URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

7. März 2013 ( *1 )

„Freier Dienstleistungsverkehr — Niederlassungsfreiheit — Richtlinien 73/239/EWG und 92/49/EWG — Direktversicherung mit Ausnahme der Lebensversicherung — Tariffreiheit — Krankenversicherungsverträge, die nicht mit einer Berufstätigkeit zusammenhängen — Beschränkungen — Zwingende Gründe des Allgemeininteresses“

In der Rechtssache C-577/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Bruxelles (Belgien) mit Entscheidung vom 10. November 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 21. November 2011, in dem Verfahren

DKV Belgium SA

gegen

Association belge des consommateurs Test-Achats ASBL

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richter J. Malenovský, U. Lõhmus und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal (Berichterstatterin),

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der DKV Belgium SA, vertreten durch C. De Meyer und C. Gommers, advocaten,

der Association belge des consommateurs Test-Achats ASBL, vertreten durch V. Callewaert und F. Krenc, avocats,

der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von M. Kaiser und S. Ben Messaoud, avocats,

der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. Bulterman als Bevollmächtigte,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und M. Rebelo als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch K.-P. Wojcik und C. Vrignon als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 29 und 39 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 92/49/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Dritte Richtlinie Schadenversicherung) (ABl. L 228, S. 1), des Art. 8 Abs. 3 der Ersten Richtlinie 73/239/EWG des Rates vom 24. Juli 1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) (ABl. L 228, S. 3) in der durch die Richtlinie 92/49 geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 73/239) sowie der Art. 49 AEUV und 56 AEUV.

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der DKV Belgium SA (im Folgenden: DKV) und der Association belge des consommateurs Test-Achats ASBL (belgische Verbrauchervereinigung für Testkäufe, im Folgenden: Test-Achats) wegen der Prämienerhöhung für die Krankenhauszusatzversicherung des Typs „Einzelzimmer“.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 73/239 bestimmte:

„Diese Richtlinie steht der Möglichkeit nicht entgegen, dass die Mitgliedstaaten Rechts- oder Verwaltungsvorschriften einführen oder beibehalten, die die Genehmigung der Satzung und die Übermittlung aller für die ordnungsgemäße Aufsicht erforderlichen Dokumente vorschreiben.

Jedoch sehen die Mitgliedstaaten keine Vorschriften vor, in denen eine vorherige Genehmigung oder eine systematische Übermittlung der allgemeinen und besonderen Versicherungsbedingungen, der Tarife sowie der Formblätter und sonstigen Druckstücke, die das Unternehmen im Verkehr mit den Versicherungsnehmern zu verwenden beabsichtigt, verlangt wird.

Die Mitgliedstaaten dürfen die vorherige Mitteilung oder die Genehmigung der vorgeschlagenen Tarifanhebungen nur als Element eines allgemeinen Preiskontrollsystems beibehalten oder einführen.

…“

4

Art. 28 der Richtlinie 92/49 sah vor:

„Der Mitgliedstaat, in dem das Risiko belegen ist, darf den Versicherungsnehmer nicht daran hindern, einen Vertrag zu unterzeichnen, der mit einem … zugelassenen Versicherungsunternehmen abgeschlossen wurde, solange der Vertrag nicht im Widerspruch zu den in dem Mitgliedstaat, in dem das Risiko belegen ist, geltenden Rechtsvorschriften des Allgemeininteresses steht.“

5

Art. 29 der Richtlinie 92/49 lautete:

„Die Mitgliedstaaten sehen keine Vorschriften vor, in denen eine vorherige Genehmigung oder eine systematische Übermittlung der allgemeinen und besonderen Versicherungsbedingungen, der Tarife sowie der Formblätter und sonstigen Druckstücke, die das Unternehmen im Verkehr mit den Versicherungsnehmern zu verwenden beabsichtigt, verlangt wird. Um die Einhaltung der nationalen Rechtsvorschriften über die Versicherungsverträge zu überwachen, können sie nur die nicht-systematische Übermittlung dieser Bedingungen und sonstigen Dokumente verlangen, ohne dass dies für das Unternehmen eine Voraussetzung für die Ausübung seiner Tätigkeit darstellen darf.

