URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

24. Juni 2015 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Grenzen, Asyl und Einwanderung — Richtlinie 2004/83/EG — Art. 24 Abs. 1 — Mindestnormen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus — Aufhebung des Aufenthaltstitels — Voraussetzungen — Begriff ‚zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung‘ — Beteiligung einer Person, die den Status eines Flüchtlings hat, an Aktivitäten einer Organisation, die auf der von der Europäischen Union erstellten Liste terroristischer Organisationen aufgeführt ist“

In der Rechtssache C‑373/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof Baden‑Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 27. Mai 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Juli 2013, in dem Verfahren

H. T.

gegen

Land Baden-Württemberg

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter S. Rodin, A. Borg Barthet und E. Levits sowie der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juni 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn T., vertreten durch Rechtsanwalt B. Pradel,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, A. Lippstreu und A. Wiedmann als Bevollmächtigte,

der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 11. September 2014

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 21 Abs. 2 und 3 und Art. 24 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, mit Berichtigung in ABl. 2005, L 204, S. 24).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn T. und dem Land Baden-Württemberg wegen eines Bescheids, mit dem Herr T. aus dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und sein Aufenthaltstitel aufgehoben wurde.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge

3

Art. 28 („Reiseausweise“) Abs. 1 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten und am 22. April 1954 in Kraft getretenen Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954], im Folgenden: Genfer Konvention), das durch das am 31. Januar 1967 abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt wurde, bestimmt:

„Die vertragschließenden Staaten werden den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in ihrem Gebiet aufhalten, Reiseausweise ausstellen, die ihnen Reisen außerhalb dieses Gebietes gestatten, es sei denn, dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegenstehen; …“

4

Art. 32 („Ausweisung“) Abs. 1 der Genfer Konvention lautet:

„Die vertragschließenden Staaten werden einen Flüchtling, der sich rechtmäßig in ihrem Gebiet befindet, nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung ausweisen.“

5

Art. 33 („Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“) der Genfer Konvention bestimmt:

„(1)   Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.

(2)   Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde.“

Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen

6

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedete am 28. September 2001 die Resolution 1373 (2001). In den Erwägungsgründen dieser Resolution bekräftigte der Sicherheitsrat insbesondere die „Notwendigkeit, durch terroristische Handlungen verursachte Bedrohungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit mit allen Mitteln im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen zu bekämpfen“.

7

In Ziff. 5 dieser Resolution erklärte der Sicherheitsrat, „dass die Handlungen, Methoden und Praktiken des Terrorismus im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen und dass die wissentliche Finanzierung und Planung terroristischer Handlungen sowie die Anstiftung dazu ebenfalls im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen“.

8

Im fünften Erwägungsgrund seiner Resolution 1377 (2001) vom 12. November 2001 hob der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Hinblick auf Bedrohungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, die durch terroristische Handlungen verursacht werden, hervor, „dass Akte des internationalen Terrorismus im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen stehen und dass die Finanzierung, Planung und Vorbereitung sowie jegliche andere Form der Unterstützung von Akten des internationalen Terrorismus ebenfalls im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Charta stehen“.

Unionsrecht

9

Die Erwägungsgründe 3, 6, 10, 16, 22, 28 und 30 der Richtlinie 2004/83 lauten:

„(3)

Die Genfer Konvention und das Protokoll stellen einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.

(6)

Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie ist es einerseits, ein Mindestmaß an Schutz in allen Mitgliedstaaten für Personen zu gewährleisten, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass allen diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

(10)

Die Richtlinie achtet die Grundrechte und befolgt insbesondere die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundsätze. Die Richtlinie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde, des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen.

(14)

Die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist ein deklaratorischer Akt.

(22)

Handlungen im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen sind in der Präambel und in den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen dargelegt; sie sind unter anderem in den Resolutionen der Vereinten Nationen zu Antiterrormaßnahmen verankert, in denen erklärt wird, ‚dass die Handlungen, Methoden und Praktiken des Terrorismus im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen‘ und ‚dass die wissentliche Finanzierung und Planung terroristischer Handlungen sowie die Anstiftung dazu ebenfalls im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen‘.

(28)

Der Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gilt auch für die Fälle, in denen ein Drittstaatsangehöriger einer Vereinigung angehört, die den internationalen Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt.

(30)

Innerhalb der durch die internationalen Verpflichtungen vorgegebenen Grenzen können die Mitgliedstaaten festlegen, dass Leistungen im Bereich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Sozialhilfe, zur medizinischen Versorgung und zu Integrationsmaßnahmen nur dann gewährt werden können, wenn vorab ein Aufenthaltstitel ausgestellt worden ist.“

10

Art. 13 („Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft“) der Richtlinie 2004/83 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu.“

11

In Art. 14 („Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft“) dieser Richtlinie heißt es:

„(4)   Die Mitgliedstaaten können einem Flüchtling die ihm von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen, wenn

a)

es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält;

b)

er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt wurde.

(6)   Personen, auf die die Absätze 4 oder 5 Anwendung finden, können die in den Artikeln 3, 4, 16, 22, 31, 32 und 33 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Rechte oder vergleichbare Rechte geltend machen, sofern sie sich in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten.“

12

Art. 21 („Schutz vor Zurückweisung“) der genannten Richtlinie bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten achten den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen.

(2)   Ein Mitgliedstaat kann, sofern dies nicht aufgrund der in Absatz 1 genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen untersagt ist, einen Flüchtling unabhängig davon, ob er als solcher förmlich anerkannt ist oder nicht, zurückweisen, wenn

a)

es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem [er] sich aufhält, oder

b)

er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

(3)   Die Mitgliedstaaten können den einem Flüchtling erteilten Aufenthaltstitel widerrufen, beenden oder seine Verlängerung bzw. die Erteilung eines Aufenthaltstitels ablehnen, wenn Absatz 2 auf die betreffende Person Anwendung findet.“

13

Art. 24 („Aufenthaltstitel“) dieser Richtlinie lautet:

„(1)   So bald wie möglich nach Zuerkennung des Schutzstatus und unbeschadet des Artikels 21 Absatz 3 stellen die Mitgliedstaaten Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, einen Aufenthaltstitel aus, der mindestens drei Jahre gültig und verlängerbar sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung dem entgegenstehen.

Unbeschadet des Artikels 23 Absatz 1 kann der Aufenthaltstitel, der Familienangehörigen von Personen ausgestellt wird, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, weniger als drei Jahre gültig und verlängerbar sein.

