SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 18. September 2019 ( 1 )

Rechtssache C‑678/18

Procureur-Generaal bij de Hoge Raad der Nederlanden

(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden [Oberster Gerichtshof der Niederlande])

„Vorlagefrage – Zulässigkeit – Art. 267 AEUV – Begriff der Streitigkeit – Kassationsbeschwerde im Interesse des Gesetzes – Unveränderlichkeit der durch das angefochtene Urteil geschaffenen Situation – Geschmacksmuster – Einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen – Zuständigkeit der nationalen Gerichte erster Instanz für die Entscheidung in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes – Ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte“

1. 

Nach der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 ( 2 ) müssen die Mitgliedstaaten für ihr Gebiet ein oder mehrere „Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte“ benennen, die für bestimmte Klagen wegen Verletzung oder auf Erklärung der Nichtigkeit von Gemeinschaftsgeschmacksmustern ausschließlich zuständig sind (Art. 81).

2. 

Bei der Umsetzung dieses Auftrags haben die Niederlande diese ausschließliche Zuständigkeit der Rechtbank Den Haag (Gericht erster Instanz Den Haag, Niederlande), und einem ihrer Richter zudem die Zuständigkeit für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zugewiesen.

3. 

Der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) hat jedoch Zweifel, ob diese Regelung (dass der Richter des spezialisierten Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichts mit Sitz in Den Haag für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in Streitigkeiten im Sinne von Art. 81 der Verordnung Nr. 6/2002 allein zuständig ist) mit anderen Bestimmungen der Verordnung vereinbar ist.

4. 

Dieser Zweifel des vorlegenden Gerichts stellt sich angesichts der in den Niederlanden geführten Debatte, wo sich verschiedene Gerichte erster Instanz und Berufungsgerichte, die nicht die Eigenschaft von Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichten haben, für die Entscheidung über Anträge auf Anordnung von einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen in Verfahren über Klagen wegen Verletzung oder auf Erklärung der Nichtigkeit solcher Geschmacksmuster für zuständig erklärt haben.

I. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht. Verordnung Nr. 6/2002

5.

Titel IX regelt „Zuständigkeit und Verfahren für Klagen, die Gemeinschaftsgeschmacksmuster betreffen“.

6.

Abschnitt 2 dieses Titels, der die Art. 80 bis 92 umfasst, behandelt „Streitigkeiten über die Verletzung und Rechtsgültigkeit der Gemeinschaftsgeschmacksmuster“.

7.

Art. 80 („Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte“) bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten benennen für ihr Gebiet eine möglichst geringe Anzahl nationaler Gerichte erster und zweiter Instanz (Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte), die die ihnen durch diese Verordnung zugewiesenen Aufgaben wahrnehmen.

…“

8.

Art. 81 („Zuständigkeit für Verletzung und Rechtsgültigkeit“) lautet:

„Die Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte sind ausschließlich zuständig:

a)

für Klagen wegen Verletzung und – falls das nationale Recht dies zulässt – wegen drohender Verletzung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters;

b)

für Klagen auf Feststellung der Nichtverletzung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern, falls das nationale Recht diese zulässt;

c)

für Klagen auf Erklärung der Nichtigkeit eines nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters;

d)

für Widerklagen auf Erklärung der Nichtigkeit eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters, die im Zusammenhang mit den unter Buchstabe a) genannten Klagen erhoben werden.“

9.

Art. 90 („Einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen“) bestimmt:

„(1)   Bei den Gerichten eines Mitgliedstaats – einschließlich der Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte – können in Bezug auf ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster alle einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen beantragt werden, die in dem Recht dieses Staates für nationale Musterrechte vorgesehen sind, auch wenn für die Entscheidung in der Hauptsache aufgrund dieser Verordnung ein Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.

(2)   In Verfahren betreffend einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen ist der nicht im Wege der Widerklage erhobene Einwand der Nichtigkeit des Gemeinschaftsgeschmacksmusters zulässig. Artikel 85 Absatz 2 gilt entsprechend.

(3)   Ein Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht, dessen Zuständigkeit auf Artikel 82 Absätze 1, 2, 3 oder 4 beruht, ist zuständig für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen, die vorbehaltlich eines gegebenenfalls erforderlichen Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahrens gemäß Titel III des Vollstreckungsübereinkommens in jedem Mitgliedstaat anwendbar sind. Hierfür ist kein anderes Gericht zuständig.“

10.

Titel IX Abschnitt 3 (Art. 93 und 94) betrifft „Sonstige Streitigkeiten über Gemeinschaftsgeschmacksmuster“.

11.

In Art. 93 („Ergänzende Vorschriften über die Zuständigkeit der nationalen Gerichte, die keine Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte sind“) heißt es:

„(1)   Innerhalb des Mitgliedstaats, dessen Gerichte nach Artikel 79 Absatz 1 oder Absatz 4 zuständig sind, sind für andere als die in Artikel 81 genannten Klagen betreffend Gemeinschaftsgeschmacksmuster die Gerichte zuständig, die örtlich und sachlich zuständig wären, wenn es sich um Klagen handelte, die ein nationales Musterrecht in diesem Staat betreffen.

…“

B.   Nationales Recht

1. Wet op de rechterlijke organisatie (Richtergesetz)

12.

