SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

HENRIK SAUGMANDSGAARD ØE

vom 1. Juni 2016 ( *1 )

Rechtssache C‑166/15

Aleksandrs Ranks

Jurijs Vasiļevičs

(Vorabentscheidungsersuchen des Rīgas apgabaltiesas Krimināllietu tiesu kolēģija [Regionalgericht Riga, Strafkammer, Lettland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinie 91/250/EWG — Rechtsschutz von Computerprogrammen — Verkauf von nicht originalen Kopien von Computerprogrammen — Kopien, die auf einem anderen als dem ursprünglichen Datenträger verkörpert sind — Verletzung des Verbreitungsrechts — Möglichkeit, sich auf die Erschöpfung des Verbreitungsrechts zu berufen — Verletzung des Vervielfältigungsrechts“

I – Einleitung

1.

Mit Beschluss vom 18. März 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 13. April 2015, hat der Rīgas apgabaltiesas Krimināllietu tiesu kolēģija (Regionalgericht Riga, Strafkammer, Lettland) dem Gerichtshof zwei Fragen nach der Auslegung der Art. 4 und 5 der Richtlinie 2009/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen (ABl. 2009, L 111, S. 16) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2.

Diese Fragen stellen sich im Rahmen eines Strafverfahrens, das u. a. wegen der angeblichen Verletzung von Urheberrechten der Microsoft Corporation (im Folgenden: Microsoft) infolge des Verkaufs von Kopien von Computerprogrammen, die auf einem anderen als dem ursprünglichen Datenträger verkörpert sind, gegen Herrn Aleksandrs Ranks und Herrn Jurijs Vasiļevičs (im Folgenden zusammen: Angeklagte) eingeleitet wurde.

II – Rechtlicher Rahmen

3.

Ausweislich ihres Art. 10 ersetzt die Richtlinie 2009/24 die Richtlinie 91/250/EWG des Rates vom 14. Mai 1991 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen (ABl. 1991, L 122, S. 42) in der durch die Richtlinie 93/98/EWG des Rates vom 29. Oktober 1993 zur Harmonisierung der Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte (ABl. 1993, L 290, S. 9) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 91/250).

4.

Die Richtlinie 2009/24 trat gemäß ihrem Art. 11 am 25. Mai 2009 in Kraft. Aus dem Vorlagebeschluss ergibt sich allerdings, dass sich die maßgeblichen Umstände des Ausgangsverfahrens zwischen dem 28. Dezember 2001 und dem 22. Dezember 2004 zugetragen haben. Daher finden auf die vorliegende Rechtssache die Vorschriften der Richtlinie 91/250 Anwendung.

5.

Art. 4 („Zustimmungsbedürftige Handlungen“) der Richtlinie 91/250 lautet:

„Vorbehaltlich der Bestimmungen der Artikel 5 und 6 umfassen die Ausschließlichkeitsrechte des Rechtsinhabers im Sinne des Artikels 2 das Recht, folgende Handlungen vorzunehmen oder zu gestatten:

a)

die dauerhafte oder vorübergehende Vervielfältigung, ganz oder teilweise, eines Computerprogramms mit jedem Mittel und in jeder Form. Soweit das Laden, Anzeigen, Ablaufen, Übertragen oder Speichern des Computerprogramms eine Vervielfältigung erforderlich macht, bedürfen diese Handlungen der Zustimmung des Rechtsinhabers;

c)

jede Form der öffentlichen Verbreitung des originalen Computerprogramms oder von Kopien davon, einschließlich der Vermietung. Mit dem Erstverkauf einer Programmkopie in der Gemeinschaft durch den Rechtsinhaber oder mit seiner Zustimmung erschöpft sich in der Gemeinschaft das Recht auf die Verbreitung dieser Kopie; ausgenommen hiervon ist jedoch das Recht auf Kontrolle der Weitervermietung des Programms oder einer Kopie davon.“

6.

In Art. 5 („Ausnahmen von den zustimmungsbedürftigen Handlungen“) der Richtlinie 91/250 heißt es:

„(1)   In Ermangelung spezifischer vertraglicher Bestimmungen bedürfen die in Artikel 4 Buchstaben a) und b) genannten Handlungen nicht der Zustimmung des Rechtsinhabers, wenn sie für eine bestimmungsgemäße Benutzung des Computerprogramms einschließlich der Fehlerberichtigung durch den rechtmäßigen Erwerber notwendig sind.

(2)   Die Erstellung einer Sicherungskopie durch eine Person, die zur Benutzung des Programms berechtigt ist, darf nicht vertraglich untersagt werden, wenn sie für die Benutzung erforderlich ist.

…“

7.

In Art. 7 („Besondere Schutzmaßnahmen“) der Richtlinie 91/250 ist vorgesehen:

„(1)   Unbeschadet der Artikel 4, 5 und 6 sehen die Mitgliedstaaten gemäß ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften geeignete Maßnahmen gegen Personen vor, die eine der nachstehend unter den Buchstaben a), b) und c) aufgeführten Handlungen begehen:

a)

Inverkehrbringen einer Kopie eines Computerprogramms, wenn die betreffende Person wusste oder Grund zu der Annahme hatte, dass es sich um eine unerlaubte Kopie handelt;

b)

Besitz einer Kopie eines Computerprogramms für Erwerbszwecke, wenn diese betreffende Person wusste oder Grund zu der Annahme hatte, dass es sich um eine unerlaubte Kopie handelt;

(2)   Jede unerlaubte Kopie eines Computerprogramms kann gemäß den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats beschlagnahmt werden.

…“

III – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8.

In der Zeit vom 28. Dezember 2001 bis zum 22. Dezember 2004 verkauften die Angeklagten in krimineller Vereinigung über den auf der Website www.ebay.com angebotenen Webshop mehr als 3000 Kopien urheberrechtlich geschützter Computerprogramme.

9.

Microsoft ist Inhaberin der Urheberrechte an den Computerprogrammen, die Gegenstand dieser Verkäufe waren. Diese umfassten die Programme „Windows 95“, „Windows 98“, „Windows 2000 Professional“, „Windows Millenium“, „Windows XP Home 2002“, „Office 2000 Professional“, „Office XP Small Business“ und „Office 2003“.

