URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

11. April 2013 ( *1 )

„Verordnung (EG) Nr. 44/2001 — Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 Nr. 1 — Begriff ‚Zivil- und Handelssache‘ — Rechtsgrundlos geleistete Zahlung einer staatlichen Stelle — Rückforderung der Zahlung in einem Gerichtsverfahren — Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit im Fall der Konnexität — Enger Zusammenhang zwischen den Klagen — Beklagter mit Wohnsitz in einem Drittstaat“

In der Rechtssache C-645/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 18. November 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Dezember 2011, in dem Verfahren

Land Berlin

gegen

Ellen Mirjam Sapir,

Michael J. Busse,

Mirjam M. Birgansky,

Gideon Rumney,

Benjamin Ben-Zadok,

Hedda Brown

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter E. Jarašiūnas und A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters C. G. Fernlund,

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der deutschen Regierung, vertreten durch K. Petersen als Bevollmächtigte,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und S. Nunes de Almeida als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 28. November 2012

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits des Landes Berlin gegen Frau Sapir, Herrn Busse, Frau Birgansky, Herrn Rumney, Herrn Ben-Zadok, Frau Brown und fünf weitere Personen wegen der Erstattung eines Betrags, der im Anschluss an ein Verwaltungsverfahren, das der Wiedergutmachung des bei Verfolgungen durch das NS-Regime aufgrund des Verlusts eines Grundstücks entstandenen Schadens diente, irrtümlich zu viel gezahlt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung Nr. 44/2001

3

Die Erwägungsgründe 7 bis 9 und 11 der Verordnung Nr. 44/2001 lauten:

„(7)

Der sachliche Anwendungsbereich dieser Verordnung sollte sich, von einigen genau festgelegten Rechtsgebieten abgesehen, auf den wesentlichen Teil des Zivil- und Handelsrechts erstrecken.

(8)

Rechtsstreitigkeiten, die unter diese Verordnung fallen, müssen einen Anknüpfungspunkt an das Hoheitsgebiet eines der Mitgliedstaaten aufweisen, die durch diese Verordnung gebunden sind. Gemeinsame Zuständigkeitsvorschriften sollten demnach grundsätzlich dann Anwendung finden, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz in einem dieser Mitgliedstaaten hat.

(9)

Beklagte ohne Wohnsitz in einem Mitgliedstaat unterliegen im Allgemeinen den nationalen Zuständigkeitsvorschriften, die im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats gelten, in dem sich das angerufene Gericht befindet, während Beklagte mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, der durch diese Verordnung nicht gebunden ist, weiterhin dem [Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32, im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen)] unterliegen.

(11)

Die Zuständigkeitsvorschriften müssen in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten, und diese Zuständigkeit muss stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte zu vermeiden.“

4

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 definiert ihren sachlichen Anwendungsbereich wie folgt:

„Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.“

5

Die allgemeinen Zuständigkeitsvorschriften für Klagen gegen eine im Hoheitsgebiet der Europäischen Union ansässige Person sind in den Art. 2 und 3 der Verordnung vorgesehen, die zu Abschnitt 1 („Allgemeine Vorschriften“) ihres Kapitels II gehören.

6

Art. 2 Abs. 1 der Verordnung lautet:

„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.“

7

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung sieht vor:

„Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, können vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 dieses Kapitels verklagt werden.“

8

Hinsichtlich der Klagen gegen eine in einem Drittstaat ansässige Person bestimmt Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001, der ebenfalls zu Abschnitt 1 ihres Kapitels II gehört:

„Hat der Beklagte keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, so bestimmt sich vorbehaltlich der Artikel 22 und 23 die Zuständigkeit der Gerichte eines jeden Mitgliedstaats nach dessen eigenen Gesetzen.“

9

Art. 5 und Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001, die zu Abschnitt 2 („Besondere Zuständigkeiten“) ihres Kapitels II gehören, lauten:

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:

…“

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann auch verklagt werden:

1.

wenn mehrere Personen zusammen verklagt werden, vor dem Gericht des Ortes, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten“.