Art. 78 lautet:

„(1)   Der Hoge Raad [Oberster Gerichtshof] entscheidet über Kassationsbeschwerden, die von einer Partei oder ‚im Interesse des Gesetzes‘ vom Procureur-Generaal beim Hoge Raad [im Folgenden: Generalstaatsanwalt] gegen Rechtshandlungen, Entscheidungen, Urteile und Verfügungen der Gerichtshöfe und Gerichte eingelegt werden.

(7)   Die Kassationsbeschwerde ‚im Interesse des Gesetzes‘ ist nicht zulässig, wenn den Parteien ein ordentliches Rechtsmittel offen steht, und verschlechtert die Rechtsstellung der Parteien nicht.“

13.

Nach Art. 111 Abs. 2 Buchst. c ist der Generalstaatsanwalt für die Einlegung der Kassationsbeschwerde im Interesse des Gesetzes zuständig.

2. Gesetz vom 4. November 2004 zur Durchführung der Verordnung des Rates der Europäischen Union über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster und Bestimmung des Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichts (Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung-Durchführungsgesetz) ( 3 )

14.

Art. 3 sieht vor:

„Für alle Klagen im Sinne von Art. 81 der Verordnung ist in erster Instanz die Rechtbank Den Haag [Gericht erster Instanz Den Haag] und in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter dieser Rechtbank ausschließlich zuständig.“

II. Sachverhalt und Vorlagefrage

15.

Spin Master ist ein kanadisches Spielwarenunternehmen. Unter der Marke „Bunchems“ vertreibt es farbige Spielbällchen, die aneinanderkletten, um allerlei Formen und Figuren zusammensetzen zu können. Am 16. Januar 2015 wurde auf ihren Namen und unter der Nr. 002614669-0002 ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster für dieses Spielzeug eingetragen.

16.

High5 vertreibt unter dem Namen „Linkeez“ farbige Spielbällchen, die aneinanderkletten, wodurch allerlei Formen und Figuren zusammengesetzt werden können.

17.

Spin Master beantragte beim für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter der Rechtbank Amsterdam (Gericht erster Instanz Amsterdam, Niederlande) einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen wegen Verletzung des eingetragenen Geschmacksmusters. Konkret beantragte sie, die Vermarktung der Erzeugnisse von High5 im Gebiet der Niederlande zu untersagen.

18.

In diesem Verfahren hatte High5 vorab gerügt, dass die Rechtbank Den Haag (Gericht erster Instanz Den Haag) für das Verfahren ausschließlich zuständig und die Rechtbank Amsterdam daher unzuständig sei.

19.

Am 12. Januar 2017 wies der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter der Rechtbank Amsterdam (Gericht erster Instanz Amsterdam) die Einrede der Unzuständigkeit gemäß Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 zurück und ordnete eine Reihe einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen an ( 4 ). In derselben Entscheidung setzte er gemäß Art. 1019i der Zivilprozessordnung eine Frist für die Klageerhebung in der Hauptsache von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt ihres Erlasses.

20.

Unter Hinweis darauf, dass es in der niederländischen Rechtspraxis umstritten sei, ob die bei anderen Rechtbanken (Gerichte erster Instanz) als der Rechtbank Den Haag (Gericht erster Instanz Den Haag) für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter befugt seien, einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen in solchen Streitigkeiten anzuordnen, legte der Generalstaatsanwalt gegen die Entscheidung des für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Amsterdamer Richters Kassationsbeschwerde „im Interesse des Gesetzes“ ein.

21.

Mit dem Kassationsbeschwerdegrund rügt er, dass

nach niederländischem Recht für Anträge auf einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen wegen der Verletzung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters der Richter der Rechtbank Den Haag (Gericht erster Instanz Den Haag) ausschließlich zuständig sei,

Art. 90 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002, wie sich aus der Gesetzgebungsgeschichte und der „Systematik“ der Verordnung ergebe, auf die in Art. 81 der Verordnung geregelten Streitigkeiten nicht anwendbar sei.

22.

Vor diesem Hintergrund legt der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:

Ist Art. 90 Abs. 1 der Geschmacksmusterverordnung dahin auszulegen, dass er eine zwingende Übertragung der Zuständigkeit, einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen anzuordnen, an alle dort genannten Gerichte eines Mitgliedstaats enthält, oder stellt er es den Mitgliedstaaten – ganz oder teilweise – frei, die Zuständigkeit, solche Maßnahmen anzuordnen, ausschließlich den Gerichten zu übertragen, die gemäß Art. 80 Abs. 1 der Geschmacksmusterverordnung als Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte (erster und zweiter Instanz) benannt sind?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

23.

Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 5. November 2018 beim Gerichtshof eingegangen.

24.

Der Generalstaatsanwalt, die niederländische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist nicht für erforderlich gehalten worden.

IV. Würdigung

25.

Die Vorlagefrage beschränkt sich auf die Klärung, ob die in den Art. 80 und 81 der Verordnung Nr. 6/2002 vorgesehene ausschließliche Zuständigkeit der (spezialisierten) Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte für die Entscheidung über bestimmte Klagen wegen Verletzung oder auf Erklärung der Nichtigkeit auch für die in Art. 90 der Verordnung geregelten einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen gilt.

