SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 17. Juli 2014 ( 1 )

Rechtssache C‑542/13

Mohamed M’Bodj

gegen

Belgischer Staat

(Vorabentscheidungsersuchen des Verfassungsgerichtshofs [Belgien])

„Gemeinsame europäische Asylregelung — Richtlinie 2004/83/EG — Mindestnormen für die Anerkennung des subsidiären Schutzstatus von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen — Drittstaatsangehöriger mit einer Behinderung, dem von einem Mitgliedstaat eine Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen erteilt wurde — Einbeziehung in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/83 — Art. 2 Buchst. e — Definition der ‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ — Art. 15 Buchst. b — Definition des ernsthaften Schadens — Tatsächliche Gefahr, bei Rückkehr in das Herkunftsland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden — Inhalt des internationalen Schutzes — Art. 28 und 29 — Soziale und medizinische Leistungen — Gleichbehandlung“

1. 

Kann ein Drittstaatsangehöriger, der an einer schweren Krankheit leidet und der bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden, weil in diesem Land keine angemessene medizinische Behandlung vorhanden ist, als „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutzstatus“ im Sinne von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG angesehen werden ( 2 )? Falls ja, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, dem Betroffenen die gleichen sozialen und medizinischen Leistungen zu gewähren wie eigenen Staatsangehörigen und Flüchtlingen?

2. 

Dies sind im Wesentlichen die vom Verfassungsgerichtshof (Belgien) gestellten Fragen.

3. 

Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit über die Gewährung einer Beihilfe für Personen mit Behinderung an Herrn M’Bodj, einen mauretanischen Staatsangehörigen, durch den Belgischen Staat. Nachdem der Belgische Staat dem Betroffenen eine Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen erteilt hatte, verweigerte er ihm die Gewährung dieser Beihilfe mit der Begründung, dass sie nach den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften belgischen Staatsangehörigen, Staatsangehörigen der Europäischen Union, algerischen, marokkanischen und tunesischen Staatsangehörigen sowie Staatenlosen und Flüchtlingen vorbehalten sei.

4. 

Dementsprechend setzt sich das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache damit auseinander, dass Drittstaatsangehörige, die an einer schweren Krankheit leiden, nach nationalem Recht unterschiedlich behandelt werden, je nachdem, ob sie den Flüchtlingsstatus nach der Richtlinie 2004/83 innehaben oder über eine vom Belgischen Staat erteilte Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen verfügen.

5. 

Es fragt sich insbesondere, ob die Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis unter Berücksichtigung des Wortlauts dieser Richtlinie und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ( 3 ) zur Abschiebung schwer kranker Personen nicht in Wirklichkeit eine subsidiäre Form internationalen Schutzes darstellt, mit der folglich Ansprüche auf die in dieser Richtlinie vorgesehenen wirtschaftlichen und sozialen Vorteile eröffnet werden.

6. 

Der Gerichtshof hat in der vorliegenden Rechtssache Gelegenheit, den Anwendungsbereich der Richtlinie bezüglich einer Person, die an einer schweren Krankheit leidet, und insbesondere die Voraussetzungen klarzustellen, die der Unionsgesetzgeber für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus aufgestellt hat.

7. 

Diesbezüglich werde ich in den vorliegenden Schlussanträgen die Auffassung vertreten, dass ein Drittstaatsangehöriger, der bei Rückkehr in sein Herkunftsland Gefahr liefe, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 fallen kann.

8. 

Ich werde nämlich aufzeigen, dass die Notwendigkeit des internationalen Schutzes, auf dem die gemeinsame europäische Asylregelung beruht, in einem solchen Fall nicht besteht, weil die durch den Gesundheitszustand des Einzelnen verursachte unmenschliche Behandlung und das Fehlen ausreichender medizinischer Ressourcen im Herkunftsland nicht auf eine vorsätzliche Handlung oder Unterlassung der Behörden oder unabhängigen Organe dieses Staates zurückzuführen ist. Ich werde jedoch klarstellen, dass der Mitgliedstaat in dieser Situation verpflichtet sein kann, aus zwingenden, auf die Art. 4 und 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ( 4 ) sowie auf Art. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ( 5 ) gestützten humanitären Erwägungen, einen einzelstaatlichen Schutz zu gewähren.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

1. Richtlinie 2004/83

9.

Ziel der Richtlinie 2004/83 ist die Festlegung von für alle Mitgliedstaaten einheitlichen Kriterien betreffend die Voraussetzungen, die Drittstaatsangehörige für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllen müssen ( 6 ), sowie des materiellen Inhalts dieses Schutzes ( 7 ). In diesem Rahmen bestimmt die Richtlinie 2004/83 in Art. 2 Buchst. c und e die Personen, die Flüchtlinge sein und Anspruch auf subsidiären Schutzstatus haben können, legt in den Kapiteln II, III und V die Voraussetzungen fest, die diese erfüllen müssen, und bestimmt in Kapitel VII die mit jedem Status verbundenen Rechte.

10.

