URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

16. Januar 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Drittstaatsangehöriger, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält – Gefahr für die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 6 Abs. 2 – Rückkehrentscheidung – Verbot der Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten – Ausschreibung zur Verweigerung der Einreise in den Schengen‑Raum – Drittstaatsangehöriger, der über einen von einem anderen Mitgliedstaat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 25 Abs. 2 – Konsultationsverfahren zwischen dem ausschreibenden Mitgliedstaat und dem Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel erteilt hat – Frist – Keine Stellungnahme des konsultierten Vertragsstaats – Folgen für die Vollziehung der Rückkehrentscheidung und des Einreiseverbots“

In der Rechtssache C‑240/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht, Finnland) mit Entscheidung vom 2. Mai 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Mai 2017, in dem Verfahren

E

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça sowie der Richter E. Levits (Berichterstatter) und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger und des Richters F. Biltgen,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. November 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von E, vertreten durch J. Dunder, asianajaja,

des Maahanmuuttovirasto, vertreten durch P. Lindroos als Bevollmächtigten,

der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski als Bevollmächtigten,

der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und C. Van Lul als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und D. Klebs als Bevollmächtigte,

der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García als Bevollmächtigten,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, G. Wils und I. Koskinen als Bevollmächtigte,

der schweizerischen Regierung, vertreten durch E. Bichet als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. Dezember 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 25 Abs. 2 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux‑Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: SDÜ).

2

Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens betreffend E, einen nigerianischen Staatsangehörigen, zu der Entscheidung des Maahanmuuttovirasto (Immigrationsamt, Finnland) vom 21. Januar 2015, E in sein Herkunftsland auszuweisen und ihm die Einreise in den gesamten Schengen-Raum zu verbieten.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

SDÜ

3

Art. 21 des SDÜ in der durch die Verordnung (EU) Nr. 265/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. März 2010 zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 in Bezug auf den Verkehr von Personen mit einem Visum für den längerfristigen Aufenthalt (ABl. 2010, L 85, S. 1) und die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen, [der] Verordnungen (EG) Nr. 1683/95 und (EG) Nr. 539/2001 des Rates sowie [der] Verordnungen (EG) Nr. 767/2008 und (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung lautet:

„(1)   Drittausländer, die Inhaber eines gültigen, von einem der Mitgliedstaaten ausgestellten Aufenthaltstitels sind, können sich aufgrund dieses Dokuments und eines gültigen Reisedokuments bis zu 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen frei im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten bewegen, sofern sie die in Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a, c und e der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen und nicht auf der nationalen Ausschreibungsliste des betroffenen Mitgliedstaats stehen.

(2)   Das Gleiche gilt für Drittausländer, die Inhaber eines von einer der Vertragsparteien ausgestellten vorläufigen Aufenthaltstitels und eines von dieser Vertragspartei ausgestellten Reisedokuments sind.

…“

4

In Art. 23 des SDÜ heißt es:

„(1)   Der Drittausländer, der die im Hoheitsgebiet einer der Vertragsparteien geltenden Voraussetzungen für einen kurzen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllt, hat grundsätzlich unverzüglich das Hoheitsgebiet der Vertragsparteien zu verlassen.

(2)   Verfügt der Drittausländer über eine von einer anderen Vertragspartei ausgestellte gültige Aufenthaltserlaubnis oder über einen von einer anderen Vertragspartei ausgestellten vorläufigen Aufenthaltstitel, so hat er sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieser Vertragspartei zu begeben.

(3)   Soweit die freiwillige Ausreise eines solchen Drittausländers nicht erfolgt oder angenommen werden kann, dass diese Ausreise nicht erfolgen wird, oder soweit die sofortige Ausreise des Drittausländers aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung geboten ist, muss der Drittausländer nach Maßgabe des nationalen Rechts aus dem Hoheitsgebiet der Vertragspartei abgeschoben werden, in dem er aufgegriffen wurde. …

(4)   Der betroffene Drittausländer kann in seinen Herkunftsstaat oder in einen anderen Staat, in dem seine Zulassung insbesondere nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen der zwischen den Vertragsparteien geschlossenen Rückübernahmeabkommen möglich ist, abgeschoben werden.

