SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 3. September 2020 ( 1 )

Verbundene Rechtssachen C‑322/19 und C‑385/19

K. S.,

M. H. K.

gegen

The International Protection Appeals Tribunal,

The Minister for Justice and Equality,

Ireland and the Attorney General (C‑322/19)

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court [Hoher Gerichtshof, Irland])

und

Frau R. A. T.,

Herr D. S.

gegen

The Minister for Justice and Equality (C‑385/19)

(Vorabentscheidungsersuchen des International Protection Appeals Tribunal [Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes, Irland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Asylpolitik – Richtlinie 2013/33/EU – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Art. 15 – Zugang zum Arbeitsmarkt – Zugangsbedingungen – Auslegung der Voraussetzung der Eigenschaft eines ‚Antragstellers‘ – Auslegung der Voraussetzung des Fehlens einer Verzögerung, die dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann – Antragsteller, in Bezug auf die eine Überstellungsentscheidung gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ergangen ist – Nationale Rechtsvorschriften, die den Antragstellern die Eigenschaft eines Antragstellers wegen des Erlasses einer solchen Entscheidung aberkennen – Zulässigkeit“

I. Einleitung

1.

In den vorliegenden Rechtssachen wird der Gerichtshof aufgefordert, die Voraussetzungen für die Aufnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat (im Folgenden: Antragsteller), zu klären, in Bezug auf die eine nationale Behörde eine Entscheidung zur Überstellung in den Mitgliedstaat, den sie gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ( 2 ) als für die Prüfung dieses Antrags für zuständig bestimmt hat (im Folgenden: zuständiger Mitgliedstaat), erlassen hat.

2.

Die Vorlagefragen betreffen insbesondere den Zugang zum Arbeitsmarkt, bei dem es sich um einen der im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33/EU ( 3 ) handelt. Nach dieser Bestimmung tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass ein Antragsteller spätestens neun Monate nach der Stellung seines Antrags Zugang zum Arbeitsmarkt erhält, sofern noch keine erstinstanzliche Entscheidung erlassen wurde und diese Verzögerung nicht dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann.

3.

Die in Rede stehende irische Regelung sieht vor, dass der Erlass einer Überstellungsentscheidung gegenüber einem Antragsteller dazu führt, dass die betroffene Person diese Eigenschaft und das damit verbundene Recht auf eine Arbeitserlaubnis verliert ( 4 ).

4.

Entsprechend der Aufforderung durch den Gerichtshof beschränke ich mich in den vorliegenden Schlussanträgen auf eine Untersuchung der wichtigsten neuen Rechtsfragen, die sich im vorliegenden Fall stellen.

5.

Die erste Frage betrifft die Bestimmung der Begünstigten der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Maßnahme und hat insbesondere die Auslegung des Begriffs „Antragsteller“ im Hinblick auf das in dieser Bestimmung vorgesehene Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt zum Gegenstand. Mit dieser Frage, die sich an das Urteil vom 27. September 2012, Cimade und GISTI ( 5 ), anschließt, soll geklärt werden, ob ein Mitgliedstaat in Anwendung dieser Bestimmung einem Antragsteller, in Bezug auf den eine Überstellungsentscheidung ergangen ist, den Zugang zum Arbeitsmarkt verweigern darf.

6.

In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich darlegen, weshalb der Erlass einer Überstellungsentscheidung gegenüber einem Antragsteller nicht dazu führen darf, dass er diese Eigenschaft und die mit ihr verbundenen Rechte verliert.

7.

Die zweite Frage betrifft die Art der Handlungen, die zu einer Verzögerung, die dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann, im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 geführt haben können. Der Gerichtshof hat darüber zu befinden, ob eine nationale Behörde einem Antragsteller die Verzögerung zur Last legen kann, die sich aus der Durchführung eines Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ergibt, und ihm daher den Zugang zum Arbeitsmarkt mit der Begründung verweigern kann, dass er erstens seinen Antrag auf internationalen Schutz nicht in dem Mitgliedstaat seiner ersten irregulären Einreise oder – im Falle eines legalen Aufenthalts – in dem Mitgliedstaat seines Aufenthalts gestellt hat und dass er zweitens gegen die Überstellungsentscheidung, die gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 in Bezug auf ihn ergangen ist, einen Rechtsbehelf eingelegt hat.

8.

In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich erläutern, weshalb zum gegenwärtigen Stand der Vorschriften des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) keiner dieser Umstände als Ursache für eine Verzögerung, die dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann, im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 angesehen werden kann, die dazu führen könnte, dass ihm der Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat verweigert wird.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

9.

Gemäß Art. 78 AEUV besteht das Gemeinsame Europäische Asylsystem aus verschiedenen Rechtsakten, insbesondere der Richtlinie 2011/95/EU ( 6 ), die die Bedingungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes festlegt, der Richtlinie 2013/32/EU ( 7 ), die die Verfahrensmodalitäten für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz präzisiert, der Richtlinie 2013/33, um deren Auslegung im vorliegenden Fall gebeten wird und die die Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, festlegt, und der Verordnung Nr. 604/2013, die die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats festlegt.

1. Richtlinie 2011/95

10.

Gemäß Art. 1 der Richtlinie 2011/95 besteht ihr Zweck insbesondere darin, Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz festzulegen.

11.

Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) dieser Richtlinie sieht in den Abs. 1 und 2 vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

(2)   Zu den in Absatz 1 genannten Anhaltspunkten gehören Angaben des Antragstellers zu Alter und familiären und sozialen Verhältnissen – auch der betroffenen Verwandten –, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz und sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen zu diesen Angaben.“

2. Richtlinie 2013/32

12.

Mit der Richtlinie 2013/32 werden die auf die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz anwendbaren Regeln und Verfahrensgarantien festgelegt.

13.

Nach Art. 2 Buchst. p dieser Richtlinie bezeichnet der Begriff „Verbleib im Mitgliedstaat“„den Verbleib im Hoheitsgebiet … des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde oder geprüft wird“.

14.

In Kapitel II („Grundsätze und Garantien“) dieser Richtlinie heißt es in Art. 9 Abs. 1, dass „Antragsteller … ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben [dürfen], bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hat“.

15.

Art. 13 der Richtlinie 2013/32, der die „Verpflichtungen der Antragsteller“ regelt, bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten verpflichten die Antragsteller, mit den zuständigen Behörden zur Feststellung ihrer Identität und anderer in Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie [2011/95] genannter Angaben zusammenzuarbeiten. Die Mitgliedstaaten können den Antragstellern weitere Verpflichtungen zur Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden auferlegen, sofern diese Verpflichtungen für die Bearbeitung des Antrags erforderlich sind.

(2)   Die Mitgliedstaaten können insbesondere festlegen, dass

a)

die Antragsteller verpflichtet sind, sich entweder unverzüglich oder zu einem bestimmten Zeitpunkt bei den zuständigen Behörden zu melden oder dort persönlich vorstellig zu werden;

b)

die Antragsteller die in ihrem Besitz befindlichen Dokumente, die für die Prüfung des Antrags sachdienlich sind, wie zum Beispiel ihren Reisepass, vorlegen müssen;

c)

die Antragsteller verpflichtet sind, so rasch wie möglich die zuständigen Behörden über ihren jeweiligen Aufenthaltsort oder ihre Anschrift sowie sämtliche diesbezüglichen Änderungen zu unterrichten …

d)

die zuständigen Behörden den Antragsteller sowie die von ihm mitgeführten Sachen durchsuchen dürfen …

e)

die zuständigen Behörden ein Lichtbild des Antragstellers anfertigen dürfen und

f)

die zuständigen Behörden die mündlichen Aussagen des Antragstellers aufzeichnen dürfen, sofern er darüber im Voraus unterrichtet wurde.“

16.

Art. 31 Abs. 3 in Kapitel III der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass das Prüfungsverfahren innerhalb von sechs Monaten nach förmlicher Antragstellung zum Abschluss gebracht wird.

Ist ein Antrag gemäß dem Verfahren nach Maßgabe der Verordnung [Nr. 604/2013] zu behandeln, so beginnt die Sechsmonatsfrist, sobald der für die Prüfung zuständige Mitgliedstaat gemäß jener Verordnung bestimmt ist, sich der Antragsteller im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet und er von der zuständigen Behörde betreut wird.

Die Mitgliedstaaten können die in dem vorliegenden Absatz festgelegte Sechsmonatsfrist um höchstens neun weitere Monate verlängern, wenn

c)

die Verzögerung eindeutig darauf zurückzuführen ist, dass der Antragsteller seinen Pflichten nach Artikel 13 nicht nachgekommen ist.

…“

17.

Art. 32 („Unbegründete Anträge“) dieser Richtlinie bestimmt in seinem Abs. 1:

„[D]ie Mitgliedstaaten [können] einen Antrag nur dann als unbegründet betrachten, wenn die Asylbehörde festgestellt hat, dass der Antragsteller nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] erfüllt.“

18.

Art. 33 („Unzulässige Anträge“) der Richtlinie 2013/32 sieht in seinem Abs. 1 vor, dass „[z]usätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Verordnung [Nr. 604/2013] ein Antrag nicht geprüft wird, … die Mitgliedstaaten nicht prüfen [müssen], ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie [2011/95] zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird“.

19.

Art. 33 Abs. 2 dieser Richtlinie enthält eine abschließende Aufzählung der Fälle, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag als unzulässig betrachten können.

3. Richtlinie 2013/33

20.

Gemäß Art. 1 der Richtlinie 2013/33 besteht ihr Zweck in der Festlegung von Normen für die Aufnahme von Antragstellern auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten.

21.

In den Erwägungsgründen 8, 11, 12, 13, 23 und 35 dieser Richtlinie heißt es:

„(8)

Um eine … Gleichbehandlung von Antragstellern [in der gesamten Europäischen Union] sicherzustellen, sollte diese Richtlinie in allen Phasen und auf alle Arten von Verfahren, die Anträge auf internationalen Schutz betreffen, in allen Räumlichkeiten und Einrichtungen für die Unterbringung von Antragstellern und so lange, wie sie als Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats bleiben dürfen, Anwendung finden.

(11)

Es sollten Normen für die Aufnahme von Antragstellern festgelegt werden, die diesen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und vergleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten gewährleisten.

(12)

Einheitliche Bedingungen für die Aufnahme von Antragstellern sollten dazu beitragen, die auf unterschiedliche Aufnahmevorschriften zurückzuführende Sekundärmigration von Antragstellern einzudämmen.

(13)

Im Interesse der Gleichbehandlung aller Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, und um die Übereinstimmung mit dem geltenden Asylrecht der EU … zu wahren, empfiehlt es sich, den Anwendungsbereich dieser Richtlinie auf Personen auszudehnen, die subsidiären Schutz beantragt haben.

(23)

Um die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Antragstellern zu fördern und erhebliche Diskrepanzen zwischen den Mitgliedstaaten zu begrenzen, muss der Zugang der Antragsteller zum Arbeitsmarkt klar geregelt werden.

