Rechtssache C‑517/09

RTL Belgium SA, vormals TVi SA

(Vorabentscheidungsersuchen des Collège d'autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l'audiovisuel)

„Richtlinie 89/552/EWG – Fernsehsender – Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel – Begriff des nationalen Gerichts im Sinne von Art. 267 AEUV – Unzuständigkeit des Gerichtshofs“

Leitsätze des Urteils

Vorabentscheidungsverfahren – Anrufung des Gerichtshofs – Einzelstaatliches Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV – Begriff

(Art. 267 AEUV)

Zur Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob es sich bei einer vorlegenden Einrichtung um ein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV handelt, stellt der Gerichtshof auf eine Reihe von Gesichtspunkten wie gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch diese Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit ab.

Was, genauer, die Unabhängigkeit der vorlegenden Einrichtung angeht, umfasst dieser Begriff zwei Aspekte. Der erste, externe Aspekt setzt voraus, dass die Stelle vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder im Hinblick auf die ihnen unterbreiteten Streitigkeiten gefährden könnten. Der zweite, interne Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit im Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass hinsichtlich der Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen an dessen Gegenstand ein gleicher Abstand gewahrt wird.

Dieses Kriterium der Unabhängigkeit erfüllt das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel, das mit der Beaufsichtigung der Einhaltung der Bestimmungen im audiovisuellen Bereich durch die betreffenden Mediendiensteherausgeber und der Ahndung von Zuwiderhandlungen betraut ist, nicht, und deshalb stellt es kein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV dar. Weder die strukturelle Organisation des Conseil supérieur de l’audiovisuel und der Organe, aus denen er sich zusammensetzt, noch die diesen übertragenen Aufgaben erlauben die Annahme, dass dieses Collège als unparteiischer Dritter zwischen dem der Zuwiderhandlung Verdächtigen auf der einen und der mit der Überwachung des audiovisuellen Sektors betrauten Behörde auf der anderen Seite tätig wird. Insbesondere weist das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel als Entscheidungsorgan eine durch das Präsidium vermittelte funktionale Verbindung mit dem Conseil insgesamt und mit dessen Sekretariat für Untersuchungen auf, auf dessen Vorschlag es entscheidet. Daraus folgt, dass sich das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel beim Erlass einer Entscheidung nicht eindeutig von dem Aufsichtsorgan der Verwaltung unterscheidet, das eher einer Partei in einem Verfahren im audiovisuellen Bereich ähnelt. Diese Feststellung wird im Übrigen durch den Umstand bestätigt, dass das Präsidium den Conseil supérieur de l’audiovisuel gerichtlich und gegenüber Dritten vertritt.

(vgl. Randnrn. 36, 39-42, 44-46)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

22. Dezember 2010(*)

„Richtlinie 89/552/EWG – Fernsehsender – Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel – Begriff des nationalen Gerichts im Sinne von Art. 267 AEUV – Unzuständigkeit des Gerichtshofs“

In der Rechtssache C‑517/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel (Belgien) mit Entscheidung vom 3. Dezember 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Dezember 2009, in dem Verfahren

RTL Belgium SA, vormals TVi SA,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev sowie des Richters A. Rosas und der Richterin P. Lindh (Berichterstatterin),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: M.-A. Gaudissart, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. November 2010,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der RTL Belgium SA, vormals TVi SA, vertreten durch F. Tulkens und S. Seys, avocats,

–        der CLT‑UFA, vertreten durch G. de Foestraets, avocat,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs als Bevollmächtigten im Beistand von A. Feyt, avocat,

–        der luxemburgischen Regierung, vertreten durch C. Schiltz als Bevollmächtigten im Beistand von P. Kinsch, avocat,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Vrignon und E. Montagut als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Buchst. c der Richtlinie 89/552/EWG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) (ABl. L 298, S. 23) in der durch die Richtlinie 2007/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 (ABl. L 332, S. 27) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 89/552).

