URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

16. Mai 2013 ( *1 )

„Art. 45 AEUV — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Art. 10 — Leistungen bei Alter — Gewöhnlicher Aufenthaltsort in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten — Bezug einer Hinterbliebenenrente in dem einen und einer Altersrente in dem anderen Mitgliedstaat — Entzug einer dieser beiden Leistungen — Einziehung angeblich rechtsgrundlos empfangener Leistungen“

In der Rechtssache C-589/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Apelacyjny – Sąd Pracy i Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku (Polen) mit Entscheidung vom 2. Dezember 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Dezember 2010, in dem Verfahren

Janina Wencel

gegen

Zakład Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter M. Ilešič, J.-J. Kasel (Berichterstatter) und M. Safjan sowie der Richterin M. Berger,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. März 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Zakład Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku, vertreten durch K. M. Kalinowska, U. Kulisiewicz und A. Szybkie als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar, J. Faldyga und A. Siwek als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Mai 2012

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 20 Abs. 2 AEUV und 21 AEUV sowie einiger Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten und zuletzt durch die Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 (ABl. L 177, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Wencel und dem Zakład Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku (Sozialversicherungsanstalt, Zweigstelle Białystok, im Folgenden: ZUS) wegen ihres Anspruchs auf eine Altersrente.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In Art. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 ist der Begriff „Wohnort“ als der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts definiert.

4

Gemäß Art. 6 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 tritt diese Verordnung im Rahmen ihres persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs an die Stelle von Abkommen über soziale Sicherheit, die zwischen mindestens zwei Mitgliedstaaten in Kraft sind.

5

Nach Art. 7 („Von dieser Verordnung nicht berührte internationale Bestimmungen“) Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 bleiben „einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung geschlossen wurden, [anwendbar,] sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist, soweit diese Bestimmungen in Anhang III aufgeführt sind“.

6

Zu den Abkommen über soziale Sicherheit, die gemäß Anhang III der Verordnung Nr. 1408/71 anwendbar bleiben, gehört u. a. das zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland geschlossene Abkommen über Renten- und Unfallversicherung (umowa r. między Polską Rzeczpospolitą Ludową a Republiką Federalną Niemiec o zaopatrzeniu emerytalnym i wypadkowym) vom 9. Oktober 1975 (Dz. U. 1976, Nr. 16, Position 101) in geänderter Fassung (im Folgenden: Abkommen vom 9. Oktober 1975) unter den in Art. 27 Abs. 2 bis 4 des deutsch-polnischen Abkommens über Soziale Sicherheit (umowa polsko-niemiecka o zabezpieczeniu społecznym) vom 8. Dezember 1990 (Dz. U 1991, Nr. 108, Position 468) festgelegten Bedingungen.

7

Art. 10 („Aufhebung der Wohnortklauseln – Auswirkung der Pflichtversicherung auf die Beitragserstattung“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

„Die Geldleistungen bei Invalidität, Alter oder für die Hinterbliebenen, die Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten und die Sterbegelder, auf die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten Anspruch erhoben worden ist, dürfen, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.

…“

8

Art. 12 der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

„(1)   Ein Anspruch auf mehrere Leistungen gleicher Art aus derselben Pflichtversicherungszeit kann aufgrund dieser Verordnung weder erworben noch aufrechterhalten werden. …

(2)   Ist in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats für den Fall des Zusammentreffens einer Leistung mit anderen Leistungen der sozialen Sicherheit oder mit jederlei sonstigen Einkünften vorgesehen, dass die Leistung gekürzt, zum Ruhen gebracht oder entzogen wird, so sind, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, diese Vorschriften einem Berechtigten gegenüber auch dann anwendbar, wenn es sich um Leistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworben wurden, oder um Einkünfte handelt, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats bezogen werden.“

9

Nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 „unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach … Titel [II].“

10

Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 lautet:

„Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt Folgendes:

f)

eine Person, die den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht weiterhin unterliegt, ohne dass die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats … auf sie anwendbar würden, unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, nach Maßgabe allein dieser Rechtsvorschriften.“

11

Art. 46a der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

„(1)   Im Sinne dieses Kapitels bedeutet das Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art jedes Zusammentreffen von Leistungen bei Invalidität, Alter oder für Hinterbliebene, die auf der Grundlage der von ein und derselben Person zurückgelegten Versicherungs- und/oder Wohnzeiten berechnet oder gewährt wurden.

(2)   Im Sinne dieses Kapitels bedeutet das Zusammentreffen von Leistungen unterschiedlicher Art jedes Zusammentreffen von Leistungen, die im Sinne des Absatzes 1 nicht als Leistungen gleicher Art betrachtet werden können.