26.

Der Zweifel kommt angesichts der Tatsache auf, dass Art. 90 im Gegensatz zu dieser Ausschließlichkeit die Tür dafür zu öffnen scheint, dass in Bezug auf Gemeinschaftsgeschmacksmuster auch andere Gerichte der Mitgliedstaaten (also nicht nur die spezialisierten) um Anordnung von einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen ersucht werden können.

27.

Bevor ich mich der Beantwortung dieser Frage zuwende, ist zu klären, ob, wie das vorlegende Gericht in seinem Vorlagebeschluss andeutet, es sich um einen Rechtsstreit handelt, der die Voraussetzungen des Art. 267 AEUV erfüllt.

A.   Zulässigkeit der Vorlagefrage

28.

Die Auslegungsfrage ist im Rahmen einer Kassationsbeschwerde „im Interesse des Gesetzes“, die der Generalstaatsanwalt gegen Entscheidungen der Gerichte erster Instanz und der Berufungsgerichte einlegen kann, gegen die kein ordentliches Rechtsmittel gegeben ist, aufgeworfen worden.

29.

Diese Modalität der Kassationsbeschwerde dient der einheitlichen Anwendung des Rechts. Sie ist statthaft, wenn sich die Frage, die Gegenstand des Rechtsstreits ist, in einer Vielzahl von Verfahren stellt und die Rechtspraxis mangels einer Entscheidung des Hoge Raad (Oberster Gerichtshof) zu voneinander abweichenden Lösungen findet.

30.

Es handelt sich um einen Verfahrensmechanismus, der die traditionelle rechtswahrende Funktion der Kassationsbeschwerde (also den Schutz des Gesetzes im objektiven Sinne über die subjektiven Interessen der Streitparteien hinaus) bis zu ihrem Höchstmaß potenziert. Zu dieser Funktion kommt „im Interesse des Gesetzes“ das Ziel hinzu, eine Rechtsprechung für die Zukunft zu begründen, wenn auch ohne konkrete Folgen für den Ausgangsrechtsstreit, an dessen Ergebnis sich nichts ändert. Wird der Beschwerde stattgegeben, muss das angefochtene Urteil aufgehoben werden, wenngleich dadurch die Rechtsstellung der Parteien, über die bereits in der Instanz abschließend entschieden worden ist, nicht berührt wird.

31.

Der Hoge Raad (Oberster Gerichtshof) ist offenkundig ein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden können. Er ist daher verpflichtet, bei einem Zweifel hinsichtlich der Auslegung einer unionsrechtlichen Regelung den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen.

32.

Man könnte meinen, dass auch dann, wenn man die Rechtsprechungsfunktion des vorlegenden Gerichts allgemein bejaht, die Vorlagefrage nicht zugelassen werden darf, weil der Kassationsbeschwerde im Interesse des Gesetzes kein echter Streit zwischen den Parteien zugrunde liegt.

33.

Ich glaube jedoch nicht, dass dieser Einwand durchgreifen kann. Das Erfordernis, dass das Verfahren, in dem sich die Vorlagefrage stellt, streitigen Charakter haben muss, hat der Gerichtshof schon vor Langem verworfen ( 5 ). Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer hat ausgeführt, dass für die Zulässigkeit einer Vorlage „[a]usschlaggebend ist …, dass derjenige, der den Gerichtshof anruft, eine richterliche Tätigkeit ausübt und der Ansicht ist, dass er für seine Entscheidung einer Auslegung des Gemeinschaftsrechts bedarf, wobei es unerheblich ist, dass in dem Verfahren, in dem sich die Frage stellt, keine streitige Verhandlung stattfindet“ ( 6 ).

34.

Wenn wie in dieser Rechtssache bereits ein Rechtsstreit zwischen den Parteien geführt wurde und die im ersten Rechtszug ergangene Entscheidung über eine Berufung oder eine Kassationsbeschwerde vor ein übergeordnetes Gericht gelangt ist, „ist das [Gericht] in einem solchen Fall grundsätzlich als Gericht im Sinne von Art. [267 AEUV] anzusehen, das zur Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens befugt ist“ ( 7 ).

35.

Dieser Feststellung steht nicht entgegen, dass die individualisierte Stellung der Streitparteien ungeachtet des Ergebnisses des im Interesse des Gesetzes erlassenen Urteils unverändert bleibt. Ganz im Gegenteil, die Erga-omnes-Wirkung derartiger Urteile verleiht ihnen eine Qualität, die, gerade weil sie über den Einzelfall hinausgeht, es mehr als rechtfertigt, dass der Hoge Raad (Oberster Gerichtshof) den Gerichtshof anrufen kann, damit seine Antwort bei der Auslegung des Unionsrechts weiter reicht und dadurch die einheitliche Auslegung der Verordnung Nr. 6/2002 durch alle niederländischen Gerichte gewährleistet ist.

36.

Zusammenfassend bin ich der Ansicht, dass der Zulassung der Vorlagefrage nichts entgegensteht.

B.   In der Sache

37.

Die Verordnung Nr. 6/2002 hat sich für ein Modell der Spezialisierung der Gerichte entschieden: In jedem Mitgliedstaat wird eine möglichst geringe Anzahl nationaler Gerichte (die als Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte bezeichnet werden) benannt, die über die Erklärung der Nichtigkeit und die Verletzung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern entscheiden.

