URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

17. Mai 2017 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten — Richtlinie 2011/96/EU — Vermeidung der Doppelbesteuerung — Zusatzbeitrag von 3 % zur Körperschaftsteuer“

In der Rechtssache C‑365/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 27. Juni 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juli 2016, in dem Verfahren

Association française des entreprises privées (AFEP),

Axa SA,

Compagnie générale des établissements Michelin SCA,

Danone SA,

ENGIE SA, vormals GDF Suez,

Eutelsat Communications SA,

LVMH Moët Hennessy-Louis Vuitton SE,

Orange SA,

Sanofi SA,

Suez Environnement Company SA,

Technip SA,

Total SA,

Vivendi SA,

Eurazeo SA,

Safran SA,

Scor SE,

Unibail-Rodamco SE,

Zodiac Aerospace SA

gegen

Ministre des Finances et des Comptes publics

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Regan, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund (Berichterstatter),

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Association française des entreprises privées (AFEP), der Axa SA, der Compagnie générale des établissements Michelin SCA, der Danone SA, der ENGIE SA, der Eutelsat Communications SA, der LVMH Moët Hennessy-Louis Vuitton SE, der Orange SA, der Sanofi SA, der Suez Environnement Company SA, der Technip SA, der Total SA, der Vivendi SA, der Eurazeo SA, der Safran SA, der Scor SE, der Unibail-Rodamco SE und der Zodiac Aerospace SA, vertreten durch G. Blanluet, N. de Boynes und S. Austry, avocats,

der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und S. Ghiandoni als Bevollmächtigte,

der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und M. Jacobs als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Gossement und W. Roels als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und Art. 5 der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2011, L 345, S. 8) in der durch die Richtlinie 2014/86/EU des Rates vom 8. Juli 2014 (ABl. 2014, L 219, S. 40) geänderten Fassung (im Folgenden: Mutter-Tochter-Richtlinie).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Association française des entreprises privées (AFEP) sowie 17 Gesellschaften (im Folgenden: AFEP u. a.) auf der einen und dem Ministre des Finances et des Comptes publics (Minister für Finanzen und Haushalt, Frankreich) auf der anderen Seite in Bezug auf eine Klage auf Nichtigerklärung einer Verwaltungsdoktrin betreffend den Zusatzbeitrag zur Körperschaftsteuer, der bei einer gebietsansässigen Muttergesellschaft anlässlich der Ausschüttung von Gewinnen, einschließlich der von ihren gebietsfremden Tochtergesellschaften erzielten Gewinne, erhoben wird.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Mutter-Tochter-Richtlinie zielt gemäß ihrem dritten Erwägungsgrund darauf ab, Dividendenzahlungen und andere Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaften von Quellensteuern zu befreien und die Doppelbesteuerung derartiger Einkünfte auf Ebene der Muttergesellschaft zu beseitigen.

4

Die Erwägungsgründe 7 und 9 dieser Richtlinie lauten:

„(7)

Bezieht eine Muttergesellschaft als Teilhaberin ihrer Tochtergesellschaft Gewinnausschüttungen, so kann der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft diese entweder nicht besteuern oder er lässt im Fall einer Besteuerung zu, dass die Gesellschaft den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft für die von ihr ausgeschütteten Gewinne entrichtet, auf die Steuer anrechnen kann.

(9)

Die Ausschüttung von Gewinnen an eine Betriebstätte einer Muttergesellschaft und der Zufluss dieser Gewinne an die Betriebstätte sollten ebenso behandelt werden wie bei der Beziehung zwischen Tochter- und Muttergesellschaft. Dies sollte auch für den Fall gelten, dass eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft in demselben Mitgliedstaat ansässig sind, während sich die Betriebstätte in einem anderen Mitgliedstaat befindet. Hingegen könnten Fälle, in denen Betriebstätte und Tochtergesellschaft sich in demselben Mitgliedstaat befinden, von dem betreffenden Mitgliedstaat – unbeschadet der Anwendung der Vertragsgrundsätze – nach Maßgabe seines innerstaatlichen Rechts behandelt werden.“