(3)   Für die Anwendung der Kürzungs-, Ruhens- und Entziehungsbestimmungen nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats bei Zusammentreffen einer Leistung bei Invalidität, Alter oder für Hinterbliebene mit einer Leistung gleicher Art oder einer Leistung unterschiedlicher Art oder mit sonstigen Einkünften gelten folgende Vorschriften:

d)

Sind Kürzungs-, Ruhens- bzw. Entziehungsbestimmungen nach den Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedstaats anwendbar, weil der Versicherte aufgrund der Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten geschuldete Leistungen gleicher oder unterschiedlicher Art oder andere im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten erzielte Einkünfte bezieht, so kann die nach den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats geschuldete Leistung nur um den Betrag der nach den Rechtsvorschriften der anderen Mitgliedstaaten geschuldeten Leistungen oder der im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten erzielten Einkünfte gekürzt werden.“

Die deutsch-polnischen Abkommen

12

Art. 4 des Abkommens vom 9. Oktober 1975 bestimmt:

„(1)   Renten der Rentenversicherung werden vom Versicherungsträger des Staates, in dessen Gebiet der Berechtigte wohnt, nach den für diesen Träger geltenden Vorschriften gewährt.

(2)   Der in Absatz 1 genannte Träger berücksichtigt bei der Feststellung der Rente nach den für ihn geltenden Vorschriften Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und diesen gleichgestellte Zeiten im anderen Staat so, als ob sie im Gebiet des ersten Staates zurückgelegt worden wären.

(3)   Renten nach Absatz 2 stehen nur für die Zeit zu, in der die betreffende Person im Gebiet des Staates wohnt, dessen Versicherungsträger die Rente festgestellt hat. In dieser Zeit hat ein Rentenempfänger keinen Anspruch aufgrund von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und diesen gleichgestellten Zeiten im anderen Staat gegenüber dem Versicherungsträger dieses Staates …“

13

Nach Art. 27 Abs. 2 des deutsch-polnischen Abkommens über Soziale Sicherheit vom 8. Dezember 1990 werden bis zum 1. Januar 1991 in einem Vertragsstaat erworbene Ansprüche und Anwartschaften durch das Abkommen vom 9. Oktober 1975 nicht berührt, solange die Begünstigten ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaats beibehalten.

Polnisches Recht

14

In Polen werden Altersrenten und andere Renten durch das Gesetz über von der Sozialversicherungskasse gezahlte Altersrenten und andere Renten (ustawa o emeryturach i rentach z Funduszu Ubezpieczeń Społecznych) vom 17. Dezember 1998 in seiner konsolidierten Fassung (Dz. U. 2009, Nr. 153, Position 1227, im Folgenden: Altersrentengesetz) geregelt.

15

Nach Art. 114 Abs. 1 dieses Gesetzes unterliegt der Anspruch auf Leistungen bzw. deren Höhe auf Antrag des Betroffenen oder von Amts wegen der erneuten Feststellung, wenn nach Eintritt der Bestandskraft der Entscheidung über die Leistungen neue Beweise vorgelegt werden oder bereits vor dem Erlass der Entscheidung bestehende Umstände zutage treten, die sich auf den Anspruch auf die Leistungen bzw. auf deren Höhe auswirken.

16

Nach Art. 138 Abs. 1 und 2 des Altersrentengesetzes ist eine Person, die rechtsgrundlos Leistungen empfangen hat, zu deren Erstattung verpflichtet. Als rechtsgrundlos empfangene Leistungen gelten Leistungen, die gezahlt werden, obwohl Umstände vorliegen, die zur Folge haben, dass der Leistungsanspruch erlischt oder ausgesetzt wird oder die Zahlung der Leistungen vollständig oder teilweise eingestellt wird, sofern der Leistungsempfänger über das Fehlen eines Anspruchs auf Empfang der Leistungen unterrichtet wurde.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17

Frau Wencel, eine am 25. Februar 1930 geborene polnische Staatsangehörige, ist seit 1954 in der Stadt Białystok (Polen) gemeldet. Ihr Ehemann, ebenfalls polnischer Staatsangehörigkeit, ließ sich nach ihrer Eheschließung im Jahr 1975 in Frankfurt am Main (Deutschland) nieder, wo er als wohnhaft gemeldet war und in einem Arbeitsverhältnis stand, das zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen führte. Ab 1984 bezog er in Deutschland eine Berufsunfähigkeitsrente. Frau Wencel reiste häufig zu ihrem Mann nach Deutschland, und dieser verbrachte alle Urlaube und Feiertage in Polen.