Die Mitgliedstaaten dürfen die vorherige Mitteilung oder die Genehmigung der vorgeschlagenen Tariferhöhungen nur als Bestandteil eines allgemeinen Preiskontrollsystems beibehalten oder einführen.“

6

Art. 39 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 92/49 bestimmte:

„(2)   Der Mitgliedstaat der Zweigniederlassung oder der Dienstleistung sieht keine Vorschriften vor, in denen eine vorherige Genehmigung oder eine systematische Übermittlung der allgemeinen und besonderen Versicherungsbedingungen, der Tarife sowie der Formblätter und sonstigen Druckstücke, die das Unternehmen im Verkehr mit den Versicherungsnehmern zu verwenden beabsichtigt, verlangt wird. Um die Einhaltung der nationalen Rechtsvorschriften über die Versicherungsverträge zu überwachen, kann er von jedem Unternehmen, das in seinem Staatsgebiet im Rahmen der Niederlassungs- oder der Dienstleistungsfreiheit tätig werden will, nur die nicht-systematische Übermittlung dieser Bedingungen und sonstigen Dokumente verlangen, ohne dass dies für das Unternehmen eine Voraussetzung für die Ausübung seiner Tätigkeit darstellen darf.

(3)   Der Mitgliedstaat der Zweigniederlassung oder der Dienstleistung darf die vorherige Mitteilung oder die Genehmigung der vorgeschlagenen Tariferhöhungen nur als Bestandteil eines allgemeinen Preiskontrollsystems beibehalten oder einführen.“

Belgisches Recht

7

Art. 138bis-4 des Gesetzes vom 25. Juni 1992 über den Landversicherungsvertrag (Moniteur belge vom 20. August 1992, S. 18283) in der durch das Gesetz vom 17. Juni 2009 (Moniteur belge vom 8. Juli 2009, S. 47120) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz über den Landversicherungsvertrag) bestimmt:

„§ 1   Außer bei gegenseitigem Einvernehmen der Parteien, ausschließlicher Antragstellung des Hauptversicherten und in den Fällen, die in den Paragrafen 2, 3 und 4 erwähnt sind, kann ein Versicherer nach Abschluss des Krankenversicherungsvertrags die technischen Grundlagen der Prämie und die Deckungsbedingungen nicht mehr ändern.

§ 2   Prämie, Franchise und Leistung dürfen am jährlichen Fälligkeitsdatum der Prämie auf der Grundlage des Verbraucherpreisindexes angepasst werden.

§ 3   Prämie, Franchise und Leistung dürfen am jährlichen Fälligkeitsdatum der Prämie auf der Grundlage eines oder mehrerer spezifischer Indexe den Kosten der durch private Krankenversicherungsverträge gedeckten Dienste angepasst werden, falls und insofern die Entwicklung dieses beziehungsweise dieser Indexe die Entwicklung des Verbraucherpreisindexes übersteigt.

§ 4   Die Anwendung des vorliegenden Artikels lässt Artikel 21octies des Gesetzes vom 9. Juli 1975 über die Kontrolle der Versicherungsunternehmen [(Moniteur belge vom 29. Juli 1975, S. 9267) in der durch das Gesetz vom 17. Juni 2009 (Moniteur belge vom 8. Juli 2009, S. 47120) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz über die Kontrolle der Versicherungsunternehmen)] unberührt.

…“

8

Art. 21octies Abs. 2 des Gesetzes über die Kontrolle der Versicherungsunternehmen bestimmt:

„Die [Banken-, Finanz- und Versicherungskommission, im Folgenden: CBFA] kann von einem Unternehmen verlangen, dass es einen Tarif ins Gleichgewicht bringt, wenn sie feststellt, dass die Anwendung dieses Tarifs zu Verlusten führt.

