URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

10. Juli 2014 ( *1 )

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Verbraucherschutz — Unlautere Geschäftspraktiken — Richtlinie 2005/29/EG — Vollständige Harmonisierung — Ausschluss von Freiberuflern, Zahnärzten und Heilgymnasten — Art und Weise der Ankündigung von Preisermäßigungen — Beschränkung oder Verbot bestimmter Formen des Wandergewerbes“

In der Rechtssache C‑421/12

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 13. September 2012,

Europäische Kommission, vertreten durch M. van Beek und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Königreich Belgien, vertreten durch T. Materne und J.‑C. Halleux als Bevollmächtigte im Beistand von E. Balate, avocat,

Beklagter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund und A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. November 2013

folgendes

Urteil

1

Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission die Feststellung, dass

das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 3 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (ABl. L 149, S. 22) verstoßen hat, dass es vom Anwendungsbereich des Gesetzes vom 14. Juli 1991 über die Handelspraktiken sowie die Aufklärung und den Schutz der Verbraucher (Belgisches Staatsblatt vom 29. August 1991, S. 18712) in der Fassung, die es durch das die Richtlinie umsetzende Gesetz vom 5. Juni 2007 (Belgisches Staatsblatt vom 21. Juni 2007, S. 34272; deutsche Übersetzung: Belgisches Staatsblatt vom 18. März 2008, S. 15785) erhalten hat (im Folgenden: Gesetz vom 14. Juli 1991), Freiberufler sowie Zahnärzte und Heilgymnasten ausgenommen hat;

das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 der Richtlinie 2005/29 verstoßen hat, dass es die Art. 20, 21 und 29 des Gesetzes vom 6. April 2010 über Marktpraktiken und Verbraucherschutz (Belgisches Staatsblatt vom 12. April 2010, S. 20803; inoffizielle Koordinierung in deutscher Sprache: Belgisches Staatsblatt vom 16. Dezember 2010, S. 77579, im Folgenden: Gesetz vom 6. April 2010) beibehalten hat;

das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 der Richtlinie 2005/29 verstoßen hat, dass es Art. 4 § 1 Abs. 3 des Gesetzes vom 25. Juni 1993 über die Ausübung und Organisation des Wander- und Kirmesgewerbes (Belgisches Staatsblatt vom 30. September 1993, S. 21526; offizielle deutsche Übersetzung: Belgisches Staatsblatt vom 27. August 1996, S. 22654) in der Fassung, die es durch das Gesetz vom 4. Juli 2005 (Belgisches Staatsblatt vom 25. August 2005, S. 36965; offizielle deutsche Übersetzung: Belgisches Staatsblatt vom 11. April 2006, S. 19858) erhalten hat (im Folgenden: Gesetz vom 25. Juni 1993), sowie Art. 5 Abs. 1 des Königlichen Erlasses vom 24. September 2006 über die Ausübung und die Organisation des Wandergewerbes (Belgisches Staatsblatt vom 29. September 2006, S. 50488; offizielle deutsche Übersetzung: Belgisches Staatsblatt vom 9. März 2007, S. 12140, im Folgenden: Königlicher Erlass vom 24. September 2006) beibehalten hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2005/29

2

Die Erwägungsgründe 6, 15 und 17 der Richtlinie 2005/29 lauten:

„(6)

Die vorliegende Richtlinie gleicht … die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken einschließlich der unlauteren Werbung an, die die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher unmittelbar und dadurch die wirtschaftlichen Interessen rechtmäßig handelnder Mitbewerber mittelbar schädigen. … Sie erfasst und berührt nicht die nationalen Rechtsvorschriften in Bezug auf unlautere Geschäftspraktiken, die lediglich die wirtschaftlichen Interessen von Mitbewerbern schädigen oder sich auf ein Rechtsgeschäft zwischen Gewerbetreibenden beziehen; die Mitgliedstaaten können solche Praktiken, falls sie es wünschen, unter uneingeschränkter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht weiterhin regeln. …

(15)

Legt das Gemeinschaftsrecht Informationsanforderungen in Bezug auf Werbung, kommerzielle Kommunikation oder Marketing fest, so werden die betreffenden Informationen im Rahmen dieser Richtlinie als wesentlich angesehen. Die Mitgliedstaaten können die Informationsanforderungen in Bezug auf das Vertragsrecht oder mit vertragsrechtlichen Auswirkungen aufrechterhalten oder erweitern, wenn dies aufgrund der Mindestklauseln in den bestehenden gemeinschaftlichen Rechtsakten zulässig ist. Eine nicht erschöpfende Auflistung solcher im [gemeinschaftlichen] Besitzstand [in Bezug auf Geschäftspraktiken, die den wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher schaden] vorgesehenen Informationsanforderungen ist in Anhang II enthalten. Aufgrund der durch diese Richtlinie eingeführten vollständigen Angleichung werden nur die nach dem Gemeinschaftsrecht vorgeschriebenen Informationen als wesentlich für die Zwecke des Artikels 7 Absatz 5 dieser Richtlinie betrachtet. Haben die Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Mindestklauseln Informationsanforderungen eingeführt, die über das hinausgehen, was im Gemeinschaftsrecht geregelt ist, so kommt das Vorenthalten dieser Informationen einem irreführenden Unterlassen nach dieser Richtlinie nicht gleich. Die Mitgliedstaaten können demgegenüber, sofern dies nach den gemeinschaftsrechtlichen Mindestklauseln zulässig ist, im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht strengere Bestimmungen aufrechterhalten oder einführen, um ein höheres Schutzniveau für die individuellen vertraglichen Rechte der Verbraucher zu gewährleisten.