…“

5

Art. 25 des SDÜ in der durch die Verordnung Nr. 265/2010 geänderten Fassung bestimmt:

„(1)   Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, einen Aufenthaltstitel zu erteilen, so ruft er systematisch die Daten im Schengener Informationssystem ab. Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, einem zur Einreiseverweigerung ausgeschriebenen Drittausländer einen Aufenthaltstitel zu erteilen, so konsultiert er vorab den ausschreibenden Mitgliedstaat und berücksichtigt dessen Interessen; der Aufenthaltstitel wird nur bei Vorliegen gewichtiger Gründe erteilt, insbesondere aus humanitären Gründen oder aufgrund internationaler Verpflichtungen.

Wird der Aufenthaltstitel erteilt, so zieht der ausschreibende Mitgliedstaat die Ausschreibung zurück, wobei es ihm unbenommen bleibt, den betroffenen Drittausländer in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.

(1a)   Vor einer Ausschreibung zum Zwecke der Einreiseverweigerung im Sinne von Artikel 96 prüfen die Mitgliedstaaten ihre nationalen Register von erteilten Visa für den längerfristigen Aufenthalt oder Aufenthaltstiteln.

(2)   Stellt sich heraus, dass der Drittausländer, der über einen von einer der Vertragsparteien erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, zum Zwecke der Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist, konsultiert die ausschreibende Vertragspartei die Vertragspartei, die den Aufenthaltstitel erteilt hat, um zu prüfen, ob ausreichende Gründe für die Einziehung des Aufenthaltstitels vorliegen.

Wird der Aufenthaltstitel nicht eingezogen, so zieht die ausschreibende Vertragspartei die Ausschreibung zurück, wobei es ihr unbenommen bleibt, den betroffenen Drittausländer in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.

(3)   Die Absätze 1 und 2 finden auch auf Visa für den längerfristigen Aufenthalt Anwendung.“

6

Art. 96 des SDÜ sieht vor:

„(1)   Die Daten bezüglich Drittausländern, die zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sind, werden aufgrund einer nationalen Ausschreibung gespeichert, die auf Entscheidungen der zuständigen Verwaltungsbehörden und Gerichte beruht, wobei die Verfahrensregeln des nationalen Rechts zu beachten sind.

(2)   Die Entscheidungen können auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die nationale Sicherheit, die die Anwesenheit eines Drittausländers auf dem Hoheitsgebiet der Vertragspartei bedeutet, gestützt werden.

Dies kann insbesondere der Fall sein

a)

bei einem Drittausländer, der wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist;

…“

Richtlinie 2008/115/EG

7

Der 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) sieht vor:

„Die Wirkung der einzelstaatlichen Rückführungsmaßnahmen sollte durch die Einführung eines Einreiseverbots, das die Einreise in das Hoheitsgebiet sämtlicher Mitgliedstaaten und den dortigen Aufenthalt verbietet, europäischen Zuschnitt erhalten …“

8

In Art. 3 der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

3.

‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

deren Herkunftsland oder

ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

4.

‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

5.

‚Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat;

6.

‚Einreiseverbot‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht;

8.

‚freiwillige Ausreise‘: die Erfüllung der Rückkehrverpflichtung innerhalb der dafür in der Rückkehrentscheidung festgesetzten Frist;

…“

9

Art. 6 dieser Richtlinie, der Rückkehrentscheidungen betrifft, mit denen ein illegaler Aufenthalt beendet wird, sieht vor:

„(1)   Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

(2)   Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, sind zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet Absatz 1 Anwendung.

…“

10

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„Eine Rückkehrentscheidung sieht … eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor …“

11

In Art. 8 der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„(1)   Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.

(2)   Hat ein Mitgliedstaat eine Frist für die freiwillige Ausreise gemäß Artikel 7 eingeräumt, so kann die Rückkehrentscheidung erst nach Ablauf dieser Frist vollstreckt werden, es sei denn, innerhalb dieser Frist entsteht eine der Gefahren im Sinne von Artikel 7 Absatz 4.

(3)   Die Mitgliedstaaten können eine getrennte behördliche oder gerichtliche Entscheidung oder Maßnahme erlassen, mit der die Abschiebung angeordnet wird.

…“

12

Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„Rückkehrentscheidungen gehen mit einem Einreiseverbot einher,

a)

falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder

b)

falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde.

In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen.“

13

Art. 21 der Richtlinie 2008/115 regelt das Verhältnis zwischen dieser Richtlinie und dem SDÜ und bestimmt insoweit, dass die Richtlinie 2008/115 u. a. Art. 23 des SDÜ ersetzt.