… [D]ie CBFA kann auf Antrag eines Unternehmens, wenn sie feststellt, dass die Anwendung dieses Tarifs trotz der Anwendung von Art. 138bis-4 Abs. 2 und 3 des Gesetzes … über den Landversicherungsvertrag zu Verlusten führt oder führen kann, bei einem Krankenversicherungsvertrag, der nicht mit einer Berufstätigkeit zusammenhängt, … dem Unternehmen gestatten, Maßnahmen zu ergreifen, um seine Tarife ins Gleichgewicht zu bringen. Diese Maßnahmen können zu einer Anpassung der Deckungsbedingungen führen. …“

9

Aus dem Urteil Nr. 90/2011 der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof) vom 31. Mai 2011 (auszugsweise veröffentlicht im Moniteur belge vom 10. August 2011, S. 45413), auf das das vorlegende Gericht Bezug nimmt, geht hervor, dass der belgische Gesetzgeber beim Erlass des Gesetzes über den Landversicherungsvertrag beabsichtigte, mit dessen Art. 138bis-4 eine Bestimmung zum Schutz der Verbraucher zu schaffen, mit der insbesondere verhindert werden sollte, dass der Verbraucher mit einer erheblichen und unerwarteten Erhöhung der Versicherungsprämien konfrontiert wird.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

10

Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, teilte DKV, ein auf dem Markt für Produkte der Kranken- und der Krankenhausversicherung tätiges Versicherungsunternehmen, Mitte Dezember 2009 allen ihren Versicherungsnehmern mit einer Krankenhauszusatzversicherung des Typs „Einzelzimmer“ schriftlich mit, dass sie die für diese Versicherung geschuldeten Tarife ab dem Hauptfälligkeitstermin ihres Vertrags im Jahr 2010 um 7,84 % erhöhen werde.

11

Vor der Entscheidung über diese Erhöhung hatte DKV bei der CBFA eine entsprechende Genehmigung beantragt. Da die CBFA u. a. der Auffassung war, dass die Ermittlung eines oder mehrerer der in Art. 138bis-4 § 3 des Gesetzes über den Landversicherungsvertrag genannten spezifischen Indexe (im Folgenden: medizinischer Index) abzuwarten sei, lehnte sie diesen Antrag ab.

12

Mit am 22. Februar 2010 zugestellter Klageschrift erhob Test-Achats beim Präsident des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) Unterlassungsklage, mit der sie u. a. beantragte, DKV zu verpflichten, diese Erhöhung rückgängig zu machen.

13

Nachdem das Tribunal de commerce de Bruxelles der Klage mit Urteil vom 20. Dezember 2010 teilweise stattgegeben hatte, legte DKV gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht Berufung ein.

14

Im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits trägt DKV u. a. vor, dass Art. 138bis-4 des Gesetzes über den Landversicherungsvertrag und Art. 21octies Abs. 2 des Gesetzes über die Kontrolle der Versicherungsunternehmen gegen den Grundsatz der Tariffreiheit verstießen, der in den Art. 29 und 39 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 92/49 sowie Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 73/239 verankert sei, weil sie ein System zur vorherigen Genehmigung der Tarife einführten. Außerdem seien die erstgenannten Bestimmungen unvereinbar mit der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit des in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien ansässigen Versicherungsunternehmens, das in Belgien Krankenversicherungsverträge abschließen wolle.

15

Test-Achats macht geltend, dass der von DKV angeführte Grundsatz der Tariffreiheit im Unionsrecht nicht ausdrücklich verankert sei und nicht als ein absolutes Prinzip, das keinen Beschränkungen unterliege, betrachtet werden könne.

16

Der Vorlageentscheidung zufolge stellte die CBFA am 22. Juni 2010 fest, dass DKV nach dem zwischenzeitlich ermittelten medizinischen Index ihre Tarife für die betreffende Versicherung um 7,45 % erhöhen dürfe. Da DKV jedoch eine Erhöhung um 7,84 %, also 0,39 % mehr als nach dem medizinischen Index, beantragt hatte, ging die CBFA davon aus, dass dieser Unterschied bei der Kategorie der betreffenden Versicherungsprodukte nicht zu einem Defizit führe; folglich lehnte sie den Erhöhungsantrag ab.

