URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

7. April 2016 ( *1 ) ( i )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsschutzversicherung –Richtlinie 87/344/EWG – Art. 4 Abs. 1 – Freie Wahl des Rechtsanwalts durch den Versicherungsnehmer – Gerichts- oder Verwaltungsverfahren – Begriff – Widerspruch gegen die Versagung der Bewilligung einer Behandlung“

In der Rechtssache C‑5/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam, Niederlande) mit Entscheidung vom 23. Dezember 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Januar 2015, in dem Verfahren

AK

gegen

Achmea Schadeverzekeringen NV,

Stichting Achmea Rechtsbijstand

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen (Berichterstatter) sowie der Richter A. Borg Barthet und E. Levits,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Achmea Schadeverzekeringen NV und von Stichting Achmea Rechtsbijstand, vertreten durch F. E. Vermeulen, P. R. van der Vorst und A. I. M. van Mierlo, advocaten,

der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Wilman und K.‑P. Wojcik als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 87/344/EWG des Rates vom 22. Juni 1987 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung (ABl. L 185, S. 77).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen AK einerseits und der Achmea Schadeverzekeringen NV und Stichting Achmea Rechtsbijstand andererseits (im Folgenden zusammen: Gesellschaften Achmea) wegen der Ablehnung der Übernahme der Anwaltskosten, die im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens vor einer öffentlichen Einrichtung betreffend einen Antrag auf Bewilligung einer besonderen medizinischen Behandlung entstanden sind.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Der elfte Erwägungsgrund der Richtlinie 87/344 lautet:

„Das Interesse des Rechtsschutzversicherten setzt voraus, dass Letzterer selbst seinen Rechtsanwalt oder eine andere Person wählen kann, die die nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften im Rahmen von Gerichts- und Verwaltungsverfahren anerkannten Qualifikationen besitzt, und zwar immer, wenn es zu einer Interessenkollision kommt.“

4

Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie gilt für die Rechtsschutzversicherung. Diese besteht darin, dass gegen Zahlung einer Prämie die Verpflichtung eingegangen wird, die Kosten des Gerichtsverfahrens zu übernehmen und andere sich aus dem Versicherungsvertrag ergebende Leistungen zu erbringen, insbesondere um

dem Versicherten den Schaden auf außergerichtlichem Wege oder durch ein Zivil- oder Strafverfahren zu ersetzen,

den Versicherten in einem Zivil-, Straf-, Verwaltungs- oder anderen Verfahren oder im Fall einer gegen ihn gerichteten Forderung zu verteidigen oder zu vertreten.“

5

In Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in ihrem Gebiet ansässigen Unternehmen gemäß der von dem Mitgliedstaat vorgeschriebenen Regelung oder, sofern der Mitgliedstaat dies gestattet, nach ihrer Wahl wenigstens eine der folgenden Alternativlösungen anwenden:

a)

Entweder muss das Unternehmen sicherstellen, dass ein Mitglied des Personals, das sich mit der Schadensverwaltung des Zweiges Rechtsschutz oder der Rechtsberatung für diese Verwaltung befasst, nicht gleichzeitig eine ähnliche Tätigkeit ausübt, und zwar

b)

oder das Unternehmen muss die Schadensverwaltung des Zweiges Rechtsschutz einem rechtlich selbständigen Unternehmen übertragen …

c)

oder das Unternehmen muss in dem Vertrag vorsehen, dass der Versicherte das Recht hat, die Vertretung seiner Interessen, sobald er das Tätigwerden des Versicherers aufgrund der Police verlangen kann, einem Rechtsanwalt seiner Wahl, oder soweit das nationale Recht dies zulässt, jeder anderen entsprechend qualifizierten Person zu übertragen.“

6

Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 87/344 bestimmt:

„In jedem Rechtsschutz-Versicherungsvertrag ist ausdrücklich anzuerkennen, dass

a)

wenn ein Rechtsanwalt oder eine sonstige nach dem nationalen Recht entsprechend qualifizierte Person in Anspruch genommen wird, um in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren den Versicherten zu verteidigen, zu vertreten oder seine Interessen wahrzunehmen, dem Versicherten die Wahl des Rechtsanwalts oder der sonstigen Person freisteht;

b)

der Versicherte einen Rechtsanwalt oder, wenn er es vorzieht, und soweit das nationale Recht dies zulässt, eine andere entsprechend qualifizierte Person frei wählen kann, die seine Interessen vertritt, wenn eine Interessenkollision entsteht.“

Niederländisches Recht

7

Art. 4:67 Abs. 1 des Gesetzes über die Finanzaufsicht (Wet op het financieel toezicht) lautet:

