SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 6. Februar 2020 ( 1 )

Rechtssache C‑2/19

A. P.

gegen

Riigiprokuratuur

(Vorabentscheidungsersuchen des Riigikohus [Oberstes Gericht, Estland])

„Vorabentscheidungsersuchen – Rahmenbeschluss 2008/947/JI – Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen – Anerkennung und Überwachung eines Urteils, durch das eine Bewährungsstrafe, aber keine Bewährungsmaßnahme verhängt wird“

I. Einleitung

1.

Mit dem Rahmenbeschluss 2008/947 ( 2 ) (im Folgenden: RB 2008/947) wird ein besonderer Mechanismus der gegenseitigen Anerkennung für Urteile oder Bewährungsentscheidungen eingeführt, durch die Bewährungsmaßnahmen oder alternative Sanktionen verhängt werden. Er ermöglicht den Wechsel der Zuständigkeit für die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen oder alternativen Sanktionen von dem Mitgliedstaat, der das Urteil erlassen und solche Maßnahmen verhängt hat, zu dem Mitgliedstaat, in dem die verurteilte Person ihren Aufenthalt hat. Art. 1 RB 2008/947 beschreibt das Ziel dieses Mechanismus als „die Erleichterung der Resozialisierung einer verurteilten Person, die Verbesserung des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit sowie die Erleichterung der Anwendung angemessener Bewährungsmaßnahmen und alternativer Sanktionen auf Straftäter, die nicht im Urteilsstaat leben“.

2.

In der vorliegenden Rechtssache beantragten die lettischen Behörden, dass die estnischen Behörden diesen Mechanismus auf ein Urteil anwenden, mit dem eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt wurde, deren Vollstreckung unter der Bedingung ausgesetzt wurde, dass die verurteilte Person innerhalb von drei Jahren keine erneute vorsätzliche Straftat begeht. Dieses Urteil sah jedoch keine bestimmte Bewährungsmaßnahme vor.

3.

In diesem Zusammenhang ist der Gerichtshof aufgerufen, über den – materiellen – Anwendungsbereich des gegenseitigen Anerkennungsmechanismus nach RB 2008/947 zu entscheiden: Ist dieser Mechanismus auch auf ein Urteil anwendbar, das lediglich eine Bewährungsstrafe vorsieht und keine Bewährungsmaßnahme verhängt?

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

4.

Der achte Erwägungsgrund des RB 2008/947 stellt fest, dass „[d]ie gegenseitige Anerkennung und Überwachung von Bewährungsstrafen, bedingten Verurteilungen, alternativen Sanktionen und Entscheidungen über bedingte Entlassungen … die Aussichten auf Resozialisierung der verurteilten Person erhöhen [soll], indem ihr die Möglichkeit verschafft wird, die familiären, sprachlichen, kulturellen und sonstigen Beziehungen aufrechtzuerhalten; es soll aber auch die Kontrolle der Einhaltung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen verbessert werden mit dem Ziel, neue Straftaten zu unterbinden und damit dem Gedanken des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit Rechnung zu tragen“.

5.

Gemäß dem neunten Erwägungsgrund „gibt [es] mehrere Arten von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen, die in den Mitgliedstaaten allgemein vorgesehen sind und zu deren Überwachung sich alle Mitgliedstaaten grundsätzlich bereit erklärt haben. Die Überwachung derartiger Maßnahmen und Sanktionen sollte obligatorisch sein, vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen nach diesem Rahmenbeschluss. Die Mitgliedstaaten können erklären, dass sie zusätzlich bereit sind, andere Arten von Bewährungsmaßnahmen und/oder andere Arten alternativer Sanktionen zu überwachen“.

6.

Art. 1 des RB 2008/947 definiert die Ziele und den Anwendungsbereich dieses Rechtsinstruments:

„(1)   Ziel dieses Rahmenbeschlusses ist die Erleichterung der Resozialisierung einer verurteilten Person, die Verbesserung des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit sowie die Erleichterung der Anwendung angemessener Bewährungsmaßnahmen und alternativer Sanktionen auf Straftäter, die nicht im Urteilsstaat leben. Um diese Ziele zu erreichen, werden in diesem Rahmenbeschluss Regeln festgelegt, nach denen ein anderer Mitgliedstaat als der Mitgliedstaat, in dem die betreffende Person verurteilt wurde, die Urteile und gegebenenfalls die Bewährungsentscheidungen anerkennt und die auf der Grundlage eines Urteils verhängten Bewährungsmaßnahmen oder die in einem solchen Urteil enthaltenen alternativen Sanktionen überwacht und alle Folgeentscheidungen im Zusammenhang mit diesem Urteil trifft, soweit in dem vorliegenden Rahmenbeschluss nichts anderes vorgesehen ist.

(2)   Der Rahmenbeschluss gilt nur für:

a)

die Anerkennung von Urteilen und gegebenenfalls Bewährungsentscheidungen;

b)

die Übernahme der Zuständigkeit für die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen;

c)

alle Folgeentscheidungen, die mit den in den Buchstaben a und b genannten Entscheidungen zusammenhängen;

im Sinne dieses Rahmenbeschlusses.

…“

7.

Art. 2 enthält die folgenden Begriffsbestimmungen:

„…

1.   ‚Urteil‘ [bezeichnet] die rechtskräftige Entscheidung oder Anordnung eines Gerichts des Ausstellungsstaats, durch die festgestellt wird, dass eine natürliche Person eine Straftat begangen hat, und gegen sie

a)

eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme, sofern eine bedingte Entlassung auf der Grundlage dieses Urteils oder aufgrund einer nachfolgenden Bewährungsentscheidung gewährt wurde;

b)

eine Bewährungsstrafe;

c)

eine bedingte Verurteilung;

d)

eine alternative Sanktion verhängt wird;

2.   ‚Bewährungsstrafe‘ [bezeichnet] eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme, deren Vollstreckung mit der Verurteilung unter Auferlegung einer oder mehrerer Bewährungsmaßnahmen ganz oder teilweise bedingt ausgesetzt wird. Diese Bewährungsmaßnahmen können entweder im Urteil selbst oder in einer eigenständigen Bewährungsentscheidung einer zuständigen Behörde auferlegt werden;

3.   ‚bedingte Verurteilung‘ [bezeichnet] ein Urteil, bei dem die Straffestsetzung dadurch bedingt zurückgestellt wird, dass eine oder mehrere Bewährungsmaßnahmen auferlegt werden, oder bei dem eine oder mehrere Bewährungsmaßnahmen statt einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme auferlegt werden. Diese Bewährungsmaßnahmen können entweder im Urteil selbst oder in einer eigenständigen Bewährungsentscheidung einer zuständigen Behörde auferlegt werden;

5.   ‚Bewährungsentscheidung‘ [bezeichnet] ein Urteil oder eine auf der Grundlage eines derartigen Urteils ergangene rechtskräftige Entscheidung einer zuständigen Behörde des Ausstellungsstaats, mit dem/der

a)

eine bedingte Entlassung gewährt wird oder

b)

Bewährungsmaßnahmen auferlegt werden;

7.   ‚Bewährungsmaßnahmen‘ [bezeichnet] Auflagen und Weisungen, die einer natürlichen Person nach Maßgabe des nationalen Rechts des Ausstellungsstaats im Zusammenhang mit einer Bewährungsstrafe, einer bedingten Verurteilung oder einer bedingten Entlassung von einer zuständigen Behörde auferlegt werden;

…“

8.

Art. 4 Abs. 1 des RB 2008/947 führt unter den Buchst. a bis k verschiedene Arten der Bewährungsmaßnahmen oder alternativen Sanktionen auf, für die der Rahmenbeschluss gilt. Gemäß Art. 4 Abs. 2 teilt jeder Mitgliedstaat dem Generalsekretariat des Rates mit, welche Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen neben den in Abs. 1 genannten er zu überwachen bereit ist.

9.

Art. 14 betrifft die „Zuständigkeit für alle Folgeentscheidungen und maßgebliches Recht“:

„(1)   Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats ist für alle Folgeentscheidungen im Zusammenhang mit einer Bewährungsstrafe, einer bedingten Entlassung, einer bedingten Verurteilung und einer alternativen Sanktion zuständig, insbesondere wenn die verurteilte Person eine Bewährungsmaßnahme oder alternative Sanktion nicht einhält oder eine neue Straftat begeht.

Zu solchen Folgeentscheidungen gehören insbesondere

a)

die Änderung der mit der Bewährungsmaßnahme oder alternativen Sanktion verbundenen Auflagen oder Weisungen oder die Änderung der Dauer der Bewährungszeit;

b)

der Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung des Urteils oder der Widerruf der Entscheidung über eine bedingte Entlassung; und

c)

die Verhängung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßnahme im Falle einer alternativen Sanktion oder bedingten Verurteilung.