5

Art. 4 Abs. 1 und 3 der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Fließen einer Muttergesellschaft oder ihrer Betriebstätte aufgrund der Beteiligung der Muttergesellschaft an der Tochtergesellschaft Gewinne zu, die nicht anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, so

a)

besteuern der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft und der Mitgliedstaat der Betriebstätte diese Gewinne insoweit nicht, als sie von der Tochtergesellschaft nicht abgezogen werden können, und besteuern sie diese Gewinne insoweit, als sie von der Tochtergesellschaft abgezogen werden können, oder

b)

lassen der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft und der Staat der Betriebstätte im Falle einer Besteuerung zu, dass die Muttergesellschaft und die Betriebstätte auf die geschuldete Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft und jegliche Enkelgesellschaft für diesen Gewinn entrichten, bis zur Höhe der entsprechenden Steuerschuld anrechnen können, vorausgesetzt, dass die Gesellschaft und die ihr nachgeordnete Gesellschaft im Sinne von Artikel 2 auf jeder Stufe die Bedingungen gemäß Artikel 3 erfüllen.

(3)   Jeder Mitgliedstaat kann bestimmen, dass Kosten der Beteiligung an der Tochtergesellschaft und Minderwerte, die sich aufgrund der Ausschüttung ihrer Gewinne ergeben, nicht vom steuerpflichtigen Gewinn der Muttergesellschaft abgesetzt werden können.

Wenn in diesem Fall die mit der Beteiligung zusammenhängenden Verwaltungskosten pauschal festgesetzt werden, darf der Pauschalbetrag 5 % der von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Gewinne nicht übersteigen.“

6

Art. 5 der Mutter-Tochter-Richtlinie bestimmt:

„Die von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne sind vom Steuerabzug an der Quelle befreit.“

Französisches Recht

7

Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass sich die Französische Republik hinsichtlich der steuerlichen Behandlung von in den Anwendungsbereich der Mutter-Tochter-Richtlinie fallenden Gewinnen für ein System entschieden hat, bei dem diese Gewinne – vorbehaltlich eines pauschal auf 5 % festgesetzten Anteils für Kosten und Aufwendungen, die von der Muttergesellschaft getragen werden und sich auf deren Beteiligung an der Tochtergesellschaft beziehen, die diese Gewinne ausgeschüttet hat – steuerbefreit sind. Diese Gewinne sind somit in Höhe von 95 % steuerbefreit.

8

Art. 235ter ZCA des Code général des impôts (Allgemeines Steuergesetzbuch, im Folgenden: CGI) bestimmt:

„I.

Französische oder ausländische Gesellschaften oder Einrichtungen, die in Frankreich körperschaftsteuerpflichtig sind, mit Ausnahme der in Art. L. 214‑1 Ziff. II des Code monétaire et financier [(Gesetzbuch über das Währungs- und Finanzwesen)] angeführten Organismen für gemeinsame Anlagen sowie derjenigen, die unter die Definition der Kleinst-, kleinen und mittleren Unternehmen in Anhang I der Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission vom 17. Juni 2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union fallen, unterliegen im Hinblick auf die Beträge, die sie im Sinne der Artikel 109 bis 117 dieses Gesetzbuchs ausschütten, einem Zusatzbeitrag zu dieser Steuer.

Der Beitrag beläuft sich auf 3 % der ausgeschütteten Beträge. …

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9

AFEP u. a. haben beim Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) Klage auf Nichtigerklärung der Verwaltungsdoktrin betreffend den nach Art. 235ter ZCA CGI vorgesehenen Zusatzbeitrag zur Körperschaftsteuer auf ausgeschüttete Beträge (im Folgenden: Zusatzbeitrag), insbesondere der Nr. 70 der Anweisung BOI‑IS‑AUT‑30‑20160302 (Bulletin officiel des finances publiques-impôts [Amtsblatt für öffentliche Finanzen-Steuern] vom 2. März 2016), erhoben.

10

Zur Stützung ihrer Klage haben AFEP u. a. eine vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit nach Art. 61‑1 der französischen Verfassung aufgeworfen. Außerdem machen sie geltend, der Zusatzbeitrag verstoße gegen Art. 4 Abs. 1 der Mutter-Tochter-Richtlinie, jedenfalls aber gegen Art. 5 dieser Richtlinie.

11

Der Ministre des Finances et des Comptes publics (Minister für Finanzen und Haushalt) vertritt die Auffassung, dass die von AFEP u. a. geltend gemachten Klagegründe nicht stichhaltig seien.