Im Rahmen der gemeinsamen europäischen Asylregelung ergänzt der subsidiäre Schutz die Vorschriften über den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention ( 8 ).

11.

Nach Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 handelt es sich um einen internationalen Schutz für „einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland … tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikels 15 zu erleiden, … und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will“.

12.

Nach Art. 18 dieser Richtlinie erkennen die Mitgliedstaaten „einem Drittstaatsangehörigen …, der die Voraussetzungen der Kapitel II und V erfüllt, den subsidiären Schutzstatus zu“.

13.

Kapitel II der Richtlinie betrifft die „Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz“. Art. 6 („Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann“) lautet wie folgt:

„Die Verfolgung bzw. der ernsthafte Schaden kann ausgehen von

a)

dem Staat;

b)

Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen;

c)

nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Artikels 7 zu bieten.“

14.

Kapitel V der Richtlinie 2004/83 betrifft die „Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz“. Sein Art. 15 definiert den Begriff „ernsthafter Schaden“ wie folgt:

„Als ernsthafter Schaden gilt:

a)

die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder

b)

Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

c)

eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“

15.

Im Rahmen des Kapitels VII dieser Richtlinie betreffend den „Inhalt des internationalen Schutzes“ bestimmt der Unionsgesetzgeber außerdem in den Art. 28 und 29, dass die Zuerkennung internationalen Schutzes, gleich ob es sich um den Flüchtlingsstatus oder den subsidiären Schutzstatus handelt, von den Mitgliedstaaten verlangt, dem Betroffenen die gleiche Sozialhilfe und den gleichen Zugang zu medizinischer Versorgung wie den eigenen Staatsangehörigen zu gewähren. Gleichwohl können die Mitgliedstaaten eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Status vornehmen, da es ihnen nach diesen Bestimmungen gestattet ist, die Sozialhilfe für Personen mit subsidiärem Schutzstatus auf Kernleistungen zu beschränken ( 9 ).

16.

Schließlich ist festzuhalten, dass die Richtlinie 2004/83 Mindeststandards festlegt. Nach dem 8. Erwägungsgrund und nach Art. 3 dieser Richtlinie bleibt es den Mitgliedstaaten freigestellt, günstigere Normen zur Entscheidung der Frage, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, zu erlassen oder beizubehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.

17.

Gleichwohl hat der Unionsgesetzgeber im 9. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83 klargestellt, dass „[d]iejenigen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verbleiben dürfen, nicht weil sie internationalen Schutz benötigen, sondern aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, … nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie [fallen]“.

2. Grundrechtecharta

18.

Nach Art. 4 der Grundrechtecharta darf niemand „der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“.

19.

Darüber hinaus darf nach Art. 19 Abs. 2 der Grundrechtecharta niemand „in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht“.

B – Belgisches Recht

1. Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern

20.

Das Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern ( 10 ) dient der Umsetzung der Richtlinie 2004/83 in die belgische Rechtsordnung.

21.

Art. 9ter dieses Gesetzes legt die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen fest. Sein Abs. 1 lautet:

„Ein Ausländer, der sich in Belgien aufhält, seine Identität gemäß § 2 nachweist und so sehr an einer Krankheit leidet, dass sie eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in seinem Herkunftsland oder dem Land, in dem er sich aufhält, keine angemessene Behandlung vorhanden ist, kann beim Minister beziehungsweise seinem Beauftragten beantragen, dass ihm der Aufenthalt im Königreich erlaubt wird.

Der Antrag muss per Einschreiben beim Minister beziehungsweise seinem Beauftragten eingereicht werden und die Adresse des tatsächlichen Wohnortes des Ausländers in Belgien enthalten.

Mit dem Antrag übermittelt der Ausländer alle nützlichen Auskünfte neueren Datums zu seiner Krankheit sowie zu den Möglichkeiten und der Zugänglichkeit einer angemessenen Behandlung in seinem Herkunftsland oder in dem Land, in dem er sich aufhält.

Er übermittelt ein vom König in einem im Ministerrat beratenen Erlass vorgesehenes ärztliches Standardattest. Dieses ärztliche Attest, das bei Einreichung des Antrags nicht älter als drei Monate sein darf, gibt Auskunft über die Krankheit, ihren Schweregrad und die als notwendig erachtete Behandlung.

Die Beurteilung der in Absatz 1 erwähnten Gefahr, der Behandlungsmöglichkeiten, ihrer Zugänglichkeit in seinem Herkunftsland oder dem Land, in dem er sich aufhält, und der Krankheit, ihrem Schweregrad und der als notwendig erachteten Behandlung, die im ärztlichen Attest angegeben werden, wird von einem beamteten Arzt oder von einem vom Minister beziehungsweise von seinem Beauftragten bestimmten Arzt vorgenommen, der diesbezüglich ein Gutachten abgibt. Er kann falls erforderlich den Ausländer untersuchen und bei Gutachtern ein zusätzliches Gutachten einholen.

…“

22.