2        Dieses Ersuchen ist vom Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel der Französischen Gemeinschaft Belgiens im Rahmen eines Verfahrens gegen die RTL Belgium SA (im Folgenden: Gesellschaft RTL Belgium), die im Verdacht steht, gegen die nationale Regelung für Teleshopping verstoßen zu haben, vorgelegt worden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 1 Buchst. c und d der Richtlinie 89/552 enthält folgende Begriffsbestimmungen:

„c)      ‚redaktionelle Verantwortung‘: die Ausübung einer wirksamen Kontrolle sowohl hinsichtlich der Zusammenstellung der Sendungen als auch hinsichtlich ihrer Bereitstellung entweder anhand eines chronologischen Sendeplans im Falle von Fernsehsendungen oder mittels eines Katalogs im Falle von audiovisuellen Mediendiensten auf Abruf. Die redaktionelle Verantwortung begründet nicht zwangsläufig eine rechtliche Haftung nach innerstaatlichem Recht für die bereitgestellten Inhalte oder Dienste;

d)      ‚Mediendiensteanbieter‘: die natürliche oder juristische Person, die die redaktionelle Verantwortung für die Auswahl der audiovisuellen Inhalte des audiovisuellen Mediendienstes trägt und bestimmt, wie diese gestaltet werden“.

4        Art. 2 Abs. 1, 2 Buchst. a und 3 Buchst. a und b dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat sorgt dafür, dass alle audiovisuellen Mediendienste, die von seiner Rechtshoheit unterworfenen Mediendiensteanbietern übertragen werden, den Vorschriften des Rechtssystems entsprechen, die auf für die Allgemeinheit bestimmte audiovisuelle Mediendienste in diesem Mitgliedstaat anwendbar sind.

(2)      Für die Zwecke dieser Richtlinie unterliegen diejenigen Mediendiensteanbieter der Rechtshoheit eines Mitgliedstaats,

a) die gemäß Absatz 3 in diesem Mitgliedstaat niedergelassen sind …

(3)      Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt ein Mediendiensteanbieter in folgenden Fällen als in einem Mitgliedstaat niedergelassen:

a)      Der Mediendiensteanbieter hat seine Hauptverwaltung in diesem Mitgliedstaat, und die redaktionellen Entscheidungen über den audiovisuellen Mediendienst werden in diesem Mitgliedstaat getroffen.

b)      Wenn ein Mediendiensteanbieter seine Hauptverwaltung in einem Mitgliedstaat hat, die Entscheidungen über den audiovisuellen Mediendienst jedoch in einem anderen Mitgliedstaat getroffen werden, gilt er als in dem Mitgliedstaat niedergelassen, in dem ein wesentlicher Teil des mit der Bereitstellung des audiovisuellen Mediendienstes betrauten Personals tätig ist. Ist ein wesentlicher Teil des mit der Bereitstellung des audiovisuellen Mediendienstes betrauten Personals in jedem dieser Mitgliedstaaten tätig, so gilt der Mediendiensteanbieter als in dem Mitgliedstaat niedergelassen, in dem er seine Hauptverwaltung hat. Ist ein wesentlicher Teil des erforderlichen mit der Bereitstellung des audiovisuellen Mediendienstes betrauten Personals in keinem dieser Mitgliedstaaten tätig, so gilt der Mediendiensteanbieter als in dem Mitgliedstaat niedergelassen, in dem er zuerst mit seiner Tätigkeit nach Maßgabe des Rechts dieses Mitgliedstaats begonnen hat, sofern eine dauerhafte und tatsächliche Verbindung mit der Wirtschaft dieses Mitgliedstaats weiter besteht.“

 Nationales Recht

5        Das koordinierte Dekret über die Dienste der audiovisuellen Medien wurde im Moniteur belge vom 24. Juli 2009 bekanntgemacht (im Folgenden: Dekret).

6        Art. 1 Nrn. 16, 46 und 57 des Dekrets enthält folgende Definitionen:

„(16) „Diensteherausgeber: die natürliche oder juristische Person, die die redaktionelle Verantwortung für die Wahl des Inhalts des audiovisuellen Mediendiensts übernimmt und die Art und Weise bestimmt, wie dieser bereitgestellt wird;

(46)      Redaktionelle Verantwortung: die Ausübung einer wirksamen Kontrolle sowohl hinsichtlich der Zusammenstellung der Sendungen als auch hinsichtlich ihrer Bereitstellung entweder anhand eines chronologischen Sendeplans im Falle von linearen Diensten oder mittels eines Katalogs im Falle von nichtlinearen Diensten;

(57)      Teleshopping: Sendungen direkter Angebote in Form von Programmen oder Spots an die Öffentlichkeit für den Absatz von waren oder die Erbringung von Dienstleistungen, einschließlich unbeweglicher Sachen, Rechte und Verpflichtungen, gegen Entgelt“.