(35)

Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union[ ( 8 )] anerkannt wurden. Sie zielt vor allem darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung der Artikel 1, 4, 6, 7, 18, 21, 24 und 47 der Charta zu fördern, und muss entsprechend umgesetzt werden.“

22.

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2013/33 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

b)

‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde;

f)

‚im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährte Vorteile‘ sämtliche Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Richtlinie zugunsten von Antragstellern treffen;

g)

‚im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen‘, Unterkunft, Verpflegung und Kleidung in Form von Sach- oder Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination davon sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs;

…“

23.

Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie gilt sie „für alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats … Antrag auf internationalen Schutz beantragen, solange sie als Antragsteller im Hoheitsgebiet verbleiben dürfen“.

24.

Art. 15 der Richtlinie – um dessen Auslegung hier gebeten wird – in deren Kapitel II („Allgemeine Bestimmungen über die im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile“) lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Antragsteller spätestens neun Monate nach der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz Zugang zum Arbeitsmarkt erhält, sofern die zuständige Behörde noch keine erstinstanzliche Entscheidung erlassen hat und diese Verzögerung nicht dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann.

(2)   Die Mitgliedstaaten beschließen nach Maßgabe ihres einzelstaatlichen Rechts, unter welchen Voraussetzungen dem Antragsteller Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt wird, wobei sie gleichzeitig für einen effektiven Arbeitsmarktzugang für Antragsteller sorgen.

Aus Gründen der Arbeitsmarktpolitik können die Mitgliedstaaten Bürgern der Union, Angehörigen der Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum und rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen Vorrang einräumen.

(3)   Das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt darf während eines Rechtsbehelfsverfahrens, bei dem Rechtsmittel gegen eine ablehnende Entscheidung in einem Standardverfahren aufschiebende Wirkung haben, bis zum Zeitpunkt, zu dem die ablehnende Entscheidung zugestellt wird, nicht entzogen werden.“

4. Verordnung Nr. 604/2013

25.

Gemäß Art. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 besteht ihr Zweck in der Festlegung der Kriterien und Verfahren, die bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Anwendung gelangen.

26.

Die Erwägungsgründe 11, 12 und 19 dieser Verordnung lauten:

„(11)

Die Richtlinie [2013/33] sollte vorbehaltlich der Einschränkungen der Anwendung jener Richtlinie auf das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach Maßgabe dieser Verordnung Anwendung finden.

(12)

Die Richtlinie [2013/32] sollte zusätzlich und unbeschadet der Bestimmungen über die in dieser Verordnung geregelten Verfahrensgarantien vorbehaltlich der Beschränkungen der Anwendung dieser Richtlinie gelten.

(19)

Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Artikel 47 der [Charta] Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.“

27.

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 in deren Kapitel II („Allgemeine Grundsätze und Schutzgarantien“) bestimmt: „Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.“

28.

Art. 20 Abs. 1 dieser Verordnung in deren Kapitel VI („Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren“) bestimmt: „Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird.“

29.

Art. 26 Abs. 1 dieser Verordnung in Abschnitt IV („Verfahrensgarantien“) dieses Kapitels bestimmt insbesondere: „Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme oder Wiederaufnahme eines Antragstellers … zu, setzt der ersuchende Mitgliedstaat die betreffende Person von der Entscheidung in Kenntnis, sie in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, sowie gegebenenfalls von der Entscheidung, ihren Antrag auf internationalen Schutz nicht zu prüfen.“

30.

Art. 27 („Rechtsmittel“) der Verordnung Nr. 604/2013 sieht vor:

„(1)   Der Antragsteller … hat das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.

(3)   Zum Zwecke eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung sehen die Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht Folgendes vor:

a)

dass die betroffene Person aufgrund des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung berechtigt ist, bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs … im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben …“

B.   Irisches Recht

31.

Im Anschluss an die Anwendung von Art. 4 des Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ( 9 ) wurden durch die European Communities (Receptions Conditions) Regulations 2018 (Verordnung von 2018 betreffend die Europäischen Gemeinschaften [Aufnahmebedingungen]) (im Folgenden: Verordnung von 2018) die Bestimmungen der Richtlinie 2013/33 mit Wirkung vom 30. Juni 2018 in irisches Recht umgesetzt.

32.

Regulation 2 der Verordnung von 2018 sieht in den Abs. 2 und 3 vor:

„(2)   Für die Zwecke dieser Verordnung gilt, dass ein Antragsteller, wenn in Bezug auf ihn eine Überstellungsentscheidung im Sinne der [European Union (Dublin System) Regulations 2018 ( 10 )] ergangen ist, ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Entscheidung gemäß Regulation 5 Abs. 2 dieser Verordnung

a)

nicht länger Antragsteller ist und

b)

als Empfänger, nicht aber als Antragsteller angesehen wird.

(3)   Für die Zwecke dieser Verordnung gilt eine Person, die gemäß Regulation 16 Abs. 2 der [European Union (Dublin System) Regulations 2018) beim International Protection Appeals Tribunal [Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes, Irland] einen Rechtsbehelf eingelegt hat, über den dieses Gericht noch nicht entschieden hat, nicht als Antragsteller, sondern als Empfänger.“

33.

Regulation 11 Abs. 3 und 4 der Verordnung von 2018, mit der Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 umgesetzt wird, bestimmt:

„(3)   Ein Antragsteller kann eine Arbeitserlaubnis beantragen

b)

frühestens acht Monate nach Einreichung seines Antrags [auf internationalen Schutz].

(4)   Der Minister for Justice and Equality [Minister für Justiz und Gleichstellung, Irland] kann dem Antragsteller eine Erlaubnis [für den Zugang zum Arbeitsmarkt] erteilen, wenn

a)

vorbehaltlich von Abs. 6 seit dem Zeitpunkt der Antragstellung neun Monate verstrichen sind und bis zu diesem Zeitpunkt keine erstinstanzliche Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Schutz ergangen ist und

b)

die in Buchst. a genannte Situation nicht ganz oder teilweise dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann.“

III. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

34.

Die Fragen, die vom High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) in der Rechtssache The International Protection Appeals Tribunal u. a. (C‑322/19) und vom International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (C‑385/19) zur Vorabentscheidung vorgelegt worden sind, stellen sich im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen Drittstaatsangehörigen und dem Minister für Justiz und Gleichstellung, in denen es um die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen geht, mit denen ihnen als Personen, die internationalen Schutz beantragen und um deren Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 ersucht worden war, die Erlaubnis für den Zugang zum Arbeitsmarkt verweigert wurde.

35.

Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 14. Juni 2019 sind die beiden Rechtssachen zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.

A.   Rechtssache C‑322/19

36.

K. S. verließ im Februar 2010 Pakistan und begab sich in das Vereinigte Königreich. In diesem Mitgliedstaat stellte er keinen Antrag auf internationalen Schutz. Im Mai 2015 reiste er nach Irland, wo er einen solchen Antrag stellte. Nachdem am 9. März 2016 entschieden worden war, ihn in das Vereinigte Königreich zu überstellen, legte er beim Refugee Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Flüchtlingssachen, Irland) gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf ein, der am 17. August 2016 zurückgewiesen wurde. K. S. strengte daraufhin ein gerichtliches Überprüfungsverfahren vor dem High Court (Hoher Gerichtshof) an, das aufschiebende Wirkung hat.

37.

M. H. K. verließ Bangladesch am 24. Oktober 2009 und begab sich in das Vereinigte Königreich. Nachdem seine Aufenthaltserlaubnis in diesem Mitgliedstaat abgelaufen war und bevor über seinen Antrag auf Verlängerung dieses Titels entschieden wurde, reiste er am 4. September 2014 nach Irland, wo er am 16. Februar 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Nachdem am 25. November 2015 entschieden worden war, ihn in das Vereinigte Königreich zu überstellen, legte er beim Refugee Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Flüchtlingssachen) gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf ein, der am 30. März 2016 zurückgewiesen wurde. M. H. K. strengte daraufhin unter Berufung auf Art. 17 der Verordnung Nr. 604/2013 ein gerichtliches Überprüfungsverfahren vor dem High Court (Hoher Gerichtshof) an. Dieses Verfahren ist noch anhängig und hat aufschiebende Wirkung.

38.

K. S. und M. H. K. beantragten gemäß Regulation 11 Abs. 3 der Verordnung von 2018 bei der Labour Market Access Unit of the Department of Justice and Equality (Abteilung Zugang zum Arbeitsmarkt beim Ministerium für Justiz und Gleichstellung, Irland) eine Erlaubnis für den Zugang zum Arbeitsmarkt. Nach der Zurückweisung ihrer Anträge legten sie jeweils Widerspruch ein. Dieser wurde ebenfalls zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung legten sie beim International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) einen Rechtsbehelf ein. Mit Urteil vom 11. September 2018 bestätigte dieses Gericht die gegenüber K. S. erlassene ablehnende Entscheidung mit der Begründung, dass nach den einschlägigen nationalen Vorschriften Antragsteller, gegen die ein Überstellungsverfahren gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 laufe, kein Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt hätten. Mit Urteil vom 17. Oktober 2018 wies das International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) auch den von M. H. K. eingelegten Rechtsbehelf zurück und stellte u. a. fest, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt nicht zu den „im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“ gehöre. K. S. und M. H. K. beantragten daraufhin beim High Court (Hoher Gerichtshof) die gerichtliche Überprüfung dieser Urteile.

39.

Der High Court (Hoher Gerichtshof) hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Darf bei der Auslegung eines Rechtsakts der Union, der in einem bestimmten Mitgliedstaat Anwendung findet, ein Rechtsakt herangezogen werden, der zur gleichen Zeit erlassen wurde, in dem betreffenden Mitgliedstaat aber keine Anwendung findet?

2.

Findet Art. 15 der Richtlinie 2013/33 auf eine Person Anwendung, in Bezug auf die eine Überstellungsentscheidung nach der Verordnung Nr. 604/2013 ergangen ist?

3.

Darf ein Mitgliedstaat bei der Umsetzung von Art. 15 der Richtlinie 2013/33 eine allgemeine Maßnahme erlassen, die im Ergebnis Antragstellern, die gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 zu überstellen sind, jegliche Verzögerungen bei oder nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung zurechnet?

4.

Kann in dem Fall, dass ein Antragsteller einen Mitgliedstaat verlässt, ohne dort einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben, und in einen anderen Mitgliedstaat reist, in dem er einen solchen Antrag stellt und in dem in Bezug auf ihn nach der Verordnung Nr. 604/2013 eine Entscheidung über die Rücküberstellung in den ersten Mitgliedstaat ergeht, die daraus resultierende Verzögerung bei der Bearbeitung des Schutzantrags im Rahmen von Art. 15 der Richtlinie 2013/33 dem Antragsteller zugerechnet werden?

5.