38.

Diese Regel, die in den Art. 80 und 81 der Verordnung niedergelegt ist, bringt es – dieser Punkt ist unstreitig – mit sich, dass für die Entscheidung der entsprechenden Rechtsstreitigkeiten in der Hauptsache ausschließlich die genannten Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte als Fachgerichte auf diesem Gebiet zuständig sind.

39.

Allerdings scheint Art. 90 Abs. 1 der Verordnung einer anderen Logik zu folgen, die im Hinblick auf die einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen eher dem Effektivitätsgrundsatz als dem Grundsatz der Spezialisierung der Gerichte zugeneigt ist ( 8 ). Solche Maßnahme können „[b]ei den Gerichten eines Mitgliedstaats – einschließlich der Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte – … in Bezug auf ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster“ beantragt werden.

40.

Auf den ersten Blick scheint die Ausschließlichkeit des Art. 81 in Art. 90 nicht mehr vorhanden zu sein, so dass auch andere Gerichte und nicht nur das spezialisierte Gericht tätig werden können, wenn auch nur im Rahmen der Anordnung einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen. Insoweit würden die Anforderungen an die Schnelligkeit, die dem Effektivitätsgrundsatz innewohnen, und die größere örtliche Nähe des jeweils zuständigen Richters eine dezentrale anstatt eine bei einem einzigen Gericht konzentrierte Lösung rechtfertigen ( 9 ).

41.

Der Wortlaut von Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 spricht für diese Auslegung: Jedes Gericht eines Mitgliedstaats (in dem Sinne, dass er sich auf die Gerichte bezieht, die in diesem Staat Geschmacksmusterstreitigkeiten entscheiden) hat Zugang zu dieser Art von Maßnahmen. Dass es sich nicht um ein spezialisiertes Gericht handeln muss, wird durch die Wendung „einschließlich der Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte“ bestätigt: Letztere sind den übrigen Gerichten im Hinblick auf vorläufige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf die Zuständigkeit gleichgestellt ( 10 ).

42.

Sowohl der Generalstaatsanwalt ( 11 ) als auch die Regierung der Niederlande vertreten hingegen die Meinung, dass Art. 90 der Verordnung Nr. 6/2002 weder die Tragweite von Art. 81 verändert noch eine Ausnahme von der in ihm enthaltenen Regelung darstellt. Sie meinen, Art. 81 spreche für die Zuständigkeit der spezialisierten Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte in sämtlichen Abschnitten des Verfahrens auf Erklärung der Nichtigkeit oder wegen Verletzung, einschließlich des vorläufigen Rechtsschutzes. Art. 90 betreffe andere Arten von Klagen als die, die in Art. 81 genannt seien.

43.

Die Kommission spricht sich für die entgegengesetzte Lösung aus. Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 lasse darauf schließen, dass für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen in Bezug auf Gemeinschaftsgeschmacksmuster die Gerichte der Mitgliedstaaten einschließlich der „Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte“ zuständig seien. Er eröffne also die Möglichkeit, die (spezialisierten) Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte oder auch andere, nicht spezialisierte (aber allgemein für Geschmacksmusterstreitigkeiten zuständige) Gerichte anzurufen. Ich bin der Ansicht, dass diese These am besten der Auslegung der Bestimmung entspricht.

44.

Zur Begründung seines Standpunkts führt der Generalstaatsanwalt das Protokoll über die Regelung von Streitigkeiten über die Verletzung und die Rechtsgültigkeit von Gemeinschaftspatenten ( 12 ) an. Der Generalstaatsanwalt meint, Art. 90 der Verordnung Nr. 6/2002 folge dem Muster des Art. 36 des Protokolls, der bezwecke, die Anordnung einstweiliger Maßnahmen sowohl in Bezug auf nationale als auch Gemeinschaftspatente zu ermöglichen. Mit Art. 36 habe man keine Ausnahme von den internen Zuständigkeitsregeln des Protokolls schaffen wollen, sondern von denen, die mit der internationalen Zuständigkeit zusammenhingen ( 13 ).

45.

Ich glaube nicht, dass diese Bezugnahme auf die Regelung für Gemeinschaftspatentstreitigkeiten (die damals nicht in den ständigen Mechanismus umgesetzt wurde) im einen oder anderen Sinn der Auslegung von Art. 90 der Verordnung Nr. 6/2002 über Gemeinschaftsgeschmacksmuster dienlich ist. Der niederländische Gesetzgeber hat zwar seiner Tendenz, die gesamte Zuständigkeit für den Schutz des Gemeinschaftspatents bei einem einzigen Gericht zu konzentrieren, Ausdruck gegeben und bekräftigt, der Vorgabe des Protokolls zu folgen, aber durch diese Entscheidung werden die Zweifel hinsichtlich der Tragweite des Art. 90 in Verbindung mit Art. 81 der Verordnung Nr. 6/2002 nicht ausgeräumt.

46.