Verordnung (EG) Nr. 1987/2006

14

Art. 24 der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II) (ABl. 2006, L 381, S. 4) bestimmt:

„1.   Die Daten zu Drittstaatsangehörigen, die zur Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung ausgeschrieben sind, werden aufgrund einer nationalen Ausschreibung eingegeben, die auf einer Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörden oder Gerichte beruht, wobei die Verfahrensregeln des nationalen Rechts zu beachten sind; diese Entscheidung darf nur auf der Grundlage einer individuellen Bewertung ergehen. Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidungen richten sich nach den nationalen Rechtsvorschriften.

2.   Eine Ausschreibung wird eingegeben, wenn die Entscheidung nach Absatz 1 auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder die nationale Sicherheit gestützt wird, die die Anwesenheit des betreffenden Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats darstellt. Dies ist insbesondere der Fall

a)

bei einem Drittstaatsangehörigen, der in einem Mitgliedstaat wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist;

3.   Eine Ausschreibung kann auch eingegeben werden, wenn die Entscheidung nach Absatz 1 darauf beruht, dass der Drittstaatsangehörige ausgewiesen, zurückgewiesen oder abgeschoben worden ist, wobei die Maßnahme nicht aufgehoben oder ausgesetzt worden sein darf, ein Verbot der Einreise oder gegebenenfalls ein Verbot des Aufenthalts enthalten oder davon begleitet sein muss und auf der Nichtbeachtung der nationalen Rechtsvorschriften über die Einreise oder den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen beruhen muss.

…“

Finnisches Recht

15

Voraussetzung für die Einreise eines Ausländers nach Finnland ist nach § 11 Abs. 1 Nr. 5 des Ulkomaalaislaki 301/2004 (Ausländergesetz), dass dieser nicht als Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die Gesundheit der Bevölkerung oder die internationalen Beziehungen Finnlands anzusehen ist.

16

Nach § 149b dieses Gesetzes ist ein Drittstaatsangehöriger, der sich illegal im Inland aufhält oder dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels abgelehnt wurde und der Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union ist, zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommt der Drittstaatsangehörige dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist seine sofortige Ausreise aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, wird seine Abschiebung angeordnet.

17

Nach § 150 Abs. 1 des Ausländergesetzes kann eine Ausweisungsverfügung mit einem Einreiseverbot versehen werden. Ein Einreiseverbot wird verhängt, wenn keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde. Dies ist der Fall, wenn die betreffende Person als Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung angesehen wird.

18

Des Weiteren kann nach § 150 Abs. 2 dieses Gesetzes gegen einen Ausländer, der wegen einer schweren Straftat strafrechtlich verurteilt wurde, ein Einreiseverbot bis auf Weiteres verhängt werden, wenn er eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellt.

19

Nach § 150 Abs. 3 des Ausländergesetzes wird ein nationales Einreiseverbot verhängt, wenn der Ausländer über einen Aufenthaltstitel für einen anderen Schengen-Staat verfügt, der nicht eingezogen wird.

20

Nach § 146 Abs. 1 des Ausländergesetzes sind bei der Entscheidung über eine Ausweisung sowie über die Verhängung eines Einreiseverbots und dessen Dauer die dieser Entscheidung zugrunde liegenden Umstände in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen, zumindest die Dauer und der Zweck des Aufenthalts des Ausländers im Inland, das Wesen der ihm erteilten Aufenthaltsberechtigung, seine Bindungen zu Finnland sowie seine familiären, kulturellen und sozialen Bindungen zu seinem Heimatland. Liegt einer Ausweisung und dem damit verbundenen Einreiseverbot eine Straftat des Ausländers zugrunde, sind die Schwere der Tat sowie der Nachteil, der Schaden oder die Gefahr, die für die öffentliche Sicherheit oder die Sicherheit des Einzelnen verursacht wurden, zu berücksichtigen.

21

Bei der Entscheidung über die Verhängung und die Dauer eines Einreiseverbots sind nach § 146 Abs. 2 des Ausländergesetzes außerdem die familiären oder beruflichen Bindungen des Ausländers zu Finnland oder einem anderen Schengen-Staat zu berücksichtigen, deren Erhaltung durch ein Einreiseverbot in unangemessener Weise erschwert würde.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

22

E verfügt über einen vom spanischen Staat erteilten Aufenthaltstitel, der bis zum 11. Februar 2018 gültig ist. Er hat 14 Jahre lang in Spanien gelebt, wo er familiäre Bindungen hat.

