URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

8. Dezember 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Öffentliche Dienstleistungsaufträge — Auftragserteilung ohne Einleitung eines Ausschreibungsverfahrens — ‚In-House‘-Vergabe — Voraussetzungen — Kontrolle wie über die eigenen Dienststellen — Verrichtung der Haupttätigkeit — Beauftragte Gesellschaft mit öffentlichem Kapital, deren Anteile mehrere Gebietskörperschaften innehaben — Tätigkeit auch zugunsten nicht beteiligter Gebietskörperschaften — Tätigkeit, die von einer nicht beteiligten Behörde auferlegt wird“

In der Rechtssache C‑553/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 25. Juni 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Oktober 2015, in dem Verfahren

Undis Servizi Srl

gegen

Comune di Sulmona,

Beteiligte:

Cogesa SpA,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, der Richter E. Juhász (Berichterstatter) und C. Vajda, der Richterin K. Jürimäe sowie des Richters C. Lycourgos,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Undis Servizi Srl, vertreten durch S. Della Rocca, avvocato,

der Comune di Sulmona, vertreten durch G. Blandini und M. Fracassi, avvocati,

der Cogesa SpA, vertreten durch R. Colagrande, avvocato,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von C. Colelli, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Conte und A. Tokár als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Unionsrechts zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags ohne Ausschreibungsverfahren („In-House“-Vergabe).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Undis Servizi Srl (im Folgenden: Undis) und der Comune di Sulmona (Gemeinde Sulmona, Italien) über die freihändige Vergabe eines Dienstleistungsauftrags durch diese Gemeinde an die Cogesa SpA.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114) legt den Rechtsrahmen für Aufträge fest, die von öffentlichen Auftraggebern erteilt werden.

4

Art. 1 („Definitionen) der Richtlinie sieht in Abs. 2 Buchst. a vor:

„‚Öffentliche Aufträge‘ sind zwischen einem oder mehreren Wirtschaftsteilnehmern und einem oder mehreren öffentlichen Auftraggebern geschlossene schriftliche entgeltliche Verträge über die Ausführung von Bauleistungen, die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen im Sinne dieser Richtlinie.“

5

Die zum Zeitpunkt des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens geltende unionsrechtliche Regelung sah die Möglichkeit der freihändigen Vergabe eines öffentlichen Auftrags ohne Einleitung eines Ausschreibungsverfahrens („In-House“-Vergabe) nicht vor. Diese Möglichkeit war jedoch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die auch die Voraussetzungen hierfür festgelegt hat, anerkannt.

6

Nach dieser fortan ständigen Rechtsprechung ist ein öffentlicher Auftraggeber wie etwa eine Gebietskörperschaft von der Einleitung eines Verfahrens zur Erteilung eines öffentlichen Auftrags unter zwei Voraussetzungen befreit: erstens, wenn er über die rechtlich von ihm verschiedene beauftragte Einrichtung eine Kontrolle ausübt wie über seine eigenen Dienststellen, und zweitens, wenn diese Einrichtung ihre Tätigkeit im Wesentlichen für den oder die öffentlichen Auftraggeber verrichtet, die ihre Anteile innehaben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. November 1999, Teckal, C‑107/98, EU:C:1999:562, Rn. 50).

7

Die Richtlinie 2004/18 wurde aufgehoben und durch die Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18 (ABl. 2004, L 94, S. 65) ersetzt. Nach Art. 91 der Richtlinie 2014/24 wurde die Aufhebung der Richtlinie 2004/18 am 18. April 2016 wirksam.

Italienisches Recht

8

Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung bestimmt keine Vorschrift des italienischen Rechts die Voraussetzungen für die freihändige Vergabe öffentlicher Aufträge; das nationale Recht verweist hierzu auf das Unionsrecht.

9

Art. 30 des Decreto legislativo Nr. 267 – Testo unico delle leggi sull’ordinamento degli enti locali (Gesetzesdekret Nr. 267 – Testo unico der Bestimmungen über die Gebietskörperschaften) vom 18. August 2000 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 162 vom 28. September 2000) sieht vor:

„(1)   Um bestimmte Aufgaben und Dienste in koordinierter Weise durchzuführen, können Gebietskörperschaften untereinander entsprechende Vereinbarungen treffen.