Gewichtiger ist das Argument bezüglich der „Systematik“ der Verordnung Nr. 6/2002, auf die sich der Generalstaatsanwalt und die Regierung der Niederlande berufen. Aus ihrer Sicht stellt Art. 90 in Bezug auf einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen die Grundregel dar; diese Regelung müsse nach Maßgabe der Art des Rechtsstreits, in dem sie beantragt würden, vervollständigt werden:

Handele es sich um Streitigkeiten „über die Verletzung und Rechtsgültigkeit der Gemeinschaftsgeschmacksmuster“ (Art. 81) könnten nur die spezialisierten Gerichte die einschlägigen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen anordnen, denn sie allein seien für diese Verfahren ausschließlich zuständig.

Handele es sich um die übrigen, nicht in Art. 81 geregelten Klagen, entfalte der Wortlaut des Art. 90 Abs. 1 seinen vollen Sinn, wonach alle Gerichte eines Mitgliedstaats – einschließlich der spezialisierten – einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen anordnen könnten. Dadurch erkläre sich dieser „problematische und rätselhafte“ ( 14 ) Wortlaut besser.

47.

Ich teile diese Ansicht jedoch nicht. Gegen sie spricht die Systematik von Titel IX der Verordnung Nr. 6/2002 über die „Zuständigkeit und Verfahren für Klagen, die Gemeinschaftsgeschmacksmuster betreffen“, der in drei Abschnitte unterteilt ist:

In Abschnitt 1 ist das geregelt, was sich als Hintergrund für die Bestimmung der für die Entscheidung eines Rechtsstreits zuständigen staatlichen Gerichtsbarkeit bezeichnen ließe. Die Vorschriften, auf die er verweist, stammen aus dem Brüsseler Übereinkommen ( 15 ) und sind anzuwenden, soweit in der Verordnung Nr. 6/2002 nichts anderes bestimmt ist.

Abschnitt 2 regelt die Ausnahmen von der Anwendbarkeit der Brüssel‑Ia-Verordnung. Er stellt Regeln für die internationale Zuständigkeit auf (Art. 82) und legt fest, welche Gerichte für die Entscheidung von Geschmacksmusterstreitigkeiten zuständig sind und welche Klagen sie entscheiden (Art. 80 und 81) ( 16 ). Art. 90 („Einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen“) fällt unter diesen Abschnitt.

Abschnitt 3 mit der Überschrift „Sonstige Streitigkeiten über Gemeinschaftsgeschmacksmuster“ verweist für die Bestimmung der zuständigen nationalen Gerichtsbarkeit auf Art. 79 Abs. 1 und 4 ( 17 ) und regelt die interne Zuständigkeit für andere als die in Art. 81 aufgeführten Klagen. Konkret weist er sie den Gerichten zu, die für Klagen, die ein nationales Geschmacksmuster im entsprechenden Staat betreffen, örtlich und sachlich zuständig sind (Art. 93).

48.

Die systematische Auslegung von Titel IX der Verordnung Nr. 6/2002 bestätigt, dass der Gesetzgeber Klagen wegen Verletzung oder auf Erklärung der Nichtigkeit von Gemeinschaftsgeschmacksmustern auf der einen und die übrigen Klagen auf der anderen Seite unterschiedlich behandeln wollte. Erstgenannte sind in Abschnitt 2 geregelt, unter den Art. 90 fällt. Es lässt sich daher kaum annehmen, dass dieser Artikel einen anderen Gegenstand hat als der Normenkomplex (Abschnitt 2), dem er angehört. Mit anderen Worten: Art. 90 gilt auch für einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen, die im Rahmen von Verfahren bezüglich der Verletzung und Nichtigkeit von Gemeinschaftsgeschmacksmustern beantragt werden.

49.

Die niederländische Regierung bringt als zusätzliches Argument vor, Art. 90 sei innerhalb von Abschnitt 2 von den Art. 80 und 81 der Verordnung Nr. 6/2002 entfernt angesiedelt. Dass die Art. 82 bis 89, die andersartige Fragen beträfen, dazwischen gestellt worden seien, spreche dafür, dass sie in gewissem Umfang voneinander abgekoppelt seien.

50.

Ich meine nicht, dass diesem Vorbringen gefolgt werden kann. Der Wortlaut der Art. 82 bis 89 der Verordnung Nr. 6/2002 ist von Verweisungen auf die in Art. 81 geregelten Klagen durchsetzt, woran sich zeigt, dass sie ein und derselben Logik gehorchen, die rechtfertigt, dass sie allesamt in Titel IX Abschnitt 2 aufgenommen wurden. Dieselbe Logik erklärt, weshalb sich Art. 90 in demselben Abschnitt befindet. Dadurch verstärkt sich der Eindruck, dass die einstweiligen Maßnahmen, auf die er sich bezieht, zu den Verfahren gehören, die in Art. 81 geregelt sind, und nicht zu denen des in Abschnitt 3 angesiedelten Art. 93.

51.

Die wörtliche und die systematische Auslegung sprechen daher für eine andere Lösung, als sie der Generalstaatsanwalt und die niederländische Regierung vorschlagen. Auf dieselbe Lösung deutet die Logik des dualen Systems von spezialisierten Gerichten/übrigen zuständigen Gerichten innerhalb der jeweiligen Mitgliedstaaten hin, wenn sie mit den verschiedenen Funktionen der einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen auf der einen und der gerichtlichen Entscheidung, mit der der Rechtsstreit in der Hauptsache entschieden wird, auf der anderen Seite kombiniert wird.