Kann in dem Fall, dass in Bezug auf einen Antragsteller eine Überstellungsentscheidung nach der Verordnung Nr. 604/2013 ergangen ist, sich die Überstellung aber wegen eines gerichtlichen Überprüfungsverfahrens verzögert, das der Antragsteller angestrengt hat und infolge dessen der High Court (Hoher Gerichtshof) den Vollzug der Überstellungsentscheidung ausgesetzt hat, die daraus resultierende Verzögerung bei der Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen von Art. 15 der Richtlinie 2013/33 dem Antragsteller entweder im Allgemeinen oder insbesondere dann zugerechnet werden, wenn in dem Verfahren festgestellt werden sollte, dass die gerichtliche Überprüfung – offensichtlich oder nicht – unbegründet oder rechtsmissbräuchlich ist?

B.   Rechtssache C‑385/19

40.

Frau R. A. T., eine irakische Staatsangehörige, stellte am 7. März 2018 in Irland einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Schreiben vom 2. Oktober 2018 wurde sie von der Entscheidung in Kenntnis gesetzt, sie gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 in das Vereinigte Königreich zu überstellen. Sie legte daraufhin beim International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) am 18. Oktober 2018 gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf ein. Dieser Rechtsbehelf ist noch anhängig.

41.

Herr D. S., ein irakischer Staatsangehöriger, erklärte, er habe den Irak am 1. August 2015 verlassen und sei über die Türkei und Griechenland nach Österreich gereist. Er stellte in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz, verließ diesen Mitgliedstaat jedoch, bevor über seinen Antrag entschieden wurde. Herr D. S. stellte am 8. Februar 2016 in Irland einen neuen Antrag auf internationalen Schutz. Die irischen Behörden entschieden, ihn gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 604/2013 nach Österreich zu überstellen. Herr D. S. legte beim International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf ein, der zurückgewiesen wurde. Er strengte vor dem High Court (Hoher Gerichtshof) ein gerichtliches Überprüfungsverfahren an, das noch anhängig ist.

42.

Frau R. A. T. und Herr D. S. beantragten gemäß Regulation 11 Abs. 3 der Verordnung von 2018 den Zugang zum Arbeitsmarkt. Ihre Anträge wurden mit der Begründung abgelehnt, dass sie aufgrund der Entscheidung, sie gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen, keine Antragsteller mehr seien und nun nach der Verordnung von 2018 als Empfänger anzusehen seien. Folglich könne ihnen kein Zugang zum irischen Arbeitsmarkt gewährt werden. Frau R. A. T. und Herr D. S. legten daraufhin beim International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) gegen diese Entscheidungen einen Rechtsbehelf ein.

43.

Das International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sieht Art. 15 der Richtlinie 2013/33 verschiedene Kategorien von „Antragstellern“ vor?

2.

Welches Verhalten stellt eine Verzögerung, die dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann, im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dar?

IV. Würdigung

44.

Ich halte es für zweckmäßig, der Prüfung der Vorlagefragen einige Vorbemerkungen voranzustellen.

A.   Vorbemerkungen

45.

Die erste Vorbemerkung betrifft den Umfang der vorliegenden Schlussanträge. Entsprechend der Aufforderung durch den Gerichtshof konzentriere ich mich in den vorliegenden Schlussanträgen auf zwei Fragestellungen, die in den Fragen 2 bis 5 der Rechtssache C‑322/19 und in den beiden Fragen der Rechtssache C‑385/19 aufgeworfen werden.

46.

Bei der ersten Fragestellung geht es darum, wer über das in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 vorgesehene Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt verfügt. Während der High Court (Hoher Gerichtshof) mit seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑322/19 den Gerichtshof fragt, ob einem Antragsteller, in Bezug auf den eine Überstellungsentscheidung ergangen ist, dieses Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt zusteht, möchte das International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) wiederum mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑385/19 wissen, ob im Rahmen dieser Bestimmung verschiedene Kategorien von Antragstellern unterschieden werden können.

47.

Die zweite Fragestellung betrifft die Umstände, unter denen ein Mitgliedstaat einem Antragsteller eine Verzögerung bei der Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 zur Last legen kann, wenn diese Verzögerung auf ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückzuführen ist, und ihm daher den Zugang zum Arbeitsmarkt verweigern kann. Während das International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) mit seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑385/19 den Gerichtshof ersucht, die Art der Handlungen, die zu einer solchen Verzögerung führen können, zu präzisieren, bezieht sich der High Court (Hoher Gerichtshof) mit seinen Fragen 4 und 5 in der Rechtssache C‑322/19 auf zwei bestimmte Handlungen, die eine Verzögerung, die dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann, darstellen könnten. So geht es zum einen um den Fall, dass er seinen Antrag nicht in dem Mitgliedstaat seiner ersten irregulären Einreise oder – im Falle eines legalen Aufenthalts – in dem Mitgliedstaat seines Aufenthalts gestellt hat; die Prüfung seines Antrags erfordert dann die Einleitung eines (Wieder)Aufnahmeverfahrens und gegebenenfalls eines Verfahrens zur Überstellung der betroffenen Person in diesen Staat. Zum anderen geht es um den Fall, dass der Antragsteller gegen die Überstellungsentscheidung, die gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 in Bezug auf ihn ergangen ist, einen Rechtsbehelf eingelegt hat.

48.

Bei der Prüfung dieser Fragen sind noch andere Vorschriften des Unionsrechts zu berücksichtigen als diejenigen, die in den Vorlagefragen ausdrücklich genannt werden, insbesondere vom Unionsgesetzgeber in den Richtlinien 2011/95 und 2013/32 aufgestellte materiell- und verfahrensrechtliche Vorschriften.

B.   Zur Bestimmung der Personen, die ein Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 haben

49.

Der High Court (Hoher Gerichtshof) – mit seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑322/19 – und das International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) – mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑385/19 – möchten vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einem Antragsteller, in Bezug auf den die Behörden dieses Mitgliedstaats eine Entscheidung zur Überstellung in den Mitgliedstaat erlassen haben, den sie gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 als zuständig bestimmt haben, Zugang zum Arbeitsmarkt gewähren muss.

50.

Diese Frage ist eindeutig zu bejahen. Dies ergibt sich aus einer wörtlichen, systematischen und teleologischen Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 und den vom Gerichtshof im Urteil Cimade und GISTI herausgearbeiteten Grundsätzen. Ich erinnere daran, dass der Gerichtshof in der Rechtssache, die zu diesem Urteil geführt hat, danach gefragt worden war, ob ein Mitgliedstaat, der mit einem an seiner Grenze oder in seinem Hoheitsgebiet gestellten Asylantrag befasst ist, einem Antragsteller die in der Richtlinie 2003/9/EG ( 11 ) vorgesehenen Mindestbedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern gewähren muss, wenn er gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 beschließt, einen anderen Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags der betroffenen Person zuständigen Mitgliedstaat um deren (Wieder)Aufnahme zu ersuchen. Die Bestimmungen, um die es in der Rechtssache, die zu dem Urteil Cimade und GISTI geführt hat, ging, waren im Wesentlichen dieselben wie diejenigen, um deren Auslegung im vorliegenden Fall gebeten wird. Die Rechtssachen unterscheiden sich jedoch in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist der Zugang zum Arbeitsmarkt keine Mindestaufnahmebedingung oder materielle Leistung im Rahmen der Aufnahme im Sinne der Richtlinien 2003/9 und 2013/33. Das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt ist nämlich nicht darauf gerichtet, ein wesentliches oder lebenswichtiges Bedürfnis des Antragstellers zu befriedigen. Zum anderen ist das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats in den Ausgangsverfahren weiter fortgeschritten als das Verfahren in der Rechtssache, die zum Urteil Cimade und GISTI geführt hat, da in den Ausgangsverfahren bereits eine Überstellungsentscheidung in Bezug auf die betroffenen Personen ergangen ist.

1. Wörtliche Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33

51.

Als Erstes geht aus dem Wortlaut des Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 hervor, dass dem „Antragsteller“ Zugang zum Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats zu gewähren ist.

52.

Nach Art. 2 Buchst. b dieser Richtlinie bezeichnet der Begriff „Antragsteller“„einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde“.

53.

Zunächst ist festzustellen, dass sich der Unionsgesetzgeber hier auf die Definition des Begriffs „Antragsteller“ bezieht, die allen Vorschriften des GEAS ( 12 ) gemeinsam ist. Zum gegenwärtigen Stand des Unionsrechts wird nämlich in keiner der Rechtsvorschriften dieses Systems eine spezielle Definition verwendet und im Übrigen auch dem Antragsteller, der einem (Wieder)Aufnahmeverfahren und einem Überstellungsverfahren gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 unterliegt, kein eigener Rechtsstatus eingeräumt. Im Urteil Cimade und GISTI hat der Gerichtshof im Hinblick auf den Wortlaut von Art. 2 und 3 der Richtlinie 2003/9 bereits festgestellt, dass es nur eine Kategorie von Personen, die internationalen Schutz beantragen, gibt, die alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen umfasst, die einen Asylantrag stellen ( 13 ).

54.

Was die Definition des Begriffs „Antragsteller“ in Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 anbelangt, weise ich zunächst darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber, indem er in der französischen Sprachfassung das Indefinitpronomen „tout [ressortissant de pays tiers ou tout apatride]“ und in der englischen Sprachfassung den unbestimmten Artikel „a [third-country national or a stateless person]“ verwendet, zeigt, dass kein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser a priori von der Eigenschaft eines Antragstellers ausgeschlossen ist. Auch wenn der Gesetzgeber im Weiteren verlangt, dass diese Person einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist festzustellen, dass er für die Erfüllung dieser Voraussetzung nicht fordert, dass dieser Antrag beim zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung Nr. 604/2013 gestellt wurde ( 14 ). Außerdem möchte ich anmerken, dass nach dem Wortlaut dieser Definition die betroffene Person diese Eigenschaft behält, solange „über [ihren Antrag auf internationalen Schutz] noch nicht endgültig entschieden wurde“. Dem Gerichtshof zufolge verliert die betroffene Person ihre Eigenschaft eines Antragstellers daher erst, wenn eine endgültige Entscheidung über ihren Antrag ergangen ist ( 15 ). Dies bedeutet, dass eine Verwaltungsbehörde und gegebenenfalls ein Gericht eine endgültige Entscheidung über die Anerkennung als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz getroffen haben müssen.

55.

Eine auf der Grundlage von Art. 26 der Verordnung Nr. 604/2013 erlassene Überstellungsentscheidung stellt jedoch keine „endgültige Entscheidung“ über den Antrag auf internationalen Schutz dar, die allein zum Verlust der Eigenschaft eines Antragstellers führen könnte.

56.

Wie der Gerichtshof im Urteil vom 31. Mai 2018, Hassan ( 16 ), betont hat, ist die Überstellungsentscheidung Teil eines besonderen Verfahrens, das mit der Verordnung Nr. 604/2013 für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats eingeführt wurde, und einer genauen Verfahrensabfolge, die in den Art. 26 und 27 dieser Verordnung festgelegt ist.

57.