10.

Der Gesamterlös, den die Angeklagten aus diesen Verkäufen erzielten, konnte im Verlauf der Ermittlungen nicht genau festgestellt werden. Erwiesen ist aber, dass die Angeklagten über das auf der Website www.ebay.com angebotene Zahlungssystem „Paypal“ einen Erlös von 229724,67 Euro erzielten.

11.

Im Rahmen dieser Verkäufe verkauften die Angeklagten u. a.:

eine Kopie des Programms „Windows Millenium Edition“, das nach seinen Lizenzbedingungen nur gemeinsam mit einem neuen Computer vertrieben werden durfte („for distribution only with a new PC“);

zwei Kopien des Programms „Windows 2000 Professional OEM“, nebst einem Benutzerhandbuch und einem Echtheitszertifikat, die von einem Sachverständigen als unerlaubte Vervielfältigungen der CD und des Installationsprogramms von „Microsoft Windows 2000 Professional“ erachtet wurden;

30 Kopien des Programms „Windows 98 Second Edition OEM“, nebst einem Benutzerhandbuch und einem Echtheitszertifikat, die von einem Sachverständigen als unerlaubte Vervielfältigungen der CDs und der Installationsprogramme von „Microsoft Windows 98 Starts Here 4/98“ und von „Microsoft Windows 98 Second Edition“ angesehen wurden.

12.

Das vorlegende Gericht präzisiert, dass den Angeklagten die nachstehenden Straftaten vorgeworfen wurden:

Bildung einer kriminellen Vereinigung zum widerrechtlichen Verkauf urheberrechtlich geschützter Gegenstände, die unter Verletzung von Urheberrechten vervielfältigt oder auf andere Weise benutzt wurden (Art. 149 Abs. 3 des Strafgesetzbuchs in seiner Fassung vom 17. Oktober 2002),

vorsätzliche widerrechtliche Benutzung einer fremden Marke unter schwerwiegender Beeinträchtigung der gesetzlich geschützten persönlichen Rechte und Interessen (Art. 206 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs) und

Ausübung nicht angemeldeter wirtschaftlicher Tätigkeiten unter schwerwiegender Beeinträchtigung gesetzlich geschützter persönlicher Interessen (Art. 207 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs).

13.

Mit Urteil vom 3. Januar 2012 erkannte das Rīgas pilsētas Vidzemes priekšpilsētas tiesa (Gericht für den Bezirk Vidzeme der Stadt Riga, Lettland) die Angeklagten der in Art. 149 Abs. 3 und Art. 206 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs geregelten Straftaten für schuldig und verurteilte sie, den Schaden teilweise zu ersetzen und sämtliche Kosten und Auslagen des Verfahrens zu tragen. Hinsichtlich der in Art. 207 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs geregelten Straftat wurden die Angeklagten freigesprochen.

14.

Mit Urteil vom 22. März 2013 hob das vorlegende Gericht das in erster Instanz ergangene Urteil bezüglich der Verurteilung der Angeklagten nach Art. 149 Abs. 3 des Strafgesetzbuchs und der ausgesprochenen Strafe auf. Es verurteilte die Angeklagten jedoch nach Art. 149 Abs. 3 des Strafgesetzbuchs in seiner Fassung vom 17. Oktober 2002. Im Übrigen wurde das Urteil nicht abgeändert.

15.

Mit Entscheidung vom 13. Oktober 2013 hob der Latvijas Republikas Augstākās tiesas Senāts (Senat des Obersten Gerichtshofs Lettlands) das Urteil vom 22. März 2013 in vollem Umfang auf und verwies die Sache zur erneuten Prüfung an das Berufungsgericht zurück.

16.

Mit Entscheidung vom 8. Oktober 2013 hat das vorlegende Gericht die Rechtsmittel zur Prüfung der Strafsache gegen die Angeklagten wegen des Vorwurfs von Straftaten gemäß Art. 149 Abs. 3 (in seiner Fassung vom 31. Dezember 2010), Art. 206 Abs. 2 und Art. 207 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs zugelassen.

17.

Da die Rīgas apgabaltiesas Krimināllietu tiesu kolēģija (Strafkammer des Regionalgerichts Riga) Zweifel daran hat, ob das Urteil UsedSoft ( *2 ) unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einschlägig ist, hat sie beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

18.

Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 13. April 2015 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofs eingetragen worden.

19.

Die Angeklagten, Microsoft, die lettische, die italienische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen abgegeben.

20.

Zur mündlichen Verhandlung vom 16. März 2016 sind die Vertreter der Angeklagten und von Microsoft, die lettische Regierung und die Kommission erschienen und haben mündlich verhandelt.

V – Würdigung der Vorlagefragen

21.

Die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen betreffen das Vorliegen einer Urheberrechtsverletzung infolge des ohne Zustimmung des Rechtsinhabers erfolgten Verkaufs von Kopien von Computerprogrammen, die ohne Zustimmung des Rechtsinhabers auf einem anderen als dem ursprünglichen Datenträger erstellt wurden (im Folgenden: nicht originale körperliche Kopien). Diese Fragen betreffen also nicht den durch den Rechtsinhaber oder mit seiner Zustimmung erfolgten Verkauf von Kopien, die durch den Rechtsinhaber oder mit seiner Zustimmung auf dem ursprünglichen Datenträger erstellt wurden (im Folgenden: originale körperliche Kopien).

22.

Im Ausgangsverfahren wird den Angeklagten vorgeworfen, Tausende nicht originale körperliche Kopien von Computerprogrammen – deren Urheberrechte Microsoft zustehen – verkauft zu haben. Die Angeklagten haben in ihren schriftlichen Erklärungen zugegeben, diese Kopien bei Unternehmen oder Privaten, die sie nicht mehr in Verwendung hatten, gekauft zu haben.

23.

