SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 10. Mai 2016 ( 1 )

Rechtssache C‑182/15

Aleksei Petruhhin

(Vorabentscheidungsersuchen des Augstākā tiesa [Oberster Gerichtshof, Lettland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Unionsbürgerschaft — Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV — Ersuchen um Auslieferung einer Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Russland — Weigerung eines Mitgliedstaats, seine eigenen Staatsangehörigen auszuliefern — Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit — Rechtfertigung — Kampf gegen Straflosigkeit — Prüfung der in Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorgesehenen Garantien“

1. 

Die Auslieferung kann als ein Verfahren der repressiven internationalen Rechtshilfe definiert werden, mit dem ein Staat einen anderen Staat darum ersucht, ihm eine Person zu überstellen, die sich in dessen Hoheitsgebiet befindet, um diese Person zu verfolgen, sie abzuurteilen oder, wenn sie bereits verurteilt wurde, ihre Strafe zu vollstrecken.

2. 

Die vorliegende Rechtssache bezieht sich auf ein Auslieferungsersuchen, das von der Russischen Föderation an die Republik Lettland gerichtet wurde und einen estnischen Staatsangehörigen betrifft, der im lettischen Hoheitsgebiet festgenommen wurde.

3. 

Der Gerichtshof wird im Wesentlichen um Entscheidung darüber ersucht, ob der Auslieferungsschutz, den lettische Staatsangehörige aufgrund ihres nationalen Rechts und eines bilateralen Abkommens mit der Russischen Föderation genießen, nach den Regeln des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft auf die Staatsbürger anderer Mitgliedstaaten zu erstrecken ist.

4. 

Eine Reihe von Mitgliedstaaten, darunter die Republik Lettland, sehen in ihrem nationalen Recht sowie in den internationalen Übereinkommen, zu deren Parteien sie gehören, den Grundsatz vor, dass sie eigene Staatsbürger nicht ausliefern. Wird an einen solchen Mitgliedstaat ein Auslieferungsersuchen gerichtet, das einen Unionsbürger betrifft, der kein Angehöriger dieses Staates ist, schafft dieser Grundsatz eine Ungleichbehandlung zwischen den Angehörigen des betreffenden Staates und denen der anderen Mitgliedstaaten. Meines Erachtens stellt eine solche Ungleichbehandlung aber keine gegen Art. 18 Abs. 1 AEUV verstoßende Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar, wenn dargelegt wird, dass sich diese beiden Gruppen von Staatsangehörigen im Hinblick auf die Zielsetzung des Kampfes gegen die Straflosigkeit von Personen, die verdächtigt werden, in einem Drittstaat eine Straftat begangen zu haben, nicht in einer vergleichbaren Situation befinden.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

5.

Art. 19 („Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ( 2 ) bestimmt in Abs. 2:

„Niemand darf in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.“

B – Lettisches Recht

6.

Die lettische Verfassung bestimmt in Art. 98 Satz 3:

„Ein lettischer Bürger darf nicht an das Ausland ausgeliefert werden, mit Ausnahme der in internationalen, von der Saeima (Parlament) ratifizierten Vereinbarungen vorgesehenen Fälle, sofern durch die Auslieferung die in der Verfassung gewährleisteten Grundrechte nicht verletzt werden.“

7.

Nach Art. 4 des Krimināllikums (Strafgesetz, im Folgenden: lettisches Strafgesetz) gilt:

„(1)   Lettische Bürger und Nicht-Bürger[ ( 3 )] sowie Ausländer im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für Lettland haben sich im lettischen Hoheitsgebiet nach diesem Gesetz für im Hoheitsgebiet eines anderen Staates oder außerhalb jedes Hoheitsgebiets begangene Handlungen zu verantworten, unabhängig davon, ob diese Handlung am Ort ihrer Begehung als Straftat angesehen wird und mit Strafe belegt werden kann.

(3)   Ausländer, die nicht im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für Lettland sind und im Hoheitsgebiet eines anderen Staates schwere oder besonders schwere Straftaten begangen haben, die sich gegen die Interessen der Republik Lettland oder ihrer Bewohner richten, haben sich, unabhängig von den Gesetzen des Staates, in dessen Hoheitsgebiet die Straftat begangen wurde, nach dem vorliegenden Gesetz strafrechtlich zu verantworten, wenn sie sich nicht nach den Gesetzen des Staates, in dem sich der Ort befindet, an dem die Straftat begangen wurde, strafrechtlich zu verantworten hatten oder vor Gericht gestellt wurden.

(4)   Ausländer, die nicht im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für Lettland sind und im Hoheitsgebiet eines anderen Staates oder außerhalb jedes Hoheitsgebiets eine Straftat begangen haben, haben sich, unabhängig von den Gesetzen des Staates, in dessen Hoheitsgebiet die Straftat begangen wurde, in den durch internationale, die Republik Lettland bindende Abkommen vorgesehenen Fällen nach dem vorliegenden Gesetz strafrechtlich zu verantworten, wenn sie nicht im Hoheitsgebiet eines anderen Staates für diese Straftat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder vor Gericht gestellt wurden.“

8.

Kapitel 66 („Auslieferung einer Person an einen ausländischen Staat“) des Kriminālprocesa likums (Gesetz über das Strafverfahren, im Folgenden: lettisches Strafverfahrensgesetz) bestimmt in seinem Art. 696 Abs. 1 und 2:

„(1)   Eine Person, die sich im lettischen Hoheitsgebiet befindet, kann zur Strafverfolgung, zur Aburteilung oder zur Vollstreckung eines Urteils ausgeliefert werden, wenn ein anderes Land beantragt hat, sie im Zusammenhang mit einem Sachverhalt, der nach lettischem Recht und nach dem Recht dieses anderen Landes einen Straftatbestand erfüllt, in Untersuchungshaft zu nehmen oder auszuliefern.

(2)   Eine Person kann zum Zweck der Strafverfolgung oder Aburteilung bei Taten ausgeliefert werden, die mit Freiheitsstrafe, deren Höchstmaß nicht unter einem Jahr liegt, oder einer schwereren Strafe bedroht sind, es sei denn, aus einer internationalen Vereinbarung geht etwas anderes hervor.“

9.

In Art. 697 Abs. 2 des lettischen Strafverfahrensgesetzes heißt es:

„Die Auslieferung ist in folgenden Fällen nicht zulässig:

1.

wenn die Person lettischer Bürger ist;

2.

wenn der Antrag auf Auslieferung der betreffenden Person zu dem Zweck gestellt wurde, diese Person wegen ihrer Rasse, ihrer Religionszugehörigkeit, ihrer Staatsangehörigkeit oder ihren politischen Ansichten strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen, oder wenn die begründete Besorgnis besteht, dass die Rechte dieser Person aus solchen Gründen verletzt werden könnten;

7.

wenn die Möglichkeit besteht, dass die Person im ausländischen Staat gefoltert wird.“

10.

