchens“ ersucht. Durch die Antworten auf die in der mündlichen Verhandlung an Island gerichteten Fragen wurde jedoch geklärt, dass die Mitteilung der isländischen Botschaft vom 24. Juli 2019 in Berlin kein solches spezifisches Ersuchen enthielt (siehe oben, Nr. 53). Ferner hat der Bevollmächtigte Islands in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass Kroatien verpflichtet sei, die ihm vorliegenden Unterlagen Island zur Verfügung zu stellen, damit diese an die unabhängige Staatsanwaltschaft in Island weitergeleitet werden könnten, die dann die Strafverfolgung von I.N. in Island prüfen werde (siehe oben, Fn. 50). In den Akten finden sich jedoch keine Unterlagen darüber, wann genau und ob überhaupt Island dieses Ersuchen an Kroatien gestellt hat.

121.

Es gibt auch keinen Hinweis auf eine Vorlage der Streitigkeit zwischen Kroatien und Island an den Gemeinsamen Ausschuss gemäß Art. 3 des Übereinkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über die Kriterien und Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in Island oder Norwegen gestellten Asylantrags ( 146 ).

122.

Daher wäre es meiner Meinung nach verfrüht, wenn der Gerichtshof die zweite Frage bejahen und Kroatien verpflichten würde, auf der Grundlage des Übereinkommens über das Übergabeverfahren ( 147 ) Schritte zur Freilassung von I.N. zu unternehmen. Falls Island einen Haftbefehl ausstellt ( 148 ), wird ein kroatisches Gericht auf der Grundlage aller relevanten Beweise zu prüfen haben, ob das, was Island vorschlägt, gemäß dem Prüfstein im Urteil Petruhhin (siehe oben, Nrn. 99 und 100) eine Garantie für die Verhinderung von Straflosigkeit bietet, die einer Auslieferung gleichkommt. Daher beschränke ich meine Bemerkungen zum Übereinkommen über das Übergabeverfahren auf die Feststellung, dass eine solche Garantie offenbar gegeben ist und im Gegensatz zu der Stellungnahme Norwegens (siehe oben, Nrn. 57 bis 59) nicht durch das Fehlen eines ausdrücklichen Verweises auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens geschmälert wird, da die Verbindlichkeit der durch das Übereinkommen über das Übergabeverfahren festgelegten Regelung durch andere Bestimmungen umfassend hergestellt wird ( 149 ).

123.

Meine Antwort auf die zweite Vorlagefrage bedeutet keineswegs, dass es den kroatischen Gerichten in irgendeiner Weise gestattet wäre, in Widerspruch zu der isländischen Asylentscheidung vom 11. Juni 2015 in Bezug auf I.N. zu handeln (auch wenn sich jede Beurteilung der Verhältnisse in Russland durch die kroatischen Gerichte auf die aktuellen Lage und nicht auf die im Jahr 2015 herrschende zu beziehen hat), und zwar aufgrund der Geltung der Verpflichtung zu gegenseitigem Vertrauen, die Island und Kroatien aufgrund ihrer Teilnahme am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem und insbesondere an der Dublin‑III-Verordnung erwächst ( 150 ).

VI. Ergebnis

124.

Ich schlage daher vor, die Fragen des Vrhovni sud Hrvatska (Oberster Gerichtshof, Kroatien) wie folgt zu beantworten:

1.

Unter den im Ausgangsverfahren gegebenen Umständen sind die Art. 4 und 36 des EWR-Abkommens dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat der Europäischen Union, der über die Auslieferung eines Staatsangehörigen eines Staates, der nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union, aber Staatsangehöriger eines assoziierten Schengen-Staates ist, an einen Drittstaat entscheidet, verpflichtet ist, diesen assoziierten Schengen-Staat über das Auslieferungsersuchen zu informieren. Der Mitgliedstaat ist darüber hinaus verpflichtet, dem assoziierten Schengen-Staat alle in seinem Besitz befindlichen Unterlagen zu übermitteln, die dem assoziierten Schengen-Staat bei der Entscheidung über die Strafverfolgung des betreffenden Staatsangehörigen und das Ersuchen um seine Rückkehr helfen könnten. Darüber hinaus ist es den Behörden des Mitgliedstaats, einschließlich seiner Gerichte, aufgrund der Verpflichtung zu gegenseitigem Vertrauen, die dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem einschließlich der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, innewohnt, untersagt, auf andere Weise im Widerspruch zu einer Asylgewährung zu handeln, die dem Erwerb der Staatsangehörigkeit des betreffenden assoziierten Schengen-Staates vorausgeht. Dies gilt für die Beurteilung des Risikos, dass der Staatsangehörige des assoziierten Schengen-Staates zum Zeitpunkt des Verfahrens im Mitgliedstaat unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und eklatanter Rechtsverweigerung ausgesetzt sein würde, wenn er an den Drittstaat ausgeliefert werden würde.