Der Verkauf von nicht originalen körperlichen Kopien kann zwei ausschließliche Rechte verletzen, die dem Rechtsinhaber durch Art. 4 Buchst. a und c der Richtlinie 91/250 eingeräumt werden: das ausschließliche Recht, dauerhafte oder vorübergehende Vervielfältigungen eines Computerprogramms vorzunehmen oder zu gestatten (im Folgenden: Vervielfältigungsrecht), und das ausschließliche Recht, jede Form der öffentlichen Verbreitung eines Computerprogramms oder von Kopien davon, einschließlich der Vermietung, vorzunehmen oder zu gestatten (im Folgenden: Verbreitungsrecht).

24.

Zudem beziehen sich die Vorlagefragen, wenngleich in ihnen ausdrücklich nur von der Erschöpfung des Verbreitungsrechts die Rede ist, auch auf Vorschriften, die Ausnahmen vom Vervielfältigungsrecht enthalten, nämlich Art. 5 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 91/250.

25.

Ich halte es daher für notwendig, die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen wie folgt umzuformulieren. Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Buchst. a und c sowie Art. 5 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 91/250 dahin auszulegen sind, dass eine Verletzung der ausschließlichen Rechte des Inhabers zur Vervielfältigung und Verbreitung dann vorliegt, wenn die Programmkopie von einem Nutzer ohne Zustimmung des Rechtsinhabers auf einem anderen als dem ursprünglichen Datenträger erstellt wird und diese Kopie von diesem oder einem anderen Nutzer ohne Zustimmung des Rechtsinhabers verkauft wird, und zwar auch dann, wenn

der Originaldatenträger beschädigt ist und

der Verkäufer dieser Kopie jede andere in seinem Besitz befindliche Kopie unbrauchbar macht.

A – Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen

26.

Die lettische Regierung äußert Zweifel an der Zulässigkeit der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen, weil in diesen Fragen der Verkauf von lizenzierten nicht originalen körperlichen Kopien angesprochen werde, wohingegen im Vorlagebeschluss von Sachverständigengutachten die Rede sei, in denen der Verkauf gefälschter Kopien festgestellt werde. Daher seien die Vorlagefragen für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nicht einschlägig.

27.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, so ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden ( *3 ).

28.

Er kann die Entscheidung über die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind ( *4 ).

29.

Im vorliegenden Fall hängt – wie die lettische Regierung selbst in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat – die Einordnung als „nicht originale Kopie“ von der Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen ab. Sollte der Gerichtshof beispielsweise feststellen, dass die Erstellung und der Verkauf nicht originaler körperlicher Kopien unter Umständen wie denen des Ausgangsrechtsstreits keine Verletzung des Vervielfältigungs- und Verbreitungsrechts begründet, dürften diese Kopien vom nationalen Gericht nicht mehr als nicht originale Kopien angesehen werden.

30.

Unter diesen Umständen bin ich der Ansicht, dass die Vorlagefragen einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits aufweisen und folglich zulässig sind.

B – Zum Vorliegen einer Verletzung des Verbreitungsrechts beim Verkauf von nicht originalen körperlichen Kopien von Computerprogrammen

31.

Zu prüfen ist nunmehr, ob Art. 4 Buchst. c der Richtlinie 91/250 dahin auszulegen ist, dass unter den in Nr. 25 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Umständen eine Verletzung des dem Rechtsinhaber eingeräumten ausschließlichen Verbreitungsrechts vorliegt.

32.

Ausweislich des ersten Satzes dieser Bestimmung stellt die öffentliche Verbreitung des originalen Computerprogramms oder einer Kopie davon ohne Zustimmung des Rechtsinhabers eine Verletzung des Verbreitungsrechts dar. Im Ausgangsverfahren ist unstreitig, dass die Angeklagten über die auf der Website www.ebay.com angebotene Online-Verkaufsplattform mehrere Tausend nicht originale körperliche Kopien von Computerprogrammen ohne Zustimmung des Rechtsinhabers, nämlich Microsoft, verkauft haben. Es ist nicht mehr streitig, dass es sich bei diesen Verkäufen um Verbreitungen im Sinne der genannten Bestimmung handelt.

33.

Die Verkäufe der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kopien stellen folglich eine Verletzung des Verbreitungsrechts von Microsoft dar, sofern nicht nachgewiesen wird, dass diese Verkäufe unter eine Ausnahme vom Verbreitungsrecht fallen. Die beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen beziehen sich in diesem Zusammenhang mehrheitlich auf die Frage, ob derartige Verkäufe der von Art. 4 Buchst. c zweiter Satz der Richtlinie 91/250 aufgestellten Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts unterliegen.

34.

Unter den beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen lassen sich hinsichtlich einer möglichen Anwendung der Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts auf nicht originale körperliche Kopien drei Ansätze ausmachen.

35.

Nach einem strikten Ansatz, der von Microsoft sowie von der italienischen und der polnischen Regierung verfochten wird, kann einer nicht originalen körperlichen Kopie niemals die Erschöpfung des Verbreitungsrechts zugutekommen, weshalb sie nicht von einem Nutzer ohne Zustimmung des Rechtsinhabers verkauft werden darf.

36.

Nach einem liberalen Ansatz, der von den Angeklagten und der lettischen Regierung vertreten wird, kommt einer nicht originalen körperlichen Kopie die Erschöpfung des Verbreitungsrechts zugute, wenn die Voraussetzungen, die der Gerichtshof im Urteil UsedSoft ( *5 ) aufgestellt hat, erfüllt sind, nämlich:

der Rechtsinhaber hat dem Ersterwerber gegen Zahlung eines Entgelts, das es ihm ermöglichen soll, eine dem wirtschaftlichen Wert der Kopie des ihm gehörenden Werkes entsprechende Vergütung zu erzielen, ein unbefristetes Nutzungsrecht an der Kopie eingeräumt, und

der Ersterwerber, der eine nicht originale körperliche Kopie weiterverkauft, macht jede andere zum Zeitpunkt des Weiterverkaufs in seinem Besitz befindliche Kopie unbrauchbar.

37.