(17)

Es ist wünschenswert, dass diejenigen Geschäftspraktiken, die unter allen Umständen unlauter sind, identifiziert werden, um größere Rechtssicherheit zu schaffen. Anhang I enthält daher eine umfassende Liste solcher Praktiken. Hierbei handelt es sich um die einzigen Geschäftspraktiken, die ohne eine Beurteilung des Einzelfalls anhand der Bestimmungen der Artikel 5 bis 9 als unlauter gelten können. Die Liste kann nur durch eine Änderung dieser Richtlinie abgeändert werden.“

3

Laut ihrem Art. 1 bezweckt die Richtlinie 2005/29, „durch Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken, die die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher beeinträchtigen, zu einem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts und zum Erreichen eines hohen Verbraucherschutzniveaus beizutragen“.

4

Nach Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2005/29 bezeichnet der Ausdruck „Gewerbetreibender“„jede natürliche oder juristische Person, die im Geschäftsverkehr im Sinne dieser Richtlinie im Rahmen ihrer gewerblichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit handelt, und jede Person, die im Namen oder Auftrag des Gewerbetreibenden handelt“. Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie wiederum definiert „Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern“ als „jede Handlung, Unterlassung, Verhaltensweise oder Erklärung, kommerzielle Mitteilung einschließlich Werbung und Marketing eines Gewerbetreibenden, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts an Verbraucher zusammenhängt“.

5

Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2005/29 bestimmt:

„(1)   Diese Richtlinie gilt für unlautere Geschäftspraktiken im Sinne des Artikels 5 von Unternehmen gegenüber Verbrauchern vor, während und nach Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts.

(2)   Diese Richtlinie lässt das Vertragsrecht und insbesondere die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrags unberührt.

(5)   Die Mitgliedstaaten können für einen Zeitraum von sechs Jahren ab dem 12. Juni 2007 in dem durch diese Richtlinie angeglichenen Bereich nationale Vorschriften beibehalten, die restriktiver oder strenger sind als diese Richtlinie und zur Umsetzung von Richtlinien erlassen wurden und die Klauseln über eine Mindestangleichung enthalten. Diese Maßnahmen müssen unbedingt erforderlich sein, um sicherzustellen, dass die Verbraucher auf geeignete Weise vor unlauteren Geschäftspraktiken geschützt werden[,] und müssen zur Erreichung dieses Ziels verhältnismäßig sein. Im Rahmen der nach Artikel 18 vorgesehenen Überprüfung kann gegebenenfalls vorgeschlagen werden, die Geltungsdauer dieser Ausnahmeregelung um einen weiteren begrenzten Zeitraum zu verlängern.

(6)   Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission unverzüglich die auf der Grundlage von Absatz 5 angewandten nationalen Vorschriften mit.

…“

6

Art. 4 der Richtlinie 2005/29 lautet:

„Die Mitgliedstaaten dürfen den freien Dienstleistungsverkehr und den freien Warenverkehr nicht aus Gründen, die mit dem durch diese Richtlinie angeglichenen Bereich zusammenhängen, einschränken.“

7

In ihrem Art. 5 („Verbot unlauterer Geschäftspraktiken“) sieht die Richtlinie 2005/29 vor:

„(1)   Unlautere Geschäftspraktiken sind verboten.

(2)   Eine Geschäftspraxis ist unlauter, wenn

a)

sie den Erfordernissen der beruflichen Sorgfaltspflicht widerspricht

und

b)

sie in Bezug auf das jeweilige Produkt das wirtschaftliche Verhalten des Durchschnittsverbrauchers, den sie erreicht oder an den sie sich richtet oder des durchschnittlichen Mitglieds einer Gruppe von Verbrauchern, wenn sich eine Geschäftspraxis an eine bestimmte Gruppe von Verbrauchern wendet, wesentlich beeinflusst oder dazu geeignet ist, es wesentlich zu beeinflussen.

(4)   Unlautere Geschäftspraktiken sind insbesondere solche, die

a)

irreführend im Sinne der Artikel 6 und 7

oder

b)

aggressiv im Sinne der Artikel 8 und 9 sind.

(5)   Anhang I enthält eine Liste jener Geschäftspraktiken, die unter allen Umständen als unlauter anzusehen sind. Diese Liste gilt einheitlich in allen Mitgliedstaaten …“

Richtlinie 85/577/EWG

8

Die Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (ABl. L 372, S. 31) gilt nach ihrem Art. 1 Abs. 1 für Verträge, die zwischen einem Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder Dienstleistungen erbringt, und einem Verbraucher entweder während eines vom Gewerbetreibenden außerhalb von dessen Geschäftsräumen organisierten Ausflugs oder anlässlich eines Besuchs des Gewerbetreibenden u. a. beim Verbraucher geschlossen werden, sofern der Besuch nicht auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers erfolgt.

9

Nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 85/577 besitzt der Verbraucher bei Verträgen, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen, das Recht, von der eingegangenen Verpflichtung zurückzutreten, indem er dies innerhalb von mindestens sieben Tagen nach dem Zeitpunkt, zu dem ihn der Gewerbetreibende über sein Widerrufsrecht belehrt hat, anzeigt.

10

Gemäß ihrem Art. 8 hindert die Richtlinie 85/577 „die Mitgliedstaaten nicht daran, noch günstigere Verbraucherschutzbestimmungen auf dem Gebiet dieser Richtlinie zu erlassen oder beizubehalten“.

Richtlinie 98/6/EG

11

Die Richtlinie 98/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 über den Schutz der Verbraucher bei der Angabe der Preise der ihnen angebotenen Erzeugnisse (ABl. L 80, S. 27) regelt ihrem Art. 1 zufolge die Angabe des Verkaufspreises und des Preises je Maßeinheit bei Erzeugnissen, die Verbrauchern von Händlern angeboten werden, um für eine bessere Unterrichtung der Verbraucher zu sorgen und einen Preisvergleich zu erleichtern.

12

Nach ihrem Art. 10 hindert die Richtlinie 98/6 „die Mitgliedstaaten nicht, unbeschadet ihrer Verpflichtungen nach dem Vertrag für die Unterrichtung der Verbraucher und den Preisvergleich günstigere Bestimmungen zu erlassen oder beizubehalten“.