Eine Überstellungsentscheidung ist weder eine Entscheidung über die Zulässigkeit des Antrags noch eine Entscheidung über dessen Begründetheit. Aus Art. 33 der Richtlinie 2013/32 ergibt sich nämlich, dass ein Mitgliedstaat, wenn ein Antrag nicht nach Maßgabe der Verordnung Nr. 604/2013 geprüft wird – was beim Erlass einer Überstellungsentscheidung nach Art. 26 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 der Fall ist –, diesen Antrag nicht als unzulässig betrachten kann ( 17 ). Er muss auch nicht prüfen, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes erfüllt ( 18 ). Der Erlass einer Überstellungsentscheidung bedeutet nämlich, dass die Zuständigkeit für diese Prüfung den Behörden des als zuständig bestimmten Mitgliedstaats übertragen wird ( 19 ).

58.

Angesichts dessen darf der Erlass einer Überstellungsentscheidung, da sie keine endgültige Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz ist, nicht dazu führen, dass die betroffene Person ihre Eigenschaft eines „Antragstellers“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 und die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte verliert.

59.

Als Zweites ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33, dass ein Antragsteller spätestens neun Monate nach der Stellung seines Antrags Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten muss, bis die zuständige Behörde eine „erstinstanzliche Entscheidung“ erlassen hat. Darüber hinaus dauert gemäß Art. 15 Abs. 3 dieser Richtlinie der Zeitraum, in dem der Antragsteller diesen Zugang beanspruchen kann, im Falle eines Rechtsbehelfs gegen eine ablehnende Entscheidung bis zu dem Zeitpunkt, zu dem ihm die Zurückweisung des Rechtsbehelfs mitgeteilt wird.

60.

Der Unionsgesetzgeber gibt in der Richtlinie 2013/33 keine Definition des Begriffs „erstinstanzliche Entscheidung“. Hierzu ist auf die Vorschriften in Kapitel III der Richtlinie 2013/32 zu verweisen. Aus den Bestimmungen der Art. 32 und 33 dieser Richtlinie ergibt sich, dass es sich bei einer erstinstanzlichen Entscheidung um eine Entscheidung handelt, mit der die Asylbehörde entweder über die Zulässigkeit des Antrags auf internationalen Schutz oder über dessen Begründetheit eines solchen Antrags entscheidet. Ich erinnere jedoch daran, dass die zuständige nationale Behörde mit dem Erlass einer Überstellungsentscheidung weder über die Zulässigkeit noch über die Begründetheit entscheidet. Ich möchte außerdem anmerken, dass, wenn diese Behörde die Überstellungsentscheidung mit der Entscheidung verbindet, den Antrag auf internationalen Schutz nicht zu prüfen, die zuletzt genannte Entscheidung ebenfalls nicht zu den Fällen gehört, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag im Sinne von Art. 33 der Richtlinie 2013/32 als unzulässig betrachten können. In diesem Zusammenhang stellt weder die gemäß Art. 26 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 erlassene Überstellungsentscheidung noch gegebenenfalls die Entscheidung, mit der die zuständige nationale Behörde beschließt, den Antrag auf internationalen Schutz nicht zu prüfen, eine „erstinstanzliche Entscheidung“ im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dar, die allein das in dieser Bestimmung vorgesehene Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt beenden kann.

61.

Unter diesen Umständen darf der Erlass einer Überstellungsentscheidung nicht dazu führen, dass die betroffene Person ihre Eigenschaft eines Antragstellers und ihr in Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenes Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt verliert.

62.

Dies bedeutet, dass für jede Person, die bei den Behörden eines Mitgliedstaats einen Antrag auf internationalen Schutz stellt, davon ausgegangen wird, dass sie ein Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Sinne von Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie hat, selbst wenn der Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags nicht zuständig ist und nicht über dessen Zulässigkeit oder Begründetheit entschieden hat.

2. Zur Systematik, in die sich Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 einfügt

63.

Als Erstes weise ich darauf hin, dass sich der Anwendungsbereich der Richtlinie 2013/33, wie er in ihrem Art. 3 Abs. 1 definiert ist, auf „alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen [erstreckt], die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats … internationalen Schutz beantragen, solange sie als Antragsteller im Hoheitsgebiet verbleiben dürfen“ ( 20 ).

64.

Die Voraussetzung, dass dem Antragsteller der Verbleib im Hoheitsgebiet gestattet werden muss, ist angesichts des Zwecks dieser Richtlinie zwingend. Gemäß ihrem Art. 1 besteht ihr Zweck nämlich in der Festlegung von „Normen für die Aufnahme von Antragstellern“. Von einer Aufnahme kann jedoch nur in dem Mitgliedstaat die Rede sein, in dessen Hoheitsgebiet sich der Antragsteller aufhält und verbleiben darf, weil er dort einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

65.

Ich weise darauf hin, dass der Begriff „Verbleib im Mitgliedstaat“ in Art. 2 Buchst. p der Richtlinie 2013/32 definiert ist und als der „Verbleib im Hoheitsgebiet … des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde oder geprüft wird“ auszulegen ist. Wie der Gerichtshof im Urteil Cimade und GISTI entschieden hat, bedeutet dies, dass der Antragsteller nicht nur im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf, in dem sein Antrag geprüft wird, sondern auch im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem dieser Antrag gestellt wurde ( 21 ).

66.

Die Voraussetzung, dass dem Antragsteller der Verbleib im Hoheitsgebiet gestattet werden muss, ermöglicht es somit, die Gewährung der Aufnahmebedingungen in jeder Phase des Verfahrens zur Prüfung des Antrags sicherzustellen. Dies ist insbesondere der Sinn des achten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2013/33, nach dem diese Richtlinie, um eine unionsweite Gleichbehandlung der Antragsteller sicherzustellen, „in allen Phasen und auf alle Arten von Verfahren, die Anträge auf internationalen Schutz betreffen, in allen Räumlichkeiten und Einrichtungen für die Unterbringung von Antragstellern und so lange, wie sie als Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats bleiben dürfen, Anwendung finden [sollte]“.

67.

Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach der Verordnung Nr. 604/2013 ist seinem Wesen nach ein „Verfahren, das Anträge auf internationalen Schutz betrifft“. Es handelt sich um ein Verwaltungsverfahren, mit dem gemäß Art. 1 dieser Verordnung die Kriterien und Verfahren festgelegt werden, die bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Anwendung gelangen.

68.

So wird gemäß Art. 20 Abs. 1 dieser Verordnung das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird. Im elften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 604/2013 fügt der Unionsgesetzgeber hinzu, dass „[d]ie Richtlinie [2013/33] auf das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach Maßgabe dieser Verordnung Anwendung finden [sollte]“. Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wird in der Regel durchgeführt, während sich der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats befindet. Im Interesse der vom Unionsgesetzgeber angestrebten Gleichbehandlung ist es daher unabdingbar, dass dem Antragsteller, in Bezug auf den eine Überstellungsentscheidung ergangen ist, die in der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Aufnahmebedingungen gewährt werden. Art. 27 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 604/2013 räumt einem Antragsteller, in Bezug auf den eine solche Entscheidung ergangen ist, darüber hinaus ausdrücklich das Recht ein, „im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben“, wenn er gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf eingelegt hat, und zwar bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs.

69.

Ein solcher Antragsteller fällt daher in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2013/33, so dass er nicht a priori von der Gewährung der in dieser Richtlinie vorgesehenen Aufnahmebedingungen ausgeschlossen werden kann.

70.

In diesem Sinne hat der Gerichtshof im Urteil Cimade und GISTI entschieden. Er hat nämlich festgestellt, dass „nur die tatsächliche Überstellung des [Antragstellers] durch den ersuchenden Mitgliedstaat seine Prüfung des [Antrags] und seine Zuständigkeit für die Gewährung der Mindestbedingungen für die Aufnahme beendet“ ( 22 ). Diese Rechtsprechung gilt in gleicher Weise für die Gewährung anderer als den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen, wie dem Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Voraussetzung, dass dem Antragsteller der Verbleib im Hoheitsgebiet gestattet werden muss, gilt nämlich unabhängig von der Art der Bedürfnisse, die der Unionsgesetzgeber zu befriedigen sucht.

71.

Als Zweites weise ich darauf hin, dass gemäß Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 die Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt unter Beachtung des Effektivitätsgrundsatzes festlegen müssen.

72.

Während der Unionsgesetzgeber in den Art. 17, 18 und 20 dieser Richtlinie relativ detaillierte Bestimmungen hinsichtlich der Voraussetzungen für die Gewährung, die Einschränkung und den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen festlegt, ist festzustellen, dass er hinsichtlich der Voraussetzungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt keine entsprechenden Bestimmungen vorsieht ( 23 ). Er überlässt es somit den Mitgliedstaaten, nach Maßgabe ihres nationalen Rechts die Voraussetzungen zu beschließen, unter denen sie diesen Zugang gewähren.

73.

Ich stelle jedoch fest, dass der Unionsgesetzgeber zwei Vorbehalte vorsieht.

74.

Erstens müssen die Mitgliedstaaten, auch wenn sie weitere als die in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 ausdrücklich genannten Voraussetzungen vorsehen dürfen, für einen effektiven Zugang zum Arbeitsmarkt sorgen. Mit anderen Worten dürfen in Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften die von dem jeweiligen Mitgliedstaat festgelegten Bedingungen für den Zugang zu diesem Markt die Ausübung dieses vom Unionsrecht verliehenen Rechts nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren ( 24 ). In diesem Zusammenhang scheint eine nationale Regelung, die darauf gerichtet ist, dem Antragsteller diese Eigenschaft mit der Begründung abzuerkennen, dass gegen ihn ein Überstellungsverfahren laufe, dem vom Unionsgesetzgeber aufgestellten Grundsatz zu widersprechen, da sie den Antragsteller daran hindert, die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte auszuüben.

75.

Zweitens können die Mitgliedstaaten zwar aus Gründen der Arbeitsmarktpolitik bestimmten Bevölkerungsgruppen Vorrang einräumen, jedoch nur, wenn es sich um Bürger der Union, Angehörige der Vertragsstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums oder rechtmäßig aufhältige Drittstaatsangehörige handelt. Aus Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 folgt, dass es daher nicht zulässig ist, aus Gründen der nationalen Arbeitsmarktpolitik zwischen den Antragstellern danach zu unterscheiden, ob ihr Antrag vom Aufnahmemitgliedstaat oder von dem Mitgliedstaat, den die zuständigen nationalen Behörden gemäß den Kriterien der Verordnung Nr. 604/2013 als zuständig bestimmt haben, geprüft wird.

76.

Der Kontext und die allgemeine Systematik der Richtlinie 2013/33 sprechen daher ebenfalls dafür, Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass der Erlass einer Überstellungsentscheidung nicht dazu führen darf, dass die betroffene Person ihre Eigenschaft eines Antragstellers und das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt, das ihr mit dieser Bestimmung gewährt wird, verliert.

77.

Meines Erachtens wird diese Auslegung vom Zweck dieser Richtlinie und von der Pflicht zur Wahrung der Grundrechte bestätigt.

3. Teleologische Analyse der Richtlinie 2013/33

78.

Gemäß dem 35. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 bilden die Grundrechte den Bezugsrahmen für die Normen für die Aufnahme von Antragstellern. Mit den in Kapitel II der Richtlinie festgelegten Bestimmungen soll daher ein wirksamer Schutz des Antragstellers im Aufnahmemitgliedstaat gewährleistet werden, indem seine Bedürfnisse kontinuierlich und in einer Weise, die seine Grundrechte und insbesondere seine Würde achtet sowie die Gleichbehandlung gewährleistet, befriedigt werden.