Nach einem vermittelnden Ansatz, der von der Kommission vorgeschlagen wird, kann die vom Gerichtshof im Urteil UsedSoft ( *6 ) angewandte Lösung nur in einem ganz spezifischen Fall auf nicht originale körperliche Kopien ausgedehnt werden, nämlich dann, wenn die körperliche Originalkopie beschädigt wurde. Der Erstellung nicht originaler körperlicher Kopien zu anderen als den in Art. 5 der Richtlinie 91/250 aufgezählten Zwecken – und insbesondere für Zwecke ihres Weiterverkaufs – könne zwar nicht die Erschöpfung des Verbreitungsrechts zugutekommen. Die Erstellung einer nicht originalen körperlichen Kopie bei Beschädigung der körperlichen Originalkopie falle jedoch unter Art. 5 Abs. 1 oder 2 der Richtlinie 91/250, weil sie erforderlich sei, um dem rechtmäßigen Erwerber zu ermöglichen, die Kopie bestimmungsgemäß nutzen zu können. Die Kommission folgert daraus, dass der Weiterverkauf einer unter solchen Umständen erstellten nicht originalen körperlichen Kopie von der Erschöpfung des Verbreitungsrechts erfasst sei, sofern die in diesem Urteil aufgestellten Voraussetzungen – die in Nr. 36 der vorliegenden Schlussanträge zusammenfassend wiedergegeben worden sind – erfüllt seien.

38.

Die nachstehenden Argumente scheinen mir zugunsten des von Microsoft sowie von der italienischen und der polnischen Regierung vertretenen strikten Ansatzes auszuschlagen.

39.

Erstens erscheint mir der Wortlaut von Art. 4 Buchst. c Satz 2 der Richtlinie 91/250, der die einzige Ausnahme vom Verbreitungsrecht im Kontext dieser Richtlinie aufstellt, mit dem liberalen und dem vermittelnden Ansatz aus den folgenden beiden Gründen unvereinbar.

40.

Zum einen beschränkt der Wortlaut dieser Bestimmung die Erschöpfung auf die bloße Originalkopie. Nach dieser Bestimmung „erschöpft sich“ nämlich mit dem Verkauf einer Programmkopie durch den Rechtsinhaber oder mit seiner Zustimmung „das Recht auf Verbreitung dieser Kopie“ (Hervorhebung nur hier). Wie Microsoft betont, schließt die Verwendung der Worte „diese Kopie“ aus, dass die Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts für irgendeine andere als die durch den Rechtsinhaber oder mit seiner Zustimmung verkaufte Originalkopie in Anspruch genommen werden kann.

41.

Zum anderen macht der Wortlaut dieser Bestimmung – entgegen dem Vorbringen der Angeklagten, der lettischen Regierung und der Kommission – die Erschöpfung des Verbreitungsrechts nicht davon abhängig, dass der Wiederverkäufer jede andere in seinem Besitz befindliche Kopie unbrauchbar macht, und auch nicht davon, dass die körperliche Originalkopie beschädigt wurde. Nach dieser Bestimmung kommt die Erschöpfung des Verbreitungsrechts vielmehr uneingeschränkt jeder durch den Rechtsinhaber oder mit seiner Zustimmung verkauften Originalkopie zugute.

42.

Zweitens steht der strikte Ansatz meines Erachtens mit der allgemeinen Konzeption der Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts, wie sie vom Unionsgesetzgeber im Bereich des Urheberrechts vorgesehen ist, in Einklang, wie dies Microsoft vorgetragen hat. Eine mit Art. 4 Buchst. c Satz 2 der Richtlinie 91/250 vergleichbare Bestimmung hat u. a. in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29/EG ( *7 ) Eingang gefunden.

43.

Diese Bestimmung wurde vom Gerichtshof im Urteil Art & Allposters International ( *8 ) ausgelegt. Dieses Urteil betraf eine Verletzung von Urheberrechten an geschützten Werken, die ohne Zustimmung des Rechtsinhabers von einem Papierposter auf eine Leinwand übertragen und anschließend auf diesem neuen Träger verkauft worden waren. Der Gerichtshof stellte fest, dass die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 vorgesehene Erschöpfung des Verbreitungsrechts lediglich für den ursprünglichen, mit der Zustimmung des Rechtsinhabers verkauften Träger (Papierposter) gelte und nicht auf den neuen Träger, der die Abbildung des geschützten Werkes verkörpere (Leinwand), ausgedehnt werden könne.

44.

Meines Erachtens erschüttert der Umstand, dass der ursprüngliche Datenträger beschädigt wurde, die Lösung, zu der der Gerichtshof im Urteil Art & Allposters International ( *9 ) gelangt ist, nicht. Die allfällige Beschädigung des Papierposters kann also nicht dazu führen, dass der Benutzer die Abbildung auf eine Leinwand übertragen und diese ohne Zustimmung des Rechtsinhabers weiterverkaufen könnte, ohne dabei das Verbreitungsrecht zu verletzen. Desgleichen räumt die Beschädigung eines Buches seinem Eigentümer nicht das Recht ein, eine Kopie davon zu verkaufen, ebenso wie die Beschädigung einer Schallplatte nicht das Recht einräumt, ihren Inhalt auf eine CD zu übertragen und Letztere ohne Zustimmung des Rechtsinhabers weiterzuverkaufen.

45.

Entsprechend kommt die in Art. 4 Buchst. c Satz 2 der Richtlinie 91/250 vorgesehene Erschöpfung des Verbreitungsrechts nur dem vom Rechtsinhaber oder mit seiner Zustimmung verkauften ursprünglichen Datenträger (körperliche Originalkopie) zugute. Entgegen dem Vorbringen der Angeklagten, der lettischen Regierung und der Kommission findet die Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts auf den ohne Zustimmung des Rechtsinhabers erfolgten Weiterverkauf anderer Datenträger, die das Computerprogramm verkörpern (nicht originale körperliche Kopien), keine Anwendung, und zwar auch nicht im Fall der Beschädigung des ursprünglichen Datenträgers.

46.

Drittens erscheinen mir der liberale und der vermittelnde Ansatz auf einer Verwechslung zwischen den für das Verbreitungsrecht geltenden Vorschriften und denen, die für das Vervielfältigungsrecht maßgeblich sind, zu beruhen.

47.