(2)   Auf die nach Absatz 1 getroffenen Entscheidungen sowie auf alle weiteren Folgen aus dem Urteil, einschließlich gegebenenfalls der Vollstreckung und erforderlichenfalls der Anpassung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßnahme, ist das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar.

…“

B.   Estnisches Recht

10.

Gemäß § 50857 Kriminaalmenetluse seadustik (estnisches Strafverfahrensgesetzbuch) ist die Anerkennung von Urteilen und die Durchführung der nach diesem Paragrafen angeordneten Überwachung nur hinsichtlich einer Liste von Bewährungsmaßnahmen zulässig, die der Aufzählung in Art. 4 Abs. 1 des RB 2008/947 entspricht.

III. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage

11.

Mit Urteil des Rīgas pilsētas Latgales priekšpilsētas tiesa (Gericht der Stadt Riga, Bezirk Latgale, Lettland) vom 24. Januar 2017 wurde der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens nach § 20 Abs. 4 und § 195 Abs. 3 des Krimināllikums (Lettisches Strafgesetzbuch) wegen Unterstützung bei der Legalisierung von aus Straftaten stammenden finanziellen Mitteln in großem Umfang verurteilt (im Folgenden: streitiges Urteil). Gegen ihn wurde eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt, deren Vollstreckung unter der Bedingung ausgesetzt wurde, dass er während einer Bewährungszeit von drei Jahren keine neue vorsätzliche Straftat begeht.

12.

Die lettischen Behörden beantragten, dass die Behörden der Republik Estland das streitige Urteil in Estland anerkennen und vollstrecken.

13.

Mit Beschluss des Harju Maakohus (Erstinstanzliches Gericht Harju, Estland) vom 16. Februar 2018 wurde das streitige Urteil für in Estland vollstreckbar erklärt. Der Riigiprokurör (Staatsanwalt, Estland) war der Auffassung, das streitige Urteil könne in Estland wegen des Fehlens einer Rechtsgrundlage nicht anerkannt werden. Das Harju Maakohus (Erstinstanzliches Gericht Harju) war jedoch anderer Ansicht und der Auffassung, der Umstand, dass keine Bewährungsmaßnahme oder alternative Sanktion verhängt worden sei, stehe einer Anerkennung des streitigen Urteils nicht entgegen. Es verwies auf Art. 14 des RB 2008/947, gemäß dem die zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaates für alle Folgeentscheidungen im Zusammenhang mit einer Bewährungsstrafe, u. a. wenn die verurteilte Person innerhalb der Bewährungszeit eine neue Straftat begehe, zuständig seien. Obwohl gegen die verurteilte Person keine Bewährungsmaßnahme oder alternative Sanktion verhängt worden sei, sei das streitige Urteil mit einer noch laufenden Bewährungszeit verbunden.

14.

Durch Beschluss des Tallinna Ringkonnakohus (Berufungsgericht Tallinn, Estland) vom 21. März 2018 wurde der erstinstanzliche Beschluss aufrechterhalten.

15.

Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens legte gegen diesen Beschluss Rechtsmittel beim Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland), dem vorlegenden Gericht, ein und beantragte die Aufhebung beider Beschlüsse und die Nichtanerkennung des streitigen Urteils. Seiner Ansicht nach wird durch das streitige Urteil keine der in § 50857 des Kriminaalmenetluse seadustik (Estnisches Strafverfahrensgesetzbuch) aufgeführten Maßnahmen verhängt, die erschöpfend seien. Werde in einem Urteil in einem anderen Mitgliedstaat, mit dem eine Verurteilung ausgesprochen werde, keine in dieser Liste enthaltene Bewährungsmaßnahme oder alternative Sanktion verhängt, könne das Urteil nicht anerkannt werden.

16.

Der Staatsanwalt stimmte diesem Standpunkt erneut zu und wiederholte seine Auffassung, es bestehe keine Rechtsgrundlage für die Anerkennung des streitigen Urteils.

17.

Unter diesen Umständen hat das Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage vorgelegt:

Steht die Anerkennung eines Urteils eines Mitgliedstaats und die Überwachung seiner Vollstreckung auch dann im Einklang mit dem [RB 2008/947], wenn mit diesem Urteil die Freiheitsstrafe einer verurteilten Person ohne zusätzliche Auflagen zur Bewährung ausgesetzt wird, so dass ihre einzige Verpflichtung darin besteht, während der Bewährungszeit keine neue vorsätzliche Straftat zu begehen (es geht um eine Strafaussetzung zur Bewährung im Sinne von § 73 des estnischen Strafgesetzbuchs)? ( 3 )

18.

Schriftliche Erklärungen wurden von der estnischen, der lettischen und der ungarischen Regierung sowie der Europäischen Kommission abgegeben. Alle diese Beteiligten sowie der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens und die polnische Regierung haben am 14. November 2019 an der Sitzung teilgenommen.

IV. Würdigung

19.

Diese Schlussanträge sind wie folgt gegliedert. Ich werde mit der Zulässigkeit der Vorlagefragen beginnen (A). Sodann werde ich die erforderlichen Standards der Information und Kommunikation zwischen den jeweiligen Behörden des Ausstellungs- und des Vollstreckungsmitgliedstaats behandeln (B). Schließlich werde ich mich der Schlüsselfrage der vorliegenden Rechtssache zuwenden und erläutern, warum das streitige Urteil meiner Ansicht nach nicht in den Anwendungsbereich des RB 2008/947 fällt (C).

A.   Zulässigkeit

20.

Die lettische Regierung schlägt vor, die vorliegende Vorlagefrage für unzulässig zu erklären, da sie ihrer Ansicht nach auf einem Missverständnis der Tragweite des streitigen Urteils beruhe. Das lettische Recht lasse den Widerruf der Bewährung nicht nur zu, wenn eine neue vorsätzliche Straftat begangen werde, sondern auch, wenn überhaupt eine neue Straftat begangen werde. Auch verhänge das lettische Recht darüber hinaus automatisch weitere Auflagen gegen Personen, die unter Bewährung stünden. Somit sei die Auffassung, die einzige gegen die betroffene verurteilte Person verhängte Auflage bestehe darin, keine neue Straftat zu begehen, unrichtig.

21.

Ich nehme die Klarstellungen der lettischen Regierung zur Kenntnis. Sie ändern jedoch nichts daran, dass erstens das vorlegende Gericht in seinem Vorlagebeschluss klar feststellt, dass in dem streitigen Urteil keine Bewährungsmaßnahme verhängt worden ist. Zweitens ergibt sich dies auch aus Buchst. j Nr. 4 der Bescheinigung, deren Standardformular in Anhang I des RB 2008/947 festgelegt ist (im Folgenden: Bescheinigung nach Anhang I), und die von den lettischen Behörden in der vorliegenden Rechtssache ausgefüllt worden ist und zu den Verfahrensunterlagen gehört.

22.

In einem solch klaren Sachverhalt weisen die weiteren Erläuterungen der lettischen Regierung, die die Ausführungen des vorlegenden Gerichts keineswegs widerlegen, auf eine andere Frage hin, nämlich nach dem Standard der Information und der Kommunikation zwischen den Ausstellungs- und den Vollstreckungsbehörden, der im Rahmen des RB 2008/947 geboten ist. Müssen alle Angaben in der Bescheinigung nach Anhang I enthalten sein? Soll den Behörden des vollstreckenden Mitgliedstaats die Aufgabe zukommen, selbst zu ermitteln, ob Bewährungsmaßnahmen, die nicht ausdrücklich in der Bescheinigung nach Anhang I erwähnt sind, tatsächlich kraft der Rechtsvorschriften des Ausstellungsstaats verhängt worden sein könnten?

23.

Unabhängig davon, ob die vorliegende Rechtssache dahin eingegrenzt wird, dass sie lediglich den von den Ausstellungsbehörden einzuhaltenden Standard der Information und der Kommunikation betrifft (B), oder sie dahin verstanden wird, dass nach dem materiellen Anwendungsbereich des RB 2008/947 gefragt wird (C), besteht meines Erachtens kein Zweifel, dass beide Szenarien die Auslegung des RB 2008/947 betreffen und die Vorlagefrage daher zulässig ist.

B.   Standard und Klarheit von Information und Kommunikation

24.