Das Abkommen zwischen der Republik Lettland und der Russischen Föderation über Rechtshilfe und die Rechtsbeziehungen auf den Gebieten des Zivil-, Familien- und Strafrechts vom 3. Februar 1993 bestimmt in seinen Art. 1 und 62:

„Artikel 1. Rechtlicher Schutz

(1)   Die Bürger einer Vertragspartei genießen im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei denselben rechtlichen Schutz im Hinblick auf ihre persönlichen Rechte und Vermögensrechte wie die Bürger der anderen Vertragspartei.

(2)   Die Bürger einer Vertragspartei sind berechtigt, sich frei und ungehindert an die Gerichte, die Staatsanwaltschaft, die Notariate … sowie an andere auf dem Gebiet des Zivil-, Familien- und Strafrechts zuständige Einrichtungen der anderen Vertragspartei zu wenden und können vor ihnen unter denselben Bedingungen wie die inländischen Bürger auftreten, Anträge stellen, Rechtsmittel einlegen und Prozesshandlungen vornehmen.

Artikel 62. Ablehnung der Auslieferung

(1)   Die Auslieferung wird nicht vorgenommen, wenn

1.

die Person, deren Auslieferung beantragt wird, Bürger der Vertragspartei ist, an die das Ersuchen gerichtet wurde, oder wenn sie in diesem Land den Status eines Flüchtlings hat.

…“

11.

Das am 11. November 1992 in Tallinn unterzeichnete Übereinkommen über Rechtshilfe und die Rechtsbeziehungen zwischen der Republik Lettland, der Republik Estland und der Republik Litauen sieht in seinem Art. 1 Abs. 1 vor:

„Die Bürger einer Vertragspartei genießen im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei denselben Schutz im Hinblick auf ihre persönlichen Rechte und Vermögensrechte wie die Bürger dieser anderen Vertragspartei.“

II – Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen

12.

Am 22. Juli 2010 wurde Herr Aleksei Petruhhin, ein estnischer Staatsangehöriger, auf der Website von Interpol mit Priorität zur Fahndung ausgeschrieben.

13.

Herr Petruhhin wurde am 30. September 2014 in der Stadt Bauska (Lettland) festgenommen und in Untersuchungshaft genommen.

14.

Am 21. Oktober 2014 stellte die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation bei den lettischen Behörden ein Auslieferungsersuchen. Aus diesem Ersuchen ergibt sich, dass die Strafverfolgung von Herrn Petruhhin durch Beschluss vom 9. Februar 2009 angeordnet wurde und dass gegen ihn eine Maßregel der Sicherung zu verhängen sei. Nach diesem Beschluss wird Herrn Petruhhin versuchter gemeinschaftlicher Handel mit Betäubungsmitteln in großem Ausmaß zur Last gelegt. Diese Straftat kann nach den russischen Gesetzen mit einer Freiheitsstrafe von 8 bis 20 Jahren geahndet werden.

15.

Die Generalstaatsanwaltschaft der Republik Lettland genehmigte die Auslieferung von Herrn Petruhhin an Russland. Am 4. Dezember 2014 beantragte Herr Petruhhin jedoch die Aufhebung der Auslieferungsentscheidung mit der Begründung, dass er nach Art. 1 des Übereinkommens über Rechtshilfe und die Rechtsbeziehungen zwischen der Republik Lettland, der Republik Estland und der Republik Litauen in Lettland die gleichen Rechte wie ein lettischer Staatsbürger habe und dass die Republik Lettland daher verpflichtet sei, ihn vor einer ungerechtfertigten Auslieferung zu schützen.

16.

Der Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland) hebt hervor, dass weder im lettischen Recht noch in einem – insbesondere mit der Russischen Föderation und mit den anderen baltischen Staaten – von der Republik Lettland unterzeichneten internationalen Abkommen ein Vorbehalt bestehe, der die Auslieferung eines estnischen Staatsbürgers nach Russland verbiete. Nach Art. 62 des Abkommens zwischen der Republik Lettland und der Russischen Föderation über Rechtshilfe und die Rechtsbeziehungen auf den Gebieten des Zivil-, Familien- und Strafrechts vom 3. Februar 1993 sei der Schutz vor einer solchen Auslieferung nur für lettische Staatsbürger vorgesehen.

17.

Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ( 4 ) den Mitgliedstaaten zwar die Auslieferung ihrer jeweiligen Staatsangehörigen erlaube. Dagegen sei kein Mechanismus der gegenseitigen Konsultation zwischen den Mitgliedstaaten vorgesehen, der die Einholung des Einverständnisses des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit eine Person besitze, mit ihrer Auslieferung an einen Drittstaat ermögliche.

18.

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich nach Auffassung des vorlegenden Gerichts, dass der den eigenen Staatsangehörigen von einem Mitgliedstaat gewährte Schutz vor einer Auslieferung an Drittstaaten nur im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats gilt. Dies widerspreche aber dem Wesen der Unionsbürgerschaft, d. h. dem Recht auf äquivalenten Schutz. Diese Situation führe bei den Unionsbürgern zu Unsicherheit über die Freizügigkeit in der Europäischen Union.

19.

Das vorlegende Gericht ist der Meinung, dass der mit einem Ersuchen um Auslieferung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats an einen Drittstaat befasste Mitgliedstaat den Unionsbürgern dasselbe Schutzniveau wie seinen eigenen Staatsangehörigen garantieren müsse.

20.

Da der Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof) dennoch Zweifel daran hat, wie das Unionsrecht auszulegen ist, hat er am 26. März 2015 unter Aufhebung der Untersuchungshaft von Herrn Petruhhin beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen, dass im Fall der Auslieferung eines Bürgers eines Mitgliedstaats der Europäischen Union an einen nicht der Europäischen Union angehörenden Staat, die aufgrund eines Auslieferungsabkommens zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittland erfolgt, dasselbe Schutzniveau gewährleistet sein muss wie für einen Bürger des betreffenden Mitgliedstaats?

2.

Muss das Gericht des Mitgliedstaats, der um Auslieferung ersucht worden ist, unter diesen Umständen die Auslieferungsvoraussetzungen des Mitgliedstaats anwenden, dem der Betreffende angehört, oder diejenigen des Mitgliedstaats, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat?

3.