(2)   So bald wie möglich nach Zuerkennung des Schutzstatus stellen die Mitgliedstaaten Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, einen Aufenthaltstitel aus, der mindestens ein Jahr gültig und verlängerbar sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung dem entgegenstehen.“

14

Art. 28 („Schutz vor Ausweisung“) der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35) bestimmt:

„(1)   Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.

(2)   Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.

(3)   Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie

a)

ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder

b)

minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.“

15

In Art. 9 („Entzug oder Verlust der Rechtsstellung“) der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) heißt es:

„(1)   Ein Drittstaatsangehöriger ist nicht mehr berechtigt, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu behalten, wenn

b)

eine Ausweisung nach Maßgabe des Artikels 12 verfügt worden ist;

…“

Deutsches Recht

16

In § 11 („Einreise- und Aufenthaltsverbot“) Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1950) in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Aufenthaltsgesetz) heißt es:

„Ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, darf nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. …“

17

§ 25 („Aufenthalt aus humanitären Gründen“) Aufenthaltsgesetz sieht vor:

„(1)   Einem Ausländer ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn er unanfechtbar als Asylberechtigter anerkannt ist. Dies gilt nicht, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen worden ist. Bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gilt der Aufenthalt als erlaubt. Die Aufenthaltserlaubnis berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit.

(2)   Einem Ausländer ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat (§ 3 Abs. 4 des Asylverfahrensgesetzes). Absatz 1 Satz 2 bis 4 gilt entsprechend.

(5)   Einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, kann abweichend von § 11 Abs. 1 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Die Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist. …“

18

In § 51 („Beendigung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts: Fortgeltung von Beschränkungen“) Abs. 1 Aufenthaltsgesetz heißt es:

„Der Aufenthaltstitel erlischt in folgenden Fällen:

5.

Ausweisung des Ausländers,

…“

19

§ 54 („Ausweisung im Regelfall“) Aufenthaltsgesetz bestimmt:

„Ein Ausländer wird in der Regel ausgewiesen, wenn

5.

Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat; auf zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen kann die Ausweisung nur gestützt werden, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründen.

…“

20

§ 54a („Überwachung ausgewiesener Ausländer aus Gründen der inneren Sicherheit“) Aufenthaltsgesetz sieht vor:

„(1)   Ein Ausländer, gegen den eine vollziehbare Ausweisungsverfügung nach § 54 Nr. 5 … besteht, unterliegt der Verpflichtung, sich mindestens einmal wöchentlich bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle zu melden, soweit die Ausländerbehörde nichts anderes bestimmt. Ist ein Ausländer auf Grund anderer als der in Satz 1 genannten Ausweisungsgründe vollziehbar ausreisepflichtig, kann eine Satz 1 entsprechende Meldepflicht angeordnet werden, wenn dies zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist.

(2)   Sein Aufenthalt ist auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, soweit die Ausländerbehörde keine abweichenden Festlegungen trifft.

…“

21

In § 55 („Ermessensausweisung“) Aufenthaltsgesetz heißt es:

„(1)   Ein Ausländer kann ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt.

(3)   Bei der Entscheidung über die Ausweisung sind zu berücksichtigen

1.

die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet,

2.

die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen oder Lebenspartner des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft leben,

3.

die in § 60a Abs. 2 und 2b genannten Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung.“

22

§ 56 („Besonderer Ausweisungsschutz“) Abs. 1 Aufenthaltsgesetz sieht vor:

„Ein Ausländer, der

1.

eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,

3.

eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich mindestens fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nummern 1 bis 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt,

4.

mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt,

5.

als Asylberechtigter anerkannt ist, im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt oder einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt,

genießt besonderen Ausweisungsschutz. Er wird nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5 bis 5b und 7 vor. Liegen die Voraussetzungen des § 53 vor, so wird der Ausländer in der Regel ausgewiesen. Liegen die Voraussetzungen des § 54 vor, so wird über seine Ausweisung nach Ermessen entschieden.“

23

In § 60 („Verbot der Abschiebung“) Aufenthaltsgesetz heißt es:

„(1)   In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach de[r Genfer Konvention] anerkannt wurden. …

(8)   Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Absatz 2 des Asylverfahrensgesetzes erfüllt.

(9)   In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylverfahrensgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. …

…“

24

§ 60a („Vorübergehende Aussetzung der Abschiebung [Duldung]“) Abs. 2 und 3 Aufenthaltsgesetz bestimmt:

„(2)   Die Abschiebung eines Ausländers ist auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. …

(3)   Die Ausreisepflicht eines Ausländers, dessen Abschiebung ausgesetzt ist, bleibt unberührt.“

25

§ 18 („Räumlicher Geltungsbereich von Vereinsverboten“) des Gesetzes zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts vom 5. August 1964 (BGBl. 1964 I S. 593) in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Vereinsgesetz) lautet:

„Verbote von Vereinen, die ihren Sitz außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes, aber Teilorganisationen innerhalb dieses Bereichs haben, erstrecken sich nur auf die Teilorganisationen innerhalb dieses Bereichs. Hat der Verein im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes keine Organisation, so richtet sich das Verbot (§ 3 Absatz 1) gegen seine Tätigkeit in diesem Bereich.“

26

In § 20 („Zuwiderhandlungen gegen Verbote“) Abs. 1 Vereinsgesetz heißt es:

„Wer im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes durch eine darin ausgeübte Tätigkeit

4.

einem vollziehbaren Verbot nach § 14 Absatz 3 Satz 18 oder § 18 Satz 2 zuwiderhandelt …

wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in den §§ 84, 85, 86a oder den §§ 129 bis 129b des Strafgesetzbuches mit Strafe bedroht ist. …

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

27

Herr T. wurde 1956 geboren und ist ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Abstammung. Seit 1989 lebt er in Deutschland zusammen mit seiner Ehefrau, die ebenfalls die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, und acht gemeinsamen Kindern, von denen fünf die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.

28

Herr T. ist seit dem 24. Juni 1993 als Flüchtling im Sinne der Genfer Konvention anerkannt. Diese Anerkennung beruhte darauf, dass er im Exil politische Tätigkeiten für die Kurdische Arbeiterpartei (im Folgenden: PKK) ausübte, und auf der Gefahr einer politischen Verfolgung, der er ausgesetzt wäre, wenn er in die Türkei zurückkehren müsste.

29

Seit dem 7. Oktober 1993 besitzt Herr T. eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Deutschland.

30

Mit Bescheid vom 21. August 2006 widerriefen die zuständigen Behörden die Flüchtlingseigenschaft von Herrn T. mit der Begründung, dass sich die politische Situation in der Türkei geändert habe und er deshalb dort nicht mehr der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt sei.