Richtlinie 2011/83/EU

13

Laut ihrem neunten Erwägungsgrund enthält die Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 304, S. 64) u. a. Bestimmungen über Informationen, die bei Fernabsatzverträgen, außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen sowie anderen Verträgen als Fernabsatzverträgen und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen bereitgestellt werden müssen, und regelt auch das Widerrufsrecht bei Verträgen, die im Fernabsatz oder außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossen werden.

14

Nach Art. 28 dieser Richtlinie erlassen und veröffentlichen die Mitgliedstaaten bis zum 13. Dezember 2013 die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen, und wenden diese Maßnahmen ab dem 13. Juni 2014 an.

15

Art. 31 der Richtlinie 2011/83 hebt die Richtlinie 85/577 mit Wirkung vom 13. Juni 2014 auf.

Belgisches Recht

16

Im Gesetz vom 14. Juli 1991 wurde infolge seiner Änderung durch das Gesetz vom 5. Juni 2007 die Richtlinie 2005/29 in innerstaatliches Recht umgesetzt. Das Gesetz vom 14. Juli 1991 ist mit Wirkung vom 12. Mai 2010 durch das Gesetz vom 6. April 2010 aufgehoben worden.

17

Sowohl das Gesetz vom 14. Juli 1991 als auch das Gesetz vom 6. April 2010 schließen Freiberufler sowie Zahnärzte und Heilgymnasten von ihrem Anwendungsbereich aus. In Art. 2 Nrn. 1 und 2 sowie in Art. 3 § 2 des Gesetzes vom 6. April 2010 heißt es:

„Art. 2 – Für die Anwendung des vorliegenden Gesetzes versteht man unter:

1.   Unternehmen: natürliche oder juristische Personen, die auf dauerhafte Weise einen wirtschaftlichen Zweck verfolgen, und ihre Vereinigungen,

2.   Freiberuflern: Unternehmen, die kein Kaufmann im Sinne von Artikel 1 des Handelsgesetzbuches sind und einem durch das Gesetz geschaffenen Disziplinarorgan unterliegen,

Art. 3 – …

§ 2 –   Vorliegendes Gesetz findet keine Anwendung auf Freiberufler, Zahnärzte und Heilgymnasten.“

18

Mit seinen Urteilen Nr. 55/2011 vom 6. April 2011 (Belgisches Staatsblatt vom 8. Juni 2011, S. 33389; deutsche Übersetzung: S. 33391) und Nr. 192/2011 vom 15. Dezember 2011 (Belgisches Staatsblatt vom 7. März 2012, S. 14196; deutsche Übersetzung: S. 14198) hat der Verfassungsgerichtshof Art. 2 Nrn. 1 und 2 sowie Art. 3 § 2 des Gesetzes vom 6. April 2010 für verfassungswidrig erklärt, soweit die genannten Bestimmungen zur Folge hatten, dass Freiberufler sowie Zahnärzte und Heilgymnasten vom Anwendungsbereich dieses Gesetzes ausgeschlossen wurden.

19

Art. 4 des Gesetzes vom 2. August 2002 über irreführende Werbung, vergleichende Werbung, missbräuchliche Klauseln und Vertragsabschlüsse im Fernabsatz hinsichtlich der freien Berufe (Belgisches Staatsblatt vom 20. November 2002, S. 51704, offizielle deutsche Übersetzung: Belgisches Staatsblatt vom 12. November 2003, S. 54592, im Folgenden: Gesetz vom 2. August 2002) definiert den Begriff der irreführenden Werbung und enthält ein Verbot solcher Werbung für freie Berufe.

20

Art. 43 § 2 und Art. 51 § 3 des Gesetzes vom 14. Juli 1991 sahen im Wesentlichen vor, dass Kaufleute u. a. im Rahmen von Schlussverkäufen keine Preisermäßigung ankündigen durften, sofern der Preis der zum Verkauf angebotenen Waren im Vergleich zu dem Preis, der normalerweise während eines ununterbrochenen Zeitraums von einem Monat unmittelbar vor dem Zeitpunkt angewandt worden war, ab dem der ermäßigte Preis galt, keiner tatsächlichen Ermäßigung unterzogen wurde.

21

Gemäß den Art. 20, 21 und 29 des Gesetzes vom 6. April 2010 darf Ware nur als Schlussverkaufsware angesehen werden, wenn der verlangte Preis niedriger ist als der Referenzpreis, der der tiefste Preis ist, den das Unternehmen im Laufe des betreffenden Monats in dieser Verkaufsstelle oder im Rahmen dieser Verkaufstechnik für diese Ware verlangt hat.

22

Nach Art. 4 des Gesetzes vom 25. Juni 1993 ist die Ausübung des Wandergewerbes in der Wohnung des Verbrauchers zugelassen, sofern diese Tätigkeit Waren oder Dienstleistungen im Gesamtwert von weniger als 250 Euro pro Verbraucher betrifft. Ferner sieht Art. 5 des – der Ausführung des Gesetzes vom 25. Juni 1993 dienenden – Königlichen Erlasses vom 24. September 2006 vor, dass bestimmte Waren wie Arzneimittel, medizinische und orthopädische Apparate, Korrekturgläser und entsprechende Gestelle, Edelmetalle, Edelsteine, echte Perlen und Zuchtperlen sowie Waffen und Munition nicht Gegenstand eines Wandergewerbes sein können.

Vorverfahren

23

Am 2. Februar 2009 richtete die Kommission an das Königreich Belgien ein Mahnschreiben mit elf Rügen wegen verschiedener Verstöße gegen die Richtlinie 2005/29. Mit seinen Antwortschreiben vom 3. und 24. Juni 2009 kündigte der betroffene Mitgliedstaat bestimmte Gesetzesänderungen an, um für die von der Kommission angesprochenen Probleme Abhilfe zu schaffen. In diesem Kontext trat das Gesetz vom 6. April 2010 am 12. Mai 2010 in Kraft.