(2)   Die Vereinbarungen müssen die Ziele, die Dauer und die Formen der Abstimmung der beteiligten Körperschaften, ihre finanziellen Beziehungen und die gegenseitigen Verpflichtungen und Garantien festlegen.

(3)   Für die auf bestimmte Zeit festgelegte Erbringung einer besonderen Dienstleistung oder die Durchführung eines Werks können der Staat und die Region in den ihrer Zuständigkeit unterliegenden Bereichen Formen verbindlicher Vereinbarungen zwischen lokalen Gebietskörperschaften nach Festlegung einer Modellregelung vorsehen.

…“

10

Wie das vorlegende Gericht ausführt, bestimmt Art. 149-bis Abs. 1 Satz 2 des Decreto legislativo Nr. 152 – Norme in materia ambientale (Gesetzesdekret Nr. 152 – Umweltvorschriften) vom 3. April 2006 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 96 vom 14. April 2006):

„Die unmittelbare Vergabe kann zugunsten von Gesellschaften mit ausschließlich öffentlichem Kapital erfolgen, die die nach den europarechtlichen Vorschriften erforderlichen Voraussetzungen für die In-House-Vergabe erfüllen, sofern an ihnen Gebietskörperschaften beteiligt sind, die innerhalb des optimalen räumlichen Bereichs liegen.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

11

Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass der Stadtrat von Sulmona mit einem Beschluss vom 30. September 2014 die Dienstleistungen, die die integrierte Bewirtschaftung des städtischen Abfalls betreffen, an Cogesa, eine Gesellschaft mit ausschließlich öffentlichem Kapital, vergeben hat, deren Anteile mehrere Gemeinden der Regione Abruzzo (Region Abruzzen, Italien), u. a. die Comune di Sulmona, innehaben. Diese hält 200 von insgesamt 1200 Aktien, die das Kapital dieser Gesellschaft bilden, d. h. eine Beteiligung von etwa 16,6 % an diesem Kapital.

12

Am 30. Oktober 2014, als der Vertrag über den Dienstleistungsauftrag mit Cogesa noch nicht geschlossen war, schlossen die an dieser beteiligten Gebietskörperschaften eine Vereinbarung mit dem Ziel, über dieses Unternehmen gemeinsam eine Kontrolle wie über ihre eigenen Dienststellen auszuüben (im Folgenden: Vereinbarung vom 30. Oktober 2014).

13

Durch die integrierte Umweltgenehmigung Nr. 9/11 verpflichtete die Region Abruzzen Cogesa, nach den Grundsätzen der Selbstversorgung, der Nähe und der Subsidiarität die städtischen Abfälle bestimmter an dieser Gesellschaft nicht beteiligter Gemeinden der Region zu behandeln und wiederzuverwerten.

14

Undis, eine am im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dienstleistungsauftrag interessierte Gesellschaft, legte beim Tribunale amministrativo regionale per l’Abruzzo (Regionales Verwaltungsgericht für die Abruzzen, Italien) Klage ein gegen die Entscheidung über die Erteilung dieses Dienstleistungsauftrags und gegen die Entscheidung, den Entwurf der in Rn. 12 des vorliegenden Urteils erwähnten interkommunalen Vereinbarung zu genehmigen. Undis machte einen Verstoß gegen Art. 2 des Decreto legislativo Nr. 163 – Codice dei contratti pubblici relativi a lavori, servizi e forniture in attuazione delle direttive 2004/17/CE e 2004/18/CE (Gesetzesdekret Nr. 163 – Gesetzbuch über öffentliche Bau-, Dienstleistungs- und Lieferaufträge zur Umsetzung der Richtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG) vom 12. April 2006 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 100 vom 2. Mai 2006) sowie gegen die Art. 43, 49 und 86 AEUV geltend und führte aus, dass die beiden für eine „In-House“-Vergabe des genannten Dienstleistungsauftrags erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

