SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ATHANASIOS RANTOS

vom 25. Februar 2021 ( 1 )

Verbundene Rechtssachen C‑804/18 und C‑341/19

IX

gegen

WABE e. V.

(Vorabentscheidungsersuchen des Arbeitsgerichts Hamburg, Deutschland)

und

MH Müller Handels GmbH

gegen

MJ

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts Deutschland)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Art. 2 Abs. 2 – Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung – Unternehmensinterne Regeln, die den Arbeitnehmern verbieten, am Arbeitsplatz sichtbare oder auffällige großflächige politische, philosophische oder religiöse Zeichen zu tragen – Unmittelbare Diskriminierung – Fehlen – Mittelbare Diskriminierung – Verbot für eine Arbeitnehmerin, ein islamisches Kopftuch zu tragen – Wunsch der Kunden, dass das Unternehmen eine Neutralitätspolitik verfolgt – Zulässigkeit des Tragens sichtbarer kleiner Zeichen – Art. 8 Abs. 1 – Im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstigere nationale Vorschriften – Religionsfreiheit nach Art. 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Nationale Verfassungsvorschriften zum Schutz der Religionsfreiheit“

I. Einleitung

1.

In jüngerer Zeit werden dem Gerichtshof Vorabentscheidungsfragen vorgelegt, die die Religion oder die Weltanschauung betreffen, sei es im Hinblick auf die Einhaltung religiöser Riten ( 2 ), bezüglich der Gesundheit ( 3 ) oder im Bereich des internationalen Schutzes ( 4 ).

2.

In diesen Fragen geht es auch um die Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung in Beschäftigung und Beruf, der Gegenstand der Richtlinie 2000/78/EG ist ( 5 ). So hat der Gerichtshof insbesondere in den Urteilen G4S Secure Solutions ( 6 ) sowie Bougnaoui und ADDH ( 7 ) zu der Frage Stellung genommen, ob das an Arbeitnehmerinnen eines privaten Unternehmens gerichtete Verbot, am Arbeitsplatz ein islamisches Kopftuch zu tragen, eine Diskriminierung wegen der Religion ( 8 ) im Sinne dieser Richtlinie darstellt.

3.

Die vorliegenden verbundenen Rechtssachen schließen direkt an diese beiden Urteile an und haben namentlich die Verdeutlichung des Begriffs „mittelbare Diskriminierung“ im Sinne dieser Richtlinie und die Verknüpfung zwischen dem Recht der Europäischen Union und dem Recht der Mitgliedstaaten betreffend den Schutz der Religionsfreiheit zum Gegenstand.

4.

In dieser Frage muss der Gerichtshof meiner Auffassung nach einen Ausgleich anstreben zwischen einer einheitlichen Auslegung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung im Rahmen der Anwendung der Richtlinie 2000/78 und der Notwendigkeit, den Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Auffassungen zum Platz der Religion in einer demokratischen Gesellschaft einen Beurteilungsspielraum zu belassen.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

5.

Art. 1 („Zweck“) der Richtlinie 2000/78 lautet:

„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“

6.

Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung‘“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.

(2)   Im Sinne des Absatzes 1

a)

liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;

b)

liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn:

i)

diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich …

…“

7.

In Art. 3 („Geltungsbereich“) Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:

„Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf

c)

die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts;

…“

8.

Art. 4 („Berufliche Anforderungen“) der Richtlinie 2000/78 bestimmt in Abs. 1:

„Ungeachtet des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“

9.

Art. 8 („Mindestanforderungen“) Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten können Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind.“

B.   Deutsches Recht

1. Grundgesetz

10.

Art. 4 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. 1949 I, S. 1, im Folgenden: GG) bestimmt in seiner zur Zeit des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung:

„(1)   Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2)   Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

…“

11.

Art. 6 Abs. 2 GG lautet:

„Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“

12.

In Art. 7 GG heißt es:

„(1)   Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.

(2)   Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.

(3)   Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.

…“

13.

Art. 12 Abs. 1 GG bestimmt:

„Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.“

2. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

14.

§ 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes vom 14. August 2006 (BGBl. I, S. 1897, im Folgenden: AGG), durch das die Richtlinie 2000/78 in deutsches Recht umgesetzt wurde, lautet:

„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“

15.

In § 3 AGG heißt es:

„(1)   Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts liegt in Bezug auf § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 auch im Falle einer ungünstigeren Behandlung einer Frau wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft vor.

(2)   Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.

…“

16.

§ 7 AGG bestimmt:

„(1)   Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; dies gilt auch, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.

(2)   Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen das Benachteiligungsverbot des Absatzes 1 verstoßen, sind unwirksam.

(3)   Eine Benachteiligung nach Absatz 1 durch Arbeitgeber oder Beschäftigte ist eine Verletzung vertraglicher Pflichten.“

3. Gewerbeordnung

17.

§ 106 der Gewerbeordnung bestimmt in seiner zur Zeit des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung:

„Der Arbeitgeber kann Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. Dies gilt auch hinsichtlich der Ordnung und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb. Bei der Ausübung des Ermessens hat der Arbeitgeber auch auf Behinderungen des Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen.“

III. Ausgangsverfahren, Vorabentscheidungsfragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

A.   Rechtssache C‑804/18

18.

Der gemeinnützige Verein WABE betreibt Kindertagesstätten mit mehr als 600 Beschäftigten und ca. 3500 betreuten Kindern. Er erklärt, überparteilich und überkonfessionell zu sein. Auf seiner Internetseite heißt es zum Thema „Diversität und Vertrauen“:

„Ob Geschlecht, Herkunft, Kultur, Religion oder besondere Bedürfnisse – wir sind überzeugt davon, dass Vielfalt bereichert. Durch Offenheit und Neugier lernen wir, einander zu verstehen und Unterschiede zu respektieren. Weil bei uns alle Kinder und Eltern willkommen sind, schaffen wir eine Atmosphäre, in der sich Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrauen entwickeln – die Grundlage für eine gesunde individuelle Entwicklung und ein friedvolles gesellschaftliches Miteinander.“

19.

In seiner täglichen Arbeit folgt WABE nach seinen Angaben uneingeschränkt der im März 2012 veröffentlichten Hamburger Bildungsempfehlung für die Bildung und Erziehung von Kindern in Tageseinrichtungen. Darin heißt es:

„Alle Kindertageseinrichtungen haben die Aufgabe, grundsätzliche ethische Fragen sowie religiöse und andere Weltanschauungen als Teil der Lebenswelt aufzugreifen und verständlich zu machen. Kitas geben daher Raum dafür, dass Kinder sich mit den Sinnfragen nach Freude und Leid, Gesundheit und Krankheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Schuld und Versagen, Frieden und Streit und mit der Frage nach Gott auseinandersetzen. Sie unterstützen die Kinder darin, Empfindungen und Überzeugungen zu diesen Fragen einzubringen. Die Möglichkeit zu einer neugierigen, forschenden Auseinandersetzung mit diesen Fragen führt zur Beschäftigung mit Inhalten und Traditionen der in der Kindergruppe vertretenen religiösen und kulturellen Orientierungen. Auf diese Weise entwickeln sich Wertschätzung und Respekt gegenüber anderen Religionen, Kulturen und Weltanschauungen. Diese Auseinandersetzung stärkt das Kind in seinem Selbstverständnis und im Erleben einer funktionierenden Gesellschaft. Hierzu gehört auch, die Kinder religiös verwurzelte Feste im Jahresablauf erleben und aktiv gestalten zu lassen. In der Begegnung mit anderen Religionen erfahren Kinder unterschiedliche Formen der Besinnlichkeit, des Glaubens und der Spiritualität.“

20.

IX ist seit dem 1. Juli 2014 als Heilerziehungspflegerin bei WABE beschäftigt. Vom 15. Oktober 2016 bis 30. Mai 2018 war sie in Elternzeit. Sie ist muslimischen Glaubens und entschied sich Anfang 2016, das islamische Kopftuch zu tragen.

21.

Während der Elternzeit von IX erließ WABE am 12. März 2018 die „Dienstanweisung zur Einhaltung des Neutralitätsgebots“ (im Folgenden: Dienstanweisung), von der IX am 31. Mai 2018 Kenntnis nahm. In dieser heißt es namentlich:

„WABE ist überkonfessionell und begrüßt ausdrücklich die Religions- und Kulturvielfalt. Um eine individuelle und freie Entwicklung der Kinder im Hinblick auf Religion, Weltanschauung und Politik zu gewährleisten, sind die Mitarbeiter von WABE dazu angehalten, das geltende Neutralitätsgebot gegenüber Eltern, Kindern und anderen Dritten strikt einzuhalten. WABE verfolgt diesen gegenüber eine Politik der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität. In diesem Zusammenhang dienen die nachfolgenden Regelungen als Grundsätze für die konkrete Einhaltung des Neutralitätsgebots am Arbeitsplatz.

Die Mitarbeiter geben am Arbeitsplatz keine politischen, weltanschaulichen oder religiösen äußeren Bekundungen gegenüber Eltern, Kindern und Dritten ab.

Die Mitarbeiter tragen gegenüber Eltern, Kindern und Dritten am Arbeitsplatz keine sichtbaren Zeichen ihrer politischen, weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen.

Die Mitarbeiter bringen am Arbeitsplatz keine sich daraus ergebenden Riten gegenüber Eltern, Kindern und Dritten zum Ausdruck.

…“

22.

