URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

16. Februar 2012 ( *1 )

„Verordnung (EG) Nr. 6/2002 — Art. 19 Abs. 1 — Gemeinschaftsgeschmacksmuster — Verletzung oder drohende Verletzung — Begriff ‚Dritter‘“

In der Rechtssache C-488/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Mercantil no 1 de Alicante y no 1 de Marca Comunitaria (Spanien) mit Entscheidung vom 15. September 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Oktober 2010, in dem Verfahren

Celaya Emparanza y Galdos Internacional SA

gegen

Proyectos Integrales de Balizamiento SL

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter M. Safjan, M. Ilešič (Berichterstatter) und E. Levits sowie der Richterin M. Berger,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. September 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Celaya Emparanza y Galdos Internacional SA, vertreten durch J. L. Gracia Albero, F. Rodríguez Domínguez, F. Miazetto und S. Ferrandis González, abogados,

der polnischen Regierung, vertreten durch M. Laszuk, I. Żarski und M. Szpunar als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Wenzel Bulst und R. Vidal Puig als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. November 2011

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1, im Folgenden: Verordnung).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Celaya Emparanza y Galdos Internacional SA (im Folgenden: Cegasa) und der Proyectos Integrales de Balizamiento SL (im Folgenden: PROIN), in dem Cegasa Klage wegen Nachahmung erhoben hat.

Rechtlicher Rahmen

3

Gemäß ihrem fünften Erwägungsgrund zielt die Verordnung darauf ab, „ein in den einzelnen Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Gemeinschaftsgeschmacksmuster [zu schaffen]“, um „ein Geschmacksmusterrecht für ein alle Mitgliedstaaten umfassendes Gebiet zu erlangen“.

4

Der 18. Erwägungsgrund der Verordnung lautet:

„Ein eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster macht die Schaffung und Führung eines Registers erforderlich, in das alle Anmeldungen eingetragen werden, die den formalen Erfordernissen entsprechen und deren Anmeldetag feststeht. Das Eintragungssystem sollte grundsätzlich nicht auf eine materiellrechtliche Prüfung der Erfüllung der Schutzvoraussetzungen vor der Eintragung gegründet sein. Dadurch wird die Belastung der Anmelder durch Eintragungs- und andere Verfahrensvorschriften auf ein Minimum beschränkt.“

5

Gemäß Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung wird ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster „durch ein ‚eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster‘ geschützt, wenn es in der in dieser Verordnung vorgesehenen Weise eingetragen ist“.

6

Art. 1 Abs. 3 der Verordnung bestimmt:

„Das Gemeinschaftsgeschmacksmuster ist einheitlich. Es hat dieselbe Wirkung in der gesamten Gemeinschaft. Es kann nur für dieses gesamte Gebiet eingetragen oder übertragen werden oder Gegenstand eines Verzichts oder einer Entscheidung über die Nichtigkeit sein, und seine Benutzung kann nur für die gesamte Gemeinschaft untersagt werden. Dieser Grundsatz gilt, sofern in der Verordnung nichts anderes bestimmt ist.“

7

Gemäß Art. 3 Buchst. a der Verordnung

„… bezeichnet:

a)

‚Geschmacksmuster‘ die Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt“.

8

Art. 4 Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Ein Geschmacksmuster wird durch ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster geschützt, soweit es neu ist und Eigenart hat.“

9

Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung gilt ein eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster als neu, wenn der Öffentlichkeit „vor dem Tag der Anmeldung zur Eintragung des Geschmacksmusters, das geschützt werden soll, oder, wenn eine Priorität in Anspruch genommen wird, vor dem Prioritätstag“ kein identisches Geschmacksmuster zugänglich gemacht worden ist.

10

Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung sieht vor, dass ein eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster Eigenart hat, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein anderes Geschmacksmuster bei diesem Benutzer hervorruft, das der Öffentlichkeit „vor dem Tag der Anmeldung zur Eintragung oder, wenn eine Priorität in Anspruch genommen wird, vor dem Prioritätstag“ zugänglich gemacht worden ist.

11

Art. 10 („Schutzumfang“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1:

„Der Umfang des Schutzes aus dem Gemeinschaftsgeschmacksmuster erstreckt sich auf jedes Geschmacksmuster, das beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck erweckt.“

12

Art. 19 („Rechte aus dem Gemeinschaftsgeschmacksmuster“) der Verordnung sieht vor:

„(1)   Das eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster gewährt seinem Inhaber das ausschließliche Recht, es zu benutzen und Dritten zu verbieten, es ohne seine Zustimmung zu benutzen. Die erwähnte Benutzung schließt insbesondere die Herstellung, das Anbieten, das Inverkehrbringen, die Einfuhr, die Ausfuhr oder die Benutzung eines Erzeugnisses, in das das Muster aufgenommen oder bei dem es verwendet wird, oder den Besitz des Erzeugnisses zu den genannten Zwecken ein.

