URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

10. Juli 2014 ( *1 )

„Vorabentscheidungsersuchen — Öffentliche Aufträge — Aufträge, die nicht die in der Richtlinie 2004/18/EG vorgesehene Schwelle erreichen — Art. 49 AEUV und 56 AEUV — Grundsatz der Verhältnismäßigkeit — Voraussetzungen für den Ausschluss eines Ausschreibungsverfahrens — Eignungskriterien hinsichtlich der persönlichen Lage des Bieters — Verpflichtungen zur Zahlung der Sozialbeiträge — Begriff des schwerwiegenden Verstoßes — Differenz zwischen den geschuldeten und den entrichteten Beträgen von mehr als 100 Euro und mehr als 5 % der geschuldeten Beträge“

In der Rechtssache C‑358/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale amministrativo regionale per la Lombardia (Italien) mit Entscheidung vom 15. März 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juli 2012, in dem Verfahren

Consorzio Stabile Libor Lavori Pubblici

gegen

Comune di Milano,

Beteiligte:

Pascolo Srl,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung von Herrn A. Rosas in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zehnten Kammer und der Richter D. Šváby und C. Vajda (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,

auf die mündliche Verhandlung vom 11. Juli 2013,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Consorzio Stabile Libor Lavori Pubblici, vertreten durch N. Seminara, R. Invernizzi und M. Falsanisi, avvocati,

der Comune di Milano, vertreten durch M. Maffey und S. Pagano, avvocati,

der Pascolo Srl, vertreten durch A. Tornitore, F. Femiano, G. Fuzier und G. Sorrentino, avvocati,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Aiello, avvocato dello Stato,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und M. Szpunar als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Tokár und L. Pignataro-Nolin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 AEUV, 56 AEUV und 101 AEUV.

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Consorzio Stabile Libor Lavori Pubblici (im Folgenden: Libor) und der Comune di Milano (Stadt Mailand), über die Entscheidung Letzterer, die endgültige Erteilung des Zuschlags für einen öffentlichen Bauauftrag an Libor mit der Begründung aufzuheben, Libor habe gegen seine Verpflichtungen zur Zahlung von Sozialbeiträgen in Höhe von 278 Euro verstoßen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Der zweite Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. L 134, S. 114) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1177/2009 der Kommission vom 30. November 2009 (ABl. L 314, S. 64) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2004/18) lautet:

„Die Vergabe von Aufträgen in den Mitgliedstaaten auf Rechnung des Staates, der Gebietskörperschaften und anderer Einrichtungen des öffentlichen Rechts ist an die Einhaltung der im Vertrag niedergelegten Grundsätze gebunden, insbesondere des Grundsatzes des freien Warenverkehrs, des Grundsatzes der Niederlassungsfreiheit und des Grundsatzes der Dienstleistungsfreiheit sowie der davon abgeleiteten Grundsätze wie z. B. des Grundsatzes der Gleichbehandlung, des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Grundsatzes der Transparenz. Für öffentliche Aufträge, die einen bestimmten Wert überschreiten, empfiehlt sich indessen die Ausarbeitung von auf diesen Grundsätzen beruhenden Bestimmungen zur gemeinschaftlichen Koordinierung der nationalen Verfahren für die Vergabe solcher Aufträge, um die Wirksamkeit dieser Grundsätze und die Öffnung des öffentlichen Beschaffungswesens für den Wettbewerb zu garantieren. Folglich sollten diese Koordinierungsbestimmungen nach Maßgabe der genannten Regeln und Grundsätze sowie gemäß den anderen Bestimmungen des Vertrags ausgelegt werden.“

4

Art. 7 der Richtlinie sieht Schwellenwerte vor, ab denen die darin enthaltenen Vorschriften zur Koordinierung der Vergabeverfahren der öffentlichen Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge zur Anwendung kommen. Für die öffentlichen Bauaufträge setzt Art. 7 Buchst. c der Richtlinie den geltenden Schwellenwert bei 4845000 Euro fest.