17

Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Bruxelles das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind die Art. 29 und 39 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 92/49 und Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 73/239 sowie die Art. 49 AEUV und 56 AEUV dahin auszulegen, dass sie den Mitgliedstaaten untersagen, für Krankenversicherungsverträge, die nicht mit einer Berufstätigkeit zusammenhängen, Bestimmungen vorzusehen, wonach die Prämie, die Selbstbeteiligung und die Leistung zum jährlichen Fälligkeitszeitpunkt der Prämie nur angepasst werden können:

auf der Grundlage des Verbraucherpreisindexes;

auf der Grundlage des medizinischen Indexes an die Kosten der durch private Krankenversicherungsverträge gedeckten Dienste, falls und soweit die Entwicklung dieses Indexes die des Verbraucherpreisindexes übersteigt;

aufgrund der Genehmigung einer mit der Kontrolle der Versicherungsunternehmen betrauten Verwaltungsbehörde auf Antrag des betreffenden Versicherungsunternehmens, wenn diese Behörde feststellt, dass die Anwendung des Tarifs dieses Unternehmens trotz der aufgrund der in den vorstehenden Absätzen genannten Indexe errechneten Anpassungen zu Verlusten führt oder führen kann, und ihm somit erlaubt, Maßnahmen, die eine Anpassung der Deckungsbedingungen zur Folge haben können, zu ergreifen, um seine Tarife ins Gleichgewicht zu bringen?

Zur Vorlagefrage

Zur Auslegung von Art. 29 und Art. 39 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 92/49 sowie von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 73/239

18

DKV macht geltend, dass das im Ausgangsverfahren fragliche System der vorherigen Genehmigung von Tariferhöhungen gegen den Grundsatz der Tariffreiheit im Sinne der Art. 29 und 39 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 92/49 sowie des Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 73/239 verstoße. Von diesem Grundsatz gebe es nur eine einzige Ausnahme, nämlich ein allgemeines Preiskontrollsystem. Dieses System der vorherigen Genehmigung von Tariferhöhungen könne jedoch nicht als Teil eines allgemeinen Preiskontrollsystems angesehen werden, da es nicht alle der Öffentlichkeit angebotenen Produkte und Dienstleistungen betreffe, sondern sich auf die Krankenversicherungen beschränke.

19

Die Europäische Kommission ist ebenfalls der Auffassung, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche gegen den Grundsatz der Tariffreiheit verstoße. Anderer Ansicht sind hingegen Test-Achats sowie die belgische, die niederländische und die portugiesische Regierung.

20

Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Art. 29 und 39 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 92/49 sowie Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 73/239 einem Mitgliedstaat untersagen, ein System der vorherigen Genehmigung oder der systematischen Übermittlung von Tarifen einzuführen, die ein Versicherungsunternehmen im Verkehr mit den Versicherungsnehmern in seinem Staatsgebiet zu verwenden beabsichtigt (vgl. Urteil vom 28. April 2009, Kommission/Italien, C-518/06, Slg. 2009, I-3491, Randnr. 100).

21

Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, hatte der Unionsgesetzgeber somit die Absicht, den Grundsatz der Tariffreiheit im Versicherungssektor mit Ausnahme der Lebensversicherung zu gewährleisten (Urteil Kommission/Italien, Randnr. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22

Eine vollständige Harmonisierung auf dem Gebiet der Tarife im Bereich der Versicherung mit Ausnahme der Lebensversicherung, mit der jede nationale Maßnahme ausgeschlossen wird, die Auswirkungen auf die Tarife haben kann, lässt sich jedoch mangels eines entsprechenden vom Gesetzgeber der Europäischen Union klar geäußerten Willens nicht vermuten (Urteile vom 7. September 2004, Kommission/Luxemburg, C-346/02, Slg. 2004, I-7517, Randnr. 24, Kommission/Frankreich, C-347/02, Slg. 2004, I-7557, Randnr. 25, und Kommission/Italien, Randnr. 106).

23

Mithin ist eine nationale Regelung, durch die ein technischer Rahmen vorgegeben wird, in dem die Versicherungsunternehmen ihre Prämien kalkulieren müssen, nicht allein aufgrund der Tatsache, dass dieser technische Rahmen sich auf die Tarifentwicklung auswirkt, unvereinbar mit dem Grundsatz der Tariffreiheit (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Luxemburg, Randnr. 25, Kommission/Frankreich, Randnr. 26, und Kommission/Italien, Randnr. 105).

