URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

19. März 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Dublin-System – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Überstellung des Asylbewerbers in den für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat – Begriff ‚Flucht‘ – Modalitäten der Verlängerung der Überstellungsfrist – Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Ernsthaftes Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Abschluss des Asylverfahrens – Lebensverhältnisse der Personen, denen in dem Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist“

In der Rechtssache C‑163/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 15. März 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 3. April 2017, in dem Verfahren

Abubacarr Jawo

gegen

Bundesrepublik Deutschland

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan und F. Biltgen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe und des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász, M. Ilešič (Berichterstatter), J. Malenovský, L. Bay Larsen und D. Šváby,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Mai 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Jawo, vertreten durch die Rechtsanwälte B. Münch und U. Bargon,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, R. Kanitz, M. Henning und V. Thanisch als Bevollmächtigte,

der belgischen Regierung, vertreten durch C. Van Lul und P. Cottin als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Cordi und L. D’Ascia, avvocati dello Stato,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. M. Tátrai, M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer, M. Bulterman, C. S. Schillemans und M. Gijzen als Bevollmächtigte,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon und C. Crane als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, Barrister,

der Schweizer Regierung, vertreten durch E. Bichet als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und C. Ladenburger als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juli 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2, von Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung), und von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Abubacarr Jawo und der Bundesrepublik Deutschland wegen einer Entscheidung, Herrn Jawo nach Italien zu überstellen.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

Art. 3 („Verbot der Folter“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“

Unionsrecht

Charta

4

Art. 1 („Würde des Menschen“) der Charta lautet:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“

5

Art. 4 („Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung“) der Charta lautet:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

6

Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) Abs. 1 der Charta lautet:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.“

7

Art. 51 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Charta bestimmt:

„Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.“

8

Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) Abs. 3 der Charta lautet:

„Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“

Dublin‑III-Verordnung

9

Die Dublin‑III-Verordnung hat die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1, im Folgenden: Dublin‑II-Verordnung) aufgehoben und ersetzt. In den Erwägungsgründen 4, 5, 19, 32 und 39 der Dublin‑III-Verordnung heißt es:

„(4)

Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in] Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(5)

Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.

(19)

Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Artikel 47 der Charta … Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.

(32)

In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Verordnung fallen, sind die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten einschließlich der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden.

(39)

Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta … anerkannt wurden. Diese Verordnung zielt insbesondere darauf ab, sowohl die uneingeschränkte Wahrung des in Artikel 18 der Charta verankerten Rechts auf Asyl als auch die in ihren Artikeln 1, 4, 7, 24 und 47 anerkannten Rechte zu gewährleisten. Diese Verordnung sollte daher in diesem Sinne angewandt werden.“

10

Art. 2 Buchst. n der Dublin‑III-Verordnung definiert „Fluchtgefahr“ als „das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte“.

11

Art. 3 („Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“) der Dublin‑III-Verordnung bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2)   Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der Charta … mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

…“

12

Kapitel VI („Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren“) der Dublin‑III-Verordnung enthält u. a. die Art. 27 und 29 der Verordnung.

13

Art. 27 („Rechtsmittel“) Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung bestimmt:

„Der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d hat das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.“

14

Der der Überstellung von Antragstellern in den zuständigen Mitgliedstaat gewidmete Abschnitt VI von Kapitel VI der Dublin‑III-Verordnung enthält deren Art. 29 („Modalitäten und Fristen“), der vorsieht:

„(1)   Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

Wenn Überstellungen in den zuständigen Mitgliedstaat in Form einer kontrollierten Ausreise oder in Begleitung erfolgen, stellt der Mitgliedstaat sicher, dass sie in humaner Weise und unter uneingeschränkter Wahrung der Grundrechte und der Menschenwürde durchgeführt werden.

(2)   Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.

(4)   Die Kommission legt im Wege von Durchführungsrechtsakten einheitliche Bedingungen für Konsultationen und den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten, insbesondere für den Fall, dass Überstellungen verschoben werden oder nicht fristgerecht erfolgen, für Überstellungen nach stillschweigender Annahme, für Überstellungen Minderjähriger oder abhängiger Personen und für kontrollierte Überstellungen fest. …“

Durchführungsverordnung

15

Die Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 343/2003 (ABl. 2003, L 222, S. 3) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 (ABl. 2014, L 39, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Durchführungsverordnung) enthält die Durchführungsbestimmungen zur Dublin‑II-Verordnung und nunmehr zur Dublin‑III-Verordnung.

16

Kapitel III („Durchführung der Überstellung“) der Durchführungsverordnung enthält u. a. Art. 9 („Verschieben der Überstellung und nicht fristgerechte Überstellungen“) der Verordnung, der bestimmt:

„(1)   Der zuständige Mitgliedstaat wird unverzüglich unterrichtet, wenn sich die Überstellung wegen eines Rechtsbehelfsverfahrens mit aufschiebender Wirkung oder wegen materieller Umstände wie der Gesundheitszustand des Antragstellers, die Nichtverfügbarkeit des Beförderungsmittels oder der Umstand, dass der Antragsteller sich der Überstellung entzogen hat, verzögert.

(1a)   Wurde eine Überstellung auf Ersuchen des überstellenden Mitgliedstaats verschoben, so nehmen der überstellende und der zuständige Mitgliedstaat wieder Kontakt auf, um möglichst bald und nicht später als zwei Wochen ab dem Zeitpunkt, zu dem die Behörden erfahren, dass die Umstände, die die Verzögerung oder Verschiebung verursacht haben, nicht mehr vorliegen, eine neue Überstellung gemäß Artikel 8 zu organisieren. In diesem Fall wird vor der Überstellung ein aktualisiertes Standardformblatt für die Übermittlung von Daten vor einer Überstellung gemäß Anhang VI übermittelt.