18

Laut einer von der Stadtverwaltung Frankfurt am Main ausgestellten Meldebestätigung hatte Frau Wencel ab 1984 ihren ständigen Aufenthalt in Deutschland. Sie erhielt dort eine Aufenthaltsgenehmigung, nahm dort aber nie Arbeit an. Von 1984 bis 1990 war sie bei ihrer Schwiegertochter in Polen als Kinderbetreuerin beschäftigt. Mit Entscheidung des ZUS vom 24. Oktober 1990 wurde ihr aufgrund ihrer in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten eine polnische Altersrente bewilligt. Seit dem Tod ihres Ehemanns im Jahr 2008 zahlt ihr der deutsche Versicherungsträger eine Hinterbliebenenrente, die ihr u. a. wegen ihres Wohnsitzes in Deutschland gewährt wird. Sie wohnt derzeit in Polen bei ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter und ihren Enkeln.

19

Im Jahr 2009 erfuhr der ZUS, dass Frau Wencel sowohl in Polen als auch in Deutschland gemeldet war. Unter Hinweis auf eine Erklärung vom 24. November 2009, in der Frau Wencel angegeben hatte, dass sie in Deutschland wohne, aber alle Urlaube und Feiertage in Polen verbringe, erließ der ZUS zwei Entscheidungen, die auf die Art. 114 und 138 Altersrentengesetz gestützt waren.

20

Mit seiner ersten Entscheidung vom 26. November 2009 hob er seine Entscheidung vom 24. Oktober 1990 über die Zuerkennung einer Altersrente auf und stellte die Zahlung dieser Rente ein. Nach Art. 4 des Abkommens vom 9. Oktober 1975 entscheide nämlich allein der Versicherungsträger des Staates, in dem der Antragsteller wohne, über einen Rentenantrag. Da Frau Wencel seit 1975 ihren ständigen Wohnsitz in Deutschland gehabt habe, habe sie im Rahmen des polnischen Versicherungssystems keinen Anspruch auf eine Altersrente. Mit seiner zweiten Entscheidung vom 23. Dezember 2009 verlangte der ZUS von Frau Wencel die Rückzahlung der in den vorangegangenen drei Jahren rechtsgrundlos bezogenen Altersrente.

21

Am 4. Januar 2010 focht Frau Wencel diese beiden Entscheidungen beim Sąd Okręgowy – Sąd Pracy i Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku (Bezirksgericht – Arbeits- und Sozialgericht Białystok) an und machte eine Verletzung der unionsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit und die Aufenthaltsfreiheit geltend. Ihr Anspruch auf Altersrente könne ihr nämlich nicht deshalb entzogen werden, weil sie zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte habe. Im Übrigen sei die Erklärung vom 24. November 2009 in Eile und auf Druck der Mitarbeiter des ZUS verfasst worden, so dass sie nicht den Tatsachen entspreche.

22

Mit Urteil vom 15. September 2010 wies das genannte Gericht die Klage von Frau Wencel mit der Begründung ab, es sei zwar möglich, als in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten wohnhaft gemeldet zu sein, doch schließe Art. 4 des Abkommens vom 9. Oktober 1975 aus, dass jemand seinen Lebensmittelpunkt an zwei verschiedenen Orten habe. Die Verlegung des Lebensmittelpunkts von Frau Wencel nach Deutschland habe dazu geführt, dass der deutsche Versicherungsträger zuständig geworden sei. Außerdem habe es Frau Wencel trotz des Hinweises in der Entscheidung über die Gewährung ihrer Altersrente versäumt, den ZUS über ihre Entscheidung, Polen zu verlassen, in Kenntnis zu setzen.

23

Frau Wencel legte gegen diese Entscheidung beim Sąd Apelacyjny – Sąd Pracy i Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku Berufung ein.

24

Nach Ansicht dieses Gerichts folgt aus Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71, dass einer Person, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt, ihre nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats erworbenen Leistungsansprüche nicht entzogen werden können. Obwohl der Fall, dass eine Person gleichzeitig zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte habe, in dieser Vorschrift nicht genannt werde, sei davon auszugehen, dass auch eine solche Person unter Art. 10 der Verordnung falle. Das vorlegende Gericht hat zunächst alle sachlichen Gesichtspunkte aufgezählt, die dafür sprechen, dass Frau Wencel gleichzeitig zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte hatte und von 1975 bis 2008 die eine Hälfte ihrer Zeit in Polen und die andere Hälfte in Deutschland verbrachte, um anschließend festzustellen, dass der Fall von Frau Wencel untypisch sei und der Grund dafür, dass sie keine Erklärung über die Verlegung ihres Lebensmittelpunkts abgegeben habe, darin liege, dass sie davon ausgegangen sei, tatsächlich zwei gleichwertige Wohnorte im Sinne von Art. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 zu haben.