79.

Die in der Richtlinie 2013/33 festgelegten Aufnahmebedingungen beziehen sich in erster Linie auf die Befriedigung der grundlegenden und unmittelbaren Bedürfnisse des Antragstellers. Diese Bedingungen sind in Art. 2 Buchst. g der Richtlinie unter dem Begriff „im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen“ (Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs) definiert. Der Gerichtshof hat im Urteil Cimade und GISTI entschieden, dass einem Antragsteller diese Bedingungen nicht entzogen werden dürfen, selbst wenn dies nur vorübergehend nach Einreichung seines Antrags und vor seiner tatsächlichen Überstellung geschieht, da sonst der Zweck der Richtlinie 2003/9 und das Gebot nach Art. 1 der Charta, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, missachtet würden ( 25 ).

80.

Mit den in der Richtlinie 2013/33 festgelegten Aufnahmebedingungen soll außerdem den sonstigen Bedürfnissen des Antragstellers während seines möglicherweise längeren Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats nachgekommen werden. Auch wenn diese Bedingungen nicht auf eine Befriedigung der Grundbedürfnisse gerichtet sind, sollen sie doch die Achtung der in der Charta festgelegten Grundrechte gewährleisten, wie die Einheit der Familie (Art. 7 der Charta und Art. 12 der Richtlinie 2013/33), der Schutz der Kinder (Art. 24 der Charta und Art. 23 der Richtlinie 2013/33), das Recht auf allgemeine und berufliche Bildung (Art. 14 der Charta und die Art. 14 und 16 der Richtlinie 2013/33), der Zugang zu medizinischer Versorgung (Art. 35 der Charta und die Art. 13 und 19 der Richtlinie 2013/33) oder aber das Recht zu arbeiten (Art. 15 der Charta und Art. 15 der Richtlinie 2013/33). Wie die Schulbildung von Minderjährigen soll daher der Zugang zum Arbeitsmarkt dazu dienen, ein objektives Bedürfnis des Antragstellers während seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zu befriedigen.

81.

Ein Mitgliedstaat kann daher einem Antragsteller diese Aufnahmebedingungen nicht verweigern, ohne Gefahr zu laufen, die mit der Richtlinie 2013/33 verfolgten Ziele und die Grundrechte, die der Antragsteller aus der Charta ableitet, zu missachten.

82.

Als Erstes bringen die Erwägungsgründe 11 und 23 der Richtlinie 2013/33 klar den Willen des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck, dem Antragsteller während seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und seine wirtschaftliche Unabhängigkeit zu fördern.

83.

Das Recht auf Arbeit, wie es in vielen internationalen und regionalen Menschenrechtsübereinkommen verankert ist ( 26 ), spielt nicht nur bei der persönlichen Entfaltung des Einzelnen und seiner sozialen und wirtschaftlichen Integration in der Gesellschaft eine Rolle, sondern auch bei der Wahrung seiner Würde.

84.

Das UN-Flüchtlingshochkommissariat betont in seinen Anmerkungen von 2007 zur Integration von Flüchtlingen in der Europäischen Union die Unabhängigkeit, die Anerkennung und den sozialen Status, den ein Antragsteller durch seine berufliche Tätigkeit erwirbt ( 27 ). Der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen weist in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 18 zum Recht auf Arbeit ( 28 ) wiederum darauf hin, dieses Recht könne zwar nicht als ein absolutes und bedingungsloses Recht auf Beschäftigung verstanden werden ( 29 ), es sei jedoch für die Ausübung anderer Menschenrechte unentbehrlich, es sei ein untrennbarer und wesentlicher Bestandteil der Menschenwürde, es trage sowohl zum Überleben des Einzelnen als auch seiner Familie bei und diene, soweit die Arbeit frei gewählt und angenommen werde, der Entfaltung des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft ( 30 ). Deshalb muss dem Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen zufolge der Zugang zu Beschäftigung vor allem für benachteiligte und am Rand der Gesellschaft stehende Personen und Gruppen gewährleistet sein, um ihnen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen ( 31 ). Dies ist auch einer der Gründe, weshalb der Supreme Court (Oberster Gerichtshof) in einem Urteil vom 30. Mai 2017 ( 32 ) die frühere irische Regelung, nach der ein Antragsteller keinen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten konnte, bevor über seinen Antrag entschieden worden war, als verfassungswidrig eingestuft hat ( 33 ). Diese Rechtssache betraf den Fall eines birmanischen Antragstellers, dem der Zugang zum Arbeitsmarkt verweigert worden war, obwohl sein Antrag seit acht Jahren geprüft wurde. Während dieses Zeitraums erhielt der Antragsteller im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen und eine Geldleistung in Höhe von 19 Euro wöchentlich. Der Supreme Court (Oberster Gerichtshof) entschied, dass eine solche gesetzliche Regelung, indem sie den Zugang zum Arbeitsmarkt absolut verbiete, während es für das Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz keine zeitliche Begrenzung gebe, dem Einzelnen einen Schaden zufüge, den die Verfassung gerade zu verhindern suche ( 34 ).

85.

Für einen Antragsteller trägt Arbeit daher eindeutig zur Wahrung seiner Würde bei, denn das Einkommen, das er aus dieser Arbeit erzielt, erlaubt es ihm nicht nur, für seinen eigenen Lebensunterhalt zu sorgen, sondern auch, eine Unterkunft außerhalb der Aufnahmeeinrichtungen zu finden, wo er gegebenenfalls seine Familie aufnehmen kann. Es besteht kein Zweifel daran, dass vor dem Hintergrund der unfreiwilligen Migration und den damit verbundenen, oft traumatischen Erlebnissen der Umstand, dass einem Antragsteller die Ausübung jeglicher beruflicher Tätigkeit verweigert wird, die Schutzbedürftigkeit des Antragstellers, die Prekarität seiner Situation und manchmal die Isolation und soziale Ausgrenzung, denen er bereits ausgesetzt ist, verschärfen kann, zumal die Wartezeit mehrere Monate betragen kann. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass sich ein Antragsteller, in Bezug auf den ein (Wieder)Aufnahme- und gegebenenfalls ein Überstellungsverfahren eingeleitet wurde, letztlich in einer prekäreren Situation befindet als eine Person, die nicht von solchen Verfahren betroffen ist. Dabei berücksichtige ich die besonders lange Dauer der (Wieder)Aufnahme- und der Überstellungsverfahren, die gemäß Art. 29 der Verordnung Nr. 604/2013 zwischen sechs und 18 Monaten dauern können. Ich berücksichtige auch die tatsächliche Zahl der durchgeführten Überstellungen im Verhältnis zur Zahl der mitgeteilten Überstellungsentscheidungen ( 35 ). So hat der Gerichtshof bereits 2012 im Urteil Cimade und GISTI festgestellt, dass das in der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehene Verfahren in bestimmten Fällen damit enden kann, dass der Antragsteller nicht in den ersuchten Mitgliedstaat überstellt wird, sondern in dem Mitgliedstaat verbleibt, in dem er seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat ( 36 ). In den Berichten über die Umsetzung der Verordnung Nr. 604/2013 wird die gleiche Feststellung getroffen ( 37 ).

86.

Angesichts der Dauer dieser Verfahren kann der Ausschluss des Antragstellers vom Arbeitsmarkt zudem zu einem erhöhten Fluchtrisiko – das durch den Zugang zu einer Beschäftigung im Übrigen verringert werden könnte – und zu einer Zunahme der illegalen Beschäftigung führen, während die Mitgliedstaaten zu Recht versuchen, diese Phänomene und die daraus resultierenden Missbräuche zu bekämpfen.

87.

Darüber hinaus ist es wichtig, zu betonen, dass der Ausschluss eines Antragstellers vom Zugang zum Arbeitsmarkt, wenn der Antragsteller nicht über eigene finanzielle Mittel verfügt, dazu führt, dass der Aufnahmemitgliedstaat ihm ein menschenwürdiges Leben ermöglichen muss, indem er ihm insbesondere die in den Art. 17 bis 20 der Richtlinie 2013/33 genannten materiellen Leistungen im Rahmen der Aufnahme gewährt. Dies erfordert die Mobilisierung von materiellen, finanziellen und personellen Ressourcen. Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand, dass die Gewährung des Zugangs zum Arbeitsmarkt den Migrationsdruck sowie die soziale und finanzielle Belastung des Aufnahmemitgliedstaats verringert, so dass dieser seine Anstrengungen im Bereich der Aufnahme auf die besonders schutzbedürftigen Antragsteller konzentrieren kann.

88.

Darüber hinaus könnte der Ausschluss von Antragstellern vom Zugang zum regulären Arbeitsmarkt, wenn das System der Aufnahmebedingungen Mängel aufweist, den Mitgliedstaat der Gefahr aussetzen, gegen die in den Art. 1 und 4 der Charta verankerten Grundsätze zu verstoßen. In diesem Sinne hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 11. Dezember 2014, AL. K./Griechenland ( 38 ), entschieden. In diesem Verfahren hatte der Kläger geltend gemacht, dass die Hellenische Republik ihm keine menschenwürdigen Aufnahmebedingungen gewährt und ihn daran gehindert habe, seine Lebensbedingungen zu verbessern, insbesondere indem sie ihm die Erteilung einer Arbeitserlaubnis verweigert habe. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkannte in seinem Urteil an, dass angesichts der administrativen und auch praktischen Hindernisse aufgrund des allgemeinen Kontextes der Wirtschaftskrise in Verbindung mit einem Mangel an Unterkünften in Aufnahmeeinrichtungen die Verletzung des Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt eine erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ( 39 ) darstellen könne.

89.

In Anbetracht dessen gibt es keine Rechtfertigung dafür, einem Antragsteller, in Bezug auf den eine Überstellungsentscheidung ergangen ist, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu verweigern, solange er im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats verbleiben darf.

90.

Als Zweites beruht das GEAS, zu dem die Richtlinie 2013/33 und die Verordnung Nr. 604/2013 gehören, gemäß Art. 67 Abs. 2 und Art. 80 AEUV auf einer gemeinsamen Politik, die gegenüber den Drittstaatsangehörigen angemessen sein muss ( 40 ). Mit Ausnahme der Bestimmungen für schutzbedürftige Personen lässt der Unionsgesetzgeber in der Richtlinie 2013/33 klar seine Absicht erkennen, die Gleichbehandlung aller Antragsteller sicherzustellen, indem er deren Status und die damit verbundenen Rechte und Pflichten vereinheitlicht und harmonisiert. Auf diese Weise weitet er den Kreis derjenigen, die die Aufnahmebedingungen in Anspruch nehmen können, auf Personen aus, die subsidiären Schutz beantragen. Diese waren von den früheren Bestimmungen der Richtlinie 2003/9 nicht erfasst ( 41 ).

91.