Muss der um Auslieferung ersuchte Mitgliedstaat, falls die Auslieferung ohne Einhaltung des für die Bürger des um Auslieferung ersuchten Staates festgelegten besonderen Schutzniveaus vorzunehmen ist, überprüfen, ob die in Art. 19 der Charta festgelegten Garantien beachtet werden, wonach niemand an einen Staat ausgeliefert werden darf, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht? Darf sich diese Prüfung auf die Feststellung beschränken, dass der die Auslieferung beantragende Staat Vertragspartei des Übereinkommens zur Verhütung von Folter ist, oder muss die tatsächliche Situation unter Berücksichtigung der Bewertung dieses Staates durch die Organe des Europarats ermittelt werden?

III – Würdigung

A – Vorbemerkungen

1. Zur etwaigen Anwendung von Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens über Rechtshilfe und die Rechtsbeziehungen zwischen der Republik Lettland, der Republik Estland und der Republik Litauen bei der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits

21.

In seiner Beschwerde gegen die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft der Republik Lettland, mit der seine Auslieferung genehmigt wurde, stützt sich Herr Petruhhin insbesondere auf Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens über Rechtshilfe und die Rechtsbeziehungen zwischen der Republik Lettland, der Republik Estland und der Republik Litauen. Er macht geltend, dass er auf der Grundlage dieser Bestimmung den gleichen Schutz durch die Republik Lettland genießen müsse, wie ihn dieser Mitgliedstaat seinen Staatsangehörigen im Fall der Strafverfolgung gewährleiste. Daraus folge, dass dieser Mitgliedstaat die Pflicht habe, ihn gegen ein ungerechtfertigtes Auslieferungsersuchen zu verteidigen, und dass er von der Republik Lettland erwarten könne, dass sie alles tue, um Beweise seiner Schuld oder Unschuld zu erhalten. Wie sich aus der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft der Republik Lettland ergebe, werde aber nichts unternommen, um die ihm im russischen Hoheitsgebiet zur Last gelegten Straftaten weitestgehend und genauestens zu prüfen.

22.

In der mündlichen Verhandlung ist die lettische Regierung dazu befragt worden, ob Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens über Rechtshilfe und die Rechtsbeziehungen zwischen der Republik Lettland, der Republik Estland und der Republik Litauen dahin ausgelegt werden könnte, dass es estnischen und litauischen Staatsangehörigen den gleichen Schutz vor Auslieferung verschaffe wie lettischen Staatsbürgern. Nach den Ausführungen der lettischen Regierung hat die lettische Rechtsprechung diese Bestimmung bisher nicht dahin ausgelegt, dass sie estnischen und litauischen Staatsbürgern zusätzliche Garantien gebe, nicht von der Republik Lettland ausgeliefert zu werden.

23.

Die Prüfung, ob der Ausgangsrechtsstreit durch eine Auslegung von Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens über Rechtshilfe und die Rechtsbeziehungen zwischen der Republik Lettland, der Republik Estland und der Republik Litauen entschieden werden kann, obliegt dem vorlegenden Gericht. Es hat dabei insbesondere zu klären, ob der in dieser Bestimmung enthaltene Ausdruck „persönliche Rechte“ das Recht umfasst, rechtlichen Schutz vor einer Auslieferung zu erhalten.

2. Zur Zulässigkeit der Vorlage zur Vorabentscheidung

24.

Die lettische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung zu bedenken gegeben, dass sich Herr Petruhhin nicht mehr in ihrem Hoheitsgebiet aufhalte, sondern nach der am 26. März 2015 erfolgten Aufhebung seiner Untersuchungshaft nach Estland zurückgekehrt sei. Die Regierungen der Mitgliedstaaten, die sich in der mündlichen Verhandlung geäußert haben, haben hieraus den Schluss gezogen, dass die Vorlage zur Vorabentscheidung für unzulässig zu erklären sei.

25.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das mit Art. 267 AEUV eingerichtete Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen ( 5 ).

26.

Im Rahmen dieser Zusammenarbeit ist es allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, so ist der Gerichtshof grundsätzlich verpflichtet, darüber zu befinden ( 6 ).

27.

Hieraus folgt, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind ( 7 ).

28.

Deshalb folgt nach ständiger Rechtsprechung sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV, dass das Vorabentscheidungsverfahren voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der die Vorabentscheidung berücksichtigt werden kann ( 8 ).

29.

Dies ist in der vorliegenden Rechtssache der Fall. Die lettische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung nämlich bestätigt, dass das vorlegende Gericht nach wie vor mit einem bei ihm anhängigen Rechtsstreit befasst ist. Auch wenn ungewiss sein mag, wo sich Herr Petruhhin momentan aufhält, hat das vorlegende Gericht daher über die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft der Republik Lettland zu befinden, ihn auszuliefern. Nach Art. 707 des lettischen Strafverfahrensgesetzes kann das vorlegende Gericht entscheiden, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft bestätigt wird, dass sie aufgehoben und die Auslieferung abgelehnt wird oder dass das Auslieferungsersuchen einer ergänzenden Prüfung unterzogen wird. Aus dem Blickwinkel der vom vorlegenden Gericht zu treffenden Entscheidung behält eine Beantwortung der Vorlagefragen durch den Gerichtshof ihren vollen Nutzen. Wie bei einer Verurteilung, nach der die verurteilte Person flüchtet, könnte eine solche Entscheidung jederzeit vollstreckt werden, gegebenenfalls nach einer neuerlichen Verhaftung von Herrn Petruhhin im lettischen Hoheitsgebiet.

30.

In Anbetracht dieser Gesichtspunkte halte ich die Vorlage zur Vorabentscheidung für zulässig.

B – Zur ersten und zur zweiten Frage

31.

Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Entscheidung darüber, ob Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen sind, dass ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats befindet und um dessen Auslieferung ein Drittstaat ersucht, ebenfalls in den Genuss der Regel kommen muss, die Staatsangehörige dieses anderen Mitgliedstaats vor einer Auslieferung schützt.

32.

Vorab ist zu untersuchen, ob die Situation von Herrn Petruhhin in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und insbesondere der Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft fällt.

33.

Mit Ausnahme der Regierung des Vereinigten Königreichs machen alle Regierungen, die schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, geltend, dass die Regeln über die Auslieferung, wenn es in diesem Bereich kein Abkommen zwischen der Union und einem Drittstaat gebe, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fielen und außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts lägen.

34.

Ich teile diese Ansicht nicht. Ich pflichte vielmehr dem von der Regierung des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung vertretenen Standpunkt bei, dass Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV anwendbar sind, da Herr Petruhhin sein unionsrechtliches Freizügigkeits- oder Niederlassungsrecht wahrgenommen hat und daher grundsätzlich Anspruch darauf hat, ebenso behandelt zu werden wie die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats.

35.