23

E wurde in Finnland durch rechtskräftiges Urteil vom 24. Januar 2014 wegen verschiedener Verstöße gegen das Betäubungsmittelrecht zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.

24

Mit Bescheid vom 21. Januar 2015 ordnete das Immigrationsamt die Rückkehr des Klägers des Ausgangsverfahrens nach Nigeria an, ohne eine Frist für die Ausreise zu gewähren, und verband diese Entscheidung mit einem bis auf Weiteres geltenden Einreiseverbot für den Schengen-Raum.

25

Das Immigrationsamt begründete seine Entscheidung mit der Gefahr für die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit, die E angesichts der von ihm begangenen Straftaten darstelle.

26

Am 26. Januar 2015 konsultierte das Immigrationsamt gemäß Art. 25 Abs. 2 des SDÜ die zuständigen spanischen Behörden, um zu prüfen, ob diese Gründe für die Einziehung des Aufenthaltstitels, den der spanische Staat dem Kläger des Ausgangsverfahrens erteilt hatte, ausreichend sind.

27

Da die spanischen Behörden nicht antworteten, wiederholte das Immigrationsamt seine Anfrage am 20. Juni 2016. Auf Bitten der spanischen Behörden übermittelte das Immigrationsamt diesen das gegen E ergangene Strafurteil. In der Folge blieben zwei weitere Ersuchen des Immigrationsamts erfolglos.

28

Das vorlegende Gericht, das mit der Frage der Rechtmäßigkeit der Anordnung der Rückkehr des Klägers des Ausgangsverfahrens in sein Herkunftsland und des Einreiseverbots für den Schengen-Raum befasst ist, fragt sich nach den Wirkungen des Konsultationsverfahrens nach Art. 25 Abs. 2 des SDÜ.

29

Zum einen gehe aus dieser Vorschrift nicht genau hervor, inwieweit dieses Verfahren für die Behörden des Mitgliedstaats, der die mit einem Einreiseverbot versehene Rückkehrentscheidung erlassen habe, verpflichtend sei. Zum anderen sei nicht geregelt, wie diese Behörden bei Untätigkeit der Behörden, an die das Konsultationsersuchen gerichtet sei, vorzugehen hätten.

30

Vor diesem Hintergrund hat das Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht, Finnland) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Hat die Konsultationspflicht der Vertragsstaaten im Sinne von Art. 25 Abs. 2 des SDÜ eine Rechtswirkung, auf die sich ein Drittstaatsangehöriger berufen kann, wenn ein Vertragsstaat gegen ihn ein Einreiseverbot für den gesamten Schengen-Raum verhängt und seine Rückkehr in sein Heimatland mit der Begründung anordnet, dass er die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährde?

2.

Wenn Art. 25 Abs. 2 des SDÜ bei der Verhängung eines Einreiseverbots Anwendung findet: Ist die Konsultation vor der Verhängung des Einreiseverbots einzuleiten, oder kann sie erst vorgenommen werden, nachdem die Rückkehrentscheidung und die Verhängung eines Einreiseverbots ergangen ist?

3.

Falls die Konsultation erst vorgenommen werden kann, nachdem die Rückkehrentscheidung und die Verhängung eines Einreiseverbots ergangen ist:

Steht es der Rückkehr eines Drittstaatsangehörigen in sein Heimatland und dem Wirksamwerden eines Einreiseverbots für den gesamten Schengen‑Raum entgegen, dass die Konsultation zwischen den Vertragsstaaten noch läuft und der andere Vertragsstaat nicht mitgeteilt hat, ob er den Aufenthaltstitel des Drittstaatsangehörigen einzuziehen beabsichtigt?

4.

Wie hat ein Vertragsstaat vorzugehen, wenn sich der Vertragsstaat, der den Aufenthaltstitel erteilt hat, trotz wiederholter Bitten nicht zu einer etwaigen Einziehung des Aufenthaltstitels geäußert hat?

Verfahren vor dem Gerichtshof

31

Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Auf ein Klarstellungsersuchen des Gerichtshofs hin hat das Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht) am 2. Juni 2017 präzisiert, dass die gegen E verhängte Freiheitsstrafe mit Wirkung vom 24. Januar 2016 in eine Bewährungsstrafe umgewandelt wurde und dass E seitdem keiner freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen ist. Unter diesen Umständen hat die Fünfte Kammer am 8. Juni 2017 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung der Generalanwältin entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts nicht stattzugeben.