Im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 erinnert der Unionsgesetzgeber an das Ziel des Stockholmer Programms, wonach Antragstellern eine gleichwertige Behandlung hinsichtlich der im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile gewährt werden soll, unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat sie ihren Antrag gestellt haben. Ziel ist es daher, wie der Unionsgesetzgeber im elften Erwägungsgrund dieser Richtlinie betont, ihnen vergleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten zu ermöglichen, und, wie er wiederum im zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie ausführt, das Risiko einer auf unterschiedliche Aufnahmevorschriften zurückzuführenden „Sekundärmigration“ zu verringern.

92.

Der achte Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 ist ebenfalls sehr aufschlussreich, da er besagt, dass diese Richtlinie, um eine unionsweite Gleichbehandlung der Antragsteller sicherzustellen, in allen Phasen und auf alle Arten von Verfahren, die Anträge auf internationalen Schutz betreffen, in allen Räumlichkeiten und Einrichtungen für die Unterbringung und so lange, wie sie als Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats bleiben dürfen, Anwendung finden soll.

93.

In Anbetracht dieses Ziels und der Begriffe, mit denen es umschrieben wird, besteht kein Zweifel daran, dass der Unionsgesetzgeber kein Rechtesystem mit variabler Geometrie und insbesondere kein Aufnahmesystem einführen wollte, bei dem Drittstaatsangehörige, deren Antrag vom Aufnahmemitgliedstaat geprüft wird, und solche, deren Antrag von dem gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 als zuständig bestimmten Mitgliedstaat geprüft wird, unterschiedlich behandelt werden. Die Bedürfnisse eines Antragstellers, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats verbleiben darf, sind dieselben, unabhängig davon, ob er auf eine endgültige Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz oder auf seine tatsächliche Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat wartet. In diesem Zusammenhang wäre es weder sachgerecht noch vernünftig, einem Antragsteller, der auf seine Überstellung wartet, die Möglichkeit zu verweigern, legal zu arbeiten und für seinen eigenen Lebensunterhalt zu sorgen, obwohl die Dauer seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats länger sein kann als die eines Antragstellers, der auf eine endgültige Entscheidung über seinen Antrag wartet. Es sind nämlich die für das (Wieder)Aufnahme- und das Überstellungsverfahren in den Art. 21 bis 25 und Art. 29 der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehenen Fristen und der Umstand zu berücksichtigen, dass Überstellungen häufig nicht innerhalb der vorgeschriebenen Fristen abgeschlossen werden. Ich weise darauf hin, dass in diesem Fall die Verpflichtung des zuständigen Mitgliedstaats endet und die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz auf den ersuchenden Mitgliedstaat, d. h. den Aufnahmemitgliedstaat, übergeht ( 42 ).

94.

Nach alledem bin ich daher der Ansicht, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der einem Antragsteller der Zugang zum Arbeitsmarkt mit der Begründung verweigert werden darf, dass die zuständige nationale Behörde in Bezug auf ihn eine Entscheidung zur Überstellung in den Mitgliedstaat, den sie gemäß Art. 26 der Verordnung Nr. 604/2013 für zuständig bestimmt hat, erlassen hat.

95.

Der Erlass einer solchen Entscheidung darf nicht dazu führen, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der im Aufnahmemitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, seine Eigenschaft als Antragsteller oder die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte verliert.

C.   Zur Tragweite der Voraussetzung einer Verzögerung, die dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann

96.

Mit der vierten und der fünften Frage des High Court (Hoher Gerichtshof) in der Rechtssache C‑322/19 und der zweiten Frage des International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) in der Rechtssache C‑385/19 wird der Gerichtshof im Wesentlichen ersucht, die Art der Handlungen zu präzisieren, die zu einer Verzögerung führen können, die dem Antragsteller im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 zur Last gelegt werden kann.

97.

Insbesondere möchte der High Court (Hoher Gerichtshof) vom Gerichtshof wissen, ob nach dieser Bestimmung einem Antragsteller die Verzögerung zur Last gelegt werden kann, die zum einen dadurch verursacht wurde, dass er seinen Antrag auf internationalen Schutz nicht im Mitgliedstaat seiner ersten Einreise oder im Mitgliedstaat seines Aufenthalts gestellt hat – die Prüfung seines Antrags erfordert dann die Einleitung eines (Wieder)Aufnahmeverfahrens und gegebenenfalls eines Verfahrens zur Überstellung in diesen Staat – und zum anderen dadurch, dass er gegen die Überstellungsentscheidung, die in Bezug auf ihn ergangen ist, einen Rechtsbehelf eingelegt hat.

98.

Mit dieser Frage wird der Gerichtshof ersucht, die Tragweite einer der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 festgelegten Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen einem Antragsteller Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt werden kann. Wie erwähnt, müssen nämlich die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung dafür Sorge tragen, dass ein Antragsteller spätestens neun Monate nach der Stellung seines Antrags diesen Zugang erhält, sofern „die zuständige Behörde noch keine erstinstanzliche Entscheidung erlassen hat und diese Verzögerung nicht dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann“.

99.

Ich stelle fest, dass der Wortlaut des Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 nicht klarstellt, unter welchen Umständen die Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann. Darüber hinaus lässt sich auch nicht aus einer Prüfung der Systematik, in die sich diese Bestimmung einfügt, und des Zwecks der Richtlinie herleiten, welcher Art diese Umstände sein müssen. Sowohl aus dem Titel und der Präambel als auch aus dem Inhalt und dem Zweck der Richtlinie geht nämlich hervor, dass diese weder dazu dient, die für den Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung geltenden Verfahrensvorschriften festzulegen, noch, die in diesem Zusammenhang dem Antragsteller zukommenden Verpflichtungen zu regeln.

100.

Es sind daher die in der Richtlinie 2013/32 festgelegten Verfahrensvorschriften und der mit ihnen verfolgte Zweck heranzuziehen.

101.

In Kapitel II („Grundsätze und Garantien“) der Richtlinie 2013/32 und in ihrem Kapitel III („Erstinstanzliche Verfahren“) werden die Rechte und Pflichten der Antragsteller im Rahmen eines Verfahrens zum Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung festgelegt. So enthält Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 Buchst. c der Richtlinie einen ausdrücklichen Verweis auf die Umstände, unter denen eine nationale Behörde einem Antragsteller die Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung zur Last legen kann. Nach dieser Bestimmung können nämlich die Mitgliedstaaten die für den Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung vorgesehene Sechsmonatsfrist um neun weitere Monate verlängern, wenn „die Verzögerung eindeutig darauf zurückzuführen ist, dass der Antragsteller seinen Pflichten nach Artikel 13 [dieser Richtlinie] nicht nachgekommen ist“ ( 43 ).

102.

Art. 13 der Richtlinie 2013/32 ist mit „Verpflichtungen der Antragsteller“ überschrieben. Aus seinem Abs. 1 ergibt sich, dass der Antragsteller verpflichtet ist, mit der zuständigen nationalen Behörde zur Feststellung seiner Identität und anderer in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 genannter Angaben, d. h. Alter, familiäre und soziale Verhältnisse – auch der betroffenen Verwandten –, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Länder und Ort(e) des früheren Aufenthalts, frühere Asylanträge, Reisewege und Reisedokumente sowie die Gründe für den Antrag auf internationalen Schutz, zusammenzuarbeiten. Diese Angaben sind für die Beurteilung der Tatsachen und Umstände, die die zuständige nationale Behörde bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz vornehmen muss, wesentlich und notwendig. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bedeutet diese Verpflichtung zur Zusammenarbeit, dass der Antragsteller im Rahmen des Möglichen die geforderten Nachweise und gegebenenfalls die verlangten Erklärungen und Auskünfte vorlegt ( 44 ).

103.

In Art. 13 der Richtlinie 2013/32 räumt der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, diese Zusammenarbeit zu konkretisieren, indem sie den Antragstellern weitere Verpflichtungen auferlegen, „sofern diese Verpflichtungen für die Bearbeitung des Antrags erforderlich sind“ ( 45 ). Dem Unionsgesetzgeber zufolge können die Mitgliedstaaten insbesondere die Antragsteller verpflichten, sich bei der zuständigen nationalen Behörde zu melden oder dort vorstellig zu werden, die für die Prüfung ihres Antrags erforderlichen Dokumente vorzulegen und ihre Anschrift und jede damit zusammenhängende Änderung mitzuteilen, sowie sie durchsuchen, ein Lichtbild von ihnen anfertigen oder auch ihre Aussagen aufzeichnen ( 46 ).

104.

Auch wenn die Mitgliedstaaten daher über einen Ermessensspielraum verfügen, ist festzustellen, dass die den Antragstellern obliegenden Pflichten von der in Art. 4 der Richtlinie 2011/95 festgelegten Zusammenarbeit erfasst sein müssen. Sie müssen es auch ermöglichen, die Informationen auszuwerten und zu ermitteln, die für die Feststellung, ob der Antragsteller internationalen Schutz benötigt, am wichtigsten sind, und alle Informationen zu erhalten, die für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Antragstellers und der Begründetheit seines Antrags erforderlich sind. Bei einem Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist das Ziel, gemäß Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 und auf der Grundlage sehr konkreter Informationen zu ermitteln, ob die Befürchtung der betroffenen Person, bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland verfolgt zu werden, objektiv begründet ist. Bei einem Antrag auf subsidiären Schutz ist das Ziel, im Licht des Art. 2 Buchst. f der Richtlinie zu würdigen, ob es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie liegt die Beweislast beim Antragsteller. Dieser ist nämlich verpflichtet, so schnell wie möglich alle zur Begründung seines Antrags erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen.

105.

In Anbetracht des Vorstehenden komme ich zu dem Schluss, dass die Verpflichtungen des Antragstellers, auf die der Unionsgesetzgeber in Art. 13 sowie in Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 für den Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung verweist, dahin zu verstehen sind, dass sie darauf beschränkt sind, die Beurteilung der Zulässigkeit und der Begründetheit eines Antrags auf internationalen Schutz zu ermöglichen.

106.

Ich schlage daher vor, die zweite Frage des International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) dahin zu beantworten, dass ein Mitgliedstaat bei der Umsetzung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 einem Antragsteller die Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung nur insoweit zur Last legen kann, als der Antragsteller seinen Verpflichtungen zur Zusammenarbeit nach Art. 13 der Richtlinie 2013/32 nicht nachgekommen ist.

107.

Es ist nun zu prüfen, ob ein Mitgliedstaat, wie der High Court (Hoher Gerichtshof) in seiner Vorlageentscheidung anführt, einem Antragsteller eine solche Verzögerung zur Last legen kann, weil der Antragsteller zum einen seinen Antrag auf internationalen Schutz nicht im Mitgliedstaat seiner ersten Einreise oder im Mitgliedstaat seines Aufenthalts gestellt hat und weil er zum anderen gegen die Überstellungsentscheidung, die in Bezug auf ihn ergangen ist, einen Rechtsbehelf eingelegt hat.

108.

Meines Erachtens kann zum gegenwärtigen Stand der Vorschriften des GEAS keiner dieser Umstände als Ursache für eine Verzögerung, die dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann, im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 angesehen werden, aufgrund derer dem Antragsteller der Zugang zum Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats verweigert werden kann ( 47 ).