Art. 48/4 dieses Gesetzes legt die Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz fest ( 11 ). Er setzt die Art. 2 Buchst. e, 15 und 17 der Richtlinie 2004/83 um und lautet wie folgt:

„§ 1   Der subsidiäre Schutzstatus wird einem Ausländer zuerkannt, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt und nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 9ter fällt, für den aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne von § 2 zu erleiden, und der unter Berücksichtigung der Gefahr den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will, sofern er nicht von den in Artikel 55/4 erwähnten Ausschlussklauseln betroffen ist.

§ 2   Als ernsthafter Schaden gilt:

a)

die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder

b)

Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

c)

eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“

2. Gesetz vom 27. Februar 1987 über die Beihilfe für Personen mit Behinderung

23.

Nach den Art. 1 und 2 des Gesetzes vom 27. Februar 1987 über die Beihilfe für Personen mit Behinderung (im Folgenden: Gesetz vom 27. Februar 1987) können Personen mit Behinderung eine Beihilfe zur Ersetzung des Einkommens, eine Integrationsbeihilfe oder eine Beihilfe zur Unterstützung von Betagten erhalten.

24.

Art. 4 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor:

„Die in Art. 1 erwähnten Beihilfen können nur Personen gewährt werden, die ihren tatsächlichen Wohnort in Belgien haben und:

1.   Belgier sind,

2.   Staatsangehörige eines der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind,

3.   Marokkaner, Algerier oder Tunesier sind, die die Voraussetzungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71[ ( 12 ) ] … erfüllen;

4.   staatenlos sind und unter die Anwendung des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen, unterzeichnet in New York am 28. September 1954 und gebilligt durch das Gesetz vom 12. Mai 1960, fallen;

5.   oder Flüchtling sind im Sinne von Artikel 49 des [Gesetzes vom 15. Dezember 1980] …,

…“

25.

Mit Königlichem Erlass vom 9. Februar 2009 weitete der König mit Wirkung vom 12. Dezember 2007 den Anwendungsbereich dieser Bestimmung auf Ausländer aus, die im Bevölkerungsregister eingetragen sind.

II – Sachverhalt

A – Das Verfahren zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen nach Art. 9ter des Gesetzes vom 15. Dezember 1980

26.

Am 4. Januar 2006 stellte Herr M’Bodj einen Antrag auf Asyl bei der Ausländerbehörde, die den Antrag wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig erklärt hat.

27.

Am 24. August 2007 reichte Herr M’Bodj daraufhin einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen nach Art. 9ter des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 ein. Er wies auf eine schwerwiegende Behinderung am Auge hin, die er bei einem Angriff im Zentrum für Asylsuchende des Roten Kreuzes, wo er untergebracht war, erlitten habe. Nachdem die Ausländerbehörde diesen Antrag zunächst für unzulässig erklärt hatte, wurde die Aufenthaltserlaubnis nach einem Gerichtsverfahren am 19. September 2008 bewilligt. Daraufhin wurde Herr M’Bodj im Ausländerregister eingetragen.

28.

Am 17. Mai 2010 erhielt er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach den Art. 9 und 13 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980.

B – Das Verfahren zur Gewährung einer Beihilfe für Personen mit Behinderung nach Art. 4 des Gesetzes vom 27. Februar 1987

29.

Am 19. Februar 2009 gaben die zuständigen Behörden dem von Herrn M’Bodj gestellten Antrag auf Anerkennung der Behinderung statt, wodurch er soziale und steuerliche Vorteile beanspruchen kann.

30.

Am 21. April 2009, während das von Herrn M’Bodj angestrengte Gerichtsverfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Art. 9ter des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 noch andauerte, stellte er einen Antrag auf Beihilfe zur Ersetzung des Einkommens und auf Eingliederungsbeihilfe. Dieser Antrag wurde am 5. Oktober 2009 mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Antragsteller nicht die Voraussetzungen von Art. 4 Abs. 1 des Gesetzes vom 27. Februar 1987 erfülle, wonach diese Beihilfen belgischen Staatsangehörigen und Staatsangehörigen der Union, algerischen, marokkanischen und tunesischen Staatsangehörigen sowie Staatenlosen und Flüchtlingen vorbehalten seien.

31.

Herr M’Bodj erhob gegen diese Entscheidung am 31. Dezember 2009 Klage beim Tribunal du travail de Liège. Im Rahmen der Prüfung dieser Klage vertrat dieses Gericht in erster Linie die Ansicht, dass Drittstaatsangehörige mit Behinderung, gleich ob sie Flüchtlinge seien oder eine Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen erhalten hätten, Anspruch auf den internationalen Schutzstatus nach der Richtlinie 2004/83 hätten, nach der es den Mitgliedstaaten obliege, diesen Personen die gleichen Sozialleistungen wie den eigenen Staatsangehörigen zu gewähren.

32.

