URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

27. Februar 2020 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 20 AEUV – Unionsbürgerschaft – Unionsbürger, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – Antrag des drittstaatsangehörigen Ehegatten auf eine befristete Aufenthaltskarte – Ablehnung – Pflicht, für den Lebensunterhalt des Ehegatten aufzukommen – Keine ausreichenden Existenzmittel des Unionsbürgers – Pflicht der Ehegatten zum Zusammenleben – Nationale Rechtsvorschriften und Praxis – Tatsächlicher Genuss des Kernbestands der Unionsbürgern verliehenen Rechte – Vorenthaltung“

In der Rechtssache C‑836/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Superior de Justicia de Castilla-La Mancha (Obergericht für Kastilien-La Mancha, Spanien) mit Entscheidung vom 30. November 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Dezember 2018, in dem Verfahren

Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real

gegen

RH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter I. Jarukaitis, E. Juhász, M. Ilešič und C. Lycourgos (Berichterstatter),

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von RH, vertreten durch P. García Valdivieso Manrique und A. Ceballos Cabrillo, abogados,

der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García als Bevollmächtigten,

der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren, M. Wolff und P. Ngo als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Hoogveld als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Martínez del Peral und E. Montaguti als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. November 2019

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 AEUV.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real (Unterdelegation der Regierung in Ciudad Real, Spanien) (im Folgenden: Subdelegación) und RH über die Ablehnung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltskarte als Familienangehöriger eines Unionsbürgers durch die Subdelegación.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35) bestimmt:

„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“

4

Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

b)

für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder

d)

ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstaben a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.

(2)   Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a), b) oder c) erfüllt.“

Spanisches Recht

5

Art. 32 der Verfassung sieht vor:

„(1)   Mann und Frau haben das Recht, bei voller rechtlicher Gleichstellung die Ehe zu schließen.

(2)   Das Gesetz regelt die Formen der Ehe, das Alter und die Voraussetzungen für die Eheschließung, die Rechte und Pflichten der Ehegatten sowie die Gründe für Trennung und Auflösung und deren Auswirkungen.“

6

Art. 68 des Código Civil (Zivilgesetzbuch) bestimmt:

„Die Ehegatten sind verpflichtet, zusammenzuleben, einander treu zu sein und einander zu helfen. Darüber hinaus müssen sie die häusliche Verantwortung und die Fürsorge und Betreuung der Vor- und Nachfahren und der übrigen unter ihrer Aufsicht stehenden Angehörigen teilen.“

7

Art. 70 des Zivilgesetzbuchs sieht vor:

„Die Ehegatten bestimmen in gegenseitigem Einvernehmen den Ort der ehelichen Wohnung, und bei Uneinigkeit entscheidet der Richter unter Berücksichtigung des Interesses der Familie“.

8

In seiner anwendbaren Fassung bestimmt Art. 1 des Real Decreto 240/2007, sobre entrada, libre circulación y residencia en España de ciudadanos de los Estados miembros de la Unión Europea y de otros Estados parte en el Acuerdo sobre el Espacio Económico Europeo (Königliches Dekret 240/2007 über Einreise, Freizügigkeit und Aufenthalt von Bürgern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der übrigen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum in Spanien) vom 16. Februar 2007:

„(1)   Das vorliegende Königliche Dekret regelt die Bedingungen für die Ausübung der Rechte auf Ein- und Ausreise, Freizügigkeit, vorübergehenden Aufenthalt, ständigen Aufenthalt, Daueraufenthalt und Erwerbstätigkeit in Spanien für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der übrigen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum sowie die Grenzen der vorstehenden Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit.

(2)   Der Inhalt des vorliegenden Königlichen Dekrets lässt die Bestimmungen in Spezialgesetzen und internationalen Verträgen, denen Spanien beigetreten ist, unberührt.“

9

Art. 2 des Königlichen Dekrets sieht vor:

„Das vorliegende Königliche Dekret gilt auch unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit für Familienangehörige eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, wenn sie ihn begleiten oder ihm nachziehen, unter den hierin vorgesehenen Bedingungen, die nachstehend aufgeführt sind:

für den Ehegatten, sofern keine Vereinbarung oder Feststellung über die Ungültigkeit der Ehe, über die Scheidung oder über die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes vorliegt.

