URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)

7. Dezember 2018 ( *1 )

„Öffentliche Aufträge – Haushaltsordnung – Ausschluss von den Verfahren über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und die Gewährung von Zuschüssen aus dem Gesamthaushalt der Union für eine Dauer von zwei Jahren – Art. 108 der Haushaltsordnung – Verteidigungsrechte – Nachweis des Erhalts einer Zustellung“

In der Rechtssache T‑280/17

GE.CO. P. Generale Costruzioni e Progettazioni SpA, mit Sitz in Rom (Italien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin G. Naticchioni,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch F. Dintilhac und F. Moro als Bevollmächtigte,

Beklagte,

wegen einer Klage gemäß Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung zum einen des Beschlusses der Kommission vom 7. März 2017 über den Ausschluss der Klägerin von der Teilnahme an den Verfahren über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und die Gewährung von Zuschüssen aus dem Gesamthaushalt der Europäischen Union sowie von der Teilnahme an den Verfahren der Gewährung von Mitteln im Rahmen der Verordnung (EU) 2015/323 des Rates vom 2. März 2015 über die Finanzregelung für den 11. Europäischen Entwicklungsfonds (ABl. 2015, L 58, S. 17) und die Veröffentlichung dieses Ausschlusses auf der Internet-Seite der Kommission, und zum anderen sämtlicher Rechtsakte, die vor oder nach diesem Beschluss ergangen sind, einschließlich derer, von denen die Klägerin keine Kenntnis hat,

erlässt

DAS GERICHT (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Frimodt Nielsen sowie des Richters V. Kreuschitz und der Richterin N. Półtorak (Berichterstatterin),

Kanzler: E. Coulon,

folgendes

Urteil ( 1 )

[nicht wiedergegeben]

Rechtliche Würdigung

[nicht wiedergegeben]

Zur Begründetheit

[nicht wiedergegeben]

Zum ersten Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen Art. 108 der Haushaltsordnung und Art. 41 der Charta der Grundrechte gerügt wird

[nicht wiedergegeben]

42

Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Wahrung der Verteidigungsrechte ein tragender Grundsatz des Unionsrechts ist, mit dem der Anspruch darauf, gehört zu werden, untrennbar verbunden ist (vgl. Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 28 sowie die angeführte Rechtsprechung).

43

Der Anspruch darauf, gehört zu werden, ist heute nicht nur durch die Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte verbürgt, die die Wahrung der Verteidigungsrechte sowie das Recht auf ein faires Verfahren im Rahmen jedes Gerichtsverfahrens gewährleisten, sondern auch durch Art. 41 der Charta der Grundrechte, der das Recht auf eine gute Verwaltung sicherstellt. Nach Art. 41 Abs. 2 der Charta der Grundrechte umfasst das Recht auf eine gute Verwaltung insbesondere das Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird (vgl. Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Gemäß diesem Grundsatz, der anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen, müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Elementen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen (vgl. Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Recht, gehört zu werden, gilt auch dann, wenn die anwendbare Regelung eine solche Formalität nicht ausdrücklich vorsieht (vgl. Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 31 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

45

Im vorliegenden Fall sieht die anwendbare Regelung in Art. 108 Abs. 8 Buchst. c der Haushaltsordnung vor, dass das in Art. 108 genannte Gremium, bevor es eine Empfehlung abgibt, dem Wirtschaftsteilnehmer und den öffentlichen Auftraggebern Gelegenheit zur Stellungnahme gibt. In dieser Bestimmung wird auch klargestellt, dass der Wirtschaftsteilnehmer und die öffentlichen Auftraggeber über eine Frist von mindestens 15 Tagen verfügen, um ihre Stellungnahme abzugeben.

46

Die anwendbare Regelung legt allerdings nicht fest, im Wege welchen Kommunikationsmittels das in Art. 108 genannte Gremium den Wirtschaftsteilnehmer von der rechtlichen Einordnung der jeweiligen Umstände und der in Aussicht genommenen Sanktion zu unterrichten hat.

47

Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass eine Entscheidung – und daher erst recht ein Schreiben, das die rechtliche Einordnung der jeweiligen Umstände und die von dem in Art. 108 genannten Gremium in Aussicht genommene Sanktion enthält – ordnungsgemäß zugestellt wird, wenn sie ihrem Empfänger mitgeteilt wird und wenn dieser in die Lage versetzt wird, davon Kenntnis zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 9. Juli 2013, Page Protective Services/EAD, T‑221/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:363, Rn. 12).

48

Im vorliegenden Fall ist zwischen den Parteien streitig, ob die Kommission der Klägerin das streitige Schreiben ordnungsgemäß zugestellt hat. Erstens weist die Kommission im angefochtenen Beschluss darauf hin, dass sie das streitige Schreiben einem Eil‑Kuriertransport übergeben habe. Zweitens gibt sie an, dass sie dieses Schreiben auch per E‑Mail dem alleinigen Geschäftsführer der Klägerin übermittelt habe. Zum Nachweis der ordnungsgemäßen Zustellung des streitigen Schreibens beruft sich die Kommission auf die E‑Mail vom 23. Dezember 2016 und den Lesebericht, den sie am selben Tag erhalten habe. Die Klägerin behauptet, zu keinem Zeitpunkt von der Existenz des streitigen Schreibens oder von seiner Versendung Kenntnis gehabt zu haben.