(2)   Das nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster gewährt seinem Inhaber das Recht, die in Absatz 1 genannten Handlungen zu verbieten, jedoch nur, wenn die angefochtene Benutzung das Ergebnis einer Nachahmung des geschützten Musters ist.

Die angefochtene Benutzung wird nicht als Ergebnis einer Nachahmung des geschützten Geschmacksmusters betrachtet, wenn sie das Ergebnis eines selbständigen Entwurfs eines Entwerfers ist, von dem berechtigterweise angenommen werden kann, dass er das von dem Inhaber offenbarte Muster nicht kannte.

…“

13

Abschnitt 5 („Nichtigkeit“) des Titels II der Verordnung umfasst deren Art. 24 bis 26.

14

Art. 24 Abs. 1 der Verordnung lautet:

„Ein eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster wird auf Antrag beim [Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM)] nach dem Verfahren gemäß Titel VI und Titel VII oder von einem Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht auf Widerklage im Verletzungsverfahren für nichtig erklärt.“

15

Art. 25 („Nichtigkeitsgründe“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1 Buchst. d, dass ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster nur dann für nichtig erklärt werden kann, „wenn das Gemeinschaftsgeschmacksmuster mit einem älteren Geschmacksmuster kollidiert“.

16

Titel V („Eintragungsverfahren“) der Verordnung besteht aus deren Art. 45 bis 50.

17

Art. 45 („Prüfung der Anmeldung auf Formerfordernisse“) der Verordnung bestimmt in Abs. 2:

„Das [HABM] prüft, ob:

a)

die Anmeldung den sonstigen in Artikel 36 Absätze 2, 3, 4 und 5 sowie im Falle einer Sammelanmeldung den in Artikel 37 Absätze 1 und 2 vorgesehenen Erfordernissen genügt;

b)

die Anmeldung den in der Durchführungsverordnung zu den Artikeln 36 und 37 vorgesehenen Formerfordernissen genügt;

c)

die Erfordernisse nach Artikel 77 Absatz 2 erfüllt sind;

d)

die Erfordernisse für die Inanspruchnahme der Priorität erfüllt sind, wenn Priorität in Anspruch genommen wird.“

18

Art. 47 („Eintragungshindernisse“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1:

„Kommt das [HABM] bei der Prüfung gemäß Artikel 45 zu dem Schluss, dass das Geschmacksmuster, für das Schutz beantragt wird:

a)

der Begriffsbestimmung nach Artikel 3 Buchstabe a) nicht entspricht, oder

b)

gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstößt,

so weist es die Anmeldung zurück.“

19

Nach Art. 48 der Verordnung trägt das HABM, wenn „die Erfordernisse einer Anmeldung eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters erfüllt [sind] und … die Anmeldung nicht gemäß Artikel 47 zurückgewiesen [wurde], … die Anmeldung im Register für Gemeinschaftsgeschmacksmuster als eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster ein“.

20

Titel VI („Verzicht auf das eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster und Nichtigkeit“) der Verordnung besteht aus den Art. 51 bis 54.

21

Art. 52 („Antrag auf Nichtigerklärung“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1, dass „jede natürliche oder juristische Person sowie eine hierzu befugte Behörde beim [HABM] einen Antrag auf Nichtigerklärung eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters stellen [kann]“.

22

Titel IX („Zuständigkeit und Verfahren für Klagen, die Gemeinschaftsgeschmacksmuster betreffen“) der Verordnung enthält u. a. einen Abschnitt 2 („Streitigkeiten über die Verletzung und Rechtsgültigkeit der Gemeinschaftsgeschmacksmuster“), der die Art. 80 bis 92 umfasst.

