URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

6. Februar 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Verordnungen (EG) Nr. 44/2001 und (EG) Nr. 1346/2000 – Jeweilige Anwendungsbereiche – Konkurs eines Gerichtsvollziehers – Klage des mit der Verwaltung und der Abwicklung des Konkurses beauftragten Konkursverwalters“

In der Rechtssache C‑535/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 8. September 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 11. September 2017, in dem Verfahren

NK, Konkursverwalter der PI Gerechtsdeurwaarderskantoor BV und von PI,

gegen

BNP Paribas Fortis NV

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter A. Arabadjiev, E. Regan, C. G. Fernlund und S. Rodin,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von NK, Konkursverwalter der PI Gerechtsdeurwaarderskantoor BV und von PI, vertreten durch B. I. Kraaipoel, T. V. J. Bil, P. M. Veder und R. J. M. C. Rosbeek, advocaten,

der BNP Paribas Fortis NV, vertreten durch F. E. Vermeulen und R. J. van Galen, advocaten,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo und P. Lacerda als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und M. Heller als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Oktober 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1), Art. 4 Abs. 1 und Art. 13 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. 2000, L 160, S. 1) und Art. 17 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“) (ABl. 2007, L 199, S. 40).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NK in seiner Eigenschaft als Konkursverwalter der PI Gerechtsdeurwaarderskantoor BV und von PI (im Folgenden: Verwalter) und der BNP Paribas Fortis NV (im Folgenden: Fortis) über die vom Verwalter im Rahmen der in Belgien eröffneten Konkursverfahren veranlasste Beitreibung eines Betrags, der von einem der Konkursschuldner unrechtmäßig von einem Konto bei Fortis in Belgien abgehoben wurde.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung Nr. 1346/2000

3

Die Erwägungsgründe 4, 6, 7 und 23 der Verordnung Nr. 1346/2000 lauten:

„(4)

Im Interesse eines ordnungsgemäßen Funktionierens des Binnenmarktes muss verhindert werden, dass es für die Parteien vorteilhafter ist, Vermögensgegenstände oder Rechtsstreitigkeiten von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu verlagern, um auf diese Weise eine verbesserte Rechtsstellung anzustreben (sog. ‚forum shopping‘).

(6)

Gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sollte sich diese Verordnung auf Vorschriften beschränken, die die Zuständigkeit für die Eröffnung von Insolvenzverfahren und für Entscheidungen regeln, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in engem Zusammenhang damit stehen. Darüber hinaus sollte diese Verordnung Vorschriften hinsichtlich der Anerkennung solcher Entscheidungen und hinsichtlich des anwendbaren Rechts, die ebenfalls diesem Grundsatz genügen, enthalten.

(7)

Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren sind vom Anwendungsbereich des … Übereinkommens [vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der durch das Abkommen vom 29. November 1996 über den Beitritt der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden (ABl. 1997, C 15, S. 1) geänderten Fassung] ausgenommen.

(23)

Diese Verordnung sollte für den Insolvenzbereich einheitliche Kollisionsnormen formulieren, die die Vorschriften des internationalen Privatrechts der einzelnen Staaten ersetzen. Soweit nichts anderes bestimmt ist, sollte das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung (lex concursus) Anwendung finden. Diese Kollisionsnorm sollte für Hauptinsolvenzverfahren und Partikularverfahren gleichermaßen gelten. Die lex concursus regelt alle verfahrensrechtlichen wie materiellen Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf die davon betroffenen Personen und Rechtsverhältnisse; nach ihr bestimmen sich alle Voraussetzungen für die Eröffnung, Abwicklung und Beendigung des Insolvenzverfahrens.“

4

Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist.“

5

Art. 4 der Verordnung sieht vor:

„(1)   Soweit diese Verordnung nichts anderes bestimmt, gilt für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wird, nachstehend ‚Staat der Verfahrenseröffnung‘ genannt.