Im „Informationsblatt zum Neutralitätsgebot“ von WABE heißt es zu der Frage, ob christliches Kreuz, muslimisches Kopftuch oder jüdische Kippa getragen werden dürfen:

„Nein, da die Kinder hinsichtlich einer Religion nicht von den Pädagogen beeinflusst werden sollen, ist dies nicht gestattet. Die bewusste Wahl einer religiös oder weltanschaulich bestimmten Kleidung steht im Widerspruch zum Neutralitätsgebot.“

23.

Für die Beschäftigten von WABE in der Unternehmenszentrale gelten die Vorgaben des Neutralitätsgebots – mit Ausnahme der pädagogischen Fachberatung – nicht, da diese keinen Kundenkontakt haben.

24.

Am Tag ihrer Arbeitsaufnahme nach der Elternzeit, dem 1. Juni 2018, wurde IX aufgefordert, ihr Kopftuch, welches das Haar gänzlich verdeckte, abzunehmen. Dies lehnte sie ab. Daraufhin wurde sie von der Leiterin der Kita, in der sie beschäftigt war, vorerst von der Arbeit freigestellt. Am 4. Juni 2018 erschien IX wiederum mit Kopftuch bekleidet zur Arbeit. Ihr wurde eine auf dasselbe Datum datierte Abmahnung übergeben, mit der sie für das Tragen des Kopftuchs am 1. Juni 2018 abgemahnt und mit Hinweis auf das Neutralitätsgebot aufgefordert wurde, ihre Arbeit zukünftig ohne Kopftuch zu verrichten. Da sie sich auch am 4. Juni 2018 weigerte, ihr Kopftuch abzulegen, wurde sie erneut nach Hause geschickt und vorerst freigestellt. Sie erhielt eine weitere Abmahnung vom selben Tage. WABE hat in der Folge auch im Fall einer Arbeitnehmerin, die ein Kreuz als Halskette trug, erwirkt, dass diese ihre Kette ablegte.

25.

IX focht die Abmahnungen von WABE vom 4. Juni 2018 vor dem Arbeitsgericht Hamburg (Deutschland) an.

26.

Das vorlegende Gericht nimmt auf die Feststellung des Gerichtshofs im Urteil G4S Secure Solutions Bezug, wonach eine interne Regel wie eine Dienstanweisung keine unmittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 begründe, da die Regel auf alle Beschäftigten gleich angewandt werde. Das Gericht ist allerdings der Auffassung, dass immer dann eine unmittelbare Diskriminierung vorliege, wenn eine Regel direkt an ein bestimmtes, durch Art. 1 der Richtlinie 2000/78 geschütztes Merkmal anknüpfe. Für das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung sei danach ausschlaggebend, ob die konkret Betroffene einen Nachteil erleide, indem unmittelbar an das geschützte Merkmal Religion angeknüpft werde.

27.

Da sich aus der Tätigkeit von IX als Erzieherin keine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78, bei der Arbeit kein Kopftuch zu tragen, ergebe, wäre der Klage stattzugeben. Das vorlegende Gericht sieht sich jedoch an einer stattgebenden Entscheidung durch die seiner Meinung nach auslegungsbedürftigen Gründe des Urteils G4S Secure Solutions gehindert.

28.

Im Übrigen fordere das Bundesverfassungsgericht (Deutschland) für einen Eingriff in das in Art. 4 Abs. 1 GG verankerte Grundrecht der Religionsfreiheit außer dem Vorliegen eines rechtmäßigen Ziels, dass von der äußeren religiösen Bekundung eine hinreichend konkrete Gefahr für vom Grundgesetz geschützte Rechtsgüter ausgehen müsse. Im Hinblick auf das Gewicht des Grundrechts der Religionsfreiheit und das Gebot der Verhältnismäßigkeit des Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) kann nach Auffassung des vorlegenden Gerichts nicht schon dann dem Grundrecht des Arbeitgebers auf unternehmerische Freiheit aus Art. 16 der Charta Vorrang vor der Religionsfreiheit eingeräumt werden, wenn der Arbeitgeber den Wunsch formuliere, der Kundschaft gegenüber neutral aufzutreten, ohne dass ihm aus der fehlenden Neutralität ein wirtschaftlicher Nachteil erwachsen würde. Das vorlegende Gericht fühlt sich in dieser Auslegung bestätigt durch das Urteil Bougnaoui und ADDH, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass der Wille eines Arbeitgebers, den Wünschen eines Kunden zu entsprechen, die Leistungen dieses Arbeitgebers nicht mehr von einer Arbeitnehmerin ausführen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt, nicht als eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 angesehen werden könne.

29.

Das vorlegende Gericht sieht sich jedoch an einer der Klage von IX stattgebenden Entscheidung durch die Auslegung von Art. 16 der Charta, die der Gerichtshof in den Urteilen G4S Secure Solutions sowie Bougnaoui und ADDH vorgenommen hat, gehindert, wo er den Wunsch des Arbeitgebers nach religiöser Neutralität seiner Beschäftigten an sich als sachliche Rechtfertigung für eine mittelbare Diskriminierung ausreichen ließ, soweit die Ungleichbehandlung angemessen und erforderlich ist. WABE habe jedoch wirtschaftliche Einbußen oder eine konkrete Gefährdung von Rechtsgütern Dritter, die eine die Klage von IX abweisende Entscheidung auch nach den Voraussetzungen von Art. 4 GG rechtfertigen könnten, nicht hinreichend substantiiert dargelegt.

30.

Deshalb hat das Arbeitsgericht Hamburg das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Benachteiligt eine einseitige Weisung des Arbeitgebers, die das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen verbietet, Beschäftigte, die aufgrund religiöser Bedeckungsgebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, im Sinne von Art. 2 Abs. 1 und 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 unmittelbar wegen ihrer Religion?

2.

Benachteiligt eine einseitige Weisung des Arbeitgebers, die das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen verbietet, eine Arbeitnehmerin, die wegen ihres muslimischen Glaubens ein Kopftuch trägt, im Sinne von Art. 2 Abs. 1 und 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 mittelbar wegen der Religion und/oder wegen des Geschlechts?

Insbesondere:

a)

Kann nach der Richtlinie 2000/78 eine [mittelbare] Benachteiligung wegen der Religion und/oder wegen des Geschlechts auch dann mit dem subjektiven Wunsch des Arbeitgebers, eine Politik politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität zu verfolgen, gerechtfertigt werden, wenn der Arbeitgeber damit den subjektiven Wünschen seiner Kund*innen entsprechen möchte?

b)

Stehen die Richtlinie 2000/78 und/oder das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 der Charta angesichts Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 einer nationalen Regelung entgegen, nach der zum Schutz des Grundrechts der Religionsfreiheit ein Verbot religiöser Bekleidung nicht schon aufgrund einer abstrakten Eignung zur Gefährdung der Neutralität des Arbeitgebers, sondern nur aufgrund einer hinreichend konkreten Gefahr, insbesondere eines konkret drohenden wirtschaftlichen Nachteils für den Arbeitgeber oder einen betroffenen Dritten gerechtfertigt werden kann?

31.

IX, WABE, die polnische und die schwedische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

B.   Rechtssache C‑341/19

32.

Die MH Müller Handels GmbH betreibt in Deutschland Drogeriemärkte. MJ, die muslimischen Glaubens ist, ist seit 2002 bei diesem Unternehmen als Verkaufsberaterin und Kassiererin beschäftigt. Nach ihrer Rückkehr aus der Elternzeit im Jahr 2014 trug sie – anders als zuvor – ein islamisches Kopftuch. Sie kam der Aufforderung des Arbeitgebers, das Kopftuch am Arbeitsplatz abzulegen, nicht nach. Daraufhin wurde sie nicht mehr beschäftigt. Später versah MJ eine andere Tätigkeit in dem Unternehmen, bei der sie ihr Kopftuch nicht ablegen musste. Am 21. Juni 2016 wurde sie aufgefordert, das Kopftuch abzulegen. Nachdem sie dies abgelehnt hatte, wurde sie nach Hause geschickt. Im Juli 2016 erhielt sie die Weisung, ohne auffällige großflächige Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz zu erscheinen (im Folgenden: streitige Weisung).

33.

MJ klagte auf Feststellung, dass die streitige Weisung unwirksam sei, und verlangte ferner Vergütung. Sie trug vor, dass sie das islamische Kopftuch nur trage, um ein religiöses Gebot zu erfüllen, und dass sie das islamische Bedeckungsgebot als zwingend empfinde. Sie bestritt die unternehmensweite Geltung der streitigen Weisung und berief sich auf die vom Grundgesetz geschützte Religionsfreiheit. Der auf der unternehmerischen Freiheit beruhenden Neutralitätspolitik komme kein unbedingter Vorrang vor der Religionsfreiheit zu; es sei vielmehr eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen. Das Unionsrecht enthalte insoweit lediglich Mindestanforderungen.

34.

Die MH Müller Handels GmbH machte geltend, die streitige Weisung sei rechtmäßig. Bei ihr gelte seit jeher eine Kleiderordnung, nach der u. a. Kopfbedeckungen aller Art nicht am Arbeitsplatz getragen werden dürften. Seit Juli 2016 gelte für alle Verkaufsfilialen die Regel, dass das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verboten sei. Ziel der MH Müller Handels GmbH sei es, im Unternehmen Neutralität zu wahren, u. a., um Konflikte zwischen den Beschäftigten zu vermeiden. In der Vergangenheit sei es bereits in drei Fällen zu Konflikten aufgrund der unterschiedlichen Religionen und Kulturen gekommen. Damit ein Unternehmen seinen Beschäftigten verbieten könne, ihren Glauben am Arbeitsplatz zu bekunden, sei nicht erforderlich, dass wirtschaftliche Nachteile einträten oder Kunden ausblieben.