25

Das Berufungsgericht wirft die Frage auf, ob Frau Wencel ihre Leistungsansprüche allein deshalb entzogen werden können, weil sie zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte hat. Die Entscheidungen des ZUS verstoßen seiner Ansicht nach gegen den Grundsatz der Freizügigkeit in der Europäischen Union.

26

Da nämlich die Bestimmungen des Abkommens vom 9. Oktober 1975 seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahr 2004 gemäß Art. 7 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 nur angewandt werden dürften, soweit sie nicht weniger günstig seien als die Bestimmungen dieser Verordnung, dürften die Leistungsansprüche von Frau Wencel nach den Art. 20 AEUV und 21 AEUV sowie Art. 10 dieser Verordnung nicht deshalb gekürzt werden, weil sie über 30 Jahre lang gleichzeitig zwei gleichwertige Wohnorte gehabt habe.

27

Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Altersrente rückwirkend entzogen werden kann, obwohl die Betroffene nicht darüber informiert wurde, dass sie jeden Umstand zu melden habe, der für die Entscheidung des für die Prüfung von Anträgen auf Altersrente zuständigen Versicherungsträgers von Bedeutung sein könnte.

28

Unter diesen Umständen hat der Sąd Apelacyjny – Sąd Pracy i Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgrund des in den Art. 21 und 20 Abs. 2 AEUV niedergelegten Grundsatzes der Freizügigkeit und des freien Aufenthalts in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union dahin auszulegen, dass Geldleistungen bei Alter, auf die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats ein Anspruch begründet worden ist, auch nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden dürfen, weil die berechtigte Person gleichzeitig im Gebiet zweier Mitgliedstaaten gewohnt hat (zwei gleichrangige gewöhnliche Aufenthaltsorte hatte), darunter ein anderer Staat als derjenige, in dessen Gebiet der zur Zahlung der Altersrente verpflichtete Träger seinen Sitz hat?

2.

Sind die Art. 21 und 20 Abs. 2 AEUV sowie Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, die nationale Bestimmung des Art. 114 Abs. 1 des Altersrentengesetzes in Verbindung mit Art. 4 des Abkommens vom 9. Oktober 1975 so anzuwenden, dass die polnische Rentenanstalt die Sache erneut entscheidet und einer Person, die viele Jahre lang gleichzeitig zwei gewöhnliche Wohnorte (zwei Lebensmittelpunkte) in zwei gegenwärtig der Europäischen Union angehörenden Staaten hatte und vor 2009 weder einen Antrag auf Verlegung ihres Wohnorts in einen dieser Staaten gestellt noch eine entsprechende Erklärung abgegeben hat, den Anspruch auf Altersrente entzieht?

Im Fall der Verneinung:

3.

Sind Art. 20 Abs. 2 und Art. 21 AEUV sowie Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, die nationale Bestimmung des Art. 138 Abs. 1 und 2 des Altersrentengesetzes so anzuwenden, dass die polnische Rentenanstalt von einer Person, die von 1975 bis 2009 gleichzeitig zwei gewöhnliche Wohnorte (zwei Lebensmittelpunkte) in zwei gegenwärtig der Europäischen Union angehörenden Staaten hatte, die Erstattung der Altersrente für die letzten drei Jahre verlangt, wenn diese Person während der Entscheidung über den Antrag auf Gewährung der Rente und nach deren Erhalt vom polnischen Versicherungsträger nicht darauf hingewiesen wurde, dass sie auch angeben muss, dass sie zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte in zwei Staaten hat, und einen Antrag stellen oder eine Erklärung abgeben muss in Bezug auf die Wahl des Versicherungsträgers eines dieser Staaten, der für die Prüfung eines Antrags auf Altersrente zuständig sein soll?

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

29

In Anbetracht der Besonderheiten der vorliegenden Rechtssache und um dem vorlegenden Gericht eine zweckdienliche Antwort zu geben, ist zunächst festzustellen, ob und gegebenenfalls inwieweit die Verordnung Nr. 1408/71 auf einen Fall wie den dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Anwendung findet.

30

Erstens ist zur zeitlichen Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 festzustellen, dass diese Verordnung in Bezug auf die Republik Polen mit deren Beitritt zur Union, d. h. am 1. Mai 2004, in Kraft getreten ist.

31

Im vorliegenden Fall hatte Frau Wencel zwar gemäß einer Entscheidung des ZUS vom 24. Oktober 1990 ihren Anspruch auf eine polnische Altersrente erworben, doch wurde dieser durch die Entscheidungen vom 26. November und 23. Dezember 2009 aberkannt und Frau Wencel zur Rückzahlung der Beträge aufgefordert, die sie in den drei vorausgegangenen Jahren rechtsgrundlos erhalten haben soll.