…“

10

Art. 7 des Königlichen Dekrets lautet:

„(1)   Jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum hat das Recht, sich für einen Zeitraum von über drei Monaten im spanischen Hoheitsgebiet aufzuhalten, wenn er

b)

für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen in Spanien in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz in Spanien verfügen oder

d)

ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger oder Staatsangehörigen eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, der die Voraussetzungen des Buchst. a, b oder c erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.

(2)   Das in Abs. 1 vorgesehene Aufenthaltsrecht erstreckt sich auf Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, wenn sie den Unionsbürger oder Staatsangehörigen eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum in Spanien begleiten oder ihm nachziehen, sofern dieser die Voraussetzungen des Abs. 1 Buchst. a, b oder c erfüllt.

(7)   Hinsichtlich der ausreichenden Existenzmittel darf kein fester Betrag festgelegt werden, sondern es muss die persönliche Situation der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum berücksichtigt werden. Dieser Betrag darf in keinem Fall über dem Schwellenbetrag der finanziellen Mittel liegen, unter dem Spaniern Sozialhilfe gewährt wird, oder über der Mindestrente der Sozialversicherung.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

11

Am 13. November 2015 heiratete RH, ein volljähriger marokkanischer Staatsangehöriger, in Ciudad Real (Spanien) eine spanische Staatsangehörige, die nie von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht hatte. Die Rechtmäßigkeit dieser Ehe ist nie in Frage gestellt worden. Seitdem lebt das Ehepaar zusammen mit dem Vater der spanischen Staatsangehörigen in Ciudad Real.

12

Am 23. November 2015 beantragte RH die Erteilung einer befristeten Aufenthaltskarte als Familienangehöriger eines Unionsbürgers.

13

Am 20. Januar 2016 wurde dieser Antrag von der zuständigen Verwaltungsbehörde mit der Begründung abgelehnt, dass die Ehegattin von RH nicht nachgewiesen habe, dass sie die Voraussetzungen von Art. 7 des Königlichen Dekrets 240/2007 erfülle. Insbesondere habe die Ehegattin von RH nicht nachgewiesen, dass sie über ausreichende Finanzmittel verfüge, um für den Lebensunterhalt ihres Ehegatten aufzukommen, obwohl die Pflicht, über solche Mittel zu verfügen, nach Art. 7 des Dekrets ausschließlich ihr obliege.

14

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die zuständige Verwaltungsbehörde weder prüfte, ob weitere Umstände, die das tatsächliche Verhältnis zwischen den Ehegatten beeinflussen können, vorliegen, noch die Auswirkungen untersuchte, die die Tatsache, dass ihr Ehegatte gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, auf die spanische Staatsangehörige haben würde. Ebenso wenig berücksichtigte diese Behörde, dass sich der Vater der spanischen Staatsangehörigen verpflichtet hatte, die Kosten des Aufenthalts von RH in Spanien zu übernehmen, wobei im Übrigen festgestellt worden war, dass das Angebot und der Nachweis der Finanzmittel des Vaters der Ehegattin von RH vorliegen.

15

Am 10. März 2016 bestätigte die Subdelegación die Ablehnung des Antrags von RH. Gegen diesen Bescheid erhob RH beim Juzgado de lo Contencioso-Administrativo no 2 de Ciudad Real (Verwaltungsgericht Nr. 2 Ciudad Real, Spanien) eine verwaltungsgerichtliche Klage.

16

Das Verwaltungsgericht gab seiner Klage statt, weil auf RH, ein Familienmitglied einer spanischen Staatsangehörigen, die nicht von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe, Art. 7 des Königlichen Dekrets 240/2007 nicht anwendbar sei.

17

Die Staatsverwaltung legte gegen diese Entscheidung Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein.

18

Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) in einem Urteil vom 1. Juni 2010 entschieden, dass das Königliche Dekret 240/2007 sowohl für spanische Staatsangehörige unabhängig davon gelte, ob sie von ihrer Freizügigkeit im Gebiet der Union Gebrauch gemacht hätten oder nicht, als auch für ihre drittstaatsangehörigen Familienangehörigen.