Wie anderen unionsrechtlichen Instrumenten der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mangelt es der Bescheinigung nach Anhang I des RB 2008/947 nicht an Zeilen und Kästchen, die von den Ausstellungsbehörden auszufüllen sind. Dazu gehört Buchst. j „Angaben zur Dauer und Art der Bewährungsmaßnahme(n) oder alternativen Sanktion(en)“. Unter Buchst. j Nr. 1 wird nach der „Gesamtdauer der Überwachung der Bewährungsmaßnahme(n) oder alternativen Sanktion(en)“ gefragt. Buchst. j Nr. 4 betrifft die „Art der Bewährungsmaßnahme(n) bzw. alternativen Sanktion(en)“ und enthält eine Liste von zwölf möglichen anzukreuzenden Kästchen, die im Wesentlichen die Liste in Art. 4 Abs. 1 des RB 2008/947 wiedergibt und um ein Kästchen erweitert ist, das Art. 4 Abs. 2 wiedergibt. Die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats hat in Abhängigkeit von der Art der verhängten Bewährungsmaßnahme oder alternativen Sanktion eines oder mehrere der zwölf Kästchen anzukreuzen – wobei die Möglichkeit von Mehrfachnennungen ausdrücklich vorbehalten ist.

25.

Aus den Verfahrensunterlagen der vorliegenden Rechtssache ergibt sich, dass die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats keines der unter Buchst. j Nr. 4 der Bescheinigung nach Anhang I aufgeführten Kästchen angekreuzt hat, während sie unter Buchst. j Nr. 1 darauf hinwies, dass die Dauer der Überwachung der Bewährungsmaßnahme drei Jahre betrage.

26.

Die lettische Regierung hat in der Sitzung erläutert, dass die Weise, in der die zuständige Behörde in dieser Rechtssache vorgegangen sei, der nationalen Praxis entspreche, gemäß der die verhängten Bewährungsmaßnahmen in der Tat nicht in das Urteil aufgenommen würden, sondern kraft Gesetzes gälten ( 4 ).

27.

Diese Umstände werfen die allgemeine Frage auf, ob die angegebene Bewährungsmaßnahme oder alternative Sanktion an anderer Stelle als im Urteil oder der Bewährungsentscheidung bestimmt werden kann. Ich würde zwei Ebenen dieser Frage unterscheiden.

28.

Einerseits ist es sicherlich Sache jedes Mitgliedstaats, sein eigenes System der Verhängung von Bewährungsmaßnahmen zu strukturieren. Auf nationaler Ebene können diese Maßnahmen im Urteil selbst oder in einer Bewährungsentscheidung im Anschluss an das Urteil oder sogar in einem Urteil, das lediglich auf eine besondere Rechtsvorschrift verweist, die die anwendbaren Bewährungsmaßnahmen definiert, bestimmt werden.

29.

Andererseits sind dieser Freiheit aus operativen und praktischen Gründen gewisse Grenzen gesetzt, wenn die Anerkennung und Überwachung von Bewährungsmaßnahmen auf europäischer Ebene angestrebt wird. Wird in einem anderen Mitgliedstaat die Anerkennung nach dem RB 2008/947 beantragt, muss aus den übermittelten Unterlagen – und insbesondere aus der Bescheinigung nach Anhang I ( 5 ) – klar hervorgehen, welche besonderen Bewährungsmaßnahmen oder alternativen Sanktionen zu überwachen sind.

30.

Ich möchte Folgendes unmissverständlich betonen: Alle erforderlichen Angaben müssen in der Bescheinigung nach Anhang I enthalten sein. Die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten gründet sich auf die Idee standardisierter und somit vereinfachter Kommunikation. Es ist nicht Aufgabe der Behörden des vollstreckenden Mitgliedstaats, eine Untersuchung der Funktionsweise des nationalen Rechts des ausstellenden Mitgliedstaats einzuleiten, um die besonderen Auflagen zu ermitteln oder nochmals zu prüfen, die gegen die verurteilte Person kraft nationalen Gesetzes verhängt worden sein mögen, die jedoch die antragstellende Behörde versäumt hat zu erwähnen.

31.

In diesem rechtlichen Zusammenhang und unter gebührender Berücksichtigung der Erläuterungen der lettischen Regierung zu den lettischen Rechtsvorschriften kann nicht übersehen werden, dass die estnischen Behörden was die Frage angeht, welche Bewährungsmaßnahme sie zu überwachen haben, in einem gewissen Informationsvakuum belassen worden sind. Wie oben erwähnt war kein besonderes Kästchen unter Buchst. j Nr. 4 der Bescheinigung nach Anhang I angekreuzt, was vermutlich dem Umstand Rechnung trägt, dass durch das streitige Urteil keine bestimmte Bewährungsmaßnahme verhängt worden ist.

32.

Zur Beantwortung dieser Frage verweist die lettische Regierung auf Art. 15 des RB 2008/947, der feststellt, dass „die zuständigen Behörden des Ausstellungsstaats und des Vollstreckungsstaats … einander jederzeit konsultieren [können], um die reibungslose und effiziente Anwendung dieses Rahmenbeschlusses zu erleichtern“. Die lettische Regierung schlägt vor, die Behörden des Vollstreckungsstaats sollten von dieser Vorschrift Gebrauch machen, wenn Angaben zu den Bewährungsmaßnahmen fehlen. Sie sollten die Behörden des Ausstellungsstaats kontaktieren, um zu erfragen, welche Überwachungspflichten in Bezug auf die verurteilte Person gelten.

33.

Wie bei entsprechenden Vorschriften anderer Rechtsinstrumente der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ( 6 ) ist die Kommunikation zwischen den zuständigen Behörden sicherlich entscheidend ( 7 ). Jedoch sollten die im Rahmen einzelner Rechtsinstrumente anwendbaren Regeln und insbesondere das erforderliche Maß der zu erteilenden Informationen dahin ausgelegt werden, dass der Bedarf an solcher zusätzlicher Kommunikation auf ein Minimum beschränkt bleibt. Die Notwendigkeit, Ersuchen um zusätzliche Informationen auszulösen, sollte die Ausnahme bleiben und nicht zur Regel werden ( 8 ).

34.

Die Behörden des Vollstreckungsstaats sollten sich daher zum Verständnis, welche Maßnahmen der Überwachung bedürfen, auf die in der Bescheinigung nach Anhang I erteilten Informationen verlassen können. Es ist nicht ihre Aufgabe, in ausführliche Erörterungen mit den Behörden des Ausstellungsstaats einzutreten, um die – erheblichen – Lücken der erteilten Informationen zu schließen ( 9 ), da diese Informationen gerade das Kernstück der Funktionsweise des Rahmenbeschlusses bilden.

35.

Im Licht dieser Erwägungen kann man nur zu dem Schluss kommen, dass das Verständnis der lettischen Behörden in Bezug auf das gegenseitige Anerkennungsverfahren und insbesondere die „Komplettierung“ der Bescheinigung nach Anhang I Lücken aufweist. Es scheint als habe die lettische Regierung dies in der Sitzung anerkannt.

36.

Während die vorliegende Rechtssache auf gewisser Ebene in der Tat dahin verstanden werden könnte, dass sie den gebotenen Standard der Information und Kommunikation im Zusammenhang mit dem RB 2008/947 betrifft, ändert dies nichts an dem Sachverhalt, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist. Dieses Gericht sieht sich mit einem Antrag auf Anerkennung eines Urteils konfrontiert, mit dem eine Bewährungsstrafe verhängt wird, ohne dass in den zur Verfügung gestellten Unterlagen eine Bewährungsmaßnahme bestimmt wird. Die Frage, der ich mich nunmehr zuwende, lautet, ob dieses Gericht unter solchen Umständen gleichwohl verpflichtet ist, das streitige Urteil anzuerkennen.

C.   Stellt eine Bewährungsstrafe eine Bewährungsmaßnahme dar?

37.

Das vorlegende Gericht fragt im Wesentlichen, ob der RB 2008/947 auf ein Urteil Anwendung finden sollte, mit dem keine bestimmte Bewährungsmaßnahme verhängt wird und nach dem die einzige für die verurteilte Person geltende Verpflichtung darin besteht, innerhalb der Bewährungszeit von drei Jahren keine neue Straftat zu begehen.

38.

Um festzustellen, ob ein solches Urteil – ich werde der Einfachheit halber von einer einfachen Bewährungsstrafe sprechen – nach dem RB 2008/947 anzuerkennen ist, werde ich den Wortlaut (1), den Zusammenhang (2) und den Zweck (3) dieses Rechtsinstruments prüfen.

1. Wortlaut

39.

Zunächst weist der Titel des RB 2008/947 klar darauf hin, dass dieses Rechtsinstrument einen Anerkennungsmechanismus im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen einführt. Es stellt keine Maßnahme zur allgemeinen Anerkennung jedes Urteils dar.

40.

