Rechtssache C‑132/10

Olivier Halley u. a.

gegen

Belgische Staat

(Vorabentscheidungsersuchen der

Rechtbank van eerste aanleg te Leuven)

„Direkte Besteuerung – Freier Kapitalverkehr – Art. 63 AEUV – Erbschaftsteuern auf Namensaktien – Verjährungsfrist für die Bewertung von Aktien, die bei gebietsfremden Gesellschaften länger ist als bei gebietsansässigen Gesellschaften – Beschränkung − Rechtfertigung“

Leitsätze des Urteils

Freier Kapitalverkehr – Beschränkungen – Steuerrecht – Erbschaftsteuer

(Art. 63 AEUV)

Art. 63 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die im Bereich der Erbschaftsteuern eine Verjährungsfrist von zehn Jahren für die Bewertung von Namensaktien einer Gesellschaft vorsieht, deren Aktionär der Erblasser war und deren tatsächliche Geschäftsleitung sich an einem Ort in einem anderen Mitgliedstaat befindet, während diese Frist zwei Jahre beträgt, wenn sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung im erstgenannten Mitgliedstaat befindet.

Die Anwendung einer solchen längeren Verjährungsfrist auf Erben, die Aktien an einer Gesellschaft halten, deren tatsächliche Geschäftsleitung sich an einem Ort in einem anderen Mitgliedstaat befindet, kann nämlich dazu führen, dass im ersten Staat ansässige Personen davon abgehalten werden, Investitionen in Vermögenswerte zu tätigen oder zu halten, die außerhalb dieses Mitgliedstaats belegen sind, da sich ihre Erben länger im Ungewissen über die Möglichkeit einer steuerlichen Nachforderung befinden.

Eine solche Regelung ist weder durch die Notwendigkeit, die Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung zu gewährleisten, noch durch das Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehung gerechtfertigt, da die generelle Geltung der Frist von 10 Jahren sich in keiner Weise nach der Zeit richtet, die für die sachdienliche Inanspruchnahme von Mechanismen der gegenseitigen Amtshilfe oder anderer Mittel, die die Ermittlung des Wertes der betroffenen Aktien erlauben, benötigt wird. Es ist nämlich zwischen einer Situation zu unterscheiden, in der Steuergegenstände verschwiegen worden sind und die Steuerbehörden über keinen Anhaltspunkt verfügen, der ihnen die Einleitung von Ermittlungen erlaubte, und einer Situation, in der diese Behörden über Anhaltspunkte für die entsprechenden Steuergegenstände verfügen. Verfügen die Steuerbehörden eines Mitgliedstaats über Anhaltspunkte, die es ihnen erlauben, sich mittels der in der Richtlinie 77/799 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern oder einer in bilateralen Abkommen vorgesehenen gegenseitigen Amtshilfe an die zuständigen Behörden anderer Mitgliedstaaten zu wenden, um von ihnen die erforderlichen Auskünfte zur richtigen Festsetzung des Steuerbetrags einzuholen, rechtfertigt allein die Tatsache, dass sich der betroffene Steuergegenstand in einem anderen Mitgliedstaat befindet, nicht die generelle Geltung einer zusätzlichen Nachforderungsfrist, die sich in keiner Weise nach der Zeit richtet, die benötigt wird, um diese Mechanismen der gegenseitigen Amtshilfe in sachdienlicher Weise in Anspruch zu nehmen.