Ebenso verhält es sich mit der Voraussetzung, wonach der Wiederverkäufer verpflichtet ist, jede zum Zeitpunkt des Weiterverkaufs in seinem Besitz befindliche Kopie „unbrauchbar zu machen“ ( *10 ). Diese in den Rn. 70 und 78 des Urteils UsedSoft ( *11 ) genannte Voraussetzung wird dem Wiederverkäufer nämlich zwecks Vermeidung einer Verletzung des Vervielfältigungsrechts auferlegt. Bei der Feststellung, ob eine Verletzung des Verbreitungsrechts vorliegt, ist diese Verpflichtung hingegen nicht von Relevanz.

48.

Ebenso geht die Kommission in ihrem vermittelnden Ansatz ( *12 ) davon aus, dass der Nutzer, der unter den in Art. 5 Abs. 1 oder 2 der Richtlinie 91/250 vorgesehenen Voraussetzungen eine nicht originale körperliche Kopie erstellt, unter bestimmten Voraussetzungen das Recht hat, diese Kopie zu verbreiten.

49.

Diese Bestimmungen legen allerdings bloß Ausnahmen vom Vervielfältigungsrecht fest. Selbst wenn man annähme, dass die von einem Nutzer erstellte Kopie in Anbetracht der in Art. 5 Abs. 1 oder 2 der Richtlinie 91/250 aufgestellten Voraussetzungen erlaubt wäre, führte dies nicht dazu, dass dieser Nutzer das Recht hätte, diese Kopie zu verkaufen, ohne das Verbreitungsrecht zu verletzen. Das Recht, eine Kopie zum eigenen Gebrauch zu erstellen, zieht nicht das Recht nach sich, diese Kopie an jemand anders zu verkaufen.

50.

Viertens habe ich den Eindruck, dass die von den Angeklagten und der lettischen Regierung vertretene Sichtweise und der von der Kommission vorgeschlagene vermittelnde Ansatz dem Erwerber einer nicht originalen körperlichen Kopie eine Beweispflicht auferlegten, der er nur schwer – wenn nicht sogar überhaupt nicht – nachkommen könnte.

51.

Nach meinem Wissensstand hat sich der Gerichtshof nie explizit dazu geäußert, wer im Kontext der Richtlinie 91/250 die Beweislast für die Erschöpfung trägt. Gleichwohl obliegt es nach den allgemeinen Beweislastgrundsätzen der Partei, die sich auf einen Umstand zu ihrer Entlastung beruft, den Beweis dafür zu erbringen, dass sie die diesbezüglich vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt. Im Bereich des Markenrechts hat der Gerichtshof im Einklang mit diesen Grundsätzen entschieden, dass es demjenigen, der sich auf die Erschöpfung beruft, obliegt, den Beweis dafür zu erbringen, dass er die zu diesem Zweck vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt ( *13 ). Für mich ist kein Grund dafür ersichtlich, von diesem Ansatz im Bereich des Urheberrechts abzuweichen, der auch in der Lehre vertreten wird ( *14 ).

52.

Wendete man diese Grundsätze an, obläge es dem Erwerber einer nicht originalen körperlichen Kopie, den Beweis dafür zu erbringen, dass die von den Angeklagten, der lettischen Regierung und der Kommission nahegelegten Voraussetzungen erfüllt sind, und zwar insbesondere dadurch, dass er nachweist, dass die Originalkopie beschädigt ist und dass der Wiederverkäufer jede andere in seinem Besitz befindliche Kopie unbrauchbar gemacht hat. Meines Erachtens ließe sich ein solcher Nachweis vom Erwerber schwer bis gar nicht erbringen, allen voran im Rahmen von Distanzgeschäften wie denen, um die es im Ausgangsverfahren geht. Ergänzend sei hinzugefügt, dass sich der Erwerber, wenn er nicht beweisen kann, dass der gekauften Kopie die Erschöpfung des Verbreitungsrechts zugutekommt, dem Risiko der Beschlagnahme dieser unerlaubten Kopie nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 91/250 aussetzt.

53.

Fünftens schließlich habe ich den Eindruck, dass der liberale Ansatz, der von den Angeklagten und der lettischen Regierung vertreten wird, und die von der Kommission vorgeschlagene vermittelnde Sichtweise die Bekämpfung gefälschter Kopien erheblich erschweren würden. Wie Microsoft hervorgehoben hat, ist es nämlich praktisch gesehen oft unmöglich, eine erlaubte (weil im Einklang mit Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 91/250 erstellte) Sicherungskopie von einer gefälschten Kopie zu unterscheiden. Eine Erlaubnis zum Verkauf von Sicherungskopien – wie von den Angeklagten, der lettischen Regierung und der Kommission vorgeschlagen – brächte für die mit der Bekämpfung von Fälschungen betrauten Behörden mithin erhebliche praktische Schwierigkeiten mit sich.

54.

In Anbetracht all dieser Gründe bin ich der Ansicht, dass Art. 4 Buchst. c der Richtlinie 91/250 dahin auszulegen ist, dass unter den in Nr. 25 der vorliegenden Schlussanträge festgestellten Umständen eine Verletzung des ausschließlichen Verbreitungsrechts des Rechtsinhabers vorliegt.

C – Zum Vorliegen einer Verletzung des Vervielfältigungsrechts infolge des Verkaufs nicht originaler körperlicher Kopien von Computerprogrammen

55.

Obgleich die Feststellung einer Verletzung des Verbreitungsrechts bereits eine hinreichende Antwort auf die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen darstellen könnte, halte ich es – in Anbetracht der vom vorlegenden Gericht geäußerten Zweifel und der von ihm angeführten Vorschriften der Richtlinie 91/250 – für wichtig, zu prüfen, ob Art. 4 Buchst. a sowie Art. 5 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 91/250 dahin auszulegen sind, dass unter Umständen wie denen, die in Nr. 25 der vorliegenden Schlussanträge dargelegt wurden, eine Verletzung des ausschließlichen Vervielfältigungsrechts des Rechtsinhabers vorliegt.

56.

Im Ausgangsverfahren ist unstreitig, dass die Angeklagten mehrere nicht originale körperliche Kopien von Computerprogrammen verkauft haben, die ohne die Zustimmung des Rechtsinhabers, nämlich Microsoft, erstellt worden waren. Die Erstellung solcher Kopien stellt eine Verletzung des Microsoft zustehenden Vervielfältigungsrechts dar, sofern nicht nachgewiesen wird, dass diese einer Ausnahme vom Vervielfältigungsrecht unterliegen.