Die verschiedenen einleitenden Vorschriften des RB 2008/947 bestimmen dessen Anwendungsbereich auf gleiche Weise in klaren Begriffen. Sie alle verknüpfen das Urteil oder die Bewährungsentscheidung, das oder die anzuerkennen ist, mit dem Umstand, dass durch ein solches Urteil oder eine solche Entscheidung eine Bewährungsmaßnahme oder eine alternative Sanktion verhängt werden muss.

41.

Art. 1 Abs. 1 stellt fest, dass in dem Rahmenbeschluss „Regeln festgelegt [werden], nach denen ein anderer Mitgliedstaat als der Mitgliedstaat, in dem die betreffende Person verurteilt wurde, die Urteile und gegebenenfalls die Bewährungsentscheidungen anerkennt und die auf der Grundlage eines Urteils verhängten Bewährungsmaßnahmen oder die in einem solchen Urteil enthaltenen alternativen Sanktionen überwacht und alle Folgeentscheidungen im Zusammenhang mit diesem Urteil trifft, soweit … nichts anderes vorgesehen ist“ ( 10 ).

42.

Dies wird durch den Wortlaut der Art. 2 und 4 des RB 2008/947 bestätigt.

43.

Die Begriffsbestimmungen der „Bewährungsstrafe“ und der „bedingten Verurteilung“ nach Art. 2 Nrn. 2 und 3 des RB 2008/947 setzen beide den gleichzeitigen Erlass einer oder mehrerer Bewährungsmaßnahmen „entweder im Urteil selbst oder in einer eigenständigen Bewährungsentscheidung einer zuständigen Behörde“ voraus.

44.

Gemäß Art. 2 Nr. 7 bezeichnet der Ausdruck „Bewährungsmaßnahmen“ Auflagen und Weisungen, die einer natürlichen Person nach Maßgabe des nationalen Rechts des Ausstellungsstaats im Zusammenhang mit einer Bewährungsstrafe, einer bedingten Verurteilung oder einer bedingten Entlassung von einer zuständigen Behörde auferlegt werden.

45.

Außerdem enthält Art. 4 Abs. 1 eine Aufzählung der Bewährungsmaßnahmen, für die der RB 2008/947 gilt. Die Aufzählung des Art. 4 Abs. 1 kann gemäß Art. 4 Abs. 2 erweitert werden, wonach die Mitgliedstaaten dem Generalsekretariat des Rates die Bewährungsmaßnahmen und alternative Sanktionen mitzuteilen haben, die sie neben den in Art. 4 Abs. 1 genannten zu überwachen bereit sind ( 11 ). Da Estland jedoch keine solche Mitteilung gemacht hat, nimmt die vorliegende Rechtssache die Aufzählung in Art. 4 Abs. 1 in den Blickpunkt.

46.

Der Wortlaut aller oben erwähnten Vorschriften stellt eines klar: Damit der RB 2008/947 Anwendung findet, muss entweder ein Urteil oder eine Bewährungsentscheidung vorliegen, mit dem oder der eine Bewährungsmaßnahme oder eine alternative Sanktion verhängt wird. Während das logische Verhältnis innerhalb des ersten Begriffspaars (Urteil oder Bewährungsentscheidung) und des zweiten Begriffspaars (Bewährungsmaßnahme oder alternative Sanktion) jeweils einer „Oder-Verknüpfung“ (Disjunktion) entspricht, stellt sich das Gesamtverhältnis zwischen den beiden Begriffspaaren als „Und-Verknüpfung“ (Konjunktion) dar, d. h. damit die Gesamtaussage wahr ist, müssen beide Aussagen wahr sein. Auf der Grundlage des Wortlauts des RB 2008/947 gilt dieser somit klar nicht für ein Urteil, das eine einfache Bewährungsstrafe verhängt, da ein solches Urteil weder eine Bewährungsmaßnahme noch eine alternative Sanktion enthält.

47.

Dieses Zwischenergebnis wirft die nächste Frage auf, nämlich ob, wie insbesondere die Kommission argumentiert, die Verpflichtung, keine neue Straftat zu begehen, für sich genommen als Bewährungsmaßnahme im Sinne des RB 2008/947 angesehen werden könnte?

48.

Ich bin der Auffassung, dass diesem Vorschlag aus zumindest drei Gründen nur schwer gefolgt werden kann.

49.

Erstens ist die Verpflichtung, keine neue Straftat zu begehen nicht in der Aufzählung in Art. 4 Abs. 1 des RB 2008/947 enthalten. Die Verhängung einer einfachen Bewährungsstrafe stellt jedoch in einer Reihe von Mitgliedstaaten, insbesondere in Fällen weniger schwerer, von Ersttätern begangener Straftaten ein recht weit verbreitetes Phänomen dar. Gleichzeitig kann dem neunten Erwägungsgrund des RB 2008/947 entnommen werden, dass die in Art. 4 Abs. 1 aufgeführten Arten der Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen „in den Mitgliedstaaten allgemein vorgesehen sind“ und dass „sich alle Mitgliedstaaten grundsätzlich [zu deren Überwachung] bereit erklärt haben“. Dies ist bereits bemerkenswert: Würde die Bedingung, innerhalb einer bestimmten Zeit keine weitere Straftat zu begehen, in der Tat als Bewährungsmaßnahme angesehen, die „in den Mitgliedstaaten allgemein vorgesehen“ ist, wäre es dann möglich, dass der Unionsgesetzgeber ihre Existenz übersehen und sie nicht in die Aufzählung in Art. 4 Abs. 1 aufgenommen hätte?

50.

Zweitens bringt die Kommission vor, die vorliegende Situation könne unter Art. 4 Abs. 1 Buchst. d fallen, der „Weisungen, die das Verhalten, den Aufenthalt, die Ausbildung und Schulung oder die Freizeitgestaltung betreffen oder die Beschränkungen oder Modalitäten der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit beinhalten“ ( 12 ), betrifft.

51.

Dieser Vorschlag überzeugt mich nicht. Eine so allgemeine und umfassende Verpflichtung, keine neue Straftat zu begehen, steht im Gegensatz zu der eher speziellen und konkreten Art der in Art. 4 Abs. 1 Buchst. d aufgeführten möglichen Verpflichtungen (Aufenthalt, Freizeitgestaltung, Schulung usw.). Dieser Gegensatz wird weiter durch den zehnten Erwägungsgrund des RB 2008/947 unterstrichen, der vorsieht, dass „die Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen, deren Überwachung grundsätzlich obligatorisch ist, … unter anderem Auflagen betreffend das Verhalten (z. B. Verpflichtung zur Einstellung des Alkoholkonsums), den Wohnort (z. B. Verpflichtung zum Wohnortwechsel aufgrund häuslicher Gewalt), die Ausbildung und Schulung (z. B. Verpflichtung zur Teilnahme an einem Kurs für sicheres Fahren), die Freizeitgestaltung (z. B. Verpflichtung, einen bestimmten Sport nicht mehr auszuüben oder an bestimmten Sportveranstaltungen nicht mehr teilzunehmen) sowie Beschränkungen oder Modalitäten der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit (z. B. Verpflichtung, die Erwerbstätigkeit in ein anderes berufliches Umfeld zu verlagern …) [umfassen]“ ( 13 ).

52.

Darüber hinaus erscheint mir die Gesamtlogik des Kommissionsvorbringens problematisch. Natürlich bezieht sich die Verpflichtung, keine neue Straftat zu begehen, in gewissem Maße allgemein auf ein bestimmtes Verhalten. Nach dieser Logik könnte jedoch alles unter jedes Wort subsumiert werden, das in Art. 4 Abs. 1 erscheint, wenn man es dieser Vorschrift und seinem Kontext entnimmt. Warum nicht das Wort „Verpflichtung“ nehmen und die „Verpflichtung, innerhalb einer bestimmten Zeit keine neue Straftat zu begehen“ unter jeden Buchstaben des Art. 4 Abs. 1 subsumieren, der das Wort „Verpflichtung“ enthält?

53.

Drittens stelle ich fest, dass nach Art. 14 Abs. 1 des RB 2008/947 „die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats … für alle Folgeentscheidungen im Zusammenhang mit einer Bewährungsstrafe, einer bedingten Entlassung, einer bedingten Verurteilung und einer alternativen Sanktion zuständig [ist], insbesondere wenn die verurteilte Person eine Bewährungsmaßnahme oder alternative Sanktion nicht einhält oder eine neue Straftat begeht“ ( 14 ).

54.

Diese Vorschrift unterscheidet somit klar zwischen der Nichtbeachtung einer Bewährungsmaßnahme einerseits und der Begehung einer neuen Straftat andererseits. Dieser Wortlaut beschreibt eindeutig eine zusätzliche Alternative, die sich von der Nichtbeachtung einer Bewährungsmaßnahme unterscheidet. Mit anderen Worten, stellte die Verpflichtung, keine neue Straftat zu begehen, als solche eine Bewährungsmaßnahme dar, wäre die Unterscheidung zwischen der Nichteinhaltung einer Bewährungsmaßnahme und der Begehung einer neuen Straftat überflüssig.