35.

Die Vorinstanzen gaben der Klage von MJ gegen die streitige Weisung statt. Mit der zugelassenen Revision zum Bundesarbeitsgericht begehrt die MH Müller Handels GmbH die Abweisung der Klage.

36.

Das vorlegende Gericht führt aus, unter Berücksichtigung der Urteile G4S Secure Solutions sowie Bougnaoui und ADDH könne die von MJ behauptete Ungleichbehandlung keine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 darstellen. Im vorliegenden Fall handele es sich um eine mittelbar auf der Religion beruhende Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie. Das Gericht geht davon aus, dass der Wunsch des Arbeitgebers, den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, von der nach Art. 16 der Charta geschützten unternehmerischen Freiheit umfasst werde und damit ein rechtmäßiges Ziel darstelle. Es stellt sich jedoch die Frage, ob nur ein Verbot, das jegliche sichtbare Form der Bekundung der Religion erfasse, geeignet sei, das Ziel einer unternehmerischen Neutralitätspolitik zu verfolgen, oder ob nicht auch ein auf das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz beschränktes Verbot dafür genüge, solange es in kohärenter und systematischer Weise durchgesetzt werde.

37.

Im Übrigen fragt sich das vorlegende Gericht, ob schon bei der Prüfung der Angemessenheit der Mittel zur Erreichung des Ziels der Neutralität im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 eine Abwägung der widerstreitenden Interessen – hier Art. 16 der Charta einerseits sowie Art. 10 der Charta und Art. 9 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) betreffend die Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit andererseits – vorzunehmen sei oder ob dies erst bei der Anwendung der unternehmensinternen Regel im Einzelfall, z. B. bei einer Weisung an einen Arbeitnehmer oder bei Ausspruch einer Kündigung, zu erfolgen habe.

38.

Das vorlegende Gericht stellt sich ferner die Frage, ob nationales Recht von Verfassungsrang, insbesondere die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, eine günstigere Regelung im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 darstellen könne.

39.

Schließlich möchte das Gericht wissen, ob das Unionsrecht – hier Art. 16 der Charta – die Einbeziehung nationaler Grundrechte in die Prüfung, ob eine zur Durchsetzung einer Neutralitätspolitik ergangene Weisung des Arbeitgebers wirksam sei, ausschließe.

40.

Deshalb hat das Bundesarbeitsgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Kann eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens nur dann angemessen sein, wenn nach dieser Regel das Tragen jeglicher sichtbarer und nicht nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politscher und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verboten ist?

2.

Sofern die Frage zu 1. verneint wird:

a)

Ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass die Rechte aus Art. 10 der Charta und Art. 9 EMRK in der Prüfung berücksichtigt werden dürfen, ob eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens angemessen ist, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet?

b)

Ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass nationale Regelungen von Verfassungsrang, die die Religionsfreiheit schützen, als günstigere Vorschriften im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 in der Prüfung berücksichtigt werden dürfen, ob eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens angemessen ist, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet?

3.

Sofern die Fragen zu 2a) und 2b) verneint werden:

Müssen nationale Regelungen von Verfassungsrang, die die Religionsfreiheit schützen, in der Prüfung einer Weisung aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet, wegen primären Unionsrechts unangewendet bleiben, auch wenn primäres Unionsrecht, wie zum Beispiel Art. 16 der Charta, einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkennt?

41.

Die MH Müller Handels GmbH, MJ, die griechische, die polnische und die schwedische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

42.

In der gemeinsamen mündlichen Verhandlung in den Rechtssachen C‑804/18 und C‑341/19 vom 24. November 2020 haben IX, WABE, die MH Müller Handels GmbH, MJ und die Kommission mündliche Ausführungen gemacht.

IV. Würdigung

A.   Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑804/18

43.

Die erste Frage in der Rechtssache C‑804/18 geht dahin, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 so auszulegen ist, dass das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergebende Verbot des Tragens jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz eine unmittelbare Diskriminierung von Beschäftigten, die aufgrund religiöser Bedeckungsgebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, wegen ihrer Religion oder ihrer Weltanschauung im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

44.

Nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 bedeutet „Gleichbehandlungsgrundsatz“, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Art. 1 dieser Richtlinie genannten Gründe geben darf. Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie liegt eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Abs. 1 vor, wenn eine Person wegen eines der in Art. 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.

45.

Das vorlegende Gericht meint unter Bezugnahme auf das Urteil G4S Secure Solutions, dass im Ausgangsverfahren eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 vorliege, da der Nachteil, den IX durch die Abmahnung wegen des Tragens eines islamischen Kopftuchs bei der Arbeit erlitten habe, an ein bestimmtes, durch Art. 1 der Richtlinie 2000/78 geschütztes Merkmal, nämlich die Religion, anknüpfe.

46.

Mir ist völlig klar, dass man im Hinblick auf das Tragen religiöser Zeichen im Unternehmen zum Vorliegen und zur Qualifizierung einer Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung verschiedener Meinung sein kann. So haben Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache G4S Secure Solutions ( 9 ) und Generalanwältin Sharpston in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Bougnaoui und ADDH ( 10 ) zu dem an eine Beschäftigte gerichteten Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, unterschiedliche Auffassungen vertreten.

47.

Ich weise jedoch darauf hin, dass der Gerichtshof in der Rechtssache, in der das Urteil G4S Secure Solutions ergangen ist, ausdrücklich gefragt wurde, ob das Verbot des Tragens jedes sichtbaren Zeichens politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 darstellt.

48.

Dazu hat der Gerichtshof in den Rn. 30 bis 32 dieses Urteils dargelegt, da sich die interne Regel, um die es in jener Rechtssache ging ( 11 ), auf das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen bezog und damit unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen galt, sei davon auszugehen, dass nach dieser Regel alle Arbeitnehmer des Unternehmens gleich behandelt wurden, indem ihnen allgemein und undifferenziert u. a. vorgeschrieben wurde, sich neutral zu kleiden, was das Tragen solcher Zeichen ausschloss. Den ihm vorliegenden Akten sei nicht zu entnehmen gewesen, dass die in Rede stehende interne Regel auf die betroffene Arbeitnehmerin anders angewandt worden wäre als auf jeden anderen Arbeitnehmer. Der Gerichtshof hat im Ergebnis festgestellt, dass eine interne Regel wie die im dortigen Ausgangsverfahren in Rede stehende keine unmittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 begründete.

49.

Im Urteil Cresco Investigation ( 12 ) hat der Gerichtshof diese Auffassung bestätigt und ausgeführt, dass die in jener Rechtssache in Rede stehende Regelung, nach der bestimmten Arbeitnehmern am Karfreitag ein Urlaubstag zustand, eine unmittelbar auf der Religion der Arbeitnehmer beruhende unterschiedliche Behandlung begründete, da das Unterscheidungskriterium, dessen sich diese Regelung bediente, unmittelbar der Zugehörigkeit der Arbeitnehmer zu einer bestimmten Religion entsprang.

50.

Nach dieser Rechtsprechung liegt eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 vor, wenn eine nationale Regelung vorschreibt, dass ein Arbeitnehmer eine weniger günstige Behandlung erfährt, wenn er einer Religion und nicht einer anderen angehört. Eine interne Regel, die allgemein und undifferenziert jede Bekundung politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen seitens der Arbeitnehmer betrifft, begründet keine unmittelbare Diskriminierung im Sinne dieser Bestimmung.

51.

Im vorliegenden Fall heißt es in der in Nr. 21 dieser Schlussanträge wiedergegebenen Dienstanweisung u. a., dass die Mitarbeiter von WABE gegenüber Eltern, Kindern und Dritten am Arbeitsplatz keine sichtbaren Zeichen ihrer politischen, weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen tragen.

52.

Diese Dienstanweisung ist also undifferenziert auf alle Bekundungen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen der Arbeitnehmer gegenüber den Kunden des Unternehmens anwendbar. Sie ist keine gerade gegen die Arbeitnehmerinnen muslimischer Religion, die ein islamisches Kopftuch tragen möchten, gerichtete Maßnahme, selbst wenn diese natürlich von dem Verbot jedes sichtbaren Zeichens ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen ebenso betroffen sind wie Arbeitnehmer, die einer anderen Konfession angehören, nicht religiös oder atheistisch sind ( 13 ). Somit begründet diese Dienstanweisung offensichtlich keine weniger günstige Behandlung eines Arbeitnehmers, die direkt und speziell an seine Religion oder seine Weltanschauung anknüpft.

53.

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Dienstanweisung wörtlich angewandt wird, ob sie also auf die betroffene Arbeitnehmerin nicht anders angewandt wurde als auf jeden anderen Arbeitnehmer auch ( 14 ). Ist dies der Fall, so sind meines Erachtens die Urteile des Gerichtshofs G4S Secure Solutions und Cresco Investigation ( 15 ) so zu verstehen, dass eine interne Regel eines privaten Unternehmens wie die Dienstanweisung keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 bildet. Ich sehe keinen Grund, weshalb der Gerichtshof seine kürzlich durch die Große Kammer vorgenommene Auslegung ändern sollte, auch wenn sie auf Kritik gestoßen ist ( 16 ) wie etwa die des vorlegenden Gerichts, nach dessen Auffassung die Dienstanweisung eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne dieser Bestimmung begründet.

54.