(2)   Das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung regelt, unter welchen Voraussetzungen das Insolvenzverfahren eröffnet wird und wie es durchzuführen und zu beenden ist. Es regelt insbesondere:

c)

die jeweiligen Befugnisse des Schuldners und des Verwalters;

e)

wie sich das Insolvenzverfahren auf laufende Verträge des Schuldners auswirkt;

f)

wie sich die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger auswirkt; ausgenommen sind die Wirkungen auf anhängige Rechtsstreitigkeiten;

h)

die Anmeldung, die Prüfung und die Feststellung der Forderungen;

m)

welche Rechtshandlungen nichtig, anfechtbar oder relativ unwirksam sind, weil sie die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen.“

6

Art. 13 der Verordnung bestimmt:

„Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe m) findet keine Anwendung, wenn die Person, die durch eine die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligende Handlung begünstigt wurde, nachweist,

dass für diese Handlung das Recht eines anderen Mitgliedstaats als des Staates der Verfahrenseröffnung maßgeblich ist und

dass in diesem Fall diese Handlung in keiner Weise nach diesem Recht angreifbar ist.“

Verordnung Nr. 44/2001

7

In Art. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 heißt es zum Anwendungsbereich dieser Verordnung:

„(1)   Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.

(2)   Sie ist nicht anzuwenden auf:

a)

den Personenstand, die Rechts- und Handlungsfähigkeit sowie die gesetzliche Vertretung von natürlichen Personen, die ehelichen Güterstände, das Gebiet des Erbrechts einschließlich des Testamentsrechts;

b)

Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren;

c)

die soziale Sicherheit;

d)

die Schiedsgerichtsbarkeit.

…“

Verordnung Nr. 864/2007

8

Art. 17 der Verordnung Nr. 864/2007 lautet:

„Bei der Beurteilung des Verhaltens der Person, deren Haftung geltend gemacht wird, sind faktisch und soweit angemessen die Sicherheits- und Verhaltensregeln zu berücksichtigen, die an dem Ort und zu dem Zeitpunkt des haftungsbegründenden Ereignisses in Kraft sind.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

9

PI war von 2002 bis zu seiner Amtsenthebung im Dezember 2008 Gerichtsvollzieher. Für die Zwecke seines Gerichtsvollzieherbüros unterhielt er bei Fortis in Belgien ein Girokonto. Auf dieses Konto hatten die von ihm zur Beitreibung ihrer Schulden in Anspruch genommenen Personen Zahlungen zu leisten.

10

Im Jahr 2006 gründete PI die PI Gerechtsdeurwaarderskantoor BV (im Folgenden: PI.BV), eine Gesellschaft niederländischen Rechts, deren alleiniger Anteilseigner und Geschäftsführer er war. Zweck der Gesellschaft war der Betrieb des Gerichtsvollzieherbüros von PI, der in die PI.BV das Vermögen des Gerichtsvollzieherbüros einschließlich des Girokontos bei Fortis einbrachte. Die PI.BV unterhielt auch ein Anderkonto bei einer anderen, in den Niederlanden ansässigen Bank, auf dem die Gelder von etwa 200 Kunden des Büros lagen.

11

Im Zeitraum vom 23. bis zum 26. September 2008 überwies PI per Onlinebanking einen Betrag von insgesamt 550000 Euro von diesem Anderkonto auf das Konto bei Fortis. Einige Tage später, zwischen dem 1. und dem 3. Oktober 2008, hob er 550000 Euro in bar von dem Girokonto bei Fortis ab. Diese Handlung wurde als Veruntreuung von Geldern eingestuft, und PI wurde dafür zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

12

Am 23. Juni 2009 meldete die PI.BV und am 2. März 2010 PI persönlich Konkurs an.

13

Im Rahmen der Konkursverfahren erhob der Verwalter bei der Rechtbank Maastricht (Gericht Maastricht, Niederlande) eine Klage auf Verurteilung von Fortis zur Zahlung von 550000 Euro. Diese Klage begründete er damit, dass Fortis der Gläubigergemeinschaft der PI.BV und von PI gegenüber hafte, weil sie vorbehaltlos und unter Verstoß gegen ihre gesetzlichen Verpflichtungen an den von PI vorgenommenen Barabhebungen mitgewirkt habe, wodurch den Gläubigern der beiden Konkursmassen ein Schaden entstanden sei.