2.

In Fällen, in denen der assoziierte Schengen-Staat noch kein Auslieferungsersuchen gestellt hat, ist der Mitgliedstaat nicht verpflichtet, den Staatsangehörigen des assoziierten Schengen-Staates gemäß dem Übereinkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Island und Norwegen aktiv auszuliefern. Falls ein Auslieferungsersuchen gestellt wird, werden die Gerichte des Mitgliedstaats zu entscheiden haben, ob das Auslieferungsersuchen nach den Gesamtumständen eine Garantie gegen Straflosigkeit bietet, die einer Auslieferung an den Drittstaat gleichwertig ist, wobei sie verpflichtet bleiben, im Einklang mit der vorherigen Gewährung von Asyl durch den assoziierten Schengen-Staat zu handeln.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Nach Art. 216 Abs. 2 AEUV binden die von der Union geschlossenen Übereinkünfte die Organe der Union und die Mitgliedstaaten. Vgl. z. B. Urteil vom 30. April 1974, Haegeman (181/73, EU:C:1974:41, Rn. 5).

( 3 ) Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630).

( 4 ) Vgl. Übereinkommen zwischen dem Rat der Europäischen Union sowie der Republik Island und dem Königreich Norwegen über die Assoziierung der beiden letztgenannten Staaten bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands (ABl. 1999 L 176, S. 36) (im Folgenden: Schengen-Assoziierungsübereinkommen).

( 5 ) ABl. 2013, L 180, S. 31. Mit Art. 48 dieser Verordnung wurde die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vom 18. Februar 2003 (Dublin II) aufgehoben.

( 6 ) Übereinkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über die Kriterien und Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in Island oder Norwegen gestellten Asylantrags (ABl. 2001, L 93, S. 40).

( 7 ) Die wichtigsten primären und legislativen Regeln des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems sind: Art. 67, 78 und 80 AEUV sowie Art. 18 der Charta; Dublin‑III-Verordnung; Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Anträge der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT‑Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (im Folgenden: Eurodac-Verordnung) (ABl. 2013, L 180, S. 1); Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) (im Folgenden: Anerkennungsrichtlinie) (ABl. 2011, L 337, S. 9); Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung) (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie) (ABl. 2013, L 180, S. 60); Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung) (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie) (ABl. 2013, L 180, S. 96); Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (ABl. 2010, L 132, S. 11) und Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (ABl. 2001, L 212, S. 12).

( 8 ) ABl. 2006, L 292, S. 2. Dieses Übereinkommen wurde in das Unionsrecht übernommen durch den Beschluss des Rates vom 27. November 2014 über den Abschluss des Übereinkommens zwischen der Europäischen Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Island und Norwegen (ABl. 2014, L 343, S. 1). (im Folgenden: Übereinkommen über das Übergabeverfahren).

( 9 ) Europäisches Auslieferungsübereinkommen (SEV Nr. 024). Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (ETS Nr. 030), das am 12. Juni 1962 in Kraft getreten ist. Russland hat beide Übereinkommen ratifiziert; das zweite Zusatzprotokoll zum Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (SEV Nr. 182) ist für Russland am 1. Januar 2020 in Kraft getreten. Unter der Schirmherrschaft des Europarats gibt es auch ein Europäisches Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen (SEV Nr. 112).

( 10 ) Unterzeichnet in Genf am 28. Juli 1951 und in Kraft getreten am 22. April 1954 (United Nations Treaty Series, Bd. 189 (1954), S. 150, Nr. 2545), ergänzt durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 4. Oktober 1967 in Kraft getreten ist (zusammen im Folgenden: Genfer Abkommen).

( 11 ) Beschluss vom 6. September 2017, Peter Schotthöfer & Florian Steiner (C‑473/15, EU:C:2017:633, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 12 ) Vgl. z. B. Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft (Haftbedingungen in Ungarn) (C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589).

( 13 ) Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586).

( 14 ) Siehe oben, Fn. 5.