109.

Keiner dieser Umstände ist nämlich ein Zeichen dafür, dass ein Antragsteller seinen Verpflichtungen im Rahmen des Verfahrens zur Anerkennung als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz nicht nachgekommen ist.

110.

Die vom High Court (Hoher Gerichtshof) angeführten angeblichen Versäumnisse beziehen sich in Wirklichkeit auf das mit der Verordnung Nr. 604/2013 eingeführte Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Diese Verordnung verpflichtet einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen jedoch nicht dazu, seinen Antrag auf internationalen Schutz im Mitgliedstaat seiner ersten Einreise oder im Mitgliedstaat seines Aufenthalts zu stellen oder auf die Einlegung eines Rechtsbehelfs zu verzichten, um eine zügige Durchführung des Verfahrens zu gewährleisten.

111.

Der vom High Court (Hoher Gerichtshof) vorgeschlagenen Auslegung stehen daher der Wortlaut, die Systematik und der Zweck der Verordnung Nr. 604/2013 entgegen.

112.

Als Erstes enthält diese Verordnung, wie ich soeben dargelegt habe, keine Bestimmungen, die einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen verpflichten, seinen Antrag auf internationalen Schutz im Mitgliedstaat der ersten Einreise oder im Mitgliedstaat des Aufenthalts zu stellen. Die Kommission hat zwar vorgeschlagen, eine solche Verpflichtung im Rahmen einer Überarbeitung des Dublin-Systems einzuführen, um der Sekundärmigration von Antragstellern entgegenzuwirken ( 48 ), aber dieser Vorschlag, der 2016 unterbreitet wurde, ist noch nicht angenommen worden. Zum gegenwärtigen Stand des Unionsrechts und wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash ( 49 ), hervorgehoben hat, sieht die Verordnung Nr. 604/2013 daher eine Reihe von Maßnahmen vor, die darauf abzielen, den Antragsteller in das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats einzubeziehen. Sobald ein Antrag erstmals in einem Mitgliedstaat gestellt wird, müssen die zuständigen nationalen Behörden gemäß den Art. 4 und 5 der Verordnung zum einen den Antragsteller schriftlich und in einer Sprache, die er versteht, über die verschiedenen in dieser Verordnung vorgesehenen Verfahren und insbesondere über die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und die Rangfolge ihrer Anwendung unterrichten und zum anderen ein persönliches Gespräch anberaumen ( 50 ). Wie die Rangfolge zeigt, in der die Zuständigkeitskriterien in Kapitel III der Verordnung Nr. 604/2013 genannt werden, ist der Mitgliedstaat der ersten Einreise oder der Mitgliedstaat des Aufenthalts nicht unbedingt der zuständige Mitgliedstaat, wenn z. B. festgestellt wird, dass sich Familienangehörige des Antragstellers in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten oder wenn dies nicht dem Wohl eines betroffenen Minderjährigen dient ( 51 ).

113.

Folglich erfordert die vom High Court (Hoher Gerichtshof) in seiner Vorlageentscheidung angeführte „einwandfreie und ordnungsgemäße Anwendung“ der Verordnung Nr. 604/2013 nicht, dass der Drittstaatsangehörige oder der Staatenlose seinen Antrag auf internationalen Schutz im ersten Mitgliedstaat stellt, in dessen Hoheitsgebiet er über einen Drittstaat eingereist ist oder in dessen Hoheitsgebiet er sich aufgehalten hat.

114.

Unter diesen Umständen darf der Aufnahmemitgliedstaat dem Antragsteller nicht die Verzögerung zur Last legen, die sich durch das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ergibt, und ihm nicht den in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Zugang zum Arbeitsmarkt verweigern.

115.

Als Zweites gilt diese Schlussfolgerung auch für die vom High Court (Hoher Gerichtshof) vorgeschlagene Auslegung, nach der ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung zur Last legen kann, die sich daraus ergibt, dass der Antragsteller gegen die Überstellungsentscheidung, die in Bezug auf ihn ergangen ist, einen Rechtsbehelf eingelegt hat.

116.

Im Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash ( 52 ), sowie in den Urteilen vom 25. Oktober 2017, Shiri ( 53 ), vom 31. Mai 2018, Hassan ( 54 ), und vom 2. April 2019, H. und R. ( 55 ), auf die ich Bezug nehme, ist der Gerichtshof bereits ausführlich auf den Umfang des in der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehenen Rechtsbehelfs eingegangen. Im Rahmen der vorliegenden Schlussanträge genügt meines Erachtens der Hinweis, dass der Unionsgesetzgeber die Annahme der Verordnung Nr. 604/2013 mit Maßnahmen verbunden hat, mit denen die Verfahrensgarantien, die den Antragstellern im Rahmen des Dublin-Systems ( 56 ) gewährt werden, und insbesondere der gerichtliche Rechtsschutz gemäß Art. 47 der Charta ( 57 ) gestärkt werden sollen.

117.

Nach dieser Bestimmung hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen ( 58 ). Die Mitgliedstaaten sind daher verpflichtet, die hierfür erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen und die Verteidigungsrechte der Adressaten zu wahren, wenn es um Entscheidungen geht, die die Interessen dieser Adressaten spürbar beeinträchtigen ( 59 ). Dies ist bei einer Überstellungsentscheidung der Fall.

118.

Das Recht, gegen eine solche Entscheidung einen Rechtsbehelf einzulegen, wird zunächst in Art. 4 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 604/2013 ( 60 ) erwähnt. Es wird dann in Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung verankert. Die Tragweite dieses Rechts wird schließlich vom Unionsgesetzgeber im 19. Erwägungsgrund dieser Richtlinie und vom Gerichtshof in der in den Fn. 52 bis 59 der vorliegenden Schlussanträge genannten Rechtsprechung präzisiert.

119.

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof daran erinnert, dass „der Unionsgesetzgeber nicht die Absicht hatte, dem Erfordernis der zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz den gerichtlichen Schutz der Personen zu opfern, die solche Anträge stellen“ ( 61 ). Hinsichtlich der Gefahr, dass sich der Abschluss des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats infolge der gerichtlichen Überprüfung übermäßig verzögert, stellte der Gerichtshof fest, dass diese Gefahr angesichts der in der Verordnung Nr. 604/2013 ausdrücklich vorgesehenen Bestimmungen begrenzt ist ( 62 ).

120.

Ich halte es daher für offensichtlich, dass der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, den Antragsteller nicht davon abhalten darf, einen Rechtsbehelf auszuüben, der ihm sowohl in der Charta als auch in dieser Verordnung ausdrücklich gewährt wird, indem er ihm die Verzögerung, die sich aus dem gerichtlichen Verfahren ergibt, zur Last legt und ihm die Aufnahmebedingungen des Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 verweigert.

121.

Eine solche Vorgehensweise verstieße nicht nur gegen das Recht des Antragstellers auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, sondern auch gegen sein Recht auf eine Aufnahme, bei der seine Würde gewahrt und seine Grundrechte beachtet werden, wie ich oben erläutert habe.

122.

Als Drittes und Letztes möchte ich betonen, dass wenn ein Mitgliedstaat der Ansicht ist, dass die Antragsteller von ihrem Rechtsbehelf in betrügerischer oder überzogener Weise Gebrauch machen, um das gegen sie laufende Überstellungsverfahren zu verzögern, dies nicht den Erlass einer Maßnahme rechtfertigen würde, die darauf gerichtet ist, die Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung generell allen Antragstellern zur Last zu legen.

123.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann mangels einer ausdrücklichen Bestimmung im Unionsrecht der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat mit einer hohen Zahl von Rechtsmissbrauchs- oder Betrugsfällen konfrontiert sieht, die von Drittstaatsangehörigen begangen werden, nicht den Erlass einer Maßnahme rechtfertigen, die unter Ausschluss jeder spezifischen Beurteilung des eigenen Verhaltens der betroffenen Person auf generalpräventiven Erwägungen beruht. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass der Erlass von Maßnahmen, mit denen bei verbreiteten Rechtsmissbrauchs- oder Betrugsfällen ein Ziel der Generalprävention verfolgt wird, implizieren würde, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Personen es den Mitgliedstaaten gestatten würde, die Anerkennung eines durch das Unionsrecht ausdrücklich verliehenen Rechts zu verweigern ( 63 ).

124.

Nach Ansicht des Gerichtshofs ist es daher Sache des nationalen Gerichts, den Rechtsmissbrauch nachzuweisen, indem das Vorliegen zweier Elemente festgestellt wird. Das erste Element setzt den Nachweis voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde. Das zweite Element besteht wiederum darin, nachzuweisen, dass die betroffene Person die Absicht hat, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die Voraussetzungen für dessen Erhalt künstlich geschaffen werden ( 64 ).

125.

Nach alledem bin ich folglich der Ansicht, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung nur insoweit zur Last legen darf, als der Antragsteller seinen Verpflichtungen zur Zusammenarbeit nach Art. 13 der Richtlinie 2013/32 nicht nachgekommen ist.

126.

Unter diesen Umständen darf ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung, die sich aus dem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ergibt, weder mit der Begründung zur Last legen, dass er seinen Antrag auf internationalen Schutz nicht im Mitgliedstaat der ersten Einreise oder – im Falle eines legalen Aufenthalts – in dem Mitgliedstaat seines Aufenthalts gestellt hat, noch mit der Begründung, dass er gegen die Überstellungsentscheidung, die in Bezug auf ihn gemäß Art. 26 der Verordnung Nr. 604/2013 ergangen ist, einen Rechtsbehelf eingelegt hat.

V. Ergebnis

127.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die zweite Vorlagefrage des High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) in der Rechtssache The International Protection Appeals Tribunal u. a. (C‑322/19) und die erste Vorlagefrage des International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes, Irland) in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (C‑385/19) wie folgt zu beantworten:

1.

Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, der Zugang zum Arbeitsmarkt mit der Begründung verweigert werden darf, dass die zuständige nationale Behörde in Bezug auf sie eine Überstellungsentscheidung gemäß Art. 26 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, erlassen hat.

2.

Der Erlass einer solchen Entscheidung darf nicht dazu führen, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der im Aufnahmemitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, seine Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantragt hat, oder die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte verliert.

128.

Außerdem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vierte und die fünfte Vorlagefrage des High Court (Hoher Gerichtshof) in der Rechtssache The International Protection Appeals Tribunal u. a. (C‑322/19) und die zweite Vorlagefrage des International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (C‑385/19) wie folgt zu beantworten:

1.

Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung nur insoweit zur Last legen darf, als der Antragsteller seinen Verpflichtungen zur Zusammenarbeit nach Art. 13 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes nicht nachgekommen ist.

2.

Unter diesen Umständen darf ein Mitgliedstaat einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, die Verzögerung, die sich aus dem Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats ergibt, weder mit der Begründung zur Last legen, dass sie ihren Antrag auf internationalen Schutz nicht im Mitgliedstaat der ersten Einreise oder – im Falle eines legalen Aufenthalts – in dem Mitgliedstaat ihres Aufenthalts gestellt hat, noch mit der Begründung, dass sie gegen die Überstellungsentscheidung, die in Bezug auf sie gemäß Art. 26 der Verordnung Nr. 604/2013 ergangen ist, einen Rechtsbehelf eingelegt hat.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31). Diese Verordnung hat die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1), ersetzt.