19

Allerdings habe das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) verkannt, dass sich aus Art. 3 der Richtlinie 2004/38 und aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe, dass diese Richtlinie nur für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats gelte, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhielten. Zudem ergebe sich aus der Rechtsprechung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof), dass die im Königlichen Dekret 240/2007 vorgesehene Regelung der Familienzusammenführung von Drittstaatsangehörigen, die zur Familie eines spanischen Staatsangehörigen gehörten, nunmehr die gleiche sei wie die eines Unionsbürgers, der sich in Spanien niedergelassen habe.

20

Zum Zeitpunkt des Erlasses des Urteils des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) seien die Voraussetzungen von Art. 7 der Richtlinie 2004/38, und zwar insbesondere diejenige, dass der Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Finanzmittel verfügen müsse, so dass sie keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssten, im Königlichen Dekret 240/2007 nicht übernommen gewesen.

21

Mit einem Gesetz vom 20. April 2012 sei Art. 7 der Richtlinie 2004/38 schließlich vollständig in spanisches Recht umgesetzt worden, und zwar einschließlich der Pflicht, krankenversichert zu sein und über ausreichende Finanzmittel zu verfügen. Diese Voraussetzungen seien somit auch auf den spanischen Staatsangehörigen anwendbar geworden, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe und wünsche, dass seine drittstaatsangehörigen Familienangehörigen ihm nachzögen. Die Anwendung der Voraussetzungen von Art. 7 des Königlichen Dekrets 240/2007 in der durch das Gesetz vom 20. April 2012 geänderten Fassung auf spanische Staatsangehörige, die nicht von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätten, sei in der späteren Rechtsprechung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) als Wirkung einer von der Richtlinie 2004/38 unabhängigen innerstaatlichen Rechtsvorschrift betrachtet worden.

22

Vor diesem Hintergrund fragt sich das vorlegende Gericht, ob Art. 20 AEUV nicht der spanischen Praxis entgegensteht, wonach ein spanischer Staatsangehöriger, der nie von seiner Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht hat, nachweisen muss, dass er über ausreichende Finanzmittel für sich und seinen Ehegatten verfügt, so dass sie keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen. Insbesondere könne diese automatische Praxis des spanischen Staates, bei der keine Möglichkeit einer Anpassung an besondere Sachverhalte vorgesehen sei, gegen Art. 20 AEUV verstoßen, wenn sie dazu führe, dass der spanische Staatsangehörige das Gebiet der Union verlassen müsse.

23

In Anbetracht des spanischen Eherechts könnte dies jedoch der Fall sein. Das Recht auf ein Zusammenleben ergebe sich nämlich aus dem Mindestgehalt von Art. 32 der Verfassung. Ferner sähen die Art. 68 und 70 des Zivilgesetzbuchs vor, dass die Ehegatten zum Zusammenleben verpflichtet seien und den Ort der ehelichen Wohnung in gegenseitigem Einvernehmen bestimmten. Folglich unterscheide sich die nach spanischem Recht bestehende Pflicht der Ehegatten zum Zusammenleben von einer schlichten Entscheidung unter Zweckmäßigkeits- oder Bequemlichkeitsgesichtspunkten.

24

Die Erfüllung dieser Pflicht könne gar nicht möglich sein, wenn der rechtmäßige Aufenthalt des drittstaatsangehörigen Ehegatten des spanischen Staatsangehörigen von wirtschaftlichen Kriterien abhänge. Aus der Versagung eines Aufenthaltsrechts des Ehegatten würde sich für den spanischen Staatsangehörigen, der nicht über die nach Art. 7 des Königlichen Dekrets 240/2007 erforderlichen ausreichenden Existenzmittel verfüge, die Notwendigkeit ergeben, das Gebiet der Union zu verlassen, da nur so das Recht und die Pflicht zum Zusammenleben, die im spanischen Recht vorgesehen seien, eingehalten und verwirklicht werden könnten. Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, sei es nicht erforderlich, dass die Ehegatten gerichtlich zum Zusammenleben gezwungen werden könnten.