( 15 ) Siehe oben, Fn. 8.

( 16 ) ABl. 2000, L 239, S. 19 (im Folgenden: Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen).

( 17 ) ABl. 2012, C 326, S. 1.

( 18 ) Ebd.

( 19 ) Siehe oben, Fn. 4.

( 20 ) Vgl. Beschluss des Rates der Europäischen Union vom 5. Dezember 2011 über die Aufnahme der Republik Kroatien in die Europäische Union und der ihm beigefügten Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2012, L 112, S. 6).

( 21 ) Anhang II beginnt mit dem Übereinkommen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13) (im Folgenden: Schengener Abkommen vom 14. Juni 1985).

( 22 ) ABl. 1994, L 1, S. 3.

( 23 ) Siehe oben, Fn. 9.

( 24 ) Urteil vom 6. September 2019 (C‑182/15, EU:C:2016:630).

( 25 ) Siehe oben, Fn. 5.

( 26 ) I.N. verweist auf das Urteil vom 2. Februar 1989, Cowan (186/87, EU:C:1989:47, Rn. 10).

( 27 ) Urteil vom 6. September 2016 (C‑182/15, EU:C:2016:630).

( 28 ) … zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).

( 29 ) ABl. 2008, L 124, S. 20.

( 30 ) Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 24. November 2014, Island/Gunnarsson, (E‑27/13, EFTA Ct. Rep.).

( 31 ) Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 26. Juli 2016, Jabbi/Norwegen (E‑28/15, EFTA Ct. Rep.).

( 32 ) I.N. verweist auf die Urteile vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), und vom 13. November 2018, Raugevicius (C‑247/17, EU:C:2018:898).

( 33 ) Siehe oben, Fn. 8.

( 34 ) ABl. 2002, L 190, S. 1 (im Folgenden: 2002/584/JI).

( 35 ) Siehe oben, Fn. 8.

( 36 ) In Bezug auf die Freizügigkeitsrechte nach Art. 21 AEUV und Ausnahmeregelungen verweist die Staatsanwaltschaft auf die Urteile vom 12. Mai 2011, Runevič-Vardyn und Wardyn (C‑391/09, EU:C:2011:291), vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), und vom 13. November 2018, Raugevicius (C‑247/17, EU:C:218:898).

( 37 ) C‑182/15, EU:C:2016:330.

( 38 ) Griechenland hat auch auf weitere Entscheidungen wie z. B. das Urteil vom 5. Juli 2007, Kommission/Belgien (C‑522/04, EU:C:2007:405), verwiesen.

( 39 ) Unter Hinweis auf die ersten beiden Erwägungsgründe des EWR-Abkommens.

( 40 ) C‑473/15, EU:C:2017:633.

( 41 ) Die EFTA-Überwachungsbehörde verweist insoweit auf das Urteil vom 21. Dezember 2011, N.S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 83).

( 42 ) Siehe oben, Fn. 7.

( 43 ) Urteil vom 2. Februar 1989 (C‑186/87, EU:C:1989:47).

( 44 ) Urteil vom 22. Juli 2013, E‑15/12, EFTA Ct. Rep.

( 45 ) Siehe oben, Fn. 8.

( 46 ) Island stützt sich auf das Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105).

( 47 ) Unvereinbar mit Art. 47 der Charta. Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586).

( 48 ) United Nations Treaty Series, Bd. 596, S. 261.

( 49 ) Siehe oben, Fn. 8. Das Übereinkommen über das Übergabeverfahren trat am 1. November 2019 in Kraft.

( 50 ) Urteil vom 26. Juli 2016, Jabbi/Norwegen (E‑28/15, EFTA Ct. Rep.).

( 51 ) Campbell/Norwegen (E‑4/19; anhängig).

( 52 ) Siehe oben, Fn. 34. Nach Auffassung Norwegens gilt für das Übereinkommen über das Übergabeverfahren vielmehr das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (1969) United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331.

( 53 ) Norwegen verweist auf die Rn. 37 und 40 des Urteils vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630).

( 54 ) Siehe oben, Fn. 34.

( 55 ) Norwegen verweist auf das Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 19. April 2016, Holship Norge AS/Norsk Transportarbeiderforbund (E‑14/15, EFTA Ct. Rep., Rn. 123).

( 56 ) Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 62).

( 57 ) Ebd., Rn. 58 und 62.