7        Art. 2 § 3 des Dekrets bestimmt:

„In die Zuständigkeit der Französischen Gemeinschaft fällt jeder Diensteherausgeber,

1.      der im französischen Sprachgebiet niedergelassen ist,

2.      der im zweisprachigen Gebiet Brüssel‑Hauptstadt niedergelassen ist und dessen Tätigkeiten ausschließlich der Französischen Gemeinschaft zuzuordnen sind.“

8        In Art. 31 § 6 des Dekrets ist bestimmt:

„Die Dauer der Teleshopping‑Sendung wird von der Regierung festgelegt; sie beträgt höchstens 3 Stunden pro Tag einschließlich Wiederholungen.“

9        Art. 133 des Dekrets bestimmt:

„Es wird ein Conseil supérieur de l’audiovisuel der Französischen Gemeinschaft Belgiens gegründet, der als unabhängige Verwaltungsbehörde über Rechtspersönlichkeit verfügt und mit der Regulierung des audiovisuellen Sektors in der Französischen Gemeinschaft betraut ist …“

10      Nach Art. 134 des Dekrets setzt sich der Conseil supérieur de l’audiovisuel aus zwei Kollegien zusammen, nämlich dem Collège d’avis (Gutachterkollegium) und dem Collège d’autorisation et de contrôle (Zulassungs‑ und Kontrollkollegium), einem Präsidium und einen Sekretariat für Untersuchungen.

11      Nach Art. 136 § 1 des Dekrets hat das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel insbesondere zur Aufgabe:

„1.      die Beurkundung der Erklärungen der Diensteherausgeber und die Zulassung bestimmter Diensteherausgeber mit Ausnahme örtlicher Fernsehsender und der [Radio-Télévision belge de la Communauté française de Belgique];

2.      die Genehmigung der Nutzung von Funkfrequenzen;

12.      die Feststellung von Verstößen gegen die Gesetze, Dekrete und Verordnungen im audiovisuellen Bereich und von Verletzungen von Verpflichtungen aus einem zwischen der Französischen Gemeinschaft und einem Diensteherausgeber oder Diensteanbieter geschlossenen Vereinbarung, des Vertrags über die Verwaltung der [Radio-Télévision belge de la Communauté française de Belgique], der zwischen der Regierung und den einzelnen lokalen Fernsehsendern geschlossenen Vereinbarungen sowie der Verpflichtungen, die im Rahmen einer Bewerbung in einem Ausschreibungsverfahren im Sinne dieses Dekrets eingegangen worden sind“.

12      Art. 139 § 1 des Dekrets regelt die Zusammensetzung des Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel. Dieser Artikel lautet:

„Neben den [vier] Mitgliedern des Präsidiums im Sinne von Art. 142 § 1 setzt sich das Collège d’autorisation et de contrôle aus sechs Mitgliedern zusammen. Ihre Amtszeit beträgt vier Jahre mit Verlängerungsmöglichkeit …

Unbeschadet von Art. 142 § 1 werden die zehn Mitglieder unter Beachtung von Art. 9 des Gesetzes vom 16. Juli 1983 zur Gewährleistung des Schutzes ideologischer und philosophischer Tendenzen benannt. Von den sechs Mitgliedern im Sinne des vorhergehenden Absatzes werden drei vom Parlament der Französischen Gemeinschaft benannt. Die Regierung ergänzt das Collège nach Ernennung der ersten drei Mitglieder durch das Parlament der Französischen Gemeinschaft.

Die Mitglieder des Collège d’autorisation et de contrôle werden unter Personen ausgewählt, die wegen ihrer Befähigung in den Bereichen Rechts Audiovisuelles oder Kommunikation anerkannt sind.

…“

13      Nach Art. 140 § 1 des Dekrets vertritt das Präsidium des Conseil supérieur de l’audiovisuel, das sich aus dem Präsidenten sowie dem ersten, dem zweiten und dem dritten Vizepräsidenten zusammensetzt, diesen gerichtlich und gegenüber Dritten. Nach Art. 140 § 3 stellt das Präsidium das Personal des Conseil supérieur de l’audiovisuel ein. Es stellt insbesondere die Berater und Beisitzer des Sekretariats für Untersuchungen auf Vorschlag des Sekretärs für Untersuchungen ein.