52.

Die Spezialisierung der Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte trägt zweifellos zur Einheit der Rechtsprechung und der einheitlichen Anwendung der Vorschriften bei, die die Klagen wegen Verletzung oder auf Erklärung der Nichtigkeit in materieller Hinsicht regeln. Diese Sichtweise der Rolle der Hauptsacheentscheidung durchzieht das System der Verordnung Nr. 6/2002: Wenn also ihr Art. 80 die Zuständigkeit für die Klagen nach Art. 81 bei einer begrenzten Zahl an Gerichten konzentriert, bezweckt er „eine einheitliche Auslegung der Voraussetzungen für die Rechtsgültigkeit von Gemeinschaftsgeschmacksmustern“ (28. Erwägungsgrund).

53.

Ein solcher Zweck muss aber nicht unbedingt für die einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen gelten, deren Anordnung definitionsgemäß zeitlich beschränkten Charakter hat und die endgültige Entscheidung nicht vorwegnimmt (nicht vorwegnehmen darf).

54.

Ohne die praktische Bedeutung bestreiten zu wollen, die einer Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes in bestimmten Verfahren zukommt, hängt sie doch von der Fortsetzung des Hauptsacheverfahrens ab ( 18 ) und darf nicht in das eingreifen, was Letzterem vorbehalten ist. Die Verordnung Nr. 6/2002 behält die Entscheidung über die komplexen Fragen, die die Begründetheit betreffen (wie beispielsweise die Verletzung oder die Nichtigkeit des Geschmacksmusters) ausdrücklich den spezialisierten Gerichten vor.

55.

Dies lässt sich beispielsweise für die Widerklage feststellen, die der Beklagte gemäß Art. 85 Abs. 1 erheben muss, wenn er die Rechtsgültigkeit des Gemeinschaftsgeschmacksmusters, dessen Inhaber der Kläger ist, bestreiten will, nachdem Letzterer eine Klage nach Art. 81 der Verordnung Nr. 6/2002 erhoben hat. Im Verfahrensabschnitt des vorläufigen Rechtsschutzes reicht es für den Beklagten hingegen aus, wenn er einen bloßen Einwand der Nichtigkeit (Art. 90 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002) erhebt ( 19 ).

56.

Diese doppelte Behandlung zeigt, dass für den Unionsgesetzgeber die Wirkung der vorläufigen Entscheidung gerade wegen ihres vorläufigen Charakters und in Erwartung der Hauptsacheentscheidung begrenzt ist. Es ist nicht so, dass der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter bei der Prüfung des fumus boni iuris oder der anderen angeführten Gründe das (als Einwand geltend gemachte) Vorbringen des Klägers bezüglich der Rechtsgültigkeit des Geschmacksmusters des Klägers nicht berücksichtigen kann. Da aber diese Beurteilung nicht endgültig ist, bedarf es weder einer Widerklage noch der Beteiligung des spezialisierten Gerichts, das letztendlich darüber zu entscheiden hat.

57.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Kenntnisse der Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte auf diesem Gebiet zwar unbestreitbar sind, es den übrigen nationalen Gerichten aber auch nicht an ihnen fehlt.

58.

Das System des Geschmacksmusterschutzes basiert auf der Koexistenz von Mustern mit gemeinschaftsweiter Geltung und solchen mit lediglich nationaler Geltung, die in der entsprechenden Zuweisung gerichtlicher Zuständigkeiten zum Ausdruck kommt.

59.

Der Schutz der nationalen Geschmacksmuster obliegt den (nicht im Sinne der Verordnung Nr. 6/2002 spezialisierten) nationalen Gerichten, die das Recht des jeweiligen Mitgliedstaats benennt, was ihnen von sich aus eine unzweifelhafte Nähe zu der Materie verleiht. In diesen Streitigkeiten können dieselben einstweiligen Maßnahmen angeordnet werden, die gegebenenfalls in Gemeinschaftsgeschmacksmusterstreitigkeiten anwendbar sind ( 20 ).

60.

Diese nationalen (nicht spezialisierten) Gerichte sind zudem gemäß Art. 93 der Verordnung Nr. 6/2002 auch für die Entscheidung bestimmter Gemeinschaftsgeschmacksmusterstreitigkeiten zuständig. Sie können in diesen Streitigkeiten ebenfalls einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen anordnen.

61.

Mithin bewegen sich die Gerichte, die von der Zuständigkeit nach Art. 81 der Verordnung Nr. 6/2002 ausgeschlossen sind, auf einem Terrain, das ihnen vertraut ist, ungeachtet dessen, dass sie nicht befugt sind, eine Streitigkeit bezüglich einer Verletzung oder der Nichtigkeit eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters in der Sache zu entscheiden.

62.

Ich glaube daher nicht, dass das Argument der (höheren) Spezialisierung der Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte eine Beschränkung der Zuständigkeit der übrigen nationalen Gerichte in Bezug auf einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen rechtfertigt.

63.

Die niederländische Regierung legt Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin aus, dass er es den Mitgliedstaaten freistellt, wie sie das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes organisieren, mit der Einschränkung, dass das Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht zwingend zuständig sein muss.

64.