(vgl. Randnrn. 24, 30, 33, 36, 39-40 und Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

15. September 2011(*)

„Direkte Besteuerung – Freier Kapitalverkehr – Art. 63 AEUV – Erbschaftsteuern auf Namensaktien – Verjährungsfrist für die Bewertung von Aktien, die bei gebietsfremden Gesellschaften länger ist als bei gebietsansässigen Gesellschaften – Beschränkung − Rechtfertigung“

In der Rechtssache C‑132/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank van eerste aanleg te Leuven (Belgien) mit Entscheidung vom 12. Februar 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 15. März 2010, in dem Verfahren

Olivier Halley,

Julie Halley,

Marie Halley

gegen

Belgische Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter A. Arabadjiev, A. Rosas, U. Lõhmus (Berichterstatter) und A. Ó Caoimh,

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Januar 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Olivier Halley, Julie Halley und Marie Halley, vertreten durch A. Biesmans und R. Deblauwe, advocaten,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und J.‑C. Halleux als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal, P. van Nuffel und W. Roels als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 26 AEUV, 49 AEUV, 63 AEUV und 65 AEUV.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits von Olivier Halley, Julie Halley und Marie Halley gegen den belgischen Staat, bei dem es um Erbschaftsteuern auf Namensaktien eines Unternehmens geht, dessen tatsächliche Geschäftsleitung sich an einem Ort außerhalb Belgiens befindet.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages [Artikel aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam] (ABl. L 178, S. 5) lautet:

„Unbeschadet der nachstehenden Bestimmungen beseitigen die Mitgliedstaaten die Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Gebietsansässigen in den Mitgliedstaaten. Zur Erleichterung der Durchführung dieser Richtlinie wird der Kapitalverkehr entsprechend der Nomenklatur in Anhang I gegliedert.“

4        Zum Kapitalverkehr im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 88/361 werden in ihrem Anhang I unter der Rubrik XI („Kapitalverkehr mit persönlichem Charakter“) u. a. Erbschaften und Vermächtnisse gezählt.

 Nationales Recht

5        Nach Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 des durch den Königlichen Erlass Nr. 308 vom 31. März 1936 eingeführten Wetboek der Successierechten (Erbschaftsteuergesetzbuch) (Belgisch Staatsblad vom 7. April 1936, S. 2403), bestätigt durch das Gesetz vom 4. Mai 1936 (Belgisch Staatsblad vom 7. Mai 1936, S. 3426) (im Folgenden: Erbschaftsteuergesetzbuch), wird von den Erben Erbschaftsteuer auf den nach Abzug der Schulden verbleibenden Wert des gesamten Nachlasses des Erblassers erhoben.

6        Art. 111 des Erbschaftsteuergesetzbuchs bestimmt:

„Zur Feststellung einer zu niedrigen Bewertung der Gesamtheit oder eines Teils des im [Königreich Belgien] befindlichen, zum Verkaufswert deklarierten Nachlassvermögens kann der Einnehmer, ungeachtet der übrigen in Art. 105 vorgesehenen Beweismittel, die Taxierung der entsprechenden Vermögenswerte verlangen; bei beweglichen körperlichen Gegenständen wird dieses Recht auf Taxierung jedoch nur auf Seeschiffe und Boote angewandt.“

7        Art. 137 Abs. 1 Nr. 2 des Erbschaftsteuergesetzbuchs sieht vor, dass die Ansprüche auf „Durchführung einer Taxierung der Vermögenswerte, die einer solchen Kontrolle unterworfen sind, und auf die Steuern, Zinsen und Geldbußen im Fall einer zu niedrigen Bewertung der entsprechenden Vermögenswerte nach zwei Jahren [und die] auf die Steuern, Zinsen und Geldbußen im Fall einer zu niedrigen Bewertung von Vermögenswerten, die nicht der Taxierung unterworfen sind, nach zehn Jahren [verjähren]; die Verjährungsfrist beginnt am Tag der Einreichung der Steuererklärung“.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

8        Frau De Pinsun und Herr Halley, die Eltern der Kläger des Ausgangsverfahrens, sind am 6. Dezember 2003 gleichzeitig in Schottland verstorben. Sie hatten ihren Wohnsitz in Tervuren (Belgien), und die Erbschaftsteuerklärung war in Leuven abzugeben.

9        Am 16. August 2004 und 16. August 2005 entrichteten die Kläger des Ausgangsverfahrens 16 Millionen Euro und 4 Millionen Euro als Erbschaftsteuervorauszahlung.