( 58 ) Kroatien verweist auf die Urteile vom 11. September 2007, Kommission/Deutschland (C‑318/05, EU:C:2007:495, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 21. Dezember 2016, Kommission/Portugal (C‑503/14, EU:C:2016:979, Rn. 35 und 70).

( 59 ) Kroatien verweist auf das Urteil vom 2. Februar 1989, Cowan (186/87, EU:C:1989:47, Rn. 17 bis 19).

( 60 ) Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630).

( 61 ) Siehe oben, Fn. 16.

( 62 ) Dieses besteht aus drei Verordnungen: Verordnung (EU) 2018/1860 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. November 2018 über die Nutzung des Schengener Informationssystems für die Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2018, L 312, S. 1), Verordnung (EU) 2018/1861 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. November 2018 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems (SIS) im Bereich der Grenzkontrollen, zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und zur Änderung und Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 (ABl. 2018, L 312, S. 14) und Verordnung (EU) 2018/1862 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. November 2018 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems (SIS) im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, zur Änderung und Aufhebung des Beschlusses 2007/533/JI des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1986/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und des Beschlusses 2010/261/EU der Kommission ( ABl. 2018, L 312, S. 56 ).

( 63 ) Siehe oben, Fn. 6.

( 64 ) Siehe oben, Fn. 7.

( 65 ) Siehe oben, Fn. 7.

( 66 ) Kroatien verweist auf den Beschluss 2014/194/EU des Rates vom 11. Februar 2014 über die Unterzeichnung – im Namen der Union – einer Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Republik Island zur Festlegung der Modalitäten ihrer Beteiligung am Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (ABl. 2014, L 106, S. 2).

( 67 ) Siehe oben, Fn. 30.

( 68 ) Die Kommission verweist auf die Art. 4 bis 7 der Richtlinie 2004/38 und auf das Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 22. Juli 2013, Wahl (E‑15/12, EFTA Ct. Rep., Rn. 78 und 79).

( 69 ) Hierzu verweist sie auf die Urteile vom 2. Februar 1989, Cowan (186/87, EU:C:1989:47, Rn. 14 bis 17), und vom 25. April 2012, Granville (E‑13/11, EFTA Ct. Rep., Rn. 37).

( 70 ) Urteil vom 10. April 2018 (C‑191/16, EU:C:2018:222).

( 71 ) Urteil vom 12. März 2014 (C‑456/12, EU:C:2014:135).

( 72 ) Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 26. Juli 2016, Jabbi/Norwegen (E‑28/15, EFTA Ct. Rep., Rn. 66 bis 77). Die Kommission verweist auch auf das Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 24. November 2014, Island/Gunnarsson (E‑27/13, Rn. 79 bis 82).

( 73 ) Zweiter Erwägungsgrund des EWR-Abkommens.

( 74 ) Vierter Erwägungsgrund des EWR-Abkommens.

( 75 ) 15. Erwägungsgrund des EWR-Abkommens.

( 76 ) Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 26. Juli 2017, Jabbi/Norwegen (E‑28/15, EFTA Ct. Rep., Rn. 68 und 70).

( 77 ) Siehe oben, Fn. 34.

( 78 ) Hierzu verweist die Kommission auf die Urteile vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 49), und vom 10. April 2018, Pisciotti (C‑191/16, EU:C:2018:222).

( 79 ) Siehe oben, Fn. 10.

( 80 ) Vgl. Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, insbesondere Rn. 58 und 59). Vgl. aus jüngerer Zeit Urteil vom 29. Juli 2019, Spiegel Online (C‑516/17, EU:C:2019:625, Rn. 21).

( 81 ) Pernice, I., „Multilevel Constitutionalism and the Crisis of Democracy in Europe“, in European Constitutional Law Review, Bd. 11 (2015), S. 541, 544 und 545.

( 82 ) Vgl. Lenaerts, K., „The European Court of Human Rights and the Court of Justice of the European Union: Creating Synergies in the Field of Fundamental Rights Protection“, in Il Diritto del’Unione Europea, Bd. 1 (2018), S. 9, und eine Rede zu demselben Thema am 23. März 2018 an der Rechtsfakultät der Universität Sofia.

( 83 ) Voßkuhle, A., „Multilevel Cooperation of the European Constitutional Court: Der Europäische Verfassungsgerichtsverbund“, in European Constitutional Law Review, Bd. 6 (2010), S. 175.

( 84 ) Zu den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten in diesem Paradigma vgl. Popelier, P., Mazmanyan, A., und Vandenbruwaene, W. (Hrsg.), The Role of Constitutional Courts in Multilevel Governance, Intersentia, 2013.