25

Des Weiteren werde Art. 20 AEUV jedenfalls durch die Praxis des spanischen Staates verletzt, die Familienzusammenführung eines Drittstaatsangehörigen mit einem spanischen Staatsangehörigen, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe, allein deshalb automatisch zu verweigern, weil dieser Staatsangehörige nicht über einen bestimmten Lebensstandard verfüge, ohne dass die Behörden geprüft hätten, ob zwischen dem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen ein derartiges Abhängigkeitsverhältnis bestehe, dass der Unionsbürger im Fall der Versagung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts für den Drittstaatsangehörigen tatsächlich gezwungen wäre, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen.

26

Die spanischen Behörden hätten den Antrag von RH allein aus dem Grund abgelehnt, weil seine Ehegattin nicht über ausreichende Existenzmittel verfüge, ohne die besonderen Umstände der fraglichen Ehe zu prüfen. Insoweit weist das vorlegende Gericht die Rüge der Verwaltung zurück, wonach die Ehegattin von RH hinsichtlich des Vorliegens möglicher besonderer Umstände geschwiegen habe. Der spanische Staat habe der Ehegattin von RH keine Gelegenheit gegeben, sich zum möglichen Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen ihr und ihrem Ehegatten zu äußern. Die Behörden hätten noch nicht einmal den Nachweis der beim Vater der Ehegattin von RH vorliegenden ausreichenden Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts geprüft, obwohl er ausdrücklich angeboten habe, für den Unterhalt des Ehegatten seiner Tochter aufzukommen, was beweise, dass sich der spanische Staat in der Praxis ausschließlich und automatisch auf die Unzulänglichkeit der eigenen Mittel des spanischen Staatsangehörigen stütze, um dem Drittstaatsangehörigen die Erteilung einer Aufenthaltskarte als Familienangehöriger eines Unionsbürgers zu versagen.

27

Unter diesen Umständen hat das Tribunal Superior de Justicia de Castilla-La Mancha (Obergericht für Kastilien-La Mancha, Spanien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Kann die Forderung, dass ein spanischer Bürger, der sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, als notwendige Bedingung für die Anerkennung des Aufenthaltsrechts seines die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzenden Ehegatten nach Art. 7 Abs. 2 des Königlichen Dekrets 240/2007 die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 des Königlichen Dekrets erfüllen muss, bei einem Nichtvorliegen dieser Voraussetzungen eine Verletzung von Art. 20 AEUV darstellen, wenn der spanische Bürger infolge der Verweigerung dieses Aufenthaltsrechts gezwungen wäre, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen? Dabei ist zu beachten, dass in Art. 68 des Zivilgesetzbuchs die Verpflichtung der Ehegatten festgelegt ist, zusammenzuleben.

2.

Wird jedenfalls unabhängig von dem Vorstehenden Art. 20 AEUV unter den genannten Umständen durch die Praxis des spanischen Staates, die Regelung in Art. 7 des Königlichen Dekrets 240/2007 automatisch anzuwenden, verletzt, nach der die Aufenthaltserlaubnis dem Familienangehörigen eines Unionsbürgers, der seine Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, nur deshalb verweigert wird, weil der Unionsbürger die dort festgelegten Voraussetzungen nicht erfüllt, ohne dass eine konkrete Einzelfallprüfung erfolgt wäre, ob zwischen diesem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen ein derartiges Abhängigkeitsverhältnis besteht, das aus irgendeinem Grund in Anbetracht der gegebenen Umstände zur Folge hätte, dass sich der Unionsbürger, sollte dem Drittstaatsangehörigen das Aufenthaltsrecht versagt werden, nicht von dem Familienangehörigen, von dem er abhängig ist, trennen könnte und das Unionsgebiet verlassen müsste?

Die Frage stellt sich vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Gerichtshofs, u. a. des Urteils vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. (Familienzusammenführung in Belgien), C‑82/16, EU:C:2018:308.