Im Übrigen führt der in der ersten Vorlagefrage genannte Umstand, dass die betroffenen Beschäftigten aufgrund religiöser Bedeckungsgebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgten, meines Erachtens nicht zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich des Fehlens einer unmittelbaren Diskriminierung. Deren Vorliegen ist nämlich anhand einer objektiven Beurteilung zu untersuchen, und zwar der Prüfung, ob die Beschäftigten eines Unternehmens gleich behandelt werden, nicht dagegen anhand subjektiver Überzeugungen jedes einzelnen von ihnen.

55.

Hinzu kommt, dass ich der Auslegung des Gerichtshofs im Urteil G4S Secure Solutions völlig zustimme. Nach meiner Überzeugung kann von einer unmittelbaren Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 nämlich nicht die Rede sein, wenn sich die interne Regel eines privaten Unternehmens, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, in gleicher Weise auf alle Religionen oder Weltanschauungen bezieht.

56.

Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich nicht, dass eine Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem einer Beschäftigten das Tragen eines islamischen Kopftuchs untersagt wurde, ausgeschlossen ist. Zu untersuchen ist dann vielmehr, ob eine mittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 gegeben ist. Diese Untersuchung werde ich im Folgenden in Beantwortung der übrigen Vorabentscheidungsfragen vornehmen.

57.

Ich schlage somit vor, auf die erste in der Rechtssache C‑804/18 gestellte Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergebende Verbot des Tragens jedes sichtbaren Zeichens politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz keine unmittelbare Diskriminierung von Beschäftigten, die aufgrund religiöser Bedeckungsgebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, wegen ihrer Religion oder ihrer Weltanschauung im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

B.   Zur zweiten Frage Buchst. a in der Rechtssache C‑804/18

58.

Die zweite Frage Buchst. a des vorlegenden Gerichts in der Rechtssache C‑804/18 geht dahin, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 so auszulegen ist, dass eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne dieser Bestimmung mit dem Willen des Arbeitgebers gerechtfertigt werden kann, eine Politik politischer, philosophischer und religiöser Neutralität am Arbeitsplatz zu verfolgen, um den Wünschen seiner Kundschaft zu entsprechen.

59.

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht in seiner zweiten Frage die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts angesprochen hat. Eine solche Diskriminierung ist jedoch nicht Gegenstand der Richtlinie 2000/78 ( 17 ), des einzigen in dieser Frage herangezogenen Rechtsakts. Auch enthält der Vorlagebeschluss nicht genug tatsächliche Angaben für die Prüfung, ob in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens eine Diskriminierung wegen des Geschlechts vorliegt. Deshalb werde ich diese Frage im Folgenden nur insoweit untersuchen, als sie die mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 betrifft.

60.

Für die Anwendung dieser Bestimmung scheint mir ein Hinweis auf das Urteil G4S Secure Solutions sachgerecht, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass eine interne Regel eines privaten Unternehmens, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, eine mittelbare Diskriminierung im Sinne dieser Bestimmung darstellen könne, wenn sich erweist, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden, es sei denn, sie ist durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber im Verhältnis zu seinen Kunden sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind angemessen und erforderlich.

61.

Das vorlegende Gericht wird unter Berücksichtigung dieser Ausführungen zu prüfen haben, ob die in der Dienstanweisung enthaltene dem Anschein nach neutrale Verpflichtung tatsächlich dazu führt, dass Personen, die einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, hier dem Islam, anhängen, in besonderer Weise benachteiligt werden. Gegebenenfalls ist dem im Vorlagebeschluss bezeichneten Umstand Rechnung zu tragen, dass WABE im Verhältnis zu seinen Kunden eine Politik der politischen, philosophischen und religiösen Neutralität verfolgt, was, wie in Nr. 60 der vorliegenden Schlussanträge dargelegt, als rechtmäßiges Ziel im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 anzusehen ist.

62.

Was die Mittel zur Erreichung dieses rechtmäßigen Ziels angeht, betrifft das Verbot des sichtbaren Tragens jedes Zeichens oder Kleidungsstücks, das mit einem religiösen Glauben oder einer politischen oder philosophischen Überzeugung in Verbindung gebracht werden kann, dem Vorlagebeschluss zufolge ausschließlich die Beschäftigten von WABE, die mit den Kunden Kontakt haben ( 18 ). Somit kann unter Vorbehalt der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen offenbar davon ausgegangen werden, dass dieses Verbot zur Erreichung des verfolgten Ziels nicht nur angemessen, sondern auch unbedingt erforderlich war ( 19 ).

63.

Hinsichtlich der Weigerung einer Arbeitnehmerin, im Rahmen der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit bei Kunden auf das Tragen des islamischen Kopftuchs zu verzichten, hat das vorlegende Gericht ferner zu prüfen, ob es dem Arbeitgeber unter Berücksichtigung der unternehmensinternen Zwänge und ohne eine zusätzliche Belastung tragen zu müssen, möglich gewesen wäre, ihr in Anbetracht dieser Weigerung einen Arbeitsplatz ohne Sichtkontakt mit Kunden anzubieten. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, in Anbetracht aller sich aus den Akten ergebenden Umstände den beiderseitigen Interessen Rechnung zu tragen und die Beschränkungen der in Rede stehenden Freiheiten auf das unbedingt Erforderliche zu begrenzen ( 20 ).

64.

Bezüglich der zweiten Frage Buchst. a des vorlegenden Gerichts ist darauf hinzuweisen, dass mangels einer Unternehmenspolitik der politischen, philosophischen und religiösen Neutralität der Wille des Arbeitgebers, den Wünschen eines Kunden zu entsprechen, seine Leistungen nicht mehr von einer Arbeitnehmerin ausführen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt, nicht als eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 angesehen werden kann ( 21 ). Etwa bestehende derartige Kundenwünsche sind also nicht geeignet, eine Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie zu rechtfertigen.

65.

Verfolgt ein Arbeitgeber dagegen eine Politik der politischen, philosophischen oder religiösen Neutralität, so kann diese verschiedene Gründe haben. Sie kann zum Beispiel auf dem Willen der Kundschaft beruhen, dass das Unternehmen in diesem Sinne handelt. Im vorliegenden Fall verfolgt WABE, wie sich aus der Dienstanweisung ergibt, das Ziel, „die individuelle und freie Entwicklung der Kinder im Hinblick auf [die] Religion … zu gewährleisten“ ( 22 ). Die Eltern der betreffenden Kinder wollen möglicherweise, dass deren Erzieher ihre Religion oder Weltanschauung nicht am Arbeitsplatz bekunden. Insofern ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 14 Abs. 3 der Charta das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, nach den einzelstaatlichen Gesetzen geachtet wird, welche ihre Ausübung regeln.

66.

Darüber hinaus gehört der Wunsch eines Arbeitgebers, den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, zu der unternehmerischen Freiheit gemäß Art. 16 der Charta, wo es heißt, dass die unternehmerische Freiheit nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt wird ( 23 ).

67.

Der durch diese Vorschrift garantierte Schutz umfasst die Freiheit, eine wirtschaftliche oder kaufmännische Tätigkeit auszuüben, die Vertragsfreiheit und den freien Wettbewerb ( 24 ). Dieser Schutz bezieht sich meines Erachtens auch auf die Absicht, Kundenwünschen namentlich aus kaufmännischen Gründen nachzukommen. Anders als in der Rechtssache, in der das Urteil Bougnaoui und ADDH ( 25 ) ergangen ist, besteht das Verbot u. a. des islamischen Kopftuchs hier nicht aufgrund einer dahin gehenden Forderung eines Kunden, sondern ergibt sich aus einer allgemeinen und undifferenzierten Neutralitätspolitik des Unternehmens.

68.

Deshalb schlage ich vor, auf die zweite Frage Buchst. a in der Rechtssache C‑804/18 zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne dieser Bestimmung mit dem Willen des Arbeitgebers gerechtfertigt werden kann, eine Politik politischer, philosophischer und religiöser Neutralität am Arbeitsplatz zu verfolgen, um den Wünschen seiner Kundschaft zu entsprechen.

C.   Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑341/19

69.

Die erste Frage des vorlegenden Gerichts in der Rechtssache C‑341/19 geht dahin, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 so auszulegen ist, dass eine interne Regel eines privaten Unternehmens, die im Rahmen einer Neutralitätspolitik nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, im Sinne dieser Bestimmung gerechtfertigt werden kann.

70.

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil G4S Secure Solutions zum sichtbaren Tragen jedes Zeichens politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz Stellung genommen hat. Meiner Meinung nach sind seine Ausführungen nicht dahin zu verstehen, dass in Anwendung einer Neutralitätspolitik nur das Verbot jedes äußeren Zeichens politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen gerechtfertigt werden könnte. Die Antwort des Gerichtshofs bezog sich nämlich auf den Sachverhalt, zu dem dieses Urteil ergangen ist, in dem die fragliche interne Regelung es verbot, sichtbare Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen zu tragen und/oder jeglichen Ritus, der sich daraus ergibt, zum Ausdruck zu bringen ( 26 ).

71.

Die Frage, ob das in einer internen Regel eines privaten Unternehmens ausgesprochene Verbot, auffällige großflächige Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen zu tragen, im Rahmen der Anwendung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 gerechtfertigt werden kann, ist also vom Gerichtshof noch nicht entschieden worden. Diese Frage läuft darauf hinaus, ob das sichtbare Tragen kleiner Zeichen ( 27 ) politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz vertretbar ist ( 28 ).

72.