(2)   Ein Mitgliedstaat, der aus einem der in Artikel 29 Absatz 2 der [Dublin‑III‑]Verordnung genannten Gründe die Überstellung nicht innerhalb der üblichen Frist von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Annahme des Gesuchs um Aufnahme oder Wiederaufnahme der betroffenen Person oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat, vornehmen kann, unterrichtet den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist. Ansonsten fallen die Zuständigkeit für die Behandlung des Antrags auf internationalen Schutz bzw. die sonstigen Verpflichtungen aus der [Dublin‑III‑] Verordnung gemäß Artikel 29 Absatz 2 der genannten Verordnung dem ersuchenden Mitgliedstaat zu.

…“

Anerkennungsrichtlinie

17

Kapitel VII der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9, im Folgenden: Anerkennungsrichtlinie), das die Art. 20 bis 35 der Richtlinie enthält, legt den Inhalt des internationalen Schutzes fest.

18

Art. 34 („Zugang zu Integrationsmaßnahmen“) der Anerkennungsrichtlinie sieht vor:

„Um die Integration von Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in die Gesellschaft zu erleichtern, gewährleisten die Mitgliedstaaten den Zugang zu Integrationsprogrammen, die sie als den besonderen Bedürfnissen von Personen mit Flüchtlingsstatus oder subsidiärem Schutzstatus angemessen erachten, oder schaffen die erforderlichen Voraussetzungen, die den Zugang zu diesen Programmen garantieren.“

Aufnahmerichtlinie

19

Art. 5 („Information“) der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96, im Folgenden: Aufnahmerichtlinie) sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten unterrichten die Antragsteller innerhalb einer angemessenen Frist von höchstens fünfzehn Tagen nach dem gestellten Antrag auf internationalen Schutz zumindest über die vorgesehenen Leistungen und die Verpflichtungen, die mit den im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile verbunden sind.

(2)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die in Absatz 1 genannten Informationen schriftlich und in einer Sprache erteilt werden, die der Antragsteller versteht oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass er sie versteht. Gegebenenfalls können diese Informationen auch mündlich erteilt werden.“

20

Art. 7 („Aufenthaltsort und Bewegungsfreiheit“) der Aufnahmerichtlinie bestimmt:

„(1)   Antragsteller dürfen sich im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats oder in einem ihnen von diesem Mitgliedstaat zugewiesenen Gebiet frei bewegen. Das zugewiesene Gebiet darf die unveräußerliche Privatsphäre nicht beeinträchtigen und muss hinreichenden Raum dafür bieten, dass Gewähr für eine Inanspruchnahme aller Vorteile aus dieser Richtlinie gegeben ist.

(2)   Die Mitgliedstaaten können – aus Gründen des öffentlichen Interesses, der öffentlichen Ordnung oder wenn es für eine zügige Bearbeitung und wirksame Überwachung des betreffenden Antrags auf internationalen Schutz erforderlich ist – einen Beschluss über den Aufenthaltsort des Antragstellers fassen.

(3)   Die Mitgliedstaaten dürfen die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen an die Bedingung knüpfen, dass sich Antragsteller tatsächlich an dem Ort aufhalten, der von den Mitgliedstaaten festgelegt wird. Ein derartiger Beschluss, der von allgemeiner Natur sein kann, wird jeweils für den Einzelfall und auf der Grundlage des einzelstaatlichen Rechts getroffen.

(4)   Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass Antragstellern eine befristete Genehmigung zum Verlassen des in den Absätzen 2 und 3 genannten Aufenthaltsorts und/oder des in Absatz 1 genannten zugewiesenen Gebiets erteilt werden kann. Die Entscheidung ist von Fall zu Fall, objektiv und unparteiisch zu treffen und im Falle einer Ablehnung zu begründen.

Der Antragsteller muss keine Genehmigung einholen, wenn er bei Behörden und Gerichten erscheinen muss.

(5)   Die Mitgliedstaaten schreiben Antragstellern vor, den zuständigen Behörden ihre aktuelle Adresse und schnellstmöglich etwaige Adressenänderungen mitzuteilen.“

Deutsches Recht

21

§ 60a („Vorübergehende Aussetzung der Abschiebung [Duldung]“) Abs. 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (im Folgenden: Aufenthaltsgesetz) in der mit Wirkung vom 6. August 2016 geänderten Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBI. 2016 I, S. 1939) bestimmt:

„Die Abschiebung eines Ausländers ist auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. … Einem Ausländer kann eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Eine Duldung wegen dringender persönlicher Gründe im Sinne von Satz 3 ist zu erteilen, wenn der Ausländer eine qualifizierte Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf in Deutschland aufnimmt oder aufgenommen hat, die Voraussetzungen nach Absatz 6 nicht vorliegen und konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht bevorstehen. In den Fällen nach Satz 4 wird die Duldung für die im Ausbildungsvertrag bestimmte Dauer der Berufsausbildung erteilt. …“

22

§ 29 („Unzulässige Anträge“) des Asylgesetzes (im Folgenden: AsylG) in der mit Wirkung vom 6. August 2016 geänderten Fassung des Integrationsgesetzes sieht vor:

„(1)   Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn

1.

ein anderer Staat

a)

nach Maßgabe der [Dublin‑III‑]Verordnung oder

b)

auf Grund von anderen Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages

für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist,

…“

23

§ 31 („Entscheidung des Bundesamtes über Asylanträge“) Abs. 3 AsylG bestimmt:

„In den Fällen des Absatzes 2 und in Entscheidungen über unzulässige Asylanträge ist festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen. Davon kann abgesehen werden, wenn der Ausländer als Asylberechtigter anerkannt wird oder ihm internationaler Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 zuerkannt wird.“

24

§ 34a („Abschiebungsanordnung“) AsylG sieht vor:

„(1)   Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an.

(2)   Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. …“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

25

Herr Jawo ist nach seinen Angaben ein am 23. Oktober 1992 geborener Staatsangehöriger Gambias.