31

Dieser Bescheid wurde vom Verwaltungsgericht Karlsruhe mit Urteil vom 30. November 2007 aufgehoben, so dass Herr T. seine Flüchtlingseigenschaft behielt.

32

In den 90er Jahren war Herr T. in verschiedener Weise für die PKK sowie Neben‑ oder Nachfolgeorganisationen der PKK politisch aktiv.

33

Mit Verfügung des Bundesministers des Innern vom 22. November 1993 wurde der PKK und anderen, mit der PKK in Zusammenhang stehenden Organisationen verboten, sich in Deutschland zu betätigen.

34

Die zuständigen Behörden leiteten gegen Herrn T., nachdem sie bei einer Durchsuchung seiner Wohnung belastendes Material gefunden hatten, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren nach § 20 Vereinsgesetz wegen Unterstützung der PKK ein. In diesem Verfahren wurde festgestellt, dass er für die PKK Spenden gesammelt und daneben die von der PKK veröffentlichte Zeitschrift Serxwebûn vertrieben hatte.

35

Herr T. wurde daraufhin vom Landgericht Karlsruhe mit Urteil vom 3. Dezember 2008 wegen Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot zu einer Geldstrafe von 3000 Euro verurteilt. Nachdem seine Revision vom Bundesgerichtshof verworfen worden war, wurde das Urteil am 8. April 2009 rechtskräftig.

36

Am 27. März 2012 erließ das Regierungspräsidium Karlsruhe im Namen des Landes Baden-Württemberg gegen Herrn T. eine Ausweisungsverfügung. Diese auf die §§ 54 Nr. 5, 55 und 56 Aufenthaltsgesetz gestützte Ausweisung wurde damit begründet, dass Herr T. der PKK bis weit ins Jahr 2011 hinein Unterstützung geleistet habe und er deshalb eine „gegenwärtige Gefährlichkeit“ im Sinne von § 54 Nr. 5 Aufenthaltsgesetz aufweise. Herr T. wurde außerdem nach § 54a Aufenthaltsgesetz verpflichtet, sich zweimal wöchentlich bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle zu melden. Sein Aufenthalt wurde auf den Bereich der Stadt Mannheim begrenzt, in der er seinen Wohnsitz hatte. Die genannte Verfügung hatte gemäß § 51 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz ohne Weiteres das Erlöschen des ihm erteilten Aufenthaltstitels zur Folge.

37

Mit Blick auf die bestehende familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger, seiner Ehefrau und den minderjährigen Kindern und unter Berücksichtigung seines unbefristeten Aufenthaltsrechts sowie des Status als Asylberechtigter und Flüchtling erging die Ausweisungsverfügung jedoch gemäß § 56 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz als Ermessensentscheidung, und die Abschiebung von Herrn T. wurde von der zuständigen Behörde ausgesetzt. Die von Herrn T. gegen diesen Bescheid erhobene Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 7. August 2012 abgewiesen.

38

Herr T. legte gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht Berufung ein, das die Berufung mit Beschluss vom 28. November 2012 zuließ. Das vorlegende Gericht äußert Zweifel hinsichtlich der Aufhebung des Aufenthaltstitels von Herrn T. und wirft deshalb die Frage auf, ob die Ausweisungsverfügung im Licht von Art. 21 Abs. 2 und 3 und Art. 24 der Richtlinie 2004/83 rechtmäßig ist. Der Verwaltungsgerichtshof Baden‑Württemberg ist insbesondere der Ansicht, dass aus der Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie, Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, einen Aufenthaltstitel auszustellen, der mindestens drei Jahre gültig sein muss, auch das Verbot abzuleiten ist, diesen Aufenthaltstitel oder einen bereits bestehenden Aufenthaltstitel wieder aufzuheben, wenn keiner der Gründe gegeben ist, bei deren Vorliegen bereits die Erteilung abgelehnt werden kann.

39

Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof Baden‑Württemberg das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

a)

Ist die Regelung des Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/83 über die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Ausstellung eines Aufenthaltstitels an Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, auch bei der Aufhebung eines bereits erteilten Aufenthaltstitels zu beachten?

b)

Ist diese daher dahin gehend auszulegen, dass sie der Aufhebung oder Beendigung des Aufenthaltstitels (etwa durch eine Ausweisung nach nationalem Recht) eines anerkannten Flüchtlings entgegensteht, wenn nicht die Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 oder „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 derselben Richtlinie gegeben sind?

2.

Für den Fall, dass die Fragen unter 1 zu bejahen sind:

a)

Wie ist der Ausschlussgrund der „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ in Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/83 mit Blick auf Gefahren auszulegen, die von der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ausgehen?

b)

Können „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/83 gegeben sein, wenn ein anerkannter Flüchtling unter anderem durch das Einsammeln von Spenden und die ständige Teilnahme an PKK-nahen Veranstaltungen die PKK unterstützt hat, selbst wenn die Voraussetzungen für eine Durchbrechung des Zurückweisungsverbots nach Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention und damit auch die Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 nicht erfüllt sind?

3.

Für den Fall, dass die Frage unter 1a) zu verneinen ist:

Ist die Aufhebung bzw. Beendigung des einem anerkannten Flüchtling erteilten Aufenthaltstitels (etwa durch eine Ausweisung nach nationalem Recht) unionsrechtlich nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 (bzw. der gleichlautenden Nachfolgeregelung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes [ABl. L 337, S. 9]) zulässig?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur dritten Frage

40

Mit seiner ersten und seiner dritten Frage, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und unter welcher Voraussetzung ein Mitgliedstaat nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 berechtigt ist, den Aufenthaltstitel eines Flüchtlings zu widerrufen oder zu beenden, obwohl diese Vorschrift diese Möglichkeit im Gegensatz zu Art. 21 Abs. 3 dieser Richtlinie nicht ausdrücklich vorsieht. Für den Fall, dass dies zu bejahen ist, möchte es wissen, ob der Aufenthaltstitel eines Flüchtlings nur nach Art. 21 Abs. 2 und 3 der Richtlinie, wenn der Flüchtling nicht mehr vor einer Zurückweisung geschützt ist, oder auch nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie widerrufen werden kann.

41

Um diese Fragen zu beantworten, sind die jeweilige Tragweite von Art. 21 Abs. 2 und 3 und von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 sowie das Verhältnis dieser beiden Vorschriften zueinander zu untersuchen.