32

Demzufolge geht es im Ausgangsverfahren um die beiden letztgenannten, nach dem Beitritt der Republik Polen erlassenen Entscheidungen.

33

Ferner gilt die Verordnung Nr. 1408/71 als eine seit dem 1. Mai 2004 in Polen geltende neue Regelung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer grundsätzlich zwar nur für die Zukunft, doch ist sie auch auf die künftigen Wirkungen von unter dem alten Recht entstandenen Sachverhalten anwendbar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. April 2002, Duchon, C-290/00, Slg. 2002, I-3567, Randnr. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Daher ist die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen vom 26. November und 23. Dezember 2009 anhand der Verordnung Nr. 1408/71 zu prüfen, soweit die Bestimmungen der Abkommen über soziale Sicherheit nicht anwendbar sind.

35

Zweitens ist zur sachlichen Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 festzustellen, dass nach Art. 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 die in deren Anhang III aufgeführten Bestimmungen der Abkommen über soziale Sicherheit ungeachtet des Art. 6 dieser Verordnung anwendbar bleiben, der bestimmt, dass diese Verordnung im Rahmen ihres persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs an die Stelle von Abkommen über soziale Sicherheit tritt, die zwischen zwei oder mehreren Mitgliedstaaten in Kraft sind (Urteil vom 18. Dezember 2007, Habelt u. a., C-396/05, C-419/05 und C-450/05, Slg. 2007, I-11895, Randnr. 87).

36

Da das Abkommen vom 9. Oktober 1975 im Anhang III der Verordnung Nr. 1408/71 steht, bleibt es grundsätzlich selbst nach Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 in Polen anwendbar, sofern eine der beiden anderen in Art. 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 genannten Voraussetzungen erfüllt ist, d. h., wenn die Anwendung des Abkommens vom 9. Oktober 1975 für die Berechtigten günstiger ist oder dieses sich aus besonderen historischen Umständen ergibt und seine Geltung zeitlich begrenzt ist.

37

Die Verordnung Nr. 1408/71 ist also nur anwendbar, soweit die vor ihrem Inkrafttreten geschlossenen bilateralen Abkommen dem nicht entgegenstehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Mai 1969, Torrekens, 28/68, Slg. 1969, 125, Randnrn. 19 bis 21). Jedoch darf eine Unionsbestimmung wie Art. 7 Abs. 2 dieser Verordnung, die der Anwendung eines bilateralen Abkommens Vorrang einräumt, in ihrer Tragweite nicht mit den Grundsätzen kollidieren, die der Regelung, zu der sie gehört, zugrunde liegen (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Mai 2010, TNT Express Nederland, C-533/08, Slg. 2010, I-4107, Randnr. 51).

38

Daraus folgt, dass das Unionsrecht nicht nur auf alle Sachverhalte Anwendung finden kann, die unter den in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 genannten Voraussetzungen nicht in den Anwendungsbereich des Abkommens vom 9. Oktober 1975 fallen, sondern auch dann anwendbar ist, wenn die Bestimmungen dieses Abkommens nicht mit den Grundsätzen vereinbar sind, auf denen die Verordnung beruht.

39

Derartige Grundsätze, die den Vorschriften über die Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zugrunde liegen, sind diejenigen, die der Freizügigkeit immanent sind, die auf dem fundamentalen Grundsatz beruht, dass die Tätigkeit der Union insbesondere die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten umfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. März 2013, van den Booren, C-127/11, Randnr. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Da Frau Wencel von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, unterliegt ihr Fall den Grundsätzen, auf denen die Verordnung Nr. 1408/71 beruht. In Anbetracht der Tatsache, dass das in Rede stehende internationale Abkommen nicht zur Umsetzung dieser Grundsätze erlassen wurde, könnte es bei einem Sachverhalt wie dem des Ausgangsverfahrens diese Grundsätze beeinträchtigen.

41

Der Fall von Frau Wencel ist daher anhand der Verordnung Nr. 1408/71 zu prüfen.

Zu den Vorlagefragen

42

Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass ein Sozialversicherungsträger den Anspruch eines Versicherten auf eine Altersrente, der über viele Jahre gleichzeitig zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten hatte, deshalb rückwirkend entziehen und die Rückzahlung der angeblich rechtsgrundlos erhaltenen Rente verlangen darf, weil der Versicherte in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er ebenfalls einen Wohnsitz hatte, eine Hinterbliebenenrente bezieht.

43

Erstens ist zu prüfen, ob eine Person für die Zwecke der Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 und insbesondere ihres Art. 10 gleichzeitig zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten haben kann.