32

Mit Entscheidung vom 12. Juni 2017 hat der Präsident des Gerichtshofs dieser Rechtssache jedoch in Anbetracht der Umstände des Ausgangsverfahrens eine vorrangige Behandlung gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung gewährt.

Zu den Vorlagefragen

Zur zweiten Frage

33

Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 25 Abs. 2 des SDÜ dahin auszulegen ist, dass ein Vertragsstaat, der beabsichtigt, einen Drittstaatsangehörigen, der über einen von einem anderen Vertragsstaat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, abzuschieben und ihm die Einreise und den Aufenthalt im Schengen-Raum zu verbieten, das nach dieser Bestimmung vorgesehene Konsultationsverfahren vor dem Erlass einer mit einem Einreiseverbot versehenen Rückkehrentscheidung gegen diesen Drittstaatsangehörigen einleiten muss oder dieses Verfahren auch nach dem Erlass dieser Entscheidung einleiten kann.

34

Aus dem Wortlaut der meisten Sprachfassungen von Art. 25 Abs. 2 Unterabs. 1 des SDÜ ergibt sich, dass nur dann, wenn ein Drittstaatsangehöriger, der über einen Aufenthaltstitel verfügt, zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem ausgeschrieben ist, der ausschreibende Vertragsstaat verpflichtet ist, den Vertragsstaat, der den Aufenthaltstitel erteilt hat, zu konsultieren.

35

Zudem bestimmt Art. 25 Abs. 2 Unterabs. 2 des SDÜ, dass der ausschreibende Vertragsstaat die Ausschreibung zurückzieht, wenn der Aufenthaltstitel nicht eingezogen wird.

36

Daraus folgt, dass das in Art. 25 Abs. 2 des SDÜ vorgesehene Konsultationsverfahren grundsätzlich erst eingeleitet werden muss, nachdem der betreffende Drittstaatsangehörige zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem ausgeschrieben wurde, d. h. nachdem eine mit einem Einreiseverbot versehene Rückkehrentscheidung gegen ihn ergangen ist.

37

Um die Frage des vorlegenden Gericht umfassend zu beantworten, ist jedoch zu ergänzen, dass Art. 25 Abs. 2 des SDÜ es dem Vertragsstaat, der einen solchen Drittstaatsangehörigen abschieben und ihm die Einreise und den Aufenthalt im Schengen-Raum verbieten möchte, nicht verbietet, das in dieser Bestimmung vorgesehene Konsultationsverfahren noch vor dem Erlass einer mit einem Einreiseverbot versehenen Rückkehrentscheidung einzuleiten.

38

In Anbetracht zum einen des in Art. 25 Abs. 2 des SDÜ angestrebten Ziels, die widersprüchliche Situation zu vermeiden, dass ein Drittstaatsangehöriger über einen von einem Vertragsstaat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt und gleichzeitig zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem ausgeschrieben ist, und zum anderen des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV ist es nämlich wünschenswert, dieses Konsultationsverfahren so früh wie möglich einzuleiten.

39

Daher ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 25 Abs. 2 des SDÜ dahin auszulegen ist, dass es dem Vertragsstaat, der beabsichtigt, eine mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot für den Schengen-Raum versehene Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen zu erlassen, der über einen von einem anderen Vertragsstaat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, zwar freisteht, das in dieser Bestimmung vorgesehene Konsultationsverfahren noch vor dem Erlass der Rückkehrentscheidung einzuleiten, dieses Verfahren jedoch eingeleitet werden muss, sobald eine derartige Entscheidung erlassen wurde.

Zur dritten und zur vierten Frage

40

Mit der dritten und der vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Konsequenzen der Vertragsstaat, der das Konsultationsverfahren nach Art. 25 Abs. 2 des SDÜ eingeleitet hat, aus dem Ausbleiben einer Antwort des konsultierten Vertragsstaats insbesondere hinsichtlich der Vollziehung der Entscheidung, mit der die Rückkehr eines Drittstaatsangehörigen, der über einen von dem konsultierten Vertragsstaat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, angeordnet wird und ein Einreiseverbot für den Schengen-Raum gegen ihn verhängt wird, zu ziehen hat.