Deutsches Recht

10

Im Ausgangsverfahren sind die Bestimmungen des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen (im Folgenden: Vermögensgesetz) und des Gesetzes über den Vorrang für Investitionen bei Rückübertragungsansprüchen nach dem Vermögensgesetz (im Folgenden: Investitionsvorranggesetz) anzuwenden.

11

Der Geltungsbereich des Vermögensgesetzes ist in dessen § 1 Abs. 1 und 6 wie folgt festgelegt:

„Dieses Gesetz regelt vermögensrechtliche Ansprüche an Vermögenswerten, die … entschädigungslos enteignet und in Volkseigentum überführt wurden …

Dieses Gesetz ist entsprechend auf vermögensrechtliche Ansprüche von Bürgern und Vereinigungen anzuwenden, die in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden und deshalb ihr Vermögen infolge von Zwangsverkäufen, Enteignungen oder auf andere Weise verloren haben. …“

12

In § 3 Abs. 1 des Vermögensgesetzes heißt es zur Rückübertragung von Vermögenswerten:

„Vermögenswerte, die den Maßnahmen im Sinne des § 1 unterlagen und in Volkseigentum überführt oder an Dritte veräußert wurden, sind auf Antrag an die Berechtigten zurückzuübertragen, soweit dies nicht … ausgeschlossen ist …“

13

Um zu verhindern, dass solche Ansprüche infolge eines gutgläubigen lastenfreien Erwerbs des betreffenden Vermögenswerts nicht mehr erfolgreich geltend gemacht werden können, besteht nach § 3 Abs. 3 des Vermögensgesetzes ein Verbot der Veräußerung von Grundstücken, die Gegenstand eines Antrags auf Rückübertragung nach diesem Gesetz sind.

14

Das Investitionsvorranggesetz sieht eine Ausnahme von diesen Grundsätzen vor, damit in den neuen Bundesländern erforderliche Investitionen nicht daran scheitern, dass wegen der Anmeldung von Rückübertragungsansprüchen nach dem Vermögensgesetz Grundstücke nicht an einen Investor verkauft werden können.

15

Daher sieht § 1 des Investitionsvorranggesetzes vor:

„Grundstücke …, die Gegenstand von Rückübertragungsansprüchen nach dem Vermögensgesetz sind oder sein können, dürfen nach Maßgabe der nachfolgenden Vorschriften ganz oder teilweise für besondere Investitionszwecke verwendet werden. Der Berechtigte erhält in diesen Fällen einen Ausgleich nach Maßgabe dieses Gesetzes.“

16

In § 16 Abs. 1 des Investitionsvorranggesetzes heißt es: „Ist … die Rückübertragung des Vermögenswertes nicht möglich, so kann jeder Berechtigte nach Feststellung oder Nachweis seiner Berechtigung … die Zahlung eines Geldbetrages in Höhe aller auf den von ihm zu beanspruchenden Vermögenswert entfallenden Geldleistungen aus dem Vertrag verlangen. Über diesen Anspruch ist … durch Bescheid des Amtes oder Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen zu entscheiden. Ist ein Erlös nicht erzielt worden … [oder] unterschreitet dieser den Verkehrswert, den der Vermögenswert in dem Zeitpunkt hat, in dem der Investitionsvorrangbescheid vollziehbar wird, … so kann der Berechtigte innerhalb eines Jahres … [die] Zahlung des Verkehrswertes gerichtlich geltend machen …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17

Julius Busse war Eigentümer eines Grundstücks im früheren Ostteil von Berlin. Er wurde im Dritten Reich vom NS-Regime verfolgt und musste im Jahr 1938 sein Grundstück an einen Dritten verkaufen. Dieses Grundstück wurde später durch die Deutsche Demokratische Republik enteignet und im Rahmen einer Flurbereinigung mit weiteren Grundstücken dieses Staates zusammengelegt. Das so entstandene Gesamtareal wurde nach der Wiedervereinigung Deutschlands Eigentum teils des Landes Berlin, teils der Bundesrepublik Deutschland.