44

Art. 10 enthält die Bestimmungen über die Aufhebung der Wohnortklauseln und gewährleistet den Bezug der vom zuständigen Staat zu erbringenden Leistungen der sozialen Sicherheit für den Fall, dass der Versicherte in einem anderen Mitgliedstaat wohnt als dem, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat, oder seinen Wohnsitz in diesen anderen Mitgliedstaat verlegt.

45

Da der Wortlaut von Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 jedoch für die Beantwortung der Frage, ob es nach dieser Verordnung zulässig ist, zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten zu haben, nichts hergibt, ist darauf hinzuweisen, dass diese Verordnung ein System zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit vorsieht und in ihrem Titel II Regeln zur Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften enthält.

46

Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass diese Regeln nicht nur verhindern sollen, dass die Betroffenen in Ermangelung einer auf sie anwendbaren Rechtsordnung in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht schutzlos bleiben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 1964, Nonnenmacher, 92/63, Slg. 1964, 613, 627), sondern auch bezwecken, dass die Betroffenen dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats unterliegen, um die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, zu vermeiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 1986, Luijten, 60/85, Slg. 1986, 2365, Randnr. 12).

47

Dieser Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts kommt, wie der Generalanwalt in Nr. 28 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, insbesondere in Art. 13 Abs. 1 (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil Luijten, Randnr. 13) und Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 sowie in Art. 14a Abs. 2 dieser Verordnung zum Ausdruck (Urteil vom 9. März 2006, Piatkowski, C-493/04, Slg. 2006, I-2369, Randnr. 21).

48

Da das mit der Verordnung Nr. 1408/71 eingeführte System somit auf den Wohnort als Anknüpfungspunkt für die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften abstellt, kann nicht zugelassen werden, dass eine Person für die Zwecke der Verordnung Nr. 1408/71 gleichzeitig mehrere Wohnorte in verschiedenen Mitgliedstaaten hat, da den in der vorstehenden Randnummer genannten Vorschriften sonst jede praktische Wirksamkeit genommen würde.

49

Diese Feststellung wird durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff „Wohnort“ im Sinne der auf Systeme der sozialen Sicherheit für Wanderarbeitnehmer anwendbaren Unionsvorschriften bestätigt. Der Gerichtshof hat nämlich darauf hingewiesen, dass, wenn die Rechtsstellung einer Person an das Recht mehrerer Mitgliedstaaten anknüpft, der Begriff des Mitgliedstaats, in dem die Person wohnt, den Staat bezeichnet, in dem die Person gewöhnlich wohnt und in dem sich auch der gewöhnliche Mittelpunkt ihrer Interessen befindet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 1999, Swaddling, C-90/97, Slg. 1999, I-1075, Randnr. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Die von der Rechtsprechung aufgestellte – und gegenwärtig in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 284, S. 1) kodifizierte – Liste von Gesichtspunkten, die bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthaltsorts einer Person zu berücksichtigen sind, bringt das zwingende Erfordernis zum Ausdruck, einen einzigen Wohnort festzulegen.

51

Demzufolge ist Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass für die Zwecke der Anwendung dieser Verordnung eine Person nicht gleichzeitig zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten haben kann.

52

Zweitens ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zur Bestimmung des Trägers, der für die Auszahlung der Altersrente einer Person zuständig ist, die sich in einer Situation wie der von Frau Wencel befindet, unter Berücksichtigung aller sich aus den Akten ergebenden einschlägigen Gesichtspunkte den gewöhnlichen Aufenthaltsort der Betroffenen zu ermitteln.

53

In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens lediglich in Polen eine berufliche Tätigkeit ausgeübt hat und dass diese Tätigkeit mit ihren dortigen familiären Beziehungen zusammenhing.

54

Sodann wurde ihr in Polen ab 1990 eine Altersrente aufgrund der von ihr hierfür geleisteten Beitragszahlungen gewährt.

55

Schließlich muss das nationale Gericht prüfen, ob die von der Betroffenen im Jahr 2009 auf Verlangen des ZUS abgegebene Erklärung, wonach ihr Wohnsitz in Deutschland sei, unzutreffend ist, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen, zumindest seit dem Tod ihres Ehegatten im Jahr 2008, offenbar völlig nach Polen verlagert hat.

56

Falls sich der zuständige Träger wegen des Wohnsitzes der Betroffenen in diesem Mitgliedstaat befindet, ist drittens zu prüfen, ob er ihren Anspruch auf eine Altersrente deshalb rückwirkend entziehen und von ihr die Rückzahlung der angeblich rechtsgrundlos gezahlten Beträge verlangen kann, weil sie in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ebenfalls einen Wohnsitz hatte, eine Hinterbliebenenrente bezieht.