15

Insbesondere die Voraussetzung, dass der öffentliche Auftraggeber über die rechtlich von ihm verschiedene beauftragte Einrichtung eine Kontrolle wie über seine eigenen Dienststellen ausübe, sei nicht erfüllt. Die Comune di Sulmona sei nämlich Minderheitsaktionärin von Cogesa, die Vereinbarung vom 30. Oktober 2014 sei nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidung über die Vergabe des Dienstleistungsauftrags geschlossen worden, und die Satzung dieser Gesellschaft räume ihren Gesellschaftsorganen eine autonome Befugnis ein, die mit dem Begriff „Kontrolle wie über die eigenen Dienststellen“ unvereinbar sei. Auch die Voraussetzung, dass die beauftragte Einrichtung ihre Tätigkeit im Wesentlichen für den oder die öffentlichen Auftraggeber verrichte, die ihre Anteile innehätten, sei nicht erfüllt. Die Abschlüsse von Cogesa für die Jahre 2011 bis 2013 belegten nämlich, dass diese nur 50 % ihrer gesamten Tätigkeit für die beteiligten Gebietskörperschaften verrichte, wobei ihre Tätigkeit zugunsten der nicht beteiligten Gemeinden in diese Gesamttätigkeit einbezogen werden müsse.

16

Das Tribunale amministrativo regionale per l’Abruzzo (Regionales Verwaltungsgericht für die Abruzzen) wies die Klage ab. Es stellte zunächst fest, dass die Voraussetzung der Kontrolle wie über die eigenen Dienststellen aufgrund des Abschlusses der Vereinbarung vom 30. Oktober 2014 erfüllt sei. Auch die die Verrichtung der Haupttätigkeit betreffende Voraussetzung hielt es für erfüllt und führte aus, dass die Tätigkeit für die beteiligten Gemeinden über 90 % des Umsatzes von Cogesa ausmache, wenn deren Tätigkeit zugunsten der nicht beteiligten Gemeinden nicht berücksichtigt werde, und der verbleibende Prozentsatz als vollkommen nebensächliche Tätigkeit angesehen werden könne.

17

Der mit einem Rechtsmittel von Undis befasste Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) stellt fest, dass Art. 12 der Richtlinie 2014/24, auch wenn diese auf den Ausgangsrechtsstreit zeitlich nicht anwendbar sei, jedenfalls für die Entscheidung dieses Rechtsstreits Bedeutung habe.

18

In Bezug auf die die Verrichtung der Haupttätigkeit betreffende Voraussetzung verweist er auf das Urteil vom 11. Mai 2006, Carbotermo und Consorzio Alisei (C‑340/04, EU:C:2006:308, Rn. 65), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass „der Umsatz ausschlaggebend [ist], den das fragliche Unternehmen aufgrund der Vergabeentscheidungen der kontrollierenden Körperschaft erzielt, und zwar einschließlich des Umsatzes, der in Ausführung solcher Entscheidungen mit Nutzern erzielt wird“. Aus dieser Rechtsprechung gehe hervor, dass bei der Beurteilung, ob diese Voraussetzung erfüllt sei, demnach nur die Vergabeentscheidungen zu berücksichtigen seien, die unmittelbar von der kontrollierenden Einrichtung getroffen worden seien. Aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2014/24 könne sich jedoch eine Erweiterung der relevanten Auftragsvergaben ergeben.

19

Für die Beurteilung der Frage, ob die in Rede stehende Voraussetzung erfüllt sei, seien hingegen nach keiner Bestimmung dieser Richtlinie die Auftragsvergaben zu berücksichtigen, die nicht beteiligte öffentliche Einrichtungen beträfen, wenn diese Auftragsvergaben durch eine hoheitliche Maßnahme einer ebenfalls nicht beteiligten übergeordneten öffentlichen Stelle angeordnet worden seien.