23

Art. 81 der Verordnung lautet:

„Die Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte sind ausschließlich zuständig:

a)

für Klagen wegen Verletzung und – falls das nationale Recht dies zulässt – wegen drohender Verletzung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters;

b)

für Klagen auf Feststellung der Nichtverletzung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern, falls das nationale Recht diese zulässt;

c)

für Klagen auf Erklärung der Nichtigkeit eines nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters;

d)

für Widerklagen auf Erklärung der Nichtigkeit eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters, die im Zusammenhang mit den unter Buchstabe a) genannten Klagen erhoben werden.“

24

Art. 85 („Vermutung der Rechtsgültigkeit – Einreden“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1:

„In Verfahren betreffend eine Verletzungsklage oder eine Klage wegen drohender Verletzung eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters haben die Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte von der Rechtsgültigkeit des Gemeinschaftsgeschmacksmusters auszugehen. Die Rechtsgültigkeit kann vom Beklagten nur mit einer Widerklage auf Erklärung der Nichtigkeit bestritten werden. Allerdings ist der nicht im Wege der Widerklage erhobene Einwand der Nichtigkeit eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters insoweit zulässig, als sich der Beklagte darauf beruft, dass das Gemeinschaftsgeschmacksmuster wegen eines ihm zustehenden älteren nationalen Musterrechts im Sinne des Artikels 25 Absatz 1 Buchstabe d) für nichtig erklärt werden sollte.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

25

Cegasa ist Inhaberin des aus einem Leitpfosten zur Straßenmarkierung bestehenden eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters Nr. 000421649-0001. Dieses Geschmacksmuster wurde am 26. Oktober 2005 beim HABM angemeldet und am 13. Dezember 2005 im Register für Gemeinschaftsgeschmacksmuster veröffentlicht.

26

Ende 2007 vertrieb PROIN einen Leitpfosten mit der Bezeichnung H-75. Da Cegasa der Auffassung war, dass dieser Leitpfosten keinen anderen Gesamteindruck erwecke als das eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster Nr. 000421649-0001, forderte sie PROIN im Januar 2008 außergerichtlich auf, die Verletzung des Geschmacksmusters zu unterlassen. PROIN bestritt eine Verletzung, verpflichtete sich aber, Änderungen an ihrem Geschmacksmuster vorzunehmen. Im März 2008 wiederholte Cegasa gegenüber PROIN ihre Aufforderung, die Verletzung zu unterlassen.

27

Am 11. April 2008 meldete PROIN beim HABM ein aus einem Leitpfosten zur Straßenmarkierung bestehendes Gemeinschaftsgeschmacksmuster an. Dieses Geschmacksmuster wurde am 7. Mai 2008 unter der Nr. 000915426-001 im Register für Gemeinschaftsgeschmacksmuster veröffentlicht.

28

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts handelt es sich bei dem von PROIN vertriebenen zylinderförmigen Pfosten um eine Wiedergabe des eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters Nr. 000421649-0001 von Cegasa, da der Pfosten beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck als dieses Geschmacksmuster erwecke. Cegasa habe jedoch keinen Antrag auf Nichtigerklärung des eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters Nr. 000915426-001 gestellt.

29

Cegasa erhob stattdessen beim Juzgado de lo Mercantil no 1 de Alicante y no 1 de Marca Comunitaria Klage wegen Verletzung eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters und machte geltend, in Bezug auf das Verkehrszeichen mit der Bezeichnung H-75 stellten das Anbieten, die Verkaufsförderung, die Werbung, die Lagerung, der Vertrieb und die Vermarktung durch PROIN eine Verletzung ihrer sich aus der Verordnung ergebenden Rechte als Inhaberin des eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters Nr. 000421649-0001 dar.

30

PROIN trat dieser Verletzungsklage entgegen. Sie machte u. a. geltend, Cegasa fehle für ein Vorgehen gegen eine Verletzung ihres eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters die Klagebefugnis, da der von PROIN vermarktete Leitpfosten eine Wiedergabe eines ebenfalls eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters sei. Solange diese Eintragung nicht für nichtig erklärt worden sei, sei ihr Inhaber aufgrund der Verordnung berechtigt, sie zu benutzen, so dass die Ausübung dieses Rechts nicht als Verletzung angesehen werden könne.

31

Unter diesen Umständen hat der Juzgado de lo Mercantil no 1 de Alicante y no 1 de Marca Comunitaria das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Erstreckt sich in einem Rechtsstreit wegen Verletzung des ausschließlichen Rechts aus einem eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster das in Art. 19 Abs. 1 der Verordnung vorgesehene Recht, Dritten seine Benutzung zu verbieten, auf jeden Dritten, der ein anderes Geschmacksmuster benutzt, das beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck erweckt, oder ist hiervon ein Dritter, der ein zu seinen Gunsten eingetragenes jüngeres Gemeinschaftsgeschmacksmuster benutzt, ausgenommen, solange dieses nicht für nichtig erklärt worden ist?

2.