Das Tribunal du travail de Liège hat sich daher gefragt, ob Art. 4 des Gesetzes vom 27. Februar 1987 insbesondere mit den von der belgischen Verfassung garantierten Grundsätzen der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung vereinbar ist, und aus diesem Grund eine präjudizielle Frage an den Verfassungsgerichtshof gestellt.

33.

Im Rahmen der Prüfung dieser präjudiziellen Frage hat der Verfassungsgerichtshof sich wiederum die Frage gestellt, ob Drittstaatsangehörige mit Behinderung gleich zu behandeln sind, je nachdem, ob sie Flüchtlinge sind oder über eine Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen verfügen. Er fragt sich demzufolge, ob eine solche Aufenthaltserlaubnis, die auf dem Gesundheitszustand des Antragstellers und darauf beruht, dass in seinem Herkunftsland keine angemessene Behandlung vorhanden ist, unter den subsidiären Schutz nach der Richtlinie 2004/83 fällt.

34.

Aus den Akten und der mündlichen Verhandlung ergibt sich, dass in diesem Punkt zwischen den nationalen Stellen keine Einigkeit besteht.

35.

Die Gerichte sind, wie sich klar aus dem Wortlaut der präjudiziellen Frage des Tribunal du travail de Liège ergibt, der Ansicht, dass ein Drittstaatsangehöriger, der sich aufgrund einer nach Art. 9ter des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 erteilten Aufenthaltserlaubnis rechtmäßig in Belgien aufhält, Anspruch auf subsidiären Schutzstatus hat. Dieses Gericht bezieht sich auf ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs, in dem dieser bestätigt hat, dass „die Art. 9ter und 48/4 des Gesetzes vom15. Dezember 1980 gemeinsam die Umsetzung von Art. 15 der [genannten Richtlinie] in nationales Recht darstellen“ ( 13 ).

36.

Der nationale Gesetzgeber hat, wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, im Rahmen der Vorarbeiten zu diesem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2004/83 ( 14 ) in belgisches Recht auf Folgendes hingewiesen:

„Auf Ausländer, die so sehr an einer Krankheit leiden, dass die Krankheit eine tatsächliche Gefahr für ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in ihrem Herkunftsland oder dem Land, in dem sie sich aufhalten können, keine angemessene Behandlung vorhanden ist, findet entsprechend der Rechtsprechung des [EGMR] Art. 15 Buchst. b der Richtlinie [2004/83] (unmenschliche oder erniedrigende Behandlung) Anwendung.“

37.

Im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof hat der Ministerrat seinerseits die Auffassung vertreten, dass die Regularisierung des Aufenthalts aus medizinischen Gründen „nicht unter den subsidiären Schutz“ falle, da dieser in Art. 9ter des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 geregelt sei, der eine spezielle Regelung darstelle. Er ist der Ansicht, dass diese Aufenthaltserlaubnis auf Art. 3 der EMRK beruhe. Er weist außerdem darauf hin, dass es sich um ein anderes Verfahren als das beim Generalkommissariat für die Flüchtlinge und Staatenlosen festgelegte handle, weil es in die Zuständigkeit des Innenministers und der Ausländerbehörde falle.

38.

Unter diesen Umständen hat der Verfassungsgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Sind die Art. 2 Buchst. e und f, 15, 18, 28 und 29 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen, dass nicht nur die Person, der auf ihren Antrag hin von einer unabhängigen Einrichtung des Mitgliedstaats der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, Sozialhilfeleistungen und medizinische Versorgung gemäß den Art. 28 und 29 dieser Richtlinie in Anspruch nehmen können muss, sondern auch ein Ausländer, der von einer Verwaltungsbehörde eines Mitgliedstaats eine Aufenthaltserlaubnis für das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats erhalten hat und so sehr an einer Krankheit leidet, dass sie eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in seinem Herkunftsland oder dem Land, in dem er sich aufhält, keine angemessene Behandlung vorhanden ist?

2.

Sind, wenn auf die erste Vorabentscheidungsfrage zu antworten ist, dass beide dort beschriebenen Kategorien von Personen die dort beschriebenen Sozialhilfeleistungen und medizinische Versorgung in Anspruch nehmen können müssen, die Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 2 und 29 Abs. 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass die Pflicht der Mitgliedstaaten, die spezielle Situation von besonders schutzbedürftigen Personen wie Personen mit Behinderung zu berücksichtigen, die Pflicht umfasst, diesen Personen Sozialleistungen gemäß dem Gesetz vom 27. Februar 1987 zu gewähren, auch wenn eine Sozialhilfe, die der Behinderung Rechnung trägt, nach dem Grundlagengesetz vom 8. Juli 1976 über die öffentlichen Sozialhilfezentren gewährt werden kann?

39.

Die Parteien des Ausgangsverfahrens, die belgische, die deutsche, die griechische und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission haben Erklärungen eingereicht.

III – Würdigung

40.

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Kern wissen, ob ein Drittstaatsangehöriger, der an einer schweren Krankheit leidet und bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden, weil in diesem Land keine angemessene medizinische Behandlung vorhanden ist, als „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz“ im Sinne von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 anzusehen ist.