20

Außerdem stelle sich die Frage, ob im Ausgangsverfahren zur Beurteilung, ob die die Verrichtung der Haupttätigkeit betreffende Voraussetzung erfüllt sei, Aufträge zu berücksichtigen seien, die vor Abschluss der Vereinbarung vom 30. Oktober 2014 zugunsten von an Cogesa beteiligten öffentlichen Einrichtungen vergeben worden seien. Er verweist insoweit auf Art. 12 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 2014/24.

21

Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist bei der Beurteilung der Haupttätigkeit des kontrollierten Unternehmens auch eine Tätigkeit zu berücksichtigen, die von einer nicht beteiligten Behörde zugunsten nicht beteiligter öffentlicher Einrichtungen auferlegt wird?

2.

Sind bei der Beurteilung der Haupttätigkeit des kontrollierten Unternehmens auch Aufträge zu berücksichtigen, die durch beteiligte öffentliche Einrichtungen vergeben wurden, bevor das Erfordernis der sogenannten Kontrolle wie über die eigenen Dienststellen wirksam wurde?

Zu den Vorlagefragen

22

Zunächst ist festzustellen, dass sich der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt, wie er in den Rn. 11 und 12 des vorliegenden Urteils dargestellt ist, vor Ablauf der Frist zur Umsetzung der Richtlinie 2014/24 durch die Mitgliedstaaten am 18. April 2016 zugetragen hat. Daraus folgt, dass die Vorlagefragen in zeitlicher Hinsicht allein nach der Richtlinie 2004/18 in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu beurteilen sind.

23

Darüber hinaus ist zu konstatieren, dass sich das vorlegende Gericht im vorliegenden Fall nicht zu der Frage äußert, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Auftragswert über dem Schwellenwert für die Anwendung der Richtlinie 2004/18 liegt oder nicht. Außerdem enthält die Vorlageentscheidung auch nicht die Informationen, die zur Klärung der Frage erforderlich sind, ob es sich um einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag oder um eine Dienstleistungskonzession handelt.

24

Die Ausnahme von der Anwendung der unionsrechtlichen Vorschriften kann zwar, wenn die Voraussetzungen für die „In-House“-Vergabe erfüllt sind, sowohl auf Sachverhalte, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/18 fallen, als auch auf Sachverhalte Anwendung finden, die hiervon ausgenommen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2012, Econord, C‑182/11 und C‑183/11, EU:C:2012:758, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im zweiten Fall ist die Anwendung dieser Ausnahme für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits jedoch nur relevant, sofern der in Rede stehende Auftrag den Grundregeln und den allgemeinen Grundsätzen des AEU-Vertrags unterliegt, was voraussetzt, dass an diesem Auftrag ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2016, Tecnoedi Costruzioni, C‑318/15, EU:C:2016:747, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Hat das vorlegende Gericht diese vorherigen Feststellungen nicht getroffen, so führt dies in Anbetracht der Zusammenarbeit, die das Verhältnis zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens kennzeichnet, nicht zur Unzulässigkeit des Ersuchens, sofern sich der Gerichtshof trotz dieser Unzulänglichkeit in der Lage sieht, dem vorlegenden Gericht anhand der in der Akte enthaltenen Angaben eine sachdienliche Antwort zu geben. Die Antwort des Gerichtshofs steht allerdings unter der Prämisse, dass das vorlegende Gericht feststellt, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des Unionsrechts erfüllt sind (vgl. entsprechend Urteil vom 11. Dezember 2014, Azienda sanitaria locale n. 5 Spezzino u. a., C‑113/13, EU:C:2014:2440, Rn. 48).

26

Die Antwort des Gerichtshofs auf die Fragen des vorlegenden Gerichts beruht daher auf der Prämisse, dass die Richtlinie 2004/18 auf den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auftrag anwendbar ist oder, falls das nicht der Fall ist, an diesem Auftrag ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.

Zur ersten Frage

27

Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur freihändigen Vergabe („in-house“) öffentlicher Aufträge bei der Beurteilung der Frage, ob das beauftragte Unternehmen seine Tätigkeit im Wesentlichen für den öffentlichen Auftraggeber, insbesondere die Gebietskörperschaften, die an ihm beteiligt sind und es kontrollieren, verrichtet, in diese Tätigkeit auch eine solche einzubeziehen ist, die dem Unternehmen von einer an ihm nicht beteiligten Behörde zugunsten von Gebietskörperschaften, die auch nicht an ihm beteiligt sind und keine Kontrolle über das Unternehmen ausüben, auferlegt wird.