Zwar ersucht das vorlegende Gericht insoweit um die Auslegung der Richtlinie 2000/78 und nicht von Art. 10 der Charta ( 29 ); es erscheint mir jedoch wichtig, auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) einzugehen. In der Rechtssache C‑341/19 handelt es sich um ein privates Unternehmen, das eine Drogeriekette betreibt. Nun gibt es ein Urteil des EGMR, das direkt auf die Frage des Tragens religiöser Kleidungsstücke in einem privaten Unternehmen eingeht, nämlich das Urteil Eweida u. a./Vereinigtes Königreich ( 30 ).

73.

Nach dem Sachverhalt, zu dem dieses Urteil ergangen ist, arbeitete Frau Nadia Eweida, eine praktizierende koptische Christin, als Angestellte am Check-in-Schalter der British Airways Plc. Als sie bei der Arbeit ein Kreuz tragen wollte, um ihren Glauben zu bekunden, weigerte sich ihr Arbeitgeber, ihr die weitere Ausübung ihrer Tätigkeit zu gestatten, solange sie das Kreuz sichtbar trug. Nach den Feststellungen des EGMR war das Kreuz von Frau Eweida unauffällig und konnte ihrem beruflichen Erscheinungsbild keinen Abbruch tun ( 31 ). Im Ergebnis bejahte der EGMR eine Verletzung von Art. 9 EMRK, der die Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit betrifft, gegenüber Frau Eweida.

74.

Im Licht dieses Urteils erscheint mir eine Politik der politischen, philosophischen oder religiösen Neutralität eines Arbeitgebers in seiner Beziehung zu seinen Kunden nicht unvereinbar damit, dass seine Beschäftigten am Arbeitsplatz sichtbar oder nicht sichtbar Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen tragen, die klein, anders ausgedrückt unauffällig sind und nicht ins Auge springen. Gewiss können auch kleine Zeichen wie ein Pin oder ein Ohrring einem aufmerksamen und interessierten Beobachter einen Hinweis auf die politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen eines Arbeitnehmers geben. Solche diskreten, unauffälligen Zeichen können jedoch die Kunden des Unternehmens, die die Religion oder die Weltanschauung der betreffenden Arbeitnehmerin oder des betreffenden Arbeitnehmers nicht teilen, nicht stören.

75.

Es geht hier um die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78, wonach die Mittel zur Erreichung des rechtmäßigen Ziels der Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen oder religiösen Neutralität angemessen und erforderlich sein müssen. Wenn allerdings dem Urteil G4S Secure Solutions zufolge das Verbot jedes sichtbaren Zeichens politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz zulässig ist, ist der Arbeitgeber meines Erachtens ebenfalls befugt, im Rahmen der unternehmerischen Freiheit nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen solcher Überzeugungen zu untersagen ( 32 ).

76.

Dann verlagert sich die Debatte jedoch auf den Begriff der „‚kleinen‘ sichtbaren Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen“. Es ist aber nicht Aufgabe des Gerichtshofs, diesen Begriff genau zu definieren, denn der Kontext, in dem das Zeichen getragen wird, kann eine Rolle spielen. Deshalb muss das angerufene einzelstaatliche Gericht die Situation im Einzelfall prüfen. Ich bin allerdings der Meinung, dass ein islamisches Kopftuch jedenfalls kein kleines religiöses Zeichen ist ( 33 ). Auch die Generalanwältin Kokott hat in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache G4S Secure Solutions ( 34 ) die Auffassung vertreten, dass „ein kleines und dezent angebrachtes religiöses Symbol – etwa in Form eines Ohrrings, einer Halskette oder einer Anstecknadel – … im Zweifel eher statthaft sein [wird] als eine auffällige Kopfbedeckung wie ein Hut, ein Turban oder ein Kopftuch“ ( 35 ).

77.

Wie der Gerichtshof im Urteil G4S Secure Solutions ausgeführt hat, ist das Verbot für Arbeitnehmer, am Arbeitsplatz irgendein Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen sichtbar zu tragen, zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung einer Politik der Neutralität geeignet, sofern diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird ( 36 ). Eine Neutralitätspolitik, bei der nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen untersagt wird, schließt jedoch nicht aus, dass dieses Verbot in kohärenter und systematischer Weise durchgesetzt wird, d. h., dass es sich aus einer allgemeinen und undifferenzierten Politik ergibt, was zu prüfen Sache des einzelstaatlichen Gerichts ist.

78.

In ihren schriftlichen Erklärungen haben MJ sowie die griechische und die schwedische Regierung ausgeführt, dass eine interne Regel eines Unternehmens, die nur auffällige großflächige Zeichen verbiete, bestimmte Gruppen benachteilige, die besonders sichtbare religiöse Symbole trügen. Die zu diesen Gruppen gehörenden Beschäftigten liefen verstärkt Gefahr, an ihrem Arbeitsplatz Opfer einer Diskriminierung wegen ihrer Religion oder ihrer Weltanschauung zu werden.

79.

Ich räume ein, dass religiöse Zeichen je nach der Religion mehr oder minder sichtbar sein können. Diesem Gedankengang zu folgen würde jedoch darauf hinauslaufen, dass für die Anwendung einer Neutralitätspolitik notwendigerweise das Tragen jedweder Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen verboten werden müsste. Dies erscheint widersinnig, wenn man den Zweck der Richtlinie 2000/78 in Betracht zieht, die die Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung bekämpfen will. Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, muss sich das Verbot solcher Zeichen auf das unbedingt Erforderliche beschränken ( 37 ). Andernfalls würde das völlige und ausnahmslose Verbot des sichtbaren Tragens irgendeines Zeichens politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen über das Maß des Erforderlichen hinausgehen und diejenigen, die sich dafür entschieden haben, ein kleines Zeichen zu tragen, allein deshalb bestrafen, weil sich andere Personen dafür entschieden haben, auffällige Zeichen zu tragen.

80.

Anders gesagt gibt es meines Erachtens noch Raum zwischen der vollständigen Freiheit der Arbeitnehmer, Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz zu tragen, die ein Arbeitgeber in Ausübung seiner unternehmerischen Freiheit gemäß Art. 16 der Charta gewähren kann ( 38 ), einerseits, und dem Verbot jedes sichtbaren Zeichens politischer, philosophischer oder religiöser Natur in Anwendung einer Neutralitätspolitik, die der Arbeitgeber ebenfalls verfolgen kann ( 39 ), andererseits. Die Neutralitätspolitik kann somit mehrere Formen annehmen, sofern sie in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird.

81.

Aufgrund dieser Überlegungen schlage ich vor, auf die erste Frage in der Rechtssache C‑341/19 zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass eine interne Regel eines privaten Unternehmens, die im Rahmen einer Neutralitätspolitik nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, im Sinne dieser Bestimmung gerechtfertigt werden kann. Ein solches Verbot muss in kohärenter und systematischer Weise durchgesetzt werden; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.

D.   Zur zweiten Frage Buchst. b in der Rechtssache C‑804/18 und zur zweiten Frage Buchst. b in der Rechtssache C‑341/19

82.

Mit der zweiten Frage Buchst. b in der Rechtssache C‑804/18 und der zweiten Frage Buchst. b in der Rechtssache C‑341/19, die zusammen zu prüfen sind ( 40 ), möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass nationale Verfassungsvorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist, als günstigere Vorschriften im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie berücksichtigt werden dürfen.

83.

Nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 können die Mitgliedstaaten Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind. Ferner heißt es im 28. Erwägungsgrund, dass in dieser Richtlinie Mindestanforderungen festgelegt werden, dass es den Mitgliedstaaten somit freisteht, günstigere Vorschriften einzuführen oder beizubehalten, und dass die Umsetzung dieser Richtlinie nicht eine Absenkung des in den Mitgliedstaaten bereits bestehenden Schutzniveaus rechtfertigen darf.

84.

Angesichts der gestellten Fragen ist zu untersuchen, inwieweit nationale Vorschriften über die Religionsfreiheit als Vorschriften angesehen werden können, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger sind als die Bestimmungen der Richtlinie 2000/78.

85.

Der Gerichtshof hat Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie bereits ausgelegt, allerdings bisher nur in Bezug auf die Beachtung der Verfahrensrechte. So hat er auf diese Bestimmung gestützt entschieden, dass Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 ( 41 ) es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, in seinem nationalen Recht Verbänden, die ein rechtmäßiges Interesse daran haben, für die Einhaltung dieser Richtlinie zu sorgen, das Recht einzuräumen, Gerichts- oder Verwaltungsverfahren zur Durchsetzung der Ansprüche aus dieser Richtlinie einzuleiten, auch wenn sie nicht im Namen einer bestimmten beschwerten Person handeln oder sich keine beschwerte Person feststellen lässt ( 42 ).

86.

Diese Auslegung erscheint mir völlig gerechtfertigt. Denn zum einen legt Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 genau den Rahmen fest, in dem diese Verbände ein Gerichts- und/oder Verwaltungsverfahren einleiten können, indem er Bedingungen aufstellt, nämlich dass sie im Namen der beschwerten Person oder zu deren Unterstützung und mit deren Einwilligung tätig werden müssen. Zum anderen eröffnet Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie diesen Verbänden eine weiter gehende Klagemöglichkeit vor den einzelstaatlichen Gerichten zur Verteidigung der Rechte auch ohne eine beschwerte Person, was für die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger ist.

87.