5

Art. 45 der Richtlinie 2004/18 betrifft die Eignungskriterien des Bewerbers oder Bieters hinsichtlich seiner persönlichen Lage. Art. 45 Abs. 2 bestimmt:

„Von der Teilnahme am Vergabeverfahren können alle Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden,

e)

die ihre Verpflichtung zur Zahlung der Sozialbeiträge nach den Rechtsvorschriften des Landes, in dem sie niedergelassen sind, oder des Landes des öffentlichen Auftraggebers nicht erfüllt haben;

f)

die ihre Verpflichtung zur Zahlung der Steuern und Abgaben nach den Rechtsvorschriften des Landes, in dem sie niedergelassen sind, oder des Landes des öffentlichen Auftraggebers nicht erfüllt haben;

Die Mitgliedstaaten legen nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Absatzes fest.“

Italienisches Recht

6

Das Decreto legislativo Nr. 163 zur Schaffung eines Gesetzbuchs über öffentliche Bau-, Dienstleistungs- und Lieferaufträge in Anwendung der Richtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG (decreto legislativo Nr. 163 – Codice dei contratti pubblici relativi a lavori, servizi e forniture in attuazione delle direttive 2004/17/CE e 2004/18/CE) vom 12. April 2006 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 100 vom 2. Mai 2006) in der durch das Decreto-legge Nr. 70 vom 13. Mai 2011 geänderten Fassung (GURI Nr. 110 vom 13. Mai 2011, S. 1), in ein Gesetz umgewandelt durch das Gesetz Nr. 106 vom 12. Juli 2011 (GURI Nr. 160 vom 12. Juli 2011, S. 1) (im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 163/2006), regelt in Italien umfassend die Vergabeverfahren für öffentliche Aufträge im Bau-, Dienstleistungs- und Liefersektor.

7

Das Decreto legislativo Nr. 163/2006 enthält in seinem Teil II unter den Regeln, die unabhängig von der Auftragshöhe gelten, den Art. 38, der die allgemeinen Voraussetzungen für die Teilnahme an den Vergabeverfahren für Konzessionen und öffentliche Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge festlegt. Art. 38 Abs. 1 Buchst. i dieses Decreto legislativo bestimmt:

„(1)   Von der Teilnahme an Vergabeverfahren für Konzessionen und öffentliche Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge und von der Vergabe von Subaufträgen und Verträgen im Zusammenhang mit diesen Aufträgen ausgeschlossen sind Personen, die

i)

endgültig festgestellte, schwerwiegende Verstöße gegen die Bestimmungen im Bereich der Sozialversicherungsbeiträge nach den italienischen Rechtsvorschriften oder den Rechtsvorschriften des Landes, in dem sie niedergelassen sind, begangen haben“.

8

Art. 38 Abs. 2 des Decreto legislativo definiert das Kriterium der Schwere der Verstöße gegen die geltenden Bestimmungen für die Entrichtung der Beiträge an die Sozialversicherungsträger. Er sieht im Wesentlichen vor, dass im Sinne von Art. 38 Abs. 1 Buchst. i dieses Decreto legislativo Verstöße als schwerwiegend angesehen werden, wenn sie der Ausstellung des Einheitlichen Dokuments über die ordnungsgemäße Erfüllung der Beitragsverpflichtungen (Documento Unico di Regolarità Contributiva, im Folgenden: DURC) entgegenstehen.

9

Welche Verstöße der Ausstellung des DURC entgegenstehen, ist wiederum in einem Erlass des Ministeriums für Arbeit und Sozialversicherung zur Regelung des Einheitlichen Dokuments über die ordnungsgemäße Erfüllung der Beitragsverpflichtungen (Decreto del Ministero del lavoro e della previdenza sociale – che disciplina il documento unico di regolarità contributiva) vom 24. Oktober 2007 (GURI Nr. 279 vom 30. November 2007, S. 11) festgelegt. Art. 8 Abs. 3 dieses Ministerialerlasses lautet:

„Soweit es nur um die Teilnahme an einer Ausschreibung für einen öffentlichen Auftrags geht, steht eine nicht bedeutende Differenz zwischen den geschuldeten und den entrichteten Beträgen in Bezug auf jeden Sozialversicherungsträger und jede Bauarbeiterkasse der Ausstellung des DURC nicht entgegen. Als nicht bedeutend wird eine Differenz unter oder in Höhe von 5% zwischen den geschuldeten und den entrichteten Beträgen hinsichtlich jedes Entrichtungs- oder Beitragszeitraums oder jedenfalls eine Differenz unter 100 Euro angesehen, wobei der genannte Betrag innerhalb von dreißig Tagen nach Ausstellung des DURC entrichtet werden muss.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

10

Mit einer am 6. Juni 2011 veröffentlichten Bekanntmachung wies die Comune di Milano auf eine Ausschreibung zur Vergabe des Auftrags über „die Arbeiten der außergewöhnlichen Instandhaltung und Einbruchssicherung bei Wohnbauten im Eigentum der Comune di Milano“ hin, der nach dem Kriterium des größten Abschlags von einem Ausschreibungsgrundbetrag in Höhe von 4784914,61 Euro vergeben werden sollte.

11

Die Ausschreibung verlangte ausdrücklich von jedem Bewerber unter Androhung des Ausschlusses eine Erklärung, dass er die in Art. 38 des Decreto legislativo Nr. 163/2006 vorgesehenen allgemeinen Voraussetzungen für die Teilnahme an der Ausschreibung erfüllt.

12

Libor stellte einen Antrag auf Teilnahme an der Ausschreibung und erklärte unter wörtlicher Bezugnahme auf Art. 38 Abs. 1 Buchst. i des Decreto legislativo Nr. 163/2006, „keine endgültig festgestellten, schwerwiegenden Verstöße gegen die Bestimmungen im Bereich der Sozialversicherungsbeiträge nach den italienischen Rechtsvorschriften begangen zu haben“.

13

Am Ende des Verfahrens erteilte die Comune di Milano Libor den Zuschlag und setzte es mit Schreiben vom 28. Juli 2011 von dieser Entscheidung in Kenntnis. Daraufhin überprüfte sie die Erklärung des Zuschlagsempfängers. Zu diesem Zweck erhielt sie von der zuständigen Verwaltung das DURC, aus dem sich ergab, dass Libor mit der Entrichtung seiner Sozialbeiträge in Verzug war, als es seinen Antrag auf Teilnahme an der Ausschreibung stellte, da es versäumt hatte, die Beiträge für Mai 2011, die für diesen Monat in einer Gesamthöhe von 278 Euro geschuldet waren, innerhalb der vorgesehenen Fristen abzuführen. Dieser Betrag wurde von Libor verspätet am 28. Juli 2011 abgeführt.

14

Wegen des Verstoßes gegen die Beitragsverpflichtungen, der sich aus dem DURC ergab, hob die Comune di Milano den endgültigen Zuschlag an Libor auf und schloss es vom Verfahren aus. Zur neuen Zuschlagsempfängerin bestimmte sie das Unternehmen Pascolo srl.

15

Libor erhob gegen diese Aufhebungsverfügung Klage beim Tribunale amministrativo regionale per la Lombardia und machte dabei insbesondere geltend, dass Art. 38 Abs. 2 des Decreto legislativo Nr. 163/2006 mit dem Unionsrecht unvereinbar sei.

16

Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts fällt die in Rede stehende Ausschreibung nicht unter die Richtlinie 2004/18, da der betreffende Auftragswert im Ausgangsverfahren unter der in Art. 7 Buchst. c der Richtlinie festgelegten Schwelle liege. Dennoch ist das Gericht der Ansicht, dass diese Ausschreibung von grenzüberschreitendem Interesse sei, so dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Grundregeln des AEUV einzuhalten seien. In dieser Hinsicht hegt es Zweifel an der Vereinbarkeit von Art. 38 Abs. 2 des Decreto legislativo Nr. 163/2006 mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Gleichbehandlung des Unionsrechts.