18

Am 5. September 1990 beantragten die Beklagten zu 1 bis 10 des Ausgangsverfahrens, von denen Frau Sapir, Frau Birgansky, Herr Rumney und Herr Ben-Zadok in Israel, Herr Busse im Vereinigten Königreich und Frau Brown in Spanien wohnhaft sind, als Rechtsnachfolger des ursprünglichen Eigentümers die Rückübertragung des früher ihm gehörenden Teils dieses Gesamtareals nach dem Vermögensgesetz.

19

Im Jahr 1997 machten das Land Berlin und die Bundesrepublik Deutschland von § 1 des Investitionsvorranggesetzes Gebrauch und verkauften das nach der genannten Flurbereinigung entstandene Gesamtareal vollständig an einen Investor.

20

Im Anschluss an den Verkauf stellte die zuständige Behörde fest, dass nach nationalem Recht die Beklagten zu 1 bis 10 zwar nicht die Rückübertragung des Grundstücks verlangen könnten, doch Anspruch darauf hätten, dass ihnen der anteilige Verkaufserlös aus der Veräußerung des Gesamtareals ausgekehrt oder der Verkehrswert des Grundstücks ausgezahlt werde. Die Behörde wies das Land Berlin, den Kläger des Ausgangsverfahrens, an, den Beklagten zu 1 bis 10 den auf das Grundstück von Julius Busse entfallenden Teil des Verkaufserlöses auszukehren.

21

Bei der Durchführung der fraglichen Auszahlung unterlief dem Land Berlin, das auch für die Bundesrepublik Deutschland handelte, jedoch ein Fehler. Es überwies dem mit der Vertretung der Beklagten zu 1 bis 10 beauftragten Rechtsanwalt nämlich versehentlich den Gesamtkaufpreis, den dieser sodann unter den genannten Beklagten verteilte.

22

Im Ausgangsverfahren fordert das Land Berlin von den Beklagten den zu viel gezahlten Betrag zurück, den es auf 2,5 Mio. Euro beziffert. Es hat die Beklagten zu 1 bis 10 als Rechtsnachfolger von Julius Busse wegen ungerechtfertigter Bereicherung und den mit ihrer Vertretung beauftragten Rechtsanwalt, den Beklagten zu 11, wegen unerlaubter Handlung vor dem Landgericht Berlin verklagt.

23

Die Beklagten des Ausgangsverfahrens sind dieser Klage entgegengetreten und machen geltend, dem Landgericht Berlin fehle die internationale Zuständigkeit für die Entscheidung über die Klage gegen die im Vereinigten Königreich, in Spanien und in Israel wohnhaften Beklagten des Ausgangsverfahrens, nämlich Frau Sapir, Herrn Busse, Frau Birgansky, Herrn Rumney, Herrn Ben-Zadok und Frau Brown.

24

Im Übrigen könnten sie eine über den ihnen am Verkaufserlös zustehenden Anteil hinausgehende Zahlung verlangen, weil der Verkaufserlös geringer sei als der Verkehrswert des ehemals Julius Busse gehörenden Grundstücks. Daher sei die Klage offensichtlich unbegründet.

25

Das Landgericht Berlin hat die Klage des Landes Berlin gegen die im Vereinigten Königreich, in Spanien und in Israel wohnhaften Beklagten des Ausgangsverfahrens mit einem Teilurteil als unzulässig abgewiesen. Die Berufung des Landes Berlin ist ebenfalls ohne Erfolg geblieben.

26

Das Berufungsgericht war nämlich der Ansicht, dass den deutschen Gerichten insofern die internationale Zuständigkeit zur Entscheidung über die Klage gegen Frau Sapir, Herrn Busse, Frau Birgansky, Herrn Rumney, Herrn Ben-Zadok und Frau Brown fehle. Dieser Rechtsstreit sei keine Zivilsache im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001, sondern falle unter das öffentliche Recht, auf das die Verordnung nicht anwendbar sei.