41.

Eine „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz“ ist nach dieser Bestimmung ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser, der stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2004/83 zu erleiden, und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will.

42.

Der besagte Art. 15 definiert drei Arten von ernsthaften Schäden, darunter in Buchst. b die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung des Antragstellers im Herkunftsland.

43.

Die Frage des vorlegenden Gerichts stellt sich insofern, als diese Bestimmung „im Wesentlichen Art. 3 EMRK entspricht“, wie der Gerichtshof im Urteil Elgafaji ( 15 ) entschieden hat und es sich aus den vorbereitenden Arbeiten zur Richtlinie 2004/83 ergibt ( 16 ).

44.

Aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt sich, dass die Erkrankung an einer auf natürliche Weise eintretenden, körperlichen oder geistigen Krankheit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK darstellen kann, wenn sie durch eine Handlung oder Behandlung, insbesondere durch Haftbedingungen, Abschiebung oder andere in die Verantwortlichkeit der Behörden fallende Maßnahmen verstärkt wird oder die Gefahr einer solchen Verstärkung besteht ( 17 ).

45.

Unter sehr außergewöhnlichen Umständen wie denen, die dem Urteil D. gegen Vereinigtes Königreich ( 18 ) zugrunde lagen, hat der EGMR entschieden, dass die Durchführung einer Ausweisungsentscheidung gegen eine an Aids erkrankte Person im Fall ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland insoweit eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstelle, als sie der Gefahr ausgesetzt sei, unter besonders schmerzhaften Umständen zu sterben. Der EGMR hat in seinem Urteil berücksichtigt, dass der Antragsteller sich in einem fortgeschrittenen Stadium seiner Krankheit befinde und dass ein plötzlicher Abbruch der medizinischen Behandlung im Aufnahmestaat, auch weil in seinem Herkunftsland keine angemessene Behandlung vorhanden sei sowie jede moralische Unterstützung und soziale Hilfestellung fehle, den Tod des Antragstellers beschleunigen könne und ihn großen körperlichen und seelischen Leiden unterwerfen würde ( 19 ).

46.

Der EGMR behält sich damit eine flexible Handhabung des Art. 3 EMRK in Situationen vor, in denen die Gefahr, dass der Antragsteller einer unzulässigen Behandlung im Zielland unterworfen wird, auf Faktoren beruht, für die weder unmittelbar noch mittelbar die Behörden dieses Landes zur Verantwortung gezogen werden können oder die, für sich genommen, selbst nicht gegen Art. 3 EMRK verstoßen ( 20 ). In einem solchen Fall können die Vertragsstaaten ihre Ausweisungsentscheidung unter Berücksichtigung als zwingend erachteter humanitärer Erwägungen somit nicht ausführen, auf die Gefahr hin, hierfür nach Art. 3 EMRK zur Verantwortung gezogen zu werden ( 21 ).

47.

Das vorlegende Gericht stellt im Kern die Frage, ob vergleichbare Umstände unter den Begriff des ernsthaften Schadens nach Art. 15 der Richtlinie 2004/83 fallen können und folglich die Anerkennung des subsidiären Schutzstatus rechtfertigen können.

48.

Ich meine, dass eine Person, die an einer schweren Krankheit leidet, nicht unter diesem Gesichtspunkt in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen kann.

49.

Auch wenn ein Leiden aufgrund einer Krankheit unter besonderen Umständen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen kann, ist eines der wesentlichen Kriterien für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht erfüllt, nämlich die Identifizierung eines Akteurs, von dem der Schaden ausgehen kann und vor dem geschützt werden muss.

50.

Die gemeinsame europäische Asylregelung beruht nämlich auf der Notwendigkeit, Einzelnen, die befürchten, entweder aufgrund ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer politischen Ansichten oder ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe verfolgt zu werden oder der Gefahr eines ernsthaften Schadens in ihrem Herkunftsland ausgesetzt zu sein, einen Schutz zu sichern, den ihr Land nicht oder nicht mehr garantieren kann, weil es absichtlich zu solchen Handlungen beiträgt oder sich in Auflösung befindet.

51.

Die Regelung über die Zuerkennung eines internationalen Schutzes durch einen Mitgliedstaat, gleich ob es sich um den Flüchtlingsstatus oder den subsidiären Schutzstatus handelt, verfolgt ein unterschiedliches Ziel und führt einen spezifischen Schutzmechanismus ( 22 ) unter Zusammenführung zweier wesentlicher Elemente ein. Das erste Element besteht im Vorliegen einer Gefahr von Verfolgungen oder ernsthaften Schäden, die der Antragsteller bei Rückkehr in sein Herkunftsland erleiden müsste. Das zweite Element besteht darin, dass dieses Land unmittelbar oder mittelbar für diese Gefahr verantwortlich ist. Der Anspruch auf Flüchtlingsstatus oder subsidiären Schutzstatus ist somit auf die Fälle beschränkt, in denen die Behörden des Herkunftslands sich nicht für die Gewährung dieses Schutzes einsetzen, weil sie die Verfolgungen entweder selbst verursachen oder die Verfolgungen durch Milizen oder andere private Gruppen fördern oder tolerieren.