17

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts bewirkt diese Vorschrift durch Einführung eines ausschließlich gesetzlich festgelegten Begriffs der „Schwere“ des Verstoßes gegen die Beitragsverpflichtungen, dass dem öffentlichen Auftraggeber kein Beurteilungsspielraum bei der Feststellung bleibe, ob die Teilnahmekriterien in Bezug auf das Nichtvorliegen von Sozialbeitragsrückständen erfüllt seien. Ein solcher Ausschluss sei an sich mit dem Unionsrecht vereinbar, da er die Gleichbehandlung der verschiedenen Wirtschaftsteilnehmer, die sich an einer Ausschreibung beteiligten, verstärke.

18

Das vorlegende Gericht stellt sich jedoch die Frage der Vereinbarkeit der vom nationalen Gesetzgeber ausgearbeiteten Kriterien mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das Kriterium der Erfüllung der Beitragsverpflichtungen eines Unternehmens sei eingeführt worden, um die Zuverlässigkeit, die Sorgfalt und die Seriosität des Bieterunternehmens und seine Korrektheit gegenüber seinen eigenen Arbeitnehmern zu gewährleisten. Das vorlegende Gericht fragt sich, ob bei einem konkreten Vergabeverfahren eine Nichterfüllung dieser Voraussetzung wirklich einen aussagekräftigen Indikator für die Unzuverlässigkeit eines Unternehmens darstelle. Es handele sich nämlich um ein abstraktes Kriterium, das weder die Merkmale einer konkreten Ausschreibung in Bezug auf ihren Gegenstand und ihren tatsächlichen Wert noch den Umsatz und die Wirtschafts- und Finanzkraft des Unternehmens, das den Verstoß begangen habe, berücksichtige. Im Übrigen sei der Ausschluss eines Unternehmens von der Teilnahme an einer Ausschreibung in Fällen unverhältnismäßig, in denen der Verstoß wie im Ausgangsverfahren einen geringfügigen Betrag betreffe.

19

Das vorlegende Gericht äußert außerdem Bedenken hinsichtlich der Kohärenz zwischen den Voraussetzungen für den Ausschluss von einem Auftrag wegen Nichtabführens der Sozialbeiträge und den Voraussetzungen in Bezug auf die Nichtentrichtung an den Fiskus, nach denen nur Verstöße, die einen Betrag über 10000 Euro beträfen, als schwerwiegend eingestuft würden.

20

Vor diesem Hintergrund hat das Tribunale amministrativo regionale per la Lombardia beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der sich vom Recht auf Niederlassungsfreiheit und von den Grundsätzen der Nichtdiskriminierung und des Wettbewerbsschutzes nach den Art. 49 AEUV, 56 AEUV und 101 AEUV herleitet, sowie der darin enthaltene Grundsatz der Angemessenheit einer innerstaatlichen Vorschrift entgegen, die sowohl für öffentliche Aufträge oberhalb als auch für solche unterhalb des Schwellenwerts der Europäischen Union einen endgültig festgestellten Verstoß gegen die Beitragsverpflichtungen als schwerwiegenden Verstoß qualifiziert, wenn er über einen Betrag von 100 Euro hinausgeht und gleichzeitig die Differenz zwischen den geschuldeten und den entrichteten Beträgen hinsichtlich jedes Entrichtungs- oder Beitragszeitraums 5 % übersteigt, was zur Folge hat, dass der öffentliche Auftraggeber verpflichtet ist, den Bieter, der einen solchen Verstoß zu verantworten hat, von der Ausschreibung auszuschließen, ohne andere Aspekte, die hinsichtlich der Zuverlässigkeit des Bieters als Vertragspartner objektiv aussagekräftig sind, berücksichtigen zu können?

Zur Vorlagefrage

21

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass der Wert des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Auftrags unter dem in Art. 7 Buchst. c angegebenen Betrag liegt, auch wenn die im Ausgangsverfahren fraglichen innerstaatlichen Vorschriften, wie es in der Frage heißt, sowohl für öffentliche Aufträge oberhalb als auch für solche unterhalb des in Art. 7 der Richtlinie 2004/18 festgelegten Schwellenwerts für öffentliche Aufträge gelten.

22

Außerdem ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut dieser Frage als auch aus den Ausführungen des vorlegenden Gerichts, wie sie in Rn. 18 des vorliegenden Urteils zusammengefasst werden, dass sich das Gericht insbesondere die Frage der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften stellt.

