URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

3. Mai 2012 ( *1 )

„Dublin-System — Verordnung (EG) Nr. 343/2003 — Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats — Drittstaatsangehörige, die Inhaber eines gültigen Visums sind, das von dem nach dieser Verordnung ‚zuständigen Mitgliedstaat‘ ausgestellt wurde — Asylantrag, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem nach der genannten Verordnung zuständigen Staat gestellt wurde — Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat mit anschließender Rücknahme des Asylantrags — Rücknahme, bevor der zuständige Mitgliedstaat der Aufnahme des Antragstellers zugestimmt hat — Rücknahme, durch die die in der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 festgelegten Verfahren beendet werden“

In der Rechtssache C-620/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Kammarrätten i Stockholm – Migrationsöverdomstolen (Schweden) mit Entscheidung vom 16. Dezember 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Dezember 2010, in dem Verfahren

Migrationsverket

gegen

Nurije Kastrati,

Valdrina Kastrati,

Valdrin Kastrati

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Richterin A. Prechal, der Richter K. Schiemann und L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richterin C. Toader,

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. November 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Migrationsverket, vertreten durch H. Karling und M. Ribbenvik als Bevollmächtigte,

von Frau Kastrati und ihren minderjährigen Kindern, vertreten durch H.-O. Krokstäde, juris kandidat, und S. Kastrati,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten,

der hellenischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki und L. Kotroni als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo, avvocato dello Stato,

der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels, M. Noort und C. Schillemans als Bevollmächtigte,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch H. Walker als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und C. Tufvesson als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 12. Januar 2012

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Migrationsverket (nationale Einwanderungsbehörde), das für Einwanderungsfragen zuständig ist, auf der einen und Frau Kastrati und ihren beiden minderjährigen Kindern, Valdrina und Valdrin, Staatsangehörige des Kosovo, auf der anderen Seite wegen Nichtigerklärung der Entscheidung, mit der diese Behörde ihre Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels und auf Asyl in Schweden abgelehnt und ihre Überstellung in den nach der Verordnung Nr. 343/2003 „zuständigen Mitgliedstaat“ angeordnet hat.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung Nr. 343/2003

3

Die Erwägungsgründe 3 und 4 der Verordnung Nr. 343/2003 lauten:

„(3)

Entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere sollte [das Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(4)

Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden.“

4

Die Verordnung Nr. 343/2003 legt gemäß ihrem Art. 1 „die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zur Anwendung gelangen“.

5

In Art. 2 Buchst. c bis f der Verordnung Nr. 343/2003 heißt es:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

c)

‚Asylantrag‘ den von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag, der als Ersuchen um internationalen Schutz eines Mitgliedstaats im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention angesehen werden kann. Jeder Antrag auf internationalen Schutz wird als Asylantrag angesehen, es sei denn, ein Drittstaatsangehöriger ersucht ausdrücklich um einen anderweitigen Schutz, der gesondert beantragt werden kann;

d)

‚Antragsteller‘ bzw. ‚Asylbewerber‘ den Drittstaatsangehörigen, der einen Asylantrag eingereicht hat, über den noch nicht endgültig entschieden worden ist;

e)

‚Prüfung eines Asylantrags‘ die Gesamtheit der Prüfungsvorgänge, der Entscheidungen bzw. Urteile der zuständigen Stellen in Bezug auf einen Asylantrag gemäß dem einzelstaatlichen Recht, mit Ausnahme der Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates gemäß dieser Verordnung;

f)

‚Rücknahme des Asylantrags‘ die vom Antragsteller im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht ausdrücklich oder stillschweigend unternommenen Schritte zur Beendigung des Verfahrens, das aufgrund des von ihm eingereichten Asylantrags eingeleitet wurde.“

6

Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.“

7

In Art. 4 der Verordnung heißt es:

„(1)   Das Verfahren zur Bestimmung des gemäß dieser Verordnung zuständigen Mitgliedstaats wird eingeleitet, sobald ein Asylantrag erstmals in einem Mitgliedstaat gestellt wurde.

(5)   Der Mitgliedstaat, bei dem der Asylantrag gestellt wurde, ist gehalten, einen Asylbewerber, der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats befindet und dort einen Asylantrag gestellt hat, nachdem er seinen Antrag noch während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat, nach den Bestimmungen des Artikels 20 wieder aufzunehmen, um das Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen.