26

Nachdem Herr Jawo Gambia am 5. Oktober 2012 verlassen hatte, erreichte er auf dem Seeweg Italien, von wo er nach Deutschland weiterreiste. Am 23. Dezember 2014 stellte er dort einen Asylantrag.

27

Da Herr Jawo nach der Eurodac-Datenbank bereits einen Asylantrag in Italien gestellt hatte, ersuchte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland, im Folgenden: Bundesamt) die italienischen Behörden am 26. Januar 2015 um seine Wiederaufnahme. Eine Reaktion der italienischen Behörden auf dieses Ersuchen blieb aus.

28

Mit Bescheid vom 25. Februar 2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag von Herr Jawo als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Italien an.

29

Herr Jawo erhob am 4. März 2015 Klage gegen den Bescheid und stellte am 12. März 2015 einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Mit Beschluss vom 30. April 2015 lehnte das Verwaltungsgericht Karlsruhe (Deutschland) den Antrag zunächst als unzulässig ab, weil er verspätet gestellt worden sei.

30

Am 8. Juni 2015 sollte Herr Jawo nach Italien überstellt werden. Diese Überstellung fand jedoch nicht statt, da Herr Jawo nicht in seinem Wohnbereich in der Gemeinschaftsunterkunft in Heidelberg (Deutschland) anwesend war. Nach entsprechenden Nachfragen des Regierungspräsidiums Karlsruhe teilte die Fachstelle für Wohnungsnotfälle der Stadt Heidelberg am 16. Juni 2015 mit, der zuständige Hausmeister habe bestätigt, dass Herr Jawo seit Längerem nicht in der Gemeinschaftsunterkunft anzutreffen sei.

31

Mit einem Formblatt vom 16. Juni 2015 unterrichtete das Bundesamt die italienischen Behörden, dass nach den Informationen vom selben Tag eine Überstellung derzeit nicht möglich sei, weil Herr Jawo flüchtig sei. Weiter heißt es in dem Formular, dass seine Überstellung bis spätestens zum 10. August 2016„gem. Art. 29 Abs. 2 [der Dublin‑III‑] Verordnung“ erfolgen werde.

32

Es steht fest, dass Herr Jawo am Tag der Zustellung des betreffenden Formblatts an die italienischen Behörden wieder in Heidelberg war, diese Information aber nicht das Bundesamt erreichte. Es ist jedoch nicht feststellbar, ob das Bundesamt zu dem genauen Zeitpunkt, als Herr Jawo nach Heidelberg zurückkehrte, das Formblatt den italienischen Behörden bereits übersandt hatte.

33

Herr Jawo erklärte hinsichtlich seiner Abwesenheit, dass er Anfang Juni 2015 zu einem in Freiberg am Neckar (Deutschland) lebenden Freund gereist sei, um ihn zu besuchen. Nachdem er einen Anruf von seinem Zimmergenossen aus Heidelberg erhalte habe, dass die Polizei ihn suche, habe er sich entschieden, nach Heidelberg zurückzukehren. Da er aber kein Geld gehabt habe, um die Rückfahrt für die Strecke zwischen den beiden Städten zu bezahlen, habe er sich dieses erst leihen müssen. Zurück in Heidelberg sei er zum Sozialamt gegangen und habe gefragt, ob er noch über sein Zimmer verfüge, was bejaht worden sei.

34

Herr Jawo erklärte außerdem, dass ihn niemand darauf hingewiesen habe, dass er seine Abwesenheit hätte melden müssen.

35

Am 3. Februar 2016 scheiterte der zweite Überstellungsversuch, weil Herr Jawo sich weigerte, das Flugzeug zu besteigen, mit dem er überstellt werden sollte.

36

Auf einen erneuten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hin ordnete das Verwaltungsgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 18. Februar 2016 die aufschiebende Wirkung der am 4. März 2015 von Herrn Jawo erhobenen Klage an.

37

Mit Urteil vom 6. Juni 2016 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab.

38

Im Rahmen der gegen dieses Urteil eingelegten Berufung vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) machte Herr Jawo u. a. geltend, dass er im Juni 2015 nicht flüchtig gewesen sei und das Bundesamt die Verlängerung der Überstellungsfrist nicht habe bewirken können. Seine Überstellung nach Italien sei auch deshalb unzulässig, weil das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in dem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung aufwiesen.

39

Während des Berufungsverfahrens konnte das Bundesamt in Erfahrung bringen, dass dem Kläger in Italien ein nationaler Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen erteilt worden war, der ein Jahr gültig und am 9. Mai 2015 abgelaufen war. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts führte die Erteilung dieses Aufenthaltstitels jedoch nicht zur Unanwendbarkeit der Dublin‑III-Verordnung, da Herrn Jawo mit diesem Titel kein internationaler Schutz im Sinne der Anerkennungsrichtlinie gewährt worden sei.

40

Das vorlegende Gericht stellt fest, dass es zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits zunächst die Frage beantworten müsse, ob der Kläger am 16. Juni 2015, d. h. zum Zeitpunkt der Meldung des Bundesamts an das italienische Innenministerium, „flüchtig“ im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung gewesen sei.

41

Die in Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene sechsmonatige Überstellungsfrist sei zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 18. Februar 2016, mit dem die aufschiebende Wirkung der Klage von Herrn Jawo angeordnet worden sei, bereits abgelaufen gewesen, so dass der Beschluss diese Frist nicht mehr habe verlängern oder unterbrechen können.

