SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

EVGENI TANCHEV

vom 28. Juni 2018 ( 1 )

Rechtssache C‑216/18 PPU

Minister for Justice and Equality

gegen

LM

(Mängel des Justizsystems)

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court [Hoher Gerichtshof, Irland])

„Vorabentscheidungsersuchen – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf ein faires Verfahren – Rechtsstaatlichkeit – Art. 7 EUV – Begründeter Vorschlag der Kommission, mit dem der Rat aufgefordert wird, das Vorliegen der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung eines in Art. 2 EUV genannten Wertes durch die Republik Polen festzustellen“

Inhaltsverzeichnis

 

I. Einleitung

 

II. Rechtlicher Rahmen

 

A. Unionsrecht

 

1. Charta

 

2. Vertrag über die Europäische Union

 

3. Rahmenbeschluss

 

B. Irisches Recht

 

III. Sachverhalt und Ausgangsverfahren

 

IV. Würdigung

 

A. Zulässigkeit

 

B. Begründetheit

 

1. Vorbemerkungen

 

2. Erste Vorlagefrage

 

a) Muss die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgeschoben werden, wenn nicht Art. 4 der Charta, sondern ihr Art. 47 Abs. 2 tatsächlich verletzt zu werden droht?

 

b) Muss jede Verletzung von Art. 47 Abs. 2 der Charta ungeachtet ihrer Schwere zur Aufschiebung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls führen?

 

1) Einleitung

 

2) Erfordernis einer eklatanten Rechtsverweigerung

 

3) Charakterisierung einer eklatanten Rechtsverweigerung im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Gerichte

 

c) Muss die vollstreckende Justizbehörde feststellen, dass der Betroffene Gefahr läuft, einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt zu werden?

 

1) Einleitung und Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten

 

2) Erfordernis einer individuellen Prüfung

 

3) Wie lässt sich nachweisen, dass der Betroffene der echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung im Ausstellungsmitgliedstaat ausgesetzt ist?

 

3. Zweite Vorlagefrage

 

V. Ergebnis

I. Einleitung

1.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Kontext der Entwicklung und der Reformen des polnischen Justizsystems ( 2 ), die die Europäische Kommission dazu veranlasst haben, am 20. Dezember 2017 einen begründeten Vorschlag anzunehmen, mit dem der Rat der Europäischen Union aufgefordert wird, gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV das Bestehen der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung eines der den Mitgliedstaaten gemeinsamen Werte aus Art. 2 EUV, nämlich der Rechtsstaatlichkeit, durch die Republik Polen festzustellen ( 3 ) (im Folgenden: Begründeter Vorschlag der Kommission).

2.

Das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren ermöglicht, wenn es zu Ende, d. h. bis zur Feststellung des Europäischen Rates, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, geführt wird, die Aussetzung bestimmter Rechte, die dieser Mitgliedstaat aus den Verträgen herleitet. Ein solches Verfahren ist bislang nie eingeleitet und erst recht nicht zu Ende geführt worden. Der begründete Vorschlag der Kommission stellt den ersten Versuch in diesem Sinne dar, und der Rat hat den Beschluss, zu dem er durch diesen Vorschlag aufgefordert worden ist, bis zum heutigen Tage nicht erlassen.

3.

In der vorliegenden Rechtssache sind gegen L. M., den Beklagten des Ausgangsverfahrens, drei Haftbefehle ergangen, die von polnischen Gerichten auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ( 4 ) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 ( 5 ) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss) ausgestellt worden sind. L. M. behauptet, dass er wegen der Reformen des polnischen Justizsystems, so wie sie im begründeten Vorschlag der Kommission analysiert worden sind, tatsächlich Gefahr laufe, in Polen kein faires Verfahren zu erhalten, und trägt vor, dies stehe seiner Übergabe an die polnischen Justizbehörden durch das vorlegende Gericht entgegen.

4.

Nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, jeden Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken ( 6 ). Die Ablehnung der Vollstreckung eines solchen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde ist nur in den abschließend aufgezählten Fällen möglich, in denen sie nach Art. 3 des Rahmenbeschlusses abzulehnen ist oder nach den Art. 4 und 4a des Rahmenbeschlusses abgelehnt werden kann ( 7 ).

5.

Im Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 98), hat der Gerichtshof jedoch entschieden, dass, wenn die vollstreckende Justizbehörde feststellt, dass für die Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) besteht, die Vollstreckung des Haftbefehls aufzuschieben ist. Diese Schlussfolgerung stützt der Gerichtshof zum einen auf das Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 191), in dem er anerkannt hat, dass die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens „[unter] außergewöhnlichen Umständen“ eingeschränkt werden können, und zum anderen auf Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses, wonach dieser „nicht die Pflicht [berührt], die Grundrechte … zu achten“, wie sie u. a. in der Charta niedergelegt sind ( 8 ).

6.

Der Gerichtshof hat im besagten Urteil Aranyosi und Căldăraru allerdings dafür Sorge getragen, der Aufschiebung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls einen Rahmen zu geben, indem er von der vollstreckenden Justizbehörde verlangt, dass diese eine zweistufige Prüfung durchführt.

7.

In einem ersten Schritt muss die vollstreckende Justizbehörde das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund „systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel“ feststellen ( 9 ). Bei dieser Feststellung muss sie sich auf „objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat“ stützen, u. a. auf„Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteil[e] des [Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte], … Entscheidungen von Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats oder … Entscheidungen, Bericht[e] und ander[e] Schriftstück[e] von Organen des Europarats oder … [das] System der Vereinten Nationen“ ( 10 ).

8.

In einem zweiten Schritt muss sich die vollstreckende Justizbehörde vergewissern, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der von dem Europäischen Haftbefehl Betroffene der aufgrund der in der vorstehenden Nummer beschriebenen Merkmale festgestellten Gefahr ausgesetzt sein wird. „Das bloße Vorliegen … systemische[r] oder allgemeine[r], bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende[r] Mängel … bedeutet nämlich nicht zwingend, dass in einem konkreten Fall der Betroffene einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, sofern er … übergeben wird.“ ( 11 ) Somit muss die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses um zusätzliche Informationen über die Haftbedingungen des Betroffenen bitten. Ist die vollstreckende Justizbehörde aufgrund dieser Informationen der Ansicht, dass der Betroffene keiner echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt ist, muss sie den Europäischen Haftbefehl vollstrecken. Stellt sie anhand dieser Informationen umgekehrt fest, dass der Betroffene einer solchen Gefahr ausgesetzt ist, muss sie die Vollstreckung des Haftbefehls aufschieben.

9.

In der vorliegenden Rechtssache behauptet die gesuchte Person keinen Verstoß gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Ausstellungsmitgliedstaat, der im vorerwähnten Urteil Aranyosi und Căldăraru in Rede stand, sondern wie gesagt eine Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren. Der Gerichtshof wird u. a. gefragt, ob die zweite Stufe der im besagten Urteil Aranyosi und Căldăraru festgelegten Prüfung auf einen solchen Fall anwendbar ist. Mit anderen Worten wird der Gerichtshof gefragt, ob die vollstreckende Justizbehörde für die Entstehung einer Verpflichtung, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben, zum einen feststellen muss, dass Mängel des polnischen Justizsystems vorliegen, aufgrund deren die echte Gefahr einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren besteht, und zum anderen, dass der Betroffene einer solchen Gefahr ausgesetzt wird, oder ob es genügt, dass sie das Vorliegen von Mängeln des polnischen Justizsystems feststellt, ohne sich vergewissern zu müssen, dass der Betroffene ihnen ausgesetzt wird.

10.

Die Frage ist von Bedeutung, da das vorlegende Gericht angibt, aufgrund des begründeten Vorschlags der Kommission und zweier Stellungnahmen ( 12 ) der Europäischen Kommission für Demokratie durch das Recht (im Folgenden: Venedig-Kommission) vom Vorliegen solcher Mängel auszugehen.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

1.   Charta

11.

Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) der Charta sieht vor:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.

Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.“

2.   Vertrag über die Europäische Union

12.

Art. 2 EUV lautet:

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

13.

Art. 7 EUV bestimmt:

„(1)   Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht. Der Rat hört, bevor er eine solche Feststellung trifft, den betroffenen Mitgliedstaat und kann Empfehlungen an ihn richten, die er nach demselben Verfahren beschließt.

Der Rat überprüft regelmäßig, ob die Gründe, die zu dieser Feststellung geführt haben, noch zutreffen.

(2)   Auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments kann der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat.

(3)   Wurde die Feststellung nach Absatz 2 getroffen, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat. Dabei berücksichtigt er die möglichen Auswirkungen einer solchen Aussetzung auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen.

Die sich aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen des betroffenen Mitgliedstaats sind für diesen auf jeden Fall weiterhin verbindlich.

(4)   Der Rat kann zu einem späteren Zeitpunkt mit qualifizierter Mehrheit beschließen, nach Absatz 3 getroffene Maßnahmen abzuändern oder aufzuheben, wenn in der Lage, die zur Verhängung dieser Maßnahmen geführt hat, Änderungen eingetreten sind.

(5)   Die Abstimmungsmodalitäten, die für die Zwecke dieses Artikels für das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat gelten, sind in Artikel 354 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union festgelegt.“

3.   Rahmenbeschluss

14.

Der zehnte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 des genannten Vertrags mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.“

15.

In Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses heißt es:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

B. Irisches Recht

16.

Das Gesetz über den Europäischen Haftbefehl von 2003, mit dem der Rahmenbeschluss umgesetzt worden ist ( 13 ), sieht in seiner Section 37 Subsection 1 vor:

„Eine Person darf nach diesem Gesetz nicht übergeben werden, wenn

a)

ihre Übergabe unvereinbar ist mit den Verpflichtungen des Staats nach

(i)

der [Europäischen] Konvention [zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] oder

(ii)

den Protokollen zur [Europäischen] Konvention [zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten],

b)

ihrer Übergabe eine Bestimmung in der irischen Verfassung entgegenstünde …“

III. Sachverhalt und Ausgangsverfahren

17.

Gegen L. M., einen polnischen Staatsangehörigen, bestehen drei von der Republik Polen ausgestellte Europäische Haftbefehle.

18.

Der erste Europäische Haftbefehl wurde am 4. Juni 2012 vom Sąd Okręgowy w Poznaniu (Landgericht Posen, Polen) ( 14 ) zum Zweck der Verfolgung von L. M. wegen zweier Straftaten ausgestellt, die als „unerlaubte Herstellung oder Verarbeitung sowie Schmuggel von Rauschmitteln, Ausgangsstoffen, Ersatzstoffen oder psychotropen Stoffen oder der Handel mit diesen Stoffen“ bzw. „Mitgliedschaft in einer organisierten kriminellen Gruppe oder Vereinigung mit dem Ziel, Straftaten zu begehen“, eingestuft wurden. Ausweislich dieses Haftbefehls soll L. M. zwischen 2002 und Frühjahr 2006 in Posen und Włocławek an einer kriminellen Organisation beteiligt gewesen sein, die u. a. den Handel mit Rauschmitteln in großen Mengen zum Gegenstand hatte. Er soll während desselben Zeitraums mindestens 50 kg Amphetamine im Wert von mindestens 225000 polnischen Złotys (PLN), 200000 Ecstasy-Pillen im Wert von mindestens 290000 PLN und mindestens 3,5 kg Marihuana im Wert von mindestens 47950 PLN verkauft haben.

19.

Der zweite Europäische Haftbefehl wurde am 1. Februar 2012 vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Landgericht Warschau, Polen) ( 15 ) zum Zweck der Verfolgung von L. M. wegen zweier Straftaten ausgestellt, die beide als „unerlaubter Handel mit Betäubungsmitteln und psychotropen Stoffen“ eingestuft wurden. Ausweislich dieses Haftbefehls soll L. M. im Sommer 2007 in Holland mindestens 6 kg Marihuana und später mindestens 5 kg Marihuana ausgeliefert haben. In einem Schreiben der ausstellenden Justizbehörde heißt es, dass das Marihuana, das L. M. an die anderen Mitglieder seiner kriminellen Organisation ausgeliefert habe, ihm anschließend verkauft worden sei, um es in Polen zu vertreiben.