Diese Verpflichtung erlischt, wenn der Asylbewerber zwischenzeitlich die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen oder in einem Mitgliedstaat eine Aufenthaltserlaubnis erhalten hat.“

8

Für die Bestimmung des „zuständigen Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 ist in Kapitel III dieser Verordnung, das die Art. 5 bis 14 umfasst, eine Liste objektiver Kriterien in einer Rangfolge aufgeführt.

9

Bei der Bestimmung des nach den genannten Kriterien zuständigen Mitgliedstaats ist gemäß Art. 5 Abs. 2 dieser Verordnung von der Situation auszugehen, die zu dem Zeitpunkt gegeben war, als der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellte.

10

Art. 9 Abs. 2 der genannten Verordnung sieht u. a. vor, dass der „zuständige Mitgliedstaat“ im Sinne dieser Verordnung, wenn der Asylbewerber ein gültiges Visum besitzt, grundsätzlich der Mitgliedstaat ist, der dieses Visum erteilt hat.

11

Zu Kapitel V („Aufnahme und Wiederaufnahme“) der Verordnung Nr. 343/2003 gehört Art. 16, in dem es heißt:

„(1)   Der Mitgliedstaat, der nach der vorliegenden Verordnung zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, ist gehalten:

a)

einen Asylbewerber, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe der Artikel 17 bis 19 aufzunehmen;

b)

die Prüfung des Asylantrags abzuschließen;

c)

einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrags unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Artikels 20 wieder aufzunehmen;

d)

einen Asylbewerber, der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe des Artikels 20 wieder aufzunehmen;

e)

einen Drittstaatsangehörigen, dessen Antrag er abgelehnt hat und der sich unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Artikels 20 wieder aufzunehmen.

(3)   Die Verpflichtungen nach Absatz 1 erlöschen, wenn der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, es sei denn, der Drittstaatsangehörige ist im Besitz eines vom zuständigen Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Aufenthaltstitels.

(4)   Die Verpflichtungen nach Absatz 1 Buchstaben d) und e) erlöschen auch, wenn der für die Prüfung des Antrags zuständige Mitgliedstaat nach der Rücknahme oder der Ablehnung des Antrags die notwendigen Vorkehrungen getroffen und tatsächlich umgesetzt hat, damit der Drittstaatsangehörige in sein Herkunftsland oder in ein anderes Land, in das er sich rechtmäßig begeben kann, zurückkehrt.“

12

Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt:

„Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, in jedem Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Antrags im Sinne von Artikel 4 Absatz 2, den anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Asylbewerber aufzunehmen.

Wird das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb der Frist von drei Monaten unterbreitet, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für die Prüfung des Asylantrags zuständig.“

13

Art. 18 Abs. 1 der genannten Verordnung lautet:

„Der ersuchte Mitgliedstaat nimmt die erforderlichen Überprüfungen vor und entscheidet über das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers innerhalb von zwei Monaten, nachdem er mit dem Gesuch befasst wurde.“

14

Art. 19 Abs. 1 und 3 derselben Verordnung lautet:

„(1)   Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme eines Antragstellers zu, so teilt der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, dem Antragsteller die Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen, sowie die Verpflichtung, den Antragsteller an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, mit.

(3)   Die Überstellung des Antragstellers von dem Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den nationalen Rechtsvorschriften des ersteren Mitgliedstaats …, sobald dies materiell möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat.“

15

In Art. 20 der Verordnung Nr. 343/2003 sind die Modalitäten für die Wiederaufnahme eines Asylbewerbers gemäß Art. 4 Abs. 5 und Art. 16 Abs. 1 Buchst. c bis e dieser Verordnung festgelegt.

Richtlinie 2005/85/EG

16

Nach dem 29. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13, berichtigt im ABl. 2006, L 236, S. 35) lässt diese Richtlinie die Bestimmungen der Verordnung Nr. 343/2003 unberührt.

17

Art. 19 („Verfahren bei Rücknahme des Antrags“) der Richtlinie 2005/85 bestimmt:

„(1)   Soweit die Mitgliedstaaten in den nationalen Rechtsvorschriften die Möglichkeit einer ausdrücklichen Rücknahme des Antrags vorsehen, stellen sie im Falle der ausdrücklichen Rücknahme eines Asylantrags durch den Asylbewerber sicher, dass die Asylbehörde die Entscheidung trifft, entweder die Antragsprüfung einzustellen oder den Antrag abzulehnen.

