BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)
6. Februar 2020(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Freier Dienstleistungsverkehr – Richtlinie 2006/123/EG – Regelung eines Mitgliedstaats, nach der für die Honorare von Ingenieuren und Architekten Mindestsätze gelten“
In der Rechtssache C‑137/18
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Dresden (Deutschland) mit Entscheidung vom 8. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Februar 2018, in dem Verfahren
hapeg dresden GmbH
gegen
Bayerische Straße 6-8 GmbH & Co. KG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin (Berichterstatter) sowie des Richters D. Šváby und der Richterin K. Jürimäe,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der hapeg dresden GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt A. Reihlen,
– der Bayrische Straße 6-8 GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt D. Scholz,
– der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch T. Henze und D. Klebs als Bevollmächtigte, dann durch D. Klebs als Bevollmächtigten,
– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. J. Langer als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Mölls, L. Malferrari und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 Abs. 3 Buchst. b und c sowie von Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 1, 2 und 3 Buchst. b und c der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der hapeg dresden GmbH und der Bayrische Straße 6-8 GmbH & Co. KG wegen der Zahlung von Honoraren für Planungsleistungen von Ingenieuren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123 lautet:
„Diese Richtlinie gilt für Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden.“
4 In Art. 15 der Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnungen die in Absatz 2 aufgeführten Anforderungen vorsehen, und stellen sicher, dass diese Anforderungen die Bedingungen des Absatzes 3 erfüllen. Die Mitgliedstaaten ändern ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um sie diesen Bedingungen anzupassen.
(2) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von folgenden nicht diskriminierenden Anforderungen abhängig macht:
…
g) der Beachtung von festgesetzten Mindest- und/oder Höchstpreisen durch den Dienstleistungserbringer;
…
(3) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob die in Absatz 2 genannten Anforderungen folgende Bedingungen erfüllen:
a) Nicht-Diskriminierung: [D]ie Anforderungen dürfen weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – bei Gesellschaften – aufgrund des Orts des satzungsmäßigen Sitzes darstellen;
b) Erforderlichkeit: [D]ie Anforderungen müssen durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein;
c) Verhältnismäßigkeit: [D]ie Anforderungen müssen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sein; sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; diese Anforderungen können nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden, die zum selben Ergebnis führen.
…“
5 Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten achten das Recht der Dienstleistungserbringer, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen ihrer Niederlassung zu erbringen.
Der Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, gewährleistet die freie Aufnahme und freie Ausübung von Dienstleistungstätigkeiten innerhalb seines Hoheitsgebiets.
Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet nicht von Anforderungen abhängig machen, die gegen folgende Grundsätze verstoßen:
a) Nicht-Diskriminierung: [D]ie Anforderung darf weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – bei juristischen Personen – aufgrund des Mitgliedstaats, in dem sie niedergelassen sind, darstellen;
b) Erforderlichkeit: [D]ie Anforderung muss aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit oder des Schutzes der Umwelt gerechtfertigt sein;
c) Verhältnismäßigkeit: [D]ie Anforderung muss zur Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels geeignet sein und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.“
Deutsches Recht
6 Die Honorare für Architekten und Ingenieure werden durch die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure vom 10. Juli 2013 (BGBl. 2013 I, S. 2276) (im Folgenden: HOAI) geregelt.
7 In § 7 HOAI heißt es:
„(1) Das Honorar richtet sich nach der schriftlichen Vereinbarung, die die Vertragsparteien bei Auftragserteilung im Rahmen der durch diese Verordnung festgesetzten Mindest- und Höchstsätze treffen.
(2) Liegen die ermittelten anrechenbaren Kosten oder Flächen außerhalb der in den Honorartafeln dieser Verordnung festgelegten Honorarsätze, sind die Honorare frei vereinbar.
(3) Die in dieser Verordnung festgesetzten Mindestsätze können durch schriftliche Vereinbarung in Ausnahmefällen unterschritten werden.
(4) Die in dieser Verordnung festgesetzten Höchstsätze dürfen nur bei außergewöhnlichen oder ungewöhnlich lange dauernden Grundleistungen durch schriftliche Vereinbarung überschritten werden. Dabei bleiben Umstände, soweit sie bereits für die Einordnung in die Honorarzonen oder für die Einordnung in den Rahmen der Mindest- und Höchstsätze mitbestimmend gewesen sind, außer Betracht.
…“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
8 Im Januar 2013 schlossen hapeg dresden und Bayrische Straße 6-8 einen Vertrag über Planungsleistungen für die von hapeg dresden auszuführenden Bauarbeiten ab. In diesem Vertrag einigten sich die Parteien auf eine Pauschalvergütung von 147 000 Euro.
9 Nach Abschluss der Arbeiten zur Sanierung und Rekonstruktion des betreffenden Gebäudes im Juni 2014 stellte hapeg dresden Bayrische Straße 6-8 eine Rechnung nach den Mindestsätzen der HOAI aus, die höher als die zwischen den Parteien vereinbarten Honorare waren.
10 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ergibt sich zum einen aus der nationalen Regelung, dass der Rechtsstreit zwischen den Parteien nicht zur Kategorie der Ausnahmefälle gehört, in denen von Mindesttarifen der HOAI abgewichen werden darf. Zum anderen könne sich Bayrische Straße 6-8 nicht auf die Vereinbarung einer Pauschalpreisabrede berufen, die die Mindestsätze der HOAI unterschreitet, da eine solche Vereinbarung rechtswidrig sei.