( 85 ) Die erste Fassung des EWR-Abkommens enthielt eine solche Bestimmung (Art. 104 Abs. 1). Der Gerichtshof hat diese Bestimmung jedoch im Gutachten, erstattet aufgrund von Art. 228 Abs. 1 Unterabs. 2 EWG-Vertrag – Entwurf eines Abkommens zwischen der Gemeinschaft einerseits und den Ländern der Europäischen Freihandelszone andererseits über die Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums – Gutachten 1/91 (EWR-Abkommen – I) (EU:C:1991:490) für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt, vgl. Baudenbacher, C., „The EFTA Court: Structure and Tasks“, in The Handbook of EEA Law, Springer, 2016, S. 179, 188.

( 86 ) Urteil vom 23. September 2003, Ospelt und Schlössle Weissenberg (C‑452/01, EU:C:2003:493, Rn. 29). Vgl. aus jüngerer Zeit z. B. Urteile vom 20. Oktober 2011, Kommission/Deutschland (C‑284/09, EU:C:2011:670, Rn. 95), vom 19. Juli 2012, A (C‑48/11, EU:C:2012:485, Rn. 22), und vom 11. September 2014, Essent Belgium (C‑204/12 bis C‑208/12, EU:C:2014:2192, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zum Gericht vgl. Urteil vom 22. Januar 1997, Opel Austria (T‑115/94, EU:T:1997:3).

( 87 ) Das Fehlen einer Hierarchie zwischen den sich überschneidenden Rechtssphären wird von der Rechtsliteratur mit dem Hinweis begründet, dass der EFTA-Gerichtshof dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK ein größeres Gewicht beimesse als der Gerichtshof, vgl. beispielsweise Baudenbacher, B., „The EFTA Court and the Court of Justice of the European Union: Coming in Parts But Winning Minds“, in The Court of Justice and the Construction of Europe: Analyses and Perspectives on Sixty Years of Case-law, T.M.C. Asser Press (2013) S. 183, 198 unter Hinweis auf einen Blog-Kommentar von de la Serr, E. B., zu den Urteilen vom 8. Dezember 2011, KME Germany u. a./Kommission (C‑272/09 P, EU:C:2011:810), und vom 8. Dezember 2011, Chalkor/Kommission (C‑386/10 P, EU:C:2011:815).

( 88 ) Auch Art. 45 der Charta schützt das Recht der Unionsbürger, sich frei in der Union zu bewegen und aufzuhalten.

( 89 ) Weitere einschlägige europäische Rechtsvorschriften sind das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (SEV Nr. 030), das am 12. Juni 1962 in Kraft trat. Russland hat diese beiden Übereinkommen ratifiziert, und das zweite Zusatzprotokoll zum Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (SEV Nr. 182) ist für Russland am 1. Januar 2020 in Kraft getreten. Unter der Schirmherrschaft des Europarats gibt es auch ein Europäisches Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen (SEV Nr. 112).

( 90 ) Urteil vom 11. Dezember 2014, Kommission/Spanien (C‑678/11, EU:C:2014:2434, Rn. 66). Vgl. auch z. B. Urteil vom 6. Oktober 2009, Kommission/Spanien (C‑153/08, EU:C:2009:618, Rn. 48): „Da die Vorschriften des Art. 36 EWR-Abkommen die gleiche rechtliche Tragweite haben wie die im Wesentlichen identischen Vorschriften des Art. 49 EG“ (jetzt Art. 56 AEUV), sind die vorstehenden Erwägungen zu Art. 49 EG, einschließlich der Rechtfertigung der Diskriminierung, „entsprechend … anwendbar“.

( 91 ) Urteil vom 11. September 2014, Essent Belgium (C‑204/12 bis C‑208/12, EU:C:2014:2192, Rn. 123 in Verbindung mit Rn. 72). Der Gerichtshof nahm Bezug auf die Urteile vom 1. April 2004, Bellio F.lli (C‑286/02, EU:C:2004:212, Rn. 34 und 35), und vom 10. April 2008, Kommission/Portugal (C‑265/06, EU:C:2008:210, Rn. 30).

( 92 ) Urteil vom 2. Februar 1989 (186/87, EU:C:1989:47).

( 93 ) Urteil vom 25. April 2002, Granville (E‑13/11, EFTA Ct. Rep., Rn. 37).