57

Zum Zusammentreffen von Leistungen ist zum einen festzustellen, dass grundsätzlich gemäß Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ein Anspruch auf mehrere Leistungen gleicher Art aus derselben Pflichtversicherungszeit aufgrund dieser Verordnung weder erworben noch aufrechterhalten werden kann.

58

Da den beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen jedoch zu entnehmen ist, dass die von Frau Wencel in Polen bezogene polnische Altersrente auf der Grundlage der von ihr dort zurückgelegten beruflichen Laufbahn berechnet wurde und ihr die deutsche Hinterbliebenenrente aufgrund der von ihrem verstorbenen Ehegatten in Deutschland ausgeübten Tätigkeit gezahlt wird, können diese beiden Leistungen nicht als Leistungen gleicher Art angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 1987, Stefanutti, 197/85, Slg. 1987, 3855, Randnr. 13, vom 12. Februar 1998, Cordelle, C-366/96, Slg. 1998, I-583, Randnrn. 20 und 21, sowie vom 7. März 2013, van den Booren, C-127/11, Randnrn. 32 und 33).

59

Zum anderen ergibt sich aus Art. 12 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71, dass, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, die in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Kürzungsbestimmungen gegenüber den Personen, die eine Leistung zulasten dieses Mitgliedstaats erhalten, anwendbar sind, wenn sie Anspruch auf andere Leistungen der sozialen Sicherheit haben, und zwar auch dann, wenn diese Leistungen nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworben wurden (Urteil vom 7. März 2002, Insalaca, C-107/00, Slg. 2002, I-2403, Randnr. 22).

60

Demzufolge steht die Verordnung Nr. 1408/71 der Anwendung einer nationalen Regelung nicht entgegen, die dazu führt, dass die Rente, die der Versicherte beanspruchen kann, deshalb gekürzt wird, weil er in einem anderen Mitgliedstaat eine Leistung bei Alter bezieht, wobei jedoch die nach der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Grenzen einzuhalten sind.

61

Zu diesen Grenzen gehört insbesondere Art. 46a Abs. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 1408/71, wonach die nach den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats geschuldete Leistung nur um den Betrag der nach den Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats geschuldeten Leistungen gekürzt werden kann.

62

Nach alledem kann der Betroffenen die polnische Altersrente nicht wegen des Bestehens einer deutschen Hinterbliebenenversorgung rückwirkend entzogen werden. Sie kann ihr jedoch in Anwendung einer etwaigen polnischen Antikumulierungsvorschrift um den Betrag der deutschen Leistungen gekürzt werden. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es im vorliegenden Fall eine derartige Regel gibt.

63

Falls es im polnischen Recht eine solche Antikumulierungsvorschrift gibt, der die Verordnung Nr. 1408/71 nicht entgegensteht, wäre außerdem zu prüfen, ob sie mit den Bestimmungen des AEU-Vertrags vereinbar ist.

64

Diese Auslegung der Verordnung Nr. 1408/71 gilt nämlich, wie bereits in Randnr. 37 des vorliegenden Urteils ausgeführt, unbeschadet der Lösung, die sich aus der eventuellen Anwendbarkeit primärrechtlicher Bestimmungen ergäbe. Die Feststellung der eventuellen Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit einer Bestimmung des abgeleiteten Rechts – hier der Verordnung Nr. 1408/71 – hat nicht zwangsläufig zur Folge, dass die Maßnahme nicht an den Bestimmungen des Vertrags zu messen wäre (Urteile vom 16. Juli 2009, von Chamier-Glisczinski, C-208/07, Slg. 2009, I-6095, Randnr. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie van den Booren, Randnr. 38).

65

Das vorlegende Gericht hat in diesem Kontext die Vorabentscheidungsfragen im Licht des Primärrechts der Union, insbesondere von Art. 20 Abs. 2 AEUV und Art. 21 AEUV, gestellt.

66

Es ist offenkundig, dass die Situation von Frau Wencel in den Anwendungsbereich des Art. 45 AEUV fällt.

67

Da das Ausgangsverfahren unter diese Vorschrift fällt, braucht zur Auslegung von Art. 20 Abs. 2 AEUV und Art. 21 AEUV nicht Stellung genommen zu werden. Diese Vorschriften, in denen das Recht jedes Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in allgemeiner Form niedergelegt ist, finden nämlich in Art. 45 AEUV eine besondere Ausprägung in Bezug auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2012, Caves Krier Frères, C-379/11, Randnr. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68

Insoweit genügt der Hinweis, dass Art. 45 AEUV einen fundamentalen Grundsatz ausführt, dem zufolge die Tätigkeit der Union die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten umfasst (Urteil van den Booren, Randnr. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69