Hervorzuheben ist nämlich, dass Herr Petruhhin als estnischer Staatsangehöriger nach Art. 20 Abs. 1 AEUV den Status eines Unionsbürgers genießt und sich daher sowohl gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat als auch gegenüber dem Mitgliedstaat, in den er sich begibt, auf die mit einem solchen Status verbundenen Rechte berufen kann.

36.

Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, ist der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, im sachlichen Anwendungsbereich des AEU-Vertrags unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen ( 9 ).

37.

Da die in Art. 20 AEUV vorgesehene Unionsbürgerschaft nicht bezweckt, den sachlichen Anwendungsbereich des AEU-Vertrags auf interne Sachverhalte auszudehnen, die keinerlei Bezug zum Unionsrecht aufweisen ( 10 ), ist zu prüfen, ob solche Bezüge vorliegen.

38.

Die Regierungen der Mitgliedstaaten haben hierbei im Rahmen des vorliegenden Verfahrens den klassischen Standpunkt zu dieser Fallgruppe wiederholt, und zwar, dass die Anwendung der Regeln des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft voraussetze, dass sich der Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits auf einen vom Unionsrecht geregelten Bereich beziehe, und dass es nicht genüge, dass der betreffende Unionsbürger von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe.

39.

Hervorzuheben ist aber, dass nach ständiger Rechtsprechung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts u. a. Situationen fallen, in denen es um die Ausübung der durch den AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten und namentlich der durch Art. 21 AEUV verliehenen Freiheit geht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten ( 11 ). In Bereichen, die in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, kann daher die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit und auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einen einschlägigen Bezug zum Unionsrecht darstellen ( 12 ). Ist der Gerichtshof hingegen mit einer Situation konfrontiert, in der zum einen der in Rede stehende Bereich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt und zum anderen die Person, die sich auf das Unionsrecht beruft, von ihrem in Art. 21 AEUV vorgesehenen Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, wird er sich für unzuständig erklären, über die ihm unterbreitete Vorlage zur Vorabentscheidung zu entscheiden ( 13 ).

40.

Es steht jedoch fest, dass Herr Petruhhin, als er in Lettland festgenommen wurde, von seiner durch Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleisteten Freiheit, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hatte.

41.

Ferner ist klarzustellen, dass die Mitgliedstaaten mangels unionsrechtlicher Regeln im Bereich der Auslieferung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nach Russland ( 14 ) für den Erlass solcher Regeln und den Abschluss von Abkommen mit der Russischen Föderation in diesem Bereich zuständig bleiben.

42.

Die Mitgliedstaaten sind allerdings verpflichtet, diese Zuständigkeit unter Beachtung des Unionsrechts und insbesondere der Bestimmungen des AEU-Vertrags über das durch Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger verliehene Recht auszuüben, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten ( 15 ).

43.

Somit sind die Mitgliedstaaten auch in Bereichen, die in ihre Zuständigkeit fallen, bei Vorliegen eines hinreichenden Bezugs zum Unionsrecht – was bei einem Unionsbürger, der von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich im Gebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, der Fall ist –, verpflichtet, eine unterschiedliche Behandlung ihrer Staatsangehörigen und der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten mit objektiven Gründen zu rechtfertigen ( 16 ).

44.

Nunmehr ist zu prüfen, ob die Regel, nach der die Republik Lettland ihre eigenen Staatsangehörigen nicht ausliefert, eine gegen Art. 18 Abs. 1 AEUV verstoßende Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt.

45.

Herr Petruhhin wurde in Lettland festgenommen und befand sich dort bis zum 26. März 2015 in Untersuchungshaft. Am 21. Oktober 2014 ging bei der Staatsanwaltschaft der Republik Lettland ein Auslieferungsersuchen der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation ein. Somit sind die Bestimmungen des lettischen Rechts sowie die des Abkommens zwischen der Republik Lettland und der Russischen Föderation über Rechtshilfe und die Rechtsbeziehungen auf den Gebieten des Zivil-, Familien- und Strafrechts vom 3. Februar 1993 anzuwenden.

46.

Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache ist die Regel, nach der lettische Staatsangehörige von Lettland nicht an einen Drittstaat ausgeliefert werden können, in Art. 98 Satz 3 der lettischen Verfassung, in Art. 697 Abs. 2 Nr. 1 des lettischen Strafverfahrensgesetzes und in Art. 62 Abs. 1 Nr. 1 des Abkommens zwischen der Republik Lettland und der Russischen Föderation über Rechtshilfe und die Rechtsbeziehungen auf den Gebieten des Zivil-, Familien- und Strafrechts vom 3. Februar 1993 enthalten.

47.

Daraus, dass nach dieser Regel nur lettische Staatsangehörige den Auslieferungsschutz genießen, ergibt sich eine unterschiedliche Behandlung gegenüber Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich im lettischen Hoheitsgebiet befinden und um deren Auslieferung ein Drittstaat ersucht hat.

48.

Da Herr Petruhhin von dem ihm durch Art. 21 Abs. 1 AEUV verliehenen Recht, sich in diesem Hoheitsgebiet frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, ist im Hinblick auf Art. 18 Abs. 1 AEUV zu prüfen, ob die Regel, nach der die Republik Lettland ihre eigenen Staatsangehörigen nicht an Russland ausliefert, mit dem Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit vereinbar ist.

49.

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das Diskriminierungsverbot nach ständiger Rechtsprechung verlangt, dass gleiche Sachverhalte nicht ungleich und ungleiche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden. Eine solche Behandlung könnte nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimerweise verfolgten Zweck stünde ( 17 ).

50.

In einem Kontext wie dem des Ausgangsrechtsstreits ist daher die Situation von Unionsbürgern, die keine lettischen Staatsangehörigen sind und sich in Lettland aufhalten, mit der von lettischen Staatsangehörigen zu vergleichen.

51.

Der Grundsatz der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger ist ein traditioneller Grundsatz des Auslieferungsrechts. Er hat seine Wurzeln in der Souveränität der Staaten über ihre Staatsangehörigen, in den aus gegenseitiger Verbundenheit entstehenden Pflichten und im fehlenden Vertrauen in die Rechtsordnungen anderer Staaten. So wird als einer der Gründe zur Rechtfertigung dieses Grundsatzes angeführt, dass ein Staat insbesondere die Pflicht habe, seine Staatsangehörigen vor der Anwendung einer ausländischen Strafrechtsordnung, deren Verfahren und Sprache sie nicht kennen und in deren Rahmen sie sich nur schwer verteidigen können, zu schützen ( 18 ).

52.