23

Daher möchte das Gericht mit seiner Frage letztlich wissen, ob die Art. 49 AEUV, 56 AEUV und 101 AEUV sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die die öffentlichen Auftraggeber bei öffentlichen Bauaufträgen, deren Wert unter der in Art. 7 Buchst. c der Richtlinie 2004/18 festgelegten Schwelle liegt, verpflichten, einen Bieter, der sich einen Verstoß bei der Entrichtung der Sozialbeiträge zuschulden kommen lassen hat, vom Vergabeverfahren für einen solchen Auftrag auszuschließen, wenn die Differenz zwischen den geschuldeten und den entrichteten Beträgen mehr als 100 Euro und gleichzeitig mehr als 5 % der geschuldeten Beträge ausmacht.

24

Vorab ist zu bemerken, dass die Anwendung dieser Richtlinie auf einen öffentlichen Auftrag der Bedingung unterliegt, dass sein geschätzter Wert den in ihrem Art. 7 festgelegten einschlägigen Schwellenwert erreicht. Andernfalls gelten die Grundregeln und die allgemeinen Grundsätze des Vertrags, sofern an diesem Auftrag insbesondere wegen seiner Bedeutung und des Ortes seiner Ausführung ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil Ordine degli Ingegneri della Provincia di Lecce u. a., C‑159/11, EU:C:2012:817, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, das Vorhandensein eines solchen Interesses zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil Belgacom, C‑221/12, EU:C:2013:736, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Der im Ausgangsverfahren in Rede stehende öffentliche Bauauftrag erreicht zwar nicht die in Art. 7 Buchst. c dieser Richtlinie festgelegte Schwelle. Da aber an ihm nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht, kommen diese Grundregeln und allgemeinen Grundsätze daher im Ausgangsverfahren zur Anwendung.

26

Was die Vertragsbestimmungen betrifft, auf die sich das vorlegende Gericht bezieht, stellt ein Fall des Ausschlusses von einem Vergabeverfahren für einen öffentlichen Auftrag, wie er im Ausgangsverfahren in Rede steht, weder eine Vereinbarung zwischen Unternehmen noch einen Beschluss von Unternehmensvereinigungen noch eine aufeinander abgestimmte Verhaltensweise im Sinne von Art. 101 AEUV dar. Es besteht daher keine Veranlassung, eine nationale Vorschrift wie die im Ausgangsverfahren fragliche im Hinblick auf diesen Artikel zu prüfen.

27

Wie hingegen aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 hervorgeht, gehören zu den Grundsätzen des Vertrags, die bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen zu beachten sind, insbesondere die Grundsätze der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit sowie der Verhältnismäßigkeit.

28

Hinsichtlich der Art. 49 AEUV und 56 AEUV ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass sie jeder nationalen Maßnahme entgegenstehen, die zwar ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar ist, die aber geeignet ist, die Ausübung der durch diese Bestimmungen des Vertrags garantierten Freiheiten der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs durch die Bürger der Europäischen Union zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (vgl. insbesondere Urteil Serrantoni und Consorzio stabile edili, C‑376/08, EU:C:2009:808, Rn. 41).

29

Was die öffentlichen Aufträge anbelangt, liegt es im Bereich der Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit im Interesse der Union, dass Ausschreibungen einem möglichst umfassenden Wettbewerb offen stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil CoNISMa, C‑305/08, EU:C:2009:807, Rn. 37). Die Anwendung einer Bestimmung, die Personen von der Teilnahme an Vergabeverfahren für öffentliche Bauaufträge ausschließt, die sich schwerwiegende Verstöße gegen die geltenden innerstaatlichen Bestimmungen im Bereich der Sozialversicherungsbeiträge, wie etwa jene des Art. 38 Abs. 1 Buchst. i des Decreto legislativo Nr. 163/2006, zuschulden kommen haben lassen, kann die Teilnahme von möglichst vielen Bietern an Ausschreibungsverfahren verhindern.