42

Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 verpflichtet die Mitgliedstaaten, den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zu achten. Art. 21 Abs. 2 dieser Richtlinie, dessen Wortlaut im Wesentlichen dem von Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention entspricht, sieht allerdings eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor, indem er es in das Ermessen der Mitgliedstaaten stellt, einen Flüchtling zurückzuweisen, wenn ihnen dies nicht aufgrund dieser völkerrechtlichen Verpflichtungen untersagt ist und wenn es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass der Flüchtling eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, oder wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde. Hingegen enthält Art. 21 der Richtlinie keine Regelung für die Ausweisung eines Flüchtlings, dessen Zurückweisung nicht in Betracht kommt.

43

Wenn die Lage eines Flüchtlings die Voraussetzungen von Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 erfüllt, haben die Mitgliedstaaten, in deren Ermessen es liegt, einen Flüchtling zurückzuweisen oder von der Zurückweisung abzusehen, drei Möglichkeiten. Erstens können sie den betroffenen Flüchtling zurückweisen. Zweitens können sie ihn in einen Drittstaat ausweisen, in dem für ihn nicht die Gefahr besteht, verfolgt zu werden oder ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 dieser Richtlinie zu erleiden. Drittens können sie ihm erlauben, in ihrem Hoheitsgebiet zu verbleiben.

44

Ist eine Zurückweisung nach Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 möglich, sind die Mitgliedstaaten gemäß Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie auch befugt, einen Aufenthaltstitel zu widerrufen, zu beenden oder seine Verlängerung bzw. die Erteilung eines Aufenthaltstitels abzulehnen. Sobald nämlich ein Flüchtling zurückgewiesen wird, braucht ihm kein Aufenthaltstitel mehr ausgestellt zu werden, er einen Aufenthaltstitel nicht mehr zu besitzen oder sein Aufenthaltstitel nicht verlängert zu werden. Wenn ein Flüchtling, wie die Generalanwältin in Nr. 62 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 21 Abs. 2 der genannten Richtlinie fällt, kann deshalb Abs. 3 dieser Vorschrift nicht zur Anwendung kommen. Daher kann der Aufenthaltstitel eines Flüchtlings nicht gemäß Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83 widerrufen werden, wenn ein Mitgliedstaat unter Umständen, wie sie im Ausgangsverfahren in Frage stehen, gegen einen Flüchtling ein Verfahren einleitet, aber ihn mangels Erfüllung der Voraussetzungen von Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie nicht zurückweisen darf.

45

Damit stellt sich die Frage, ob unter solchen Umständen ein Mitgliedstaat den Aufenthaltstitel eines Flüchtlings jedenfalls nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie in einer mit dieser in Einklang stehenden Weise widerrufen kann.

46

Dazu ist festzustellen, dass diese Vorschrift ausdrücklich nur die Möglichkeit vorsieht, einen Aufenthaltstitel nicht zu erteilen, aber nicht die Möglichkeit seines Widerrufs oder seiner Beendigung. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten insbesondere dazu, einem Flüchtling so bald wie möglich einen Aufenthaltstitel auszustellen, der mindestens drei Jahre gültig und verlängerbar ist. Von dieser Verpflichtung darf nur abgewichen werden, wenn der Ausstellung zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegenstehen.

47

Obwohl es keine ausdrückliche Vorschrift gibt, die die Mitgliedstaaten dazu ermächtigt, auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 einen einem Flüchtling zuvor ausgestellten Aufenthaltstitel zu widerrufen, sprechen mehrere Gründe für eine Auslegung, die den Mitgliedstaaten eine derartige Maßnahme erlaubt.

48

So ist erstens festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie den Widerruf eines Aufenthaltstitels nicht ausdrücklich ausschließt.

49

Zweitens steht der Widerruf eines Aufenthaltstitels im Einklang mit dem Zweck dieser Vorschrift. Wenn die Mitgliedstaaten berechtigt sind, die Ausstellung oder die Verlängerung eines Aufenthaltstitels abzulehnen, sofern zwingende Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung dies rechtfertigen, müssen sie erst recht dazu befugt sein, einen solchen Aufenthaltstitel zu widerrufen oder zu beenden, wenn nach seiner Ausstellung derartige Gründe entstehen.

50

Drittens steht diese Auslegung auch mit der Systematik der Richtlinie 2004/83 im Einklang. Wie die Europäische Kommission zutreffend dargelegt hat, vervollständigt Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie deren Art. 21 Abs. 3 dadurch, dass er den betreffenden Mitgliedstaat implizit, aber notwendigerweise dazu ermächtigt, einen Aufenthaltstitel auch in Fällen zu widerrufen oder zu beenden, in denen die Voraussetzungen von Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie nicht erfüllt sind, vorausgesetzt, dass dies durch zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung im Sinne von Art. 24 der Richtlinie gerechtfertigt ist.

51

Folglich können die Mitgliedstaaten einen einem Flüchtling erteilten Aufenthaltstitel entweder auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83 widerrufen oder beenden, wenn dieser Flüchtling in den Anwendungsbereich von Art. 21 Abs. 2 dieser Richtlinie fällt, oder, ist das nicht der Fall, auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie, wenn zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung eine solche Maßnahme rechtfertigen.

52

Außerdem sprechen für diese Auslegung, wie die Generalanwältin in Nr. 68 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Vorarbeiten für die Richtlinie 2004/83, aus denen deutlich wird, dass Art. 24 Abs. 1 auf Vorschlag der Bundesrepublik Deutschland nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika in die Richtlinie eingefügt wurde. Diese Regelung wurde somit eingeführt, um den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu geben, unter bestimmten spezifischen Voraussetzungen die Freizügigkeit von Drittstaatsangehörigen im Schengen-Raum zu beschränken, um den Terrorismus zu bekämpfen und Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung einzudämmen. Diese Erwägungen zeigen somit, dass die genannte Vorschrift den Mitgliedstaaten, sofern die in ihr genannten Voraussetzungen erfüllt sind, stillschweigend auch die Möglichkeit gewährt, einen erteilten Aufenthaltstitel zu widerrufen.

53

Diese Auslegung ergibt sich ebenso aus der Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83, Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, einen Aufenthaltstitel auszustellen, der mindestens drei Jahre gültig ist, denn diese Verpflichtung bringt als notwendige Folge die Möglichkeit mit sich, diesen Aufenthaltstitel zu widerrufen. In diesem Zusammenhang ist beispielhaft darauf hinzuweisen, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/109 ausdrücklich den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten vorsieht, wenn eine Ausweisung verfügt worden ist.