24

Nach Prüfung dieses Gesetzes gelangte die Kommission zu der Feststellung, dass das Gesetz vier in ihrem Mahnschreiben angeführten Rügen nicht abgeholfen habe. Daher sandte sie dem Königreich Belgien am 15. März 2011 hinsichtlich dieser vier Rügen eine mit Gründen versehene Stellungnahme zu. Das Königreich Belgien antwortete am 11. Mai 2011 auf diese Stellungnahme.

25

Da die Antwort des Königreichs Belgien die Kommission im Hinblick auf drei der Rügen, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme genannt waren, nicht zufriedenstellte, beschloss diese, die vorliegende Klage zu erheben.

Zur Klage

Zur ersten Rüge

26

Mit diesem Beschwerdepunkt macht die Kommission geltend, dass das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29 in Verbindung mit ihrem Art. 2 Buchst. b und d verstoßen habe, dass es Freiberufler sowie Zahnärzte und Heilgymnasten vom Anwendungsbereich des Gesetzes vom 6. April 2010 ausgenommen habe.

Zur Zulässigkeit der ersten Rüge

– Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

27

Das Königreich Belgien macht hinsichtlich dieser Rüge geltend, die Kommission habe das Gesetz vom 2. August 2002 außer Acht gelassen. Dieses Gesetz, das immer noch in Kraft sei, definiere, was eine irreführende Werbung durch einen Freiberufler sei, und sehe außerdem spezielle Maßnahmen zur gerichtlichen Kontrolle vor. Die Kommission habe in ihrer Klageschrift weder angegeben, welche Verbraucherschutzvorschriften der Richtlinie 2005/29 nicht in belgisches Recht umgesetzt worden seien, noch, weshalb das Gesetz vom 2. August 2002 gegen diese Richtlinie verstoße.

28

Das Königreich Belgien trägt außerdem vor, dass die Kommission nicht bestreite, dass Art. 4 des Gesetzes vom 2. August 2002 Freiberuflern irreführende Werbung verbiete und insoweit Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2005/29 umsetze. Diese Vorschrift des nationalen Rechts stelle somit zumindest eine teilweise Umsetzung dieser Richtlinie sicher. Da die Kommission die Existenz des Gesetzes vom 2. August 2002 in ihrer Klageschrift nicht berücksichtigt habe, sei die erste Rüge unzulässig.

29

Die Kommission führt in ihrer Erwiderung aus, dass das Gesetz vom 2. August 2002 zwar Freiberuflern verbiete, irreführende Werbung zu machen, aber mit diesem Gesetz, das das Königreich Belgien zum ersten Mal in seiner Klagebeantwortung erwähne, in Wirklichkeit nicht die Richtlinie 2005/29, sondern hauptsächlich die Richtlinie 84/450/EWG des Rates vom 10. September 1984 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung (ABl. L 250, S. 17) umgesetzt werden solle.

– Würdigung durch den Gerichtshof

30

Nach Art. 21 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 120 Buchst. c seiner Verfahrensordnung obliegt es der Kommission, in jeder nach Art. 258 AEUV erhobenen Klage genau die Rügen anzugeben, über die der Gerichtshof entscheiden soll, und zumindest in gedrängter Form die rechtlichen und tatsächlichen Umstände darzulegen, auf die diese Rügen gestützt sind. Daraus folgt, dass die Klage der Kommission eine zusammenhängende und detaillierte Darlegung der Gründe enthalten muss, aus denen diese zu der Überzeugung gelangt ist, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen eine der ihm nach den Verträgen obliegenden Verpflichtungen verstoßen hat (vgl. u. a. Urteil Kommission/Belgien, C‑150/11, EU:C:2012:539, Rn. 26 und 27 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Im vorliegenden Fall enthält die Klageschrift, die die Kommission eingereicht hat und mit der sie dem Königreich Belgien im Wesentlichen vorwirft, Freiberufler, Zahnärzte und Heilgymnasten unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 und Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29 vom Anwendungsbereich der nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie, nämlich des Gesetzes vom 6. April 2010, ausgenommen zu haben, eine klare Darstellung dieser Rüge und der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die sie sich stützt.

32

Zwar hat die Kommission in der Klageschrift nicht ausgeführt, weshalb das Gesetz vom 2. August 2002, das zum Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie 2005/29 in Kraft war und Freiberuflern irreführende Werbung verbietet, mit den Bestimmungen dieser Richtlinie nicht im Einklang stand.

33

Jedoch ist es im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV auch Sache des betroffenen Mitgliedstaats, der Kommission nach Art. 4 Abs. 3 EUV die Erfüllung ihrer Aufgabe zu erleichtern, die nach Art. 17 Abs. 1 EUV insbesondere darin besteht, für die Anwendung des AEU-Vertrags sowie der von den Organen aufgrund dieses Vertrags getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Italien, C‑456/03, EU:C:2005:388, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Ein Anwendungsfall des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit ist Art. 19 der Richtlinie 2005/29, der – ebenso wie andere Richtlinien –den Mitgliedstaaten eine Verpflichtung zu klarer und genauer Information auferlegt. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, kann die Kommission mangels einer solchen Information nicht prüfen, ob der Mitgliedstaat die Richtlinie tatsächlich und vollständig durchgeführt hat. Die Verletzung dieser Verpflichtung durch einen Mitgliedstaat, sei es, weil jegliche Information fehlt, sei es, weil eine Information nicht ausreichend klar und genau ist, kann bereits als solche die Eröffnung des Verfahrens nach Art. 258 AEUV zur Feststellung dieser Verletzung rechtfertigen (Urteil Kommission/Italien, EU:C:2005:388, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass das Königreich Belgien sein Argument, das Gesetz vom 2. August 2002 setze die Richtlinie 2005/29 um, zum ersten Mal in seiner Klagebeantwortung vor dem Gerichtshof vorgebracht hat. In seiner Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme hatte das Königreich Belgien nämlich seine gesamte Verteidigung darauf beschränkt, auf das am 6. April 2011 erlassene Urteil Nr. 55/2001 des Verfassungsgerichtshofs hinzuweisen, der den Ausschluss der freien Berufe vom Gesetz vom 6. April 2010 für verfassungswidrig erklärt hatte. Es kündigte außerdem an, dass „in den nächsten Wochen“ eine Gesetzesänderung erfolgen werde, um dem Unionsrecht nachzukommen.