41

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das SDÜ, bevor es durch die Verordnung Nr. 562/2006 geändert wurde, u. a. die Voraussetzungen festlegte, die Drittstaatsangehörige erfüllen müssen, um in den Schengen-Raum einzureisen und sich dort weniger als drei Monate aufzuhalten. Aufenthaltstitel für eine Dauer von über 90 Tagen fallen jedoch unbeschadet dieser Einreisevoraussetzungen überwiegend unter das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten. Außerdem berechtigt die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels durch einen Vertragsstaat seinen Inhaber gemäß Art. 21 des SDÜ, sich bis zu drei Monaten frei im Hoheitsgebiet der anderen Vertragsstaaten zu bewegen, soweit er die in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen erfüllt.

42

Die Richtlinie 2008/115 enthält gemäß ihrem Art. 1 gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger anzuwenden sind. Nach dem 14. Erwägungsgrund dieser Richtlinie erhält die Wirkung der einzelstaatlichen Rückführungsmaßnahmen durch die Einführung eines Einreiseverbots, das die Einreise in das Hoheitsgebiet sämtlicher Mitgliedstaaten und den dortigen Aufenthalt verbietet, europäischen Zuschnitt.

43

Nach alledem wirkt sich jede Entscheidung eines Mitgliedstaats auf dem Gebiet der Einreise und des Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen gemäß der Verordnung Nr. 562/2006 sowie jede von einem Mitgliedstaat gemäß der Richtlinie 2008/115 erlassene Entscheidung, mit der die Rückkehr eines Drittstaatsangehörigen angeordnet und ihm die Einreise verboten wird, auf die anderen Mitgliedstaaten und die anderen Vertragsstaaten des SDÜ aus.

44

In diesem Zusammenhang regelte Art. 23 Abs. 2 und 4 des SDÜ den Fall, dass sich ein Drittstaatsangehöriger illegal im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats aufhält, aber über einen von einem anderen Vertragsstaat erteilten Aufenthaltstitel verfügt. Aus Art. 21 der Richtlinie 2008/115, der die Beziehungen zwischen dieser Richtlinie und diesem Übereinkommen regelt, ergibt sich jedoch, dass der genannte Art. 23 durch die Bestimmungen dieser Richtlinie ersetzt wurde.

45

Hierzu sieht Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 wie Art. 23 Abs. 2 bis 4 des SDÜ vor, dass der Drittstaatsangehörige, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, verpflichtet ist, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu begeben, der ihm einen Aufenthaltstitel erteilt hat. Kommt der Drittstaatsangehörige dieser Verpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, ist eine Rückkehrentscheidung gegen ihn zu erlassen.

46

Wie die Generalanwältin in Nr. 63 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich daraus, dass ein Drittstaatsangehöriger, der über einen von einem anderen Mitgliedstaat erteilten Aufenthaltstitel verfügt, in die Lage versetzt werden muss, in den Mitgliedstaat auszureisen, der ihm den Aufenthaltstitel erteilt hat, statt von vornherein in sein Herkunftsland zurückkehren zu müssen, es sei denn, die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit erfordern dies.

47

Im vorliegenden Fall hält sich E, der über einen vom spanischen Staat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, illegal im finnischen Hoheitsgebiet auf. Gegen ihn wurde eine mit einem Einreiseverbot für den gesamten Schengen-Raum versehene Rückkehrentscheidung erlassen, weil die finnischen Behörden ihn als Gefahr für die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit ansahen. Die finnischen Behörden leiteten am 26. Januar 2015 das Konsultationsverfahren nach Art. 25 Abs. 2 des SDÜ ein. Seitdem haben sich die spanischen Behörden noch immer nicht dazu geäußert, ob sie beabsichtigen, den Aufenthaltstitel von E aufrechtzuerhalten oder einzuziehen.

48

Was zum einen die Frage betrifft, ob die finnischen Behörden unter diesen Umständen eine mit einem Einreiseverbot versehene Rückkehrentscheidung gegen E erlassen konnten, ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 selbst, dass sie verpflichtet waren, eine solche Rückkehrentscheidung zu erlassen und sie gemäß Art. 11 dieser Richtlinie mit einem Einreiseverbot zu verbinden, sofern die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit dies gebieten, was allerdings vom nationalen Richter anhand der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu prüfen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O., C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 50 bis 52 und 54).