42

Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass, wenn von der Definition des Begriffs „Fluchtgefahr“ in Art. 2 Buchst. n der Dublin‑III-Verordnung auszugehen sei, die sich in der deutschen Fassung auf die Annahme bezieht, dass sich der Betroffene durch Flucht dem Überstellungsverfahren „entziehen könnte“, anzunehmen sei, dass nur ein bewusst auf Vermeidung einer Überstellung gerichtetes Verhalten des Betroffenen umfasst sei. Allerdings sprächen gute Gründe dafür, es für die Anwendung von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung ausreichen zu lassen, dass der zuständigen Behörde zum Zeitpunkt des Überstellungsversuchs und zum Zeitpunkt, an dem sie die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats unterrichte, der Aufenthaltsort des Betroffenen nicht bekannt sei. Es gebe nämlich keine Anhaltspunkte dafür, dass mit dieser Vorschrift ein missbilligtes Verhalten des Betroffenen sanktioniert werden solle. Der Zweck der Vorschrift bestehe darin, das effektive Funktionieren des vom Unionsgesetzgeber entwickelten Systems zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats (im Folgenden: Dublin-System) zu sichern, das erheblich beeinträchtigt werden könne, wenn Überstellungen aus Gründen nicht erfolgen könnten, die nicht in die Verantwortungssphäre des ersuchenden Mitgliedstaats fielen. Im Übrigen könne es schwierig sein, den betroffenen Personen nachzuweisen, dass sie ihre Wohnung verlassen hätten, um ihre Überstellung zu verhindern.

43

Sodann stellt sich dem vorlegenden Gericht die Frage nach den Voraussetzungen, unter denen die in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Verlängerung der sechsmonatigen Überstellungsfrist im Fall der Flucht bewirkt wird. Der Wortlaut der Vorschrift lege zwar auf den ersten Blick die Herstellung eines Einvernehmens zwischen den Mitgliedstaaten nahe, doch könne er auch dahin ausgelegt werden, dass der ersuchende Mitgliedstaat die Fristverlängerung einseitig entscheiden könne, indem er den ersuchten Mitgliedstaat vor Ablauf der ursprünglichen Frist von sechs Monaten darüber informiere, dass die Überstellung nicht fristgemäß stattfinden könne und dass sie in einer Frist durchgeführt werde, die der ersuchende Mitgliedstaat dann benenne. Letztgenanntes Verständnis, von dem sich Art. 9 Abs. 2 der Durchführungsverordnung leiten lasse, könne zu bevorzugen sein, um die Effektivität des Überstellungsverfahrens zu gewährleisten.

44

Schließlich möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Überstellung die Lebensverhältnisse zu berücksichtigen habe, denen der Betroffene im ersuchten Mitgliedstaat ausgesetzt wäre, falls seinem Antrag auf internationalen Schutz dort stattgegeben werde, insbesondere das ernsthafte Risiko, dass er eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung erfahren würde.

45

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts darf sich die Prüfung, ob in einem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung bestehen, nicht auf das Asylverfahren und auf die Aufnahmebedingungen während des Verfahrens beschränken, sondern muss auch die Lage danach einbeziehen. So wären die besten Aufnahmebedingungen während des Verfahrens unzureichend, wenn dem Betroffenen nach der Gewährung internationalen Schutzes Verelendung drohe. Die Pflicht zur Durchführung dieser umfassenden Prüfung der Lage des Antragstellers vor seiner Überstellung sei die notwendige Kehrseite des Dublin-Systems, das es den Schutz beantragenden Personen verwehre, ihr Asylland frei zu wählen. Jedenfalls ergebe sich diese Pflicht aus Art. 3 EMRK.

46

Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass die Anerkennungsrichtlinie zwar in der Regel nur eine Gleichbehandlung gegenüber den Inländern des betreffenden Mitgliedstaats vorsehe. Eine solche „Inländerbehandlung“ könne sich für die Wahrung der Würde der Personen, denen internationaler Schutz gewährt werde, jedoch als unzureichend erweisen, da es sich typischerweise um verletzliche und entwurzelte Menschen handele, die nicht in der Lage seien, die Rechte, die ihnen der Aufnahmestaat gewährleiste, auch effektiv geltend zu machen. Damit diese Personen in eine den Angehörigen dieses Mitgliedstaats vergleichbare Position einrücken könnten, um diese Rechte effektiv in Anspruch zu nehmen, fordere Art. 34 der Anerkennungsrichtlinie von den Mitgliedstaaten, diesen Personen einen effektiven Zugang zu Integrationsprogrammen zu gewährleisten, denen eine spezifisch kompensatorische Funktion zukomme. Diese Vorschrift stelle eine Mindestanforderung und die Rechtfertigung des Dublin-Systems dar.

47

Das vorlegende Gericht verweist u. a. auf den im August 2016 vorgelegten Bericht „Aufnahmebedingungen in Italien“ der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, aus dem sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergäben, dass Personen, denen in diesem Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden sei, einem Risiko ausgesetzt sein könnten, bei einem Leben am Rande der Gesellschaft obdachlos zu werden und zu verelenden. Nach dem Bericht werde für die italienische Bevölkerung das unzureichend entwickelte Sozialsystem dieses Mitgliedstaats durch die familiäre Solidarität aufgewogen, die bei Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden sei, fehle. Der Bericht weise ferner darauf hin, dass in Italien kompensatorische Integrationsprogramme weitgehend fehlten und namentlich der Zugang zu den unerlässlichen Sprachkursen dem Zufall überlassen sei. Schließlich lasse der Bericht erkennen, dass die großen strukturellen Defizite des staatlichen Sozialsystems angesichts der in den vergangenen Jahren stark angestiegenen Flüchtlingszahlen durch Nichtregierungsorganisationen und Kirchen nicht ausgeglichen werden könnten.

48

Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist ein Asylbewerber nur dann flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung, wenn er sich gezielt und bewusst dem Zugriff der für die Durchführung der Überstellung zuständigen nationalen Behörden entzieht, um die Überstellung zu vereiteln bzw. zu erschweren, oder genügt es, wenn er sich über einen längeren Zeitraum nicht mehr in der ihm zugewiesenen Wohnung aufhält und die Behörde nicht über seinen Verbleib informiert ist und deshalb eine geplante Überstellung nicht durchgeführt werden kann?