36

Unter diesen Umständen kann das Königreich Belgien der Kommission nicht vorwerfen, dass sie sich darauf beschränkt habe, in ihrer Klageschrift darzustellen, weshalb die Richtlinie 2005/29 mit dem Gesetz vom 6. April 2011 nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden sei, dabei jedoch nicht erläutert habe, wieso sich das Gesetz vom 2. August 2002 in dieser Hinsicht nicht ausgewirkt gehabt habe. Die behauptete Ungenauigkeit in der Klageschrift ist nämlich die Folge des eigenen Verhaltens der Behörden dieses Mitgliedstaats während des Vorverfahrens.

37

Demzufolge ist die erste Rüge der Kommission zur Stützung ihrer Klage als zulässig zu erklären.

Zur Begründetheit der ersten Rüge

– Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

38

Die Kommission macht unter Verweis auf den Wortlaut von Art. 2 Buchst. b und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29, der freiberufliche Tätigkeiten ausdrücklich erfasse, geltend, dass diese Richtlinie für die Geschäftspraktiken aller Gewerbetreibenden gelte, ungeachtet ihres Rechtsstatus und ihres Tätigkeitsbereichs. Dass Freiberufler, Zahnärzte und Heilgymnasten ausdrücklich vom Anwendungsbereich des Gesetzes vom 6. April 2010 ausgenommen seien, verstoße daher gegen Art. 3 der Richtlinie 2005/29 in Verbindung mit ihrem Art. 2 Buchst. b.

39

Im Rahmen des Vorverfahrens hatte das Königreich Belgien geltend gemacht, der Verfassungsgerichtshof habe in seinem Urteil Nr. 55/2011 vom 6. April 2011 gerade die Bestimmungen des Gesetzes vom 6. April 2010 für verfassungswidrig erklärt, die die genannten Berufe von seinem Anwendungsbereich ausnähmen; eine solche Erklärung der Verfassungswidrigkeit eröffne die Möglichkeit, binnen sechs Monaten eine Nichtigkeitsklage gegen dieses Gesetz zu erheben, was zu einer rückwirkenden Nichtigerklärung seiner streitigen Bestimmungen führen könne. Hierauf entgegnet die Kommission, dass das Königreich Belgien mit diesem Vorbringen einräume, dass die ihm vorgeworfene Vertragsverletzung vorliege – und zwar auch zum Zeitpunkt des Ablaufs der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden sei. Des Weiteren ist sie der Ansicht, dass die hypothetische rückwirkende Nichtigerklärung, die der Verfassungsgerichtshof vornehmen könne, die gerügte Vertragsverletzung nicht heilen könne und im Widerspruch zur Rechtsprechung des Gerichtshofs stünde, wonach bei der Umsetzung der Unionsrechtsvorschriften zum Verbraucherschutz Klarheit und Rechtssicherheit erforderlich seien. Denn eine solche Berichtigung sei nicht geeignet, den Verstoß zu beseitigen, der bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden sei, fortbestanden habe.

40

In der Sache bestreitet das Königreich Belgien nicht, dass bestimmte Berufe tatsächlich vom Anwendungsbereich des Gesetzes vom 6. April 2010 ausgenommen wurden. Es verweist jedoch darauf, dass der Verfassungsgerichtshof diese Ausnahme mit seinen Urteilen Nr. 55/2011 vom 6. April 2011 und Nr. 192/2011 vom 15. Dezember 2011 für unwirksam erklärt habe. Der Gerichtshof müsse diese Urteile des Verfassungsgerichtshofs bei seiner Würdigung der streitigen Umsetzung berücksichtigen, da sie zur Folge gehabt hätten, dass die betroffenen Bestimmungen des Gesetzes vom 6. April 2010 vor Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden sei, für die belgischen Gerichte unanwendbar geworden seien, so dass die in ihnen enthaltene Ausnahme mit der Verkündung der Urteile des Verfassungsgerichtshofs wirkungslos geworden sei.

41

In seiner Klagebeantwortung führt das Königreich Belgien außerdem aus, dass zum Zeitpunkt ihrer Einreichung eine Nichtigkeitsklage beim Verfassungsgerichtshof erhoben worden sei, die im Fall ihres Erfolgs die rückwirkende Nichtigerklärung von Art. 2 Nr. 2 und Art. 3 § 2 des Gesetzes vom 6. April 2010 nach sich ziehen würde. Infolgedessen würden diese Bestimmungen des nationalen Rechts so angesehen, als wären sie nie Bestandteil der belgischen Rechtsordnung gewesen, so dass die dem Königreich Belgien vorgeworfene Vertragsverletzung niemals vorgelegen hätte.

– Würdigung durch den Gerichtshof

42

Festzustellen ist, dass das Königreich Belgien zwar einräumt, dass die erste Rüge zutreffend ist, aber geltend macht, dass die von der Kommission beanstandete Vertragsverletzung infolge der Urteile Nr. 55/2011 vom 6. April 2011 und Nr. 192/2011 vom 15. Dezember 2011, mit denen Art. 2 Nr. 2 und Art. 3 § 2 des Gesetzes vom 6. April 2010 für verfassungswidrig erklärt wurden, „korrigiert“ worden sei.