14      Nach Art. 142 § 1 des Dekrets werden die vier Mitglieder des Präsidiums von der Regierung ernannt.

15      Nach Art. 143 des Dekrets nimmt das Sekretariat für Untersuchungen die Beschwerden, die an den Conseil supérieur de l’audiovisuel gerichtet werden, entgegen und untersucht die Vorgänge. Es kann auch von Amts wegen eine Untersuchung einleiten. In diesem Artikel wird im Übrigen bestimmt, dass das Sekretariat für Untersuchungen vom Sekretär für Untersuchungen unter Aufsicht des Präsidiums geleitet wird.

16      Art. 161 enthält die Verfahrensbestimmungen, die das Sekretariat für Untersuchungen und das Collège bei Beschwerden oder Sachverhalten zu befolgen haben, u. a. einen Verstoß gegen die Gesetze, Dekrete und Verordnungen im audiovisuellen Bereich darstellen können. § 1 sieht insbesondere vor:

„… Das Sekretariat für Untersuchungen leitet eine Untersuchung ein und entscheidet über die Zulässigkeit des Vorgangs.

Ist der Vorgang zulässig, so gewährleistet das Sekretariat für Untersuchungen die Untersuchung. Das Sekretariat für Untersuchungen kann das Verfahren einstellen.

Das Collège d’autorisation et de contrôle kann Entscheidungen über die Unzulässigkeit und die Einstellung an sich ziehen.

Der Untersuchungsbericht wird dem Collège d’autorisation et de contrôle vorgelegt …“

17      Nach Art. 161 §§ 2 bis 4 übermittelt das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel dem Zuwiderhandelnden seine Beanstandungen und den Untersuchungsbericht; dieser verfügt über eine Frist von einem Monat für Akteneinsicht und Abgabe seiner schriftlichen Erklärungen. Der Zuwiderhandelnde wird vorgeladen. Das Collège kann alle Personen anhören, die zweckdienlich zu seiner Information beitragen können. Es erlässt binnen 60 Tagen nach Abschluss der mündlichen Verhandlung eine mit Gründen versehene Entscheidung.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

18      Am 8. Oktober 2009 ging beim Sekretariat für Untersuchungen eine Beschwerde einer Fernsehzuschauerin ein, die behauptete, dass der Fernsehkanal RTL Belgium einige Tage zuvor eine Teleshoppingsendung mit einer Dauer von 7 Stunden an ein und demselben Tag ausgestrahlt habe, obwohl die gesetzliche Höchstgrenze 3 Stunden betrage.

19      Nach der Feststellung, dass die genehmigte Höchstgrenze überschritten worden sei, richtete das Sekretariat für Untersuchungen ein Schreiben an die Gesellschaft RTL Belgium, die ihren Sitz in Belgien hat, um deren Stellungnahme einzuholen.

20      Diese Gesellschaft antwortete, dass ihres Erachtens das Sekretariat für Untersuchungen nicht für eine Untersuchung gegen sie zuständig sei, denn Anbieterin des Dienstes RTL Belgium sei nicht sie, sondern ihre Muttergesellschaft CLT‑UFA, die ihren Sitz in Luxemburg habe.

21      Das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel wirft die Frage auf, ob für die Beaufsichtigung des Dienstes RTL Belgium die belgischen oder die luxemburgischen Behörden zuständig sind. Sei die Gesellschaft RTL Belgium, wie das Sekretariat für Untersuchungen geltend mache, Anbieter des Dienstes RTL Belgium, so sei das Collège zuständig, da dieses Unternehmen seinen Gesellschaftssitz in Belgien habe und die redaktionellen Entscheidungen in Belgien getroffen würden.

22      Die Vorlageentscheidung enthält u. a. die folgenden Angaben in Bezug auf die Gesellschaft RTL Belgium und ihre Muttergesellschaft CLT‑UFA.

23      Die Gesellschaft RTL Belgium erhielt seit 1987 von den belgischen Behörden aufeinanderfolgende Zulassungen für die Erbringung von Fernsehprogrammdiensten, insbesondere den Dienst RTL Belgium. Die letzte für diesen Dienst erteilte Zulassung lief am 31. Dezember 2005 aus. Die Gesellschaft RTL Belgium stellte keinen Antrag auf deren Verlängerung, weil der betreffende Dienst jetzt von Luxemburg aus durch CLT‑UFA erbracht werde.