20.

Der dritte Europäische Haftbefehl wurde am 26. September 2013 vom Sąd Okręgowy w Włocławku (Landgericht Włocławek, Polen) ( 16 ) zum Zweck der Verfolgung von L. M. wegen einer Straftat ausgestellt, die als „unerlaubte Herstellung oder Verarbeitung sowie Schmuggel von Rauschmitteln, Ausgangsstoffen, Ersatzstoffen oder psychotropen Stoffen oder der Handel mit diesen Stoffen“ eingestuft wurde. Ausweislich dieses Haftbefehls soll L. M. zwischen Juli 2006 und November 2007 in Włocławek am Handel mit mindestens 30 kg Amphetaminen im Wert von mindestens 150000 PLN, 55000 Ecstasy-Pillen im Wert von mindestens 81000 PLN und mindestens 7,5 kg Marihuana im Wert von mindestens 105250 PLN beteiligt gewesen sein.

21.

L. M. wurde am 5. Mai 2017 in Irland festgenommen. Er stimmte seiner Übergabe an die polnischen Behörden nicht zu und begründete dies u. a. damit, dass er aufgrund der jüngsten legislativen Reformen des polnischen Justizsystems und der Staatsanwaltschaft unter Verstoß gegen Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) der echten Gefahr einer eklatanten Rechtverweigerung in Polen ausgesetzt würde.

22.

Nach Verzögerungen, die dem vorlegenden Gericht zufolge auf Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Prozesskostenhilfe, einen Anwaltswechsel und Anträge auf Vertagung zurückzuführen waren, um neue Beweismittel vorlegen und neue Informationen über die polnischen Gesetzesänderungen bereitstellen zu können, hielt der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) am 1. und 2. Februar 2018 eine Sitzung ab. Mit Urteil vom 12. März 2018 vertrat der High Court (Hoher Gerichtshof) die Auffassung, dass es erforderlich sei, den Gerichtshof zur Auslegung des Rahmenbeschlusses zu befragen, und forderte die Parteien des Ausgangsverfahrens auf, zu den Fragen Stellung zu nehmen, die er dem Gerichtshof zu stellen beabsichtigte.

23.

Am 23. März 2018 entschied der High Court (Hoher Gerichtshof) auf der Grundlage des begründeten Vorschlags der Kommission und der Stellungnahmen der Venedig-Kommission, dass die von der Republik Polen in den letzten beiden Jahren vorgenommenen Gesetzesänderungen – zusammengenommen – den in Art. 2 EUV genannten gemeinsamen Wert der Rechtsstaatlichkeit verletzten. Er schloss daraus, dass der Beklagte des Ausgangsverfahrens tatsächlich Gefahr laufe, in Polen kein faires Verfahren zu erhalten, weil die Unabhängigkeit der Justizbehörden dort nicht mehr gewährleistet und die Vereinbarkeit mit der polnischen Verfassung dort nicht mehr sichergestellt sei.

24.

Der High Court (Hoher Gerichtshof) fragt sich, ob die zweite Stufe der vom Gerichtshof im Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), festgelegten Prüfung anwendbar ist, wenn im Ausstellungsmitgliedstaat Mängel des Justizsystems vorliegen, die so schwerwiegend sind, dass sie eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit darstellen. Nach Meinung des High Court (Hoher Gerichtshof) ist die zweite Stufe dieser Prüfung nicht anwendbar. In einem solchen Fall sei es nämlich unrealistisch, vom Betroffenen zu verlangen, dass er nachweise, dass sich die genannten Mängel auf das gegen ihn eingeleitete Verfahren auswirkten.

25.

Außerdem vertritt der High Court (Hoher Gerichtshof) die Auffassung, aufgrund des systemischen Charakters der in Rede stehenden Mängel könne von der ausstellenden Justizbehörde keinerlei individuelle Garantie gegeben werden, die geeignet wäre, die Gefahr auszuschließen, der der Betroffene ausgesetzt würde. Es sei unrealistisch, Garantien in Bezug auf die Person des Staatsanwalts und der Mitglieder des Spruchkörpers, einschließlich der Rechtsmittelrichter, oder in Bezug auf die Beachtung der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs zu verlangen, mit denen die Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift festgestellt werde, die sich auf das in Rede stehende Verfahren auswirken könne.

26.

Der High Court (Hoher Gerichtshof) hat das Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

27.

Am 12. April 2018 hat der Gerichtshof beschlossen, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren nach Art. 107 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung zu unterwerfen.

28.

Darüber hinaus hat der Gerichtshof beschlossen, die Republik Polen gemäß Art. 109 Abs. 3 seiner Verfahrensordnung aufzufordern, schriftlich alle sachdienlichen Angaben zum vorliegenden Verfahren machen.

29.

Die Vorlagefragen sind Gegenstand schriftlicher Erklärungen des Klägers, des Beklagten des Ausgangsverfahrens, der Kommission und – auf der Grundlage von Art. 109 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – der Republik Polen gewesen. Diese Verfahrensbeteiligten sowie das Königreich Spanien, Ungarn und das Königreich der Niederlande haben in der Sitzung vom 1. Juni 2018 mündlich verhandelt.

IV. Würdigung

A. Zulässigkeit

30.

Die polnische Regierung trägt vor, das Problem sei hypothetisch, da es keinen Grund gebe, der im Rahmen des Rechts auf ein faires Verfahren die Ablehnung der Vollstreckung der in Rede stehenden Europäischen Haftbefehle rechtfertige. Obwohl sie nicht ausdrücklich auf die Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens schließt, leitet sie daraus gleichwohl ab, dass der Gerichtshof nicht auf die Fragen des vorlegenden Gerichts antworten sollte. Die ungarische Regierung trägt ihrerseits vor, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig, weil das Problem hypothetisch sei.

31.

Nach ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts stellt. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind ( 17 ).

32.

Insoweit folgt sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau des Art. 267 AEUV, dass das Vorabentscheidungsverfahren voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren berücksichtigt werden kann. Die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens liegt nämlich nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist ( 18 ).

33.

Im vorliegenden Fall wird der Gerichtshof gefragt, ob es für die Entstehung einer Verpflichtung der vollstreckenden Justizbehörde, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben, genügt, dass sie das Vorliegen der echten Gefahr einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren aufgrund von Mängeln des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats feststellt, oder ob sie sich darüber hinaus vergewissern muss, dass die gesuchte Person einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird. Darüber hinaus wird der Gerichtshof gefragt, welche Informationen und Garantien die vollstreckende Justizbehörde von der ausstellenden Justizbehörde gegebenenfalls erhalten muss, um diese Gefahr ausschließen zu können. Gegen L. M. sind drei von polnischen Gerichten ausgestellte Europäische Haftbefehle ergangen; das vorlegende Gericht geht nach eigenen Angaben davon aus, dass die Mängel des polnischen Justizsystems so schwerwiegend sind, dass die Rechtsstaatlichkeit untergraben wird. Folglich hängt die Übergabe von L. M. an die ausstellende Justizbehörde von der Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen ab. Daher können die Fragen nicht als hypothetisch angesehen werden.

34.

Meines Erachtens ist das Vorabentscheidungsersuchen somit für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1.   Vorbemerkungen

35.

Ich möchte hervorheben, dass sich der Gerichtshof nicht zum Vorliegen der echten Gefahr einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren aufgrund von Mängeln des polnischen Justizsystems, d. h. zur ersten Stufe der im Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), festgelegten Prüfung, zu äußern hat. Ob eine solche Gefahr besteht, obliegt der Prüfung durch die vollstreckende Justizbehörde. Nach Rn. 88 dieses Urteils ist die vollstreckende Justizbehörde, sofern sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Ausstellungsmitgliedstaat besteht, nämlich verpflichtet, das Vorliegen einer solchen Gefahr zu würdigen.

36.

Dem Gerichtshof obläge es nur im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage ( 19 ), sich zur Vereinbarkeit der polnischen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht, insbesondere den Bestimmungen der Charta, zu äußern. Im Rahmen einer solchen Klage würde der Gerichtshof jedoch gegebenenfalls die Verletzung einer Norm des Unionsrechts und nicht die Gefahr einer Verletzung einer solchen Norm feststellen.

37.

Ferner ist nicht davon auszugehen, dass die vollstreckende Justizbehörde, solange der Rat keinen Beschluss erlassen hat, mit dem gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV das Vorliegen der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die Republik Polen festgestellt wird, die in Nr. 35 der vorliegenden Schlussanträge beschriebene Würdigung nicht vornehmen kann.

38.

Erstens hat die Würdigung, die der Rat im Rahmen von Art. 7 Abs. 1 EUV gegebenenfalls vornehmen wird, nämlich nicht den gleichen Gegenstand wie die Würdigung, die von der vollstreckenden Justizbehörde im Rahmen der ersten Stufe der im Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), festgelegten Prüfung vorgenommen wird. Im Rahmen von Art. 7 Abs. 1 EUV prüft der Rat, ob die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte, nämlich der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte, besteht. Im erwähnten Urteil Aranyosi und Căldăraru bezog sich die Prüfung der vollstreckenden Justizbehörde hingegen nicht auf das Vorliegen der echten Gefahr einer Verletzung eines den Mitgliedstaaten gemeinsamen Wertes, sondern eines Grundrechts, und zwar des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Strafen oder Behandlungen.

39.

In der vorliegenden Rechtssache fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob es für die Entstehung einer Verpflichtung zur Aufschiebung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls genügt, dass es feststellt, dass „die Verhältnisse in dem Ausstellungsmitgliedstaat unvereinbar mit dem Grundrecht auf ein faires Verfahren sind, weil in diesem Mitgliedstaat das Justizsystem selbst nicht mehr im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip steht“ ( 20 ). Der Gerichtshof wird somit zu den Folgen einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren befragt und nicht zu den Folgen einer Verletzung des Werts der Rechtsstaatlichkeit.

40.

Zwar sind es im vorliegenden Fall Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der Richter und der Gewaltenteilung, mithin des Rechts auf ein faires Verfahren, die die Kommission zur Annahme ihres begründeten Vorschlags veranlasst haben ( 21 ). Gleichwohl kann die Gefahr einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren im Ausstellungsmitgliedstaat bestehen, auch wenn dieser nicht gegen die Rechtsstaatlichkeit verstößt. Daher lässt sich nach meinem Dafürhalten nicht bestreiten, dass die beiden Würdigungen des Rates bzw. der vollstreckenden Justizbehörde, die oben in Nr. 38 beschrieben worden sind, nicht den gleichen Gegenstand haben.

41.

Zweitens hat eine Feststellung des Rates, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte besteht, nicht die gleichen Folgen wie eine Feststellung der vollstreckenden Justizbehörde, dass die echte Gefahr einer Grundrechtsverletzung vorliegt.

42.

Stellt der Rat fest, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht, hat dies nämlich lediglich zur Folge, dass es dem Europäischen Rat gegebenenfalls ermöglicht wird, gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV das Vorliegen einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung dieser Werte festzustellen. Der Rat kann somit auf der Grundlage der Feststellung einer Verletzung – und nicht der bloßen Gefahr einer Verletzung – gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV bestimmte Rechte aussetzen, die sich aus der Anwendung des EU-Vertrags und des AEU-Vertrags auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten. Er kann u. a. die Anwendung des Rahmenbeschlusses in Bezug auf diesen Mitgliedstaat aussetzen, wie es der zehnte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses vorsieht.

43.

Wird das Vorliegen der bloßen Gefahr einer tatsächlichen Verletzung des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung festgestellt, ist die vollstreckende Justizbehörde hingegen verpflichtet, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben. Sie kann jedoch nur die Vollstreckung des in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls aussetzen ( 22 ).

44.