12

Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Auslegung der fraglichen Vorschriften des Unionsrechts für seine Entscheidung über die Vorlage der vorrangigen Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil constitutionnel (Verfassungsrat, Frankreich) maßgeblich sei. Es führt zum einen aus, dass Gesellschaften oder Einrichtungen, denen die Erträge aus den Beteiligungen ihrer Tochtergesellschaften zugeflossen seien, dem Zusatzbeitrag zur Körperschaftsteuer unterlägen, wenn sie diese Erträge weiterausschütte. Außerdem gälten für den Zusatzbeitrag dieselben Modalitäten der Beitreibung und Anfechtung wie für die Körperschaftsteuer.

13

Hingegen unterscheide sich der den Zusatzbeitrag auslösende Tatbestand von dem die Körperschaftsteuer auslösenden Tatbestand, da der Beitrag nicht im Moment des Zuflusses der Dividenden zur Anwendung komme, sondern zu dem Zeitpunkt, zu dem die Gesellschaft, der die Dividenden zugeflossen seien, diese weiterausschütte.

14

Die Bemessungsgrundlage des Zusatzbeitrags, bei der u. a. die ausgeschütteten Gewinne aus den Rücklagen Berücksichtigung fänden, unterscheide sich von derjenigen der Körperschaftsteuer. Unter diesen Umständen weise die Frage, ob der Zusatzbeitrag eine gegen Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Mutter-Tochter-Richtlinie verstoßende Besteuerung von Gewinnen darstelle, ernsthafte Schwierigkeiten auf.

15

Zum anderen scheine der Zusatzbeitrag – angesichts dessen, dass der diesen Beitrag auslösende Tatbestand die Ausschüttung von Dividenden sei, seine Bemessungsgrundlage durch den Betrag der ausgeschütteten Dividenden gebildet werde, Steuerpflichtiger die die Dividenden ausschüttende Gesellschaft sei und keine Steuergutschrift zugunsten des Anteilseigners vorgesehen sei – im Hinblick auf die vom Gerichtshof im Urteil vom 26. Juni 2008, Burda (C‑284/06, EU:C:2008:365), herausgearbeiteten Kriterien nicht die Merkmale eines Steuerabzugs an der Quelle zu erfüllen. Jedoch fragt sich das vorlegende Gericht in Anbetracht des Urteils vom 4. Oktober 2001, Athinaïki Zythopoiïa (C‑294/99, EU:C:2001:505), ob der Zusatzbeitrag in dem Fall, dass er keine nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Mutter-Tochter-Richtlinie verbotene Besteuerung darstellen sollte, als ein „Steuerabzug an der Quelle“ angesehen werden könnte, von dem die ausgeschütteten Gewinne nach Art. 5 dieser Richtlinie zu befreien seien.

16

Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Steht Art. 4 der Mutter-Tochter-Richtlinie, insbesondere sein Abs. 1 Buchst. a, einer Abgabe wie der in Art. 235ter ZCA CGI vorgesehenen entgegen, die bei der Ausschüttung von Gewinnen durch eine in Frankreich körperschaftsteuerpflichtige Gesellschaft anfällt und deren Bemessungsgrundlage die ausgeschütteten Beträge sind?

2.

Bei Verneinung der ersten Frage: Ist eine Abgabe wie die in Art. 235ter ZCA CGI vorgesehene als „Steuerabzug an der Quelle“ anzusehen, von dem die durch eine Tochtergesellschaft ausgeschütteten Gewinne nach Art. 5 dieser Richtlinie befreit sind?

Zum Antrag auf Eröffnung des mündlichen Verfahrens

17

Mit Schriftsatz vom 31. März 2017 hat die französische Regierung die Eröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt und dies im Wesentlichen damit begründet, dass über die Anwendung der von Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache X (C‑68/15, EU:C:2016:886) vorgeschlagenen Antworten nicht verhandelt worden sei.