14

Die Rechtbank Maastricht (Gericht Maastricht) bejahte mit Zwischenurteil ihre Zuständigkeit für die Entscheidung über die Klage des Verwalters. Diese Entscheidung wurde vom Gerechtshof ’s‑Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch, Niederlande) durch Zwischenurteil vom 4. Juni 2013 mit der Begründung bestätigt, dass die Klage des Verwalters auf den Konkursen von PI und der PI.BV beruhe und daher in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1346/2000 falle.

15

In diesem Zusammenhang verurteilte die Rechtbank Maastricht (Gericht Maastricht) Fortis wegen Benachteiligung der Gläubiger zur Zahlung von 550000 Euro.

16

In der Berufungsinstanz erging am 16. Februar 2016 ein Zwischenurteil des Gerechtshof ’s‑Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch), in dem dieser feststellte, dass er die Frage der Zuständigkeit der niederländischen Gerichte grundsätzlich nicht erneut prüfen könne, da er hierüber bereits in seinem Zwischenurteil vom 4. Juni 2013 entschieden habe. Er wies in diesem Zwischenurteil vom 16. Februar 2016 allerdings darauf hin, dass sich aus den Urteilen des Gerichtshofs vom 4. September 2014, Nickel & Goeldner Spedition (C‑157/13, EU:C:2014:2145), und vom 11. Juni 2015, Comité d’entreprise de Nortel Networks u. a. (C‑649/13, EU:C:2015:384), ergebe, dass das Vorbringen von Fortis, die Entscheidung über die Zuständigkeit der niederländischen Gerichte im Zwischenurteil vom 4. Juni 2013 sei falsch, a priori begründet sei, und ließ daher insoweit eine Kassationsbeschwerde zu.

17

Der Gerechtshof ’s‑Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch) führte weiter aus, dass die vom Verwalter gegen Fortis erhobene Klage eine sogenannte „Peeters/Gatzen“-Klage sei, deren Grundsätze vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) in einem Urteil vom 14. Januar 1983 formuliert worden seien. Mit einer solchen Peeters/Gatzen-Klage könne der Verwalter unter bestimmten Umständen deliktische oder quasi-deliktische Ansprüche gegen einen an der Benachteiligung der Gläubigergemeinschaft beteiligten Dritten geltend machen, und zwar auch dann, wenn der Konkursschuldner selbst keinen solchen Anspruch habe. Nach dieser Rechtsprechung komme der Erlös dieser vom Verwalter im Interesse aller Gläubiger erhobenen Klage der Masse zugute.

18

Der Verwalter legte beim vorlegenden Gericht, dem Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande), Kassationsbeschwerde gegen das Urteil des Gerechtshof ’s‑Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch) vom 16. Februar 2016 ein. Fortis legte Anschlusskassationsbeschwerde gegen das Urteil ein, mit der sie u. a. rügte, dass sich der Gerechtshof ’s‑Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch) aufgrund der Verordnung Nr. 1346/2000 für zuständig erklärt habe, um über die Klage des Verwalters zu befinden.

19

Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass begründete Zweifel hinsichtlich der Frage bestünden, ob eine Peeters/Gatzen-Klage als eine Klage anzusehen sei, die ausschließlich den Sonderregeln für Konkursverfahren unterliege und deshalb nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 44/2001 falle.

20

Fraglich sei auch, ob für die Bestimmung des auf die Klage anwendbaren Rechts immer darauf abzustellen sei, wie die Klage im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung eingestuft werde, so dass gemäß Art. 4 der Verordnung Nr. 1346/2000 stets ein Gleichlauf zwischen der Zuständigkeit und dem anwendbaren Recht bestehe.