[nicht wiedergegeben]

60

Wie sich aus den Rn. 42 bis 44 und 47 des vorliegenden Urteils ergibt, obliegt es der Kommission, die Effektivität des Rechts, gehört zu werden, sicherzustellen, weshalb sie den Nachweis dafür zu erbringen hat, dass sie die Klägerin in die Lage versetzt hat, ihren Standpunkt zu den Elementen, auf die sie ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigte, sachdienlich vorzutragen. Im vorliegenden Fall durfte sich die Kommission nicht mit dem Lesebericht begnügen – im Hinblick auf den sie anerkennt, dass es sich um eine E‑Mail handelt, die vom IT‑System der Empfängerin automatisch gesendet wurde –, um zu behaupten, wie sie dies im angefochtenen Beschluss getan hat, dass die Klägerin in die Lage versetzt worden sei, von dem streitigen Schreiben Kenntnis zu nehmen, und dass sie auf dieses Schreiben nicht geantwortet habe.

61

In Anbetracht der Akte und insbesondere der von der Kommission vorgelegten Elemente sowie unter Berücksichtigung der Erklärungen der Parteien zu diesen Elementen ist nämlich darauf hinzuweisen, dass der Lesebericht eine E‑Mail ist, die vom IT‑System des Empfängers einer E‑Mail automatisch generiert und gesendet werden kann, ohne dass der Empfänger manuell eingreifen müsste, und, folglich, ohne dass dieser notwendigerweise Kenntnis von der Existenz dieser E‑Mail erlangen konnte. Daher ist festzustellen, dass der Lesebericht der Kommission nicht den Nachweis ermöglicht, dass die Klägerin ordnungsgemäß in die Lage versetzt wurde, vom streitigen Schreiben Kenntnis zu nehmen, oder dass sie von der Existenz eines solchen Schreibens oder seiner Versendung Kenntnis hatte.

62

Hierzu ist festzustellen, dass die Zustellung im Wege eines eingeschriebenen Briefes mit Empfangsbestätigung zwar nicht die einzige für Verwaltungsentscheidungen in Frage kommende Zustellungsart darstellt, dass sie aber dank der besonderen Garantien, die sie sowohl für den Betreffenden als auch für die Verwaltung aufweist, eine besonders sichere Lösung ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 16. Dezember 2010, AG/Parlament, F‑25/10, EU:F:2010:171, Rn. 38), und zwar umso mehr, wenn der Betreffende keiner der Institutionen angehört (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 16. Dezember 2010, AG/Parlament, F‑25/10, EU:F:2010:171, Rn. 39). Eine dieser Garantien ist u. a. die – dank der Anbringung der Unterschrift des Empfängers auf der Empfangsbestätigung – bestehende Versicherung, dass dieser Empfänger weiß, dass ein Berief für ihn bestimmt ist und seine Aufmerksamkeit erfordert. Aus der Akte ergibt sich aber, dass der Lesebericht, anders als die postalische Empfangsbestätigung, keine solche Garantie bietet. Im Gegensatz zu dem Fall, in dem der Empfänger eines Schreibens auf der Empfangsbestätigung unterschreibt oder eine Bestätigung, dass er eine E‑Mail erhalten hat, verfasst und absendet, lässt sich anhand des in Rede stehenden Leseberichts, da er, wie in Rn. 61 des vorliegenden Urteils beschrieben, vom IT‑System des Empfängers automatisch generiert und gesendet wird, nicht zweifelsfrei feststellen, dass die Klägerin Kenntnis vom streitigen Schreiben hatte oder in die Lage versetzt wurde, von diesem Schreiben am Tag, an dem der Bericht übermittelt wurde, Kenntnis zu erlangen.

63

Geht es wie im vorliegenden Fall um die Effektivität des Rechts, gehört zu werden, kann der Lesebericht, wie er von der Kommission vorgelegt wird, nicht genügen, um nachzuweisen, dass sie hinreichend darauf geachtet habe, dass die Klägerin in die Lage versetzt worden sei, ihren Standpunkt sachdienlich geltend machen zu können.

64

Da nicht nachgewiesen wurde, dass die Klägerin ordnungsgemäß in die Lage versetzt wurde, ihren Standpunkt zu den Elementen darzulegen, auf die die Kommission den Beschluss zu stützen beabsichtigte, ist dem ersten Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen Art. 108 der Haushaltsordnung und Art. 41 der Charta der Grundrechte gerügt wird, stattzugeben.

65

Folglich ist der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären, ohne dass die Begründetheit des übrigen von der Klägerin im Rahmen des ersten Klagegrundes geltend gemachten Vorbringens zu prüfen ist.

[nicht wiedergegeben]

 

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Dritte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Der Beschluss der Europäischen Kommission vom 7. März 2017, mit dem die GE.CO. P. Generale Costruzioni e Progettazioni SpA von der Teilnahme an den Verfahren über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und von den Verfahren über die Gewährung von Zuschüssen aus dem Gesamthaushalt der Europäischen Union sowie von der Teilnahme an den Verfahren zur Gewährung von Mitteln im Rahmen der Verordnung (EU) 2015/323 des Rates vom 2. März 2015 über die Finanzregelung für den 11. Europäischen Entwicklungsfonds (ABl. 2015, L 58, S. 17) ausgeschlossen und die Veröffentlichung dieses Ausschlusses auf der Internet-Seite der Kommission angeordnet wird, wird für nichtig erklärt.

 

2.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

 

3.

Die Kommission trägt die Kosten.

 

Frimodt Nielsen

Kreuschitz

Półtorak

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 7. Dezember 2018.

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

( 1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.