57.

Art. 5 der Richtlinie 91/250 legt zwei Ausnahmen fest, die unter den Umständen des Ausgangsverfahrens einschlägig sein könnten und die vom vorlegenden Gericht angeführt wurden. Die Vervielfältigungshandlung bedarf zum einen dann, wenn sie für eine bestimmungsgemäße Benutzung des Computerprogramms durch den rechtmäßigen Erwerber notwendig ist (Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie), oder zum anderen dann, wenn sie darin besteht, eine Sicherungskopie zu erstellen, die für seine Benutzung erforderlich ist (Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie), grundsätzlich nicht der Zustimmung des Rechtsinhabers.

58.

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu bestimmen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht originalen körperlichen Kopien – zum Zeitpunkt ihrer Erstellung – tatsächlich Kopien, die für die Benutzung der Programme erforderlich waren, oder Sicherungskopien im Sinne dieser Bestimmungen darstellten. Die im Vorlagebeschluss mitgeteilten Sachverhaltsfeststellungen geben meines Erachtens hierüber keinen Aufschluss.

59.

Selbst unterstellt, dass die nicht originalen körperlichen Kopien im Ausgangsverfahren zum Zeitpunkt ihrer Erstellung unter einen der in Art. 5 der Richtlinie 91/250 vorgesehenen Ausnahmetatbestände fielen, bin ich aus den folgenden Gründen gleichwohl der Ansicht, dass ihr anschließender Verkauf den von diesen Ausnahmetatbeständen gewährten Vorteil wegfallen lässt.

60.

Zum einen ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250, dass die nicht originale körperliche Kopie vom rechtmäßigen Erwerber erstellt werden muss, um ihm die bestimmungsgemäße Benutzung des Computerprogramms zu ermöglichen. Im Fall des Weiterverkaufs des Computerprogramms tritt dieser rechtmäßige Erwerber die Nutzungsrechte, die er an diesem Programm hält, allerdings ab und hat sich dessen weiterer Benutzung zu enthalten. Folglich ist er nicht mehr in der Lage, die Voraussetzung zu erfüllen, nach der die nicht originale körperliche Kopie ihm die bestimmungsgemäße Benutzung des Computerprogramms ermöglichen muss. Wie die Kommission ausgeführt hat, kann der Begriff „Benutzung“ in dieser Bestimmung nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Erstellung nicht originaler körperlicher Kopien zum Zweck ihres Weiterverkaufs umfasste.

61.

Zum anderen setzt Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 91/250 voraus, dass derjenige, der das Recht zur Benutzung des Programms hat, eine Sicherungskopie erstellt, „wenn sie für die Benutzung erforderlich ist“. Auch in diesem Fall hat der Besitzer im Fall des Weiterverkaufs des Computerprogramms von dessen Benutzung Abstand zu nehmen und ist nicht mehr in der Lage, dieser Anforderung zu genügen.

62.

Nach alledem bewirkt – wie Microsoft und die italienische Regierung geltend machen – der Verkauf einer nicht originalen körperlichen Kopie, deren Erstellung vom Rechtsinhaber nicht genehmigt wurde, aufgrund des Wegfalls der in Art. 5 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 91/250 vorgesehenen Ausnahmen eine Verletzung des Vervielfältigungsrechts.

63.

Die Rn. 70 und 78 des Urteils UsedSoft ( *15 ) scheinen mir diese Auslegung zu stützen, weil der Gerichtshof dort befunden hat, dass der Wiederverkäufer – um nicht das Vervielfältigungsrecht zu verletzen – jede von der weiterverkauften verschiedene Kopie, die sich in seinem Besitz befindet, unbrauchbar machen muss. Die Kopien, die unbrauchbar zu machen sind, umfassen nämlich, wie ich meine, insbesondere die, die vom Wiederverkäufer gemäß Art. 5 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 91/250 erstellt wurden.

64.

Die Angeklagten haben in ihren schriftlichen Erklärungen bekräftigt, dass sie sämtliche der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Computerprogramme von Unternehmen oder Privatpersonen erworben hatten, die diese nicht mehr benutzten.

65.

Es ist offensichtlich nicht Aufgabe des Gerichtshofs, sondern des vorlegenden Gerichts, zu dieser Tatsachenfrage Stellung zu nehmen. Wird festgestellt, dass die Angeklagten tatsächlich nicht originale, von Dritten erstellte, körperliche Kopien verkauft haben, kann ihnen die Verletzung des in Art. 4 Buchst. a der Richtlinie 91/250 vorgesehenen Vervielfältigungsrechts als solche nicht zur Last gelegt werden.

66.

In diesem Fall könnten die Angeklagten allerdings unter den Tatbestand des Art. 7 Abs. 1 Buchst. a oder b der Richtlinie 91/250 fallen. Es ist insoweit Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die Angeklagten die in diesen Bestimmungen aufgestellten Voraussetzungen erfüllen, und insbesondere, ob sie wussten oder Gründe zur Annahme hatten, dass es sich bei den im Ausgangsverfahren fraglichen Kopien um unerlaubte Kopien handelte.

67.

Ergänzt sei, dass die unerlaubten Kopien eines Computerprogramms in Anwendung von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 91/250 gemäß den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats beschlagnahmt werden können.

68.

Nach alledem bin ich der Ansicht, dass Art. 4 Buchst. a und Art. 5 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 91/250 dahin auszulegen sind, dass unter den in Nr. 25 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Umständen eine Verletzung des ausschließlichen Vervielfältigungsrechts des Rechtsinhabers vorliegt.

D – Zur Bedeutung des Urteils UsedSoft im Rahmen der vorliegenden Rechtssache

69.

Die Angeklagten, die lettische Regierung und die Kommission haben in ihren schriftlichen Erklärungen auf mehrere Passagen des Urteils UsedSoft ( *16 ) hingewiesen. Das vorlegende Gericht möchte ebenfalls wissen, welche Bedeutung diesem Urteil unter den Umständen des Ausgangsverfahrens zukommt.