Aus dem Blickwinkel des Unionsrechts und der von ihm postulierten Gleichbehandlung scheinen die Grundlagen des Grundsatzes der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger auf relativ schwachen Füßen zu stehen. Gleiches gilt für die Schutzpflicht eines Mitgliedstaats gegenüber seinen Staatsangehörigen. Es erschließt sich mir nicht, weshalb sich eine solche Pflicht nicht auf die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten erstrecken sollte. Dafür spricht auch Art. 20 Abs. 2 Buchst. c AEUV, der vorsieht, dass die Unionsbürger „im Hoheitsgebiet eines Drittlands, in dem der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, nicht vertreten ist, Recht auf Schutz durch die diplomatischen und konsularischen Behörden eines jeden Mitgliedstaats unter denselben Bedingungen wie Staatsangehörige dieses Staates“ haben.

53.

Gleiches gilt auch für das Argument, der Grundsatz der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger beruhe auf dem Misstrauen der Staaten gegenüber fremden Rechtssystemen. Zu diesem Gesichtspunkt wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass „[d]ieses Misstrauen … zweifellos einer der Grundpfeiler [ist], auf die sich die Art und Weise stützt, wie die Auslieferung heutzutage praktiziert – und insbesondere verweigert – wird. Aber auch wenn es zu rechtfertigen vermag, dass ein Staat einem Auslieferungsersuchen nicht entspricht, lässt sich mit ihm nur schwer erklären, warum nur das Ersuchen um Auslieferung eines eigenen Staatsangehörigen aufgrund seiner Staatsangehörigkeit abgelehnt wird. Wenn das Misstrauen eine Ablehnung der Auslieferung rechtfertigt, rechtfertigt es sie bei allen, nicht nur bei den eigenen Staatsangehörigen.“ ( 19 )

54.

Auch wenn die Grundlagen der Regel, nach der ein Staat seine eigenen Staatsangehörigen nicht ausliefert, also mit Vorsicht zu betrachten sind, wenn sie am Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gemessen werden, gibt es meines Erachtens gleichwohl einen objektiven Grund, in Anbetracht eines Auslieferungsersuchens eines Drittstaats zwischen der Situation der Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats und der Situation der Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten zu differenzieren.

55.

In einem Kontext wie dem des Ausgangsrechtsstreits ist nämlich die Situation der Unionsbürger, die keine lettischen Staatsangehörigen sind und sich in Lettland aufhalten, mit der Situation lettischer Staatsangehöriger anhand des im Rahmen des vorliegenden Verfahrens von mehreren Mitgliedstaaten sowie von der Europäischen Kommission angeführten Ziels zu vergleichen, die Straflosigkeit von Personen zu bekämpfen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt werden. Ein solches Ziel ist im Unionsrecht zweifellos als legitim einzustufen ( 20 ).

56.

Hierzu ist festzustellen, dass es sich bei der Auslieferung um ein Verfahren handelt, das die Verfolgung einer Straftat oder die Vollstreckung einer Strafe ermöglicht. Anders gesagt handelt es sich um ein Verfahren, das seinem Wesen nach verhindern soll, dass eine Person, die sich in einem anderen Hoheitsgebiet aufhält als dem, in dem eine Straftat begangen wurde, der Strafe entgeht ( 21 ).

57.

In Anbetracht einer solchen Zielsetzung könnte die Situation, in der sich die beiden zuvor genannten Gruppen von Unionsbürgern befinden, nur dann als vergleichbar angesehen werden, wenn beide Gruppen in Lettland wegen der in einem Drittstaat begangenen Straftaten strafrechtlich verfolgt werden könnten.

58.

Mit anderen Worten impliziert die Beurteilung der Vergleichbarkeit der Situationen, in denen sich die Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats und die der anderen Mitgliedstaaten befinden, die Prüfung, ob Unionsbürger, die nicht an einen Drittstaat ausgeliefert werden – im Einklang mit der Maxime aut dedere aut iudicare (ausliefern oder verfolgen) – im ersuchten Mitgliedstaat wegen der im Drittstaat begangenen Straftaten strafrechtlich verfolgt werden könnten. Es ist also zu prüfen, ob im vorliegenden Fall der überkommene Grundsatz des internationalen Auslieferungsrechts gewahrt ist, wonach der ersuchte Staat, der eine Auslieferung seiner Staatsangehörigen verweigert, in der Lage sein muss, diese zu verfolgen.

59.

Hugo Grotius definierte den Grundsatz aut dedere aut punire (ausliefern oder bestrafen) in der Weise, dass „der Staat, wo der Verbrecher sich aufhält, nach erlangter Kenntniss entweder selbst auf Verlangen ihn angemessen strafen oder ihn dem verletzten Staate zur Entscheidung überlassen muss“ ( 22 ). Der Begriff „strafen“ wird nunmehr durch den Begriff „verfolgen“ als zweiten Teil der Alternative zur Auslieferung ersetzt, um der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen, die für die einer Straftat verdächtigten Personen gilt.

60.

Die Maxime aut dedere aut iudicare kommt in zahlreichen bilateralen oder multilateralen Auslieferungsübereinkünften zum Ausdruck ( 23 ). Die Verpflichtung zur Auslieferung oder Verfolgung kommt beispielsweise in Art. 6 des am 13. Dezember 1957 in Paris unterzeichneten Europäischen Auslieferungsübereinkommens zum Ausdruck. Nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a dieses Übereinkommens ist „[j]ede Vertragspartei … berechtigt, die Auslieferung ihrer Staatsangehörigen abzulehnen“. Art. 6 Abs. 2 des Übereinkommens ergänzt diese Bestimmung wie folgt: „Liefert der ersuchte Staat seinen Staatsangehörigen nicht aus, so hat er auf Begehren des ersuchenden Staates die Angelegenheit den zuständigen Behörden zu unterbreiten, damit gegebenenfalls eine gerichtliche Verfolgung durchgeführt werden kann.“

61.

Diese Übereinkommen beruhen – wie dem Abschlussbericht „Verpflichtung zur Auslieferung oder Verfolgung (aut dedere aut iudicare)“ der Vereinten Nationen von 2014 zu entnehmen ist – auf der allgemeinen gegenseitigen Verpflichtung der beteiligten Staaten, alle Personen zu übergeben, die von den zuständigen Behörden des ersuchenden Staates verfolgt oder zur Vollstreckung einer Strafe oder eine Maßnahme der Sicherung und Besserung gesucht werden. Von dieser Auslieferungspflicht gibt es jedoch eine Reihe von Ausnahmen, insbesondere wenn die Person, um deren Auslieferung ersucht wird, ein Staatsangehöriger des ersuchten Staates ist. Um Straflosigkeit zu verhindern, verpflichten die Übereinkommen den ersuchten Staat, wenn er eine Auslieferung verweigert, zum zweiten Teil der Alternative, d. h. dazu, den Straftäter zu verfolgen ( 24 ).

62.