21

Schließlich möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass das anwendbare materielle und folglich auf die Peeters/Gatzen-Klage anwendbare Recht das niederländische ist, wissen, ob bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit einer bestimmten Handlung – entsprechend Art. 17 der Verordnung Nr. 864/2007 in Verbindung mit Art. 13 der Verordnung Nr. 1346/2000 – trotzdem die am Ort der behaupteten unerlaubten Handlung geltenden Sicherheits- und Verhaltensregeln, wie finanzielle Verhaltensregeln für Banken, zu berücksichtigen sind.

22

Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Fällt eine Schadensersatzklage, die ein Verwalter aufgrund seines nach Art. 68 Abs. 1 der Insolvenzordnung bestehenden Auftrags zur Verwaltung und Liquidation der Konkursmasse im Namen der Gesamtheit der Gläubiger des Konkursschuldners gegen einen Dritten erhebt, weil dieser Dritte den Gläubigern gegenüber rechtswidrig gehandelt hat, und deren Erlös im Erfolgsfall der Masse zufließt, unter die Ausnahme in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 44/2001?

2.

Sofern die erste Frage bejaht wird und die betreffende Klage mithin von der Verordnung Nr. 1346/2000 erfasst wird: Gilt für diese Klage dann gemäß Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung – sowohl in Bezug auf die Befugnis des Verwalters zur Klageerhebung als auch in Bezug auf das anwendbare materielle Recht – das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wurde?

3.

Sofern die zweite Frage bejaht wird: Haben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, in diesem Fall – gegebenenfalls entsprechend – zu berücksichtigen:

a)

die Bestimmungen von Art. 13 der Verordnung Nr. 1346/2000, in dem Sinne, dass sich die in Anspruch genommene Partei gegen eine Klage des Verwalters zugunsten der Gesamtheit der Gläubiger zur Wehr setzen kann, indem sie nachweist, dass ihr Verhalten – nach dem Recht beurteilt, das für die Klage gegolten hätte, wenn sie nicht vom Verwalter, sondern von einem einzelnen Gläubiger wegen unerlaubter Handlung in Anspruch genommen worden wäre – nicht zur Haftung führt;

b)

die Bestimmungen von Art. 17 der Verordnung Nr. 864/2007 in Verbindung mit Art. 13 der Verordnung Nr. 1346/2000, d. h. mit den am Ort der behaupteten unerlaubten Handlung geltenden Sicherheits- und Verhaltensregeln, etwa finanziellen Verhaltensregeln für Banken?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

23

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass eine Klage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, der ein Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung oder einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, zugrunde liegt, die vom Insolvenzverwalter im Rahmen eines Insolvenzverfahrens erhoben wird und deren Erlös im Erfolgsfall der Gläubigergemeinschaft zufließt, unter den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne von Abs. 1 dieser Bestimmung und damit in den materiellen Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.

24

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, aufbauend u. a. auf den vorbereitenden Materialien zum Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen), das durch die Verordnung Nr. 44/2001 ersetzt wurde, entschieden hat, dass diese Verordnung und die Verordnung Nr. 1346/2000 so auszulegen sind, dass jede Regelungslücke und Überschneidung zwischen den in diesen Verordnungen enthaltenen Rechtsvorschriften vermieden wird. Dementsprechend fallen die Klagen, die nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 44/2001 von deren Anwendungsbereich ausgeschlossen sind, weil sie unter „Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren“ einzuordnen sind, in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1346/2000. Umgekehrt fallen die Klagen, die nicht in den Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 fallen, in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 44/2001 (Urteil vom 9. November 2017, Tünkers France und Tünkers Maschinenbau, C‑641/16, EU:C:2017:847, Rn. 17).