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

28

Zunächst ist festzustellen, dass nach den Angaben in der Vorlageentscheidung die zuständigen spanischen Behörden auf der Grundlage von Art. 7 des Königlichen Dekrets 240/2007, mit dem Art. 7 der Richtlinie 2004/38 umgesetzt wurde, RH, einem marokkanischen Staatsangehörigen, einen Aufenthaltstitel als Familienangehöriger eines Unionsbürgers mit der Begründung versagt haben, dass seine Ehegattin, eine Unionsbürgerin, nicht über ausreichende Existenzmittel für sich und ihre Familienangehörigen verfüge, damit sie keine nationalen Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssten, ohne zu berücksichtigen, dass ihr Vater sich bereit erklärt hatte, für den Lebensunterhalt von RH aufzukommen.

29

Das vorlegende Gericht führt ferner aus, dass die Ehegattin von RH eine spanische Staatsangehörige sei, die nie von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht habe. Es ist festzustellen, dass der drittstaatsangehörige Ehegatte in einer solchen Situation weder aus der Richtlinie 2004/38 noch aus Art. 21 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht herleiten kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Gleichwohl ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass Art. 7 des Königlichen Dekrets 240/2007 nicht nur für in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/38 fallende Anträge auf Familienzusammenführung gilt, die ein Drittstaatsangehöriger stellt, der zur Familie eines Unionsbürgers gehört, der von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sondern nach ständiger Rechtsprechung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) auch für Anträge auf Familienzusammenführung, die ein Drittstaatsangehöriger stellt, der zur Familie eines spanischen Staatsangehörigen gehört, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat.

31

Unter diesen Umständen ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 7 der Richtlinie 2004/38 genannte Voraussetzung ausreichender Existenzmittel nach einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs und entsprechend den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 41 seiner Schlussanträge dahin auszulegen ist, dass dem Unionsbürger zwar ausreichende Existenzmittel zur Verfügung stehen müssen, das Unionsrecht in Bezug auf die Herkunft der Mittel jedoch keine Anforderungen enthält, so dass sie auch von einem Familienangehörigen des Unionsbürgers stammen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 30 bis 33, und vom 2. Oktober 2019, Bajratari, C‑93/18, EU:C:2019:809, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Zur zweiten Frage

32

Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat daran hindert, einen Antrag auf Familienzusammenführung, den der drittstaatsangehörige Ehegatte eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt und nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, stellt, allein deshalb abzulehnen, weil der Unionsbürger für sich und seinen Ehegatten nicht über so ausreichende Existenzmittel verfügt, dass sie keine nationalen Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen, ohne dass geprüft worden wäre, ob zwischen dem Unionsbürger und seinem Ehegatten ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger im Fall der Weigerung, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, zwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, so dass ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde.

33

Als Erstes ist hervorzuheben, dass das Unionsrecht grundsätzlich nicht auf einen Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Familienzusammenführung mit einem Familienangehörigen, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, anwendbar ist und es daher grundsätzlich nicht den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach denen eine solche Familienzusammenführung von der Voraussetzung ausreichender Existenzmittel abhängt, wie sie in der vorstehenden Randnummer beschrieben ist.

34

Allerdings ist als Zweites festzustellen, dass die systematische und ausnahmslose Anordnung einer solchen Voraussetzung das abgeleitete Aufenthaltsrecht verletzen kann, das in ganz besonderen Sachverhalten einem Drittstaatsangehörigen, der zur Familie eines Unionsbürgers gehört, gemäß Art. 20 AEUV zuzuerkennen ist.

35

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 20 AEUV nach ständiger Rechtsprechung jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers verleiht, der dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Unionsbürger ein elementares, persönliches Recht, sich vorbehaltlich der im Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung frei im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen einschließlich Entscheidungen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Status verleiht, verwehrt wird (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Dagegen verleihen die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft Drittstaatsangehörigen keine eigenständigen Rechte. Die etwaigen Rechte, die die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft den Drittstaatsangehörigen verleihen, sind nämlich nicht deren eigene Rechte, sondern aus den Rechten des Unionsbürgers abgeleitete. Ihr Zweck und ihre Rechtfertigung beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger insbesondere in seiner Freizügigkeit beeinträchtigen könnte (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 51).