Kann sich der Betroffene auf die richtige Anwendung der Vorschrift berufen und in einem Verfahren gegen die Überstellungsentscheidung einwenden, die Überstellungsfrist von sechs Monaten sei abgelaufen, weil er nicht flüchtig gewesen sei?

2.

Kommt eine Verlängerung der Frist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung allein dadurch zustande, dass der überstellende Mitgliedstaat noch vor Ablauf der Frist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass der Betreffende flüchtig ist, und zugleich eine konkrete Frist benennt, die 18 Monate nicht übersteigen darf, bis zu der die Überstellung durchgeführt werden wird, oder ist eine Verlängerung nur in der Weise möglich, dass die beteiligten Mitgliedstaaten einvernehmlich eine verlängerte Frist festlegen?

3.

Ist eine Überstellung des Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat unzulässig, wenn er für den Fall einer Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus dort im Hinblick auf die dann zu erwartenden Lebensumstände einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren?

Fällt diese Fragestellung noch in den Anwendungsbereich des Unionsrechts?

Nach welchen unionsrechtlichen Maßstäben sind die Lebensverhältnisse des anerkannten international Schutzberechtigten zu beurteilen?

Verfahren vor dem Gerichtshof

49

Auf Antrag des vorlegenden Gerichts hat die hierfür bestimmte Kammer die Notwendigkeit geprüft, die vorliegende Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Am 24. April 2017 hat die Kammer nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, diesem Antrag nicht stattzugeben.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

50

Mit seiner ersten Frage, die aus zwei Teilen besteht, möchte das vorlegende Gericht zum einen wissen, ob Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass die Annahme, dass die betreffende Person flüchtig im Sinne dieser Vorschrift ist, erfordert, dass sie sich den zuständigen Behörden gezielt entzogen hat, um ihre Überstellung zu vereiteln, oder ob es insoweit vielmehr genügt, dass diese Person die ihr zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne dass die Behörden über ihre Abwesenheit informiert worden sind, so dass die Überstellung nicht durchgeführt werden kann.

51

Zum anderen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass im Rahmen eines Verfahrens gegen eine Überstellungsentscheidung die betreffende Person sich auf Art. 29 Abs. 2 der Verordnung berufen und geltend machen kann, die Überstellungsfrist sei abgelaufen, weil sie nicht flüchtig gewesen sei.

52

Zum ersten Teil der ersten Frage ist festzustellen, dass die Bestimmungen in Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 und Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung vorsehen, dass nach Ablauf der zwingenden Frist von sechs Monaten die Zuständigkeit für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz von Rechts wegen auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht, es sei denn, die Frist ist ausnahmsweise höchstens auf ein Jahr verlängert worden, weil die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf 18 Monate, wenn sie flüchtig ist. In diesen Fällen geht die Zuständigkeit für die Prüfung ihres Antrags nach Ablauf der auf diese Weise festgesetzten Frist über.

53

In Bezug auf die Frage, unter welchen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller „flüchtig ist“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung, ist festzustellen, dass die Verordnung insoweit keine Angaben enthält.

54

Die Dublin‑III-Verordnung enthält nämlich keine Definition des Begriffs der Flucht, und in keiner ihrer Bestimmungen steht ausdrücklich, ob dieser Begriff voraussetzt, dass die betreffende Person beabsichtigte, sich dem Zugriff der Behörden zu entziehen, um ihre Überstellung zu vereiteln.

55

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus dem Erfordernis der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts, dass eine Unionsvorschrift, soweit sie für einen bestimmten Begriff nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts der betreffenden Vorschrift, sondern auch ihres Kontexts und des mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgten Ziels gefunden werden muss (Urteil vom 8. März 2018, DOCERAM, C‑395/16, EU:C:2018:172, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56

Insoweit ergibt sich aus der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes „Flucht“, das in den meisten Sprachfassungen von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung verwendet wird und den Willen der betreffenden Person voraussetzt, jemandem zu entkommen oder sich etwas zu entziehen, nämlich im vorliegenden Kontext den zuständigen Behörden und somit der eigenen Überstellung, dass diese Bestimmung grundsätzlich nur anwendbar ist, wenn sich diese Person diesen Behörden gezielt entzieht. Im Übrigen wird in Art. 9 Abs. 1 der Durchführungsverordnung als einer der möglichen Gründe für das Verschieben der Überstellung der Umstand genannt, dass „der Antragsteller sich der Überstellung entzogen hat“, was eine solche Absicht voraussetzt. Des Gleichen definiert Art. 2 Buchst. n der Dublin‑III-Verordnung den Begriff „Fluchtgefahr“ dadurch, dass in bestimmten Sprachfassungen – wie der deutschen – auf die Befürchtung verwiesen wird, dass sich der Betroffene dem Überstellungsverfahren durch Flucht „entziehen könnte“.

57

Der Kontext, in dem Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung steht, und die mit der Verordnung verfolgten Ziele stehen allerdings einer Auslegung dieser Bestimmung entgegen, wonach in einer Situation, in der die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil die betreffende Person die ihr zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen Behörden über ihre Abwesenheit zu informieren, diese Behörden beweisen müssten, dass diese Person tatsächlich beabsichtigte, sich ihnen zu entziehen, um ihre Überstellung zu vereiteln.

58

Aus den Erwägungsgründen 4 und 5 der Dublin‑III-Verordnung ergibt sich nämlich, dass durch sie eine auf sowohl für die Mitgliedstaaten als auch für die betreffenden Personen objektiven und gerechten Kriterien beruhende klare und praktikable Formel eingeführt werden soll, um den für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat rasch zu bestimmen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung dieses Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.