10      Am 7. November 2005 gaben die Kläger des Ausgangsverfahrens bei der Steuerverwaltung Leuven zwei Erbschaftsteuererklärungen ab, von denen die eine den Nachlass ihres Vaters und die andere den Nachlass ihrer Mutter betraf.

11      Zu den Nachlässen gehörten – jeweils zur ungeteilten Hälfte – 2 172 600 Namensaktien und 2 085 Inhaberaktien der Gesellschaft Carrefour SA, deren Sitz sich zur für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit in Levallois-Perret (Frankreich) befand. Die Kläger des Ausgangsverfahrens bewerteten die Namensaktien mit 28,31 Euro pro Aktie, was dem Börsenwert am Todestag ihrer Eltern abzüglich einer Wertminderung von 35 % entspricht.

12      Mit Schreiben vom 20. Februar 2008 teilte das derde Ontvangkantoor van de Registratie te Leuven (dritte Steuereinnahmeamt Leuven) den Klägern des Ausgangsverfahrens mit, dass die Aktien nach einer Entscheidung der Zentralverwaltung in Brüssel vom 29. Januar 2008 mit jeweils 43,55 Euro zu bewerten seien.

13      In ihrer beim vorlegenden Gericht eingereichten Klageschrift machen die Kläger des Ausgangsverfahrens in erster Linie geltend, die Forderung der belgischen Steuerverwaltung auf Feststellung einer unzulänglichen Bewertung der Namensaktien sei verjährt. Hilfsweise bestreiten sie den von der Verwaltung zugrunde gelegten Wert dieser Aktien.

14      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass nach Art. 111 in Verbindung mit Art. 137 Abs. 1 Nr. 2 des Erbschaftsteuergesetzbuchs eine Taxierung von Namensaktien im Sinne von Art. 111 möglich ist, soweit sie an einer Gesellschaft in Belgien gehalten werden. Die Aktien gelten als in diesem Mitgliedstaat befindlich, wenn sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung der Gesellschaft dort befindet. Die Verjährungsfrist für die Taxierung der Aktien beträgt in diesem Fall zwei Jahre. Bei Aktien, die an einer Gesellschaft gehalten werden, deren tatsächliche Geschäftsleitung sich an einem Ort außerhalb Belgiens befindet, ist eine solche Taxierung indessen nicht möglich, und die Verjährungsfrist beträgt zehn Jahre.

15      Da die Rechtbank van eerste aanleg te Leuven der Ansicht ist, dass das Ausgangsverfahren Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts aufwerfe, hat sie das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof um Vorabentscheidung über folgende Frage ersucht:

Ist Art. 137 Abs. 1 Nr. 2 des Erbschaftsteuergesetzbuchs in Verbindung mit Art. 111 des Erbschaftsteuergesetzbuchs, wonach die Verjährungsfrist für die Erbschaftsteuer auf Namensaktien zwei Jahre beträgt, wenn sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung der Gesellschaft in Belgien befindet, während diese Verjährungsfrist zehn Jahre beträgt, wenn sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung der Gesellschaft nicht in Belgien befindet, mit den Art. 26 AEUV, 49 AEUV, 63 AEUV und 65 AEUV vereinbar?

 Zur Vorlagefrage

 Zu der im Ausgangsverfahren fraglichen Freiheit

16      Die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage betrifft die Art. 26 AEUV, 49 AEUV, 63 AEUV und 65 AEUV. Die belgische Regierung und die Europäische Kommission machen in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen geltend, dass nur die beiden letztgenannten Bestimmungen, nämlich die den freien Kapitalverkehr betreffenden, im Ausgangsverfahren erheblich seien.

17      Um festzustellen, ob eine nationale Regelung unter die eine oder unter die andere Verkehrsfreiheit fällt, ist nach nunmehr gefestigter Rechtsprechung auf den Gegenstand der betreffenden Regelung abzustellen (Urteile vom 24. Mai 2007, Holböck, C‑157/05, Slg. 2007, I‑4051, Randnr. 22, und vom 17. September 2009, Glaxo Wellcome, C‑182/08, Slg. 2009, I‑8591, Randnr. 36).