55.

Im Licht der oben erörterten Wortlautelemente muss ich zu dem Ergebnis kommen, dass der RB 2008/947 nicht für ein Urteil gilt, durch das eine einfache Bewährungsstrafe, aber keine Bewährungsmaßnahme verhängt wird. Die Verpflichtung, während der Bewährungszeit nicht erneut eine Straftat zu begehen, stellt für sich genommen keine Bewährungsmaßnahme dar.

56.

Dieses Ergebnis wird überdies durch die Prüfung des inneren und äußeren Kontexts und der Logik des streitigen Rechtsinstruments bestätigt.

2. Innerer und äußerer Kontext und Logik

57.

Der RB 2008/947 hat die entsprechenden Bestimmungen des Übereinkommens des Europarates vom 30. November 1964 über die Überwachung bedingt verurteilter oder bedingt entlassener Personen ( 15 ) ersetzt. Der genaue Zusammenhang zwischen diesen beiden Rechtsinstrumenten wird über die Feststellungen hinaus nicht weiter erläutert, dass erstens das frühere Übereinkommen „nur von 12 Mitgliedstaaten, zum Teil unter Erklärung zahlreicher Vorbehalte, ratifiziert [worden war]“ und zweitens mit dem RB 2008/947 „ein wirksameres Instrument zur Verfügung [steht], da dieser sich auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung stützt und alle Mitgliedstaaten teilnehmen“ ( 16 ).

58.

Somit kann dem früheren Übereinkommen oder seinem Anwendungsbereich wenig für die Auslegung des Anwendungsbereichs des RB 2008/947 entnommen werden. Daher sollten die maßgeblichen Hinweise in der inneren Logik des RB 2008/947 selbst (a) und im äußeren Zusammenhang, nämlich den anderen Legislativinstrumenten der Europäischen Union auf dem Gebiet der Zusammenarbeit in Strafsachen (b) gesucht werden.

a) Innere Logik

59.

Wie von der polnischen Regierung im Wesentlichen vorgetragen, beruht der RB 2008/947 auf der Idee, dass dadurch, dass von der Verhängung einer freiheitsentziehenden Strafe oder Maßnahme abgesehen und statt dessen eine Bewährungsstrafe – oder bedingte Verurteilung – verhängt wird, die von einer Bewährungsmaßnahme – oder einer alternativen Sanktion – begleitet wird, die verurteilte Person bessere Resozialisierungschancen hat – was wiederum dazu beiträgt, neue Straftaten zu unterbinden und die Gesellschaft gegen strafbare Handlungen zu schützen. Gleichzeitig wird diese Person die Möglichkeit haben, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, während die Beachtung der mit der Verurteilung verbundenen Auflagen von diesem Staat sichergestellt wird. Dieser Staat wird der Aufenthaltsmitgliedstaat oder, unter weiteren Bedingungen, ein anderer Mitgliedstaat sein, wie beispielweise wenn er oder sie in diesem Mitgliedstaat einen Arbeitsvertrag erhalten hat, wenn er oder sie Angehörige(r) einer Person ist, die ihren rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hat oder wenn er oder sie in diesem Mitgliedstaat ein Studium oder eine Ausbildung aufnehmen möchte ( 17 ).

60.

Kurz gefasst dürfte die Logik darin bestehen, einer Person Bewegungsfreiheit zu gewähren, wenn auch Bedingungen daran geknüpft sind. In einem solchen Fall sollen sich die Bedingungen mit der Person mitbewegen. Wenn jedoch keine besonderen Bedingungen bestehen, was soll sich dann mitbewegen? Wenn keine besondere Bewährungsmaßnahme in einen anderen Mitgliedstaat mitzubewegen ist, würde dies bedeuten, dass zuvor nicht bestehende Bedingungen geschaffen würden, wenn die Person im Vollstreckungsstaat dem RB 2008/947 unterstellt würde.

61.

Dieser Gesichtspunkt hängt mit einem weiteren strukturellen Argument zusammen. Im Kontext der Anwendung des RB 2008/947 werden Kommunikation und Überwachung durch die von den Mitgliedstaaten nach Art. 3 dieses Rahmenbeschlusses benannten Behörden sichergestellt. Diese besonders benannten Behörden kommunizieren nicht nur untereinander, sondern stellen auch die Verbindung zu spezialisierten und ausdrücklich dazu bestimmten Behördenstrukturen im Mitgliedstaat sicher, die die Befugnis und Fachkenntnis haben, die Einhaltung der in Art. 4 Abs. 1 des RB 2008/947 festgelegten – und erschöpfend aufgeführten – oder nach Art. 4 Abs. 2 mitgeteilten Bewährungsmaßnahmen zu überwachen.

62.

Wer würde demgegenüber die Nichtbegehung einer neuen Straftat durch eine verurteilte Person überwachen und wie? Eine solche Aufgabe obliegt in der Regel allen Strafverfolgungsbehörden, die für die Vermeidung, Ermittlung und Verfolgung strafbarer Handlungen in einem Mitgliedstaat verantwortlich sind. Somit würde die naturgemäß diffuse und allgemeine„Überwachung“ einer solchen Maßnahme allen Strafverfolgungsbehörden des Mitgliedstaats und nicht notwendigerweise oder nur einem ausdrücklich dazu bestimmten Netzwerk von Bewährungsbehörden obliegen.

63.

Dieser institutionelle Gegensatz unterstreicht weiter den Unterschied zwischen dem Wesen und der Systematik einer besonderen Bewährungsmaßnahme einerseits und einem allgemeinen, mit einer Bewährungsstrafe verbundenen Verbot der Begehung einer neuen Straftat andererseits.

b) Äußerer Kontext

64.

Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union ( 18 ), ist auf Unionsebene im Hinblick auf ausgesuchte Aspekte der Vollstreckung des Strafrechts umgesetzt worden. Zwei weitere Rechtsinstrumente sind für die Auslegung des RB 2008/947 im Zusammenhang mit der vorliegenden Rechtssache maßgeblich: Der Rahmenbeschluss 2008/675 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren ( 19 ) (im Folgenden: RB 2008/675) und der Rahmenbeschluss 2008/909 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union ( 20 ) (im Folgenden: RB 2008/909).

65.

Das Ziel des RB 2008/909 und des RB 2008/947 liegt darin, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung einerseits auf Urteile in Strafsachen, durch die eine Freiheitsstrafe verhängt wird, und andererseits auf Urteile, mit denen Bewährungsmaßnahmen oder alternative Sanktionen verhängt werden, zur Anwendung zu bringen. Während das erste Rechtsinstrument somit Situationen betrifft, in denen verurteilten Personen die Freiheit entzogen wird, betrifft das zweite Situationen, in denen dies nicht geschieht, sie jedoch weiteren Maßnahmen, sei es Bewährung oder alternativen Sanktionen, unterliegen.

66.

Der RB 2008/675 stellt ein weiteres Instrument dar, das sich jedoch, wie die Kommission in der Sitzung festgestellt hat, nach seinem Wesen und seiner Funktion von den anderen beiden unterscheidet. Durch diesen Rahmenbeschluss wird kein Anerkennungsmechanismus eingeführt, der dem ähnlich wäre, der durch die beiden anderen Rahmenbeschlüsse eingerichtet wurde. Er überträgt keine Zuständigkeit für die betroffene Person oder die Verurteilung von einem Mitgliedstaat auf einen anderen. Die Schlüsselvorschrift des RB 2008/675, Art. 3 Abs. 1, verlangt von den Mitgliedstaaten, dass sie gleichwertige Folgen aus früheren, in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Verurteilungen ziehen wie aus früheren inländischen Verurteilungen. Zu diesem Zweck unterscheidet dieses Rechtsinstrument nicht zwischen freiheitsentziehenden und nicht freiheitsentziehenden Strafen oder zwischen Strafen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, und solchen, deren Vollstreckung nicht ausgesetzt wurde. Alle strafrechtlichen Verurteilungen werden erfasst.

67.