Hierzu führt sie aus, dass die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten nur verdrängt werde, wenn spezifische Vorschriften gälten, nach denen ein konkretes Gericht mit bestimmten Zuständigkeiten auszustatten sei (wie es bei den Art. 80 und 81 der Verordnung Nr. 6/2002 der Fall sei). Folglich sei ein Staat durch nichts daran gehindert, die Zuständigkeit für Klagen wegen Verletzung oder Erklärung der Nichtigkeit auch im Verfahrensabschnitt des vorläufigen Rechtsschutzes den spezialisierten Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichten zu übertragen.

65.

Diese Sichtweise geht von einem Verständnis des Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 als reiner Ermächtigungsnorm aus: Die Mitgliedstaaten „können“ wählen, ob sie die Zuständigkeit für den einstweiligen Rechtsschutz den einen oder den anderen Gerichten zuweisen (mit der bereits dargestellten Einschränkung, dass in jedem Fall die Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte einzubeziehen sind).

66.

Ich bin jedoch der Ansicht, dass die Verwendung des Syntagmas „können“ eine andere, dem Ziel der Vorschrift eher entsprechende Bedeutung hat. Die Möglichkeit, zu wählen, bezieht sich nicht auf die Mitgliedstaaten, sondern auf die Verfahrensparteien. Und gerade aus Gründen, die die Verteidigung der Interessen letztgenannter und die Nähe der Gerichte, die ihnen eine unverzügliche, wenn auch nur vorläufige und einstweilige Antwort geben müssen ( 21 ), betreffen, können sie entweder die spezialisierten Gerichte oder die allgemeinen Gerichte anrufen.

67.

Daher ist die Vorschrift aus der Sicht der Inhaber des den Gemeinschaftsgeschmacksmustern innewohnenden Rechts zu lesen, die um seinen gerichtlichen Schutz nachsuchen. Letztendlich wird die Eröffnung eines großzügigeren Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes gefördert, in dem die Effizienz prämiert wird ( 22 ), während in der Hauptsache die Spezialisierung bei der Entscheidung über Klagen wegen Verletzung oder auf Erklärung der Nichtigkeit Vorrang hat.

68.

Man könnte annehmen, dass in diesem Fall die Einbeziehung der Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte überflüssig ist, aber das trifft nicht zu. Der Schlüssel liegt in Art. 90 Abs. 3, der Folgendes bestimmt:

Entscheidet sich der Betroffene, die einstweilige Maßnahme einschließlich einer Sicherungsmaßnahme beim Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht zu beantragen, sind die von ihm angeordneten Maßnahmen in jedem Mitgliedstaat anwendbar.

Entscheidet sich der Betroffene, den Antrag bei anderen, nicht spezialisierten nationalen Gerichten zu stellen, ist die Wirksamkeit der von ihnen angeordneten vorläufigen Maßnahme auf den jeweiligen Mitgliedstaat beschränkt.

69.

Art. 90 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung Nr. 6/2002 bestätigt die bisherigen Ausführungen. Es wäre nicht notwendig, vorzuschreiben, dass „[h]ierfür [die Wirksamkeit der einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen auf das Gebiet eines jeden Mitgliedstaats zu erstrecken] … kein anderes Gericht [als das Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht] zuständig [ist]“, wenn die sonstigen Gerichte für den Erlass vorläufiger Maßnahmen im Rahmen von Klagen wegen der Nichtigkeit oder Verletzung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern von vornherein nicht zuständig wären.

70.

Zusammenfassend hat man mit der Anordnung einer Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes durch die nationalen Gerichte (im bereits dargestellten Sinne) Zugang zu dem dieser Art von Verfahren innewohnenden Rechtsschutz, der sich durch die Dringlichkeit auszeichnet, ohne dass – wie ich betonen möchte – in diesem Verfahrensabschnitt die materiell-rechtliche Prüfung des Rechtsstreits abschließend erfolgen kann, für die ausschließlich die Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte zuständig sind.

V. Ergebnis

71.

Aufgrund der vorstehenden Überlegungen schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) wie folgt zu antworten:

Art. 90 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster ist dahin auszulegen, dass die nationalen Gerichte, die im Bereich der nationalen Geschmacksmuster zuständig sind, in Verfahren über den Schutz oder die Rechtsgültigkeit von Gemeinschaftsgeschmacksmustern, deren Entscheidung in der Hauptsache ausschließlich den gemäß Art. 80 Abs. 1 der Verordnung zuständigen Gerichten obliegt, einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen anordnen können.


( 1 ) Originalsprache: Spanisch.

( 2 ) Verordnung des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1).

( 3 ) (Nederlandse) Wet van 4 november 2004 tot uitvoering van de verordening van de Raad van de Europese Unie betreffende Gemeenschapsmodellen houdende aanwijzing van de rechtbank voor het Gemeenschapsmodel (Uitvoeringswet EG-verordening betreffende Gemeenschapsmodellen) (Stb. 2004/573). Im Folgenden: Gesetz vom 4. November 2004.

( 4 ) Unter anderen untersagte er High5 unter Androhung von Zwangsgeldern, die Spielbälle nebst Zubehör zu verkaufen, und verpflichtete sie, die gewerblichen Käufer zu ihrer Rückgabe gegen Erstattung des Kaufpreises und der Beförderungskosten aufzufordern. High5 musste Spin Master zudem eine Liste ihrer Lieferanten und ihrer Abnehmer unter Angabe der gelieferten Erzeugnisse zur Verfügung stellen.