„Der Rechtsschutzversicherer trägt dafür Sorge, dass in dem Rechtsschutz-Versicherungsvertrag ausdrücklich vorgesehen ist, dass dem Versicherungsnehmer die Wahl eines Rechtsanwalts oder einer anderen rechtlich befugten sachkundigen Person freisteht, wenn

a.

ein Rechtsanwalt oder eine andere rechtlich befugte sachkundige Person in Anspruch genommen wird, um in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren den Versicherungsnehmer zu verteidigen, zu vertreten oder seine Interessen wahrzunehmen, oder

b.

eine Interessenkollision entsteht.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

8

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass AK eine Rechtsschutzversicherung bei der Achmea Schadeverzekeringen NV abschloss, die die Schadensverwaltung im Zusammenhang mit dieser Versicherung an Stichting Achmea Rechtsbijstand übertrug.

9

AK, der an verschiedenen psychischen und physischen Erkrankungen leidet, beantragte im November 2013 beim Zentrum für Behandlungsindikationsstellung (Centrum Indicatiestelling Zorg, im Folgenden: CIZ) die Bewilligung einer Behandlung nach dem Allgemeinen Gesetz über Besondere Krankheitskosten („Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten“).

10

Mit Bescheid vom 12. Dezember 2013 lehnte das CIZ den Antrag von AK auf Bewilligung einer Behandlung ab. Nachdem AK beschlossen hatte, beim CIZ einen Widerspruch gegen diese Ablehnung einzulegen, wandte er sich an die Gesellschaften Achmea und beantragte die Übernahme der Kosten für das Einschreiten eines auf Rechtssachen im Zusammenhang mit der Bewilligung von Behandlungen nach diesem Gesetz spezialisierten Rechtsanwalts seiner Wahl.

11

Nachdem die Gesellschaften Achmea den von AK gestellten Antrag auf Übernahme der Kosten abgelehnt hatten, brachte AK gegen diese Ablehnung eine Klage ein.

12

Die Rechtssache kam vor den Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) zur Klärung der Frage, ob das Verfahren über den Widerspruch gegen die Entscheidung des CIZ, mit der die Bewilligung der Behandlung abgelehnt wurde, als Zivil- oder Verwaltungsverfahren im Sinne von Art. 4:67 Abs. 1 des Gesetzes über die Finanzaufsicht, mit dem Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 87/344 umgesetzt wird, zu qualifizieren ist und ob es AK demzufolge freisteht, einen Rechtsanwalt auszuwählen, dessen Kosten die Gesellschaften Achmea zu übernehmen haben.

13

Das vorlegende Gericht stellt hierzu klar, dass gegen die Entscheidung des CIZ, einen Antrag auf Bewilligung einer Behandlung abzulehnen, bei diesem Widerspruch eingelegt werden kann, und dass gegen die Entscheidung über einen solchen Widerspruch bei dem zuständigen Gericht eine Klage erhoben und beim Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes) ein Rechtsmittel eingelegt werden kann.

14

Unter diesen Umständen hat der Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist der Begriff „Verwaltungsverfahren“ in Art. 4 Abs. 1 am Anfang und Buchst. a der Richtlinie 87/344 dahin auszulegen, dass darunter die Widerspruchsphase beim CIZ zu verstehen ist, in der derjenige, dessen Antrag auf Indikationsstellung vom CIZ abschlägig beschieden worden ist, bei diesem eine Widerspruchsschrift mit dem Antrag auf Neubescheidung einreicht?

Zur Vorlagefrage

15

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 87/344 dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Verwaltungsverfahren“ auch die Widerspruchsphase bei einem öffentlichen Organ umfasst, in der dieses Organ eine Entscheidung erlässt, die gerichtlich angefochten werden kann.

16

Hierzu ist erstens festzustellen, dass gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 87/344 in jedem Rechtsschutzversicherungsvertrag ausdrücklich anzuerkennen ist, dass in jedem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren, in dem ein Rechtsvertreter in Anspruch genommen wird, um den Versicherten zu verteidigen, zu vertreten oder seine Interessen wahrzunehmen, dem Versicherten die Wahl dieses Rechtsvertreters freisteht.

17

So ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass der Begriff „Verwaltungsverfahren“ im Gegensatz zum Begriff „Gerichtsverfahren“ zu lesen ist.

18

Eine Auslegung des Begriffs „Verwaltungsverfahren“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 87/344 wie die von den Beklagten im Ausgangsverfahren vorgeschlagene, die die Bedeutung dieses Begriffs auf Gerichtsverfahren in Verwaltungsangelegenheiten beschränken möchte, also solche, die vor einem Gericht im eigentlichen Sinne stattfinden, die auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung abzielen und die die Rechtsstellung des Betroffenen endgültig festlegen, nähme dem vom EU-Gesetzgeber ausdrücklich verwendeten Begriff „Verwaltungsverfahren“ daher seinen Sinn.