28

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs schließt das Hauptziel der Unionsvorschriften über das öffentliche Auftragswesen, nämlich der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr und die Öffnung für einen unverfälschten Wettbewerb in allen Mitgliedstaaten, die Verpflichtung ein, die in den einschlägigen Richtlinien vorgesehenen Vorschriften über die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge anzuwenden, wenn ein öffentlicher Auftraggeber wie etwa eine Gebietskörperschaft beabsichtigt, mit einer rechtlich verschiedenen Einrichtung einen schriftlichen entgeltlichen Vertrag zu schließen, wobei unerheblich ist, ob diese Einrichtung selbst ein öffentlicher Auftraggeber ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. November 1999, Teckal, C‑107/98, EU:C:1999:562, Rn. 51, und vom 11. Januar 2005, Stadt Halle und RPL Lochau, C‑26/03, EU:C:2005:5, Rn. 44 und 47).

29

Der Gerichtshof hat betont, dass jede Ausnahme von der Geltung dieser Verpflichtung eng auszulegen ist (Urteile vom 11. Januar 2005, Stadt Halle und RPL Lochau, C‑26/03, EU:C:2005:5, Rn. 46, und vom 8. Mai 2014, Datenlotsen Informationssysteme, C‑15/13, EU:C:2014:303, Rn. 23).

30

Da eine öffentliche Stelle die Möglichkeit hat, ihre im allgemeinen Interesse liegenden Aufgaben mit ihren eigenen administrativen, technischen und sonstigen Mitteln zu erfüllen, ohne gezwungen zu sein, sich an externe Einrichtungen zu wenden, die nicht zu ihren Dienststellen gehören (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Januar 2005, Stadt Halle und RPL Lochau, C‑26/03, EU:C:2005:5, Rn. 48), hat der Gerichtshof die Ausnahme in Bezug auf „In-House“-Vergaben mit der besonderen internen Verbindung gerechtfertigt, die zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und der beauftragten Einrichtung in einem solchen Fall besteht, auch wenn diese eine rechtlich vom öffentlichen Auftraggeber verschiedene Einrichtung ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2014, Datenlotsen Informationssysteme, C‑15/13, EU:C:2014:303, Rn. 29). Der öffentliche Auftraggeber greift in solchen Fällen in Wirklichkeit auf seine eigenen Mittel zurück (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2014, Datenlotsen Informationssysteme, C‑15/13, EU:C:2014:303, Rn. 25), und die beauftragte Einrichtung gehört quasi zu seinen internen Dienststellen.

31

Diese Ausnahme setzt voraus, dass der öffentliche Auftraggeber über die beauftragte Einrichtung eine Kontrolle ausübt wie über seine eigenen Dienststellen und dass diese Einrichtung darüber hinaus ihre Tätigkeit im Wesentlichen zugunsten des öffentlichen Auftraggebers oder der öffentlichen Auftraggeber verrichtet, die ihre Anteile innehaben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. November 1999, Teckal, C‑107/98, EU:C:1999:562, Rn. 50).

32

Daher ist es unerlässlich, dass die beauftragte Einrichtung hauptsächlich für die Körperschaft oder die Körperschaften, die ihre Anteile innehaben, tätig wird, wobei jede andere Tätigkeit nur nebensächlich sein kann. Um zu beurteilen, ob dies der Fall ist, muss der zuständige Richter alle – qualitativen wie quantitativen – Umstände des Einzelfalls berücksichtigen. Dabei ist der Umsatz relevant, den die Einrichtung aufgrund der Vergabeentscheidungen der kontrollierenden Körperschaft oder der kontrollierenden Körperschaften erzielt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2006, Carbotermo und Consorzio Alisei, C‑340/04, EU:C:2006:308, Rn. 63 und 65, und vom 17. Juli 2008, Kommission/Italien, C‑371/05, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:410, Rn. 31).