Im Gegensatz zum letztgenannten Rechtsinstrument überträgt der RB 2008/947 die Zuständigkeit für die Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ausgesprochenen Strafe. Der RB 2008/947 ermöglicht, insbesondere unter den Bedingungen seines Art. 14, den Behörden des vollstreckenden Mitgliedstaats die Modalitäten der Strafe zu ändern: Ein Mitgliedstaat wird nämlich berechtigt, eine rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung eines anderen Mitgliedstaats zu ändern oder anzupassen. Dies stellt jedoch eine Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der Territorialität des Strafrechts dar. Dies scheint durch einen Vergleich mit Art. 3 Abs. 3 des RB 2008/675 bestätigt zu werden, nach dem „die Berücksichtigung früherer, in einem anderen Mitgliedstaat ergangener Verurteilungen … nicht die Wirkung [hat], dass frühere Verurteilungen oder Entscheidungen zu ihrer Vollstreckung durch den Mitgliedstaat, in dem das neue Verfahren geführt wird, abgeändert, aufgehoben oder überprüft werden“.

68.

In der Rechtssache Beshkov hat der Gerichtshof diesem Umstand Rechnung getragen, indem er feststellte, dass „diese Bestimmung … jede Überprüfung dieser [früheren] Verurteilungen [ausschließt], die daher so wie ergangen berücksichtigt werden müssen“ ( 21 ). Der RB 2008/675 hindert somit einen Mitgliedstaat daran, bei der Berücksichtigung früherer Verurteilungen die Modalitäten der Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat verhängten Strafe zu ändern ( 22 ).

69.

Aus diesem Regelungszusammenhang ziehe ich zwei Schlussfolgerungen.

70.

Erstens würde, käme man zu dem Ergebnis, dass der RB 2008/947 nicht für einfache Bewährungsstrafen gilt, dies natürlich nicht bedeuten, dass eine solche Gerichtsentscheidung in einem anderen Mitgliedstaat nicht berücksichtigt werden kann. Dies würde lediglich nach einem anderen Rechtsinstrument als dem RB 2008/947 geschehen. Wie die Kommission und die ungarische und die polnische Regierung im Wesentlichen feststellen, bleibt das vorliegende Szenarium von dem RB 2008/675 erfasst. Mit anderen Worten, sollte die betroffene Person eine neue Straftat in einem anderen Mitgliedstaat begehen – im Fall des Rechtsmittelführers in einem anderen Staat als Lettland –, könnte ihre frühere, durch das streitige Urteil ausgesprochene Verurteilung von den jeweiligen Behörden gemäß den im RB 2008/675 festgelegten Bedingungen berücksichtigt werden.

71.

Zweitens folgt aus dem Regelungszusammenhang in diesem Rechtsbereich, dass das System des RB 2008/947, insbesondere sein Art. 14, eine Ausnahme von den sonst anwendbaren Regeln vorsieht. Sollte dann nicht wie bei jeder Ausnahme der Anwendungsbereich der Ausnahme restriktiv ausgelegt werden? Sollten solche Übertragungen der Zuständigkeit in Strafsachen nicht nur in Fällen geschehen, die von den Unionsrechtsvorschriften klar und unmissverständlich vorgesehen sind? Das Verhältnis zwischen dem RB 2008/675 und dem RB 2008/947 stellt meiner Ansicht nach noch einen weiteren Grund für eine vorsichtige und restriktive Auslegung des letzteren Rechtsinstruments dar.

72.

Ich gebe natürlich zu, dass die sich aus dem RB 2008/675 ergebenden Folgen möglicherweise von geringerer „normativer Intensität“ sind als diejenigen nach dem RB 2008/947. In der Tat kann, wie der Gerichtshof in der Rechtssache Beshkov im Wesentlichen festgestellt hat, die „Berücksichtigung“ einer früheren Verurteilung die Modalitäten der Vollstreckung der früher in einem anderen Mitgliedstaat verhängten Sanktion nicht berühren oder ändern ( 23 ). Ich gebe ebenso zu, dass das Ergebnis der Nicht-Anwendbarkeit des RB 2008/947 auf eine einfache Bewährungsstrafe bedeutet, dass im Hinblick auf ihre Vollstreckung keine Zuständigkeit auf den Aufenthaltsstaat der von dieser Strafe betroffenen Person übertragen werden kann. Eine solche Folge ergibt sich jedoch meiner Ansicht nach, zumindest was den Wortlaut und den Zusammenhang dieser Maßnahmen angeht, klar aus dem geltenden Rechtssystem der Union. Als letztes verbleibt das Element des Zwecks: Könnte eine weite Auslegung des Anwendungsbereichs des RB 2008/947 dessen Zweck irgendwie fördern?

3. Zweck

73.

Gemäß Art. 1 Abs. 1 sind die Ziele des RB 2008/947 (i) „die Erleichterung der Resozialisierung einer verurteilten Person“, (ii) „die Verbesserung des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit“ sowie (iii) „die Erleichterung der Anwendung angemessener Bewährungsmaßnahmen und alternativer Sanktionen auf Straftäter, die nicht im Urteilsstaat leben“.

74.

Der achte Erwägungsgrund entwickelt das Ziel (i) weiter, indem er hinzufügt, dass der RB 2008/947 „die Aussichten auf Resozialisierung der verurteilten Person erhöhen [soll], indem ihr die Möglichkeit verschafft wird, die familiären, sprachlichen, kulturellen und sonstigen Beziehungen aufrechtzuerhalten“.

75.

Betreffend das Ziel (ii) wird im achten Erwägungsgrund grundsätzlich festgestellt, dass „aber auch die Kontrolle der Einhaltung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen verbessert werden [soll] mit dem Ziel, neue Straftaten zu unterbinden und damit dem Gedanken des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit Rechnung zu tragen“.

76.

Was das Ziel (iii) anbelangt, wird laut dem Umsetzungsbericht der Kommission „eine korrekte Umsetzung des [RB 2008/947] die Richter, die darauf vertrauen können, dass eine Person in einem anderen Mitgliedstaat angemessen überwacht wird, dazu ermutigen, anstelle des Freiheitsentzugs eine alternative Sanktion zu verhängen, die im Ausland vollstreckt wird“ ( 24 ). Längerfristig wird, „da die Mitgliedstaaten jedoch zumindest die in Artikel 4 Absatz 1 [des RB 2008/947] vorgesehenen Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen vorsehen müssen, … ein positiver Nebeneffekt in der Förderung und Angleichung von Alternativen zum Freiheitsentzug in den verschiedenen Mitgliedstaaten bestehen“ ( 25 ).

77.

Könnten die drei oben genannten Ziele, wie die Kommission und die estnische Regierung vorbringen, durch eine weite Auslegung des Anwendungsbereichs des RB 2008/947 auf irgendeine Weise gefördert werden?

78.

Dies wäre im Hinblick auf das erste Ziel, das die Resozialisierung verurteilter Personen betrifft, kaum der Fall. Wie die estnische Regierung einräumt und ebenso im Vorlagebeschluss festgestellt wird, würde die Anerkennung des streitigen Urteils keine aktive Verpflichtung zur Überwachung des Rechtsmittelführers begründen ( 26 ). Die sich daraus ergebende Situation trüge auf keine Weise zu dessen Resozialisierung bei. Seine Situation wäre in dieser Hinsicht genau dieselbe, wie wenn das streitige Urteil nicht anerkannt würde, da sich aus den Verfahrensunterlagen nicht ergibt, dass das streitige Urteil in irgendeiner Weise seine Möglichkeit einschränkte, Lettland zu verlassen.

79.

Eine weite Auslegung des RB 2008/947 dürfte auch nicht zum dritten Ziel, das „die Erleichterung der Anwendung angemessener Bewährungsmaßnahmen und alternativer Sanktionen“ betrifft, beitragen, da in der vorliegenden Rechtssache keine solchen Maßnahmen verhängt wurden. Sollte eine einfache Bewährungsstrafe als „Bewährungsmaßnahme“ angesehen werden, sehe ich nicht, wie ein Richter in einer Situation, in der er ohnehin nicht die Absicht hatte, der verurteilten Person weitere Verhaltensauflagen in Form besonderer Bewährungsmaßnahmen zu machen, eher geneigt sein könnte, eine einfache Bewährungsstrafe als eine Freiheitsstrafe zu verhängen.

80.

Im Hinblick auf das zweite Ziel, das „die Verbesserung des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit“ betrifft, ist die Situation wohl weniger eindeutig. Es könnte in der Tat vertreten werden, dass die Anerkennung des streitigen Urteils es den estnischen Behörden ermöglichen würde, die durch das streitige Urteil verhängte Aussetzung zu widerrufen, sollte der Rechtsmittelführer eine neue Straftat begehen, und dann aus der früheren Strafe und derjenigen für die neue Straftat sofort eine Gesamtstrafe zu bilden. Dies könnte als Maßnahme zum Schutz der Opfer und der Allgemeinheit angesehen werden, da dem Rechtsmittelführer die Freiheit entzogen würde, und zwar wahrscheinlich für eine längere Zeit, als wenn die Verhängung einer Gesamtstrafe nicht möglich wäre.

81.