70.

Nach der Prüfung einer Verletzung des Verbreitungsrechts und einer Verletzung des Vervielfältigungsrechts unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens halte ich es noch für wichtig, darzulegen, warum diesem Urteil im Rahmen der vorliegenden Rechtssache meiner Ansicht nach nur eine begrenzte Bedeutung zukommt.

71.

Es sei daran erinnert, dass diese Rechtssache den Weiterverkauf gebrauchter Nutzungslizenzen betraf, die zu unkörperlichen – durch UsedSoft von der Website des Rechtsinhabers, Oracle, heruntergeladenen – Kopien eines Computerprogramms gehörten. Der Rechtsinhaber hatte dieser Praxis des Weiterverkaufs widersprochen und dabei insbesondere geltend gemacht, dass die Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts in Bezug auf derartige unkörperliche Kopien nicht zur Anwendung komme ( *17 ).

72.

Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts sowohl auf körperliche als auch auf unkörperliche Kopien eines Computerprogramms Anwendung finden muss ( *18 ). Was speziell die unkörperlichen Kopien betrifft, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass eine aus dem Internet heruntergeladene unkörperliche Kopie von der Erschöpfung des Verbreitungsrechts erfasst sein muss, wenn der Rechtsinhaber gegen Zahlung eines Entgelts, das es ihm ermöglichen soll, eine dem wirtschaftlichen Wert der Kopie des ihm gehörenden Werkes entsprechende Vergütung zu erzielen, auch ein Recht, diese Kopie ohne zeitliche Begrenzung zu nutzen, eingeräumt hat ( *19 ).

73.

Der Gerichtshof hat zudem – und auch zum Zweck der Wahrung der praktischen Wirksamkeit der Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts – festgestellt, dass der zweite Erwerber einer solchen unkörperlichen Kopie – in Abweichung von dem ausschließlichen Vervielfältigungsrecht des Rechtsinhabers – das Recht hat, für die bestimmungsgemäße Benutzung des Computerprogramms gemäß Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 hiervon eine Kopie auf seinem Computer zu erstellen ( *20 ).

74.

Aus meiner Sicht lag der vom Gerichtshof in diesem Urteil gewählten Lösung die Absicht zugrunde, die praktische Wirksamkeit der Erschöpfung des Verbreitungsrechts im Wege der Erstreckung ihres Anwendungsbereichs auf unkörperliche Kopien von Computerprogrammen zu wahren. Jede andere Lösung hätte die Rechtsinhaber nämlich dazu bewegt, ihre Computerprogramme in unkörperlicher Form zu verbreiten, um der Anwendung der Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts zu entgehen.

75.

Die Umstände des Ausgangsverfahrens weichen folglich in erheblichem Maß von denen ab, die dem Urteil UsedSoft ( *21 ) zugrunde lagen.

76.

Zum einen lassen sich aus der dem Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache vorgelegten Akte keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Angeklagten zu unkörperlichen Kopien gehörende Nutzungslizenzen, um die es im Urteil UsedSoft ( *22 ) ging, verkauft hätten. Es ist vielmehr unstreitig, dass es im Ausgangsverfahren um nicht originale körperliche Kopien von Computerprogrammen geht.

77.

Zum anderen lassen sich die Gründe, die den Gerichtshof zu der in diesem Urteil gewählten Lösung veranlasst hatten, nicht auf den vorliegenden Fall übertragen. Im weit „klassischeren“ Kontext von körperlichen Originalkopien, die mit der Zustimmung des Rechtsinhabers verkauft werden, besteht nämlich kein besonderes Risiko dafür, dass die praktische Wirksamkeit der Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts beeinträchtigt werden könnte. Ich möchte insoweit hervorheben, dass Microsoft nicht in Abrede stellt, dass die von ihr selbst oder mit ihrer Zustimmung verkauften körperlichen Originalkopien ihrer Computerprogramme von der Erschöpfung des Verbreitungsrechts erfasst sind. Microsoft wendet sich also – anders als Oracle in der Rechtssache UsedSoft ( *23 ) – nicht gegen das Entstehen eines Marktes für den Verkauf gebrauchter Originalkopien, wohl aber gegen das Entstehen eines Marktes für den Verkauf nicht originaler Gebrauchtkopien, die ohne ihre Zustimmung erstellt und verkauft werden.

78.

In Anbetracht dieser Unterschiede zwischen den Umständen der vorliegenden Rechtssache und denen, die dem Urteil UsedSoft ( *24 ) zugrunde lagen, meine ich, dass diesem Urteil im Rahmen der vorliegenden Rechtssache nur eine begrenzte Bedeutung zukommt. Wie die Kommission zu Recht hervorgehoben hat, wurde die Frage des Weiterverkaufs nicht originaler körperlicher Kopien vom Gerichtshof in diesem Urteil schlichtweg nicht geprüft.

79.

Diese Klarstellung ist nicht bloß von rein theoretischem Interesse. Es ergibt sich daraus nämlich, dass sich die in diesem Urteil gefundene Lösung, mit der die Voraussetzungen aufgestellt werden, unter denen der Weiterverkauf einer unkörperlichen Kopie keine Verletzung des Verbreitungsrechts darstellt, entgegen dem Vorbringen der Angeklagten, der lettischen Regierung und der Kommission ( *25 ), nicht entsprechend auf Umstände wie die des Ausgangsverfahrens anwenden lässt.

80.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die im Urteil UsedSoft ( *26 ) gewählte Lösung den spezifischen Kontext des Verkaufs von Nutzungslizenzen betrifft, die zu unkörperlichen Kopien von Computerprogrammen gehören, der beim Erlass der Richtlinie 91/250 vom Unionsgesetzgeber nicht ausdrücklich berücksichtigt worden war. Außerhalb dieses spezifischen Kontexts muss eine klassische Anwendung der Vorschriften über die ausschließlichen Rechte zur Verbreitung und Vervielfältigung, und insbesondere der Art. 4 und 5 der Richtlinie 91/250, erfolgen.

E – Zu den praktischen Auswirkungen des vorgeschlagenen Lösungsansatzes

81.