33

Das Erfordernis, dass die fragliche Person ihre Tätigkeit im Wesentlichen für die Körperschaft oder die Körperschaften verrichtet, die ihre Anteile innehaben, soll sicherstellen, dass die Richtlinie 2004/18 anwendbar bleibt, wenn ein von einer oder mehreren Körperschaften kontrolliertes Unternehmen auf dem Markt tätig ist und daher mit anderen Unternehmen in Wettbewerb treten kann. Denn einem Unternehmen fehlt es nicht unbedingt allein deshalb an Handlungsfreiheit, weil die es betreffenden Entscheidungen von der Körperschaft oder den Körperschaften kontrolliert werden, die seine Anteile innehaben, sofern es noch einen bedeutenden Teil seiner wirtschaftlichen Tätigkeit mit anderen Wirtschaftsteilnehmern abwickeln kann. Wenn die Leistungen dieses Unternehmens im Wesentlichen nur für diese Körperschaft oder diese Körperschaften erbracht werden, ist es jedoch gerechtfertigt, dass das Unternehmen nicht den Zwängen der Richtlinie 2004/18 unterliegt, da diese durch das Anliegen der Bewahrung eines Wettbewerbs diktiert werden, für das es in dem entsprechenden Fall keinen Grund mehr gibt (vgl. entsprechend Urteil vom 11. Mai 2006, Carbotermo und Consorzio Alisei, C‑340/04, EU:C:2006:308, Rn. 60 bis 62).

34

Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass jede Tätigkeit der beauftragten Einrichtung für andere Personen als die, die ihre Anteile innehaben, d. h. Personen, die in keinem Kontrollverhältnis zu dieser Einrichtung stehen, auch wenn es sich dabei um Behörden handelt, als Tätigkeit zugunsten Dritter anzusehen ist.

35

Im Licht dieser Rechtsprechung sind daher im Ausgangsverfahren die nicht an Cogesa beteiligten Gebietskörperschaften als Dritte anzusehen. Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung besteht nämlich kein Kontrollverhältnis zwischen den Körperschaften und der Gesellschaft, so dass die besondere interne Verbindung, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Ausnahme in Bezug auf „In-House“-Vergaben rechtfertigt, zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und der beauftragten Einrichtung fehlt.

36

Zur Beurteilung der Frage, ob Cogesa ihre Tätigkeit im Wesentlichen für die Körperschaften verrichtet, die ihre Anteile innehaben, ist die Tätigkeit dieser Gesellschaft für die nicht beteiligten Gebietskörperschaften deshalb als Tätigkeit zugunsten Dritter anzusehen. Das vorlegende Gericht hat zu prüfen, ob diese Tätigkeit im Verhältnis zur Tätigkeit von Cogesa für die Körperschaften, die ihre Anteile innehaben, als rein nebensächlich im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur „In-House“-Vergabe angesehen werden kann.

37

Dieses Ergebnis wird auch nicht durch den vom vorlegenden Gericht angeführten Umstand entkräftet, dass die Tätigkeit von Cogesa zugunsten der nicht beteiligten Gebietskörperschaften von einer auch nicht an dieser Gesellschaft beteiligten Behörde auferlegt werde. Auch wenn sie Cogesa diese Tätigkeit auferlegt hat, ist diese Behörde nach den Angaben in der Vorlageentscheidung an dieser Gesellschaft nämlich nicht beteiligt und übt keine Kontrolle im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur „In-House“-Vergabe über sie aus. Ohne jede Kontrolle durch diese Behörde ist die Cogesa von ihr auferlegte Tätigkeit als Tätigkeit zugunsten Dritter anzusehen.