24

Bei einem Tariferhöhungssystem wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen dürfen die Versicherungsunternehmen ihre Tarife auf der Grundlage zweier Indexarten, nämlich des Verbraucherpreisindexes und des medizinischen Indexes, erhöhen.

25

Ein solches System, das die Möglichkeit dieser Unternehmen, ihre Basisprämie frei festzulegen, nicht beeinträchtigt, weist die Merkmale eines technischen Rahmens im Sinne der in Randnr. 23 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung auf.

26

Da es nur Tariferhöhungen auf der Grundlage zweier Indexarten zulässt, funktioniert dieses System nämlich wie ein technischer Rahmen, der sich auf die Regulierung der Tarifentwicklung beschränkt und innerhalb dessen die Versicherungsunternehmen ihre Prämien berechnen müssen.

27

Unter diesen Umständen kann die Natur des technischen Rahmens des fraglichen Tariferhöhungssystems nicht allein aufgrund der Tatsache in Frage gestellt werden, dass die mit der Kontrolle der Versicherungsunternehmen betraute Verwaltungsbehörde einem Versicherungsunternehmen auf dessen Antrag hin erlauben kann, Maßnahmen zu ergreifen, um seine Tarife ins Gleichgewicht zu bringen, wenn sie zu Verlusten führen oder führen können.

28

Art. 28 der Richtlinie 92/49 steht dieser Auslegung nicht entgegen. Das in dieser Bestimmung angesprochene „Allgemeininteresse“ stellt nämlich entgegen den Ausführungen der Kommission kein maßgebliches Kriterium für die Überprüfung der Frage dar, ob eine nationale Regelung gegen den Grundsatz der Tariffreiheit im Sinne der Art. 29 und 39 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 92/49 sowie des Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 73/239 verstößt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2003, Kommission/Italien, C-59/01, Slg. 2003, I-1759, Randnr. 38).

29

Nach alledem kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein Tariferhöhungssystem wie das im Ausgangsverfahren fragliche gegen die Art. 29 und 39 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 92/49 sowie Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 73/239 verstößt.

Zur Auslegung der Art. 49 AEUV und 56 AEUV

Zum Begriff der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs

30

Test-Achats macht geltend, dass ein Tariferhöhungssystem wie das im Ausgangsverfahren fragliche keine Beschränkung im Sinne der Art. 49 AEUV und 56 AEUV sei. Andernfalls müsste jede nationale Maßnahme zur Regulierung der Änderung eines wesentlichen Vertragsbestandteils während der Durchführung des Vertrags als Beschränkung qualifiziert werden.

31

In diesem Zusammenhang betrifft nach ständiger Rechtsprechung der Begriff „Beschränkung“ im Sinne der Art. 49 AEUV und 56 AEUV die Maßnahmen, die die Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder des freien Dienstleistungsverkehrs verbieten, behindern oder weniger attraktiv machen (Urteil vom 28. April 2009, Kommission/Italien, Randnr. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

In Bezug auf die Frage, unter welchen Umständen eine unterschiedslos anwendbare Maßnahme wie das im Ausgangsverfahren fragliche Tariferhöhungssystem unter diesen Begriff fallen kann, ist daran zu erinnern, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats nicht allein deshalb eine Beschränkung im Sinne des AEU-Vertrags darstellt, weil andere Mitgliedstaaten in ihrem Staatsgebiet ansässige Erbringer gleichartiger Dienstleistungen weniger strengen oder wirtschaftlich interessanteren Vorschriften unterwerfen (vgl. Urteil vom 28. April 2009, Kommission/Italien, Randnr. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Hingegen umfasst der Begriff der Beschränkung die von einem Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen, die, obwohl sie unterschiedslos anwendbar sind, den Marktzugang von Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten betreffen und somit den innergemeinschaftlichen Handel behindern (Urteil vom 28. April 2009, Kommission/Italien, Randnr. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Ein Tariferhöhungssystem wie das im Ausgangsverfahren fragliche kann aber, wie DKV und die Kommission zutreffend ausgeführt haben, Versicherungsunternehmen, deren Sitz sich in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen befindet, der ein solches System eingeführt hat, davon abhalten, im letztgenannten Mitgliedstaat eine Zweigniederlassung zu eröffnen oder dort ihre Produkte im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs anzubieten.