(2)   Die Mitgliedstaaten können auch beschließen, dass die Asylbehörde die Antragsprüfung einstellen kann, ohne dass eine Entscheidung über den Antrag getroffen wurde. In diesem Fall stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Asylbehörde eine entsprechende Notiz in die Akte des Antragstellers aufnimmt.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Der vor der Einreise von Frau Kastrati und ihren Kindern in das Hoheitsgebiet der Union gestellte Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels

18

Im Lauf des Jahres 2004 lernte Frau Kastrati im Kosovo Herrn Kastrati kennen, einen schwedischen Staatsangehörigen, der seit 1992 in Schweden wohnt. Er ist nicht der Vater der minderjährigen Kinder von Frau Kastrati.

19

Am 20. September 2007 beantragten Frau Kastrati und ihre Kinder bei der Botschaft des Königreichs Schweden in Skopje (ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien) unter Hinweis auf das Vorliegen einer Bindung an Herrn Kastrati die Erteilung eines Aufenthaltstitels in Schweden.

20

Am 13. Mai 2008 wies das Migrationsverket ihre Anträge mit der Begründung zurück, dass es zwischen Frau Kastrati und Herrn Kastrati keine Bindung gebe, aufgrund der ihr und ihren Kindern ein Aufenthaltstitel erteilt werden könne. Auf die von Frau Kastrati und ihren Kindern beim Länsrätten i Skåne län – Migrationsdomstolen (Verwaltungsgericht Skåne – Gericht für Migrationsfragen) erhobene Klage hin bestätigte dieses Gericht mit Urteil vom 23. Dezember 2008 die Zurückweisung der Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels.

21

Frau Kastrati und ihre Kinder legten daraufhin Berufung zum Kammarrätten i Stockholm – Migrationsöverdomstolen (Verwaltungsgerichtshof Stockholm –Gericht für Migrationsfragen) ein, zogen sie dann aber wieder zurück. Dieses Gericht beschloss demzufolge am 19. März 2009, die Rechtssache aus dem Register zu streichen.

Der von Frau Kastrati und ihren Kindern nach ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet der Union gestellte Asylantrag und ihr erneuter Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels

22

Am 3. März 2009 reisten Frau Kastrati und ihre Kinder mit einem gültigen, von den französischen Behörden für einen kurzfristigen Aufenthalt erteilten Visum nach Schweden ein.

23

Während sie in Frankreich keine Asylanträge gestellt hatten, taten sie dies am 30. April 2009 in Schweden, wo sie sich seit ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet der Union aufhielten.

24

Da Frau Kastrati und ihre Kinder jedoch ein gültiges, von den französischen Behörden erteiltes Visum besaßen, forderte das Migrationsverket diese Behörden am 4. Juni 2009 gemäß dem in Art. 9 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 festgelegten Kriterium auf, die genannten Personen gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung aufzunehmen.

25

Am 16. Juni 2009 beantragten Frau Kastrati und ihre Kinder erneut die Erteilung eines Aufenthaltstitels in Schweden und begründeten dies wiederum mit dem Bestehen einer Bindung an Herrn Kastrati.

26

Am 22. Juni 2009 zogen sie jedoch ihre Asylanträge in Schweden, die sie nach ihren Angaben lediglich auf Anraten des Migrationsverket gestellt hatten, zurück. Im Übrigen ist der im Ausgangsverfahren angefochtenen Entscheidung, die zusammen mit den nationalen Akten übermittelt wurde, nicht zu entnehmen, dass Frau Kastrati und ihre Kinder irgendeinen Verfolgungsgrund geltend gemacht hätten, um als Flüchtlinge anerkannt zu werden.

27

Am 23. Juli 2009 gaben die französischen Behörden, die von dieser Rücknahme keine Kenntnis hatten, dem Antrag auf Aufnahme von Frau Kastrati und ihren Kindern statt.

28

Das Migrationsverket wies mit Entscheidung vom 30. Juli 2009 die Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels sowie die Asylanträge zurück. Es stellte zunächst hinsichtlich des erneuten Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels fest, dass seine Entscheidung vom 13. Mai 2008, den ersten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurückzuweisen, Rechtskraft erlangt habe. Sodann wies es die Asylanträge mit der Begründung zurück, dass die Französische Republik der hierfür zuständige Staat sei. Schließlich ordnete es, gestützt auf Art. 19 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 343/2003, die Überstellung der Betroffenen nach Frankreich an.

29

Frau Kastrati und ihre Kinder fochten diese ablehnende Entscheidung beim Länsrätten i Skåne län – Migrationsdomstolen an.