52.

Diese beiden Elemente sind für die Zuerkennung des internationalen Schutzes entscheidend, weil sie den Grund für die Angst des Einzelnen bilden und die Unmöglichkeit oder seine Weigerung erklären, den Schutz seines Herkunftslands in Anspruch zu nehmen.

53.

Bezüglich des subsidiären Schutzes ergeben sich diese beiden Merkmale eindeutig aus dem Wortlaut von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83. Der Unionsgesetzgeber stellt nämlich unmissverständlich klar, dass eine „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutzstatus“ nicht nur tatsächlich Gefahr laufen muss, bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 dieser Richtlinie zu erleiden, sondern den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will.

54.

Außerdem definiert dieser Artikel den Begriff „ernsthafter Schaden“ als Handlungen oder Umstände, für die die Behörden des Herkunftslands unmittelbar oder mittelbar verantwortlich sind.

55.

Art. 15 dieser Richtlinie ist nämlich in Verbindung mit ihrem Art. 6 zu lesen.

56.

In Art. 15 der Richtlinie 2004/83 definiert der Gesetzgeber, wie wir gesehen haben, das materielle Merkmal des ernsthaften Schadens. Dies ist die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung des Betroffenen in seinem Herkunftsland sowie eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Diese Handlungen verlangen als solche den Vorsatz eines Akteurs, körperliches oder geistiges Leid von besonderer Intensität zuzufügen.

57.

In Art. 6 der Richtlinie 2004/83 ist dagegen das persönliche Merkmal definiert, da er die „Akteure, von denen ernsthafter Schaden ausgehen kann“, definiert. Der Gesetzgeber schränkt den Bereich der in Art. 15 dieser Richtlinie aufgeführten Schäden damit explizit auf solche Schäden ein, die entweder vom Staat oder von Parteien oder Organisationen, die diesen Staat oder einen bedeutenden Teil seines Gebiets kontrollieren, oder von nicht staatlichen Akteuren ausgehen, wenn nachgewiesen werden kann, dass der Staat oder die Parteien oder Organisationen, die ihn kontrollieren, nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden zu bieten.

58.

Für den Anspruch einer Person auf subsidiären Schutz ist es somit nicht ausreichend, nachzuweisen, dass diese Person Gefahr liefe, bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, sondern es muss nachgewiesen werden, dass diese Gefahr in Faktoren begründet liegt, die unmittelbar oder mittelbar von den Behörden dieses Landes zu verantworten sind, entweder weil die Bedrohungen des Antragstellers von den Behörden des Landes ausgehen, dessen Nationalität er hat, oder von diesen geduldet werden, oder weil die Bedrohungen von unabhängigen Gruppen ausgehen und die Behörden seines Landes nicht in der Lage oder nicht willens sind, ihre Staatsangehörigen hiervor effektiv zu schützen.

59.

Die französische Regierung weist in ihrer Stellungnahme darauf hin, dass die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, die ein Einzelner, dessen Krankheitszustand eine medizinische Betreuung verlangt und in dessen Herkunftsland keine angemessene medizinische Behandlung vorhanden ist, Gefahr läuft, bei einer Rückkehr in dieses Land zu erleiden, nicht auf einer vorsätzlichen Handlung oder Unterlassung der Behörden oder unabhängiger Einrichtungen des Staates beruht. Man könnte auch sagen, dass in einem solchen Fall eines der wesentlichen Kriterien für die Anerkennung des subsidiären Schutzstatus nach Art. 6 der Richtlinie 2004/83 zwangsläufig fehle, nämlich die unmittelbare oder mittelbare Verantwortung der Behörden des Herkunftslandes für die Verursachung des ernsthaften Schadens, vor denen der Antragsteller zu schützen ist.

60.

In einer solchen Situation dient der von einem Mitgliedstaat angebotene Schutz nicht dem Bedürfnis nach internationalem Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. a dieser Richtlinie und kann somit nicht in den Rahmen der gemeinsamen europäischen Asylregelung fallen.

61.

Nach dem Wortlaut des letzten Satzteils von Art. 2 Buchst. g der Richtlinie ( 23 ) handelt es sich um eine „andere … Form des Schutzes“ außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie. Dieser Schutz wird aus anderen Gründen, nämlich familiären Ermessensgründen oder auf Art. 3 EMRK sowie auf die Art. 4 und 19 Abs. 2 der Grundrechtecharta gestützten humanitären Erwägungen gewährt. Im letztgenannten Fall kann die Durchführung der Entscheidung über die Ausweisung des Antragstellers durch den Aufnahmemitgliedstaat in Verbindung mit dem Fehlen angemessener medizinischer Ressourcen im Herkunftsland eine unmenschliche Behandlung darstellen.