25

Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, dass der Unionsgesetzgeber, wie u. a. aus dem siebten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 hervorgeht, die Absicht hatte, den in Art. 1 Abs. 1 dieser Verordnung enthaltenen Begriff „Zivil- und Handelssachen“ und damit den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 44/2001 weit zu fassen. Demgegenüber darf der Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1346/2000 nach ihrem sechsten Erwägungsgrund nicht weit ausgelegt werden (Urteil vom 9. November 2017, Tünkers France und Tünkers Maschinenbau, C‑641/16, EU:C:2017:847, Rn. 18).

26

Der Gerichtshof hat entschieden, dass nur Klagen, die sich unmittelbar aus einem Insolvenzverfahren herleiten und in engem Zusammenhang damit stehen, vom Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens und danach der Verordnung Nr. 44/2001 ausgenommen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Februar 1979, Gourdain, 133/78, EU:C:1979:49, Rn. 4, und vom 19. April 2012, F‑Tex, C‑213/10, EU:C:2012:215, Rn. 22 und 24). Demnach fallen nur diese so charakterisierten Klagen in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1346/2000 (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, Tünkers France und Tünkers Maschinenbau, C‑641/16, EU:C:2017:847, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Zudem wurde eben dieses Kriterium, wie es in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung des Brüsseler Übereinkommens entwickelt wurde, in den sechsten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1346/2000 übernommen, um deren Gegenstand einzugrenzen, und auch in der – zeitlich nicht auf die vorliegende Rechtssache anwendbaren – Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. 2015, L 141, S. 19) bestätigt, nach deren Art. 6 die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, für alle Klagen zuständig sind, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen.

28

Das für den Gerichtshof ausschlaggebende Kriterium zur Bestimmung des Gebiets, dem eine Klage zuzurechnen ist, ist nicht der prozessuale Kontext, in dem diese Klage steht, sondern deren Rechtsgrundlage. Nach diesem Ansatz ist zu prüfen, ob der der Klage zugrunde liegende Anspruch oder die Verpflichtung den allgemeinen Regeln des Zivil- und Handelsrechts entspringt oder aber den abweichenden Sonderregeln für Insolvenzverfahren (Urteile vom 4. September 2014, Nickel & Goeldner Spedition, C‑157/13, EU:C:2014:2145, Rn. 27, vom 9. November 2017, Tünkers France und Tünkers Maschinenbau, C‑641/16, EU:C:2017:847, Rn. 22, und vom 20. Dezember 2017, Valach u. a., C‑649/16, EU:C:2017:986, Rn. 29).

29

Zum einen führt nämlich die Tatsache, dass eine Klage nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens von dem im Rahmen dieses Verfahrens bestimmten Insolvenzverwalter erhoben wurde und dass dieser im Interesse der Gläubiger handelt, nicht zu einer wesentlichen Änderung der Art dieser Klage, die von einem Insolvenzverfahren unabhängig ist und materiell-rechtlich weiterhin dem allgemeinen Recht unterliegt (vgl. entsprechend Urteile vom 10. September 2009, German Graphics Graphische Maschinen, C‑292/08, EU:C:2009:544, Rn. 31 und 33, sowie vom 4. September 2014, Nickel & Goeldner Spedition, C‑157/13, EU:C:2014:2145, Rn. 29).

30

Zum anderen entscheidet sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nach der Enge des Zusammenhangs, der zwischen einer gerichtlichen Klage und dem Insolvenzverfahren besteht, ob der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 44/2001 genannte Ausschluss Anwendung findet (Urteil vom 9. November 2017, Tünkers France und Tünkers Maschinenbau, C‑641/16, EU:C:2017:847, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorabentscheidung zunächst, dass die Peeters/Gatzen-Klage, die der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) erstmals mit Urteil vom 14. Januar 1983 zugelassen hat, vom Insolvenzverwalter im Interesse aller Gläubiger im Rahmen seiner durch die nationalen konkursrechtlichen Vorschriften festgelegten allgemeinen Aufgabe, die Masse zu verwalten und zu verwerten, erhoben werden kann. Zudem fließt der Erlös dieser Klage, für den Fall, dass ihr stattgegeben wird, zugunsten aller Gläubiger in die Masse ein, um gemäß den Regelungen des Verwertungsplans verteilt zu werden. Ferner ist zur Entscheidung über eine solche, während des Insolvenzverfahrens erhobene Klage zum einen die individuelle Lage der einzelnen Gläubiger nicht zu prüfen. Zum anderen kann der Dritte, gegen den sich die Klage richtet, dem Verwalter keine Verteidigungsmittel entgegenhalten, die ihm gegen die einzelnen Gläubiger zustehen würden.