Die praktischen Auswirkungen des Lösungsansatzes, den ich dem Gerichtshof vorschlage, gestalten sich wie folgt.

82.

Ist die Originalkopie eines Computerprogramms, die durch den Rechtsinhaber oder mit seiner Zustimmung verkauft wird, auf einem körperlichen Datenträger verkörpert, kommt einzig dieser körperlichen Originalkopie die Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts zugute. Den Wiederverkäufer trifft im Übrigen – um nicht das Vervielfältigungsrecht zu verletzen – die Pflicht, jede andere in seinem Besitz befindliche Kopie unbrauchbar zu machen. Dieser Ansatz stünde dem Entstehen eines Gebrauchtmarkts für nicht originale körperliche Kopien von Computerprogrammen somit als rechtliches Hindernis entgegen, behinderte jedoch nicht das Entstehen eines solchen Marktes für Originalkopien.

83.

Ist die Originalkopie nicht auf einem körperlichen Datenträger verkörpert, so ist – um die praktische Wirksamkeit der Regel der Erschöpfung des Verbreitungsrechts zu wahren – die vom Gerichtshof im Urteil UsedSoft ( *27 ) gefundene Lösung heranzuziehen. Das Recht zur Verbreitung auf der unkörperlichen Kopie ist somit erschöpft, wenn der Rechtsinhaber gegen Zahlung eines Entgelts, das es ihm ermöglichen soll, eine dem wirtschaftlichen Wert der Kopie des ihm gehörenden Werkes entsprechende Vergütung zu erzielen, ein unbefristetes Recht zur Nutzung dieser Kopie eingeräumt hat (Nr. 72). Den Wiederverkäufer trifft im Übrigen – um nicht das Vervielfältigungsrecht zu verletzen – die Pflicht, jede andere in seinem Besitz befindliche Kopie unbrauchbar zu machen (Nrn. 70 und 78). Diese Lösung ermöglicht das Entstehen eines Gebrauchtmarkts für unkörperliche Kopien von Computerprogrammen.

VI – Ergebnis

84.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Rīgas apgabaltiesas Krimināllietu tiesu kolēģija (Regionalgericht Riga, Strafkammer) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Art. 4 Buchst. a und c und Art. 5 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 91/250/EWG des Rates vom 14. Mai 1991 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen in der durch die Richtlinie 93/98/EWG des Rates vom 29. Oktober 1993 zur Harmonisierung der Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass eine Verletzung der ausschließlichen Rechte des Rechtsinhabers zur Vervielfältigung und Verbreitung vorliegt, wenn die Kopie eines Computerprogramms von einem Nutzer ohne Zustimmung des Inhabers auf einem anderen als dem ursprünglichen Datenträger erstellt wird und wenn diese Kopie ohne Zustimmung des Rechtsinhabers von diesem Nutzer oder einem anderen Nutzer verkauft wird, und zwar auch dann, wenn

der ursprüngliche körperliche Datenträger beschädigt ist und

der Verkäufer dieser Kopie jede andere in seinem Besitz befindliche Kopie unbrauchbar macht.


( *1 ) Originalsprache: Französisch.

( *2 ) Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).

( *3 ) Vgl. insbesondere Urteil vom 6. Oktober 2015, Delvigne (C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( *4 ) Vgl. insbesondere Urteil vom 6. Oktober 2015, Delvigne (C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( *5 ) Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).

( *6 ) Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).

( *7 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. 2001, L 167, S. 10). Nach ihrem Art. 4 Abs. 2 „[erschöpft sich] [d]as Verbreitungsrecht … [in der Union] in Bezug auf das Original oder auf Vervielfältigungsstücke eines Werks nur, wenn der Erstverkauf dieses Gegenstands oder eine andere erstmalige Eigentumsübertragung [in der Union] durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung erfolgt“ (Hervorhebung nur hier).

( *8 ) Urteil vom 22. Januar 2015 (C‑419/13, EU:C:2015:27).

( *9 ) Urteil vom 22. Januar 2015 (C‑419/13, EU:C:2015:27).

( *10 ) Vgl. Nr. 36 der vorliegenden Schlussanträge.

( *11 ) Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).

( *12 ) Vgl. Nr. 37 der vorliegenden Schlussanträge.

( *13 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. November 2001, Zino Davidoff und Levi Strauss (C‑414/99 bis C‑416/99, EU:C:2001:617, Rn. 54). Der Gerichtshof hat auch festgestellt, dass die Art. 34 und 36 AEUV nicht einer nationalen Bestimmung entgegenstehen, nach der die Voraussetzungen für die Erschöpfung von demjenigen zu beweisen sind, der sich darauf beruft, es sei denn, eine solche Regelung ermöglicht dem Markeninhaber, die nationalen Märkte voneinander abzuschotten. Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. April 2003, Van Doren + Q (C‑244/00, EU:C:2003:204, Rn. 35 bis 42).

( *14 ) Walter, M., und von Lewinski, S., European Copyright Law: A Commentary, Oxford University Press, Oxford, 2010, Rn. 5.4.33: „Whoever alleges that the right of distribution with regard to a specific copy is exhausted, in principle, has to bear the burden of proof according to the general rules.“ (Frei übersetzt: „Jeder, der sich darauf beruft, dass das Verbreitungsrecht im Hinblick auf eine spezifische Kopie erschöpft ist, ist grundsätzlich nach den allgemeinen Grundsätzen beweispflichtig.“)

( *15 ) Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).

( *16 ) Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).

( *17 ) Urteil vom 3. Juli 2012, UsedSoft (C‑128/11, EU:C:2012:407, Rn. 53).

( *18 ) Urteil vom 3. Juli 2012, UsedSoft (C‑128/11, EU:C:2012:407, Rn. 59).

( *19 ) Urteil vom 3. Juli 2012, UsedSoft (C‑128/11, EU:C:2012:407, Rn. 72).

( *20 ) Urteil vom 3. Juli 2012, UsedSoft (C‑128/11, EU:C:2012:407, Rn. 83 und 88).

( *21 ) Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).

( *22 ) Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).

( *23 ) Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).

( *24 ) Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).

( *25 ) Siehe Nrn. 36 und 37 der vorliegenden Schlussanträge.

( *26 ) Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).

( *27 ) Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).