Ist für die Antwort auf die vorstehende Frage die von dem Dritten verfolgte Absicht ohne Bedeutung, oder fällt diese Antwort je nach dem Verhalten des Dritten unterschiedlich aus, wobei maßgebend ist, dass der Dritte das jüngere Gemeinschaftsgeschmacksmuster erst anmeldete und eintragen ließ, nachdem er von dem Inhaber des älteren Gemeinschaftsgeschmacksmusters außergerichtlich aufgefordert worden war, die Vermarktung eines Erzeugnisses zu unterlassen, weil dies die Rechte aus dem älteren Geschmacksmuster verletze?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

32

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung keine Vorschrift enthält, die sich ausdrücklich auf die Möglichkeit des Inhabers eines älteren eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters bezieht, gegen den Inhaber eines später eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters eine Verletzungsklage zu erheben.

33

Jedoch ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung nicht danach unterscheidet, ob der Dritte Inhaber eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters ist oder nicht.

34

Nach dieser Bestimmung gewährt das eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster seinem Inhaber das ausschließliche Recht, es zu benutzen und „Dritten“ zu verbieten, es ohne seine Zustimmung zu benutzen.

35

Außerdem erstreckt sich nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung der Schutz des Gemeinschaftsgeschmacksmusters auf „jedes Geschmacksmuster, das beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck erweckt“.

36

Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass die Verordnung die Erhebung einer Verletzungsklage durch den Inhaber eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters, die sich gegen die Benutzung eines später eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters richtet, das beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck erweckt, nicht ausschließt.

37

Wie die polnische Regierung in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen ausgeführt hat, verfügt zwar auch der Inhaber des später eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters grundsätzlich über ein ausschließliches Recht, sein Geschmacksmuster zu benutzen.

38

Doch wird dadurch die Auslegung des Begriffs „Dritter“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung, die den Inhaber eines später eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters einschließt, nicht in Frage gestellt.

39

Insoweit sei daran erinnert, dass die Bestimmungen der Verordnung, wie die Europäische Kommission in ihren Erklärungen ausgeführt hat, im Licht des Prioritätsprinzips auszulegen sind, das besagt, dass ein älteres eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster Vorrang vor später eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmustern hat.

40

Wie insbesondere aus Art. 4 Abs. 1 der Verordnung hervorgeht, wird ein Geschmacksmuster durch ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster nur geschützt, soweit es neu ist und Eigenart hat. Kollidieren zwei eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster miteinander, wird aber vermutet, dass das zuerst eingetragene diese Voraussetzungen für den gemeinschaftlichen Schutz vor dem als zweites eingetragenen erfüllt. Der Inhaber des später eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters kann somit den ihm durch die Verordnung gewährten Schutz nur erlangen, wenn er mittels einer Nichtigkeitsklage – gegebenenfalls als Widerklage – nachweist, dass eine dieser Voraussetzungen beim älteren eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster fehlt.

41

In diesem Kontext sind, wie der Generalanwalt in den Nrn. 32 und 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Wesenszüge des mit der Verordnung geschaffenen Eintragungsverfahrens für Gemeinschaftsgeschmacksmuster zu berücksichtigen.

42

Gemäß diesem in den Art. 45 bis 48 der Verordnung geregelten Verfahren prüft das HABM, ob eine Anmeldung den in der Verordnung vorgesehenen Formerfordernissen genügt. Sofern die Anmeldung diese Voraussetzungen erfüllt, der Definition des Geschmacksmusters in Art. 3 Buchst. a der Verordnung entspricht und nicht gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstößt, trägt das HABM die Anmeldung im Register für Gemeinschaftsgeschmacksmuster als eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster ein.

43

Es handelt sich folglich um eine beschleunigte, im Wesentlichen formelle Kontrolle, die, wie aus dem 18. Erwägungsgrund der Verordnung hervorgeht, keine materiell-rechtliche Prüfung der Erfüllung der Schutzvoraussetzungen durch das Geschmacksmuster vor der Eintragung erfordert und die im Übrigen, anders als das Eintragungsverfahren nach der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Gemeinschaftsmarke (ABl. L 78, S. 1), keine Phase vorsieht, die es dem Inhaber eines älteren eingetragenen Geschmacksmusters erlauben würde, der Eintragung zu widersprechen.

44

Unter diesen Umständen können das mit der Verordnung verfolgte Ziel eines wirksamen Schutzes der eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster und die praktische Wirksamkeit von Verletzungsklagen nur durch eine Auslegung des Begriffs „Dritter“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung erreicht werden, die den Inhaber eines später eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters einschließt.

45

Diesem Ergebnis steht auch nicht entgegen, dass die Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte nach der Verordnung nicht für Entscheidungen über Anträge auf Nichtigerklärung von eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmustern zuständig sind und dass sie nach Art. 85 der Verordnung in Verfahren betreffend eine Verletzungsklage oder eine Klage wegen drohender Verletzung von der Rechtsgültigkeit des eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters auszugehen haben.