( 5 ) Urteile vom 14. Dezember 1971, Politi (43/71, EU:C:1971:122), vom 21. Februar 1974, Birra Dreher (162/73, EU:C:1974:17), vom 18. Juni 1998, Corsica Ferries (C‑266/96, EU:C:1998:306), und vom 25. Juni 2009, Roda Golf & Beach Resort (C‑14/08, EU:C:2009:395, Rn. 33).

( 6 ) Schlussanträge in der Rechtssache De Coster (C‑17/00, EU:C:2001:366, Nr. 30).

( 7 ) Urteil vom 16. Dezember 2008, Cartesio (C‑210/06, EU:C:2008:723, Rn. 57 bis 59).

( 8 ) Die Typologie dieser Maßnahmen ist in der Verordnung Nr. 6/2002 nicht harmonisiert; in jedem Mitgliedstaat werden die in seinem Recht vorgesehenen Maßnahmen angewandt.

( 9 ) Wie bereits ausgeführt wurde, lässt es die Verordnung Nr. 6/2002 zu, dass es in den Mitgliedstaaten nicht nur ein, sondern mehrere auf Geschmacksmustersachen spezialisierte Gerichte (in möglichst geringer Anzahl) gibt. Die Niederlande entschieden sich für ein einziges Gericht.

( 10 ) Eine andere Frage betrifft die Wirksamkeit dieser Maßnahmen nach Maßgabe des Gerichts, das sie anordnet. Ich gehe weiter unten auf diese Unterscheidung ein.

( 11 ) Seine schriftlichen Erklärungen entsprechen denen, die er im Rahmen der Kassationsbeschwerde im Interesse des Gesetzes beim Hoge Raad (Oberster Gerichtshof) eingereicht hat.

( 12 ) ABl. 1989, L 401, S. 34.

( 13 ) Das Protokoll regelt die internationale Zuständigkeit in Art. 14 und die nationale in Art. 15.

( 14 ) Schriftliche Erklärungen des Generalstaatsanwalts, Abschnitt 3.23.

( 15 ) ABl. 1998, C 27, S. 1, konsolidierte Fassung in ABl. 2009, L 147, S. 5. Allerdings ist die Bezugnahme auf dieses Übereinkommen als Verweis auf die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1; im Folgenden: Brüssel‑Ia-Verordnung) zu verstehen.

( 16 ) Außerdem regelt er gewisse Einzelheiten bezüglich der Tragweite und der Wirkungen von Klagen wegen Verletzung oder auf Erklärung der Nichtigkeit und enthält u. a. Vorschriften über das anwendbare Recht, im Zusammenhang stehende Verfahren und die Zuständigkeit in der zweiten Instanz (Art. 82 bis 89, 91 und 92).

( 17 ) In Ermangelung eines nach Art. 79 Abs. 1 und 4 zuständigen Gerichts bezeichnet er die Gerichte des Landes, in dem das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) seinen Sitz hat.

( 18 ) Deshalb setzte der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Amsterdamer Richter in seiner Entscheidung vom 12. Januar 2017 eine Frist zur Erhebung der Klage in der Hauptsache.

( 19 ) In der spanischen Fassung dieses Absatzes wird fälschlich der Begriff „demanda de nulidad“ verwendet, während es sich tatsächlich um einen echten Einwand und nicht um eine Klage im verfahrensrechtlichen Sinn handelt. Dies wird durch andere Sprachfassungen, die ich herangezogen habe, bestätigt: „exception de nullité“ in der französischen, „plea“ in der englischen, „eccezioni di nullità“ in der italienischen, „excepção de nulidade“ in der portugiesischen, „Einwand der Nichtigkeit“ in der deutschen.

( 20 ) Ich habe bereits vorweggeschickt (Fn. 8), dass die Verordnung Nr. 6/2002 keine spezifischen Vorschriften in Bezug auf die Typologie dieser Maßnahmen enthält, deren Regelung im Rahmen des Geschmacksmusterrechts des jeweiligen Mitgliedstaats erfolgt.

( 21 ) Dies ist die Auslegung der Kommission, die hervorhebt, dass dem Einzelnen ein Gericht in geografischer Nähe zur Verfügung stehen müsse, das er um vorläufigen Rechtsschutz ersuchen könne, was bedeute, dass die Spezialisierung in den Hintergrund trete. Als Beispiele führt sie die Notwendigkeit an, Beweismittel zu sichern, deren Verlust droht, oder die Verbreitung gefälschter Erzeugnisse von einer einzigen Verkaufsstelle aus, wie einem Hafen oder einer Fabrik.

( 22 ) Im Bereich des geistigen Eigentums spielen einstweilige Maßnahmen eine fundamentale Rolle, damit unter Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör der anderen Partei dem Inhaber des Rechts ein verhältnismäßiger Schutz gewährt werden kann, ohne dass eine Entscheidung in der Sache abgewartet werden muss (22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums [ABl. 2004, L 157, S. 45; Berichtigung in ABl. 2004, L 195, S. 16]).