62.

Der Unionsgesetzgeber war somit offensichtlich bestrebt, die Situationen, die auf humanitären Gründen beruhen, vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/83 auszuschließen.

63.

Im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83 stellt er nämlich ausdrücklich klar, dass „diejenigen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verbleiben dürfen, nicht weil sie internationalen Schutz benötigen, sondern aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, … nicht unter den Geltungsbereich dieser Richtlinie [fallen]“ ( 24 ).

64.

Darüber hinaus lohnt ein Blick auf die Vorarbeiten zur Richtlinie 2004/83 hinsichtlich des Wortlauts von Art. 15 Buchst. b ( 25 ), in denen der Unionsgesetzgeber klarstellt:

„Würde Buchst. b die gesamte Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK einbeziehen, müssten auch Rechtssachen einbezogen werden, die ausschließlich auf humanitären Gründen beruhen wie die Rechtssache D/Vereinigtes Königreich (1997), auch bekannt als Rechtssache Saint-Kitts.

Zwar wurden in der Rechtssache Saint-Kitts das Fehlen eines entwickelten Gesundheitssystems sowie das Fehlen eines sozialen Umfelds als solche nicht als Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung betrachtet, wohl aber die Ausweisung in dieses Land, die eine Bedrohung des Lebens der betreffenden Person darstellt.

Um zu vermeiden, dass die Rechtssachen, die auf humanitären Gründen beruhen, unter die subsidiäre Schutzregelung fallen, was nie mit der [Richtlinie 2004/83] bezweckt war, schlägt der Vorsitz demzufolge vor, den Anwendungsbereich des Buchst. b durch die Bestimmung einzugrenzen, dass im Herkunftsland die tatsächliche Gefahr einer Folter oder Strafe oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bestehen muss“ ( 26 ).

65.

Auch wenn Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83, wie der Gerichtshof im Urteil Elgafaji ( 27 ) festgestellt hat, „im Wesentlichen Art. 3 EMRK entspricht“ ( 28 ), hat der Unionsgesetzgeber seinen Anwendungsbereich trotzdem auf Handlungen begrenzt, die „einem Antragsteller in seinem Herkunftsland“ ( 29 ) zugefügt werden, was die unmittelbare oder mittelbare Verantwortlichkeit der Behörden dieses Landes voraussetzt. Die internationale Schutzregelung und insbesondere der subsidiäre Schutzstatus schaffen somit sehr wohl einen gewollt eigenständigen und spezifischen Schutzmechanismus ( 30 ), der sich von den Pflichten der Vertragsstaaten nach Art. 3 EMRK unterscheidet.

66.

Angesichts all dessen ist Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 somit meiner Ansicht nach dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat einen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet und bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden, weil in diesem Land keine angemessene medizinische Behandlung vorhanden ist, als „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutzstatus“ ansieht.

67.

Eine auf Art. 9ter des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 gestützte Aufenthaltserlaubnis wie die an Herrn M’Bodj erteilte kann somit keine subsidiäre Form internationalen Schutzes im Sinne von Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie darstellen.

68.

Sie kann auch keine „günstigere Norm“ im Sinne von Art. 3 der genannten Richtlinie darstellen.

69.

Auch wenn die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung günstigere Normen zur Entscheidung der Frage, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, erlassen oder beibehalten können, müssen diese Normen nämlich gleichwohl mit der Richtlinie 2004/83 vereinbar sein ( 31 ).

70.

Aus den dargelegten Gründen ist die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus durch einen Mitgliedstaat an einen Einzelnen, der sich in einer Situation wie der von Herrn M’Bodj befindet, nicht mit dem Wortlaut und dem Zweck dieser Richtlinie vereinbar.

71.

In Anbetracht der von mir vorgeschlagenen Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.

IV – Ergebnis

72.

Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Verfassungsgerichtshof wie folgt zu antworten:

Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat einen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet und bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden, weil in diesem Land keine angemessene medizinische Behandlung vorhanden ist, als „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutzstatus“ ansieht.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Richtlinie des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, und Berichtigung ABl. 2005, L 204, S. 24).

( 3 ) Im Folgenden: EGMR.

( 4 ) Im Folgenden: Grundrechtecharta.

( 5 ) Im Folgenden: EMRK.

( 6 ) Vgl. Art. 1 dieser Richtlinie.

( 7 ) Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache M. (C‑277/11, EU:C:2012:253, Rn. 19), die zum Urteil M. (C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 72) geführt haben.

( 8 ) Diese am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Konvention (Vertragsserie der Vereinten Nationen, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft. Sie wurde durch das am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 ergänzt.

( 9 ) Im Urteil M. (EU:C:2012:744) hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Natur der Rechte, die mit dem Status als Flüchtling und mit dem subsidiären Schutzstatus verbunden sind, tatsächlich unterschiedlich ist (Rn. 92). Trotzdem ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337, S. 9), mit der die Richtlinie 2004/83 neu gefasst wird, die bestehenden Unterschiede zwischen den Rechten der Flüchtlinge und der Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, hinsichtlich des Zugangs zu medizinischer Versorgung beseitigt (Art. 30). Im Bereich der Sozialhilfe ist ein solcher Unterschied jedoch nicht beseitigt worden (Art. 29).