Aufgrund der Pflicht zur Auslieferung oder Verfolgung ist der ersuchte Staat somit, wenn er einem Auslieferungsersuchen nicht entspricht, verpflichtet, den Verdächtigen zu verfolgen ( 25 ), um die Wirksamkeit der internationalen Zusammenarbeit zwischen den Staaten sicherzustellen und zu verhindern, dass der Verdächtige straflos bleibt.

63.

Im Kontext der vorliegenden Rechtssache befinden sich lettische Staatsangehörige und Staatsangehörige der übrigen Mitgliedstaaten aber gerade hinsichtlich dieses Aspekts nicht in einer vergleichbaren Situation.

64.

Die Gefahr, dass die von einem Auslieferungsersuchen betroffene Person der Strafe entgeht, kann bestehen, wenn der ersuchte Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht keine gerichtliche Zuständigkeit vorgesehen hat, die es ihm ermöglicht, einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats abzuurteilen, der verdächtigt wird, im Hoheitsgebiet eines Drittstaats eine Straftat begangen zu haben.

65.

Hierzu weise ich, wie die Kommission, darauf hin, dass sich nach Art. 4 Abs. 1 des lettischen Strafgesetzes „[l]ettische Bürger und Nicht-Bürger[ ( 26 )] sowie Ausländer im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für Lettland … im lettischen Hoheitsgebiet nach diesem Gesetz für im Hoheitsgebiet eines anderen Staates oder außerhalb jedes Hoheitsgebiets begangene Handlungen zu verantworten [haben], unabhängig davon, ob diese Handlung am Ort ihrer Begehung als Straftat angesehen wird und mit Strafe belegt werden kann“.

66.

Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass lettische Staatsangehörige, die in einem Drittstaat eine Straftat begangen haben, in Lettland strafrechtlich verfolgt werden können. Gleiches gilt für Ausländer, die Inhaber einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für das lettische Hoheitsgebiet sind.

67.

Dagegen beschränkt sich bei Ausländern, die keine solche Erlaubnis besitzen, die Ausübung der Zuständigkeit durch die lettischen Strafgerichte für Straftaten, die im Hoheitsgebiet eines anderen Staates begangen wurden, nach Art. 4 Abs. 3 des lettischen Strafgesetzes auf Fälle „schwere[r] oder besonders schwere[r] Straftaten …, die sich gegen die Interessen der Republik Lettland oder ihrer Bewohner richten“.

68.

Aus diesen Bestimmungen des lettischen Strafgesetzes scheint sich daher zu ergeben, dass ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats als der Republik Lettland, der – wie Herr Petruhhin – unstreitig keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für das lettische Hoheitsgebiet besitzt, in Lettland wegen einer Straftat, die er in Russland begangen haben soll, nicht strafrechtlich verfolgt werden kann. Im Hinblick auf die Zielsetzung, eine Straflosigkeit von Personen zu verhindern, die verdächtigt werden, in einem Drittstaat eine Straftat begangen zu haben, befindet sich dieser Staatsangehörige folglich nicht in einer vergleichbaren Situation wie lettische Staatsangehörige.

69.

Die Ungleichbehandlung von Unionsbürgern, die nicht die lettische Staatsangehörigkeit besitzen, und lettischen Staatsangehörigen stellt daher keine nach Art. 18 Abs. 1 AEUV verbotene Diskriminierung dar, da sie durch die Zielsetzung gerechtfertigt ist, die Straflosigkeit von Personen zu bekämpfen, die verdächtigt werden, in einem Drittstaat eine Straftat begangen zu haben.

70.

Folglich sind Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV unter Umständen wie denen des Ausgangsrechtsstreits dahin auszulegen, dass sie nicht verlangen, dass ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats befindet und um dessen Auslieferung ein Drittstaat ersucht, in den Genuss der gleichen Regel wie der kommt, die Staatsangehörige dieses anderen Mitgliedstaats vor Auslieferung schützt.

C – Zur dritten Frage

71.

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob ein Mitgliedstaat, der beschließt, einen Unionsbürger an einen Drittstaat auszuliefern, die Beachtung der in Art. 19 Abs. 2 der Charta vorgesehenen Garantien überprüfen muss und worin diese Prüfung bestehen muss.

72.

Aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt sich, dass diese Frage offensichtlich auf dem Vorbringen von Herrn Petruhhin beruht, dass er von Folter bedroht sein könnte, wenn er nach Russland ausgeliefert würde.

73.

Nach Art. 19 Abs. 2 der Charta darf „[n]iemand … in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht“.

74.

In den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte ( 27 ) heißt es, dass mit dieser Bestimmung „die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Artikel 3 [der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ( 28 )] übernommen“ wird ( 29 ).

75.

Da die Situation eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der wie Herr Petruhhin von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten, nach den obigen Ausführungen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, bin ich der Auffassung, dass Art. 19 Abs. 2 der Charta auf eine solche Situation angewandt werden kann.

76.

Somit muss ein Gericht eines Mitgliedstaats, das mit einem Antrag auf Auslieferung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der von den ihm durch Art. 21 Abs. 1 AEUV verliehenen Rechten Gebrauch gemacht hat, befasst ist, die Beachtung der in Art. 19 Abs. 2 der Charta vorgesehenen Garantien prüfen.

77.

Zu der Frage, worin diese Prüfung bestehen muss, ist im Einklang mit den Erläuterungen zu Art. 19 Abs. 2 der Charta die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK heranzuziehen.

78.

Aus einer ständigen Rechtsprechung dieses Gerichtshofs ergibt sich, dass der Schutz vor Verstößen gegen Art. 3 EMRK absolut ist und dass daher die Abschiebung einer Person aus dem Hoheitsgebiet durch einen Vertragsstaat ein Problem im Hinblick auf diese Vorschrift aufwerfen und infolgedessen die Haftung des betreffenden Staates nach der EMRK auslösen kann, wenn es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene, wenn er in das Bestimmungsland abgeschoben wird, dort einem tatsächlichen Risiko ausgesetzt sein wird, einer dieser Bestimmung widersprechenden Behandlung unterzogen zu werden ( 30 ). In diesem Fall ergibt sich aus Art. 3 EMRK „die Verpflichtung, die betreffende Person nicht in dieses Land abzuschieben, auch wenn es ein Drittstaat ist“ ( 31 ). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fügt hinzu, dass er „nicht nach der Rechtsgrundlage der Abschiebung unterscheidet: Unabhängig davon, ob es sich um eine Ausweisung oder eine Auslieferung handelt, stellt der Gerichtshof die gleichen Erwägungen an.“ ( 32 )

79.

Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüft, ob ein Kläger im Bestimmungsdrittland einem solchen tatsächlichen Risiko von Misshandlungen ausgesetzt wäre, beurteilt er „zum einen die allgemeine Situation im Bereich der Menschenrechte in diesem Land und zum anderen die dem Fall des Klägers eigenen Umstände. Wenn der Empfangsstaat Zusicherungen gegeben hat, stellen diese einen zusätzlichen maßgeblichen Faktor dar, den er berücksichtigt“ ( 33 ). Das tatsächliche Risiko, von Art. 3 EMRK verbotene Behandlungen zu erleiden, ist daher über die allgemeine Situation im Zielland hinaus zu individualisieren.

80.

Um zu klären, ob ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme eines tatsächlichen Risikos mit Art. 3 EMRK unvereinbarer Behandlungen bestehen, stützt sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf eine Gesamtschau der Angaben, die ihm geliefert wurden oder die er sich bei Bedarf von Amts wegen beschafft ( 34 ). Zur allgemeinen Situation in einem Land misst er häufig Informationen Bedeutung bei, die in aktuellen Berichten unabhängiger internationaler Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder aus Regierungsquellen enthalten sind ( 35 ).

81.

Über diese Beschreibung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinaus und in einer Linie mit ihr ist auch die vom Gerichtshof kürzlich in seinem Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), im Rahmen der Anwendung des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung getroffene Entscheidung zu berücksichtigen.

82.

Der Gerichtshof hat nämlich in diesem Urteil u. a. zu Art. 4 der Charta wie folgt entschieden: „Um die Beachtung [dieses Artikels] im individuellen Fall der Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, sicherzustellen, ist … die vollstreckende Justizbehörde, die über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Belege für das Vorliegen [systemischer oder allgemeiner oder bestimmte Personengruppen betreffender Mängel] verfügt, zu der Prüfung verpflichtet, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Anschluss an ihre Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung [im Sinne dieses Artikels] in diesem Mitgliedstaat ausgesetzt sein wird“ ( 36 ).

83.

Die damit vom Gerichtshof definierte Methode kann meines Erachtens auf die Situation übertragen werden, in der die Justizbehörde des ersuchten Mitgliedstaats im Anschluss an ein Ersuchen eines Drittstaats um Auslieferung eines Unionsbürgers prüft, ob die in Art. 19 Abs. 2 der Charta vorgesehenen Garantien gewahrt sind.

IV – Ergebnis

84.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Fragen des Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland) wie folgt zu antworten:

Unter Umständen wie denen des Ausgangsrechtsstreits sind Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen, dass sie nicht verlangen, dass ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats befindet und um dessen Auslieferung ein Drittstaat ersucht, in den Genuss der gleichen Regel wie der kommt, die Staatsangehörige dieses anderen Mitgliedstaats vor Auslieferung schützt.

Um die Beachtung von Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im individuellen Fall eines Unionsbürgers, gegen den sich ein Auslieferungsersuchen richtet, sicherzustellen, ist die Justizbehörde des ersuchten Mitgliedstaats, die über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Belege für das Vorliegen systemischer oder allgemeiner oder bestimmte Personengruppen betreffender Mängel verfügt, zu der Prüfung verpflichtet, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass dieser Unionsbürger im Anschluss an seine Auslieferung an den ersuchenden Drittstaat in diesem Staat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt sein wird.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Im Folgenden: Charta.

( 3 ) In der mündlichen Verhandlung hat die zur Bedeutung dieses Ausdrucks befragte lettische Regierung erläutert, dass es sich bei den „lettischen Nicht-Bürgern“ um ehemalige sowjetische Bürger handelt, die sich vor der Unabhängigkeit Lettlands dort niedergelassen haben. Diese Personen haben weder die lettische noch die russische Staatsangehörigkeit gewählt und haben die Möglichkeit, sich einbürgern zu lassen.

( 4 ) ABl. 2002, L 190, S. 1, in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung.

( 5 ) Vgl. u. a. Urteil vom 6. Oktober 2015, Capoda Import-Export (C‑354/14, EU:C:2015:658, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 6 ) Vgl. u. a. Urteil vom 6. Oktober 2015, Capoda Import-Export (C‑354/14, EU:C:2015:658, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 7 ) Vgl. u. a. Urteil vom 6. Oktober 2015, Capoda Import-Export (C‑354/14, EU:C:2015:658, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 8 ) Vgl. u. a. Beschluss vom 5. Juni 2014, Antonio Gramsci Shipping u. a. (C‑350/13, EU:C:2014:1516, Rn. 10 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 9 ) Vgl. u. a. Urteil vom 26. Februar 2015, Martens (C‑359/13, EU:C:2015:118, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 10 ) Vgl. u. a. Urteil vom 26. Oktober 2006, Tas-Hagen und Tas (C‑192/05, EU:C:2006:676, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 11 ) Vgl. u. a. Urteile vom 11. Juli 2002, D’Hoop (C‑224/98, EU:C:2002:432, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung), vom 16. Dezember 2008, Huber (C‑524/06, EU:C:2008:724, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung), vom 4. Oktober 2012, Kommission/Österreich (C‑75/11, EU:C:2012:605, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 26. Februar 2015, Martens (C‑359/13, EU:C:2015:118, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 12 ) Siehe Iliopoulou, A., „Entrave et citoyenneté de l’Union“, L’entrave dans le droit du marché intérieur, Bruylant, Brüssel, 2011, S. 191. Er führt aus: „Keine nationale Regel kann im Kontext der Bürgerschaft a priori von der Einstufung als Hindernis ausgenommen werden. Das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Elements reicht aus, damit der Sachverhalt in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt und eine Prüfung der Vereinbarkeit mit den Anforderungen des Vertrags ausgelöst wird“ (S. 202). Vgl. hierzu auch die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Tas-Hagen und Tas (C‑192/05, EU:C:2006:223, Nrn. 25 bis 43).

( 13 ) Vgl. u. a. Beschluss vom 19. Juni 2014, Teisseyre (C‑370/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2033, Rn. 33 bis 35).

( 14 ) Hingegen gibt es ein Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika im Bereich der Auslieferung (ABl. 2003, L 181, S. 27) (vgl. Beschluss 2009/820/GASP des Rates vom 23. Oktober 2009 über den Abschluss im Namen der Europäischen Union des Abkommens über Auslieferung zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika und des Abkommens über Rechtshilfe zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika [ABl. 2009, L 291, S. 40]).