18      Gegenstand der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung ist die Festsetzung der Frist, innerhalb deren die Bewertung der im Wege einer Erbschaft übertragenen Namensaktien einer Gesellschaft vorgenommen werden kann, deren tatsächliche Geschäftsleitung sich an einem Ort außerhalb Belgiens befindet.

19      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs handelt es sich bei Erbschaften, mit denen das Vermögen eines Erblassers auf eine oder mehrere Personen übergeht und die unter die Rubrik XI des Anhangs I der Richtlinie 88/361 mit der Überschrift „Kapitalverkehr mit persönlichem Charakter“ fallen, um Kapitalverkehr im Sinne von Art. 63 AEUV; ausgenommen sind die Fälle, die mit keinem ihrer wesentlichen Elemente über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. September 2008, Eckelkamp u. a., C‑11/07, Slg. 2008, I‑6845, Randnr. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ein Sachverhalt wie der des Ausgangsverfahrens, bei dem eine in Belgien wohnhafte Person Aktien an einer Gesellschaft hält, deren tatsächliche Geschäftsleitung sich an einem Ort in Frankreich befindet, ist jedoch kein rein inländischer Sachverhalt.

20      Somit finden die Bestimmungen des AEU‑Vertrags über den freien Kapitalverkehr auf eine Rechtssache wie das Ausgangsverfahren Anwendung.

21      Infolgedessen ist die Frage des vorlegenden Gerichts so zu verstehen, dass es wissen möchte, ob Art. 63 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die im Bereich der Erbschaftsteuern für die Bewertung von Namensaktien unterschiedliche Verjährungsfristen in Abhängigkeit davon vorsieht, ob sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung der emittierenden Gesellschaft, deren Aktionär der Erblasser war, in diesem Mitgliedstaat befindet oder nicht.

 Zum Vorliegen einer Beschränkung des freien Kapitalverkehrs

22      Zu den Maßnahmen, die nach Art. 63 Abs. 1 AEUV als Beschränkungen des Kapitalverkehrs verboten sind, gehören u. a. solche, die Gebietsfremde davon abhalten können, in einem Mitgliedstaat Investitionen zu tätigen oder zu halten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Januar 2009, STEKO Industriemontage, C‑377/07, Slg. 2009, I‑299, Randnrn. 23 und 24, sowie vom 31. März 2011, Schröder, C‑450/09, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 30).

23      In Bezug auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass diese darauf hinausläuft, die Verjährungsfrist, die für die Bewertung von Namensaktien im Hinblick auf die Besteuerung einer Erbschaft gilt, nach Maßgabe des Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung des emittierenden Unternehmens unterschiedlich zu regeln, da die Verjährungsfrist für die Bewertung von Aktien, die von einer Gesellschaft emittiert werden, deren tatsächliche Geschäftsleitung sich an einem Ort in Belgien befindet, zwei Jahre beträgt, während sich diese Verjährungsfrist auf zehn Jahre beläuft, wenn die Aktien an einer Gesellschaft gehalten werden, bei der sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung in einem anderen Mitgliedstaat befindet.

24      Die Anwendung einer solchen längeren Verjährungsfrist auf Erben, die Aktien an einer Gesellschaft halten, deren tatsächliche Geschäftsleitung sich an einem Ort in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien befindet, kann dazu führen, dass in Belgien ansässige Personen davon abgehalten werden, Investitionen in Vermögenswerte zu tätigen oder zu halten, die außerhalb dieses Mitgliedstaats belegen sind, da sich ihre Erben länger im Ungewissen über die Möglichkeit einer steuerlichen Nachforderung befinden.

25      Eine solche nationale Regelung stellt damit eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 63 Abs. 1 AEUV dar.