Ich teile somit die Meinung der niederländischen Regierung, die in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren habe eine ganz andere Funktion als die Prüfung, die die vollstreckende Justizbehörde in Anwendung des Urteils vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), durchführe. Das erwähnte Verfahren ermöglicht es der Union, tätig zu werden, wenn ein Mitgliedstaat die Werte, auf die sich die Union gründet, schwerwiegend und anhaltend verletzt. Die genannte Prüfung ermöglicht es der vollstreckenden Justizbehörde, die Grundrechte der Person zu schützen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist.

45.

Drittens sieht Art. 7 Abs. 1 EUV nicht vor, innerhalb welcher Frist der Rat, wenn er mit einem begründeten Vorschlag befasst ist, einen Beschluss erlassen muss, mit dem das Bestehen der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte festgestellt wird. Ebenso wenig sieht er vor, dass der Rat, wenn er der Ansicht ist, dass eine solche Gefahr nicht bestehe, einen Beschluss in diesem Sinne erlässt. Würde die Auffassung vertreten, dass die vollstreckende Justizbehörde, solange der Rat keinen Beschluss gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV erlassen hat, nicht prüfen kann, ob die echte Gefahr einer Grundrechtsverletzung im Ausstellungsmitgliedstaat besteht, liefe dies daher darauf hinaus, dass dieser Behörde auf mindestens unbestimmte Zeit untersagt würde, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben. Im vorliegenden Fall ist der begründete Vorschlag der Kommission am 20. Dezember 2017 angenommen worden und hat der Rat bis zum heutigen Tag keinen Beschluss gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV erlassen ( 23 ).

2.   Erste Vorlagefrage

46.

Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob die zweite Stufe der im Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), festgelegten Prüfung anwendbar ist, wenn der Ausstellungsmitgliedstaat das „Grundrecht auf ein faires Verfahren“ verletzt. Obwohl in der Frage selbst nicht angegeben wird, auf welche Vorschrift sich das Recht auf ein faires Verfahren stützt, wird in den Gründen des Vorabentscheidungsersuchens auf Art. 6 EMRK Bezug genommen.

47.

In diesem Zusammenhang stelle ich fest, dass, auch wenn die durch die EMRK anerkannten Grundrechte, wie Art. 6 Abs. 3 EUV klarstellt, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden, diese, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, gleichwohl kein Rechtsinstrument darstellt, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen worden ist ( 24 ).

48.

Aus den Erläuterungen zur Charta ( 25 ) geht hervor, dass Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht, der sich auf das Recht auf ein faires Verfahren bezieht.

49.

Daher ist lediglich Art. 47 Abs. 2 der Charta heranzuziehen ( 26 ).

50.

Der Gerichtshof wird somit gefragt, ob es für die Entstehung einer Verpflichtung der vollstreckenden Justizbehörde, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben, genügt, dass sie das Vorliegen der echten Gefahr ( 27 ) einer Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Rechts auf ein faires Verfahren aufgrund von Mängeln des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats feststellt, oder ob sie sich darüber hinaus vergewissern muss, dass die Person, gegen die der Haftbefehl ergangen ist, dieser Gefahr ausgesetzt sein wird.

51.

Zur Beantwortung dieser Frage will ich zunächst der Frage nachgehen, ob es zur Aufschiebung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls führen kann, wenn nicht Art. 4 der Charta, um den es im Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), ging, sondern Art. 47 Abs. 2 dieser Charta tatsächlich verletzt zu werden droht. Da dies meines Erachtens der Fall ist, werde ich anschließend prüfen, ob jede Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren zur Aufschiebung der Vollstreckung eines solchen Haftbefehls führen kann oder ob nur eine besonders schwerwiegende Verletzung wie eine eklatante Rechtsverweigerung zur Aufschiebung führen muss. Schließlich werde ich mich mit der Frage beschäftigen, ob die zweite Stufe der im genannten Urteil Aranyosi und Căldăraru festgelegten Prüfung auf den Fall anwendbar ist, dass die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung aufgrund von Mängeln des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats vorliegt (weil die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung nach meiner Auffassung das maßgebliche Kriterium ist). Ich weise bereits jetzt darauf hin, dass die zweite Stufe dieser Prüfung nach meinem Dafürhalten auf einen solchen Fall anwendbar ist.

a)   Muss die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgeschoben werden, wenn nicht Art. 4 der Charta, sondern ihr Art. 47 Abs. 2 tatsächlich verletzt zu werden droht?

52.

Der Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichberechtigung, Irland) (im Folgenden: Minister), die niederländische Regierung, die polnische Regierung ( 28 ) und die Kommission vertreten die Auffassung, die Gefahr einer Verletzung von Art. 47 Abs. 2 der Charta könne zu einer Verpflichtung führen, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben. L. M. sowie das vorlegende Gericht und – allem Anschein nach – die spanische Regierung halten diesen Punkt für selbstverständlich ( 29 ).

53.

Angesichts seiner Bedeutung sollte dieser Punkt untersucht werden.

54.

In diesem Zusammenhang stelle ich fest, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen darstellt ( 30 ), selbst auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten beruht. Wie der Gerichtshof im Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 191 und 192) entschieden hat, verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von „außergewöhnlichen Umständen“, davon ausgeht, dass die anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Daher können die Mitgliedstaaten nicht – „von Ausnahmefällen abgesehen“ – prüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch das Unionsrecht gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat.

55.

Wie ich weiter oben ( 31 ) ausgeführt habe, hat sich der Gerichtshof auf die Möglichkeit, „[unter] außergewöhnlichen Umständen“ Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens anzuerkennen, sowie auf Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses gestützt, als er im Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), auf eine Verpflichtung geschlossen hat, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls aufzuschieben. Solche Beschränkungen belegen, dass gegenseitiges Vertrauen kein blindes Vertrauen ist ( 32 ).

56.

Beschränkungen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung sind bisher nur im Hinblick auf das in Art. 4 der Charta verankerte Recht für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls und die Überstellung eines Asylbewerbers an den für die Bearbeitung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates ( 33 ) anerkannt worden ( 34 ).

57.

Das in Art. 4 der Charta aufgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung hat insoweit zwar absoluten Charakter ( 35 ), Gleiches gilt aber nicht für das in ihrem Art. 47 verankerte Recht auf ein faires Verfahren. Dieses kann nämlich eingeschränkt werden ( 36 ).

58.

Nach meinem Dafürhalten lässt sich daraus jedoch nicht ableiten, dass die Gefahr einer Verletzung von Art. 47 der Charta nicht zur Aufschiebung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls führen kann. Dies ist auch der Standpunkt von Generalanwältin Sharpston ( 37 ).

59.

Erstens deutet nämlich nichts im Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses darauf hin, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses nur zur Achtung der nicht einschränkbaren Grundrechte, etwa von Art. 4 der Charta, verpflichtet wären.

60.

Zweitens ist mit dem Rahmenbeschluss ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden geschaffen worden, das an die Stelle der mit einem Eingriff und einer Beurteilung durch die politische Gewalt verbundenen Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten getreten ist ( 38 ).

61.

Nur eine Entscheidung, die am Ende eines gerichtlichen Verfahrens ergeht, das den Anforderungen von Art. 47 Abs. 2 der Charta genügt, kann nach meinem Dafürhalten in den Genuss der gegenseitigen Anerkennung nach dem Rahmenbeschluss gelangen.

62.

Im Urteil vom 9. März 2017, Pula Parking (C‑551/15, EU:C:2017:193, Rn. 54), das zwar nicht die Auslegung des Rahmenbeschlusses betraf, sondern die Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates ( 39 ), hat der Gerichtshof insoweit festgestellt, dass „[d]ie Wahrung des der Anwendung der [Brüssel‑Ia‑]Verordnung zugrunde liegenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens in die ordnungsgemäße Rechtspflege in den Mitgliedstaaten der Union … insbesondere voraus[setzt], dass die Entscheidungen, um deren Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat ersucht wird, in einem gerichtlichen Verfahren ergangen sind, das die Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bietet und in dem der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens gewahrt wird“ ( 40 ).

63.

Auch setzt die gegenseitige Anerkennung Europäischer Haftbefehle meines Erachtens voraus, dass die Strafen, zu deren Vollstreckung sie ausgestellt worden sind, am Ende eines gerichtlichen Verfahrens verhängt worden sind, das u. a. den in Art. 47 Abs. 2 der Charta vorgesehenen Erfordernissen der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit genügt. Für zum Zweck der Strafverfolgung ausgestellte Europäische Haftbefehle muss nach meinem Dafürhalten das gleiche Erfordernis gelten wie für solche, die zum Zweck der Vollstreckung einer Strafe ausgestellt worden sind. Ihre Vollstreckung setzt nämlich voraus, dass die Strafverfolgung im Ausstellungsmitgliedstaat vor einer unabhängigen und unparteiischen Justizbehörde erfolgt.

64.

Dies ist im Übrigen der Standpunkt von Generalanwalt Bobek, dem zufolge „die nationalen Gerichte nur dann an dem europäischen System der gegenseitigen Anerkennung (in jedem Rechtsbereich – im Strafrecht, im Zivilrecht, im Verwaltungsrecht) teilnehmen [können], wenn sie alle im Unionsrecht bestehenden Kriterien für ein ‚Gericht‘ einschließlich seiner Unabhängigkeit erfüllen“. Generalanwalt Bobek leitet daraus ab, dass, wenn „die Strafgerichte eines Mitgliedstaats das Recht auf ein faires Verfahren nicht mehr gewährleisten können“, „der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens keine Anwendung mehr finden kann“, wodurch die „automatische gegenseitige Anerkennung“ ausgeschlossen wird ( 41 ).

65.

Bei Vorliegen einer echten Gefahr, dass das im Ausstellungsmitgliedstaat geführte Verfahren nicht den Erfordernissen von Art. 47 Abs. 2 der Charta genügt, fehlt daher die in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses vorgesehene Prämisse, auf der die Verpflichtung zur Vollstreckung jedes Europäischen Haftbefehls beruht. Die Gefahr einer Verletzung von Art. 47 Abs. 2 der Charta im Ausstellungsmitgliedstaat kann somit dazu führen, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls untersagt wird ( 42 ).

66.

Drittens verbietet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte es den Vertragsstaaten, eine Person auszuweisen, wenn diese im Bestimmungsland nicht nur tatsächlich Gefahr läuft, einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ( 43 ) oder der Todesstrafe ( 44 ) unter Verstoß gegen Art. 2 EMRK und Art. 1 des Protokolls Nr. 13 zur EMRK ( 45 ) unterworfen zu werden, sondern auch dann, wenn sie im Widerspruch zu Art. 6 EMRK tatsächlich einer eklatanten Rechtsverweigerung unterworfen zu werden droht ( 46 ).

67.

Meines Erachtens kann die Gefahr einer Verletzung von Art. 47 Abs. 2 der Charta somit zu einer Verpflichtung führen, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben.

68.

Angesichts des Ausnahmecharakters der Umstände, unter denen nach dem Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 191) Beschränkungen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zulässig sind, ist jedoch zu fragen, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben ist, sobald die echte Gefahr einer Verletzung von Art. 47 Abs. 2 der Charta vorliegt, oder ob sie nur aufgeschoben werden muss, wenn die echte Gefahr einer besonders schwerwiegenden Verletzung dieser Vorschrift besteht.

b)   Muss jede Verletzung von Art. 47 Abs. 2 der Charta ungeachtet ihrer Schwere zur Aufschiebung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls führen?

1) Einleitung

69.

Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass die vollstreckende Justizbehörde nach irischem Recht verpflichtet ist, keine Übergabe vorzunehmen, wenn eine echte Gefahr vorliegt, dass die betroffene Person im Ausstellungsmitgliedstaat einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt wird ( 47 ).

70.

Die irische Rechtsprechung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Im Urteil Soering gegen Vereinigtes Königreich hat dieser nämlich entschieden, dass eine Auslieferungsentscheidung „im Licht von [Art. 6 EMRK] ausnahmsweise ein Problem aufwerfen [kann], wenn der Flüchtige einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt gewesen ist oder ausgesetzt zu werden droht“ ( 48 ).

71.