Folglich steht das Unionsrecht jeder nationalen Maßnahme entgegen, die, auch wenn sie ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar ist, geeignet ist, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten durch die Unionsangehörigen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (vgl. Urteil van den Booren, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

70

Nationale Maßnahmen dieser Art können nur dann zugelassen werden, wenn mit ihnen ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, wenn sie geeignet sind, dessen Erreichung zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist (Urteil van den Booren, Randnr. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

71

Somit ist es Sache des nationalen Gerichts, die Vereinbarkeit der fraglichen nationalen Regelung mit dem Unionsrecht zu beurteilen, indem es prüft, ob die den Entzug des Anspruchs auf eine Altersrente und die Rückzahlung der angeblich unrechtmäßig erhaltenen Beträge anordnende Regelung, die zwar unterschiedslos für die eigenen Staatsangehörigen und für die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten gilt, in Wirklichkeit bei der Versicherten nicht zu einer ungünstigeren Situation führt als bei einer Person, die sich in einer Situation ohne grenzüberschreitenden Bezug befindet, und ob die betreffende nationale Regelung, sofern im vorliegenden Fall ein solcher Nachteil festgestellt werden sollte, durch objektive Erwägungen gerechtfertigt ist und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht (Urteil van den Booren, Randnr. 46).

72

Im Rahmen dieser Prüfung muss das vorlegende Gericht auch berücksichtigen, dass die zuständigen nationalen Behörden nach dem in Art. 4 AEUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet sind, alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um den Zweck des Art. 45 AEUV zu erreichen (vgl. Urteile van Munster, Randnr. 32, und Leyman, Randnr. 49).

73

In Anbetracht aller dieser Erwägungen sind die Vorlagefragen wie folgt zu beantworten:

Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, dass für die Zwecke der Anwendung dieser Verordnung eine Person nicht gleichzeitig zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten haben kann.

Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats kann nach der Verordnung Nr. 1408/71, insbesondere nach deren Art. 12 Abs. 2 und Art. 46a, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dem Empfänger einer Altersrente nicht deshalb rückwirkend den Anspruch auf diese Leistung entziehen und von ihm die Rückzahlung der angeblich rechtsgrundlos gezahlten Beträge verlangen, weil er in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er ebenfalls einen Wohnsitz hatte, eine Hinterbliebenenrente bezieht. Die im ersten Mitgliedstaat bezogene Altersrente kann jedoch in Anwendung einer etwaigen nationalen Antikumulierungsvorschrift um den Betrag der in dem anderen Mitgliedstaat bezogenen Leistungen gekürzt werden.

Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einer Entscheidung, mit der in Anwendung einer etwaigen nationalen Antikumulierungsvorschrift eine Kürzung der im ersten Mitgliedstaat bezogenen Altersrente um den Betrag der in dem anderen Mitgliedstaat bezogenen Leistungen verfügt wird, dann nicht entgegensteht, wenn diese Entscheidung beim Empfänger dieser Leistungen nicht zu einer ungünstigeren Situation führt als bei einer Person, die sich in einer Situation ohne grenzüberschreitenden Bezug befindet, und, sollte ein solcher Nachteil festgestellt werden, durch objektive Erwägungen gerechtfertigt ist sowie in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Kosten

74

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten und zuletzt durch die Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass für die Zwecke der Anwendung dieser Verordnung eine Person nicht gleichzeitig zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten haben kann.

 

Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats kann nach der Verordnung Nr. 1408/71, insbesondere nach deren Art. 12 Abs. 2 und Art. 46a, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dem Empfänger einer Altersrente nicht deshalb rückwirkend den Anspruch auf diese Leistung entziehen und von ihm die Rückzahlung der angeblich rechtsgrundlos gezahlten Beträge verlangen, weil er in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er ebenfalls einen Wohnsitz hatte, eine Hinterbliebenenrente bezieht. Die im ersten Mitgliedstaat bezogene Altersrente kann jedoch in Anwendung einer etwaigen nationalen Antikumulierungsvorschrift um den Betrag der in dem anderen Mitgliedstaat bezogenen Leistungen gekürzt werden.

 

Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einer Entscheidung, mit der in Anwendung einer etwaigen nationalen Antikumulierungsvorschrift eine Kürzung der im ersten Mitgliedstaat bezogenen Altersrente um den Betrag der in dem anderen Mitgliedstaat bezogenen Leistungen verfügt wird, dann nicht entgegensteht, wenn diese Entscheidung beim Empfänger dieser Leistungen nicht zu einer ungünstigeren Situation führt als bei einer Person, die sich in einer Situation ohne grenzüberschreitenden Bezug befindet, und, sollte ein solcher Nachteil festgestellt werden, durch objektive Erwägungen gerechtfertigt ist sowie in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.