40

Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft jedoch nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Folglich kann ein Drittstaatsangehöriger ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV nur dann beanspruchen, wenn ohne die Gewährung eines solchen Aufenthaltsrechts sowohl der Drittstaatsangehörige als auch der Unionsbürger als Familienangehöriger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen. Daher kann die Gewährung eines solchen abgeleiteten Aufenthaltsrechts nur dann in Betracht gezogen werden, wenn der Drittstaatsangehörige, der zur Familie eines Unionsbürgers gehört, nicht die Voraussetzungen erfüllt, um auf der Grundlage anderer Bestimmungen und insbesondere nach dem für die Familienzusammenführung geltenden nationalen Recht ein Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat zu erhalten, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt.

42

Sobald jedoch feststeht, dass einem Drittstaatsangehörigen, der zur Familie eines Unionsbürgers gehört, kein Aufenthaltsrecht nach innerstaatlichem Recht oder abgeleitetem Unionsrecht gewährt werden kann, hat die Tatsache, dass zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger im Fall der Abschiebung seines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, zur Folge, dass Art. 20 AEUV den betreffenden Mitgliedstaat grundsätzlich verpflichtet, dem Unionsbürger ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuzuerkennen.

43

Als Drittes ist ferner festzustellen, dass der Gerichtshof bereits anerkannt hat, dass das abgeleitete Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV keine absolute Geltung besitzt, da die Mitgliedstaaten es unter bestimmten besonderen Umständen versagen können.

44

So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 20 AEUV die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt lässt, sich u. a. auf eine Ausnahme vom abgeleiteten Aufenthaltsrecht wegen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zu berufen (Urteile vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 36, und vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 81).

45

Eine gegenüber einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers ergangene Verweigerung des Aufenthaltsrechts wegen des Vorliegens einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit aufgrund u. a. von Straftaten, die der Drittstaatsangehörige begangen hat, wäre daher mit dem Unionsrecht vereinbar, selbst wenn sie die Verpflichtung für den Unionsbürger, der dessen Familienangehöriger ist, zur Folge hätte, das Gebiet der Union zu verlassen (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46

Daher ist zu prüfen, ob Art. 20 AEUV den Mitgliedstaaten ebenso gestattet, eine Ausnahme von dem durch diesen Artikel verbürgten abgeleiteten Aufenthaltsrecht einzuführen, die an ein Erfordernis ausreichender Existenzmittel seitens des Unionsbürgers geknüpft wäre.

47

Insoweit ist hervorzuheben, dass bei der Beurteilung einer Ausnahme vom abgeleiteten Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Urteile vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 36, und vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 81) und ganz allgemein der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts zu berücksichtigen sind.

48

Einem Drittstaatsangehörigen, der zur Familie eines Unionsbürgers gehört, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, allein deshalb zu verweigern, weil der Unionsbürger nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt, obwohl zwischen dem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, wie es in Rn. 39 des vorliegenden Urteils beschrieben ist, würde aber eine Beeinträchtigung des tatsächlichen Genusses des Kernbestands der sich aus dem Status des Unionsbürgers ergebenden Rechte darstellen, die im Hinblick auf das mit einer solchen Existenzmittelvoraussetzung verfolgte Ziel, nämlich der Schutz der öffentlichen Finanzen des betreffenden Mitgliedstaats, unverhältnismäßig wäre. Ein solches rein wirtschaftliches Ziel unterscheidet sich nämlich grundlegend vom Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der öffentlichen Sicherheit und kann keine derart schwerwiegenden Eingriffe in den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der sich aus dem Status des Unionsbürgers ergebenden Rechte rechtfertigen.

49

Folglich hindert in dem Fall, in dem zwischen einem Unionsbürger und einem Drittstaatsangehörigen, der zu seiner Familie gehört, ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne von Rn. 39 des vorliegenden Urteils besteht, Art. 20 AEUV einen Mitgliedstaat daran, eine Ausnahme von dem abgeleiteten Aufenthaltsrecht, das dem Drittstaatsangehörigen nach Art. 20 AEUV zusteht, allein deshalb vorzusehen, weil der Unionsbürger nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt.