( 94 ) Urteil vom 2. Februar 1989 (186/87, EU:C:1989:47).

( 95 ) Urteil vom 24. November 1993, Keck und Mithouard (C‑267/91 und C‑268/91, EU:C:1993:905).

( 96 ) Beispielsweise Urteil vom 10. Juli 1984, Kirk (63/83, EU:C:1984:255).

( 97 ) Vgl. aus jüngerer Zeit Urteil vom 8. Mai 2019, Związek Gmin Zagłębia Miedziowego (C‑566/17, EU:C:2019:390, Rn. 44).

( 98 ) Siehe oben, Nrn. 38, 40, 55, 56, 61 und 75.

( 99 ) Vgl. zunächst Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 26. Juli 2016, Jabbi/Norwegen (E‑28/15, EFTA Ct. Rep.). I.N. hat keinen konkreten Einwand auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38 geltend gemacht, wie etwa die Verletzung eines Rechts auf Einreise nach deren Art. 5, die im Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 22. Juli 2013, Wahl (E‑15/12, EFTA Ct. Rep.), geprüft wurde. Daher werde ich die Richtlinie 2004/38 nicht weiter erörtern, abgesehen von der Feststellung, dass sie als Maßnahme des Sekundärrechts in Übereinstimmung mit dem Primärrecht, d. h. Art. 36 des EWR-Abkommens, auszulegen ist. Vgl. Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 23. Januar 2012, STX Norway Offshore AS u. a./Norwegen (E‑2/11, EFTA Ct. Rep., Rn. 34).

( 100 ) Auch die aktuelle Diskussion, ob die Unionsbürgerschaft von der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats entkoppelt werden kann, kann beiseitegelassen werden. Vgl. z. B. Nic Shuibhine, N., „The Territory of the Union in EU citizenship Law: Charting a Route from Parallel to Integrated Narratives“, in Yearbook of European Law 2019, S. 1.

( 101 ) Insoweit denke ich an die Unterscheidung im EWR-Recht zwischen Urteilen des Gerichtshofs, die vor dem Datum des EWR-Abkommens erlassen wurden, die für die Bestimmungen des EWR-Abkommens gelten, „soweit sie mit den entsprechenden Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft … identisch sind“ (Art. 6 des EWR-Abkommens) und Urteilen des Gerichtshofs, die nach dem Datum der Unterzeichnung des EWR-Abkommens ergangen sind. Die EFTA-Überwachungsbehörde und der EFTA-Gerichtshof müssen lediglich die „in den betreffenden Entscheidungen [des Gerichtshofs] dargelegten Grundsätze gebührend berücksichtigen“ (Art. 3 Abs. 2 des Abkommens zwischen den EFTA-Staaten zur Errichtung einer Überwachungsbehörde und eines Gerichtshofs [ABl. 1994, L 344, S. 3]).

( 102 ) Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 19. April 2016, Holship Norge AS/Norsk Transportarbeiderforbund (E‑14/15, EFTA Ct. Rep., Rn. 121).

( 103 ) Urteil vom 6. September 2016 (C‑182/15, EU:C:2016:630).

( 104 ) Ebd., Rn. 37.

( 105 ) Urteil vom 10. April 2018 (C‑191/16, EU:C:2018:222, Rn. 47).

( 106 ) Urteil vom 13. November 2018 (C‑247/17, EU:C:2018:898, Rn. 32). Auch in seiner Rechtsprechung zu Beschränkungen in Bezug auf die Anwendung des Europäischen Haftbefehls und dem Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung hat der Gerichtshof vor der Gefahr von Straflosigkeit gewarnt. Vgl. Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft (Haftbedingungen in Ungarn) (C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 85 und 86).

( 107 ) Urteil vom 10. April 2018, Pisciotti (C‑191/16, EU:C:2018:222, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 108 ) Ein Überblick findet sich bei Brouwer, E., „Mutual Trust and the Dublin Regulation: the Protection of Fundamental Rights in the EU and the Burden of Proof“, in Utrecht Law Review, Bd. 9 (2013), S. 135.

( 109 ) Dies gilt auch für das Urteil vom 13. November 2018, Raugevicius (C‑247/17, EU:C:2018:898), das das Auslieferungsersuchen eines Drittstaats zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gegen einen Unionsbürger betraf, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hatte.

( 110 ) Hervorhebung nur hier. Urteil vom 10. April 2018, Pisciotti (C‑191/16, EU:C:2018:222, Rn. 51).