11 Das vorlegende Gericht zieht jedoch insbesondere im Hinblick darauf, dass die Europäische Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland eine Vertragsverletzungsklage wegen der HOAI erhoben hat, in Betracht, dass die HOAI unionsrechtswidrig sein könnte, so dass sie im Rahmen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits nicht anwendbar wäre.
12 Unter diesen Umständen hat das Landgericht Dresden (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 15 Abs. 3 Buchst. b und c sowie Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 1, 2 und 3 Buchst. b und c der Richtlinie 2006/123, dahin gehend auszulegen, dass es einer nationalen Regelung – wie der im Ausgangsverfahren anwendbaren – entgegensteht, nach der es in Verträgen mit Architekten und/oder Ingenieuren nicht gestattet ist, ein Honorar zu vereinbaren, das die Mindestsätze der sich aus der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure zu berechnenden Vergütung unterschreitet?
Zur Vorlagefrage
13 Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage übereinstimmt, über die er bereits entschieden hat, wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.
14 Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.
15 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es verboten ist, in Verträgen mit Architekten oder Ingenieuren Tarife zu vereinbaren, die die Mindestsätze unterschreiten, die sich nach dieser Regelung für Architekten und Ingenieure ergeben.
16 Gegen die Bundesrepublik Deutschland wurde wegen der HOAI ein Vertragsverletzungsverfahren geführt. In diesem Verfahren ist das Urteil vom 4. Juli 2019, Kommission/Deutschland (C‑377/17, (EU:C:2019:562), ergangen. Darin hat der Gerichtshof entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 verstoßen hat, dass sie verbindliche Honorare für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren beibehalten hat.
17 So hat der Gerichtshof erstens festgestellt, dass die Anforderungen der HOAI, soweit sie die Mindest- und Höchstsätze für Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren festlegen, unter Art. 15 Abs. 2 Buchst. g der Richtlinie 2006/123 fallen (Urteil vom 4. Juli 2019, Kommission/Deutschland, C‑377/17, EU:C:2019:562, Rn. 66).
18 Zweitens hat der Gerichtshof bei der Prüfung der Vereinbarkeit des durch die HOAI festgelegten Tarifsystems mit den Anforderungen von Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 ausgeführt, dass das Tarifsystem weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – bei Gesellschaften – aufgrund des Orts des satzungsmäßigen Sitzes darstellt (Urteil vom 4. Juli 2019, Kommission/Deutschland, C‑377/17, EU:C:2019:562, Rn. 68).
19 Drittens hat der Gerichtshof festgestellt, dass die zwingenden Gründe in Bezug auf die Qualität der Planungsleistungen und des Verbraucherschutzes als zwingende Gründe des Allgemeininteresses, die geeignet sind, das Tarifsystem der HOAI zu rechtfertigen, anerkannt sind (Urteil vom 4. Juli 2019, Kommission/Deutschland, C‑377/17, EU:C:2019:562, Rn. 75 und 77).
20 So hat der Gerichtshof zwar darauf hingewiesen, dass die Existenz von Mindestsätzen für die Planungsleistungen grundsätzlich dazu beitragen kann, die Erreichung der Ziele des Verbraucherschutzes und der Wahrung einer hohen Qualität der Planungsleistungen sicherzustellen (Urteil vom 4. Juli 2019, Kommission/Deutschland, C‑377/17, EU:C:2019:562, Rn. 88). Dennoch war er der Auffassung, dass das System dem Anliegen, diese Ziele in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen, tatsächlich nicht gerecht werde, da in Deutschland Planungsleistungen von Dienstleistern erbracht werden können, die ihre entsprechende fachliche Eignung nicht nachgewiesen haben (Urteil vom 4. Juli 2019, Kommission/Deutschland, C‑377/17, EU:C:2019:562, Rn. 90 bis 92).
21 Daraus folgt, dass im Hinblick auf das Urteil des Gerichtshofs vom 4. Juli 2019, Kommission/Deutschland (C‑377/17, EU:C:2019:562), Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es verboten ist, in Verträgen mit Architekten oder Ingenieuren Tarife zu vereinbaren, die die Mindestsätze unterschreiten, die sich nach dieser Regelung für Architekten und Ingenieure ergeben. Diese Auslegung lässt die Frage unberührt, ob diese Bestimmungen der Richtlinie 2006/123 im Rahmen eines Rechtsstreits, den ausschließlich Privatpersonen gegeneinander führen, anwendbar sind, da diese Frage nicht Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ist.
22 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es verboten ist, in Verträgen mit Architekten oder Ingenieuren Tarife zu vereinbaren, die die Mindestsätze unterschreiten, die sich nach dieser Regelung für Architekten und Ingenieure ergeben.
Kosten
23 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es verboten ist, in Verträgen mit Architekten oder Ingenieuren Tarife zu vereinbaren, die die Mindestsätze unterschreiten, die sich nach dieser Regelung für Architekten und Ingenieure ergeben.
Luxemburg, den 6. Februar 2020
Der Kanzler |
Der Präsident der Neunten Kammer |
A. Calot Escobar |
S. Rodin |
* Verfahrenssprache: Deutsch.