Obwohl das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht fragt, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgeschoben werden muss, sobald die echte Gefahr einer Verletzung von Art. 47 Abs. 2 der Charta vorliegt, oder ob von einer Aufschiebung abgesehen werden kann, wenn die echte Gefahr einer besonders schwerwiegenden Verletzung dieser Vorschrift wie einer eklatanten Rechtsverweigerung besteht, sollte meines Erachtens auf diese Frage eingegangen werden. Sie ergibt sich nämlich aus der in den Nrn. 52 bis 68 der vorliegenden Schlussanträge untersuchten Frage. Außerdem wird in der zweiten Vorlagefrage ausdrücklich auf die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung Bezug genommen.

2) Erfordernis einer eklatanten Rechtsverweigerung

72.

Für die Entstehung einer Verpflichtung zur Aufschiebung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls genügt es nach meinem Dafürhalten nicht, dass die echte Gefahr einer Verletzung von Art. 47 Abs. 2 der Charta im Ausstellungsmitgliedstaat vorliegt. Es muss die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung bestehen.

73.

Erstens sind die Beschränkungen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens nämlich nach ständiger Rechtsprechung eng auszulegen ( 49 ).

74.

Gemäß Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses sind die vollstreckenden Justizbehörden verpflichtet, jeden Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken. Die Ablehnung seiner Vollstreckung ist ihnen nur aus den Gründen möglich, die in den Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses abschließend aufgezählt sind. Somit stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung seiner Vollstreckung demnach als eng auszulegende Ausnahme ausgestaltet ist ( 50 ).

75.

Zweitens kann das Recht auf ein faires Verfahren, wie oben erwähnt ( 51 ), eingeschränkt werden, wenn eine solche Einschränkung u. a. den Wesensgehalt dieses Rechts achtet, wie es Art. 52 Abs. 1 der Charta vorsieht.

76.

Daher kann die vollstreckende Justizbehörde meines Erachtens nur dann verpflichtet sein, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben, wenn nicht das Recht auf ein faires Verfahren, sondern der Wesensgehalt dieses Rechts tatsächlich verletzt zu werden droht.

77.

Geht es mit anderen Worten um ein Recht mit absolutem Charakter wie das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, würde es für die Entstehung einer Verpflichtung zur Aufschiebung der Vollstreckung genügen, dass die echte Gefahr einer Verletzung dieses Rechts besteht. Geht es hingegen um ein Recht ohne absoluten Charakter wie das Recht auf ein faires Verfahren, dürfte die Vollstreckung nur aufgeschoben werden, wenn die echte Gefahr einer Verletzung den Wesensgehalt dieses Rechts betrifft.

78.

Drittens entspricht ein solcher Standpunkt dem Standpunkt, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eingenommen hat.

79.

Wie oben erwähnt ( 52 ), vertritt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nämlich die Auffassung, dass ein Vertragsstaat nur dann verpflichtet ist, eine Person nicht auszuweisen oder auszuliefern, wenn diese Gefahr läuft, im ersuchenden Staat keiner einfachen Verletzung von Art. 6 EMRK, sondern einer „eklatanten Rechtsverweigerung“ ausgesetzt zu werden ( 53 ). Beim Recht auf ein faires Verfahren begnügt sich dieser Gerichtshof somit nicht, wie er es beim Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafen oder Behandlungen tut, mit der bloßen echten Gefahr einer „gegen Art. 3 [EMRK] verstoßenden Behandlung“ ( 54 ).

80.

Worin besteht nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine eklatante Rechtsverweigerung?

81.

Nach Auffassung dieses Gerichtshofs geht „[e]ine eklatante Rechtsverweigerung … über einfache Unregelmäßigkeiten oder fehlende Garantien für ein Verfahren, die geeignet wären, eine Verletzung von Art. 6 [EMRK] zu begründen, wenn sie im Vertragsstaat selbst stattfänden, hinaus. Es muss eine Verletzung des in Art. 6 [EMRK] garantierten Grundsatzes der Fairness des Verfahrens vorliegen, die so schwerwiegend ist, dass sie zur Beseitigung oder gar Zerstörung des Wesensgehalts des durch diesen Artikel geschützten Rechts führt“ ( 55 ).

82.

Eine eklatante Rechtsverweigerung, die eine Ausweisung oder Auslieferung des Betroffenen verbietet, kann nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte daher sein: eine Verurteilung in absentia ohne Möglichkeit einer Überprüfung der Anschuldigung in der Sache ( 56 ); ein seiner Art nach summarisches Verfahren, das unter völliger Missachtung der Verteidigungsrechte geführt wird ( 57 ); eine Haft, die nicht von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden kann; die vorsätzliche und systematische Weigerung, eine Einzelperson, insbesondere eine in einem fremden Land inhaftierte Einzelperson, mit einem Anwalt kommunizieren zu lassen ( 58 ). Dieser Gerichtshof misst außerdem dem Umstand Bedeutung bei, dass ein Zivilist vor einem Gericht erscheinen muss, das sich – und sei es nur teilweise – aus Militärs zusammensetzt, die von der Exekutive abhängen ( 59 ).

83.

Nach meiner Kenntnis ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nur vier Mal zu dem Schluss gelangt, dass eine Auslieferung oder Ausweisung eine Verletzung von Art. 6 EMRK darstelle. Hierbei handelt es sich um das Urteil Othman (Abu Qatada) gegen Vereinigtes Königreich, in dem die eklatante Rechtsverweigerung in der Zulassung von Beweismitteln bestand, die durch Folter erlangt worden waren, das Urteil Husayn gegen Polen, in dem die eklatante Rechtsverweigerung u. a. durch die zwölf Jahre andauernde Inhaftierung des Beschwerdeführers auf der amerikanischen Militärbasis von Guantánamo begründet wurde, ohne dass Anklage erhoben worden wäre, das am selben Tag wie das Urteil Husayn gegen Polen ergangene Urteil Al Nashiri gegen Polen, auf das ich näher eingehen möchte, und das kürzlich ergangene Urteil Al Nashiri gegen Rumänien ( 60 ).

84.

Im Urteil Al Nashiri gegen Polen ( 61 ) war der Beschwerdeführer, ein saudischer Staatsangehöriger, in den Vereinigten Arabischen Emiraten festgenommen und in ein geheimes Gefangenenlager in Polen und später auf die amerikanische Militärbasis von Guantánamo überstellt worden. Er musste sich vor einer auf der Basis von Guantánamo angesiedelten Militärkommission wegen Organisation eines Selbstmordanschlags auf ein amerikanisches Kriegsschiff und Beteiligung an einem Anschlag auf einen französischen Öltanker verantworten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat aufgrund von drei Gesichtspunkten auf das Vorliegen der echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung geschlossen. Erstens sei die fragliche Militärkommission weder unabhängig noch unparteiisch und könne somit nicht als „Gericht“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK angesehen werden. Sie sei eingesetzt worden, um über „bestimmte ausländische Staatsangehörige im Rahmen der Bekämpfung des Terrorismus“ zu richten, sei kein Bestandteil des föderalen Justizsystems der Vereinigten Staaten und setze sich ausschließlich aus Militärs zusammen. Zweitens hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf ein Urteil des US Supreme Court (Oberster Gerichtshof der Vereinigten Staaten) gestützt ( 62 ) und entschieden, dass diese Kommission kein „auf Gesetz“ beruhendes Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK sei. Drittens bestehe, so dieser Gerichtshof, eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass durch Folter erlangte Beweismittel gegen den Beschwerdeführer verwendet würden ( 63 ).

85.

Ich schlage vor, das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewählte Kriterium heranzuziehen und die Auffassung zu vertreten, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur bei Vorliegen der echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung im Ausstellungsmitgliedstaat aufgeschoben werden muss.

3) Charakterisierung einer eklatanten Rechtsverweigerung im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Gerichte

86.

Im vorliegenden Fall vertritt das vorlegende Gericht die Auffassung, L. M. laufe im Ausstellungsmitgliedstaat – u. a. wegen der mangelnden Unabhängigkeit der Gerichte dieses Mitgliedstaats – tatsächlich Gefahr, einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt zu werden.

87.

Kann die mangelnde Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats als eklatante Rechtsverweigerung angesehen werden?

88.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass gemäß Art. 47 Abs. 2 der Charta jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht verhandelt wird.

89.

Nach ständiger Rechtsprechung umfasst der Begriff der Unabhängigkeit zwei Aspekte. Der erste, externe, Aspekt setzt voraus, dass die Stelle vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder im Hinblick auf die ihnen unterbreiteten Streitigkeiten gefährden könnten. Der zweite, interne, Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass hinsichtlich der Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen an dessen Gegenstand ein gleicher Abstand gewahrt wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht ( 64 ). Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der genannten Stelle für Einflussnahmen von außen und an ihrer Neutralität in Bezug auf die einander gegenüberstehenden Interessen auszuräumen ( 65 ).

90.

Nach meinem Dafürhalten lässt sich nicht ausschließen, dass die mangelnde Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats grundsätzlich eine eklatante Rechtsverweigerung darstellen kann.

91.

Zum einen hat der Gerichtshof nämlich im Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 41 und 42), entschieden, dass „die Unabhängigkeit [der nationalen Gerichte] von grundlegender Bedeutung [ist]“ und „[d]ie Unabhängigkeit … dem Auftrag des Richters inhärent ist“ ( 66 ). Insbesondere das Bestehen von Garantien für die Zusammensetzung des Gerichts bildet den Grundpfeiler des Rechts auf ein faires Verfahren ( 67 ).

92.

Zum anderen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den Urteilen Al Nashiri gegen Polen und Al Nashiri gegen Rumänien ( 68 ) auf das Bestehen der echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung geschlossen und dies u. a. damit begründet, dass die auf der Basis von Guantánamo eingesetzte Militärkommission weder unabhängig noch unparteiisch sei und somit nicht als „Gericht“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK angesehen werden könne ( 69 ).

93.

Ich möchte jedoch hervorheben, dass der Mangel an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Gerichts nur dann als eklatante Rechtsverweigerung angesehen werden kann, wenn er so schwerwiegend ist, dass er die Fairness des Verfahrens auf null reduziert. Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil Othman (Abu Qatada) gegen Vereinigtes Königreich festgestellt hat, besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der in jenem Urteil in Rede stehenden Zulassung von Beweismitteln, die durch Folter erlangt worden sind, und Verstößen gegen Art. 6 EMRK, die beispielsweise auf die Zusammensetzung des Spruchkörpers zurückzuführen sind ( 70 ).

94.

Vor allem kann ich nicht genug betonen, dass die Urteile Al Nashiri gegen Polen und Al Nashiri gegen Rumänien ( 71 ), die bis heute die einzigen sind, in denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte u. a. deshalb auf eine Verletzung von Art. 6 EMRK geschlossen hat, weil es den Gerichten des Bestimmungslandes an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit mangelte, außerordentliche Gerichte betrafen, die auf dem Gebiet des Terrorismus zuständig waren und sich ausschließlich aus Militärs zusammensetzten.

95.

Dem vorlegenden Gericht obliegt es, auf der Grundlage dieser Erwägungen festzustellen, ob der behauptete Mangel an Unabhängigkeit der polnischen Gerichte im vorliegenden Fall so schwerwiegend ist, dass er die Fairness des Verfahrens auf null reduziert und deshalb eine eklatante Rechtsverweigerung darstellt. Wie der Gerichtshof im Urteil Aranyosi und Căldăraru festgestellt hat, muss es sich dabei auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Bedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat stützen, die das Vorliegen von Mängeln des polnischen Justizsystems belegen ( 72 ). In diesem Zusammenhang können der begründete Vorschlag der Kommission und die Stellungnahmen der Venedig-Kommission berücksichtigt werden – vorausgesetzt, das vorlegende Gericht, ich werde darauf zurückkommen, informiert sich über etwaige Entwicklungen der Situation in Polen, die möglicherweise nach Erstellung dieser Dokumente eingetreten sind.

96.