43

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich jedoch ein Mitgliedstaat nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung der in den Normen des Unionsrechts festgelegten Verpflichtungen zu rechtfertigen (vgl. u. a. Urteile Kommission/Luxemburg, C‑450/00, EU:C:2001:519, Rn. 8, und Kommission/Luxemburg, C‑375/04, EU:C:2005:264, Rn. 11).

44

Im Übrigen wird dadurch, dass der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten offensteht, die Klagemöglichkeit nach Art. 258 AEUV nicht geschmälert, da beide Klagen unterschiedlichen Zwecken dienen und unterschiedliche Wirkungen haben (vgl. Urteil Kommission/Italien, C‑87/02, EU:C:2004:363, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45

Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgesetzt wurde (vgl. Urteile Kommission/Spanien, C‑168/03, EU:C:2004:525, Rn. 24, Kommission/Deutschland, C‑152/05, EU:C:2008:17, Rn. 15, und Kommission/Luxemburg, C‑282/08, EU:C:2009:55, Rn. 10). Später eingetretene Veränderungen können vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden (vgl. u. a. Urteile Kommission/Irland, C‑482/03, EU:C:2004:733, Rn. 11, und Kommission/Schweden, C‑185/09, EU:C:2010:59, Rn. 9).

46

Der Gerichtshof hat zudem bereits entschieden, dass eine etwaige nationale Rechtsprechung, die innerstaatliche Rechtsvorschriften in einem Sinne auslegt, der als den Anforderungen einer Richtlinie entsprechend angesehen wird, nicht die Klarheit und Bestimmtheit aufweisen kann, die notwendig sind, um dem Erfordernis der Rechtssicherheit zu genügen, was ganz besonders im Bereich des Verbraucherschutzes gilt (vgl. Urteil Kommission/Niederlande, C‑144/99, EU:C:2001:257; Rn. 21).

47

Folglich haben die vom Königreich Belgien angeführten Umstände keine Auswirkung auf das Bestehen der Vertragsverletzung, die im Übrigen von diesem Mitgliedstaat auch nicht bestritten wird.

48

Nach alledem ist die erste Rüge der Kommission als begründet anzusehen.

Zur zweiten Rüge

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

49

Die Kommission stellt fest, dass sich jede Ankündigung einer Preisermäßigung nach den Art. 20, 21 und 29 des Gesetzes vom 6. April 2010 auf einen gesetzlich definierten Preis beziehen muss, vorliegend den tiefsten Preis, der während des Monats angewandt wurde, der dem ersten Tag der betreffenden Ankündigung vorausging. Außerdem verböten diese Bestimmungen die Ankündigung einer Preisermäßigung einerseits für einen Zeitraum von mehr als einem Monat und andererseits für eine Dauer von weniger als einem Tag.

50

Da die Richtlinie 2005/29 die Regeln in Bezug auf unlautere Geschäftspraktiken vollständig harmonisiert habe, stehe Art. 4 dieser Richtlinie dem Bestehen strengerer nationaler Vorschriften, wie den in der vorstehenden Randnummer genannten, entgegen.

51

Anhang I der Richtlinie 2005/29 enthalte nämlich eine abschließende Liste von 31 Geschäftspraktiken, die unter allen Umständen als unlauter anzusehen seien; dort seien die Praktiken nicht aufgeführt, die von den belgischen Rechtsvorschriften über die Ankündigung von Preisermäßigungen erfasst würden. Somit müssten solche Praktiken im Einzelfall darauf geprüft werden, ob sie als unlauter anzusehen seien oder nicht. Hingegen sei infolge der belgischen Regelung jede Preisermäßigung, die mit den vom Gesetz aufgestellten Kriterien nicht im Einklang stehe, verboten, obgleich solche Praktiken nach einer Einzelfallprüfung möglicherweise nicht als irreführend oder unlauter im Sinne dieser Richtlinie anzusehen seien.

52

Das Königreich Belgien weist darauf hin, dass die Richtlinie 2005/29 zwar eine vollständige Harmonisierung vornehme, jedoch keine harmonisierten Regeln zur Feststellung der wirtschaftlichen Realität der Ankündigung von Preisermäßigungen enthalte. Ferner sei die Richtlinie 98/6 durch die Richtlinie 2005/29 nicht geändert worden. Art. 10 der Richtlinie 98/6 erlaube den Mitgliedstaaten aber, für die Unterrichtung der Verbraucher und den Preisvergleich günstigere Bestimmungen zu erlassen oder beizubehalten.

53

Zudem habe der Gerichtshof in seinem Urteil GB-INNO-BM (C‑362/88, EU:C:1990:102) das Recht des Verbrauchers auf Unterrichtung in den Rang eines Grundsatzes erhoben, so dass die Art. 20, 21 und 29 des Gesetzes vom 6. April 2010 in Wirklichkeit allein anhand von Art. 28 AEUV zu prüfen seien.

Würdigung durch den Gerichtshof

54

In den Art. 20, 21 und 29 des Gesetzes vom 6. April 2010 geht es um Ankündigungen von Preisermäßigungen; diese stellen Geschäftspraktiken im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2005/29 dar und fallen daher in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie (vgl. in diesem Sinne Beschluss INNO, C‑126/11, EU:C:2011:851, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Regeln über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern mit der Richtlinie 2005/29 auf Unionsebene vollständig harmonisiert werden. Daher dürfen die Mitgliedstaaten, wie Art. 4 der Richtlinie ausdrücklich festschreibt, keine strengeren Maßnahmen erlassen als die, die in der Richtlinie festgelegt sind – selbst dann nicht, wenn sie ein höheres Verbraucherschutzniveau bezwecken (vgl. Urteile Plus Warenhandelsgesellschaft, C‑304/08, EU:C:2010:12, Rn. 41, und Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag, C‑540/08, EU:C:2010:660, Rn. 37).