( 15 ) Vgl. u. a. zu nationalen Bestimmungen, die eine Entschädigung der Opfer von Gewalttaten vorsehen, die im Inland begangen wurden, Urteil vom 2. Februar 1989, Cowan (186/87, EU:C:1989:47, Rn. 19), zu einer nationalen Regelung im Bereich des Straf- und Strafverfahrensrechts Urteil vom 24. November 1998, Bickel und Franz (C‑274/96, EU:C:1998:563, Rn. 17), zu nationalen Regeln über den Namen einer Person Urteile vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello (C‑148/02, EU:C:2003:539, Rn. 25), und vom 12. Mai 2011, Runevič-Vardyn und Wardyn (C‑391/09, EU:C:2011:291, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung), zu einem Zwangsvollstreckungsverfahren zur Schuldenbeitreibung Urteil vom 29. April 2004, Pusa (C‑224/02, EU:C:2004:273, Rn. 22), zu nationalen Regeln für direkte Steuern Urteil vom 12. Juli 2005, Schempp (C‑403/03, EU:C:2005:446, Rn. 19), zu nationalen Regeln für die Bestimmung von Wahlberechtigten und zur Wählbarkeit bei den Wahlen zum Europäischen Parlament Urteil vom 12. September 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich (C‑145/04, EU:C:2006:543, Rn. 78), zur Festlegung der Bedingungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit Urteil vom 2. März 2010, Rottmann (C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 39 und 41), zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit Urteile vom 19. Juli 2012, Reichel-Albert (C‑522/10, EU:C:2012:475, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 4. Oktober 2012, Kommission/Österreich (C‑75/11, EU:C:2012:605, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung), und zu den Lehrinhalten und der Gestaltung der Bildungssysteme der Mitgliedstaaten Urteil vom 26. Februar 2015, Martens (C‑359/13, EU:C:2015:118, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 16 ) Siehe Iliopoulou, A., a. a. O. Er führt aus: „Das Recht der Unionsbürgerschaft verpflichtet das Recht der nationalen Bürgerschaft, sich zu rechtfertigen, seine Relevanz und seine Verhältnismäßigkeit darzulegen. Der Staat muss sein Verhältnis nicht nur zum ‚Ausländer‘ aus der Gemeinschaft, sondern auch zu seinen Staatsangehörigen im Licht der europäischen Standards überprüfen“ (S. 196).

( 17 ) Vgl. u. a. Urteil vom 16. Dezember 2008, Huber (C‑524/06, EU:C:2008:724, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 18 ) Vgl. Deen‑Racsmány, Z., und Blekxtoon, R., „The Decline of the Nationality Exception in European Extradition?“, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice, Bd. 13/3, Koninklijke Brill NV, Niederlande, 2005, S. 317.

( 19 ) Vgl. Thouvenin, J.-M., „Le principe de non extradition des nationaux“, Droit international et nationalité, Colloque de Poitiers de la Société française pour le droit international, Pedone, Paris, 2012, S. 127, speziell S. 133.

( 20 ) Dieses Ziel der Bekämpfung von Straflosigkeit wurde vom Gerichtshof u. a. in seinem Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic (C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 58 und 72), herangezogen.

( 21 ) Vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 4. September 2014, Trabelsi/Belgien (CE:ECHR:2014:0904JUD000014010, § 117 und die dort angeführte Rechtsprechung), in dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausführt, dass er „weder die Grundlagen der Auslieferung aus den Augen verliert, die darin liegen, flüchtige Straftäter daran zu hindern, sich der Justiz zu entziehen, noch das mit ihr in einem Kontext der Externalisierung der Kriminalität für alle Staaten verfolgte vorteilhafte Ziel“.

( 22 ) Siehe Grotius, H., De jure belli ac pacis, Buch II, Kap. XXI, Abschnitt IV. Das Recht des Krieges und des Friedens. Deutsche Übersetzung von Kirchmann, J. H. v., Berlin, L. Heimann, 1869, Bd. 2, S. 112.

( 23 ) Vgl. z. B. die auf S. 15 des Abschlussberichts „Verpflichtung zur Auslieferung oder Verfolgung (aut dedere aut iudicare)“ der Vereinten Nationen von 2014 angeführten multilateralen Abkommen, nämlich das am 13. Dezember 1957 in Paris unterzeichnete Europäische Auslieferungsübereinkommen, das am 12. September 1961 in Tananarive unterzeichnete Allgemeine Übereinkommen über justizielle Zusammenarbeit, das interamerikanische Auslieferungsübereinkommen von 1981, das am 6. August 1994 in Abuja angenommene Auslieferungsübereinkommen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft und das Londoner System für die Auslieferung innerhalb des Commonwealth.

( 24 ) Siehe S. 15 des Abschlussberichts.

( 25 ) Zwar wird der Ausdruck „Pflicht zur Verfolgung“ am häufigsten verwendet, doch wäre es zutreffender, von einer Pflicht zu sprechen, die Angelegenheit den zuständigen Strafverfolgungsbehörden zu übergeben. Je nach der Beweislage kann diese Pflicht in die Einleitung der Verfolgung münden oder auch nicht.

( 26 ) Zur Bedeutung dieses Ausdrucks vgl. Fn. 3 der vorliegenden Schlussanträge.

( 27 ) ABl. 2007, C 303, S. 17.

( 28 ) Im Folgenden: EMRK.

( 29 ) Es wird auf die Urteile des EGMR vom 7. Juli 1989, Soering/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1989:0707JUD001403888), und vom 17. Dezember 1996, Ahmed/Österreich (CE:ECHR:1996:1217JUD002596494), Bezug genommen.

( 30 ) Vgl. u. a. EGMR, 4. Februar 2005, Mamatkoulov und Askarov/Türkei (CE:ECHR:2005:0204JUD004682799, § 67), 28. Februar 2008, Saadi/Italien (CE:ECHR:2008:0228JUD003720106, § 125 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie 4. September 2014, Trabelsi/Belgien (CE:ECHR:2014:0904JUD000014010, § 116 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 31 ) EGMR, 4. September 2014, Trabelsi/Belgien (CE:ECHR:2014:0904JUD000014010, § 116).

( 32 ) EGMR, 4. September 2014, Trabelsi/Belgien (CE:ECHR:2014:0904JUD000014010, § 116 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 33 ) Vgl. insbesondere EGMR, 17. Januar 2012, Othman (Abu Qatada)/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2012:0117JUD000813909, § 187).

( 34 ) Vgl. u. a. EGMR, 30. Oktober 1991, Vilvarajah u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1991:1030JUD001316387, § 107), 4. Februar 2005, Mamatkoulov und Askarov/Türkei (CE:ECHR:2005:0204JUD004682799, § 69), sowie 28. Februar 2008, Saadi/Italien (CE:ECHR:2008:0228JUD003720106, § 128 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 35 ) Vgl. u. a. EGMR, 4. Februar 2005, Mamatkoulov und Askarov/Türkei (CE:ECHR:2005:0204JUD004682799, § 72), sowie 28. Februar 2008, Saadi/Italien (CE:ECHR:2008:0228JUD003720106, § 131 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 36 ) Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 94).