30

Mit Urteil vom 15. September 2009 hob dieses Gericht die ablehnende Entscheidung vom 30. Juli 2009 mit der Begründung auf, dass zu dem Zeitpunkt, als die Entscheidung des Migrationsverket ergangen sei, die Anwendungsvoraussetzungen der Verordnung Nr. 343/2003 nicht erfüllt gewesen seien, weil Frau Kastrati und ihre Kinder ihre Asylanträge zurückgezogen hätten. Deshalb verwies es die Rechtssache zur erneuten Prüfung der Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels in Schweden anhand von Ermittlungen zur geltend gemachten Bindung an das Migrationsverket zurück.

31

Das Länsrätten i Skåne län – Migrationsdomstolen wies in seinem Urteil darauf hin, dass die von Frau Kastrati und ihren Kindern gestellten Asylanträge zurückgenommen worden seien, nachdem die zuständige schwedische Behörde zwecks Beendigung des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ein Ersuchen an die französischen Behörden gerichtet habe, aber bevor diese am 23. Juli 2009 eingewilligt hätten, die Betroffenen aufzunehmen, und bevor das Migrationsverket ihnen seine Entscheidung vom 30. Juli 2009 mitgeteilt habe, die Betroffenen in die Französische Republik zu überstellen.

32

Das Migrationsverket legte beim vorlegenden Gericht Rechtsmittel ein, mit dem es im Wesentlichen geltend machte, dass der Verordnung Nr. 343/2003 nicht zu entnehmen sei, dass die Verpflichtung des zuständigen Mitgliedstaats, einen Asylbewerber aufzunehmen, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt habe, erlösche, wenn der Asylantrag zurückgenommen werde.

33

Das vorlegende Gericht führt in seiner Entscheidung aus, es habe zwar in einer von ihm am 30. Juni 2008 erlassenen Entscheidung (MIG 2008:28) festgestellt, dass die Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 durch die Rücknahme eines Asylantrags nicht ausgeschlossen werde. Die Umstände der Rechtssache, die zu dieser Entscheidung geführt hätten, unterschieden sich jedoch von denen des vorliegenden Rechtsstreits, denn der Asylantrag, um den es dort gegangen sei, sei erst zurückgezogen worden, nachdem dem Betroffenen die Entscheidung, ihn in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, gemäß Art. 19 Abs. 1 dieser Verordnung mitgeteilt worden sei.

34

Außerdem verweist das vorlegende Gericht auf die Ergebnisse einer behördlichen Untersuchung, die das Migrationsverket in mehreren an das Dublin-System gebundenen Staaten zu der Frage durchgeführt habe, welche Auswirkungen die Rücknahme eines Asylantrags auf die Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 habe. Dabei hätten sich drei verschiedene Standpunkte ergeben. Nach dem ersten Standpunkt könne das Asylverfahren, nachdem die Verordnung Nr. 343/2003 anwendbar geworden sei, nur aus einem der in Art. 16 Abs. 3 und 4 der Verordnung genannten Gründe beendet werden. Nach dem zweiten Standpunkt sei diese Verordnung dagegen nicht mehr anwendbar, wenn der in nur einem Mitgliedstaat gestellte Asylantrag zurückgezogen worden sei. Nach dem dritten Standpunkt schließlich sei der Zeitpunkt der Rücknahme eines Asylantrags im Zusammenhang mit dem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats maßgeblich für die Beurteilung, ob die genannte Verordnung weiterhin anwendbar sei.

35

Unter diesen Umständen hat das Kammarrätten i Stockholm – Migrationsöverdomstolen das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist die Verordnung Nr. 343/2003 vor dem Hintergrund u. a. der Regelung ihres Art. 5 Abs. 2 und/oder des Umstands, dass die Verordnung keine anderen Bestimmungen über die Beendigung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für die Prüfung eines Asylantrags enthält als Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 sowie Art. 16 Abs. 3 und 4, dahin auszulegen, dass sich die Rücknahme des Asylantrags nicht auf die Möglichkeit auswirkt, die Verordnung anzuwenden?

2.

Ist es für die Beantwortung der vorstehenden Frage von Bedeutung, in welchem Stadium der Bearbeitung der Asylantrag zurückgenommen wird?

Zu den Vorlagefragen

36

Zunächst ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, welche Auswirkungen die Rücknahme eines Asylantrags auf die Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 haben kann.

37

In diesem Zusammenhang ist jedoch zu berücksichtigen, dass Frau Kastrati und ihre Kinder nach dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, wie er sich insbesondere aus den Randnrn. 18 bis 21 und 26 des vorliegenden Urteils ergibt, geltend machen, dass sie in Wirklichkeit nie die Absicht hatten, einen Asylantrag im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 343/2003 zu stellen.