32

Die in der vorstehenden Randnummer angeführten Merkmale der Peeters/Gatzen-Klage gehören allerdings zum prozessualen Kontext, in dem diese Klage steht. Wird eine solche Klage während eines Insolvenzverfahrens erhoben, wird sie nämlich vom Insolvenzverwalter im Rahmen seiner Aufgabe, die Masse zu verwalten und zu verwerten, entsprechend den nationalen konkursrechtlichen Vorschriften im Interesse aller Gläubiger erhoben, und ihr Erlös fließt folglich der Masse zu.

33

Sodann handelt es sich nach den Angaben in der dem Gerichtshof vorliegenden Akte bei der Klage des Verwalters gegen Fortis um eine Klage, die auf einen Anspruch aus unerlaubter Handlung oder einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, gestützt ist. Die Klage ist somit darauf gerichtet, dass Fortis verurteilt wird, weil sie gegen ihre Überwachungspflichten verstoßen haben soll, die sie dazu hätten veranlassen müssen, die Barabhebungen von PI in Höhe von 550000 Euro, die nach Ansicht des Verwalters die Gläubiger benachteiligten, zu verweigern.

34

In Anbetracht dieser Gesichtspunkte hat eine solche Klage daher ihre Grundlage in den allgemeinen Regeln des Zivil- und Handelsrechts und nicht in den abweichenden Sonderregeln für Insolvenzverfahren.

35

Schließlich ist, auch wenn sich im Ausgangsverfahren ein Zusammenhang mit dem Konkursverfahren nicht in Abrede stellen lässt, da es sich um eine Klage des Verwalters im Interesse der Gläubiger handelt, gleichwohl festzustellen, dass eine solche Klage – wie sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt – auch von den Gläubigern individuell erhoben werden kann, sei es vor, während oder nach dem Konkursverfahren.

36

Unter diesen Umständen kann, wie der Generalanwalt in Nr. 68 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, eine Klage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die zum einen vom Gläubiger selbst erhoben werden kann, so dass sie nicht in die ausschließliche Zuständigkeit des Insolvenzverwalters fällt, und zum anderen von der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens unabhängig ist, nicht als unmittelbare und untrennbare Folge eines solchen Verfahrens angesehen werden.

37

Daher ist davon auszugehen, dass eine solche Klage ihre Grundlage nicht in den abweichenden Sonderregeln für Insolvenzverfahren, sondern vielmehr in den allgemeinen Regeln des Zivil- und Handelsrechts hat und damit nicht vom Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 44/2001 ausgenommen ist.

38

In Anbetracht dieser Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass eine Klage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, der ein Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung oder einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, zugrunde liegt, die vom Insolvenzverwalter im Rahmen eines Insolvenzverfahrens erhoben wird und deren Erlös im Erfolgsfall der Gläubigergemeinschaft zufließt, unter den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne von Abs. 1 dieser Bestimmung und damit in den materiellen Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.

Zur zweiten und zur dritten Frage

39

Da die zweite und die dritte Frage nur für den Fall gestellt wurden, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, dass eine Klage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende unter den in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 44/2001 vorgesehenen Ausschluss fällt, sind sie nicht zu beantworten.

Kosten

40

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass eine Klage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, der ein Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung oder einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, zugrunde liegt, die vom Insolvenzverwalter im Rahmen eines Insolvenzverfahrens erhoben wird und deren Erlös im Erfolgsfall der Gläubigergemeinschaft zufließt, unter den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne von Abs. 1 dieser Bestimmung und damit in den materiellen Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.