30

Eine solche innerstaatliche Bestimmung, die geeignet ist, die Teilnahme von Bietern für einen öffentlichen Auftrag von eindeutigem grenzüberschreitenden Interesse zu verhindern, stellt eine Beschränkung im Sinne der Art. 49 AEUV und 56 AEUV dar.

31

Eine solche Beschränkung kann jedoch gerechtfertigt sein, wenn sie ein legitimes Ziel des Allgemeininteresses verfolgt und soweit sie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahrt, d. h. geeignet ist, dessen Erreichung zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Serrantoni und Consorzio stabile edili, EU:C:2009:808, Rn. 44).

32

In dieser Hinsicht ergibt sich zunächst aus der Vorlageentscheidung, dass das Ziel, das mit dem in Art. 38 Abs. 1 Buchst. i des Decreto legislativo Nr. 163/2006 festgelegten Grund für einen Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen verfolgt wird, darin besteht, die Zuverlässigkeit, die Sorgfalt und die Seriosität des Bieters und seine Korrektheit gegenüber seinen Arbeitnehmern zu gewährleisten. Es ist davon auszugehen, dass es ein legitimes Ziel des Allgemeininteresses darstellt, sich zu vergewissern, dass ein Bieter solche Eigenschaften besitzt.

33

Weiter ist festzustellen, dass ein Ausschlussgrund, wie ihn Art. 38 Abs. 1 Buchst. i des Decreto legislativo Nr. 163/2006 vorsieht, geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, da ein Zahlungsrückstand mit Sozialbeiträgen bei einem Wirtschaftsteilnehmer auf dessen mangelnde Zuverlässigkeit, Sorgfalt und Seriosität in Bezug auf die Einhaltung der gesetzlichen und sozialen Verpflichtungen hindeutet.

34

Schließlich ist hinsichtlich der Erforderlichkeit einer solchen Maßnahme erstens darauf hinzuweisen, dass die Festlegung einer eindeutigen Schwelle für den Ausschluss von der Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen – nämlich eine Differenz zwischen den an Sozialbeiträgen geschuldeten und den entrichteten Beträgen, die mehr als 100 Euro und gleichzeitig mehr als 5 % der geschuldeten Beträge ausmacht – in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht nur die Gleichbehandlung der Bieter gewährleistet, sondern auch die Rechtssicherheit, einen Grundsatz, dessen Einhaltung eine Voraussetzung für die Verhältnismäßigkeit einer beschränkenden Maßnahme darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil Itelcar, C‑282/12, EU:C:2013:629, Rn. 44).

35

Was zweitens die Höhe dieser in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften festgelegten Schwelle für den Ausschluss anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 45 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 bei öffentlichen Aufträgen, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen, die in ihm genannten Ausschlussfälle dem Ermessen der Mitgliedstaaten anheimstellt, wie der am Anfang dieser Bestimmung stehende Ausdruck „[v]on der Teilnahme am Vergabeverfahren kann … ausgeschlossen werden“ bezeugt, und insbesondere in den Buchst. e und f ausdrücklich auf die innerstaatlichen Rechtsvorschriften verweist (vgl. hinsichtlich Art. 29 der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge [ABl. L 209, S. 1] das Urteil La Cascina u. a., C‑226/04 und C‑228/04, EU:C:2006:94, Rn. 21). Außerdem legen die Mitgliedstaaten nach Unterabs. 2 des Art. 45 Abs. 2 nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unter Beachtung des Unionsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Absatzes fest.

36

Art. 45 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 verfolgt somit keine einheitliche Anwendung der in ihm angeführten Ausschlussgründe auf Unionsebene, da die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, diese Ausschlussgründe entweder überhaupt nicht anzuwenden oder aber diese Gründe je nach den auf nationaler Ebene maßgeblichen rechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Erwägungen im Einzelfall mit unterschiedlicher Strenge in die nationale Regelung aufzunehmen. In diesem Rahmen können die Mitgliedstaaten die in dieser Vorschrift festgelegten Kriterien abmildern oder flexibler gestalten (vgl. hinsichtlich Art. 29 der Richtlinie 92/50, Urteil La Cascina u. a., EU:C:2006:94, Rn. 23).