38

Es ist allein Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, welche Bedeutung einem derartigen Vorbringen beizumessen ist. Dem Gerichtshof obliegt es, unter Berücksichtigung der in der Vorlageentscheidung dargelegten tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen zu entscheiden (Urteil vom 21. Oktober 2010, B., C-306/09, Slg. 2010, I-10341, Randnr. 47).

39

Unter Berücksichtigung dieser Vorbemerkungen und der Umstände des Ausgangsverfahrens sind die Fragen des vorlegenden Gerichts, die zusammen zu prüfen sind, so aufzufassen, dass es wissen möchte, ob die Verordnung Nr. 343/2003 dahin auszulegen ist, dass die Rücknahme eines Asylantrags im Sinne ihres Art. 2 Buchst. c, die erfolgt, bevor der für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat der Aufnahme des Antragstellers zugestimmt hat, zur Folge hat, dass diese Verordnung nicht mehr anzuwenden ist.

40

Nach Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 kann ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet eine Person einen Asylantrag gestellt hat, einen anderen Mitgliedstaat, den er für die Prüfung dieses Antrags für zuständig hält, ersuchen, den Asylbewerber aufzunehmen.

41

Außerdem ergibt sich aus Art. 1 der Verordnung, dass deren Zweck darin besteht, die Kriterien und Verfahren festzulegen, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zur Anwendung gelangen.

42

Zieht der Asylbewerber, wie im Ausgangsverfahren, seinen einzigen Asylantrag zurück, bevor der ersuchte Mitgliedstaat seiner Aufnahme zugestimmt hat, kann der Hauptzweck der Verordnung Nr. 343/2003, d. h. die Ermittlung des für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft des Antragstellers zu gewährleisten, nicht mehr erreicht werden.

43

Außerdem ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber Situationen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, in der Asylbewerber ihre Anträge zurückgenommen haben, ohne in zumindest einem anderen Mitgliedstaat auch einen solchen Antrag gestellt zu haben, nicht ausdrücklich geregelt.

44

Der Wortlaut von Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 und Art. 16 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 343/2003, auf die das vorlegende Gericht in seinen Fragen ebenfalls Bezug nimmt, kann zu keinem anderen Ergebnis führen.

45

Zwar stellen diese Vorschriften grundsätzlich eine abschließende Regelung der Fälle dar, in denen die Verpflichtung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats erlischt, einen Antragsteller, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat einen Asylantrag gestellt hat, „aufzunehmen“ oder „wieder aufzunehmen“. Sie setzen aber das Vorliegen eines Asylantrags voraus, den der zuständige Mitgliedstaat prüfen muss, zu prüfen im Begriff ist oder bereits beschieden hat.

46

Das Gleiche gilt im Übrigen für Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003.

47

Wird daher ein Asylantrag unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens zurückgenommen, d. h. bevor der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme des Asylbewerbers zugestimmt hat, hat dies zur Folge, dass die Verordnung Nr. 343/2003 nicht mehr anwendbar ist.

48

In einem solchen Fall ist es Sache des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Antrag gestellt wurde, die durch diese Rücknahme veranlassten Entscheidungen zu treffen und insbesondere – wie in Art. 19 der Richtlinie 2005/85 vorgesehen – die Antragsprüfung einzustellen und in die Akte des Antragstellers eine entsprechende Notiz aufzunehmen.

49

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Verordnung Nr. 343/2003 dahin auszulegen ist, dass die Rücknahme eines Asylantrags im Sinne ihres Art. 2 Buchst. c, die erfolgt, bevor der für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat der Aufnahme des Antragstellers zugestimmt hat, zur Folge hat, dass diese Verordnung nicht mehr anzuwenden ist. In einem solchen Fall ist es Sache des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Antrag gestellt wurde, die aufgrund dieser Rücknahme gebotenen Entscheidungen zu treffen und insbesondere die Antragsprüfung einzustellen und in die Akte des Antragstellers eine entsprechende Notiz aufzunehmen.

Kosten

50

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass die Rücknahme eines Asylantrags im Sinne ihres Art. 2 Buchst. c, die erfolgt, bevor der für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat der Aufnahme des Antragstellers zugestimmt hat, zur Folge hat, dass diese Verordnung nicht mehr anzuwenden ist. In einem solchen Fall ist es Sache des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Antrag gestellt wurde, die aufgrund dieser Rücknahme gebotenen Entscheidungen zu treffen und insbesondere die Antragsprüfung einzustellen und in die Akte des Antragstellers eine entsprechende Notiz aufzunehmen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Schwedisch.