18

Insoweit sieht Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vor, dass der Gerichtshof jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Eröffnung oder Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

19

Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof nach Anhörung der Generalanwältin der Auffassung, dass er über alle für die Entscheidung in der vorliegenden Rechtssache erforderlichen Informationen verfügt. Unter diesen Umständen ist das mündliche Verfahren nicht zu eröffnen.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

20

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Mutter-Tochter-Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer vom Mitgliedstaat einer Muttergesellschaft vorgesehenen steuerlichen Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden – die die Erhebung einer Steuer anlässlich der Ausschüttung von Dividenden durch die Muttergesellschaft vorsieht, wobei die Bemessungsgrundlage der Steuer in den Beträgen der ausgeschütteten Dividenden, einschließlich der von den gebietsfremden Tochtergesellschaften dieser Gesellschaft stammenden Dividenden, besteht – entgegensteht.

21

Aus dem dritten Erwägungsgrund der Mutter-Tochter-Richtlinie geht hervor, dass diese Richtlinie darauf abzielt, die Doppelbesteuerung der von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne auf Ebene der Muttergesellschaft zu beseitigen.

22

Art. 4 Abs. 1 der Mutter-Tochter-Richtlinie lässt den Mitgliedstaaten hierzu die Wahl zwischen zwei Systemen, und zwar dem Befreiungssystem und dem Anrechnungssystem. Den Erwägungsgründen 7 und 9 dieser Richtlinie entsprechend stellt diese Vorschrift nämlich klar, dass dann, wenn einer Muttergesellschaft oder ihrer Betriebstätte aufgrund der Beteiligung der Muttergesellschaft an der Tochtergesellschaft Gewinne zufließen, die nicht anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft und der Mitgliedstaat der Betriebsstätte diese Gewinne insoweit nicht besteuern, als sie von der Tochtergesellschaft nicht abgezogen werden können, und diese Gewinne insoweit besteuern, als sie von der Tochtergesellschaft abgezogen werden können, oder im Fall einer Besteuerung zulassen, dass die Muttergesellschaft und die Betriebstätte auf die geschuldete Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft und jegliche Enkelgesellschaft für diesen Gewinn entrichten, bis zur Höhe der entsprechenden Steuerschuld anrechnen können (Urteil vom heutigen Tag, X, C‑68/15, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Jedoch bestimmt Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten bestimmen können, dass Kosten der Beteiligung an der Tochtergesellschaft und Minderwerte, die sich aufgrund der Ausschüttung ihrer Gewinne ergeben, nicht vom steuerpflichtigen Gewinn der Muttergesellschaft abgesetzt werden können. Außerdem geht aus dieser Vorschrift hervor, dass wenn in diesem Fall die mit der Beteiligung zusammenhängenden Verwaltungskosten pauschal festgesetzt werden, der Pauschalbetrag 5 % der von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Gewinne nicht übersteigen darf.

24

Art. 4 der Richtlinie soll somit verhindern, dass die von einer gebietsfremden Tochtergesellschaft an eine gebietsansässige Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne zunächst bei der Tochtergesellschaft in deren Sitzstaat und dann bei der Muttergesellschaft in deren Sitzstaat besteuert werden.

25

Im vorliegenden Fall ist zum einen darauf hinzuweisen, dass sich die Französische Republik, wie in Rn. 7 des vorliegenden Urteils ausgeführt, dafür entschieden hat, Gewinne, die von einer gebietsfremden Tochtergesellschaft einer gebietsansässigen Muttergesellschaft stammen, in Höhe von 95 % steuerfrei zu stellen.

26

Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass die Bemessungsgrundlage des Zusatzbeitrags zur Körperschaftsteuer insoweit, als sie in den von einer Muttergesellschaft ausgeschütteten Dividenden besteht, auch Gewinne umfassen kann, die von den in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften dieser Muttergesellschaft stammen, was zur Folge hat, dass diese Gewinne einer Besteuerung unterworfen werden, die den in Art. 4 Abs. 3 der Mutter-Tochter-Richtlinie vorgesehenen Höchstbetrag von 5 % übersteigt.

27

Somit stellt sich die Frage, ob eine solche Besteuerung dieser Gewinne gegen die Mutter-Tochter-Richtlinie verstößt.

28

Nach Ansicht der französischen und der belgischen Regierung fallen die von einer Muttergesellschaft an ihre Anteilseigner weiterausgeschütteten Gewinne nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Mutter-Tochter-Richtlinie, da diese Vorschrift nur anwendbar sei, wenn einer Muttergesellschaft Gewinne zuflössen, die von ihrer Tochtergesellschaft ausgeschüttet würden.