50

Daher kann – wie der Generalanwalt in Nr. 66 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat – die Verpflichtung eines Unionsbürgers, über ausreichende Existenzmittel für sich und seinen drittstaatsangehörigen Familienangehörigen zu verfügen, die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV beeinträchtigen, wenn sie dazu führt, dass der Drittstaatsangehörige das Gebiet der Union als Ganzes verlassen muss und der Unionsbürger aufgrund des Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen ihm und dem Drittstaatsangehörigen de facto gezwungen wäre, diesen zu begleiten und folglich ebenfalls das Gebiet der Union zu verlassen.

51

Was als Viertes die Verfahrensmodalitäten anbelangt, nach denen ein Drittstaatsangehöriger im Rahmen eines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung das Bestehen eines abgeleiteten Rechts nach Art. 20 AEUV geltend machen kann, hat der Gerichtshof entschieden, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten ist, die Modalitäten der Umsetzung des abgeleiteten Aufenthaltsrechts festzulegen, das einem Drittstaatsangehörigen in den ganz besonderen Sachverhalten, die in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführt sind, nach Art. 20 AEUV zuzuerkennen ist, doch dürfen diese Verfahrensmodalitäten die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV nicht beeinträchtigen (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 54).

52

So sind die nationalen Behörden zwar nicht verpflichtet, systematisch und von sich aus das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses im Sinne von Art. 20 AEUV zu prüfen, da die betroffene Person die Informationen beizubringen hat, anhand deren sich beurteilen lässt, ob die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 20 AEUV erfüllt sind, doch wäre die praktische Wirksamkeit dieses Artikels beeinträchtigt, wenn der Drittstaatsangehörige oder der Unionsbürger, der zu seiner Familie gehört, daran gehindert wäre, die Gesichtspunkte geltend zu machen, anhand deren sich beurteilen lässt, ob zwischen ihnen ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne von Art. 20 AEUV besteht (vgl. entsprechend Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 75 und 76).

53

Daher darf die zuständige nationale Behörde, wenn sie mit einem Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Gewährung eines Aufenthaltsrechts zum Zweck einer Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist, befasst ist, diesen Antrag nicht automatisch allein deshalb ablehnen, weil der Unionsbürger nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt. Sie hat vielmehr auf der Grundlage der Informationen, die der betreffende Drittstaatsangehörige und der betreffende Unionsbürger nach freiem Ermessen beibringen können müssen, und – sofern notwendig – nach Vornahme der erforderlichen Ermittlungen zu beurteilen, ob zwischen diesen beiden Personen ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne von Rn. 39 des vorliegenden Urteils besteht, so dass dem Drittstaatsangehörigen grundsätzlich ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV gewährt werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 75 bis 77).

54

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat daran hindert, einen Antrag auf Familienzusammenführung, den der drittstaatsangehörige Ehegatte eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt und nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, stellt, allein deshalb abzulehnen, weil der Unionsbürger für sich und seinen Ehegatten nicht über so ausreichende Existenzmittel verfügt, dass sie keine nationalen Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen, ohne dass geprüft worden wäre, ob zwischen dem Unionsbürger und seinem Ehegatten ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger im Fall der Weigerung, dem Ehegatten ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, zwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, so dass ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde.

Zur ersten Frage

55

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein Abhängigkeitsverhältnis, das geeignet ist, die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach diesem Artikel zu rechtfertigen, allein deshalb besteht, weil der volljährige Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, und sein volljähriger drittstaatsangehöriger Ehegatte nach dem Recht des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, aufgrund der sich aus der Ehe ergebenden Pflichten zum Zusammenleben verpflichtet sind.