54

Schließlich entspricht in diesem Kontext die Möglichkeit eines Mitgliedstaats, den einem Flüchtling erteilten Aufenthaltstitel zu widerrufen, offenkundigen logischen Erfordernissen. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass ein Mitgliedstaat, der einem Flüchtling einen Aufenthaltstitel ausgestellt hat, später durch bloßen Zufall von Handlungen erfährt, die dieser Flüchtling vor Erteilung des Aufenthaltstitels begangen hat und die, wenn der Mitgliedstaat rechtzeitig von ihnen erfahren hätte, der Ausstellung dieses Aufenthaltstitels aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegengestanden hätten. Es wäre aber unvereinbar mit dem der Richtlinie 2004/83 zugrunde liegenden Ziel, wenn in einer solchen Situation keine Möglichkeit bestünde, den bereits ausgestellten Aufenthaltstitel zu widerrufen. Diese Schlussfolgerung gilt erst recht, wenn der Flüchtling die ihm vorgeworfenen Handlungen erst begangen hat, nachdem ihm der fragliche Aufenthaltstitel erteilt wurde.

55

Nach alledem ist auf die erste und die dritte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen ist, dass ein einem Flüchtling erteilter Aufenthaltstitel entweder nach Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie widerrufen werden kann, wenn zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung im Sinne dieser Bestimmung vorliegen, oder nach Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie, wenn Gründe für die Anwendung der in Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen Ausnahme vom Grundsatz der Nichtzurückweisung vorliegen.

Zur zweiten Frage

56

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung durch einen Flüchtling einen der „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ im Sinne von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 darstellen kann, auch wenn dieser Flüchtling nicht in den Anwendungsbereich von Art. 21 Abs. 2 dieser Richtlinie fällt.

57

Um dem vorlegenden Gericht hierauf eine zweckdienliche Antwort geben zu können, ist zunächst festzustellen, dass der in Art. 21 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2004/83 enthaltene Begriff „stichhaltige Gründe“ und der in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie verwendete Begriff „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ weder in diesen Vorschriften noch in einer anderen Vorschrift der Richtlinie definiert sind.

58

In diesem Zusammenhang sind die Bedeutung und die Tragweite dieser Begriffe nach ständiger Rechtsprechung unter Berücksichtigung sowohl des Wortlauts als auch des Kontexts der betreffenden unionsrechtlichen Vorschriften sowie der Ziele zu bestimmen, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden (vgl. insbesondere Urteile Lundberg, C‑317/12, EU:C:2013:631, Rn. 19, und Bouman, C‑114/13, EU:C:2015:81, Rn. 31), sowie im vorliegenden Fall ferner der Entstehungsgeschichte dieser Regelung (vgl. entsprechend Urteil Pringle, C‑370/12, EU:C:2012:756, Rn. 135).

59

Was den Wortlaut von Art. 21 Abs. 1 Buchst. a und von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 angeht, so ist, wie die Kommission ausgeführt hat, zu beachten, dass diese Richtlinie hinsichtlich der Voraussetzungen, denen die in diesen Vorschriften vorgesehenen Ausnahmen unterliegen, Formulierungsunterschiede in ihren jeweiligen Sprachfassungen – und somit eine gewisse Inkohärenz – aufweist. Hinzu kommt, dass in der deutschen Fassung von Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie andere Worte verwendet werden als in der deutschen Fassung von Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention („stichhaltige Gründe“ anstatt „schwerwiegende Gründe“), während die englische und die französische Fassung des Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie beide den in der englischen bzw. französischen Fassung von Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention verwendeten Begriff („reasonable grounds“ und „raisons sérieuses“) wiederholen.

60

Unter diesen Umständen ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung, wenn zwischen den einzelnen Sprachfassungen eines Rechtstexts Unterschiede bestehen, die fragliche Vorschrift im Licht der Fassungen in allen Sprachen der Europäischen Union einheitlich ausgelegt und angewandt werden muss (Urteil M. u. a., C‑627/13 und C‑2/14, EU:C:2015:59, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61

Die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung kann nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den anderen sprachlichen Fassungen beanspruchen. Eine solche Vorgehensweise wäre nämlich mit dem Erfordernis einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts unvereinbar (vgl. in diesem Sinne Urteil M. u. a., C‑627/13 und C‑2/14, EU:C:2015:59, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62

Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Textes des Unionsrechts voneinander ab, muss daher die fragliche Bestimmung anhand ihres Zusammenhangs und der Ziele ausgelegt werden, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil M. u. a., C‑627/13 und C‑2/14, EU:C:2015:59, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63

Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass einer Person die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, wenn sie die im Unionsrecht festgelegten Mindestnormen erfüllt. Nach Art. 13 der Richtlinie 2004/83 erkennen die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III dieser Richtlinie erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu. Aus dem 14. Erwägungsgrund der Richtlinie, wonach die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein deklaratorischer Akt ist, geht hervor, dass die Mitgliedstaaten in dieser Hinsicht über kein Ermessen verfügen.

64

Außerdem ergibt sich aus Art. 78 Abs. 1 AEUV, dass die Union eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl entwickelt, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, „der internationalen Schutz benötigt“, „ein angemessener Status“ angeboten und die „Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung“ gewährleistet werden soll.

65

Überdies ist dieser Grundsatz der Nichtzurückweisung in den Art. 18 und 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Grundrecht gewährleistet.

66

Im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83 wird in dieser Hinsicht klargestellt, dass die Richtlinie die Grundrechte achtet und insbesondere die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundsätze befolgt, indem sie die uneingeschränkte Wahrung der Menschenrechte, des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherstellt.

67

Daher benennt es der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83 als deren wesentliches Ziel, zum einen ein Mindestmaß an Schutz in allen Mitgliedstaaten für Personen zu gewährleisten, die tatsächlich Schutz benötigen, und außerdem sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

68

Art. 21 Abs. 2 und Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 setzen insoweit die Rechte, die das Unionsrecht jeder Person zuerkennt, um ihr einen dauerhaften Schutz vor Verfolgung zu gewährleisten, in positives Recht um. Diese beiden Vorschriften gehören im Übrigen zu Kapitel VII mit der Überschrift „Inhalt des internationalen Schutzes“ der Richtlinie, in dem die Vergünstigungen festgelegt sind, die diejenigen Personen in Anspruch nehmen können, die einen Antrag auf Anerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft oder auf subsidiären Schutz gestellt haben und deren Antrag stattgegeben wurde.