56

Außerdem stellt die Richtlinie 2005/29 in Anhang I eine vollständige Liste von 31 Geschäftspraktiken auf, die nach ihrem Art. 5 Abs. 5 „unter allen Umständen“ als unlauter anzusehen sind. Folglich können – wie es im 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ausdrücklich heißt – nur diese Geschäftspraktiken ohne eine Beurteilung des Einzelfalls anhand der Bestimmungen der Art. 5 bis 9 der Richtlinie 2005/29 als unlauter gelten (vgl. Urteil Plus Warenhandelsgesellschaft, EU:C.2010:12, Rn. 45).

57

Das Königreich Belgien macht im Wesentlichen geltend, dass restriktivere Maßnahmen wie die, die in den Art. 20, 21 und 29 des Gesetzes vom 6. April 2010 vorgesehen seien, aufgrund der Mindestharmonisierungsklausel in Art. 10 der Richtlinie 98/6, wonach den Mitgliedstaaten erlaubt sei, für die Unterrichtung der Verbraucher und den Preisvergleich günstigere Bestimmungen zu erlassen oder beizubehalten, zulässig blieben.

58

Insoweit steht fest, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2005/29 für einen Zeitraum von sechs Jahren ab dem 12. Juni 2007 in dem durch diese Richtlinie angeglichenen Bereich nationale Vorschriften beibehalten konnten, die restriktiver oder strenger sind als diese Richtlinie und zur Umsetzung von Richtlinien erlassen wurden und die Klauseln über eine Mindestangleichung enthalten.

59

Gegenstand der Richtlinie 98/6 ist aber – wie der Generalanwalt in den Nrn. 58 ff. seiner Schlussanträge ausgeführt hat – der Schutz der Verbraucher nicht bei der Angabe der Preise im Allgemeinen oder hinsichtlich der wirtschaftlichen Realität der Ankündigung von Preisermäßigungen, sondern bei der Preisangabe von Waren unter Bezugnahme auf unterschiedliche Maßeinheiten.

60

Es kann daher nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass Art. 10 der Richtlinie 98/6 die Beibehaltung restriktiverer nationaler Vorschriften rechtfertigen könne, die – wie die Art. 20, 21 und 29 des Gesetzes vom 6. April 2010 – die wirtschaftliche Realität der Ankündigung von Preisermäßigungen betreffen, da derartige Vorschriften nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 98/6 fallen.

61

Folglich verstößt eine derartige nationale Regelung, die nicht in Anhang I der Richtlinie 2005/29 genannte Praktiken generell verbietet, ohne eine individuelle Prüfung der „Unlauterkeit“ dieser Praktiken anhand der in den Art. 5 bis 9 dieser Richtlinie aufgestellten Kriterien vorzunehmen, gegen den Inhalt von Art. 4 der Richtlinie und steht im Widerspruch zu dem von der Richtlinie verfolgten Ziel einer vollständigen Harmonisierung – und zwar selbst dann, wenn diese Regelung ein höheres Verbraucherschutzniveau gewährleisten soll (vgl. in diesem Sinne Urteil Plus Warenhandelsgesellschaft, EU:C:2010:12, Rn. 41, 45 und 53).

62

Was das Vorbringen hinsichtlich der Folgen des Urteils GB-INNO-BM (EU:C:1990:102) betrifft, ist in Übereinstimmung mit der Kommission darauf hinzuweisen, dass die Umstände der Rechtssache, die diesem Urteil zugrunde lag, sich von denen unterscheiden, die die Erhebung der vorliegenden Klage veranlasst haben. In jener Rechtssache hat der Gerichtshof nämlich festgestellt, dass der freie Warenverkehr grundsätzlich nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die Verbrauchern jeglichen Zugang zu bestimmten Informationen verweigern, während die Richtlinie 2005/29, wie aus ihrem Art. 1 hervorgeht, bezweckt, „zu einem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts und zum Erreichen eines hohen Verbraucherschutzniveaus beizutragen“.

63

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs muss aber jede nationale Regelung in einem Bereich, der auf Unionsebene abschließend harmonisiert wurde, anhand der fraglichen Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand des Primärrechts beurteilt werden (vgl. Urteil Gysbrechts und Santurel Inter, C‑205/07, EU:C:2008:730, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64

Da – wie in Rn. 55 des vorliegenden Urteils bereits ausgeführt – die Regeln über unlautere Geschäftspraktiken mit der Richtlinie 2005/29 auf Unionsebene vollständig harmonisiert worden sind, sind die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen folglich allein anhand der Bestimmungen dieser Richtlinie und nicht anhand von Art. 28 AEUV zu beurteilen.

65

Das Urteil GB-INNO-BM (EU:C:1990:102), auf das sich das Königreich Belgien beruft, ist insoweit ohne Bedeutung, da es einen Bereich betrifft, der seinerzeit noch nicht Gegenstand einer solchen Harmonisierung war.

66

Folglich ist die zweite Rüge der Kommission begründet.

Zur dritten Rüge

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

67

Die Kommission weist darauf hin, dass Art. 4 § 3 des Gesetzes vom 25. Juni 1993 auf ein grundsätzliches Verbot hinauslaufe, irgendeine Ware oder Dienstleistung – mit Ausnahme bestimmter Waren und Dienstleistungen – im Wandergewerbe zu verkaufen, sofern der Verkauf in der Wohnung des Verbrauchers stattfinde und Waren oder Dienstleistungen im Wert von mehr als 250 Euro betreffe. Des Weiteren verbiete Art. 5 Abs. 1 des Königlichen Erlasses vom 24. September 2006, eine Reihe von Waren, wie Edelmetalle, Edelsteine und echte Perlen, im Wandergewerbe zu verkaufen.