Es gibt sicherlich unterschiedliche Ansichten über die Rolle strafrechtlicher Bestrafung in der Gesellschaft und darüber, wie die Gesellschaft insgesamt am besten vor strafrechtlichen Handlungen geschützt werden kann. Der Gedanke der bloßen Anwendung härterer Sanktionen ohne die Berücksichtigung des Interesses an der Verbesserung der Resozialisierung der betroffenen Personen betont jedoch klar den Aspekt der Vergeltung, die unmittelbare Folgen für die verurteilte Person hat sowie zu einem unmittelbaren – gleichwohl in gewisser Weise kurzfristigen – Schutz der Gesellschaft zulasten der Resozialisierung führt, die die langfristigen Wirkungen sowohl für die verurteilte Person als auch für die anderen Mitglieder der Gesellschaft favorisiert ( 27 ).

82.

Die Kommission scheint Art. 14 Abs. 1 des RB 2008/947 in diesem die Vollstreckung favorisierenden Sinne auszulegen, indem sie feststellt, es wäre unvernünftig, wenn die Begehung einer neuen Straftat nicht zum Widerruf der Aussetzung führte.

83.

Ich räume ein, dass sich der Mechanismus des Art. 14 der Übertragung der Zuständigkeit auf den Vollstreckungsstaat auf den ersten Blick für die vorliegende Situation zu eignen scheint. Mit anderen Worten, sollte man zu dem Ergebnis kommen, dass die Verpflichtung, keine neue Straftat zu begehen, als Bewährungsmaßnahme einzustufen ist, versähe der Mechanismus des Art. 14 die Behörden des Vollstreckungsstaats mit den notwendigen Mitteln, zu reagieren, sollte gegen diese Verpflichtung verstoßen werden.

84.

Dieses Argument ist jedoch ein gutes Bespiel für eine Argumentation, die vom Ergebnis ausgeht und den Gesamtzweck und die Systematik des RB 2008/947 aus dem Gleichgewicht bringt.

85.

Erstens gehen solche Erwägungen von einer potenziellen negativen Folge aus, die in der vorliegenden Rechtssache noch nicht eingetreten ist: Wenn die verurteilte Person erneut eine Straftat begeht. Es liegt kein Beleg dafür vor, dass der Rechtsmittelführer erneut eine Straftat begangen hat. Darüber hinaus gründet das Argument allgemein auf der Annahme, dass Personen, die einmal verurteilt wurden, wahrscheinlich zu Wiederholungstätern werden. Ich lasse das Maß der moralischen Ermutigung und Unterstützung, das ein solches Argument gegenüber Personen, gegen die eine Bewährungs- oder bedingte Strafe verhängt wurde, zum Ausdruck bringt, außer Acht und stelle stattdessen fest, dass allerdings auch kein großes Vertrauen in die Eignung der fraglichen Unionsrechtsakte zum Ausdruck gebracht wird, wirksam zum Ziel der Resozialisierung und Reintegration beizutragen.

86.

Zweitens sollte der Anwendungsbereich eines Unionsrechtsakts normalerweise durch die maßgeblichen Vorschriften festgelegt werden, die diesen Anwendungsbereich bestimmen, und nicht durch den Umstand, dass ein Teil des von diesem Rechtsinstrument geschaffenen Mechanismus auch für etwas anderes genutzt werden könnte.

87.

Drittens dürfte die Begehung einer neuen Straftat Auswirkungen für Personen haben, die unter Bewährung stehen, selbst wenn eine besondere Bewährungsmaßnahme, wie die Auflage, keinen Alkohol zu konsumieren, nicht verletzt worden ist. Verurteilte Personen, denen eine bestimmte Bewährungsmaßnahme auferlegt wurde, dürften der Verpflichtung unterliegen, im fraglichen Mitgliedstaat ebenso wie im Ausland keine neue Straftat zu begehen. Wenn sie dies tun, könnte ihre Bewährungszeit in Abhängigkeit von dem jeweiligen Rechtssystem und den Umständen des Einzelfalls wiederrufen werden.

88.

Viertens könnte die von der Kommission nahegelegte weite Auslegung des RB 2008/947 wohl das in der „Vergeltung“ bestehende Ziel der strafrechtlichen Bestrafung fördern. Dies lässt jedoch die anderen Aspekte außer Acht, die durch den dreifachen Zweck des RB 2008/947, der in Art. 1 Abs. 1 und in Nr. 73 dieser Schlussanträge dargelegt wird, ausdrücklich gegeneinander abgewogen werden. Der Rahmenbeschluss ist dazu gedacht, die Anwendung von Bewährungsmaßnahmen oder alternativer Sanktionen zu fördern, da sie helfen, die Verhängung von Freiheitsstrafen zu vermeiden, wodurch sie die Chancen auf die Resozialisierung verurteilter Personen verbessern.

89.

Die drei mit dem RB 2008/947 verfolgten und in Art. 1 Abs. 1 zum Ausdruck gebrachten Ziele treffen somit zusammen. Der RB 2008/947 soll ein Gleichgewicht zwischen ihnen herstellen. Ich sehe keinen überzeugenden Grund, warum nur einem dieser Ziele oder eher nur einem Element, das eines von ihnen betrifft, mehr Gewicht verliehen werden sollte, um eine weite Auslegung eines Unionsrechtsinstruments zu erreichen, mit dem alle diese Ziele verfolgt werden.

90.

Zusammengefasst sehe ich wenig Grund, eine übermäßig weite Auslegung des Anwendungsbereichs des RB 2008/947 vorzuschlagen, die klar gegen den Wortlaut, den Zusammenhang und die Systematik dieses Rechtsinstruments verstößt, während sie auf Kosten – oder sogar zum Nachteil – seiner anderen Ziele nur ein ganz bestimmtes Element eines seiner Ziele fördert.

91.

Abschließend sei angemerkt, dass ich wiederholt darauf hingewiesen habe, dass auch im Unionsrecht weniger Bedarf besteht, sich mit der Bewertung der Ziele des betreffenden Rechtsakts auseinanderzusetzen, wenn der betreffende Wortlaut klar ist ( 28 ). Ich möchte lediglich hinzufügen, dass das Gleiche erst recht in Fällen gelten sollte, die den Bereich des Strafrechts im weiteren Sinne betreffen, in dem die weite oder enge Auslegung des betreffenden Rechtsinstruments strafrechtliche Auswirkungen auf die Situation der betroffenen Einzelnen haben wird.

92.

In diesem Zusammenhang ist unbestreitbar, dass eine weite Auslegung des Anwendungsbereichs des RB 2008/947 die Situation der verurteilten Person (die keine neue Straftat begangen hat) in der vorliegenden Rechtssache verschlechtern dürfte. Ich nehme die hilfreichen Klarstellungen des vorlegenden Gerichts zur Frage der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen, die im Unionsrecht in Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) ihren Ausdruck gefunden hat, zur Kenntnis. Gemäß den im Vorlagebeschluss enthaltenen Erläuterungen würde die Anerkennung des streitigen Urteils die Bildung einer Gesamtstrafe aus der früher verhängten und einer neuen Sanktion ermöglichen. Umgekehrt ist ohne Anerkennung keine Gesamtstrafenbildung möglich. Nach meinem Verständnis müsste die betroffene verurteilte Person dann zwei Strafen nacheinander verbüßen, nämlich die für die hypothetisch neu verübte Straftat in Estland und die zuvor in Lettland verhängte.

93.

Das Problem bei diesem Argument liegt wie bei dem der Kommission ( 29 ) in seiner im Zusammenhang mit der vorliegenden Rechtssache hypothetischen Natur. Nochmals, der Rechtsmittelführer hat keine neue Straftat begangen. Der lobenswerte Wunsch, die Verhängung einer Strafe zu verhindern, die von dem angegebenen Staat als übermäßig angesehen würde, kann meines Erachtens den Anwendungsbereich des RB 2008/947 nicht ändern und ausweiten, dessen Ziele nicht die Frage der Strafe in Fällen der Begehung neuer Straftaten betreffen.

94.

Daher lässt sich nicht vertreten, dass die Position einer Person, die keine neue Straftat begangen hat, deshalb geändert werden sollte, weil eine Person, die eine neue Straftat begangen hat, vielleicht besser gestellt wäre, wenn Art. 14 des RB 2008/947 für ihre Situation gälte. Die verurteilte Person im vorliegenden Fall, die keine neue Straftat begangen hat, könnte durch den bloßen Umstand schlechter gestellt sein, dass die ausgesetzte Strafe in Estland anerkannt würde, und sie somit einem System unterstellt würde, das andernfalls nicht für sie gälte. Sie würde somit potenziell Verpflichtungen unterworfen, die in diesem Staat gegebenenfalls gelten, und wäre in diesem Staat vorbestraft, was andernfalls nicht der Fall wäre. Dies, nehme ich an, ist der Grund, warum der Rechtsmittelführer in der vorliegenden Rechtssache die Einbeziehung seiner einfachen Bewährungsstrafe nach dem Mechanismus des RB 2008/947 vor den estnischen Gerichten in drei Instanzen angefochten hat.