( 111 ) Diese könnte sich alsbald ändern. Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Überprüfung der vollständigen Anwendung des Schengen-Besitzstands durch Kroatien, COM(2019) 497 final.

( 112 ) Siehe oben, Fn. 5.

( 113 ) Urteil vom 26. Juli 2017, A.S. (C‑490/16, EU:C:2017:585).

( 114 ) Siehe oben, Fn. 7.

( 115 ) Siehe oben, Fn. 7.

( 116 ) Siehe oben, Fn. 7.

( 117 ) https://www.asylumineurope.org/reports/country/croatia/annex-i-transposition-ceas-national-legislation

( 118 ) C‑490/16 und C‑646/16, EU:C:2017:443.

( 119 ) Rn. 123, Hervorhebung nur hier. Die Generalanwältin verwies auf die Erwägungsgründe 2, 3, 19 und 39 der Dublin‑III-Verordnung und die Urteile vom 21. Dezember 2011, N.S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865), vom 6. Juni 2013, MA u. a. (C‑648/11, EU:C:2013:367), sowie vom 10. Dezember 2013, Abdullahi (C‑394/12, EU:C:2013:813). Der intern zitierte Text stammt aus dem Urteil in der Rechtssache Abdullahi, Rn. 53.

( 120 ) Beschluss 2001/258/EG des Rates (ABl. 2001, L 93, S. 38). Vgl. auch Art. 1 des oben in Fn. 6 genannten Übereinkommens.

( 121 ) Siehe oben, Fn. 6 bzw. 7.

( 122 ) Dieser wird hauptsächlich durch das Schengener Assoziierungsabkommen (siehe oben, Fn. 4) vorgeschrieben und umfasst z. B. das Schengener Abkommen vom 14. Juni 1985 (siehe oben, Fn. 21) und, vorbehaltlich Ausnahmen, das am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichnete Übereinkommen zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg und dem Königreich der Niederlande zur Durchführung des Schengener Abkommens vom 14. Juni 1985 (siehe oben, Fn. 16), die Verordnung (EG) Nr. 574/1999 des Rates vom 12. März 1999 zur Bestimmung der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen (ABl. 1999, L 72, S. 2) (jetzt Verordnung [EU] 2018/1806 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind) (ABl. 2018, L 303, S. 39) und die Verordnung (EG) Nr. 1683/95 des Rates vom 29. Mai 1995 über eine einheitliche Visagestaltung (ABl. 1995, L 164, S. 1).

( 123 ) Siehe oben, Fn. 10. Dazu allgemein Lawunmi, D., „The Dublin Regulation and the Charter: an impetus for change“, in Peers, S., u. a. (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights: a Commentary, 2. Aufl., Hart Publishing, 2020 (erscheint in Kürze).

( 124 ) Vgl. z. B. Urteil vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 81).

( 125 ) Vgl. die Entscheidung des Gerichtshofs im Urteil vom 21. Dezember 2011, N.S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865), und das Zusammenwirken mit dem Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Januar 2011 M.S.S/Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609). Vgl. jüngst Urteil vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218).

( 126 ) Kroatien sieht sich zutreffend – zumindest teilweise – an die Bestimmungen von Kapitel II über die Rechtshilfe in Strafsachen im Übereinkommen zur Durchführung des Schengener Abkommens (siehe oben, Fn. 16) gebunden. Siehe Anhang II der Akte über den Beitritt der Republik Kroatien (siehe oben, Fn. 20). Island ist aufgrund von Anhang A Teil I des Schengen-Assoziierungsabkommens (siehe oben, Fn. 3) an die Bestimmungen von Kapitel II über die Rechtshilfe in Strafsachen dieses Übereinkommens gebunden.

( 127 ) Siehe oben, Fn. 17.

( 128 ) Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung (siehe oben, Fn. 5) bestimmt, dass der Asylantrag „von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft [wird]“.

( 129 ) Siehe oben, Fn. 10. Nach dem dritten Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung ist dieses Übereinkommen eine Quelle für deren Auslegung.

( 130 ) Vgl. Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache A.S. und Jafari, siehe oben, Nr. 102.

( 131 ) Siehe die Verfahrensrichtlinie (siehe oben, Fn. 7).

( 132 ) Kapferer, S., „Cancellation of Refugee Status“, in Legal and Protection Policy Research Series, UNHCR PPLA/2003/02, März 2003, S. 36 bis 37.