59

Angesichts dieses Zieles einer zügigen Bearbeitung soll die in Art. 29 Abs. 1 und 2 Satz 1 der Dublin‑III-Verordnung gesetzte Überstellungsfrist von sechs Monaten gewährleisten, dass die betreffende Person tatsächlich so rasch wie möglich an den für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat überstellt wird, dabei aber in Anbetracht der praktischen Komplexität und der organisatorischen Schwierigkeiten, die mit der Durchführung ihrer Überstellung einhergehen, die Zeit eingeräumt wird, die die beiden beteiligten Mitgliedstaaten benötigen, um sich im Hinblick auf die Durchführung der Überstellung abzustimmen, und insbesondere der ersuchende Mitgliedstaat benötigt, um die Modalitäten für die Durchführung der Überstellung zu regeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Januar 2009, Petrosian, C‑19/08, EU:C:2009:41, Rn. 40).

60

In diesem Kontext gestattet Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung ausnahmsweise eine Verlängerung der sechsmonatigen Frist, um zu berücksichtigen, dass es dem ersuchenden Mitgliedstaat aufgrund der Inhaftierung oder Flucht der betreffenden Person tatsächlich unmöglich ist, die Überstellung durchzuführen.

61

Aufgrund der erheblichen Schwierigkeiten, auf die die zuständigen Behörden beim Nachweis der Absichten der betreffenden Person stoßen können, könnte die Verpflichtung der Behörden zur Erbringung dieses Nachweises es Personen, die internationalen Schutz beantragen und nicht an den Mitgliedstaat überstellt werden möchten, der nach der Dublin‑III-Verordnung für die Prüfung ihres Antrags zuständig ist, ermöglichen, einen Übergang der Zuständigkeit für diese Prüfung gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung auf den ersuchenden Mitgliedstaat zu bewirken, indem sie sich bis zum Ablauf der sechsmonatigen Frist den Behörden dieses Mitgliedstaats entziehen.

62

Um das effektive Funktionieren des Dublin-Systems und die Verwirklichung seiner Ziele zu gewährleisten, ist daher davon auszugehen, dass in dem Fall, in dem die Überstellung der betreffenden Person nicht durchgeführt werden kann, weil sie die ihr zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über ihre Abwesenheit zu informieren, diese Behörden unter der Voraussetzung, dass die Person ordnungsgemäß über die ihr insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, annehmen dürfen, dass sie beabsichtigte, sich ihnen zu entziehen, um ihre Überstellung zu vereiteln.

63

In diesem Kontext ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten – wie die Bundesrepublik Deutschland es offenbar tatsächlich getan hat – nach Art. 7 Abs. 2 bis 4 der Aufnahmerichtlinie die Möglichkeit der Wahl des Aufenthaltsorts, die Asylbewerbern eröffnet ist, beschränken können und von ihnen verlangen dürfen, dass sie zuvor eine behördliche Erlaubnis zum Verlassen dieses Ortes einholen müssen. Nach Art. 7 Abs. 5 der Richtlinie schreiben die Mitgliedstaaten ferner den Antragstellern vor, den zuständigen Behörden ihre aktuelle Adresse und schnellstmöglich etwaige Adressenänderungen mitzuteilen.

64

Allerdings müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 5 der Aufnahmerichtlinie die Antragsteller über diese Pflichten unterrichten. Einem Antragsteller kann nämlich nicht zum Vorwurf gemacht werden, die ihm zugewiesene Wohnung verlassen zu haben, ohne die zuständigen Behörden darüber informiert zu haben und gegebenenfalls ohne bei ihnen eine vorherige Erlaubnis eingeholt zu haben, wenn der Antragsteller über diese Pflichten nicht unterrichtet worden ist. Das vorlegende Gericht hat im vorliegenden Fall zu prüfen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens tatsächlich über diese Pflichten unterrichtet worden war.

65

Da zudem nicht ausgeschlossen werden kann, dass es stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Antragsteller den zuständigen Behörden seine Abwesenheit nicht mitgeteilt hat, muss ihm die Möglichkeit des Nachweises erhalten bleiben, dass er nicht beabsichtigte, sich den Behörden zu entziehen.

66

Zum zweiten Teil der ersten Frage, der dahin geht, ob im Rahmen eines Verfahrens gegen eine Überstellungsentscheidung die betreffende Person sich auf Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung berufen und geltend machen kann, die Überstellungsfrist sei abgelaufen, weil sie nicht flüchtig gewesen sei, ist festzustellen, dass sich aus dem nach der Einreichung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ergangenen Urteil vom 25. Oktober 2017, Shiri (C‑201/16, EU:C:2017:805), ergibt, dass dies zu bejahen ist.

67

In jenem Urteil hat der Gerichtshof nämlich zum einen entschieden, dass das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht, um sicherzustellen, dass die angefochtene Überstellungsentscheidung ergangen ist, nachdem die mit der Dublin‑III-Verordnung eingeführten Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren korrekt durchgeführt wurden, das Vorbringen einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, prüfen können muss, wonach diese Entscheidung unter Verletzung der Bestimmungen in Art. 29 Abs. 2 der Verordnung ergangen sei, weil der ersuchende Mitgliedstaat zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung wegen des vorherigen Ablaufs der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung festgelegten Frist von sechs Monaten bereits zum zuständigen Mitgliedstaat geworden sei (Urteil vom 25. Oktober 2017, Shiri, C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 40).

68

Zum anderen muss in Anbetracht des im 19. Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung erwähnten Ziels, im Einklang mit Art. 47 der Charta einen wirksamen Schutz der Betroffenen zu gewährleisten, und des im fünften Erwägungsgrund der Verordnung angeführten Ziels, im Interesse sowohl der Schutzsuchenden als auch des generellen reibungslosen Funktionierens des Dublin-Systems eine zügige Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats sicherzustellen, der Antragsteller über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können, der es ihm ermöglicht, sich auf den nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretenen Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung festgelegten sechsmonatigen Frist zu berufen (Urteil vom 25. Oktober 2017, Shiri, C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 44 und 46).