69

Auch wenn indessen, wie oben in Rn. 50 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, zwischen Art. 21 Abs. 2 und 3 und Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nicht nur eine gewisse Überschneidung besteht, weil beide Vorschriften die für die Mitgliedstaaten bestehende Möglichkeit betreffen, die Erteilung eines Aufenthaltstitels abzulehnen, einen Aufenthaltstitel zu widerrufen oder zu beenden oder seine Verlängerung abzulehnen, sondern ebenso eine Komplementarität, steht gleichwohl fest, dass die beiden Vorschriften gesonderte Anwendungsbereiche haben und zu verschiedenen rechtlichen Regelungen gehören.

70

In Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 ist der Grundsatz niedergelegt, dass Flüchtlinge normalerweise vor einer Zurückweisung geschützt sind. Hingegen sieht Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor und erlaubt die Zurückweisung eines Flüchtlings – unabhängig davon, ob er als solcher förmlich anerkannt ist oder nicht – entweder nach Buchst. a dieses Absatzes, wenn es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass der Flüchtling eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, oder nach Buchst. b dieses Absatzes, wenn der Flüchtling eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

71

Die Zurückweisung eines Flüchtlings bildet, auch wenn sie durch die Ausnahmebestimmung von Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 grundsätzlich zugelassen wird, nur die ultima ratio für einen Mitgliedstaat, wenn keine andere Maßnahme mehr möglich oder ausreichend ist, um der Gefahr entgegenzutreten, die von diesem Flüchtling für die Sicherheit oder die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats ausgeht. Wenn ein Mitgliedstaat gemäß Art. 14 Abs. 4 dieser Richtlinie die einer Person zuerkannte Flüchtlingseigenschaft aberkennt, beendet oder ihre Verlängerung ablehnt, kann diese Person gemäß Abs. 6 dieses Artikels u. a. die in den Art. 32 und 33 der Genfer Konvention genannten Rechte geltend machen.

72

Die Folgen, die die Anwendung der in Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 vorgesehenen Ausnahme für den betroffenen Flüchtling hat, können, wie die Generalanwältin in Nr. 81 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, äußerst einschneidend sein, denn er kann in ein Land zurückgeschickt werden, in dem er der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt sein könnte. Aus diesem Grund unterwirft diese Vorschrift eine Zurückweisung strengen Voraussetzungen, da insbesondere nur ein Flüchtling, der wegen einer „besonders schweren Straftat“ rechtskräftig verurteilt wurde, als eine „Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats“ im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden kann. Selbst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, steht die Zurückweisung des betroffenen Flüchtlings überdies nur im Ermessen der Mitgliedstaaten, die darin frei bleiben, sich für andere, weniger einschneidende Optionen zu entscheiden.

73

Hingegen betrifft Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83, dessen Wortlaut abstrakter als der von Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie gefasst ist, nur die Versagung eines Aufenthaltstitels für einen Flüchtling und dessen Widerruf, nicht jedoch die Zurückweisung dieses Flüchtlings. Diese Vorschrift betrifft somit lediglich Fälle, in denen die Gefahr, die von dem fraglichen Flüchtling für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder die Allgemeinheit des fraglichen Mitgliedstaats ausgeht, nicht den Verlust des Flüchtlingsstatus und erst recht nicht die Zurückweisung des Flüchtlings rechtfertigen kann. Aus diesem Grund setzt die Anwendung der in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehenen Ausnahmeregelung nicht das Vorliegen einer besonders schweren Straftat voraus.

74

Die Folgen, die die Aufhebung des Aufenthaltstitels nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 für den Flüchtling hat, sind demnach weniger einschneidend, weil diese Maßnahme nicht zur Aberkennung seines Flüchtlingsstatus und erst recht nicht zu seiner Zurückweisung gemäß Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie führen kann.

75

Daraus folgt, dass der Begriff der „zwingenden Gründe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 eine weitere Bedeutung als der Begriff der „stichhaltigen Gründe“ in Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie hat und dass bestimmte Umstände, die nicht den Schweregrad aufweisen, der es einem Mitgliedstaat erlaubte, auf die Ausnahmeregelung von Art. 21 Abs. 2 der genannten Richtlinie zurückzugreifen und eine Zurückweisung zu verfügen, den Mitgliedstaat gleichwohl dazu berechtigen können, auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie dem betroffenen Flüchtling seinen Aufenthaltstitel zu entziehen.

76

Nach dieser Feststellung ist hinsichtlich der speziellen Frage des vorlegenden Gerichts, ob die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung einen der „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ im Sinne von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 darstellen kann, daran zu erinnern, dass die Begriffe „öffentliche Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ in dieser Vorschrift nicht definiert sind.

77

Der Gerichtshof hatte allerdings bereits Gelegenheit, die in den Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38 verwendeten Begriffe der „öffentlichen Sicherheit“ und der „öffentlichen Ordnung“ auszulegen. Auch wenn diese Richtlinie andere Ziele als die Richtlinie 2004/83 verfolgt und es den Mitgliedstaaten freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern (Urteil I., C‑348/09, EU:C:2012:300, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung), kann der Umfang des Schutzes, den eine Gesellschaft ihren grundlegenden Interessen gewähren will, nicht je nach der Rechtsstellung der Person, die ihre Interessen beeinträchtigt, unterschiedlich ausfallen.

78

Um den Begriff „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ im Sinne von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 auszulegen, ist daher zunächst zu berücksichtigen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass der Begriff „öffentliche Sicherheit“ im Sinne von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst (vgl. insbesondere Urteil Tsakouridis, C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung) und dass daher die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können (Urteil Tsakouridis, C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 44). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof weiter befunden, dass der Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ im Sinne dieses Art. 28 Abs. 3 nicht nur das Vorliegen einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit voraussetzt, sondern darüber hinaus, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist, der im Gebrauch des Ausdrucks „zwingende Gründe“ zum Ausdruck kommt (Urteil Tsakouridis, C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 41).

79

Ferner hat der Gerichtshof den in der Richtlinie 2004/38, insbesondere in deren Art. 27 und 28, enthaltenen Begriff der öffentlichen Ordnung dahin ausgelegt, dass er jedenfalls voraussetzt, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. insbesondere Urteil Byankov, C‑249/11, EU:C:2012:608, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

80

In diesem Zusammenhang ist, was speziell die Richtlinie 2004/83 angeht, darauf hinzuweisen, dass gemäß ihrem 28. Erwägungsgrund der Begriff der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ auch für die Fälle gilt, in denen ein Drittstaatsangehöriger einer Vereinigung angehört, die den internationalen Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt.