27

Mit der Revision möchte der Kläger des Ausgangsverfahrens erreichen, dass das Landgericht Berlin über seine Ansprüche auch gegen diese Beklagten des Ausgangsverfahrens in der Sache entscheidet.

28

Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist die Rückforderung einer ohne Rechtsgrund geleisteten Zahlung auch dann eine Zivilsache im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001, wenn ein Bundesland durch eine Behörde angewiesen wird, zur Wiedergutmachung einen Teil des Erlöses aus einem Grundstückskaufvertrag an den Geschädigten auszuzahlen, stattdessen aber versehentlich den ganzen Kaufpreis an diesen überweist?

2.

Besteht die nach Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 erforderliche enge Beziehung mehrerer Klagen auch, wenn sich die Beklagten auf weiter gehende Wiedergutmachungsansprüche berufen, über die nur einheitlich entschieden werden kann?

3.

Ist Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 auch auf Beklagte anwendbar, die ihren Wohnsitz nicht in der Europäischen Union haben? Wenn ja: Gilt das auch, wenn dem Urteil im Wohnsitzstaat des Beklagten nach bilateralen Abkommen mit dem Entscheidungsstaat die Anerkennung mangels Zuständigkeit versagt werden könnte?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

29

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Zivil- und Handelssache“ eine Klage auf Erstattung einer ohne Rechtsgrund geleisteten Zahlung umfasst, wenn eine öffentliche Stelle durch eine Behörde, die durch ein Gesetz zur Wiedergutmachung von Verfolgungen seitens eines totalitären Regimes geschaffen wurde, angewiesen worden ist, einem Geschädigten zur Wiedergutmachung einen Teil des Erlöses aus einem Grundstückskaufvertrag auszuzahlen, stattdessen aber versehentlich den gesamten Kaufpreis an diese Person überwiesen hat und anschließend die ohne Rechtsgrund geleistete Zahlung gerichtlich zurückfordert.

30

Der Bundesgerichtshof weist in der Vorlageentscheidung darauf hin, dass er daran unter mehreren Aspekten Zweifel habe. Zum einen gehe es um die Erstattung eines Geldbetrags, den das Land Berlin irrtümlich an die Beklagten des Ausgangsverfahrens gezahlt habe, wobei sich diese Erstattung nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung in § 812 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs richte, die jeden Empfänger einer nicht geschuldeten Leistung zu deren Rückgewähr verpflichteten. Zum anderen sei Anlass der Zahlung kein fiskalisches Rechtsgeschäft des Landes Berlin gewesen, sondern ein Verwaltungsverfahren.

31

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung des Brüsseler Übereinkommens, da die Verordnung Nr. 44/2001 nunmehr im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten an die Stelle dieses Übereinkommens getreten ist, auch für die Verordnung gilt, soweit deren Vorschriften und die des Brüsseler Übereinkommens als gleichwertig angesehen werden können (vgl. u. a. Urteil vom 18. Oktober 2011, Realchemie Nederland, C-406/09, Slg. 2011, I-9773, Randnr. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Hierzu ist festzustellen, dass der Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 44/2001 wie der des Brüsseler Übereinkommens durch den Begriff der Zivil- und Handelssachen begrenzt wird. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs wird dieser Anwendungsbereich im Wesentlichen durch die Natur der zwischen den Parteien des Rechtsstreits bestehenden Rechtsbeziehungen oder durch dessen Gegenstand abgegrenzt (vgl. u. a. Urteil vom 15. Februar 2007, Lechouritou u. a., C-292/05, Slg. 2007, I-1519, Randnr. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

So hat der Gerichtshof entschieden, dass zwar bestimmte Rechtsstreitigkeiten, in denen sich eine Behörde und eine Privatperson gegenüberstehen, in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 44/2001 fallen können, doch verhält es sich anders, wenn die Behörde in Ausübung hoheitlicher Befugnisse tätig wird (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 28. April 2009, Apostolides, C-420/07, Slg. 2009, I-3571, Randnr. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 19. Juli 2012, Mahamdia, C-154/11, Randnr. 56).