69

Das aufgrund der deutschen Rechtsvorschriften einem Antragsteller, der sich in einer Situation wie der von Herrn Jawo befindet, offenbar – vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – zustehende Recht, sich im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die ihm gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung auf nach dem Erlass dieser Entscheidung eingetretene Umstände zu berufen, genügt dieser Verpflichtung, einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf vorzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2017, Shiri, C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 46).

70

Nach alledem ist die erste Frage wie folgt zu beantworten:

Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung ist dahin auszulegen, dass ein Antragsteller „flüchtig ist“ im Sinne dieser Bestimmung, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. Der Antragsteller behält die Möglichkeit, nachzuweisen, dass er diesen Behörden seine Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt hat, und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen.

Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung ist dahin auszulegen, dass im Rahmen eines gegen eine Überstellungsentscheidung gerichteten Verfahrens die betreffende Person sich auf Art. 29 Abs. 2 der Verordnung berufen und geltend machen kann, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist abgelaufen sei, weil sie nicht flüchtig gewesen sei.

Zur zweiten Frage

71

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist höchstens auf 18 Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt, oder ob es erforderlich ist, dass beide Mitgliedstaaten diese neue Frist vereinbaren.

72

Insoweit ist zunächst festzustellen, dass in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung für die Verlängerung der Überstellungsfrist in den dort genannten Situationen keine Abstimmung zwischen dem ersuchenden und dem zuständigen Mitgliedstaat vorgesehen ist. Diese Bestimmung unterscheidet sich dadurch von Art. 29 Abs. 1 der Verordnung, der ausdrücklich vorsieht, dass die Überstellung nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten erfolgt.

73

Des Weiteren würde die Verpflichtung zu einer Abstimmung auch in den in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung genannten Situationen diese Bestimmung schwer anwendbar machen und könnte ihr einen Teil ihrer praktischen Wirksamkeit nehmen. Es ist nämlich so, dass der Austausch zwischen den beiden beteiligten Mitgliedstaaten, der für die Vereinbarung einer Verlängerung der Überstellungsfrist erforderlich wäre, den Einsatz von Zeit und Ressourcen erfordern würde und dass es kein wirksames Instrumentarium zur Entscheidung der Streitigkeiten über die Frage gäbe, ob die Voraussetzungen für diese Verlängerung vorliegen. Außerdem wäre eine Fristverlängerung bereits ausgeschlossen, wenn der ersuchte Mitgliedstaat untätig bliebe.

74

Schließlich ist festzustellen, dass nach Art. 29 Abs. 4 der Dublin‑III-Verordnung die Kommission im Wege von Durchführungsrechtsakten einheitliche Bedingungen für Konsultationen und den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten, insbesondere für den Fall, dass Überstellungen verschoben werden oder nicht fristgerecht erfolgen, festlegt. Art. 9 Abs. 2 der Durchführungsverordnung stellt klar, dass ein Mitgliedstaat, der aus einem der in Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung genannten Gründe die Überstellung nicht innerhalb der üblichen Frist von sechs Monaten vornehmen kann, den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist unterrichtet, ohne insoweit eine Abstimmungspflicht vorzusehen.

75

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist höchstens auf 18 Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt.

Zur dritten Frage

76

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, gemäß Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung in den Mitgliedstaat überstellt wird, der nach der Verordnung für die Bearbeitung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, wenn dieser Antragsteller im Fall der Gewährung eines solchen Schutzes in diesem Mitgliedstaat aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort als international Schutzberechtigten erwarten würden, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren. Das vorlegende Gericht möchte ferner wissen, ob diese Frage in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Darüber hinaus möchte es wissen, nach welchen Maßstäben das nationale Gericht gegebenenfalls die Lebensverhältnisse einer Person, der internationaler Schutz gewährt worden ist, zu beurteilen hat.

77

Insoweit ist erstens festzustellen, dass die Entscheidung eines Mitgliedstaats, einen Antragsteller gemäß Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung in den Mitgliedstaat zu überstellen, der nach der Verordnung grundsätzlich für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ein Element des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems darstellt und damit das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführt (vgl. entsprechend Urteile vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 68 und 69, sowie vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 53 und 54).

78

Des Weiteren ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass die Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung unter Beachtung der Grundrechte auszulegen und anzuwenden sind, die durch die Charta, insbesondere ihren Art. 4, gewährleistet sind, der ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verbietet und somit fundamentale Bedeutung und allgemeinen und absoluten Charakter hat, da er eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 der Charta bezieht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 85 und 86, sowie vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 59, 69 und 93).

79

Die dritte Frage stellt somit eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts im Sinne von Art. 267 AEUV dar.

80

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung), und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere ihren Art. 1 und 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert ist, zu bieten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 77 und 87).

81

Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten hat im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 78, sowie vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 36).

82

Folglich muss im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin‑III-Verordnung, die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruht und durch eine Rationalisierung der Anträge auf internationalen Schutz deren Bearbeitung im Interesse sowohl der Antragsteller als auch der teilnehmenden Staaten beschleunigen soll, die Vermutung gelten, dass die Behandlung dieser Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) und der EMRK steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 78 bis 80).

83

Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 81).

84

Daher wäre die Anwendung einer unwiderlegbaren Vermutung, dass die Grundrechte der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in dem Mitgliedstaat beachtet werden, der nach der Dublin‑III-Verordnung als für die Prüfung des Antrags zuständig bestimmt ist, mit der Pflicht zu grundrechtskonformer Auslegung und Anwendung der Verordnung unvereinbar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 99, 100 und 105).

85

Deshalb hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es nach Art. 4 der Charta den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin‑II-Verordnung, der Vorgängerin der Dublin‑III-Verordnung, zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden (Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 106).