Die nationalen Vorschriften zum Schutz der Religionsfreiheit fallen dagegen meines Erachtens nicht unter Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78. Denn auch wenn sie den Schutz der Arbeitnehmer hinsichtlich der Bekundung ihrer Religion umfassen, haben sie nicht eine weiter gehende Anwendung des in Art. 8 Abs. 1 verankerten Gleichbehandlungsgrundsatzes zum Gegenstand, da sie nicht die Bekämpfung der Diskriminierung bezwecken.

88.

Wie ich im Folgenden darlegen werde, können diese nationalen Vorschriften von den Mitgliedstaaten angewandt werden, aber in einem anderen Rahmen als dem der Richtlinie 2000/78, die allein zum Gegenstand hat, einen allgemeinen Rahmen für die Bekämpfung der Diskriminierung namentlich wegen der Religion oder der Weltanschauung festzulegen.

89.

Deshalb schlage ich vor, auf die zweite Frage Buchst. b in der Rechtssache C‑804/18 und die zweite Frage Buchst. b in der Rechtssache C‑341/19 zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass nationale Verfassungsvorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist, nicht als günstigere Vorschriften im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie berücksichtigt werden dürfen.

E.   Zur zweiten Frage Buchst. a in der Rechtssache C‑341/19

90.

Die zweite Frage Buchst. a des vorlegenden Gerichts in der Rechtssache C‑341/19 geht dahin, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 so auszulegen ist, dass die Rechte aus Art. 10 der Charta und Art. 9 EMRK in der Prüfung, ob eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens angemessen und erforderlich ist, berücksichtigt werden können.

91.

Insoweit fragt sich das vorlegende Gericht, ob bei der Prüfung der Angemessenheit einer solchen Ungleichbehandlung eine Abwägung der kollidierenden Interessen vorgenommen werden muss, nämlich einerseits der in Art. 16 der Charta verankerten unternehmerischen Freiheit und andererseits der durch Art. 10 der Charta und Art. 9 EMRK geschützten Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit.

92.

Zur Beantwortung dieser Frage ist vom Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 auszugehen. Dort wird im Rahmen der Rechtfertigung einer mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhenden Ungleichbehandlung unterschieden zwischen der Frage, ob ein rechtmäßiges Ziel vorliegt, und der Frage, ob die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.

93.

Der Gerichtshof hat in den Rn. 38 und 39 des Urteils G4S Secure Solutions ausgeführt, dass der Wunsch eines Arbeitgebers, den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, zu der in Art. 16 der Charta anerkannten unternehmerischen Freiheit gehört, dass er grundsätzlich rechtmäßig ist und dass die Auslegung, wonach die Verfolgung dieses Ziels innerhalb bestimmter Grenzen eine Beschränkung der Religionsfreiheit erlaubt, durch die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 9 EMRK bestätigt wird.

94.

Der Gerichtshof hat auf Art. 16 der Charta und Art. 9 EMRK nur im Rahmen der Prüfung der Frage Bezug genommen, ob die Verfolgung der Neutralitätspolitik eines Unternehmens in seiner Beziehung zu seinen Kunden ein berechtigtes Ziel im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 ist.

95.

Folgt man diesem Gedankengang, so besteht meines Erachtens kein Grund, bei der Untersuchung der Angemessenheit und der Notwendigkeit der zur Erreichung dieses Ziels eingesetzten Mittel eine Abwägung zwischen der unternehmerischen Freiheit einerseits und der Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit andererseits vorzunehmen, da die unternehmerische Freiheit in diesem Stadium der Prüfung keine Rolle mehr spielt. Sollte die Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit gleichwohl im Rahmen der Untersuchung der zur Erreichung des Ziels der Neutralitätspolitik eingesetzten Mittel berücksichtigt werden? Ich glaube dies nicht.

96.

Erstens nämlich steht das Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen zu Recht vorgetragen hat, unbestreitbar mit dem Schutz der Religionsfreiheit in einem Zusammenhang, da eine solche Diskriminierung die Freiheit einer Person beeinträchtigt, ihre Religion frei und offen auszuüben. Allerdings handelt es sich bei dem Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung nach Art. 21 Abs. 1 der Charta und der Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 10 der Charta um Grundrechte, die klar unterschieden werden müssen ( 43 ).

97.

Die Richtlinie 2000/78 konkretisiert Art. 21 der Charta, der sich in seiner Bindungswirkung grundsätzlich nicht von den verschiedenen Bestimmungen der Gründungsverträge unterscheidet, die verschiedene Formen der Diskriminierung auch dann verbieten, wenn sie aus Verträgen zwischen Privatpersonen resultieren ( 44 ). Diese Richtlinie hat somit lediglich die Bekämpfung der Diskriminierung u. a. wegen der Religion oder der Weltanschauung zum Gegenstand. Sie bezweckt nicht, den in Art. 10 der Charta vorgesehenen Schutz der Religionsfreiheit im eigentlichen Sinne sicherzustellen.

98.

Zweitens spielt im Rahmen der Rechtfertigung einer mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhenden Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 das Grundrecht auf Schutz der Religionsfreiheit meines Erachtens keine Rolle, soweit sich diese Bestimmung auf angemessene und erforderliche Mittel bezieht. Es geht um eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit, bei der die Situation konkret daraufhin zu untersuchen ist, ob das anerkannte rechtmäßige Ziel, nämlich eine Politik der Neutralität, auf angemessene Weise verfolgt wird.

99.

Drittens könnte die parallele Anwendung aller in der Charta verankerten Rechte bei der Auslegung der Richtlinie 2000/78 es unmöglich machen, diese Richtlinie, die lediglich den Grundsatz der Nichtdiskriminierung in Beschäftigung und Beruf betrifft, unter Beachtung ihrer Zielsetzung vollständig und einheitlich durchzuführen.

100.

Ich schlage daher vor, auf die zweite Frage Buchst. a in der Rechtssache C‑341/19 zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass die Rechte aus Art. 10 der Charta und Art. 9 EMRK bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens angemessen und erforderlich ist, nicht berücksichtigt werden dürfen.

F.   Zur dritten Frage in der Rechtssache C‑341/19

101.

Die dritte Frage des vorlegenden Gerichts in der Rechtssache C‑341/19 geht dahin, ob die Richtlinie 2000/78 so auszulegen ist, dass sie es einem einzelstaatlichen Gericht verwehrt, bei der Prüfung einer Weisung aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens, die das Tragen von Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, nationale Verfassungsvorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, anzuwenden.

102.

Vorab sei bemerkt, dass das vorlegende Gericht mit seinen Vorabentscheidungsfragen den Gerichtshof um die Auslegung der Richtlinie 2000/78 und nicht des Art. 10 der Charta ersucht. Deshalb werde ich die dritte Frage in der Rechtssache C‑341/19, die an die ersten beiden Fragen anschließt, anhand dieser Richtlinie im Rahmen der Prüfung einer mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhenden Diskriminierung untersuchen.

103.

Wie in Nr. 97 der vorliegenden Schlussanträge dargelegt, bezweckt die Richtlinie 2000/78 nicht, den in Art. 10 der Charta vorgesehenen Schutz der Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit sicherzustellen. Deshalb darf diese Freiheit bei der Prüfung der Angemessenheit und der Erforderlichkeit der zur Erreichung des Ziels der Neutralität des Unternehmens eingesetzten Mittel nicht berücksichtigt werden. Dieselbe Auslegung muss auch für die in Art. 16 der Charta verankerte unternehmerische Freiheit gelten, bei der es sich nicht um ein von dieser Richtlinie geschütztes Grundrecht handelt.

104.

Sofern der in der Richtlinie 2000/78, die Art. 21 der Charta konkretisiert, aufgestellte Grundsatz der Nichtdiskriminierung nicht verletzt wird, steht es deshalb den Mitgliedstaaten meines Erachtens frei, die die betreffende Rechtslage regelnden nationalen Vorschriften anzuwenden.

105.

Dabei kann es sich z. B., wie die Kommission ausgeführt hat, um eine nationale Vorschrift über die Form handeln, in der die Weisung zur Durchführung der Neutralitätspolitik den Beschäftigten des Unternehmens bekannt gegeben werden muss. Die Anwendung dieser Vorschrift kann auch dann zur Nichtigkeit der Weisung führen, wenn die angestrebte Neutralitätspolitik in der Sache selbst die Voraussetzungen der Richtlinie 2000/78 erfüllt. Zwar betrifft dieses Beispiel das Verfahren, doch gilt diese Überlegung auch für den Anspruch auf Gleichbehandlung selbst. Somit besteht eine Koexistenz zwischen den unionsrechtlichen Bestimmungen über den Grundsatz der Nichtdiskriminierung einerseits und den nationalen Vorschriften, die bestimmte Anforderungen an die Neutralitätspolitik des Unternehmers stellen, andererseits.

106.

Dasselbe gilt für nationale Vorschriften zum Schutz der Religionsfreiheit, die die Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats bei der Beurteilung der Gültigkeit der Weisung eines Unternehmers im Rahmen der Anwendung einer Neutralitätspolitik berücksichtigen können.

107.

Dazu weist das vorlegende Gericht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hin, wonach der Schutz eines Grundrechts wie des in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG vorgesehenen auch auf die Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen einwirkt. Die als Freiheitsrecht durch diese Vorschriften geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit trete gegenüber der in Art. 12 Abs. 1 GG genannten unternehmerischen Freiheit nur bei Vorliegen einer hinreichend konkreten Gefahr eines wirtschaftlichen Nachteils für den Unternehmer oder einen betroffenen Dritten zurück. Anders ausgedrückt ergibt sich, wie auch das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑804/18 in seinem Beschluss und in der zweiten Frage Buchst. b zum Ausdruck gebracht hat, aus den deutschen Verfassungsvorschriften, dass der Wunsch eines Arbeitgebers, gegenüber seiner Kundschaft eine religiöse Neutralitätspolitik zu verfolgen, grundsätzlich nur dann rechtmäßig ist, wenn das Fehlen dieser Neutralität zu wirtschaftlichen Einbußen für ihn führt.