34

Ob dies in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens der Fall ist, ist daher anhand der Grundlage der erhobenen Klage und der Modalitäten ihrer Erhebung zu ermitteln (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. November 2002, Baten, C-271/00, Slg. 2002, I-10489, Randnr. 31, und vom 15. Mai 2003, Préservatrice foncière TIARD, C-266/01, Slg. 2003, I-4867, Randnr. 23).

35

Wie das vorlegende Gericht hervorhebt, stützt sich der Wiedergutmachungsanspruch, der zum Ausgangsverfahren geführt hat, auf nationale Bestimmungen – konkret auf das Vermögensgesetz und das Investitionsvorranggesetz zur Entschädigung der Opfer des NS-Regimes –, die für alle Eigentümer von Grundstücken, die mit Restitutionsansprüchen belastet sind, identisch sind. Sie schreiben nämlich dieselbe Entschädigungspflicht vor, ohne danach zu unterscheiden, ob der Eigentümer des belasteten Grundstücks eine Privatperson oder eine staatliche Stelle ist.

36

Wie ferner aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, findet auf Wiedergutmachungsansprüche von Geschädigten dasselbe Verwaltungsverfahren Anwendung, unabhängig davon, welche Eigenschaft der betreffende Eigentümer hat. Zudem genießt in diesem Verfahren der Eigentümer, sei es eine Privatperson oder ein Hoheitsträger, bei der Festsetzung der Restitutionsansprüche des Geschädigten keine Sonderrechte in Bezug auf die Entscheidung.

37

Im Übrigen ist hervorzuheben, dass die Klage im Ausgangsverfahren die Erstattung des vom Land Berlin bei der Erfüllung der Zahlungsansprüche der Geschädigten irrtümlich zu viel gezahlten Betrags betrifft. Zum einen ist die Erstattung dieser Überzahlung aber nicht Teil des im Vermögensgesetz und im Investitionsvorranggesetz vorgesehenen Verwaltungsverfahrens. Zum anderen muss der Eigentümer – unabhängig davon, ob es sich um einen Hoheitsträger oder eine Privatperson handelt – die Geschädigten vor den Zivilgerichten auf Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verklagen. Außerdem sind Rechtsgrundlage dieser Erstattung die in § 812 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs enthaltenen Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung.

38

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Zivil- und Handelssache“ eine Klage auf Erstattung einer ohne Rechtsgrund geleisteten Zahlung umfasst, wenn eine öffentliche Stelle durch eine Behörde, die durch ein Gesetz zur Wiedergutmachung von Verfolgungen seitens eines totalitären Regimes geschaffen wurde, angewiesen worden ist, einem Geschädigten zur Wiedergutmachung einen Teil des Erlöses aus einem Grundstückskaufvertrag auszuzahlen, stattdessen aber versehentlich den gesamten Kaufpreis an diese Person überwiesen hat und anschließend die ohne Rechtsgrund geleistete Zahlung gerichtlich zurückfordert.

Zur zweiten Frage

39

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass zwischen den Klagen gegen mehrere Beklagte, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten haben, eine enge Beziehung im Sinne dieser Bestimmung besteht, wenn sich diese Beklagten unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens auf weiter gehende Wiedergutmachungsansprüche berufen, über die einheitlich entschieden werden muss.

40

Nach der Zuständigkeitsregel des Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 kann eine Person, wenn mehrere Personen zusammen verklagt werden, vor dem Gericht des Ortes, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, verklagt werden, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten (vgl. Urteil vom 1. Dezember 2011, Painer, C-145/10, Slg. 201, I-12533, Randnr. 73).