35

Diese Unternehmen müssen nämlich nicht nur ihre Vertragsbedingungen und ihre Tarife ändern, um den Anforderungen des Systems gerecht zu werden, sondern auch ihre tarifliche Positionierung und somit ihre Geschäftsstrategie zum Zeitpunkt der anfänglichen Prämienfestsetzung bestimmen, wobei die Gefahr besteht, dass künftige Tariferhöhungen nicht ausreichen, um die ihnen entstehenden Kosten zu decken.

36

Folglich müssen die Versicherungsunternehmen beim Zugang zum Markt eines Mitgliedstaats, der ein Tariferhöhungssystem wie das im Ausgangsverfahren fragliche eingeführt hat, ihre Geschäftspolitik und -strategie überdenken, damit sie auf diesem Markt im Einklang mit dem Recht dieses Mitgliedstaats tätig werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2009, Kommission/Italien, Randnr. 69).

37

Unter diesen Umständen stellt ein Tariferhöhungssystem wie das im Ausgangsverfahren fragliche eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs dar.

Zur Rechtfertigung einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs

38

Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs kann zugelassen werden, wenn sich erweist, dass sie zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entspricht, geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. u. a. Urteil vom 28. April 2009, Kommission/Italien, Randnr. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Test-Achats sowie die belgische, die niederländische und die portugiesische Regierung machen im Wesentlichen geltend, dass diese Voraussetzung bei einem Tariferhöhungssystem wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen erfüllt sei, während DKV anderer Ansicht ist. Die Kommission äußert Zweifel daran, ob ein solches System im Verhältnis zum angestrebten Ziel steht.

40

Hierzu ist erstens daran zu erinnern, dass mit einem Tariferhöhungssystem wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen, wie aus Randnr. 9 des vorliegenden Urteils hervorgeht, der Schutz des Verbrauchers bezweckt wird und insbesondere verhindert werden soll, dass der Verbraucher mit einer erheblichen und unerwarteten Erhöhung der Versicherungsprämien konfrontiert wird.

41

Das Ziel des Verbraucherschutzes stellt einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar, weil der Versicherungssektor im Hinblick auf den Schutz des Verbrauchers als Versicherungsnehmer und Versicherter ein besonders sensibler Bereich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Dezember 1986, Kommission/Deutschland, 205/84, Slg. 1986, 3755, Randnrn. 32 und 33).

42

Zweitens scheint ein Tariferhöhungssystem wie das im Ausgangsverfahren fragliche, da durch es die Versicherungsunternehmen daran gehindert werden, die Versicherungsprämien erheblich und unerwartet zu erhöhen, zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet.

43

In Bezug auf die Frage, ob ein solches System über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist, ist drittens festzustellen, dass zum einen, worauf Test-Achats und die belgische Regierung hingewiesen haben, eines der Merkmale der Krankenhausversicherung darin besteht, dass die Wahrscheinlichkeit eines Tätigwerdens der Versicherer mit zunehmendem Alter der Versicherten wächst, da die meisten medizinischen Kosten in den letzten Lebensjahren anfallen. Daher kann es, wie im Übrigen auch die Kommission ausgeführt hat, während eine Krankenhauszusatzversicherung des Typs „Einzelzimmer“ wie die im Ausgangsverfahren fragliche vergleichsweise jungen Versicherten zu niedrigen Tarifen angeboten werden kann, bei diesen Tarifen mit zunehmendem Alter des Versicherten und den dem Versicherer dadurch entstehenden steigenden Kosten zu Erhöhungen kommen.

44

Im Hinblick auf ein solches Merkmal kann durch ein Tariferhöhungssystem wie das im Ausgangsverfahren fragliche sichergestellt werden, dass der Versicherte im fortgeschrittenen Alter, wenn er diese Versicherung wirklich braucht, nicht mit einer erheblichen und unerwarteten Erhöhung seiner Versicherungsprämien konfrontiert wird, die ihn von der Inanspruchnahme dieser Versicherung ausschlösse, weil er deren Kosten nicht mehr tragen könnte.