95.

Nach dieser Klarstellung bleibt lediglich daran zu erinnern, dass die Auslegung strafrechtlicher Maßnahmen dem Legalitätsprinzip unterliegen sollte, das im Unionsrecht in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankert ist. Damit meine ich nicht das enge Konzept der Legalität strafrechtlicher Sanktionen – nullum crimen, nulla poena sine lege –, sondern die weitergefasste Frage der Sicherheit und Vorhersehbarkeit der Folgen, die sich aus einer strafrechtlichen Verurteilung ergeben ( 30 ). Mit anderen Worten scheint es, dass der Anwendungsbereich des Strafrechts, wenn angenommen wird, dass das streitige Urteil in den Anwendungsbereich des RB 2008/947 fällt, zum Nachteil der verurteilten Person ausgedehnt würde. Dies stellt an sich noch ein weiteres Argument gegen die weite Auslegung des RB 2008/947 dar.

96.

Ich komme zu dem Ergebnis, dass die obige Analyse des Zusammenhangs und des Zwecks nichts an dem Ergebnis ändert, zu dem ich bereits auf der Grundlage der Prüfung des Wortlauts, der Logik und der Systematik des RB 2008/947 gelangt bin. Dieses Rechtsinstrument gilt nicht für ein Urteil, durch das eine einfache Bewährungsstrafe verhängt wird, ohne eine Bewährungsmaßnahme im Sinne des RB 2008/947 zu bestimmen, und wenn die einzige Verpflichtung der betroffenen verurteilten Person darin besteht, während der Bewährungszeit keine neue Straftat zu begehen.

V. Ergebnis

97.

Ich schlage dem Gerichtshof vor, wie folgt auf die Vorlagefrage des Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland) zu antworten:

Der Rahmenbeschluss 2008/947/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen gilt nicht für ein Urteil, durch das eine Bewährungsstrafe verhängt wird, ohne eine Bewährungsmaßnahme im Sinne dieses Rahmenbeschlusses zu verhängen, und wenn die einzige Verpflichtung der verurteilten Person darin besteht, während der Bewährungszeit keine neue Straftat zu begehen.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Rahmenbeschluss 2008/947/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen (ABl. 2008, L 337, S. 102), in geänderter Fassung.

( 3 ) [Die Fußnote im englischen Original betrifft nicht die deutsche Fassung].

( 4 ) Die lettische Regierung verweist in dieser Hinsicht auf die §§ 1, 2 und 9 des Art. 55 des Krimināllikums (Lettisches Strafgesetzbuch), sowie auf Art. 155 des Latvijas Sodu izpildes kodekss (Lettisches Strafvollzugsgesetzbuch).

( 5 ) Die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats hat nach Art. 6 Abs. 1 des RB 2008/947, wenn sie beschließt, von dem nach diesem Rahmenbeschluss eingeführten Mechanismus Gebrauch zu machen, der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaats das betreffende Urteil oder die betreffende Bewährungsentscheidung unter Beifügung der Bescheinigung nach Anhang I zu übermitteln.

( 6 ) Vgl. insbesondere Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI) (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist (ABl. 2009, L 81, S. 24).

( 7 ) Vgl. zur diesbezüglichen Ermächtigung der vollstreckenden Justizbehörden, Urteile vom 10. August 2017, Tupikas (C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 91), und vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 103).

( 8 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 23. Januar 2018, Piotrowski (C‑367/16, EU:C:2018:27, Rn. 61), und ebenso meine Schlussanträge in der Rechtssache X (Europäischer Haftbefehl gegen einen Sänger) (C‑717/18, EU:C:2019:1011, Nr. 80).

( 9 ) Als Randnotiz könnte hinzugefügt werden, dass die von der lettischen Regierung angeführten nationalen Rechtsvorschriften – auf die oben in Fn. 4 verwiesen wird – und aus denen sich die Bewährungsmaßnahmen kraft nationalen Gesetzes angeblich klar ergeben, in gewisser Weise zu dieser Unsicherheit beitragen. Art. 155 des Latvijas Sodu izpildes kodekss (Lettisches Strafvollzugsgesetzbuch) führt sechs verschiedene Bewährungsmaßnahmen auf. Einige von ihnen sind jedoch eher unbefristet und allgemein. Zu ihrer Anwendung auf eine verurteilte Person wäre eine Entscheidung eines Richters oder Bewährungshelfers erforderlich, um sie dem besonderen Fall anzupassen. Wird aber in Ermangelung einer solchen Entscheidung über die Art und die mögliche Dauer der Maßnahme und ihrer Überwachung von einem Richter im vollstreckenden Mitgliedstaat erwartet, eine Auswahl aus dieser Liste zu treffen?

( 10 ) Hervorhebung der logischen Bindeglieder nur hier.

( 11 ) Art. 6 Abs. 4 des RB 2008/947 bestimmt, dass „neben den in Artikel 4 Absatz 1 genannten Maßnahmen und Sanktionen … die in Absatz 1 dieses Artikels genannte Bescheinigung nur solche Maßnahmen und Sanktionen enthalten [darf], die von dem jeweiligen Vollstreckungsstaat nach Artikel 4 Absatz 2 mitgeteilt wurden“.

( 12 ) Hervorhebung nur hier.

( 13 ) Hervorhebung nur hier.

( 14 ) Hervorhebung nur hier.

( 15 ) Vgl. Art. 23 Abs. 1 des RB 2008/947.

( 16 ) Vierter Erwägungsgrund des RB 2008/947.

( 17 ) Vgl. 14. Erwägungsgrund und Art. 5 Abs. 2 des RB 2008/947.

( 18 ) Vgl. z. B. zweiter Erwägungsgrund des RB 2008/947 und Urteil vom 11. Januar 2017, Grundza (C‑289/15, EU:C:2017:4, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 19 ) Rahmenbeschluss 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 (ABl. 2008, L 220, S. 32).

( 20 ) Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 (ABl. 2008, L 327, S. 27).

( 21 ) Vgl. Urteil vom 21. September 2017, Beshkov (C‑171/16, EU:C:2017:710, Rn. 44).

( 22 ) Davon abgesehen ließe sich darüber diskutieren, in welchem Umfang die Schlussfolgerungen, zu denen der Gerichtshof in diesem Urteil gelangt ist, auf dem besonderen tatsächlichen Umstand beruhten, dass die fragliche zeitlich erste Strafe vollständig verbüßt war, bevor die verurteilte Person die Bildung einer Gesamtstrafe mit einer zweiten Strafe beantragte. Vgl. Urteil vom 21. September 2017, Beshkov (C‑171/16, EU:C:2017:710, insbesondere Vergleich der Rn. 46 und 47).

( 23 ) Vgl. oben, Nrn. 67 und 68.

( 24 ) Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Umsetzung der Rahmenbeschlüsse 2008/909/JI, 2008/947/JI und 2009/829/JI über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, von Bewährungsentscheidungen und alternativen Sanktionen und von Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft durch die Mitgliedstaaten (COM[2014] 57 final), S. 5.

( 25 ) Ebd., S. 8 und 9.

( 26 ) Das vorlegende Gericht erläutert, dass die estnischen Behörden nach § 73 Abs. 1 des Karistusseadustik (Estnisches Strafgesetzbuch), der die Verhängung einer Bewährungsstrafe ohne die Anwendung von Überwachungsmaßnahmen betrifft, keine aktive Überwachung der Erfüllung der Verpflichtung der verurteilten Person durchführen. Die Reaktion des Staates auf die Nichtbeachtung der Verpflichtung, keine neue Straftat zu begehen, kann nur darin liegen, sicherzustellen, dass eine Strafe im Hinblick auf das neue Vergehen verhängt wird.

( 27 ) Vgl. allgemeiner zum Strafrecht die Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Beshkov (C‑171/16, EU:C:2017:386, Nrn. 46 ff.).

( 28 ) Vgl. in diesem Sinne z. B. meine Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Deutschland (C‑220/15, EU:C:2016:534, Nr. 35).

( 29 ) Vgl. oben, Nrn. 82 bis 90 dieser Schlussanträge.

( 30 ) Vgl. zu dieser Frage meine Schlussanträge in der Rechtssache X (Europäischer Haftbefehl gegen einen Sänger) (C‑717/18, EU:C:2019:1011, Nrn. 92 bis 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).