 Zur Rechtfertigung der Beschränkung des freien Kapitalverkehrs

26      Zur Rechtfertigung der Beschränkung des freien Kapitalverkehrs beruft sich die belgische Regierung auf Erwägungen, die zum einen die Notwendigkeit, die Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung zu gewährleisten, und zum anderen die Bekämpfung von Steuerhinterziehung betreffen.

27      Was die Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung angehe, sei die Anwendung einer längeren Verjährungsfrist für die Bewertung von Aktien von Gesellschaften in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien notwendig, um die damit zusammenhängenden Informationen einholen zu können.

28      In Bezug auf die Bekämpfung von Steuerhinterziehung biete eine solche Frist den belgischen Steuerbehörden die Möglichkeit, im Fall der Aufdeckung einer zu niedrigen Bewertung der Aktien von im Ausland ansässigen Gesellschaften eine Untersuchung einzuleiten und, wenn sich erweise, dass diese Aktien zu niedrig besteuert worden seien, eine steuerliche Nachforderung zu erheben.

29      Ferner sei eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche notwendig, um dem Fehlen einer echten Möglichkeit für die Steuerbehörden, Auskünfte über Vermögen in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien zu erhalten, zu begegnen. Ein Auskunftsersuchen nach Art. 2 der Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern (ABl. L 336, S. 15) könne von einem Mitgliedstaat nur im Einzelfall gestellt werden, wenn er bereits über hinreichende Anhaltspunkte verfüge.

30      Insoweit hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass das Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und die Notwendigkeit, die Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung zu gewährleisten, zwingende Gründe des Allgemeininteresses sind, die eine Beschränkung der vom AEU-Vertrag garantierten Verkehrsfreiheiten rechtfertigen können (vgl. u. a. in Bezug auf die Bekämpfung von Steuerhinterziehung Urteil vom 14. September 2006, Centro di Musicologia Walter Stauffer, C‑386/04, Slg. 2006, I‑8203, Randnr. 32, und in Bezug auf die Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung Urteil vom 27. Januar 2009, Persche, C‑318/07, Slg. 2009, I‑359, Randnr. 52).

31      Eine Beschränkung des Kapitalverkehrs ist jedoch nur statthaft, wenn sie geeignet ist, die Erreichung des fraglichen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was dazu erforderlich ist (vgl. u. a. Urteil vom 28. Oktober 2010, Établissements Rimbaud, C‑72/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Selbst wenn man davon ausgeht, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung geeignet ist, die Ziele im Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Gewährleistung der Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung zu erreichen, geht eine solche Regelung über das hinaus, was dazu erforderlich ist.

33      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Nachforderungsfrist in dem Fall, dass den Steuerbehörden Sparguthaben und/oder Einkünfte aus solchen Guthaben verschwiegen worden sind, geht nämlich hervor, dass zwei Fallgestaltungen zu unterscheiden sind, wobei die erste einer Situation entspricht, in der Steuergegenstände verschwiegen worden sind und die Steuerbehörden über keinen Anhaltspunkt verfügen, der ihnen die Einleitung von Ermittlungen erlaubte, und die zweite einer Situation, in der diese Behörden über Anhaltspunkte für die entsprechenden Steuergegenstände verfügen (Urteil vom 11. Juni 2009, X und Passenheim-van Schoot, C‑155/08 und C‑157/08, Slg. 2009, I‑5093, Randnrn. 62 und 63).

34      Im Ausgangsverfahren steht fest, dass die in Rede stehenden Namensaktien in den Erbschaftsteuererklärungen angegeben wurden, so dass die Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats über Informationen zu diesen Aktien verfügen. Die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung fällt daher unter die zweite in der vorstehenden Randnummer erwähnte Fallgestaltung.

35      Zu dieser zweiten Fallgestaltung hat der Gerichtshof in Randnr. 74 des Urteils X und Passenheim-van Schoot festgestellt, dass es sich nicht rechtfertigen lässt, dass ein Mitgliedstaat eine längere Nachforderungsfrist anwendet, die nicht speziell dazu dient, seinen Steuerbehörden die sachdienliche Inanspruchnahme von Mechanismen der gegenseitigen Amtshilfe zwischen Mitgliedstaaten zu erlauben, und die eröffnet wird, wenn sich der Steuergegenstand in einem anderen Mitgliedstaat befindet.