108.

Wie gesagt verfolgen Vorschriften wie Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, die dem Schutz der Religionsfreiheit dienen, ein anderes Ziel als die Richtlinie 2000/78. Deshalb sehe ich keinen Hinderungsgrund dafür, dass nationale Verfassungsvorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, bei der Prüfung der Neutralitätspolitik eines Unternehmens angewandt werden, sofern der in dieser Richtlinie aufgestellte Grundsatz der Nichtdiskriminierung beachtet wird ( 45 ).

109.

Diese den Mitgliedstaaten hinsichtlich des Schutzes der Religionsfreiheit eröffnete Möglichkeit entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Danach lässt sich in Europa keine einheitliche Konzeption der Bedeutung der Religion in der Gesellschaft ausmachen, und der Sinn oder die Wirkung der Handlungen, durch die eine religiöse Überzeugung öffentlich ausgedrückt wird, sind je nach den Epochen und dem Kontext verschieden. Die diesbezügliche Regelung kann somit von einem Land zum anderen variieren, und die Entscheidung über ihren Umfang und ihre Modalitäten muss notwendigerweise bis zu einem gewissen Grad dem betreffenden Staat überlassen bleiben, da sie von dem fraglichen innerstaatlichen Kontext abhängt ( 46 ).

110.

Deshalb ist den unterschiedlichen Auffassungen der Mitgliedstaaten bezüglich des Schutzes der Religionsfreiheit Rechnung zu tragen ( 47 ); dies wird durch die Anwendung des in der Richtlinie 2000/78 aufgestellten Grundsatzes der Nichtdiskriminierung nicht in Frage gestellt.

111.

Im vorliegenden Fall scheint mir, dass die betreffenden nationalen Vorschriften auf den ersten Blick nicht im Widerspruch zu dieser Richtlinie stehen. Sie verbieten es einem Unternehmer nämlich nicht, eine Politik der politischen, philosophischen oder religiösen Neutralität zu verfolgen, sondern stellen nur ein zusätzliches Erfordernis für deren Durchsetzung auf, nämlich das Vorliegen einer hinreichend konkreten Gefahr eines wirtschaftlichen Nachteils für den Unternehmer oder einen betroffenen Dritten. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob die angeführte nationale Regelung nicht den in dieser Richtlinie aufgestellten Grundsatz der Nichtdiskriminierung verletzt.

112.

Folglich schlage ich vor, auf die dritte Frage in der Rechtssache C‑341/19 zu antworten, dass die Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass sie es einem einzelstaatlichen Gericht nicht verwehrt, bei der Prüfung einer Weisung aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens, die das Tragen von Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, nationale Verfassungsvorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, anzuwenden, sofern sie den in dieser Richtlinie aufgestellten Grundsatz der Nichtdiskriminierung nicht verletzen; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.

V. Ergebnis

113.

Aufgrund dieser Überlegungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorabentscheidungsfragen des Arbeitsgerichts Hamburg (Deutschland) und des Bundesarbeitsgerichts (Deutschland) wie folgt zu beantworten:

1.

Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergebende Verbot des Tragens jedes sichtbaren Zeichens politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz keine unmittelbare Diskriminierung von Beschäftigten, die aufgrund religiöser Bedeckungsgebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, wegen ihrer Religion oder ihrer Weltanschauung im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

2.

Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne dieser Bestimmung mit dem Willen des Arbeitgebers gerechtfertigt werden kann, eine Politik politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität am Arbeitsplatz zu verfolgen, um den Wünschen seiner Kundschaft zu entsprechen.

3.

Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass eine interne Regel eines privaten Unternehmens, die im Rahmen einer Neutralitätspolitik nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, im Sinne dieser Bestimmung gerechtfertigt werden kann. Ein solches Verbot muss in kohärenter und systematischer Weise durchgesetzt werden; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.

4.

Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass nationale Verfassungsvorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist, nicht als günstigere Vorschriften im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie berücksichtigt werden dürfen.

5.

Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass die Rechte aus Art. 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 9 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens angemessen und erforderlich ist, nicht berücksichtigt werden dürfen.

6.

Die Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass sie es einem einzelstaatlichen Gericht nicht verwehrt, bei der Prüfung einer Weisung aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens, die das Tragen von Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, nationale Verfassungsvorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, anzuwenden, sofern sie den in dieser Richtlinie aufgestellten Grundsatz der Nichtdiskriminierung nicht verletzen; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Vgl. namentlich Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335).

( 3 ) Vgl. Urteil vom 29. Oktober 2020, Veselības ministrija (C‑243/19, EU:C:2020:872).

( 4 ) Vgl. Urteil vom 4. Oktober 2018, Fathi (C‑56/17, EU:C:2018:803).

( 5 ) Richtlinie des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16).

( 6 ) Urteil vom 14. März 2017 (C‑157/15, im Folgenden: Urteil G4S Secure Solutions, EU:C:2017:203).

( 7 ) Urteil vom 14. März 2017 (C‑188/15, im Folgenden: Urteil Bougnaoui und ADDH, EU:C:2017:204).

( 8 ) In den Urteilen G4S Secure Solutions (Rn. 28) sowie Bougnaoui und ADDH (Rn. 30) hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff der Religion in Art. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen sei, dass er sowohl das forum internum, d. h. den Umstand, Überzeugungen zu haben, als auch das forum externum, d. h. die Bekundung des religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit umfasst.

( 9 ) C‑157/15, EU:C:2016:382. Generalanwältin Kokott hat in Nr. 141 ihrer Schlussanträge folgende Entscheidung vorgeschlagen: Wird einer Arbeitnehmerin muslimischen Glaubens verboten, am Arbeitsplatz ein islamisches Kopftuch zu tragen, so liegt keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 vor, wenn dieses Verbot sich auf eine allgemeine Betriebsregelung zur Untersagung sichtbarer politischer, philosophischer und religiöser Zeichen am Arbeitsplatz stützt und nicht auf Stereotypen oder Vorurteilen gegenüber einer oder mehreren bestimmten Religionen oder gegenüber religiösen Überzeugungen im Allgemeinen beruht.

( 10 ) C‑188/15, EU:C:2016:553. Generalanwältin Sharpston ist in Nr. 135 ihrer Schlussanträge zu dem Ergebnis gekommen, dass die in den Arbeitsplatzvorschriften eines Unternehmens enthaltene Regelung, die Arbeitnehmern des Unternehmens während des Kontakts mit seinen Kunden das Tragen religiöser Zeichen oder Bekleidung verbietet, eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung beinhalte.

( 11 ) Die interne Regel des Unternehmens lautete: „Es ist den Arbeitnehmern verboten, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen und/oder jeglichen Ritus, der sich daraus ergibt, zum Ausdruck zu bringen.“

( 12 ) Urteil vom 22. Januar 2019 (C‑193/17, EU:C:2019:43, Rn. 40).

( 13 ) Dem in Nr. 22 der vorliegenden Schlussanträge zitierten „Informationsblatt zum Neutralitätsgebot“ von WABE zufolge dürfen ein christliches Kreuz, ein muslimisches Kopftuch oder eine jüdische Kippa in Gegenwart der Kinder nicht getragen werden.

( 14 ) Vgl. Urteil G4S Secure Solutions (Rn. 31). Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass WABE nach dem Vorlagebeschluss von einer Arbeitnehmerin, die ein Kreuz als Halskette trug, erwirkt hat, dass sie ihre Kette ablegte.

( 15 ) Urteil vom 22. Januar 2019 (C‑193/17, EU:C:2019:43).

( 16 ) Siehe u. a. Howard, E., „Islamic headscarves and the CJEU: Achbita and Bougnaoui“, Maastricht Journal of European and Comparative Law, 2017, Bd. 24(3), S. 348 bis 366, insbesondere S. 351 bis 354; Cloots, E., „Safe harbour or open sea for corporate headscarf bans? Achbita and Bougnaoui“, Common Market Law Review, Bd. 55, 2018, S. 589 bis 624. Siehe allgemeiner Weiler, J. H. H., „Je suis Achbita: à propos d’un arrêt de la Cour de justice de l’Union européenne sur le hijab musulman (CJUE 14 mars 2017, aff. C‑157/15)“, Revue trimestrielle de droit européen, 2019, S. 85 bis 104.

( 17 ) Sie ist vielmehr Gegenstand der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl. 2006, L 204, S. 23).

( 18 ) Dazu weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die sich aus der Anwendung des Neutralitätsgebots ergebenden Verpflichtungen für die Beschäftigten von WABE in der Unternehmenszentrale mit Ausnahme der pädagogischen Fachberatung nicht gälten, da diese keinen Kundenkontakt hätten.

( 19 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil G4S Secure Solutions, Rn. 42.

( 20 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil G4S Secure Solutions (Rn. 43).

( 21 ) Vgl. Urteil Bougnaoui und ADDH (Rn. 41). In den Rn. 32 und 34 dieses Urteils hat der Gerichtshof klar danach unterschieden, ob es in dem Unternehmen eine interne Regel gibt, die eine Politik der politischen, philosophischen oder religiösen Neutralität enthält, oder nicht.