19

Im Übrigen ist festzustellen, dass, auch wenn die Unterscheidung zwischen der vorbereitenden Phase und der Entscheidungsphase eines Gerichts- oder Verwaltungsverfahrens im Zuge der Entstehung der Richtlinie 87/344 möglicherweise Gegenstand von Erörterungen war, deren Art. 4 Abs. 1 keine diesbezügliche Unterscheidung enthält, so dass die Auslegung des Begriffs „Verwaltungsverfahren“ nicht in diesem Sinne eingeschränkt werden darf.

20

Zweitens ist nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile St. Nikolaus Brennerei und Likörfabrik, 337/82, EU:C:1984:69, Rn. 10, VEMW u. a., C‑17/03, EU:C:2005:362, Rn. 41, und Eschig, C‑199/08, EU:C:2009:538, Rn. 38).

21

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das von der Richtlinie 87/344 und insbesondere von ihrem Art. 4 Abs. 1 – der die freie Wahl des Rechtsanwalts oder des Rechtsvertreters vorsieht – verfolgte Ziel darin besteht, die Interessen der Versicherten umfassend zu schützen. Die allgemeine Bedeutung und die Verbindlichkeit, die dem Recht auf Wahl seines Rechtsanwalts oder Rechtsvertreters eingeräumt werden, stehen einer einschränkenden Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie entgegen (vgl. in diesem Sinne Urteile Eschig, C‑199/08, EU:C:2009:538, Rn. 45 und 47, und Sneller, C‑442/12, EU:C:2013:717, Rn. 24).

22

Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Aktenstücken hervor, dass die Rechte des Versicherten sowohl durch den ursprünglichen Bescheid des CIZ als auch durch die Entscheidung über den Widerspruch beeinträchtigt werden, weil die Tatsachenwürdigung während dieser Verwaltungsphase stattfindet und die Entscheidungsgrundlage im Rahmen des darauf folgenden verwaltungsgerichtlichen Verfahrens darstellt.

23

Daher kann nicht in Frage gestellt werden, dass der Versicherte anlässlich eines Verfahrens, das die unabdingbare Voraussetzung für die Einbringung einer Klage vor dem Verwaltungsgericht darstellt, eines Rechtsschutzes bedarf.

24

Eine solche Auslegung kann nicht durch das Vorbringen der Beklagten des Ausgangsverfahrens in Frage gestellt werden, wonach eine weite Auslegung des Rechts auf freie Wahl eines Rechtsanwalts oder Rechtsvertreters dazu führte, jede Rechtsschutzversicherung in eine auf dem Prinzip der „Kostendeckung“ beruhende Versicherung im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 87/344 umzuwandeln. Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass die in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 87/344 genannten Maßnahmen ihren Anwendungsbereich auch dann behalten, wenn aus Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie ein eigenständiger Anspruch des Rechtsschutzversicherten auf die freie Wahl seines Rechtsvertreters abgeleitet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Eschig, C‑199/08, EU:C:2009:538, Rn. 49).

25

Außerdem ist hinsichtlich möglicher finanzieller Auswirkungen auf die Rechtsschutzversicherungssysteme festzustellen, dass sie, selbst wenn sie möglicherweise eintreten, nicht zu einer einschränkenden Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 87/344 führen dürfen. Die Richtlinie 87/344 bezweckt nämlich keine vollständige Harmonisierung der auf die Rechtsschutzversicherungsverträge anwendbaren Vorschriften, und es steht den Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts daher frei, diese Vorschriften festzulegen, soweit die in dieser Richtlinie vorgesehenen Prinzipien nicht ihrer Substanz beraubt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Stark, C‑293/10, EU:C:2011:355, Rn. 31). Die Ausübung des Rechts des Versicherten auf freie Wahl seines Vertreters schließt somit nicht aus, dass in bestimmten Fällen Beschränkungen hinsichtlich der von den Versicherern zu übernehmenden Kosten vorgesehen werden können (vgl. Urteil Sneller, C‑442/12, EU:C:2013:717, Rn. 26).

26

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 87/344 dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Verwaltungsverfahren“ auch die Widerspruchsphase bei einem öffentlichen Organ umfasst, in der dieses Organ eine Entscheidung erlässt, die gerichtlich angefochten werden kann.

Kosten

27

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 87/344/EWG des Rates vom 22. Juni 1987 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Verwaltungsverfahren“ auch die Widerspruchsphase bei einem öffentlichen Organ umfasst, in der dieses Organ eine Entscheidung erlässt, die gerichtlich angefochten werden kann.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

( i ) Im Anschluss an einen Antrag auf Anonymisierung ist der Name im Rubrum sowie in den Randnummern 2 und 8 bis 12 durch Buchstaben ersetzt worden.