86

Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 der Dublin‑III-Verordnung, durch den diese Rechtsprechung kodifiziert wurde, stellt klar, dass in einer solchen Situation der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat wird, wenn er nach Fortsetzung der Prüfung der Kriterien des Kapitels III der Verordnung feststellt, dass keine Überstellung an einen aufgrund dieser Kriterien bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann.

87

Zwar bezieht sich Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung nur auf die Situation, die dem Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865), zugrunde liegt, nämlich die, in der sich die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta aus systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, in dem Mitgliedstaat ergibt, der nach dieser Verordnung als für die Prüfung des Antrags zuständig bestimmt ist. Aus den Rn. 83 und 84 des vorliegenden Urteils sowie aus dem allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 der Charta geht jedoch hervor, dass die Überstellung eines Antragstellers in diesen Mitgliedstaat in all jenen Situationen ausgeschlossen ist, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei seiner Überstellung oder infolge seiner Überstellung eine solche Gefahr laufen wird.

88

Folglich ist es für die Anwendung von Art. 4 der Charta gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin‑III-Verordnung einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.

89

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem und der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen nämlich – wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat – auf der Zusicherung, dass die Anwendung dieses Systems in keinem Stadium und in keiner Weise zu einem ernsthaften Risiko von Verstößen gegen Art. 4 der Charta führt. In dieser Hinsicht wäre es widersprüchlich, wenn das Vorliegen eines solchen Risikos im Stadium des Asylverfahrens eine Überstellung verhindern würde, während dasselbe Risiko dann geduldet würde, wenn dieses Verfahren durch die Zuerkennung von internationalem Schutz zum Abschluss kommt.

90

Insoweit ist das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die die betreffende Person zum Nachweis des Vorliegens eines solchen Risikos vorgelegt hat, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (vgl. entsprechend Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89).

91

Was drittens die Frage anbelangt, anhand welcher Kriterien die zuständigen nationalen Behörden diese Würdigung vorzunehmen haben, ist festzustellen, dass die in der vorstehenden Randnummer erwähnten Schwachstellen nur dann unter Art. 4 der Charta, der Art. 3 der EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird, fallen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (vgl. EGMR, 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, CE:ECHR:2011:0121JUD003069609, § 254).

92

Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. in diesem Sinne EGMR, 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, CE:ECHR:2011:0121JUD003069609, §§ 252 bis 263).

93

Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.

94

Ein Umstand wie der vom vorlegenden Gericht angesprochene, dass nach dem in Rn. 47 des vorliegenden Urteils angeführten Bericht die Formen familiärer Solidarität, die Angehörige des normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats in Anspruch nehmen, um den Mängeln des Sozialsystems dieses Mitgliedstaats zu begegnen, bei den Personen, denen in diesem Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist, im Allgemeinen fehlen, ist keine ausreichende Grundlage für die Feststellung, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, im Fall ihrer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Situation extremer materieller Not befände.

95

Dennoch lässt sich nicht völlig ausschließen, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nachweisen kann, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, die ihr eigen sind und im Fall ihrer Überstellung in den normalerweise für die Bearbeitung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat bedeuten würden, dass sie sich, nachdem ihr internationaler Schutz gewährt worden ist, aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die den in den Rn. 91 bis 93 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien entspricht.

96

Im vorliegenden Fall können Mängel in dem normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Personen, denen dieser Schutz zuerkannt worden ist, keinen ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Grund für die Annahme darstellen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in diesen Mitgliedstaat tatsächlich Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu sein.

97

Jedenfalls kann der bloße Umstand, dass im ersuchenden Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in den zuletzt genannten Mitgliedstaat tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren.

98

Nach alledem ist die dritte Frage wie folgt zu beantworten:

Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass die Frage, ob Art. 4 der Charta dem entgegensteht, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, gemäß Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung in den nach dieser Verordnung normalerweise für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat überstellt wird, wenn dieser Antragsteller im Fall der Gewährung eines solchen Schutzes in diesem Mitgliedstaat aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort als international Schutzberechtigten erwarten würden, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren, in seinen Anwendungsbereich fällt.

Art. 4 der Charta ist dahin auszulegen, dass er einer solchen Überstellung der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nicht entgegensteht, es sei denn, das mit einem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befasste Gericht stellt auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte fest, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.

Kosten

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Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass ein Antragsteller „flüchtig ist“ im Sinne dieser Bestimmung, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. Der Antragsteller behält die Möglichkeit, nachzuweisen, dass er diesen Behörden seine Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt hat, und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen.

Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ist dahin auszulegen, dass im Rahmen eines Verfahrens gegen eine Überstellungsentscheidung die betreffende Person sich auf Art. 29 Abs. 2 der Verordnung berufen und geltend machen kann, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist abgelaufen sei, weil sie nicht flüchtig gewesen sei.

 

2.

Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 604/2013 ist dahin auszulegen, dass es für die Verlängerung der Überstellungsfrist höchstens auf 18 Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt.

 

3.

Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass die Frage, ob Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dem entgegensteht, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, gemäß Art. 29 der Verordnung Nr. 604/2013 in den nach dieser Verordnung normalerweise für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat überstellt wird, wenn dieser Antragsteller im Fall der Gewährung eines solchen Schutzes in diesem Mitgliedstaat aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort als international Schutzberechtigten erwarten würden, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren, in seinen Anwendungsbereich fällt.

Art. 4 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass er einer solchen Überstellung der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nicht entgegensteht, es sei denn, das mit einem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befasste Gericht stellt auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte fest, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.

 

Lenaerts

Prechal

Vilaras

Regan

Biltgen

Jürimäe

Lycourgos

Rosas

Juhász

Ilešič

Malenovský

Bay Larsen

Šváby

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. März 2019.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Der Präsident

K. Lenaerts


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.