41

Diese Sonderregel, die von der Grundregel des Gerichtsstands des Wohnsitzes des Beklagten in Art. 2 dieser Verordnung abweicht, ist in der Weise eng auszulegen, dass sie eine Auslegung über die ausdrücklich in der Verordnung vorgesehenen Fälle hinaus nicht zulässt (vgl. Urteil Painer, Randnr. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Für die Anwendung von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 ist zu prüfen, ob zwischen den verschiedenen Klagen eines Klägers gegen verschiedene Beklagte ein Zusammenhang besteht, der eine gemeinsame Entscheidung geboten erscheinen lässt, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten (vgl. Urteil vom 11. Oktober 2007, Freeport, C-98/06, Slg. 2007, I-8319, Randnr. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Hinsichtlich dieses Zusammenhangs hat der Gerichtshof entschieden, dass Entscheidungen nicht schon deswegen als einander widersprechend betrachtet werden können, weil es zu einer abweichenden Entscheidung des Rechtsstreits kommt, sondern dass diese Abweichung außerdem bei derselben Sach- und Rechtslage auftreten muss (vgl. Urteile Freeport, Randnr. 40, und Painer, Randnr. 79).

44

Dem ist hinzuzufügen, dass sich dem Wortlaut von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 nicht entnehmen lässt, dass die Übereinstimmung der Rechtsgrundlagen von Klagen gegen verschiedene Beklagte zu den Anwendungsvoraussetzungen dieser Vorschrift gehört. Eine solche Übereinstimmung ist nur einer von mehreren relevanten Faktoren (vgl. Urteil Painer, Randnrn. 76 und 80).

45

Im vorliegenden Fall liegt der Klage des Ausgangsverfahrens, die sich auf einen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung bzw., im Fall des Beklagten zu 11, aus unerlaubter Handlung stützt, und den gegen sie von den Beklagten zu 1 bis 10 vorgebrachten Verteidigungsmitteln, mit denen weiter gehende Wiedergutmachungsansprüche geltend gemacht werden, dieselbe Sach- und Rechtslage zugrunde, nämlich der den Beklagten zu 1 bis 10 zuerkannte Wiedergutmachungsanspruch nach dem Vermögensgesetz und dem Investitionsvorranggesetz und die vom Land Berlin irrtümlich zugunsten dieser Beklagten vorgenommene Überweisung des streitigen Betrags.

46

Des Weiteren kommt, wie die deutsche Regierung hervorgehoben hat, als Rechtsgrund, den die Beklagten des Ausgangsverfahrens für die erhaltene Überzahlung geltend machen könnten, allein ein Anspruch nach dem Vermögensgesetz und dem Investitionsvorranggesetz in Betracht, was ebenfalls eine Beurteilung für alle Beklagten anhand derselben Sach- und Rechtslage erfordert. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Beurteilung der Rechtsgrundlage der als Verteidigungsmittel geltend gemachten weiter gehenden Wiedergutmachungsansprüche insofern eine Vorfrage der Klage des Ausgangsverfahrens ist, als deren Begründetheit vom Bestehen oder Nichtbestehen dieser Wiedergutmachungsansprüche abhängt.

47

Diese Einheitlichkeit besteht ungeachtet dessen, dass sich die Klage im Fall des Beklagten zu 11 auf eine andere Rechtsgrundlage stützt als im Fall der Beklagten zu 1 bis 10. Wie die Generalanwältin in Nr. 99 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, sind die verschiedenen im Ausgangsverfahren geltend gemachten Ansprüche nämlich auf dasselbe Interesse gerichtet, und zwar auf Rückzahlung des irrtümlich angewiesenen Betrags.

48

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass zwischen den Klagen gegen mehrere Beklagte, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten haben, eine enge Beziehung im Sinne dieser Bestimmung besteht, wenn sich diese Beklagten unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens auf weiter gehende Wiedergutmachungsansprüche berufen, über die einheitlich entschieden werden muss.