( 10 ) In der durch das Gesetz vom 15. September 2006 geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980).

( 11 ) Der subsidiäre Schutz gestattet es dem Anspruchsberechtigten, einen Aufenthaltsschein für die Dauer von einem Jahr zu erhalten, der während fünf Jahren verlängert werden kann. Nach Ablauf eines Zeitraums von fünf Jahren kann dem Betroffenen nach Art. 49/2 Abs. 2 und 3 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 der Aufenthalt für unbestimmte Zeit gestattet werden.

( 12 ) Verordnung des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung (ABl. 1997, L 28, S. 1).

( 13 ) Vgl. Urteil Nr. 193/2009 vom 26. November 2009, B.3.1. Vgl. auch Urteil Nr. 43/2013 vom 21. März 2013, B.4.1.

( 14 ) Parlamentarisches Dokument, Kammer, 2005-2006, DOC 51-2478/001, S. 9.

( 15 ) C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 28.

( 16 ) Vgl. Note des Vorsitzes des Rates der Europäischen Union an den Strategischen Ausschuss für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen vom 25. September 2002, 12148/02, S. 5.

( 17 ) EGMR, Josef/Belgien, Nr. 70055/10, § 118, vom 27. Februar 2014. Der EGMR verweist jedoch darauf, dass nach seiner Rechtsprechung von Ausweisungsmaßnahmen betroffene Drittstaatsangehörige im Grundsatz keinen Anspruch haben, im Gebiet des ausweisenden Vertragsstaats zu bleiben, um dort weiterhin medizinische, soziale oder andere Leistungen in Anspruch zu nehmen. Die Tatsache, dass sich die Situation des Antragstellers erheblich verschlechtern und insbesondere seine Lebenserwartung sich deutlich verkürzen könne, begründet für sich allein noch keine Verletzung von Art. 3 EMRK.

( 18 ) EGMR, D./Vereinigtes Königreich, Nr. 30240/96, EGMR 1997-III.

( 19 ) Ebd. (§§ 51 bis 54).

( 20 ) Ebd. (§ 49).

( 21 ) Im vorgenannten Urteil Josef/Belgien hat der EGMR jedoch klargestellt, dass ein solcher Fall nur aufgrund zwingender humanitärer Erwägungen vorliegen kann, und hat dabei auf seine Urteile N./Vereinigtes Königreich ([GK] Nr. 26565/05, EGMR 2008-III) und Yoh-Ekale Mwanje/Belgien (Nr. 10486/10, 20. März 2012) Bezug genommen. In diesen Rechtssachen waren die Kläger ebenfalls an Aids erkrankt. Der EGMR war jedoch der Ansicht, dass ihre Ausweisung nicht unter dem Blickwinkel von Art. 3 EMRK betrachtet werden kann, weil ihr Gesundheitszustand zum Zeitpunkt ihrer Ausweisung stabil war, sie sich nicht in einem „kritischen Zustand“ befanden und reisefähig waren.

( 22 ) Vgl. diesbezüglich Urteil Diakité (C‑285/12, EU:C:2014:39, Rn. 24).

( 23 ) Wie der Gerichtshof im Urteil B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661) festgestellt hat, ist dem letzten Satzteil von Art. 2 Buchst. g am Ende der Richtlinie 2004/83 zu entnehmen, dass es der Richtlinie nicht zuwiderläuft, dass eine Person um eine „andere … Form des Schutzes“ außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie ersucht (Rn. 116).

( 24 ) Die Richtlinie 2004/83 geht, wie die am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Flüchtlingskonvention, von dem Grundsatz aus, dass die Aufnahmemitgliedstaaten nach ihrem nationalen Recht einen innerstaatlichen Schutz gewähren können, der Personen, die vom Flüchtlingsstatus nach Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie ausgeschlossen sind, das Recht einräumt, sich im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufzuhalten.

( 25 ) Vgl. Vermerk des Vorsitzes des Rates der Europäischen Union für den Strategischen Ausschuss für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen vom 25. September 2002, 12148/02, S. 6.

( 26 ) Hervorhebung nur hier.

( 27 ) EU:C:2009:94.

( 28 ) Ebd. (Rn. 28).

( 29 ) McAdam, J., „The Qualification Directive: An Overview“, The Qualification Directive: Central Themes, Problem Issues, and Implementation in Selected Member States, Wolf Legal Publishers, Nijmegen, 2007, S. 19.

( 30 ) Vgl. diesbezüglich Urteil Diakité (EU:C:2014:39, Rn. 24).

( 31 ) Vgl. diesbezüglich die Erwägungen des Gerichtshofs im Urteil B und D (EU:C:2010:661, Rn. 114 bis 120).