56

Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass ein Erwachsener im Unterschied zu Minderjährigen – erst recht, wenn es sich bei diesen um Kleinkinder handelt – grundsätzlich in der Lage ist, ein von seinen Familienangehörigen unabhängiges Leben zu führen. Daraus folgt, dass die Anerkennung eines Abhängigkeitsverhältnisses, das geeignet ist, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zu begründen, zwischen zwei Erwachsenen, die derselben Familie angehören, nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht kommt, in denen die betreffende Person in Anbetracht aller relevanten Umstände keinesfalls von dem Familienangehörigen getrennt werden darf, von dem sie abhängig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 65).

57

Als Zweites geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch hervor, dass die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Unionsgebiet wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Unionsgebiet aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme rechtfertigt, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58

Somit kann das Bestehen einer familiären Bindung zwischen dem Unionsbürger und seinem Familienangehörigen, der Drittstaatsangehöriger ist, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, nicht ausreichen, um es zu rechtfertigen, dass diesem Familienangehörigen nach Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zuerkannt wird, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 75).

59

Als Drittes hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass ein völkerrechtlicher Grundsatz, der durch Art. 3 des Protokolls Nr. 4 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bekräftigt wurde und von dem nicht anzunehmen ist, dass ihn das Unionsrecht in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten außer Acht lässt, es einem Mitgliedstaat verwehrt, seinen eigenen Staatsangehörigen die Einreise und den Aufenthalt im Inland zu untersagen, worauf auch immer sie gestützt werden.

60

Da den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet dieses Staates somit ein nicht an Bedingungen geknüpftes Aufenthaltsrecht zuerkannt wird (Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 37), kann ein Mitgliedstaat von einem seiner Staatsangehörigen nicht rechtmäßig verlangen, sein Hoheitsgebiet zu verlassen, um insbesondere die sich aus seiner Ehe ergebenden Pflichten zu erfüllen, ohne gegen den in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten völkerrechtlichen Grundsatz zu verstoßen.

61

Selbst wenn man also, wie das vorlegende Gericht in Bezug auf das spanische Recht ausführt, unterstellt, dass das Eherecht eines Mitgliedstaats einem Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats und seinem Ehegatten vorschreibt, dass sie zusammenleben, kann eine solche Pflicht diesen Staatsangehörigen jedoch keinesfalls rechtlich dazu zwingen, das Gebiet der Union zu verlassen, selbst wenn seinem drittstaatsangehörigen Ehegatten kein Titel zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats erteilt würde. In Anbetracht dessen reicht eine solche rechtliche Pflicht der Ehegatten zum Zusammenleben für sich allein nicht aus, um das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen ihnen nachzuweisen, das den Unionsbürger im Fall der Abschiebung seines Ehegatten aus dem Gebiet der Union zwingen würde, ihn zu begleiten und folglich ebenfalls das Gebiet der Union zu verlassen.

62

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich jedenfalls, dass die nach spanischem Recht bestehende Pflicht der Ehegatten zum Zusammenleben nicht gerichtlich durchsetzbar ist.

63

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein Abhängigkeitsverhältnis, das geeignet ist, die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach diesem Artikel zu rechtfertigen, nicht allein deshalb besteht, weil der volljährige Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, und sein volljähriger drittstaatsangehöriger Ehegatte nach dem Recht des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, aufgrund der sich aus der Ehe ergebenden Pflichten zum Zusammenleben verpflichtet sind.

Kosten

64

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat daran hindert, einen Antrag auf Familienzusammenführung, den der drittstaatsangehörige Ehegatte eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt und nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, stellt, allein deshalb abzulehnen, weil der Unionsbürger für sich und seinen Ehegatten nicht über so ausreichende Existenzmittel verfügt, dass sie keine nationalen Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen, ohne dass geprüft worden wäre, ob zwischen dem Unionsbürger und seinem Ehegatten ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger im Fall der Weigerung, dem Ehegatten ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, zwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, so dass ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde.

 

2.

Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein Abhängigkeitsverhältnis, das geeignet ist, die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach diesem Artikel zu rechtfertigen, nicht allein deshalb besteht, weil der volljährige Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, und sein volljähriger drittstaatsangehöriger Ehegatte nach dem Recht des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, aufgrund der sich aus der Ehe ergebenden Pflichten zum Zusammenleben verpflichtet sind.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Spanisch.