Zur dritten Frage

49

Mit dem ersten Teil seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass er auf Beklagte, die ihren Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und die im Rahmen einer gegen mehrere Beklagte, zu denen auch Personen mit Wohnsitz in der Union gehören, gerichteten Klage verklagt werden, anwendbar ist.

50

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass diese Frage Frau Sapir, Frau Birgansky, Herrn Rumney und Herrn Ben-Zadok betrifft, die in Israel wohnhaft sind.

51

Zu ihrer Beantwortung ist somit zu klären, ob es zu den Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 gehört, dass sich der Wohnsitz des Mitbeklagten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats befindet.

52

Hierzu ist erstens festzustellen, dass hinsichtlich des persönlichen Anwendungsbereichs von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 aus dessen Einleitungssatz hervorgeht, dass er ausdrücklich auf Beklagte Bezug nimmt, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Union haben.

53

Zweitens wird, wie bereits ausgeführt, in Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 nach ständiger Rechtsprechung eine Sonderregel aufgestellt, die in der Weise eng auszulegen ist, dass sie eine Auslegung über die ausdrücklich in dieser Verordnung vorgesehenen Fälle hinaus nicht zulässt (vgl. in diesem Sinne Urteil Freeport, Randnr. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54

Drittens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 eine ausdrückliche Bestimmung mit einer abschließenden Regelung für Personen mit Wohnsitz außerhalb des Hoheitsgebiets der Union enthält; er sieht im Einklang mit dem neunten Erwägungsgrund der Verordnung vor, dass sich für diese Personen vorbehaltlich der Art. 22 und 23 der Verordnung die Zuständigkeit der Gerichte eines jeden Mitgliedstaats nach dessen nationalen Gesetzen bestimmt. Es ist aber unstreitig, dass keine dieser beiden Bestimmungen, die die ausschließliche Zuständigkeit in bestimmten, abschließend aufgezählten Fällen und Zuständigkeitsvereinbarungen auf der Grundlage einer von den Parteien geschlossenen Vereinbarung betreffen, im Ausgangsverfahren anwendbar ist.

55

Daraus folgt, dass ein Mitbeklagter nur dann auf der Grundlage von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 vor einem Gericht eines Mitgliedstaats verklagt werden kann, wenn er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hat.

56

Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass er auf Beklagte, die ihren Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und die im Rahmen einer gegen mehrere Beklagte, zu denen auch Personen mit Wohnsitz in der Union gehören, gerichteten Klage verklagt werden, nicht anwendbar ist.

57

Da der erste Teil der dritten Frage verneint worden ist, ist ihr zweiter Teil nicht zu beantworten, denn diese Teilfrage ist, wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, ausschließlich für den Fall gestellt worden, dass die Frage nach der Anwendbarkeit von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 auf Beklagte, die ihren Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet der Union haben, bejaht wird.

Kosten

58

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Zivil- und Handelssache“ eine Klage auf Erstattung einer ohne Rechtsgrund geleisteten Zahlung umfasst, wenn eine öffentliche Stelle durch eine Behörde, die durch ein Gesetz zur Wiedergutmachung von Verfolgungen seitens eines totalitären Regimes geschaffen wurde, angewiesen worden ist, einem Geschädigten zur Wiedergutmachung einen Teil des Erlöses aus einem Grundstückskaufvertrag auszuzahlen, stattdessen aber versehentlich den gesamten Kaufpreis an diese Person überwiesen hat und anschließend die ohne Rechtsgrund geleistete Zahlung gerichtlich zurückfordert.

 

2.

Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass zwischen den Klagen gegen mehrere Beklagte, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten haben, eine enge Beziehung im Sinne dieser Bestimmung besteht, wenn sich diese Beklagten unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens auf weiter gehende Wiedergutmachungsansprüche berufen, über die einheitlich entschieden werden muss.

 

3.

Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass er auf Beklagte, die ihren Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und die im Rahmen einer gegen mehrere Beklagte, zu denen auch Personen mit Wohnsitz in der Union gehören, gerichteten Klage verklagt werden, nicht anwendbar ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.