49

In diesem Fall ist ein Mitgliedstaat gehalten, den Begriff „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ im Sinne der Richtlinie 2008/115 im Einzelfall zu beurteilen, um zu prüfen, ob das persönliche Verhalten des betreffenden Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, wobei der bloße Umstand, dass der Drittstaatsangehörige strafrechtlich verurteilt wurde, für sich genommen nicht ausreicht, um eine solche Gefahr anzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O., C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 50 und 54).

50

Zum anderen ist zu der Frage, ob die finnischen Behörden diese Entscheidung unter den Umständen des Ausgangsverfahrens vollziehen können, festzustellen, dass diese Behörden gemäß Art. 8 der Richtlinie 2008/115 berechtigt sind, die Abschiebung von E unverzüglich vorzunehmen, unbeschadet des Umstands, dass dieser die Rechte aus dem Aufenthaltstitel, den ihm die spanischen Behörden erteilt haben, geltend machen kann, indem er sich später nach Spanien begibt. Dass das Konsultationsverfahren nach Art. 25 Abs. 2 des SDÜ noch läuft, stellt diese Auslegung nicht in Frage.

51

Auch Art. 25 Abs. 2 des SDÜ steht einer Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem nicht entgegen, die erfolgt, während das Konsultationsverfahren nach dieser Bestimmung läuft, wie sich aus Rn. 39 des vorliegenden Urteils ergibt. Art. 25 Abs. 2 Unterabs. 2 sieht allerdings vor, dass die Ausschreibung zurückzuziehen ist, wenn „der Aufenthaltstitel nicht eingezogen“ wird.

52

Art. 25 Abs. 2 des SDÜ soll durch das darin vorgesehene Konsultationsverfahren Situationen verhindern, in denen für ein und denselben Drittstaatsangehörigen gleichzeitig eine von einem Vertragsstaat eingegebene Ausschreibung zur Einreiseverweigerung und ein von einem anderen Vertragsstaat erteilter gültiger Aufenthaltstitel bestehen.

53

Daher sind die Behörden des konsultierten Mitgliedstaats gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet, zu der Aufrechterhaltung oder der Einziehung des Aufenthaltstitels des betreffenden Drittstaatsangehörigen innerhalb einer angemessenen Frist Stellung zu nehmen; diese Frist muss an den Einzelfall angepasst sein, damit den Behörden des konsultierten Mitgliedstaats die für die Sammlung der relevanten Informationen nötige Zeit zur Verfügung steht (vgl. entsprechend Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 97).

54

Im vorliegenden Fall ist offenkundig, dass eine solche Frist von den spanischen Behörden nicht eingehalten wurde. Daher haben die finnischen Behörden mit Verstreichen dieser Frist, solange der fragliche Aufenthaltstitel gültig ist und von den spanischen Behörden nicht formell eingezogen wurde und um zu verhindern, dass eine widersprüchliche Situation, wie in Rn. 52 des vorliegenden Urteils beschrieben, und die Rechtsunsicherheit, die eine solche Situation für den betreffenden Drittstaatsangehörigen bedeutet, fortbestehen, die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung zurückzuziehen und gegebenenfalls den Drittstaatsangehörigen in ihre nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.

55

Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 25 Abs. 2 des SDÜ dahin auszulegen ist, dass er es nicht verbietet, eine mit einem Einreiseverbot versehene Rückkehrentscheidung, die ein Vertragsstaat gegen einen Drittstaatsangehörigen erlässt, der über einen von einem anderen Vertragsstaat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, zu vollziehen, obwohl das in dieser Bestimmung vorgesehene Konsultationsverfahren läuft, sofern der Drittstaatsangehörige von dem ausschreibenden Vertragsstaat als Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit angesehen wird, unbeschadet der Möglichkeit des Drittstaatsangehörigen, die Rechte aus diesem Aufenthaltstitel geltend zu machen, indem er sich später in das Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaats begibt. Ist eine angemessene Frist nach Beginn des Konsultationsverfahrens verstrichen und ist keine Antwort des konsultierten Vertragsstaats eingegangen, ist der ausschreibende Vertragsstaat jedoch verpflichtet, die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung zurückzuziehen und den Drittstaatsangehörigen gegebenenfalls in seine nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.