45

Zum anderen hindert ein Tariferhöhungssystem wie das im Ausgangsverfahren fragliche, da feststeht, dass es den Versicherungsunternehmen nicht untersagt, die Basisprämie frei festzusetzen, diese Unternehmen auch nicht daran, zum Zeitpunkt der Festsetzung dieser Basisprämie die höheren Kosten zu berücksichtigen, die ihnen durch den Versicherungsschutz entstehen werden, wenn der Versicherte ein höheres Alter erreicht hat.

46

Wie im Übrigen in Randnr. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, kann die mit der Kontrolle der Versicherungsunternehmen betraute Verwaltungsbehörde einem Versicherungsunternehmen auf dessen Antrag hin erlauben, Maßnahmen zu ergreifen, um seine Tarife ins Gleichgewicht zu bringen, wenn sie zu Verlusten führen oder führen können.

47

Aufgrund dieser besonderen Umstände und sofern es keine weniger einschneidende Maßnahme gibt, durch die das Ziel, den Verbraucher gegen erhebliche und unerwartete Erhöhungen der Versicherungsprämien zu schützen, unter denselben Bedingungen erreicht werden kann, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, ist nicht ersichtlich, dass ein Tariferhöhungssystem wie das im Ausgangsverfahren fragliche über das hinausginge, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

48

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 29 und 39 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 92/49 und Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 73/239 dahin auszulegen sind, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung nicht entgegenstehen, die für nicht mit einer Berufstätigkeit zusammenhängende Krankenversicherungsverträge Bestimmungen vorsieht, wonach jährlich die Prämie, die Selbstbeteiligung und die Leistung nur

auf der Grundlage des Verbraucherpreisindexes oder

auf der Grundlage eines sogenannten „medizinischen“ Indexes, falls und soweit die Entwicklung dieses Indexes die des Verbraucherpreisindexes übersteigt, oder

nach Einholung der Genehmigung einer mit der Kontrolle der Versicherungsunternehmen betrauten Verwaltungsbehörde auf Antrag des betreffenden Versicherungsunternehmens angepasst werden können, wenn diese Behörde feststellt, dass die Anwendung des Tarifs dieses Unternehmens trotz der auf der Grundlage dieser beiden Indextypen errechneten Tarifanpassungen zu Verlusten führt oder führen kann.

49

Die Art. 49 AEUV und 56 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer solchen Regelung nicht entgegenstehen, sofern es keine weniger einschneidende Maßnahme gibt, durch die das Ziel, den Verbraucher gegen erhebliche und unerwartete Erhöhungen der Versicherungsprämien zu schützen, unter denselben Bedingungen erreicht werden kann; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

Kosten

50

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Art. 29 und 39 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 92/49/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Dritte Richtlinie Schadenversicherung) und Art. 8 Abs. 3 der Ersten Richtlinie 73/239/EWG des Rates vom 24. Juli 1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) in der durch die Richtlinie 92/49 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung nicht entgegenstehen, die für nicht mit einer Berufstätigkeit zusammenhängende Krankenversicherungsverträge Bestimmungen vorsieht, wonach jährlich die Prämie, die Selbstbeteiligung und die Leistung nur

 

auf der Grundlage des Verbraucherpreisindexes oder

 

auf der Grundlage eines sogenannten „medizinischen“ Indexes, falls und soweit die Entwicklung dieses Indexes die des Verbraucherpreisindexes übersteigt, oder

 

nach Einholung der Genehmigung einer mit der Kontrolle der Versicherungsunternehmen betrauten Verwaltungsbehörde auf Antrag des betreffenden Versicherungsunternehmens angepasst werden können, wenn diese Behörde feststellt, dass die Anwendung des Tarifs dieses Unternehmens trotz der auf der Grundlage dieser beiden Indextypen errechneten Tarifanpassungen zu Verlusten führt oder führen kann.

 

Die Art. 49 AEUV und 56 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer solchen Regelung nicht entgegenstehen, sofern es keine weniger einschneidende Maßnahme gibt, durch die das Ziel, den Verbraucher gegen erhebliche und unerwartete Erhöhungen der Versicherungsprämien zu schützen, unter denselben Bedingungen erreicht werden kann; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.