38

Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur freihändigen Vergabe („in-house“) öffentlicher Aufträge bei der Beurteilung der Frage, ob das beauftragte Unternehmen seine Tätigkeit im Wesentlichen für den öffentlichen Auftraggeber, insbesondere die Gebietskörperschaften, die an ihm beteiligt sind und es kontrollieren, verrichtet, in diese Tätigkeit eine solche nicht einzubeziehen ist, die dem Unternehmen von einer an ihm nicht beteiligten Behörde zugunsten von Gebietskörperschaften, die auch nicht an ihm beteiligt sind und keine Kontrolle über das Unternehmen ausüben, auferlegt wird; diese Tätigkeit ist als Tätigkeit zugunsten Dritter anzusehen.

Zur zweiten Frage

39

Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob bei der Beurteilung der Frage, ob das beauftragte Unternehmen seine Tätigkeit im Wesentlichen für die Gebietskörperschaften verrichtet, die an ihm beteiligt sind und über das Unternehmen gemeinsam eine Kontrolle wie über ihre eigenen Dienststellen ausüben, auch eine Tätigkeit zu berücksichtigen ist, die das Unternehmen für diese Gebietskörperschaften verrichtet hat, bevor eine solche gemeinsame Kontrolle wirksam wurde.

40

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der nationale Richter zur Beurteilung der Frage, ob die die Verrichtung der Haupttätigkeit betreffende Voraussetzung vorliegt, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs alle – qualitativen wie quantitativen – Umstände des Einzelfalls berücksichtigen muss (vgl. Urteil vom 11. Mai 2006, Carbotermo und Consorzio Alisei, C‑340/04, EU:C:2006:308, Rn. 63 und 64).

41

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Angaben in der Vorlageentscheidung, dass Cogesa bereits vor Abschluss der Vereinbarung vom 30. Oktober 2014 für die Gebietskörperschaften, die ihre Anteile innehaben, tätig geworden ist. Diese Tätigkeiten sind sicherlich zu berücksichtigen, wenn sie zum Zeitpunkt der Erteilung eines öffentlichen Auftrags noch fortbestehen. Darüber hinaus können auch vor dem 30. Oktober 2014 beendete Tätigkeiten für die Beurteilung der Frage relevant sein, ob die die Verrichtung der Haupttätigkeit betreffende Voraussetzung erfüllt ist. Diese früheren Tätigkeiten können nämlich ein Hinweis auf die Bedeutung der Tätigkeit sein, die Cogesa für ihre beteiligten Gebietskörperschaften auszuüben beabsichtigt, nachdem deren Kontrolle wie über eigene Dienststellen wirksam wurde.

42

Demnach sind bei der Beurteilung der Frage, ob das beauftragte Unternehmen seine Tätigkeit im Wesentlichen für die Gebietskörperschaften verrichtet, die an ihm beteiligt sind und über das Unternehmen gemeinsam eine Kontrolle wie über ihre eigenen Dienststellen ausüben, alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, zu denen eine Tätigkeit gehören kann, die das Unternehmen für diese Gebietskörperschaften verrichtet hat, bevor diese gemeinsame Kontrolle wirksam wurde.

Kosten

43

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur freihändigen Vergabe („in-house“) öffentlicher Aufträge ist bei der Beurteilung der Frage, ob das beauftragte Unternehmen seine Tätigkeit im Wesentlichen für den öffentlichen Auftraggeber, insbesondere die Gebietskörperschaften, die an ihm beteiligt sind und es kontrollieren, verrichtet, in diese Tätigkeit eine solche nicht einzubeziehen, die dem Unternehmen von einer an ihm nicht beteiligten Behörde zugunsten von Gebietskörperschaften, die auch nicht an ihm beteiligt sind und keine Kontrolle über das Unternehmen ausüben, auferlegt wird; diese Tätigkeit ist als Tätigkeit zugunsten Dritter anzusehen.

 

2.

Bei der Beurteilung der Frage, ob das beauftragte Unternehmen seine Tätigkeit im Wesentlichen für die Gebietskörperschaften verrichtet, die an ihm beteiligt sind und über das Unternehmen gemeinsam eine Kontrolle wie über ihre eigenen Dienststellen ausüben, sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, zu denen eine Tätigkeit gehören kann, die das Unternehmen für diese Gebietskörperschaften verrichtet hat, bevor diese gemeinsame Kontrolle wirksam wurde.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.