Zur ersten Frage

56

Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 25 Abs. 2 des SDÜ dahin auszulegen ist, dass sich der Drittstaatsangehörige, der über einen von einem Vertragsstaat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt und gegen den in einem anderen Vertragsstaat eine mit einem Einreiseverbot versehene Rückkehrentscheidung erlassen wurde, vor dem nationalen Richter auf die Rechtswirkungen berufen kann, die sich aus dem in dieser Bestimmung vorgesehenen Konsultationsverfahren ergeben.

57

Zwar regelt diese Bestimmung das Verfahren zwischen den Behörden der Vertragsstaaten, gleichwohl kann sie konkrete Auswirkungen auf die Rechte und Interessen Einzelner haben.

58

Diese Bestimmung sieht nämlich klar, präzise und unbedingt ein Konsultationsverfahren vor, das von einem Vertragsstaat, der die Einreise eines Drittstaatsangehörigen, der über einen von einem anderen Vertragsstaat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, verbieten möchte, zwingend einzuleiten ist. Ist der zweite Staat der Auffassung, dass der von ihm erteilte Aufenthaltstitel aufrechtzuerhalten ist, ergibt sich daraus außerdem eine ebenso klare, präzise und unbedingte Verpflichtung des ersten Staates, die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung zurückzuziehen und gegebenenfalls in eine Ausschreibung in seiner nationalen Liste umzuwandeln.

59

Daher ist ein Einzelner wie E berechtigt, sich vor dem nationalen Richter auf das in Art. 25 Abs. 2 des SDÜ vorgesehene Konsultationsverfahren zu berufen, insbesondere auf die Verpflichtungen des ausschreibenden Staates, dieses Verfahren einzuleiten und – je nach Ergebnis dieses Verfahrens – seine Ausschreibung zur Einreiseverweigerung in den Schengen-Raum zurückzuziehen.

60

Somit ist Art. 25 Abs. 2 des SDÜ dahin auszulegen, dass sich der Drittstaatsangehörige, der über einen von einem Vertragsstaat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt und gegen den in einem anderen Vertragsstaat eine mit einem Einreiseverbot versehene Rückkehrentscheidung erlassen wurde, vor dem nationalen Richter auf die Rechtswirkungen, die sich aus dem von dem ausschreibenden Vertragsstaat einzuleitenden Konsultationsverfahren ergeben, sowie auf die sich daraus ergebenden Verpflichtungen berufen kann.

Kosten

61

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 25 Abs. 2 des am 19. Juni 1990 unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux‑Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen ist dahin auszulegen, dass es dem Vertragsstaat, der beabsichtigt, eine mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot für den Schengen‑Raum versehene Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen zu erlassen, der über einen von einem anderen Vertragsstaat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, zwar freisteht, das in dieser Bestimmung vorgesehene Konsultationsverfahren noch vor dem Erlass der Rückkehrentscheidung einzuleiten, dieses Verfahren jedoch eingeleitet werden muss, sobald eine derartige Entscheidung erlassen wurde.

 

2.

Art. 25 Abs. 2 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen ist dahin auszulegen, dass er es nicht verbietet, eine mit einem Einreiseverbot versehene Rückkehrentscheidung, die ein Vertragsstaat gegen einen Drittstaatsangehörigen erlässt, der über einen von einem anderen Vertragsstaat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, zu vollziehen, obwohl das in dieser Bestimmung vorgesehene Konsultationsverfahren läuft, sofern der Drittstaatsangehörige von dem ausschreibenden Vertragsstaat als Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit angesehen wird, unbeschadet der Möglichkeit des Drittstaatsangehörigen, die Rechte aus diesem Aufenthaltstitel geltend zu machen, indem er sich später in das Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaats begibt. Ist eine angemessene Frist nach Beginn des Konsultationsverfahrens verstrichen und ist keine Antwort des konsultierten Vertragsstaats eingegangen, ist der ausschreibende Vertragsstaat jedoch verpflichtet, die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung zurückzuziehen und den Drittstaatsangehörigen gegebenenfalls in seine nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.

 

3.

Art. 25 Abs. 2 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen ist dahin auszulegen, dass sich der Drittstaatsangehörige, der über einen von einem Vertragsstaat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt und gegen den in einem anderen Vertragsstaat eine mit einem Einreiseverbot versehene Rückkehrentscheidung erlassen wurde, vor dem nationalen Richter auf die Rechtswirkungen, die sich aus dem von dem ausschreibenden Vertragsstaat einzuleitenden Konsultationsverfahren ergeben, sowie auf die sich daraus ergebenden Verpflichtungen berufen kann.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Finnisch.