Unterstellt, die vollstreckende Justizbehörde stellt fest, dass aufgrund der Mängel des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung besteht: Ist sie allein aufgrund dieser Feststellung verpflichtet, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben? Oder muss sie die Prüfung fortsetzen und feststellen, dass die von diesem Haftbefehl betroffene Person einer solchen Gefahr ausgesetzt wird? Auf diese Frage werde ich jetzt zu antworten versuchen.

c)   Muss die vollstreckende Justizbehörde feststellen, dass der Betroffene Gefahr läuft, einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt zu werden?

1) Einleitung und Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten

97.

Im Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 91 bis 93), hat der Gerichtshof wie gesagt entschieden, dass die vollstreckende Justizbehörde nur dann verpflichtet ist, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben, wenn sie feststellt, dass im Ausstellungsmitgliedstaat eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aufgrund der allgemeinen Haftbedingungen in diesem Mitgliedstaat vorliegt, einerseits, und der Betroffene dieser Gefahr ausgesetzt sein wird, andererseits ( 73 ). Nach Auffassung des Gerichtshofs braucht sich das Vorliegen von Mängeln des Haftsystems, auch wenn sie allgemeiner Art sind, nämlich nicht zwangsläufig auf alle Haftanstalten auszuwirken. Allein aus der Feststellung des Vorliegens von Mängeln des Haftsystems lässt sich somit nicht ableiten, dass der Betroffene einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen sein wird.

98.

Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass es, wenn die Mängel des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats besonders schwerwiegend sind, d. h., wenn dieser Mitgliedstaat die Rechtsstaatlichkeit nicht mehr achtet, die Übergabe abzulehnen habe, ohne überprüfen zu müssen, ob der Betroffene einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird ( 74 ).

99.

Der Minister trägt vor, die zweite Stufe der im Urteil Aranyosi und Căldăraru festgelegten Prüfung sei anwendbar. Wäre sie es nicht, hätte dies eine systematische Weigerung der irischen Justizbehörden zur Folge, von der Republik Polen ausgestellte Europäische Haftbefehle zu vollstrecken. Der Minister hebt u. a. hervor, dass eine solche systematische Weigerung weder mit dem zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses noch mit dem Grundsatz mit Verfassungswert, den das gegenseitige Vertrauen darstelle, oder mit dem in Art. 4 EUV verankerten Grundsatz der Gleichheit zwischen den Mitgliedstaaten im Einklang stehe.

100.

L. M. vertritt die Auffassung, die zweite Stufe der im erwähnten Urteil Aranyosi und Căldăraru festgelegten Prüfung könne nicht auf einen Sachverhalt angewandt werden, in dem das Vertrauen, das die Mitgliedstaaten in die Tatsache setzten, dass die Republik Polen den grundlegendsten der Werte, nämlich die Rechtsstaatlichkeit, achte, gänzlich zerstört worden sei.

101.

Nach Meinung der spanischen Regierung ist die zweite Stufe der in besagtem Urteil Aranyosi und Căldăraru festgelegten Prüfung anwendbar. Die ungarische Regierung vertritt die Auffassung, die Feststellung des Vorliegens von Mängeln des polnischen Justizsystems könne nur im Rahmen des in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrens getroffen werden, so dass die Voraussetzungen der ersten Stufe der im genannten Urteil festgelegten Prüfung nicht erfüllt seien. Unterstellt, sie wären es, sei die zweite Stufe dieser Prüfung anwendbar. Die niederländische Regierung trägt vor, die zweite Stufe sei anwendbar.

102.

Nach Ansicht der polnischen Regierung besteht weder die Gefahr einer Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in Polen noch die Gefahr einer Verletzung des Rechts des Betroffenen – von L. M. – auf ein faires Verfahren. Zum einen könne sich das vorlegende Gericht u. a. deshalb nicht auf den begründeten Vorschlag der Kommission stützen und auf eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in Polen schließen, weil die polnischen Rechtsvorschriften nach Annahme dieses begründeten Vorschlags geändert worden seien. Das vorlegende Gericht sei für die Feststellung einer Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die Republik Polen nicht zuständig; diese Zuständigkeit liege im Rahmen des in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrens beim Europäischen Rat. Auch für die Aussetzung der Anwendung des Rahmenbeschlusses sei das vorlegende Gericht nicht zuständig; diese Zuständigkeit liege nach dem zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses beim Rat. Zum anderen habe das vorlegende Gericht nicht nachgewiesen, dass L. M. selbst der echten Gefahr einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt würde. Es habe nämlich insbesondere nicht einmal hypothetische Gründe dafür angeben können, dass L. M. Gefahr liefe, kein faires Verfahren zu erhalten.

103.

Die Kommission trägt vor, die zweite Stufe der im vorerwähnten Urteil Aranyosi und Căldăraru festgelegten Prüfung sei anwendbar. Der Umstand, dass ein Mitgliedstaat Gegenstand eines begründeten Vorschlags im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EUV gewesen sei, bedeute nicht, dass eine Person durch ihre Übergabe an diesen Mitgliedstaat automatisch der echten Gefahr einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt würde. Es lasse sich nämlich nicht ausschließen, dass die Gerichte dieses Mitgliedstaats unter bestimmten Umständen in der Lage seien, eine Sache mit der von Art. 47 Abs. 2 der Charta geforderten Unabhängigkeit zu verhandeln. Daher sei eine Einzelfallprüfung erforderlich. Bei der Durchführung dieser individuellen Prüfung müsse die vollstreckende Justizbehörde sowohl die Identität des Betroffenen (insbesondere wenn es sich um einen politischen Gegner handle oder er einer diskriminierten gesellschaftlichen oder ethnischen Minderheit angehöre) als auch Art und Umstände der Straftat berücksichtigen, derentwegen er gesucht werde (insbesondere wenn diese Straftat politischer Natur sei, in Ausübung der Meinungs- oder Vereinigungsfreiheit begangen worden sei oder Gegenstand öffentlicher Erklärungen von Vertretern der Staatsmacht gewesen sei). Schließlich müsse das vorlegende Gericht die Situation der Richter, die kurz vor Erreichen des Ruhestandsalters stünden (und deren Verbleib im Dienst über dieses Alter hinaus nunmehr von einer Ermessensentscheidung der Exekutive abhänge), sowie die Vorschriften über die Beförderung der Richter berücksichtigen.

2) Erfordernis einer individuellen Prüfung

104.

Meines Erachtens ist die vollstreckende Justizbehörde nur dann verpflichtet, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben, wenn sie nicht nur feststellt, dass die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung aufgrund von Mängeln des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats vorliegt, sondern auch, dass der Betroffene dieser Gefahr ausgesetzt sein wird.

105.

Erstens kann sich die auf Ausnahmefälle beschränkte Prüfung durch die Mitgliedstaaten, ob ein anderer Mitgliedstaat die Grundrechte beachtet, nach dem Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 192) nämlich nur auf die Beachtung dieser Rechte „in einem konkreten Fall“ beziehen.

106.

Würde davon ausgegangen, dass die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben, ohne prüfen zu müssen, ob der Betroffene der Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt wird, die sie aufgrund der Mängel des Justizsystems für gegeben hält, wäre dies meiner Meinung nach unvereinbar mit dem zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses, wonach „[d]ie Anwendung [des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls] … nur ausgesetzt werden [darf], wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 [EUV] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 [EUV] … festgestellt wird“. Der erwähnte zehnte Erwägungsgrund verbietet es den Mitgliedstaaten, die Anwendung des Rahmenbeschlusses in Bezug auf einen Mitgliedstaat auszusetzen, es sei denn, der Europäische Rat hat auf der Grundlage dessen, was heute Art. 7 Abs. 2 EUV ist, in Bezug auf diesen Mitgliedstaat einen Beschluss erlassen ( 75 ). Er verbietet es einem Mitgliedstaat hingegen nicht, die Anwendung des Rahmenbeschlusses „in einem konkreten Fall“ auszusetzen, d. h. die Vollstreckung eines bestimmten Europäischen Haftbefehls aufzuschieben. Im Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), hat der Gerichtshof eine solche Aufschiebung in Ermangelung eines solchen Beschlusses des Europäischen Rates im Übrigen zugelassen.

107.

Da sich die Aussetzung auf die Durchführung des Rahmenbeschlusses „in einem konkreten Fall“ bezieht, läge außerdem kein Verstoß gegen die in Art. 4 Abs. 2 EUV verankerte Gleichheit zwischen den Mitgliedstaaten vor.

108.

Zweitens lässt sich, selbst wenn unterstellt wird, dass in Polen wegen der jüngsten Reformen des Justizsystems die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung vorliegt ( 76 ), daraus nicht ableiten, dass kein polnisches Gericht irgendeine Sache unter Beachtung von Art. 47 Abs. 2 der Charta verhandeln könnte. Ich schließe mich voll und ganz dem Argument der Kommission an, wonach sich, „auch wenn festgestellt worden ist, dass die Rechtsstaatlichkeit im Ausstellungsmitgliedstaat … ernsthaft bedroht ist, nicht ausschließen lässt, dass die Gerichte unter bestimmten Umständen in der Lage sind, ein Verfahren mit der Unabhängigkeit zu führen, die erforderlich ist, um die Beachtung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechts sicherzustellen“.

109.

Drittens prüft der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei der Feststellung, ob eine echte Gefahr gegen Art. 3 EMRK verstoßender Behandlungen besteht, „die voraussichtlichen Folgen der Rückführung des Klägers in das Bestimmungsland unter Berücksichtigung der allgemeinen Situation in diesem Land und der spezifischen Umstände des Falls des Betroffenen“ ( 77 ). Nach Auffassung dieses Gerichtshofs belegt die Tatsache, dass in einem bestimmten Land ein generelles Problem mit der Beachtung der Menschenrechte besteht, für sich genommen nicht, dass die Rückführung des Betroffenen in dieses Land gegen Art. 3 EMRK verstieße ( 78 ). Bei der Prüfung, ob die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung vorliegt, berücksichtigt er in der Praxis außerdem nicht nur die Situation im Bestimmungsland, sondern auch die spezifischen Umstände des Betroffenen ( 79 ).

110.

Im Urteil Mo. M. gegen Frankreich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Bezug auf Art. 3 EMRK beispielsweise entschieden, dass eine Rückführung des Beschwerdeführers in den Tschad, aus dem er geflohen war, nachdem er von den tschadischen Geheimdiensten festgenommen und gefoltert worden war, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstelle. Dabei hat er sich auf die Berichte der örtlichen Nichtregierungsorganisationen und der institutionellen Beobachter gestützt, aus denen sich ergibt, dass die allgemeine Situation im Tschad durch die Existenz von Militärgefängnissen gekennzeichnet ist, die von den Geheimdiensten verwaltet werden. Dieser Gerichtshof hat anschließend die persönliche Situation des Beschwerdeführers geprüft. Er hat insoweit zum einen festgestellt, dass der Beschwerdeführer, wie ärztliche Atteste belegten, bereits im Tschad gefoltert worden sei, und zum anderen, dass er bei einer Rückführung erneut gefoltert zu werden drohe, da er sich in Frankreich in einer Oppositionspartei engagiere und gegen ihn offenbar ein Vorführungsbefehl ergangen sei, den die tschadischen Behörden drei Jahre nach seiner Ausreise aus dem Tschad ausgestellt hätten ( 80 ).

111.

Im Urteil M. G. gegen Bulgarien ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Schluss gekommen, dass der Beschwerdeführer, den die russischen Behörden suchten, um ihn wegen des Verdachts der Zugehörigkeit zur tschetschenischen Guerilla vor die Strafgerichte von Inguschetien, einer der Republiken des Nord-Kaukasus, zu stellen, der ernsten und echten Gefahr von Folter ausgesetzt sei, wenn er an Russland ausgeliefert werde. Dieser Gerichtshof hat in einem ersten Schritt die allgemeine Situation im Nord-Kaukasus geprüft und festgestellt, dass es sich bei dieser Region nach wie vor um ein Gebiet bewaffneten Konflikts handle, das u. a. durch außergerichtliche Hinrichtungen, Folter und andere unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen gekennzeichnet sei. In einem zweiten Schritt hat er die persönliche Situation des Beschwerdeführers geprüft und darauf hingewiesen, dass dieser u. a. wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Gruppe, Vorbereitung von Terroranschlägen sowie Waffen- und Drogenhandels strafrechtlich verfolgt werde, die russischen Geheimdienste in seiner Wohnung eine Vielzahl von Waffen beschlagnahmt hätten und er von den russischen Behörden der Mitgliedschaft in einer dschihadistischen bewaffneten Gruppe verdächtigt werde. Er hat daraus den Schluss gezogen, dass der Beschwerdeführer besonders stark gefährdet sei, gefoltert zu werden, wenn er in einer nordkaukasischen Anstalt inhaftiert werde ( 81 ).