46

Insoweit ist hervorzuheben, dass die Verordnung bei Klagen, die eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster betreffen, klar zwischen Verletzungs- und Nichtigkeitsklagen unterscheidet.

47

Für Entscheidungen über Verletzungsklagen sind nach Art. 81 der Verordnung die Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte ausschließlich zuständig. Sie prüfen im Rahmen dieser Klagen nur, ob das ausschließliche Nutzungsrecht verletzt ist, das die Verordnung dem Inhaber eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters verleiht.

48

Die Behandlung von Anträgen auf Nichtigerklärung eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster wurde durch die Verordnung dagegen beim HABM zentralisiert, wobei dieser Grundsatz dadurch abgeschwächt wird, dass die Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte über Widerklagen auf Nichtigerklärung eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters entscheiden können, die im Rahmen einer Verletzungsklage oder einer Klage wegen drohender Verletzung erhoben werden.

49

Insoweit kann dem Vorbringen nicht gefolgt werden, dass durch eine Auslegung des Begriffs „Dritter“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung, die den Inhaber eines später eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters einschließt, die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den genannten Gerichten und dem HABM verändert und zudem die Zuständigkeit des HABM für Nichtigerklärungen sinnlos würde.

50

Aus den oben dargestellten Merkmalen geht nämlich hervor, dass sich die Verletzungsklagen und die Anträge auf Nichtigerklärung in ihrem Gegenstand und ihren Wirkungen voneinander unterscheiden, so dass die Möglichkeit des Inhabers eines älteren eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters, eine Verletzungsklage gegen den Inhaber eines später eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters zu erheben, nicht geeignet ist, einen gegen Letzteren gerichteten Antrag auf Nichtigerklärung beim HABM sinnlos werden zu lassen.

51

Folglich ist festzustellen, dass durch das in Randnr. 44 des vorliegenden Urteils dargestellte Ergebnis nicht in das durch die Verordnung geschaffene Rechtsbehelfssystem eingegriffen wird, da das später eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster, dessen Benutzung untersagt wurde, gültig bleibt, solange es nicht durch das HABM oder durch ein Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht im Rahmen einer Widerklage auf Nichtigerklärung für nichtig erklärt wurde.

52

Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass sich in einem Rechtsstreit wegen Verletzung des ausschließlichen Rechts aus einem eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster das Recht, Dritten dessen Benutzung zu untersagen, auf jeden Dritten erstreckt, der ein Geschmacksmuster benutzt, das beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck erweckt, einschließlich des Inhabers eines später eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters.

Zur zweiten Frage

53

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Absicht und das Verhalten des Dritten, der Inhaber des später eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters ist, für die Antwort auf die erste Frage von Bedeutung sind.

54

Das vorlegende Gericht nimmt insbesondere Bezug auf die Situation im Ausgangsverfahren, in der PROIN ihr Gemeinschaftsgeschmacksmuster erst eintragen ließ, nachdem sie von Cegasa gemahnt worden war.

55

Hierzu ist erstens festzustellen, dass – wie von allen Beteiligten, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, dargelegt worden ist – der Umfang der Rechte aus der Verordnung objektiv bestimmt werden muss und nicht nach Maßgabe der Umstände des Verhaltens der Person variieren kann, die die Eintragung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters beantragt.

56

Zweitens geht, wie der Generalanwalt in Nr. 49 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, aus Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung hervor, dass der Unionsgesetzgeber den guten Glauben durchaus zum Schutz des Entwerfers, der das vom Inhaber offenbarte, nicht eingetragene Geschmacksmuster nicht kannte, berücksichtigt hat.

57

Dagegen hat der Gesetzgeber in Art. 19 Abs. 1 der Verordnung keine die Absichten des Dritten betreffenden Erwägungen aufgenommen.

58

Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Antwort auf die erste Frage von der Absicht und dem Verhalten des Dritten unabhängig ist.

Kosten

59

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 19 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster ist dahin auszulegen, dass sich in einem Rechtsstreit wegen Verletzung des ausschließlichen Rechts aus einem eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster das Recht, Dritten dessen Benutzung zu untersagen, auf jeden Dritten erstreckt, der ein Geschmacksmuster benutzt, das beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck erweckt, einschließlich des Inhabers eines später eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters.

 

2.

Die Antwort auf die erste Frage ist von der Absicht und dem Verhalten des Dritten unabhängig.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Spanisch.