36      Verfügen nämlich die Steuerbehörden eines Mitgliedstaats über Anhaltspunkte, die es ihnen erlauben, sich mittels der in der Richtlinie 77/799 oder einer in bilateralen Abkommen vorgesehenen gegenseitigen Amtshilfe an die zuständigen Behörden anderer Mitgliedstaaten zu wenden, um von ihnen die erforderlichen Auskünfte zur richtigen Festsetzung des Steuerbetrags einzuholen, rechtfertigt allein die Tatsache, dass sich der betroffene Steuergegenstand in einem anderen Mitgliedstaat befindet, nicht die generelle Geltung einer zusätzlichen Nachforderungsfrist, die sich in keiner Weise nach der Zeit richtet, die benötigt wird, um diese Mechanismen der gegenseitigen Amtshilfe in sachdienlicher Weise in Anspruch zu nehmen (Urteil X und Passenheim-van Schoot, Randnr. 75).

37      Im vorliegenden Fall gilt zwar, dass die Richtlinie keine Anwendung auf Erbschaftsteuern findet, doch geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass es offensichtlich nicht ausgeschlossen ist, dass die belgischen Steuerbehörden nichtsdestoweniger für die Überprüfung des Wertes der fraglichen Aktien auf andere Mechanismen der gegenseitigen Amtshilfe wie insbesondere das am 20. Januar 1959 in Brüssel unterzeichnete Abkommen zwischen Frankreich und Belgien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Regelung bestimmter Fragen im Bereich der Erbschaft- und der Registersteuern hätten zurückgreifen können.

38      Jedenfalls sind die belgischen Steuerbehörden, wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, durch nichts daran gehindert, sich für die Einleitung ihrer Ermittlungen im Hinblick auf die Bewertung von Aktien börsennotierter Gesellschaften wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden auf den in der Presse oder im Internet veröffentlichten Kurs dieser Aktien zum Zeitpunkt des Todes ihres Eigentümers zu stützen. Wie aus den beim Gerichtshof eingereichten Akten hervorgeht, wurden die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aktien im Übrigen von diesen Behörden schließlich mehr als zwei Jahre nach der Einreichung der Erbschaftsteuererklärungen auf dieser Grundlage bewertet.

39      Somit ist die Anwendung einer Frist von zehn Jahren für die Bewertung der Aktien einer Gesellschaft, deren tatsächliche Geschäftsleitung sich an einem Ort in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien befindet, nicht gerechtfertigt, da die generelle Geltung einer solchen Frist sich in keiner Weise nach der Zeit richtet, die für die sachdienliche Inanspruchnahme von Mechanismen der gegenseitigen Amtshilfe oder anderer Mittel, die die Ermittlung des Wertes dieser Aktien erlauben, benötigt wird.

40      Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 63 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die im Bereich der Erbschaftsteuern eine Verjährungsfrist von zehn Jahren für die Bewertung von Namensaktien einer Gesellschaft vorsieht, deren Aktionär der Erblasser war und deren tatsächliche Geschäftsleitung sich an einem Ort in einem anderen Mitgliedstaat befindet, während diese Frist zwei Jahre beträgt, wenn sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung im erstgenannten Mitgliedstaat befindet.

 Kosten

41      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 63 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die im Bereich der Erbschaftsteuern eine Verjährungsfrist von zehn Jahren für die Bewertung von Namensaktien einer Gesellschaft vorsieht, deren Aktionär der Erblasser war und deren tatsächliche Geschäftsleitung sich an einem Ort in einem anderen Mitgliedstaat befindet, während diese Frist zwei Jahre beträgt, wenn sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung im erstgenannten Mitgliedstaat befindet.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.