68

Die Kommission weist darauf hin, dass die Richtlinie 2005/29 eine vollständige Harmonisierung vornehme, die unlauteren Geschäftspraktiken in Anhang I dieser Richtlinie abschließend aufgelistet, die von den nationalen Vorschriften aufgestellten Verbote dort jedoch nicht aufgeführt seien, und zieht daraus den Schluss, dass solche Verkäufe nicht vollständig verboten werden dürften, sondern in jedem Einzelfall geprüft werden müsse, ob sie missbräuchliche Praktiken darstellten, die zu verbieten seien.

69

Das Königreich Belgien macht im Wesentlichen geltend, dass sowohl Art. 5 Abs. 1 des Königlichen Erlasses vom 24. September 2006 als auch Art. 4 § 3 des Gesetzes vom 25. Juni 1993 in den Anwendungsbereich der Richtlinie 85/577 fielen und strengere nationale Maßnahmen darstellten, die im Rahmen dieser Richtlinie zulässig seien. Insbesondere sei die Richtlinie 2005/29 zu den bereits geltenden Verbraucherschutzvorschriften der Union hinzugetreten, ohne die Reichweite der Richtlinie 85/577 zu ändern oder einzuschränken, deren Anwendungsbereich den der Richtlinie 2005/29 ergänze.

70

Außerdem handele es sich bei den genannten Maßnahmen um Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie 2011/83, die das Königreich Belgien bis zum 13. Dezember 2013 habe erlassen müssen.

Würdigung durch den Gerichtshof

71

Zunächst ist – wie der Generalanwalt in Nr. 79 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – offensichtlich, dass die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen, mit denen bestimmte Verkäufe im Wandergewerbe verboten werden, zum einen in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/29 fallen, da diese Verkäufe Geschäftspraktiken im Sinne von Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie darstellen, und zum anderen mit der Richtlinie 85/577 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen im Einklang stehen können, deren in ihrem Art. 8 enthaltene Mindestharmonisierungsklausel den Mitgliedstaaten erlaubt, „noch günstigere Verbraucherschutzbestimmungen auf dem Gebiet dieser Richtlinie“ zu erlassen oder beizubehalten.

72

Art. 4 der Richtlinie 2005/29 steht der Beibehaltung restriktiverer nationaler Maßnahmen entgegen, wobei Art. 3 Abs. 5 dieser Richtlinie allerdings zugesteht, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … für einen Zeitraum von sechs Jahren ab dem 12. Juni 2007 in dem durch diese Richtlinie angeglichenen Bereich nationale Vorschriften beibehalten [können], die restriktiver oder strenger sind als diese Richtlinie und zur Umsetzung von Richtlinien erlassen wurden und die Klauseln über eine Mindestangleichung enthalten“.

73

Aus Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie geht demzufolge klar hervor, dass die Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit haben, restriktivere oder strengere nationale Bestimmungen beizubehalten, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie 2005/29 bereits bestanden haben.

74

Art. 4 § 3 des Gesetzes vom 25. Juni 1993 und Art. 5 Abs. 1 des Königlichen Erlasses vom 24. September 2006 sind aber am 4. Juli 2005 bzw. 24. September 2006 in Kraft getreten, also nach dem Inkrafttreten der Richtlinie 2005/29. Das Königreich Belgien hat daher keine zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie bestehenden nationalen Rechtsvorschriften beibehalten.

75

Folglich ergibt sich aus Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2005/29, dass diese den fraglichen nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht.

76

Hinsichtlich des Vorbringens des Königreichs Belgien, dass sich die in Rede stehende nationale Regelung auf die Richtlinie 2011/83 stütze, genügt die Feststellung, dass diese Richtlinie zum Zeitpunkt des Ablaufs der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde, am 15. Mai 2011, noch nicht in Kraft war; in Anbetracht der in Rn. 45 des vorliegenden Urteils genannten Grundsätze kann diesem Vorbringen somit kein Erfolg beschieden sein.

77

Aufgrund dieser Erwägungen ist die dritte Rüge der Kommission für begründet zu erklären.

78

Nach alledem hat das Königreich Belgien somit dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 2 Buchst. b und d, 3 und 4 der Richtlinie 2005/29 verstoßen, dass es vom Anwendungsbereich des Gesetzes vom 14. Juli 1991, mit dem die Richtlinie 2005/29 in innerstaatliches Recht umgesetzt wurde, Freiberufler sowie Zahnärzte und Heilgymnasten ausgenommen und die Art. 20, 21 und 29 des Gesetzes vom 6. April 2010 sowie Art. 4 § 1 Abs. 3 des Gesetzes vom 25. Juni 1993 und Art. 5 Abs. 1 des Königlichen Erlasses vom 24. September 2006 beibehalten hat.

Kosten

79

Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung des Königreichs Belgien beantragt hat und dieses mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Das Königreich Belgien hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 2 Buchst. b und d, 3 und 4 der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) verstoßen, dass es

vom Anwendungsbereich des Gesetzes vom 14. Juli 1991 über die Handelspraktiken sowie die Aufklärung und den Schutz der Verbraucher in der Fassung, die es durch das Gesetz vom 5. Juni 2007, mit dem die Richtlinie 2005/29 in innerstaatliches Recht umgesetzt wurde, erhalten hatte, Freiberufler sowie Zahnärzte und Heilgymnasten ausgenommen hat,

– die Art. 20, 21 und 29 des Gesetzes vom 6. April 2010 über Marktpraktiken und Verbraucherschutz beibehalten hat und

Art. 4 § 1 Abs. 3 des Gesetzes vom 25. Juni 1993 über die Ausübung und Organisation des Wander- und Kirmesgewerbes in der durch das Gesetz vom 4. Juli 2005 geänderten Fassung sowie Art. 5 Abs. 1 des Königlichen Erlasses vom 24. September 2006 über die Ausübung und die Organisation des Wandergewerbes beibehalten hat.

 

2.

Das Königreich Belgien trägt die Kosten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.