( 133 ) Hervorhebung nur hier. Siehe oben, Fn. 10. Vgl. auch Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 78 und 81), zur Stellung des Genfer Abkommens im Unionsrecht. In Rn. 108 hat der Gerichtshof zudem festgestellt, dass das sekundäre Unionsrecht nicht in der Weise ausgelegt werden darf, dass sie bei diesen Staaten einen Anreiz schafft, „sich ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen, wie sie sich aus dem Genfer Abkommen ergeben, zu entziehen, indem sie die diesen Personen aus diesem Abkommen erwachsenden Rechte beschränken“.

( 134 ) Beschluss der zweiten Sektion vom 5. November 2019, Konkurrenten. NO A.S./Norwegen (Beschwerde Nr. 47341/15, Rn. 43).

( 135 ) Vgl. z. B. EGMR, 19. November 2019, TK und SR/Russland (ECLI:CE:ECHR:2019:1119JUD002849215, §§ 78, 91 bis 96).

( 136 ) Urteil des Gerichtshofs vom 16. Februar 2017, C.K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 67).

( 137 ) Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 19. April 2016, Holship Norge AS/Norsk Transportarbeiderforbund (E‑14/15, EFTA Ct. Rep., Rn. 123).

( 138 ) Vgl. Erläuterungen zu Art. 19 Abs. 2 der Charta (ABl. 2007, C 303, S. 17).

( 139 ) Beschluss vom 6. September 2017Peter Schotthöfer & Florian Steiner (C‑473/15, EU:C:2017:633). Dessen Tenor verweist auf die Unionsbürgerschaft, anders als die Randnummern, in denen die sich aus Art. 19 Abs. 2 der Charta ergebenden Rechtsgrundsätze dargelegt sind (vgl. insbesondere Rn. 22, 24 und 26). Rn. 24 bezieht sich auf „Personen“ und nicht auf Unionsbürger. Zur Zurückweisung und zu Art. 19 Abs. 2 der Charta vgl. Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 95).

( 140 ) Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586).

( 141 ) C‑216/18 PPU, EU:C:2018:517, Rn. 66.

( 142 ) EGMR, 17. Januar 2012, Othman (Abu Qatada)/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2012:0117JUD000813909, § 258).

( 143 ) Es ist darauf hinzuweisen, dass das Verbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit weder in Art. 4 des EWR-Abkommens oder in Art. 18 AEUV auf EWR-Staatsangehörige bzw. auf Unionsbürger begrenzt ist, noch, dass Art. 21 Abs. 2 der Charta eine derartige Begrenzung enthält. Maßgebend ist in allen Fällen der Geltungsbereich des jeweiligen Rechtsinstruments.

( 144 ) Vgl. Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 19. April 2016, Holship Norge AS/Norsk Transportarbeiderforbund (E‑14/15, EFTA Ct. Rep., Rn. 123), bzw. Urteil vom 20. Dezember 2017, Global Starnet (C‑322/16, EU:C:2017:985, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 145 ) Urteil vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 78). Da I.N. kein Unionsbürger ist und der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl (oben, Fn. 34) hier keine Anwendung findet, kann die Grundlage für die Anwendung der Charta aus dem Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), nicht auf das Ausgangsverfahren übertragen werden.

( 146 ) Siehe oben, Fn. 6. Vgl. entsprechend Urteil vom 16. Januar 2018, E (C‑240/17, EU:C:2018:8). Art. 3 des Schengener Assoziierungsabkommens (siehe oben, Fn. 4) und der durch dieses Abkommen eingesetzte Gemischte Ausschuss können ebenfalls einschlägig sein.

( 147 ) Siehe oben, Fn. 8.

( 148 ) Vgl. Urteil vom 10. April 2018, Pisciotti (C‑191/16, EU:C:2018:222, Rn. 55). Als bedeutsam hat der Gerichtshof dort die Tatsache erachtet, dass die Behörden des Mitgliedstaats zu keiner Zeit einen Europäischen Haftbefehl ausgestellt haben.

( 149 ) Beispielsweise durch die Erwägungsgründe 1, 3 und 8, Art. 1 und die begrenzten Gründe für die Nichtvollstreckung in Art. 4, verbunden mit seiner allgemeinen Ähnlichkeit mit dem Europäischen Haftbefehl, siehe Übereinkommen über das Übergabeverfahren (oben, Fn. 8).

( 150 ) Siehe oben, Fn. 6.