112.

Im Urteil Ahorugeze gegen Schweden hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Bezug auf Art. 6 Abs. 1 EMRK entschieden, dass der Beschwerdeführer, ein der Bevölkerungsgruppe der Hutu angehörender ruandischer Staatsangehöriger, keiner echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt würde, wenn er an Ruanda, wo er sich wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verantworten hatte, ausgeliefert werde. Dieser Gerichtshof hat nämlich auf der Grundlage von Urteilen des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda und Informationen, die ihm von niederländischen Ermittlern und norwegischen Polizeibeamten zur Verfügung gestellt worden waren, die Auffassung vertreten, die mangelnde Unabhängigkeit bzw. Unparteilichkeit der ruandischen Gerichte sei nicht erwiesen. Außerdem hat er die persönliche Situation des Beschwerdeführers geprüft. Weder durch den Umstand, dass er vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda für die Verteidigung ausgesagt habe, noch durch die Tatsache, dass er die ruandische Zivilluftfahrtbehörde geleitet habe, oder durch seine Verurteilung wegen Zerstörung fremden Eigentums während des Genozids von 1994 werde der Beschwerdeführer einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt ( 82 ).

3) Wie lässt sich nachweisen, dass der Betroffene der echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung im Ausstellungsmitgliedstaat ausgesetzt ist?

113.

Um nachzuweisen, dass die betroffene Person der in Rede stehenden echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt ist, muss meines Erachtens – der Kommission folgend – dargetan werden, dass besondere Umstände im Zusammenhang mit dieser Person oder der Straftat, derentwegen sie verfolgt wird oder verurteilt worden ist, vorliegen, aufgrund deren der Betroffene einer solchen Gefahr ausgesetzt wird. So schlägt die Kommission u. a. vor, zu prüfen, ob es sich bei der Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, um einen politischen Gegner handelt oder sie einer diskriminierten gesellschaftlichen oder ethnischen Gruppe angehört. Die Kommission schlägt ferner vor, insbesondere zu prüfen, ob die Straftat, derentwegen die betroffene Person verfolgt wird, politischer Natur ist oder die Staatsmacht öffentliche Erklärungen zu dieser Straftat oder ihrer Ahndung abgegeben hat. Den genannten Vorschlägen ist nach meinem Dafürhalten zu folgen.

114.

In diesem Zusammenhang sieht der zweite Satz des zwölften Erwägungsgrundes des Rahmenbeschlusses ausdrücklich die Möglichkeit vor, die Übergabe einer Person abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Europäische Haftbefehl, der gegen diese Person besteht, zum Zwecke ihrer Verfolgung oder Bestrafung u. a. aus Gründen ihrer politischen Überzeugung erlassen worden ist.

115.

Was die Beweislast angeht, ist vom Betroffenen meines Erachtens der Nachweis des Bestehens ernsthafter und durch Tatsachen bestätigter Gründe für die Annahme zu verlangen, dass er tatsächlich einer eklatanten Rechtsverweigerung im Ausstellungsmitgliedstaat ausgesetzt zu werden droht. Dieser Standpunkt entspricht dem Standpunkt des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der ferner die Ansicht vertritt, dass der betreffende Staat, sobald der Nachweis erbracht ist, insoweit jeden Zweifel auszuräumen hat ( 83 ).

116.

Im vorliegenden Fall trägt L. M. vor, er würde in Polen der echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt, weil die Rechtsstaatlichkeit, „deren Wesensgehalt der Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz ist, der seinerseits nur durch das Bestehen eines unabhängigen Justizsystems garantiert werden kann“, dort nicht mehr geachtet werde ( 84 ).

117.

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob ein solches Vorbringen belegt, dass L. M. bei einer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde der echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt würde, die sich – das Bestehen einer solchen Gefahr unterstellt – aus den Mängeln des polnischen Justizsystems ergäbe.

118.

L. M. geht jedoch zu keinem Zeitpunkt auf die Frage ein, inwiefern sich die jüngsten Reformen des polnischen Justizsystems auf seine persönliche Situation auswirken sollen. Er erläutert nicht, inwiefern die Mängel des polnischen Justizsystems – ihr Vorliegen unterstellt – der Verhandlung seiner Sache durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht entgegenstehen sollen. L. M. begnügt sich mit der allgemeinen Behauptung, dass das polnische Justizsystem nicht den Erfordernissen der Rechtsstaatlichkeit genüge.

119.

Nach meinem Dafürhalten soll mit dem Vorbringen von L. M. somit lediglich nachgewiesen werden, dass aufgrund der Mängel des Justizsystems die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung in Polen besteht, und nicht, dass er bei einer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde selbst einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird. Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat, belegt die (als erwiesen unterstellte) Tatsache, dass in einem bestimmten Land ein generelles Problem mit der Achtung der Menschenrechte besteht, für sich genommen nicht, dass der Betroffene durch die Rückführung in dieses Land einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt zu werden droht ( 85 ). Im Urteil Yefimova gegen Russland hat er beispielsweise die Auffassung vertreten, dass die Beschwerdeführerin, obwohl es Gründe für Zweifel an der Unabhängigkeit der kasachischen Gerichte gab, weder nachgewiesen habe, dass diese Zweifel die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung begründeten, noch, dass sie bei einer Auslieferung an Kasachstan selbst dieser Gefahr ausgesetzt würde ( 86 ).

120.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass L. M. wegen Drogenhandels strafrechtlich verfolgt wird und nichts in den Akten darauf hindeutet, dass eine solche Straftat oder die Person L. M. Besonderheiten aufwiesen, durch die sie der behaupteten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt würde. In der mündlichen Verhandlung zu diesem Punkt befragt, hat der Vertreter von L. M. keine näheren Erläuterungen gegeben.

121.

Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben, wenn sie nicht nur feststellt, dass aufgrund der Mängel des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung besteht, sondern auch, dass die Person, gegen die dieser Haftbefehl ergangen ist, einer solchen Gefahr ausgesetzt wird. Eine Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Rechts auf ein faires Verfahren stellt nur dann eine eklatante Rechtsverweigerung dar, wenn sie so schwerwiegend ist, dass sie den Wesensgehalt des durch diese Vorschrift geschützten Rechts auf null reduziert. Bei der Feststellung, ob die betroffene Person der in Rede stehenden Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt wird, muss die vollstreckende Justizbehörde die besonderen Umstände im Zusammenhang sowohl mit dieser Person als auch der Straftat berücksichtigen, derentwegen sie verfolgt wird oder verurteilt worden ist.

3.   Zweite Vorlagefrage

122.

Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob, falls die zweite Stufe der im Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), festgelegten Prüfung anwendbar ist und die vollstreckende Justizbehörde feststellt, dass der Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund von Mängeln des Justizsystems die Rechtsstaatlichkeit verletzt, diese Behörde verpflichtet ist, die ausstellende Justizbehörde gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses um alle notwendigen zusätzlichen Informationen über die Bedingungen zu bitten, unter denen das Verfahren des Betroffenen geführt wird. Falls dem so ist, fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, welche Garantien es von der ausstellenden Justizbehörde erhalten könnte, um die Gefahr auszuschließen, dass der Betroffene kein faires Verfahren erhält.

123.

Der Gerichtshof hat im genannten Urteil Aranyosi und Căldăraru die Ansicht vertreten, dass die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, die ausstellende Justizbehörde gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses um alle notwendigen zusätzlichen Informationen über die Haftbedingungen des Betroffenen zu bitten. Nur wenn die vollstreckende Justizbehörde anhand dieser Informationen feststellt, dass der Betroffene tatsächlich einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden droht, ist sie verpflichtet, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auszusetzen ( 87 ).

124.

Der Minister ist der Meinung, die vollstreckende Justizbehörde sei verpflichtet, die ausstellende Justizbehörde um alle Informationen zu bitten, die sie für notwendig erachte. Der Gegenstand dieser Informationen könne nur von Fall zu Fall nach Maßgabe des Grundes bestimmt werden, aus dem die vollstreckende Justizbehörde die Ansicht vertrete, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr laufe, kein faires Verfahren zu erhalten. Von der vollstreckenden Justizbehörde könne nicht verlangt werden, dass sie das Nichtvorliegen von Mängeln des polnischen Justizsystems nachweise.

125.

L. M. vertritt die Auffassung, die zweite Vorlagefrage brauche nicht beantwortet zu werden. Im vorliegenden Fall könne jedoch keine Garantie geboten werden, die geeignet wäre, die Befürchtungen der vollstreckenden Justizbehörde zu zerstreuen, da die in Rede stehenden Mängel systemischer Natur seien.

126.

Nach Ansicht der spanischen Regierung lässt sich mit Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses ein Ausweg finden, wenn die vollstreckende Justizbehörde hinsichtlich der zu ergreifenden Maßnahmen unsicher ist. Die ungarische Regierung vertritt die Auffassung, dass, da die vollstreckende Justizbehörde nicht berechtigt sei, das Vorliegen von Mängeln des polnischen Justizsystems festzustellen, sie diesen Mitgliedstaat nicht bitten könne, ihr zusätzliche Informationen zu erteilen. Die niederländische Regierung ist der Meinung, die vollstreckende Justizbehörde sei verpflichtet, von dem in Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Mechanismus Gebrauch zu machen. Die polnische Regierung hat zur zweiten Vorlagefrage nicht Stellung genommen.

127.

Die Kommission vertritt die Auffassung, die vollstreckende Justizbehörde könne die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen ersuchen. Ein solches Informationsersuchen könne sich u. a. auf die jüngsten Gesetzesänderungen beziehen. Diese Informationen seien jedoch zweifellos weniger geeignet, die Zweifel der vollstreckenden Justizbehörde auszuräumen, als wenn sie sich, wie im vorerwähnten Urteil Aranyosi und Căldăraru, auf die Haftbedingungen des Betroffenen bezögen.

128.

Besteht die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung im Ausstellungsmitgliedstaat, muss die vollstreckende Justizbehörde nach meinem Dafürhalten von der Möglichkeit Gebrauch machen, die ihr Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses bietet, um Informationen über etwaige nach Annahme des begründeten Vorschlags der Kommission und Abgabe der Stellungnahmen der Venedig-Kommission erlassene Rechtsvorschriften einerseits ( 88 ) und Besonderheiten im Zusammenhang mit der betroffenen Person und der Art der Straftat, die geeignet wären, diese Person der festgestellten echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung auszusetzen, andererseits, zu erhalten.

129.

Meines Erachtens lässt sich nämlich nicht ausschließen, dass ein solches Informationsersuchen – insbesondere dann, wenn die betroffene Person nicht nachgewiesen hat, dass sie selbst der behaupteten eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt würde – bei der vollstreckenden Justizbehörde für Aufklärung sorgen kann.

130.

Stellt die vollstreckende Justizbehörde anhand der gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses erhaltenen Informationen fest, dass die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, tatsächlich keiner eklatanten Rechtsverweigerung im Ausstellungsmitgliedstaat ausgesetzt zu werden droht, muss sie diesen Haftbefehl vollstrecken.

131.

Stellt die vollstreckende Justizbehörde anhand dieser Informationen hingegen fest, dass die betroffene Person tatsächlich Gefahr läuft, einer eklatanten Rechtsverweigerung im Ausstellungsmitgliedstaat ausgesetzt zu werden, ist die Vollstreckung des Haftbefehls aufzuschieben, aber nicht aufzugeben ( 89 ). In diesem Fall muss der Vollstreckungsmitgliedstaat gemäß Art. 17 Abs. 7 des Rahmenbeschlusses Eurojust von diesem Umstand und von den Gründen der Verzögerung in Kenntnis setzen. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss die vollstreckende Justizbehörde darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist ( 90 ).