( 22 ) Vgl. Nr. 21 der vorliegenden Schlussanträge.

( 23 ) Vgl. Urteil G4S Secure Solutions (Rn. 38).

( 24 ) Urteil vom 16. Juli 2020, Adusbef und Federconsumatori (C‑686/18, EU:C:2020:567, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 25 ) Vgl. Urteil Bougnaoui und ADDH (Rn. 14).

( 26 ) Vgl. Urteil G4S Secure Solutions (Rn. 15).

( 27 ) Ich gehe davon aus, dass ein kleines Zeichen, das nicht getragen wird, um Aufmerksamkeit zu erregen, nicht als auffällig [„ostentatoire“] anzusehen ist. Der Begriff „ostentation“ [„Zurschaustellung“] wird im Wörterbuch Larousse wie folgt definiert: „[a]ffectation qu’on apporte à faire quelque chose, étalage indiscret d’un avantage ou d’une qualité, attitude de quelqu’un qui cherche à se faire remarquer“ [„etwas deutlich bemerkbar tun, Zurschaustellen eines Vorzugs oder einer Eigenschaft, Verhalten einer Person, die danach trachtet aufzufallen“]. Siehe https://www.larousse.fr/dictionnaires/francais/ostentation/56743.

( 28 ) Für mich ist klar, dass ein Arbeitgeber, der seinen Kunden gegenüber eine Politik der politischen, philosophischen oder religiösen Neutralität verfolgen will, was ein berechtigtes Ziel im Rahmen der Anwendung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ist, das Recht hat, das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen am Arbeitsplatz zu verbieten.

( 29 ) Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) entspricht das in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Recht dem Recht, das durch Art. 9 EMRK garantiert ist, und hat nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und die gleiche Tragweite wie dieses.

( 30 ) EGMR, 15. Januar 2013 (CE:ECHR:2013:0115JUD004842010). Der Gerichtshof hat übrigens auf dieses Urteil des EGMR in Rn. 39 des Urteils G4S Secure Solutions Bezug genommen.

( 31 ) EGMR, 15. Januar 2013, Eweida u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2013:0115JUD004842010, § 94). Siehe zu diesem Urteil Mathieu, C., Gutwirth, S., und de Herth, P., „La croix et les juges de la Cour européenne des droits de l’homme: les enseignements des affaires Lautsi, Eweida et Chaplin“, Journal européen des droits de l’homme, Larcier, 2013, Nr. 2, S. 238 bis 268.

( 32 ) Ich habe den Eindruck, dass meine Meinung mit der Auffassung der Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache G4S Secure Solutions (C‑157/15, EU:C:2016:382, Nr. 141), übereinstimmt, in denen sie hinsichtlich der Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung wegen der Religion im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 auf die „Größe“ und „Auffälligkeit“ des religiösen Zeichens abgestellt hat.

( 33 ) Das Urteil des EGMR vom 15. Januar 2013, Eweida u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2013:0115JUD004842010) unterscheidet sich von der Entscheidung des EGMR vom 15. Februar 2001, Dahlab/Schweiz (CE:ECHR:2001:0215DEC004239398), in der der EGMR ausgeführt hat: „Es ist sehr schwierig, die Wirkung eines deutlich sichtbaren äußeren Zeichens wie des Kopftuchs auf die Gewissens- und Religionsfreiheit von kleinen Kindern abzuschätzen. Die Klägerin unterrichtete nämlich in einer Klasse von Kindern von vier bis acht Jahren, d. h. von Kindern in einem Alter, in dem sie sich viele Fragen stellen und zugleich leichter zu beeinflussen sind als ältere Schüler. Wie kann man unter diesen Umständen von vornherein abstreiten, dass das Tragen des Kopftuchs, das den Frauen scheinbar von einer Vorschrift des Koran auferlegt wird, die, wie das Bundesgericht [Schweiz] feststellt, nur schwer mit dem Grundsatz der Gleichheit der Geschlechter vereinbar ist, möglicherweise von Bekehrungseifer zeugt. Auch dürfte das Tragen des islamischen Kopftuchs schwerlich mit der Botschaft der Toleranz, der Achtung des anderen und vor allem der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung vereinbar sein, die alle Lehrkräfte in einer Demokratie ihren Schülern vermitteln müssen“ (Hervorhebung nur hier). Unabhängig davon, dass das Urteil Eweida u. a./Vereinigtes Königreich ein privates Unternehmen und die Entscheidung Dahlab/Schweiz eine öffentliche Schule betrafen und dass die Rechtsprechung des EGMR sich möglicherweise weiterentwickelt hat, könnte der ausdrückliche Hinweis darauf, dass ein islamisches Kopftuch ein „deutlich sichtbares äußeres Zeichen“ sei, erklären, weshalb der EGMR das Verbot des islamischen Kopftuchs im Gegensatz zu einem „unauffälligen“ religiösen Zeichen als mit der EMRK vereinbar angesehen hat.

( 34 ) C‑157/15, EU:C:2016:382, Nr. 118.

( 35 ) Nach der Entscheidung des EGMR vom 15. Februar 2001, Dahlab/Schweiz (CE:ECHR:2001:0215DEC004239398), stellen der Hut, der Turban und das Kopftuch „deutlich sichtbare äußere Zeichen“ dar.

( 36 ) Urteil G4S Secure Solutions (Rn. 40).

( 37 ) Urteil G4S Secure Solutions (Rn. 42).

( 38 ) Es sei daran erinnert, dass ein Arbeitgeber keineswegs verpflichtet ist, seiner Kundschaft gegenüber eine Neutralitätspolitik zu betreiben. Es steht ihm nämlich frei, eine konfessionelle Zugehörigkeit kundzutun, die durch die von den Beschäftigten getragenen der betreffenden Religion eigenen religiösen Zeichen zum Ausdruck gebracht wird. Der Arbeitgeber kann sich ebenso gut dafür entscheiden, dem Tragen religiöser Zeichen, egal welcher Religion oder welcher Dimension, bei der Arbeit keine Grenze zu setzen.

( 39 ) Das vorlegende Gericht hat mitgeteilt, dass die Neutralitätspolitik in dem betreffenden Unternehmen auch bezwecke, Konflikte zwischen den Beschäftigten zu vermeiden. Dies ist jedoch ein anderes Ziel als das einer Neutralitätspolitik gegenüber der Kundschaft, die, worauf der Gerichtshof im Urteil G4S Secure Solutions (Rn. 38) hingewiesen hat, zur unternehmerischen Freiheit gehört. Im Hinblick auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits in der Rechtssache C‑341/19 halte ich es nicht für erforderlich, im Rahmen der vorliegenden verbundenen Rechtssachen zu prüfen, ob die Vermeidung von Konflikten zwischen den Beschäftigten ein rechtmäßiges Ziel im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ist.

( 40 ) In der zweiten Frage Buchst. a in der Rechtssache C‑804/18 wird auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Bezug genommen.

( 41 ) Nach Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 „[stellen d]ie Mitgliedstaaten … sicher, dass Verbände, Organisationen oder andere juristische Personen, die gemäß den in ihrem einzelstaatlichen Recht festgelegten Kriterien ein rechtmäßiges Interesse daran haben, für die Einhaltung der Bestimmungen dieser Richtlinie zu sorgen, sich entweder im Namen der beschwerten Person oder zu deren Unterstützung und mit deren Einwilligung an den in dieser Richtlinie zur Durchsetzung der Ansprüche vorgesehenen Gerichts- und/oder Verwaltungsverfahren beteiligen können.“ Schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, dass sie nicht verlangt, dass einem Verband in den Mitgliedstaaten die Befugnis zuerkannt werden muss, ein gerichtliches Verfahren zur Durchsetzung der Ansprüche aus dieser Richtlinie einzuleiten, wenn sich kein Geschädigter feststellen lässt (Urteil vom 23. April 2020, Associazione Avvocatura per i diritti LGBTI, C‑507/18, EU:C:2020:289, Rn. 61).

( 42 ) Urteile vom 25. April 2013, Asociația Accept (C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 37), und vom 23. April 2020, Associazione Avvocatura per i diritti LGBTI (C‑507/18, EU:C:2020:289, Rn. 63).

( 43 ) Die Kommission nennt, einen Gedanken ad absurdum führend, das Beispiel einer vollständigen Einschränkung jeder Ausübung der Glaubensüberzeugung durch einen Mitgliedstaat; diese würde zwar die Religionsfreiheit verletzen, aber nicht gegen das Verbot der Diskriminierung wegen der Religion verstoßen, da alle Einwohner dieses Mitgliedstaats gleichbehandelt würden.

( 44 ) Vgl. Urteil vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 45 ) Da die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des einzelstaatlichen Rechts unterschiedliche Zwecke haben, sind meines Erachtens die Erwägungen des Gerichtshofs im Urteil von 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60), hier nicht anwendbar, wonach es den nationalen Behörden und Gerichten, wenn ein Unionsrechtsakt nationale Durchführungsmaßnahmen erforderlich macht, weiterhin freistehe, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.

( 46 ) EGMR, 10. November 2005, Leyla Şahin/Türkei (CE:ECHR:2005:1110JUD004477498, § 109), und EGMR, 10. Januar 2017, Osmanoğlu und Kocabaş/Schweiz (CE:ECHR:2017:0110JUD002908612, § 88).

( 47 ) Siehe in diesem Sinne Loenen, M. L. P., „In search of an EU approach to headscarf bans: where to go after Achbita and Bougnaoui?“, Review of European Administrative Law, 2017, Nr. 2, S. 47 bis 73.