81

Darüber hinaus ist festzustellen, dass in Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABI. L 344, S. 93) in seiner zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit geltenden Fassung (im Folgenden: Gemeinsamer Standpunkt 2001/931) festgelegt ist, was unter dem Ausdruck „terroristische Handlung“ zu verstehen ist, und dass die PKK in der Liste im Anhang dieses Gemeinsamen Standpunkts aufgeführt ist.

82

Nach alledem bildet die Unterstützung, die ein Flüchtling einer Organisation zuteilwerden lässt, welche Handlungen begeht, die in den Anwendungsbereich des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 fallen, grundsätzlich einen Umstand, der belegen kann, dass die Voraussetzungen für die Anwendung der Ausnahmeregelung von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 erfüllt sind.

83

Die Aufnahme einer Organisation in die Liste im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 ist daher, wie die Generalanwältin in Nr. 95 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ein deutlicher Anhaltspunkt dafür, dass sie entweder eine terroristische Organisation ist oder im Verdacht steht, eine solche Organisation zu sein. Ein solcher Umstand ist daher von der zuständigen Behörde notwendig zu berücksichtigen, wenn sie in einem ersten Schritt zu prüfen hat, ob die fragliche Organisation terroristische Handlungen begangen hat.

84

Es ist somit von Fall zu Fall zu prüfen, ob die Handlungen der fraglichen Organisation die öffentliche Sicherheit oder Ordnung im Sinne von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 bedrohen können. Insoweit hat der Gerichtshof zu Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie entschieden, dass terroristische Handlungen, die durch ihre Gewalt gegenüber Zivilbevölkerungen gekennzeichnet sind, auch wenn mit ihnen vorgeblich politische Ziele verfolgt werden, als schwere nichtpolitische Straftaten im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden müssen (Urteil B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 81).

85

Ferner hat der Gerichtshof festgestellt, dass Handlungen des internationalen Terrorismus in einer allgemeinen Weise und unabhängig von der Beteiligung eines Staates den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen (Urteil B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 83). Daraus folgt, dass sich ein Mitgliedstaat beim Vorliegen solcher Handlungen auf das Bestehen zwingender Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit im Sinne von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 berufen könnte, um die in dieser Vorschrift vorgesehene Ausnahmeregelung anzuwenden.

86

Nachdem die zuständige Behörde diese Prüfung vorgenommen hat, muss sie in einem zweiten Schritt die genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, einer Würdigung unterziehen, um zu ermitteln, ob die Unterstützung der fraglichen Organisation durch eine Mitwirkung beim Sammeln von Geldern und eine regelmäßige Teilnahme an Veranstaltungen dieser Organisation, wie sie im Sachverhalt des Ausgangsverfahrens bei Herrn T. vorgelegen zu haben scheinen, in den Anwendungsbereich von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 fällt.

87

Auch wenn nämlich die Handlungen einer Organisation, die wegen ihrer Beteiligung an terroristischen Handlungen in der Liste im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 aufgeführt ist, unter den Ausnahmetatbestand von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 fallen können, kann allein der Umstand, dass die betreffende Person diese Organisation unterstützt hat, nicht die automatische Aufhebung ihres Aufenthaltstitels gemäß dieser Vorschrift zur Folge haben (vgl. entsprechend Urteil B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 88).

88

Zwischen dem Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 und der Richtlinie 2004/83 besteht hinsichtlich der verfolgten Ziele kein unmittelbarer Zusammenhang, und es ist nicht gerechtfertigt, dass die zuständige Stelle, wenn sie in Betracht zieht, einem Flüchtling seinen Aufenthaltstitel nach Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie zu entziehen, sich nur auf dessen Unterstützung einer Organisation stützt, die in einer Liste aufgeführt ist, die außerhalb des Rahmens erlassen wurde, den die Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention geschaffen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 89).

89

Für das Ausgangsverfahren folgt daraus, dass die Umstände, unter denen die von Herrn T. unterstützte Organisation in die Liste im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 aufgenommen wurde, nicht mit einer individuellen Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände vergleichbar sind, die jeder Entscheidung, einem Flüchtling gemäß Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 den Aufenthaltstitel zu entziehen, vorausgehen muss (vgl. entsprechend Urteil B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 91).

90

Das vorlegende Gericht muss daher im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle der von der zuständigen Behörde vorgenommenen Beurteilung die Rolle prüfen, die Herr T. im Rahmen seiner Unterstützung dieser Organisation tatsächlich gespielt hat, indem es insbesondere untersucht, ob Herr T. selbst terroristische Handlungen begangen hat, ob und in welchem Maße er an der Planung, an Entscheidungen oder an der Anleitung anderer Personen zum Zweck der Begehung solcher Handlungen beteiligt war und ob und in welchem Umfang er solche Handlungen finanziert oder anderen Personen die Mittel zu ihrer Begehung verschafft hat.

91

Im vorliegenden Fall ergibt sich hinsichtlich der Unterstützungshandlungen von Herrn T. zugunsten der PKK aus den Akten, dass er an legalen Versammlungen und an Veranstaltungen wie dem kurdischen Neujahrsfest teilgenommen und sich am Sammeln von Spenden für diese Organisation beteiligt hat. Das Vorliegen derartiger Handlungen bedeutet jedoch nicht notwendig, dass ihr Urheber die Auffassung vertreten hätte, terroristische Handlungen seien legitim. Erst recht sind derartige Handlungen als solche keine terroristischen Handlungen.

92

In diesem Zusammenhang muss das vorlegende Gericht auch den Schweregrad der Gefahr beurteilen, die von den Handlungen des Herrn T. für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Es hat insbesondere zu prüfen, ob ihm eine individuelle Verantwortung bei der Durchführung von Aktionen der PKK zugerechnet werden kann. Auch wenn in diesem Zusammenhang die rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung von Herrn T. am 3. Dezember 2008 zu berücksichtigen ist, muss das vorlegende Gericht in Anbetracht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, den die zu ergreifende Maßnahme zu wahren hatte, gleichwohl untersuchen, ob die Gefahr, die die betreffende Person gegebenenfalls in der Vergangenheit für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung der Bundesrepublik Deutschland dargestellt haben mag, zu dem Zeitpunkt, zu dem die im Ausgangsverfahren streitige Entscheidung erging, noch immer bestand.

93

Ferner hat das vorlegende Gericht insoweit den Umstand zu berücksichtigen, dass Herr T. zu einer Geldstrafe und nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, und die Frage zu klären, ob in Anbetracht dieses Umstands und gegebenenfalls der Art der von ihm begangenen Handlungen „zwingende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ im Sinne von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 vorlagen, die eine Aufhebung des Aufenthaltstitels von Herrn T. rechtfertigen.