132.

Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie feststellt, dass die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung im Ausstellungsmitgliedstaat besteht, verpflichtet ist, die ausstellende Justizbehörde gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses um alle notwendigen zusätzlichen Informationen über etwaige legislative Entwicklungen, die zeitlich nach den ihr für die Feststellung des Bestehens der echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung zur Verfügung stehenden Informationen liegen, einerseits, und Besonderheiten im Zusammenhang mit der Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, oder der Art der Straftat, derentwegen diese Person verfolgt wird oder verurteilt worden ist, andererseits, zu bitten.

V. Ergebnis

133.

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt auf die Fragen des High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) zu antworten:

1.

Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben, wenn sie nicht nur feststellt, dass aufgrund der Mängel des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung besteht, sondern auch, dass die Person, gegen die dieser Haftbefehl ergangen ist, einer solchen Gefahr ausgesetzt wird. Eine Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Rechts auf ein faires Verfahren stellt nur dann eine eklatante Rechtsverweigerung dar, wenn sie so schwerwiegend ist, dass sie den Wesensgehalt des durch diese Vorschrift geschützten Rechts auf null reduziert. Bei der Feststellung, ob die betroffene Person der in Rede stehenden Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt wird, muss die vollstreckende Justizbehörde die besonderen Umstände im Zusammenhang sowohl mit dieser Person als auch der Straftat berücksichtigen, derentwegen sie verfolgt wird oder verurteilt worden ist.

2.

Stellt die vollstreckende Justizbehörde fest, dass die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung im Ausstellungsmitgliedstaat besteht, ist sie verpflichtet, die ausstellende Justizbehörde gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung um alle notwendigen zusätzlichen Informationen über etwaige legislative Entwicklungen, die zeitlich nach den ihr für die Feststellung des Bestehens der echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung zur Verfügung stehenden Informationen liegen, einerseits, und Besonderheiten im Zusammenhang mit der Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, oder der Art der Straftat, derentwegen diese Person verfolgt wird oder verurteilt worden ist, andererseits, zu bitten.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Es geht u. a. um die Ernennung der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs und die Nichtveröffentlichung einiger seiner Entscheidungen. Darüber hinaus geht es um die neuen Pensionsregelungen für Richter am Obersten Gericht und Richter an ordentlichen Gerichten, das neue außerordentliche Rechtsbehelfsverfahren beim Obersten Gericht, die Absetzung und Ernennung der Präsidenten der ordentlichen Gerichte sowie die Beendigung der Amtszeit und das Verfahren für die Ernennung der richterlichen Mitglieder des Landesrats für Gerichtswesen.

( 3 ) Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die Republik Polen vom 20. Dezember 2017 (COM[2017] 835 final).

( 4 ) ABl. 2002, L 190, S. 1.

( 5 ) ABl. 2009, L 81, S. 24.

( 6 ) Vgl. sechsten Erwägungsgrund und Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses.

( 7 ) Urteile vom 16. Juli 2015, Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 36), und vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 80).

( 8 ) Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 82 bis 88).

( 9 ) Die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ergab sich in der Rechtssache Aranyosi und Căldăraru aus den Haftbedingungen in Ungarn und Rumänien.

( 10 ) Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89).

( 11 ) Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 93) (Hervorhebung nur hier).

( 12 ) Stellungnahme Nr. 904/2017 der Venedig-Kommission vom 11. Dezember 2017 zu den vom Präsidenten der Republik Polen vorgeschlagenen Entwürfen eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen und eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Oberste Gericht und zum Gesetz über die ordentlichen Gerichte sowie Stellungnahme Nr. 892/2017 der Venedig-Kommission vom 11. Dezember 2017 zum Gesetz über die Staatsanwaltschaft in der geänderten Fassung (im Folgenden: Stellungnahmen der Venedig-Kommission). Diese Dokumente sind auf der Website der Venedig-Kommission unter folgender Adresse verfügbar: http://www.venice.coe.int/webforms/events/.

( 13 ) European Arrest Warrant Act 2003.

( 14 ) Im Verfahren 2013/295 EXT.

( 15 ) Im Verfahren 2014/8 EXT.

( 16 ) Im Verfahren 2017/291 EXT.

( 17 ) Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 20).

( 18 ) Urteile vom 8. September 2010, Winner Wetten (C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 38), und vom 27. Februar 2014, Pohotovosť (C‑470/12, EU:C:2014:101, Rn. 28 und 29).

( 19 ) Wie der, mit der der Gerichtshof in der Rechtssache C‑192/18, Kommission/Polen, befasst ist.

( 20 ) Hervorhebung nur hier.

( 21 ) Vgl. Rn. 171 bis 186 der Begründung des begründeten Vorschlags der Kommission.

( 22 ) Vgl. insoweit Nr. 106 der vorliegenden Schlussanträge.

( 23 ) Vorsorglich stelle ich fest, dass der politische Kontext, in dem das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ergeht, auf den ersten Blick darauf hindeuten könnte, dass es dem Gerichtshof verwehrt ist, dieses Ersuchen zu prüfen. In der amerikanischen Doktrin der „political questions“ wird beispielsweise allgemein davon ausgegangen, dass sich der Richter zu enthalten hat, wenn er der Ansicht ist, dass die Frage der Exekutive oder der Legislative überlassen bleiben muss. Der Gerichtshof erkennt solche Grenzen seiner Kontrolle jedoch nicht an. Im Übrigen können die dem Gerichtshof gestellten Fragen im vorliegenden Fall nicht als „politisch“ angesehen werden, da sich die im Rahmen der ersten Stufe der Prüfung aus dem vorerwähnten Urteil Aranyosi und Căldăraru vorzunehmende Beurteilung – wie wir gesehen haben – von der Beurteilung unterscheidet, die der Rat im Rahmen von Art. 7 Abs. 1 EUV vornimmt.

( 24 ) Urteile vom 15. Februar 2016, N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 45), und vom 6. Oktober 2016, Paoletti u. a. (C‑218/15, EU:C:2016:748, Rn. 21).

( 25 ) Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17). Nach diesen Erläuterungen entspricht Art. 47 Abs. 1 der Charta Art. 13 („Recht auf wirksame Beschwerde“) EMRK. Art. 47 Abs. 3 der Charta wiederum ist das Pendant einer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

( 26 ) Urteile vom 8. Dezember 2011, Chalkor/Kommission (C‑386/10 P, EU:C:2011:815, Rn. 51), und vom 6. November 2012, Otis u. a. (C‑199/11, EU:C:2012:684, Rn. 46 und 47).

( 27 ) Der Gerichtshof hat im Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), nämlich entschieden, dass die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben, wenn sie feststellt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Ausstellungsmitgliedstaat – und nicht eine Verletzung des Verbots solcher Behandlungen – vorliegt (und der Betroffene einer solchen Gefahr ausgesetzt wird). Vgl. insoweit Nr. 43 der vorliegenden Schlussanträge.

( 28 ) Wie es in den schriftlichen Erklärungen der polnischen Regierung heißt, „bedeutet [der Umstand, dass das Urteil Aranyosi und Căldăraru Art. 4 der Charta betraf,] nicht, dass die Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens nicht angewandt werden könnten, um andere Grundrechte zu schützen, die keinen solchen absoluten Charakter haben, darunter das Recht auf ein faires Verfahren“.

( 29 ) Die ungarische Regierung spricht diesen Punkt nicht direkt an.

( 30 ) Vgl. sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses.

( 31 ) Vgl. Nr. 5 der vorliegenden Schlussanträge.

( 32 ) Schlussanträge von Generalanwalt Bobek in der Rechtssache Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1013, Nr. 74). Vgl. hierzu Lenaerts, K., „La vie après l’avis: Exploring the principle of mutual (yet not blind) trust“, Common Market Law Review, 2017, Nr. 3, S. 805.

( 33 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung).

( 34 ) Liegt in dem aufgrund der Kriterien der Dublin‑III-Verordnung zunächst als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmten Mitgliedstaat die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung vor, kann der Asylbewerber nicht an diesen Staat überstellt werden. Der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat muss die Prüfung dieser Kriterien fortsetzen, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Erweist sich dies als unmöglich, wird er selbst der zuständige Staat. Vgl. Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung, der eine Kodifizierung des Urteils vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 94), ist. Vgl. auch Urteile vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 65), vom 26. Juli 2017, A. S. (C‑490/16, EU:C:2017:585, Rn. 41), und vom 26. Juli 2017, Jafari (C‑646/16, EU:C:2017:586, Rn. 101).

( 35 ) Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 85), vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 56), vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 59), und vom 24. April 2018, MP (Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterhandlungen) (C‑353/16, EU:C:2018:276, Rn. 36).

( 36 ) Nach ständiger Rechtsprechung kann das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf eingeschränkt werden, wenn eine solche Einschränkung nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen ist, den Wesensgehalt dieses Rechts achtet und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich ist und den von der Europäischen Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entspricht (Urteile vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 51, vom 17. September 2014, Liivimaa Lihaveis, C‑562/12, EU:C:2014:2229, Rn. 72, vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 95, vom 15. September 2016, Star Storage u. a., C‑439/14 und C‑488/14, EU:C:2016:688, Rn. 49, vom 27. September 2017, Puškár, C‑73/16, EU:C:2017:725, Rn. 62, und vom 20. Dezember 2017, Protect Natur-, Arten- und Landschaftsschutz Umweltorganisation, C‑664/15, EU:C:2017:987, Rn. 90).

( 37 ) Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Radu (C‑396/11, EU:C:2012:648, Nr. 97).

( 38 ) Vgl. fünften Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses und Urteil vom 10. November 2016, Kovalkovas (C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 41).

( 39 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1, im Folgenden: Brüssel‑Ia-Verordnung).

( 40 ) Hervorhebung nur hier.

( 41 ) Schlussanträge von Generalanwalt Bobek in der Rechtssache Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:612, Nr. 86 und Fn. 16) (Hervorhebung nur hier).

( 42 ) Der Gerichtshof hat im Urteil vom 26. April 2018, Donnellan (C‑34/17, EU:C:2018:282, Rn. 61), insoweit entschieden, dass, da die mit der Richtlinie 2010/24/EU (Richtlinie des Rates vom 16. März 2010 über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen [ABl. 2010, L 84, S. 1]) eingeführte Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen als „gegenseitig“ einzustufen ist, dies „namentlich voraussetzt, dass es Sache der ersuchenden Behörde ist, … die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen die ersuchte Behörde … Amtshilfe leisten kann“ (Hervorhebung nur hier).

( 43 ) EGMR, 4. November 2014, Tarakhel gegen Schweiz (CE:ECHR:2014:1104JUD002921712, § 93).

( 44 ) EGMR, 24. Juli 2014, Al Nashiri gegen Polen (CE:ECHR:2014:0724JUD002876111, § 576 bis 579).

( 45 ) Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe, geschehen zu Vilnius am 3. Mai 2002.

( 46 ) EGMR, 17. Januar 2012, Othman (Abu Qatada) gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2012:0117JUD000813909, § 258).

( 47 ) Im Vorabentscheidungsersuchen heißt es nämlich: „Nach ständiger irischer Rechtsprechung ist eine Übergabe wegen Art. 6 EMRK dann verboten, wenn die betroffene Person durch sie der echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt wäre. Im Urteil Minister for Justice, Equality and Law Reform gegen Brennan aus dem Jahr 2007 (IESC 24) stellte der Supreme Court (Oberstes Gericht) fest, dass schwerwiegende Umstände vorliegen müssen, ‚wie ein eindeutig festgestellter und grundlegender Mangel des Justizsystems des ersuchenden Staates‘, um eine Übergabe nach dem European Warrant Act von 2003 wegen einer Verletzung von Art. 6 EMRK zu verweigern.“ (A. d. Ü: im Original angeführtes Zitat findet sich so nicht im Vorabentscheidungsersuchen; Wortlaut der deutschen Übersetzung aus Gründen der Kohärenz beibehalten).