37

Art. 45 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/18 gestattet den Mitgliedstaaten, jeden Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an Vergabeverfahren auszuschließen, der seine Verpflichtungen zur Zahlung der Sozialbeiträge nicht erfüllt hat, ohne einen Mindestbetrag an Beitragsrückständen vorzusehen. Unter diesen Umständen stellt es eine flexiblere Gestaltung des in dieser Bestimmung genannten Ausschlusskriteriums dar, einen solchen Mindestbetrag im innerstaatlichen Recht vorzusehen, und kann von einer solchen Regelung nicht angenommen werden, dass sie über das Erforderliche hinausgeht. Dies trifft umso eher auf öffentliche Aufträge zu, die nicht die in Art. 7 Buchst. c dieser Richtlinie festgelegte Schwelle erreichen und daher nicht den darin vorgesehenen besonderen und strengen Verfahren unterworfen sind.

38

Im Übrigen ändert die Tatsache, dass die vom innerstaatlichen Recht für die Nichtentrichtung von Steuern und Abgaben vorgesehene Ausschlussschwelle, wie das vorlegende Gericht betont, deutlich höher ist als die Schwelle für die Zahlungen der Sozialbeiträge, für sich genommen nichts an der Verhältnismäßigkeit dieser Schwelle. Wie sich nämlich aus Rn. 36 des vorliegenden Urteils ergibt, steht es den Mitgliedstaaten frei, die insbesondere in Art. 45 Abs. 2 Buchst. e und f dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe je nach den auf nationaler Ebene maßgeblichen rechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Erwägungen im Einzelfall mit unterschiedlicher Strenge in die nationale Regelung aufzunehmen.

39

Außerdem unterscheidet sich ein solcher Fall von dem, der dem Urteil Hartlauer (C‑169/07, EU:C:2009:141) zugrunde lag, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass die in Rede stehende nationale Regelung nicht geeignet war, die Erreichung der verfolgten Ziele zu gewährleisten, da sie diese nicht in kohärenter und systematischer Weise verfolgte. Im Unterschied zu der in letzterem Urteil untersuchten Regelung beruht die Maßnahme, die Gegenstand des vorliegenden Ausgangsverfahrens ist, wie sich aus Rn. 34 des vorliegenden Urteils ableitet, auf objektiven, nicht diskriminierenden und im Voraus bekannten Kriterien (vgl. in diesem Sinne Urteil Hartlauer, EU:C:2009:141, Rn. 64).

40

Daher ist von einer innerstaatlichen Maßnahme wie der des Ausgangsverfahrens nicht anzunehmen, dass sie über das für die Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgeht.

41

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 49 AEUV und 56 AEUV sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, die die öffentlichen Auftraggeber bei öffentlichen Bauaufträgen, deren Wert unter der in Art. 7 Buchst. c der Richtlinie 2004/18 festgelegten Schwelle liegt, verpflichten, einen Bieter, der sich einen Verstoß bei der Entrichtung der Sozialbeiträge zuschulden kommen lassen hat, vom Vergabeverfahren für einen solchen Auftrag auszuschließen, wenn die Differenz zwischen den geschuldeten und den entrichteten Beträgen mehr als 100 Euro und gleichzeitig mehr als 5 % der geschuldeten Beträge ausmacht.

Kosten

42

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

 

1. Die Art. 49 AEUV und 56 AEUV sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind dahin auszulegen, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, die die öffentlichen Auftraggeber bei öffentlichen Bauaufträgen, deren Wert unter der in Art. 7 Buchst. c der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1177/2009 der Kommission vom 30. November 2009 geänderten Fassung festgelegten Schwelle liegt, verpflichten, einen Bieter, der sich einen Verstoß bei der Entrichtung der Sozialbeiträge zuschulden kommen lassen hat, vom Vergabeverfahren für einen solchen Auftrag auszuschließen, wenn die Differenz zwischen den geschuldeten und den entrichteten Beträgen mehr als 100 Euro und gleichzeitig mehr als 5 % der geschuldeten Beträge ausmacht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.