94

Nach diesen Klarstellungen ist weiter darauf hinzuweisen, dass die Anwendung der in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 normierten Ausnahme als Erstes zur Folge hat, dass der betroffene Flüchtling seinen Aufenthaltstitel verliert, selbst wenn ihm, wie im Ausgangsverfahren, auf einer anderen Rechtsgrundlage gestattet wird, sich weiterhin rechtmäßig im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufzuhalten.

95

Insoweit ist jedoch hervorzuheben, dass ein Flüchtling, dessen Aufenthaltstitel nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 aufgehoben wird, seinen Flüchtlingsstatus behält, sofern nicht und solange nicht ihm dieser Status entzogen worden ist. Daher ist er selbst nach dem Verlust seines Aufenthaltstitels weiterhin Flüchtling und hat in dieser Eigenschaft weiterhin Anspruch auf die Vergünstigungen, die das Kapitel VII der Richtlinie jedem Flüchtling gewährleistet, so insbesondere auf Schutz vor Zurückweisung, auf Wahrung des Familienverbands, auf Ausstellung von Reisedokumenten, auf Zugang zur Beschäftigung, zu Bildung, zu Sozialhilfeleistungen, zu medizinischer Versorgung und zu Wohnraum, auf Freizügigkeit innerhalb des fraglichen Mitgliedstaats sowie auf Zugang zu Integrationsmaßnahmen. Anders gesagt, es liegt nicht im Ermessen eines Mitgliedstaats, einem Flüchtling die diesem nach der Richtlinie zustehenden substanziellen Vergünstigungen weiterhin zu gewähren oder zu versagen.

96

Auch wenn laut dem 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83 die Mitgliedstaaten innerhalb der durch die internationalen Verpflichtungen vorgegebenen Grenzen festlegen können, dass „Leistungen im Bereich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Sozialhilfe, zur medizinischen Versorgung und zu Integrationsmaßnahmen nur dann gewährt werden können, wenn vorab ein Aufenthaltstitel ausgestellt worden ist“, bezieht sich die damit aufgestellte Bedingung lediglich auf Schritte rein verwaltungstechnischer Art, da das Kapitel VII der Richtlinie das Ziel verfolgt, Flüchtlingen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen zu gewährleisten. Da im Übrigen dieser Erwägungsgrund in den Vorschriften der genannten Richtlinie keine Entsprechung findet, kann er keine Rechtsgrundlage bilden, um den Mitgliedstaaten im Fall der Aufhebung des Aufenthaltstitels eines Flüchtlings eine Schmälerung der durch dieses Kapitel VII gewährleisteten Vergünstigungen zu gestatten.

97

Da diese Rechte von Flüchtlingen die Folge der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus und nicht der Ausstellung des Aufenthaltstitels sind, muss der Flüchtling, solange er diesen Status innehat, in den Genuss der ihm damit durch die Richtlinie 2004/83 verliehenen Rechte gelangen, und diese dürfen nur nach Maßgabe der in Kapitel VII vorgesehenen Voraussetzungen eingeschränkt werden, weil die Mitgliedstaaten nicht zur Hinzufügung von Beschränkungen befugt sind, die dort nicht vorgesehen sind.

98

Im Hinblick auf das Ausgangsverfahren ist daher der aus den Akten, die dem Gerichtshof vorgelegt worden sind, hervorgehende Umstand, dass der aus der Ausweisungsverfügung ohne Weiteres folgende Widerruf des Aufenthaltstitels von Herrn T. Auswirkungen auf dessen Zugang zur Beschäftigung, zu Bildung und zu weiteren sozialen Rechten hatte, weil der Genuss dieser Rechte nach deutschem Recht an den ordnungsgemäßen Besitz eines Aufenthaltstitels geknüpft ist, mit der Richtlinie 2004/83 unvereinbar.

99

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, die in der Liste im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 aufgeführt ist, einen der „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ im Sinne von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 darstellen kann, auch wenn die in Art. 21 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Um den Aufenthaltstitel eines Flüchtlings mit der Begründung, dieser unterstütze eine solche terroristische Vereinigung, gemäß Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie widerrufen zu können, müssen die zuständigen Behörden gleichwohl unter der Kontrolle der nationalen Gerichte eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung der spezifischen tatsächlichen Umstände vornehmen, die sich sowohl auf die Handlungen der betroffenen Vereinigung als auch auf die des betroffenen Flüchtlings beziehen. Wenn ein Mitgliedstaat die Ausweisung eines Flüchtlings verfügt, dessen Aufenthaltstitel aufgehoben worden ist, aber die Vollstreckung dieser Entscheidung aussetzt, ist es mit der Richtlinie 2004/83 unvereinbar, diesem Flüchtling den Zugang zu den durch das Kapitel VII dieser Richtlinie gewährleisteten Vergünstigungen zu versagen, sofern nicht eine in der Richtlinie selbst ausdrücklich vorgesehene Ausnahme eingreift.

Kosten

100

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass ein einem Flüchtling erteilter Aufenthaltstitel entweder nach Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie widerrufen werden kann, wenn zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung im Sinne dieser Bestimmung vorliegen, oder nach Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie, wenn Gründe für die Anwendung der in Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen Ausnahme vom Grundsatz der Nichtzurückweisung vorliegen.

 

2.

Die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, die in der Liste im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus in seiner zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit geltenden Fassung aufgeführt ist, kann einen der „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ im Sinne von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 darstellen, auch wenn die in Art. 21 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Um den Aufenthaltstitel eines Flüchtlings mit der Begründung, dieser unterstütze eine solche terroristische Vereinigung, gemäß Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie widerrufen zu können, müssen die zuständigen Behörden gleichwohl unter der Kontrolle der nationalen Gerichte eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung der spezifischen tatsächlichen Umstände vornehmen, die sich sowohl auf die Handlungen der betroffenen Vereinigung als auch auf die des betroffenen Flüchtlings beziehen. Wenn ein Mitgliedstaat die Ausweisung eines Flüchtlings verfügt, dessen Aufenthaltstitel aufgehoben worden ist, aber die Vollstreckung dieser Entscheidung aussetzt, ist es mit der Richtlinie 2004/83 unvereinbar, diesem Flüchtling den Zugang zu den durch das Kapitel VII dieser Richtlinie gewährleisteten Vergünstigungen zu versagen, sofern nicht eine in der Richtlinie selbst ausdrücklich vorgesehene Ausnahme eingreift.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.