( 48 ) EGMR, 7. Juli 1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1989:0707JUD001403888, § 113).

( 49 ) Urteil vom 26. April 2018, Donnellan (C‑34/17, EU:C:2018:282, Rn. 50).

( 50 ) Urteil vom 23. Januar 2018, Piotrowski (C‑367/16, EU:C:2018:27, Rn. 48).

( 51 ) Vgl. Nr. 57 und Fn. 36 der vorliegenden Schlussanträge.

( 52 ) Vgl. Nr. 70 der vorliegenden Schlussanträge.

( 53 ) EGMR, 7. Juli 1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1989:0707JUD001403888, § 113), EGMR, 2. März 2010, Al-Saadoon und Mufdhi gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2010:0302JUD006149808, § 149), EGMR, 17. Januar 2012, Othman (Abu Qatada) gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2012:0117JUD000813909, § 258), EGMR, 24. Juli 2014, Al Nashiri gegen Polen (CE:ECHR:2014:0724JUD002876111, § 456 und 562 bis 564), und Urteil des EGMR vom 15. Juni 2017, Harkins gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2017:0615DEC007153714, § 62).

( 54 ) EGMR, 28. Februar 2008, Saadi gegen Italien (CE:ECHR:2008:0228JUD003720106, § 125).

( 55 ) EGMR, 17. Januar 2012, Othman (Abu Qatada) gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2012:0117JUD000813909, § 260), und EGMR, 24. Juli 2014, Al Nashiri gegen Polen (CE:ECHR:2014:0724JUD002876111, § 563).

( 56 ) Urteil des EGMR vom 16. Oktober 2001, Einhorn gegen Frankreich (CE:ECHR:2001:1016DEC007155501, § 33 und 34). In jenem Fall lag nach Auffassung des EGMR keine eklatante Rechtsverweigerung vor, weil der Beschwerdeführer, den ein Gericht in Pennsylvania in Abwesenheit wegen Mordes verurteilt hatte, bei seiner Rückkehr nach Pennsylvania auf Antrag in den Genuss eines neuen Verfahrens kommen konnte.

( 57 ) EGMR, 8. November 2005, Bader und Kanbor gegen Schweden (CE:ECHR:2005:1108JUD001328404, § 47). Ein Verfahren, in dem in der mündlichen Verhandlung kein Zeuge vernommen worden ist, alle gewürdigten Beweismittel vom Staatsanwalt vorgelegt worden sind und weder der Angeklagte noch sein Anwalt erschienen sind, ist durch seine summarische Natur und die vollständige Negation der Verteidigungsrechte gekennzeichnet.

( 58 ) Urteil des EGMR vom 20. Februar 2007, Al-Moayad gegen Deutschland (CE:ECHR:2007:0220DEC003586503, § 100 bis 108). In jenem Fall ist der EGMR zu dem Schluss gekommen, dass keine eklatante Rechtsverweigerung vorliege, weil der Beschwerdeführer, der wegen Zugehörigkeit zu zwei terroristischen Organisationen verfolgt wurde und gegen den ein Auslieferungsersuchen der Behörden der Vereinigten Staaten bestand, nicht in eines der Gefangenenlager außerhalb der Vereinigten Staaten überstellt werde, in dem er keinen Zugang zu einem Anwalt gehabt hätte und ihm vor einem Militärgericht oder einem anderen außerordentlichen Gericht der Prozess gemacht worden wäre.

( 59 ) EGMR, 12. Mai 2005, Öcalan gegen Türkei (CE:ECHR:2005:0512JUD004622199, § 112), und EGMR, 24. Juli 2014, Al Nashiri gegen Polen (CE:ECHR:2014:0724JUD002876111, § 562).

( 60 ) EGMR, 17. Januar 2012, Othman (Abu Qatada) gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2012:0117JUD000813909, § 263 bis 287), EGMR, 24. Juli 2014, Husayn (Abu Zubaydah) gegen Polen (CE:ECHR:2014:0724JUD000751113, § 559), EGMR, 24. Juli 2014, Al Nashiri gegen Polen (CE:ECHR:2014:0724JUD002876111, § 565 bis 569), und EGMR, 31. Mai 2018, Al Nashiri gegen Rumänien (CE:ECHR:2018:0531JUD003323412, § 719 bis 722).

( 61 ) EGMR, 24. Juli 2014, Al Nashiri gegen Polen (CE:ECHR:2014:0724JUD002876111).

( 62 ) Der letztgenannte Gerichtshof hat in § 567(ii) seines Urteils nämlich festgestellt: „[the military commission] did not have legitimacy under US and international law resulting in, as the Supreme Court found, its lacking the ‚power to proceed‘ and …, consequently, it was not ‚established by law‘ for the purposes of Article 6§1“.

( 63 ) EGMR, 24. Juli 2014, Al Nashiri gegen Polen (CE:ECHR:2014:0724JUD002876111, § 565 bis 569). Eine ähnliche Argumentation findet sich in den § 719 bis 722 des Urteils des EGMR vom 31. Mai 2018, Al Nashiri gegen Rumänien (CE:ECHR:2018:0531JUD003323412).

( 64 ) Urteile vom 19. September 2006, Wilson (C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 51 und 52), vom 16. Februar 2017, Margarit Panicello (C‑503/15, EU:C:2017:126, Rn. 37 und 38), und vom 14. Juni 2017, Online Games u. a. (C‑685/15, EU:C:2017:452, Rn. 60 und 61).

( 65 ) Urteil vom 19. September 2006, Wilson (C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 53), Beschluss vom 14. Mai 2008, Pilato (C‑109/07, EU:C:2008:274, Rn. 24), und Urteil vom 31. Januar 2013, D. und A. (C‑175/11, EU:C:2013:45, Rn. 97).

( 66 ) Vgl. auch Urteile vom 19. September 2006, Wilson (C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 49), vom 14. Juni 2017, Online Games u. a. (C‑685/15, EU:C:2017:452, Rn. 60), und vom 13. Dezember 2017, El Hassani (C‑403/16, EU:C:2017:960, Rn. 40).

( 67 ) Urteile vom 1. Juli 2008, Chronopost und La Poste/UFEX u. a. (C‑341/06 P und C‑342/06 P, EU:C:2008:375, Rn. 46), vom 19. Februar 2009, Gorostiaga Atxalandabaso/Parlament (C‑308/07 P, EU:C:2009:103, Rn. 42), und vom 31. Januar 2018, Gyarmathy/FRA (T‑196/15 P, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:47, Rn. 97).

( 68 ) EGMR, 24. Juli 2014, Al Nashiri gegen Polen (CE:ECHR:2014:0724JUD002876111), und EGMR, 31. Mai 2018, Al Nashiri gegen Rumänien (CE:ECHR:2018:0531JUD003323412).

( 69 ) Vgl. Nr. 84 der vorliegenden Schlussanträge.

( 70 ) EGMR, 17. Januar 2012, Othman (Abu Qatada) gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2012:0117JUD000813909, § 265).

( 71 ) EGMR, 24. Juli 2014, Al Nashiri gegen Polen (CE:ECHR:2014:0724JUD002876111), und EGMR, 31. Mai 2018, Al Nashiri gegen Rumänien (CE:ECHR:2018:0531JUD003323412).

( 72 ) Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89). Vgl. auch Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 91).

( 73 ) Vgl. auch Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 58), und Beschluss vom 6. September 2017, Peter Schotthöfer & Florian Steiner (C‑473/15, EU:C:2017:633, Rn. 24 bis 26).

( 74 ) Vgl. Nr. 24 der vorliegenden Schlussanträge.

( 75 ) Der Rahmenbeschluss ist nämlich am 13. Juni 2002 ergangen, d. h. vor Inkrafttreten des Vertrags von Nizza (ABl. 2001, C 80, S. 1) am 1. Februar 2003. Es war Art. 1 Abs. 1 des Vertrags von Nizza, durch den Abs. 1 in Art. 7 eingefügt worden ist. Die Bezugnahme auf Art. 7 Abs. 1 EUV im zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses ist heute somit als Bezugnahme auf Art. 7 Abs. 2 EUV zu lesen. Vgl. hierzu Nr. 38 der vorliegenden Schlussanträge.

( 76 ) Diese Beurteilung obliegt, wie in den Nrn. 35 und 95 der vorliegenden Schlussanträge festgestellt, dem vorlegenden Gericht.

( 77 ) EGMR, 30. Oktober 1991, Vilvarajah u. a. gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1991:1030JUD001316387, § 108), EGMR, 28. Februar 2008, Saadi gegen Italien (CE:ECHR:2008:0228JUD003720106, § 130), EGMR, 17. Januar 2012, Othman (Abu Qatada) gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2012:0117JUD000813909, § 187), und EGMR, 23. März 2016, F. G. gegen Schweden (CE:ECHR:2016:0323JUD004361111, § 120) (Hervorhebung nur hier).

( 78 ) EGMR, 28. Februar 2008, Saadi gegen Italien (CE:ECHR:2008:0228JUD003720106, § 131), EGMR, 25. April 2013, Savriddin Dzhurayev gegen Russland (CE:ECHR:2013:0425JUD007138610, § 153 und 169), und EGMR, 25. März 2014, M. G. gegen Bulgarien (CE:ECHR:2014:0325JUD005929712, § 79).

( 79 ) EGMR, 17. Januar 2012, Othman (Abu Qatada) gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2012:0117JUD000813909, § 272 und 277 bis 279). Vgl. auch Nr. 112 der vorliegenden Schlussanträge.

( 80 ) EGMR, 18. April 2013, Mo. M. gegen Frankreich (CE:ECHR:2013:0418JUD001837210, § 38 bis 43).

( 81 ) EGMR, 25. März 2014, M. G. gegen Bulgarien (CE:ECHR:2014:0325JUD005929712, § 87 bis 91).

( 82 ) EGMR, 27. Oktober 2011, Ahorugeze gegen Schweden (CE:ECHR:2011:1027JUD003707509, § 125 bis 129).

( 83 ) EGMR, 27. Oktober 2011, Ahorugeze gegen Schweden (CE:ECHR:2011:1027JUD003707509, § 116), EGMR, 17. Januar 2012, Othman (Abu Qatada) gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2012:0117JUD000813909, § 261), und EGMR, 19. Februar 2013, Yefimova gegen Russland (CE:ECHR:2013:0219JUD003978609, § 220).

( 84 ) Aus dem in Nr. 22 der vorliegenden Schlussanträge erwähnten Urteil des High Court (Hoher Gerichtshof) vom 12. März 2018 geht hervor, dass der Rechtsanwalt von L. M. versucht hat, Beweismittel zu beschaffen, die sich auf den Zustand des Justizsystems in Polen beziehen. Er hat vor dem vorlegenden Gericht u. a. ein Dokument vorgelegt, das von einer polnischen amtlichen Stelle stammt, deren genaue Identität dem vorlegenden Gericht nicht bekannt ist. Nach diesem Dokument sind die polnischen Justizbehörden von den anderen Gewalten unabhängig, ist die durch den Minister für Justiz ausgeübte Aufsicht über die ordentlichen Gerichte rein administrativ und verletzt dieser Minister nicht die Unabhängigkeit der Gerichte.

( 85 ) Vgl. Nr. 109 der vorliegenden Schlussanträge. Vgl. auch EGMR, 10. Februar 2011, Dzhaksybergenov gegen Ukraine (CE:ECHR:2011:0210JUD001234310, § 37 und 44).

( 86 ) EGMR, 19. Februar 2013, Yefimova gegen Russland (CE:ECHR:2013:0219JUD003978609, § 221 bis 225). Vgl. auch EGMR, 17. Januar 2012, Othman (Abu Qatada) gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2012:0117JUD000813909, § 284 und 285).

( 87 ) Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 95 bis 98).

( 88 ) In ihren schriftlichen Erklärungen wirft die polnische Regierung dem vorlegenden Gericht insoweit vor, dass es die zeitlich nach Annahme des begründeten Vorschlags der Kommission liegenden Gesetzesänderungen nicht berücksichtigt habe.

( 89 ) Urteile vom 16. Juli 2015, Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 38), und vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 98).

( 90 ) Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 104).