29

Dieser Auslegung kann nicht gefolgt werden.

30

Wie nämlich aus dem Urteil vom heutigen Tag, X (C‑68/15, Rn. 78), hervorgeht, ist festzustellen, dass sich diese Auslegung weder aus dem Wortlaut dieser Vorschrift noch aus deren Kontext oder Zweck ergibt.

31

In den Rn. 79 und 80 des Urteils X hat der Gerichtshof zum einen klargestellt, dass diese Vorschrift, indem sie vorsieht, dass der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft und der Mitgliedstaat der Betriebsstätte „diese Gewinne nicht besteuern“, den Mitgliedstaaten untersagt, die Muttergesellschaft oder deren Betriebsstätte wegen der von der Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne zu besteuern, ohne dass danach unterschieden würde, ob der die Besteuerung der Muttergesellschaft auslösende Tatbestand im Zufluss dieser Gewinne oder in deren Weiterausschüttung besteht.

32

Zum anderen würde, da die Mutter-Tochter-Richtlinie gemäß ihrem dritten Erwägungsgrund darauf abzielt, die Doppelbesteuerung der von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne auf Ebene der Muttergesellschaft zu beseitigen, eine Besteuerung dieser Gewinne durch den Mitgliedstaat der Muttergesellschaft bei dieser anlässlich der Weiterausschüttung dieser Gewinne, die zur Folge hat, dass diese Gewinne einer Besteuerung unterliegen, die den in Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie vorgesehenen Höchstbetrag von 5 % übersteigt, zu einer gegen die genannte Richtlinie verstoßenden Doppelbesteuerung auf Ebene der Muttergesellschaft führen.

33

In diesem Zusammenhang ist außerdem darauf hinzuweisen, dass es unerheblich ist, ob die nationale steuerliche Maßnahme als Körperschaftsteuer einzustufen ist. Insoweit genügt die Feststellung, dass die Anwendung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Mutter-Tochter-Richtlinie nicht von einer bestimmten Steuer abhängt. Diese Vorschrift sieht nämlich vor, dass der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft die von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Gewinne nicht besteuert. Sie soll somit verhindern, dass die Mitgliedstaaten steuerliche Maßnahmen erlassen, die zu einer Doppelbesteuerung solcher Gewinne bei den Muttergesellschaften führen.

34

Diese Feststellung wird nicht durch Rn. 105 des Urteils vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation (C‑446/04, EU:C:2006:774), in Frage gestellt, da sich der Gerichtshof in dieser Randnummer nur dazu geäußert hat, ob bestimmte Modalitäten der Berechnung der Höhe der Körperschaftsteuervorauszahlung in dem Fall, dass eine gebietsansässige Muttergesellschaft Dividenden, die sie von einer gebietsfremden Tochtergesellschaft erhalten hat, weiterausschüttet, mit der Mutter-Tochter-Richtlinie vereinbar sind, und nicht dazu, ob die Körperschaftsteuervorauszahlung in einem solchen Fall mit dieser Richtlinie vereinbar ist.

35

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Mutter-Tochter-Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer vom Mitgliedstaat einer Muttergesellschaft vorgesehenen steuerlichen Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden – die die Erhebung einer Steuer anlässlich der Ausschüttung von Dividenden durch die Muttergesellschaft vorsieht, wobei die Bemessungsgrundlage der Steuer in den Beträgen der ausgeschütteten Dividenden, einschließlich der von den gebietsfremden Tochtergesellschaften dieser Gesellschaft stammenden Dividenden, besteht – entgegensteht.

Zur zweiten Frage

36

In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.

Kosten

37

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten in der durch die Richtlinie 2014/86/EU des Rates vom 8. Juli 2014 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer vom Mitgliedstaat einer Muttergesellschaft vorgesehenen steuerlichen Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden – die die Erhebung einer Steuer anlässlich der Ausschüttung von Dividenden durch die Muttergesellschaft vorsieht, wobei die Bemessungsgrundlage der Steuer in den Beträgen der ausgeschütteten Dividenden, einschließlich der von den gebietsfremden Tochtergesellschaften dieser Gesellschaft stammenden Dividenden, besteht – entgegensteht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.