( 3 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).

( 4 ) Die frühere Regelung, nach der es absolut verboten war, dass ein Antragsteller vor dem Erlass einer Entscheidung über seinen Antrag Zugang zum Arbeitsmarkt erhält, wurde vom Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) mit Urteil vom 30. Mai 2017, Nr. 31 und 56/2016, als Verstoß gegen die irische Verfassung eingestuft (vgl. hierzu Nr. 84 der vorliegenden Schlussanträge).

( 5 ) C‑179/11, im Folgenden: Urteil Cimade und GISTI, EU:C:2012:594.

( 6 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

( 7 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).

( 8 ) Im Folgenden: Charta.

( 9 ) ABl. 2016, C 202, S. 295.

( 10 ) Verordnung von 2018 über die Europäische Union (Dublin-System).

( 11 ) Richtlinie des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. 2003, L 31, S. 18), die durch die Richtlinie 2013/33 ersetzt wurde.

( 12 ) Vgl. hierzu Art. 2 Buchst. i der Richtlinie 2011/95, Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 und Art. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 604/2013.

( 13 ) Vgl. Urteil Cimade und GISTI (Rn. 40).

( 14 ) Vgl. hierzu Urteil Cimade und GISTI (Rn. 40).

( 15 ) Vgl. hierzu Urteile Cimade und GISTI (Rn. 53) und vom 19. Juni 2018, Gnandi (C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 63).

( 16 ) C‑647/16, EU:C:2018:368, Rn. 41 ff.

( 17 ) In Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 zählt der Unionsgesetzgeber abschließend die Fälle auf, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag als unzulässig betrachten können. Ich stelle jedoch fest, dass der Fall, in dem nach Maßgabe der Verordnung Nr. 604/2013 ein Antrag auf internationalen Schutz nicht geprüft wird, in dieser Aufzählung nicht genannt wird.

( 18 ) Vgl. hierzu Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32.

( 19 ) Gemäß Art. 18 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 hat dieser Mitgliedstaat den gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen oder dessen Prüfung abzuschließen und so die Kontinuität des Prüfungsverfahrens sicherzustellen.

( 20 ) Hervorhebung nur hier.

( 21 ) Vgl. Urteil Cimade und GISTI (Rn. 48).

( 22 ) Vgl. Urteil Cimade und GISTI (Rn. 55).

( 23 ) Zu den Umständen, unter denen ein Mitgliedstaat die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einschränken oder entziehen kann, vgl. Urteil vom 12. November 2019, Haqbin (C‑233/18, EU:C:2019:956).

( 24 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 20. Oktober 2016, Danqua (C‑429/15, EU:C:2016:789, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 25 ) Vgl. Urteil Cimade und GISTI (Rn. 56).

( 26 ) Vgl. z. B. Art. 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, oder Art. 6 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der am 16. Dezember 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde und am 3. Januar 1976 in Kraft getreten ist, in dessen Abs. 1 das Recht auf Arbeit wie folgt festgelegt wird: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht auf Arbeit an, welches das Recht jedes einzelnen auf die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte oder angenommene Arbeit zu verdienen, umfasst, und unternehmen geeignete Schritte zum Schutz dieses Rechts.“ Vgl. auch Art. 1 der Europäischen Sozialcharta, die am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichnet wurde, und die Präambel des Übereinkommens Nr. 168 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Förderung der Beschäftigung und den Schutz vor Arbeitslosigkeit, das am 21. Juni 1988 in Genf verabschiedet wurde, sowie in Bezug auf Flüchtlinge die Art. 17 bis 19 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnet wurde (Recueil des traités des Nations unies, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545, 1954 [BGBl. 1953 II, S. 560 ff.]).

( 27 ) Note on the integration of Refugees in the European Union, abrufbar auf der Internetseite: https://www.unhcr.org/protection/integration/463b462c4/note-integration-refugees-european-union.html%C2%B5 (Rn. 14).

( 28 ) The Right to Work, General comment No. 18, angenommen am 24. November 2005, Art. 6 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, abrufbar auf der Internetseite: http://docstore.ohchr.org/SelfServices/FilesHandler.ashx?enc=4slQ6QSmlBEDzFEovLCuW1a0Szab0oXTdImnsJZZVQfUKxXVisd7Dae%2FCu%2B13J253bHC9qqkloiEoXmdKX6hxKmueE3OfasXtvIBCDyulRlnte7Ne6tr02OMha%2FfFY7J. Im Folgenden: Allgemeine Bemerkung Nr. 18.

( 29 ) Rn. 6 der Allgemeinen Bemerkung Nr. 18.

( 30 ) Rn. 1 der Allgemeinen Bemerkung Nr. 18.

( 31 ) Rn. 31 Buchst. a der Allgemeinen Bemerkung Nr. 18.

( 32 ) Siehe Fn. 4 der vorliegenden Schlussanträge.

( 33 ) Vgl. insbesondere Rn. 19 bis 21 dieses Urteils.

( 34 ) Vgl. Rn. 20 dieses Urteils.

( 35 ) Siehe die im September 2019 von Eurostat vorgelegten Statistiken „Dublin statistics on countries responsible for asylum application“, insbesondere im Abschnitt „Implemented transfers within the Dublin procedure“, abrufbar auf der Internetseite: https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Dublin_statistics_on_countries_responsible_for_asylum_application#Implemented_transfers_within_the_Dublin_procedure.

( 36 ) Vgl. Urteil Cimade und GISTI (Rn. 45).

( 37 ) Siehe die Ergebnisse der Bewertung in dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, vom 4. Mai 2016 (COM[2016] 270 final), in dem die Europäische Kommission betont, dass im Jahr 2014 nur rund ein Viertel aller stattgegebenen (Wieder)Aufnahmegesuche tatsächlich zu einer Überstellung der betreffenden Person geführt hätten (S. 11).

( 38 ) CE:ECHR:2014:1211JUD006354211, §§ 56 bis 60.

( 39 ) Unterzeichnet am 4. November 1950 in Rom.

( 40 ) Gemäß Art. 67 Abs. 2 AEUV entwickelt die Union eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, die sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet. Gemäß Art. 80 AEUV gilt für die Asylpolitik der Union der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten.

( 41 ) Vgl. 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33.

( 42 ) Vgl. hierzu Art. 29 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013.

( 43 ) Hervorhebung nur hier.

( 44 ) Vgl. Urteil vom 14. September 2017, K. (C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 38).

( 45 ) Art. 13 Abs. 1 dieser Richtlinie.

( 46 ) Vgl. Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie.

( 47 ) Die Kommission schlägt im Rahmen ihres in Fn. 37 der vorliegenden Schlussanträge genannten Vorschlags für eine Verordnung vor, einen neuen Art. 4 („Pflichten des Antragstellers“) aufzunehmen, in dessen Abs. 1 die Verpflichtung des Antragstellers festgelegt wäre, seinen Antrag entweder im Mitgliedstaat der ersten irregulären Einreise oder – im Falle eines legalen Aufenthalts – im Mitgliedstaat des Aufenthalts zu stellen (siehe auch die Erläuterungen zur Einführung dieser neuen Verpflichtung auf S. 16 des Vorschlags). Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung würde gemäß dem neuen Art. 5 Abs. 3 der geänderten Verordnung dazu führen, dass der Antragsteller nur in dem Mitgliedstaat, in dem er sich aufhalten muss, Anspruch auf die Aufnahmebedingungen gemäß Art. 15 der Richtlinie 2013/33 hätte.

( 48 ) Siehe Fn. 37 der vorliegenden Schlussanträge.

( 49 ) C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 46 bis 48.

( 50 ) Art. 4 („Recht auf Information“) der Verordnung Nr. 604/2013 bestimmt u. a. in seinem Abs. 1: „Sobald ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Artikels 20 Absatz 2 in einem Mitgliedstaat gestellt wird, unterrichten seine zuständigen Behörden den Antragsteller über die Anwendung dieser Verordnung und insbesondere über folgende Aspekte: a) die Ziele dieser Verordnung und die Folgen einer weiteren Antragstellung in einem anderen Mitgliedstaat …; b) die Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, die Rangfolge derartiger Kriterien in den einzelnen Schritten des Verfahrens und ihre Dauer …; c) das persönliche Gespräch gemäß Artikel 5 und die Möglichkeit, Angaben über die Anwesenheit von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung in den Mitgliedstaaten zu machen …; d) die Möglichkeit zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung …“. In Art. 5 („Persönliches Gespräch“) der Verordnung Nr. 604/2013 heißt es wiederum: „(1) Um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern, führt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller. Dieses Gespräch soll auch das richtige Verständnis der dem Antragsteller gemäß Artikel 4 bereitgestellten Informationen ermöglichen. … (3) Das persönliche Gespräch wird zeitnah geführt, in jedem Fall aber, bevor über die Überstellung des Antragstellers in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß Artikel 26 Absatz 1 entschieden wird. …“.

( 51 ) Gemäß Art. 7 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 604/2013 muss nämlich der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, die Kriterien in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge anwenden und von der Situation ausgehen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz erstmals in einem Mitgliedstaat stellt.

( 52 ) C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 30 ff.

( 53 ) C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 36 ff.

( 54 ) C‑647/16, EU:C:2018:368, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 55 ) C‑582/17 und C‑583/17, EU:C:2019:280, Rn. 38 bis 42 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 56 ) Vgl. hierzu Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 57). Vgl. in diesem Sinne auch den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (KOM[2008] 820 endg.), insbesondere Nr. 3 („Rechtsgarantien für Personen, die dem Dublin-Verfahren unterliegen“) (S. 7), und Nr. 6 („Besonderer Druck oder unzureichendes Schutzniveau“) (insbesondere S. 11) in Abschnitt 3 der Begründung.

( 57 ) Vgl. hierzu Urteil vom 31. Mai 2018, Hassan (C‑647/16, EU:C:2018:368, Rn. 57 und 58 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 58 ) Vgl. Urteile vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Tompa) (C‑564/18, EU:C:2020:218, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 127 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 59 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Sacko (C‑348/16, EU:C:2017:591, Rn. 29, 30 und 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 60 ) Siehe Fn. 50 der vorliegenden Schlussanträge.

( 61 ) Vgl. hierzu Urteil vom 31. Mai 2018, Hassan (C‑647/16, EU:C:2018:368, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 62 ) Vgl. hierzu Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 58).

( 63 ) Vgl. hierzu Urteil vom 18. Dezember 2014, McCarthy u. a. (C‑202/13, EU:C:2014:2450, Rn. 55 und 56).

( 64 ) Vgl. Urteile vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke (C‑110/99, EU:C:2000:695, Rn. 52 bis 54), und vom 18. Dezember 2014, McCarthy u. a. (C‑202/13, EU:C:2014:2450, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).