24      CLT‑UFA, die heute die Gesellschaft RTL Belgium zu 66 % kontrolliert, erhielt für diesen Dienst 1995 eine Konzession der luxemburgischen Behörden.

25      Mit Entscheidung vom 29. November 2006 stellte das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel fest, dass die Gesellschaft RTL Belgium unter Verstoß gegen die belgische Regelung für den Rundfunk ohne Zulassung Dienste verbreite, deren Herausgeberin sie sei, insbesondere den Dienst RTL Belgium, und verurteilte sie zu einer Geldbuße von 500 000 Euro. Die Gesellschaft RTL Belgium erhob gegen diese Entscheidung Anfechtungsklage beim belgischen Conseil d’État, der die Klage für begründet erklärte und die Entscheidung mit Urteil vom 15. Januar 2009 aufhob.

26      Das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel führt aus, dass der Conseil d’État in diesem Urteil entschieden habe, dass der Zustand der Doppelzulassung, der bis 2005 gedauert habe, gegen die Regel verstoße, wonach für ein Sendeunternehmen ein einziger Mitgliedstaat zuständig sei, und dass er geeignet sei, den freien Dienstleistungsverkehr in der Europäischen Union zu behindern. Der Conseil d’État habe unter diesen Umständen die Frage für unerheblich erachtet, ob CLT‑UFA oder die Gesellschaft RTL Belgium Diensteherausgeber nach der Terminologie des Dekrets oder Mediendiensteanbieter nach der Terminologie der Richtlinie 89/552 sei.

27      Das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel ist jedoch der Ansicht, dass diese Frage im Ausgangsverfahren wegen des neuen in Belgien seit 2009 geltenden rechtlichen Rahmens, der zum einen das Dekret und zum anderen ein Protokoll über Zusammenarbeit zwischen dem Königreich Belgien und dem Großherzogtum Luxemburg umfasse, erheblich sei.

28      Das Dekret trat am 28. März 2009 in Kraft. Es sieht u. a. eine neue Bestimmung des Begriffs „redaktionelle Verantwortung“ vor.

29      Das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel macht geltend, es sei ein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV und daher befugt, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen. Neben seiner rechtlichen Einstufung als unabhängige Verwaltungsbehörde entspreche es den vom Gerichtshof für die Kennzeichnung eines Gerichts im Sinne dieses Artikels entwickelten Kriterien.

30      Das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Kann der Begriff der „wirksamen Kontrolle sowohl hinsichtlich der Zusammenstellung der Sendungen als auch hinsichtlich ihrer Bereitstellung“ im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Richtlinie 89/552/EWG so ausgelegt werden, dass danach angenommen werden kann, dass eine Gesellschaft, die in einem Mitgliedstaat ansässig ist und der durch eine von der Regierung dieses Mitgliedstaats erteilte Konzession erlaubt ist, einen audiovisuellen Mediendienst anzubieten, tatsächlich eine solche Kontrolle ausübt, obwohl sie die Regie und die Produktion aller eigenen Programme dieses Dienstes, die Veröffentlichung des Programms sowie die Finanz-, Rechts-, Personalverwaltungs- und Infrastrukturverwaltungsdienste sowie andere das Personal betreffende Dienste gegen Zahlung eines unbestimmten, dem bei der Sendung dieses Dienstes mit Werbung erzielten Gesamtumsatz entsprechenden Betrags an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Drittgesellschaft mit der Befugnis zur Weiterübertragung überträgt und obwohl die Zusammenstellung der Programme, mögliche Streichungen von Sendungen und aktualitätsbedingte Umstellungen des Sendeplans offensichtlich am Sitz dieser dritten Gesellschaft entschieden und durchgeführt werden?

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

31      Zunächst ist zu prüfen, ob das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel ein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV darstellt und ob daher der Gerichtshof für die Entscheidung über die ihm vorgelegte Frage zuständig ist.

 Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

32      Das Königreich Belgien und die Europäische Kommission vertreten die Ansicht, dass das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel sämtliche von der Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Kennzeichnung eines Gerichts entwickelten Kriterien erfülle.

33      Die Gesellschaft RTL Belgium, die CLT‑UFA und die luxemburgische Regierung sind der Ansicht, dass das Kriterium der Unabhängigkeit nicht erfüllt sei.

34      Die Gesellschaft RTL Belgium und die CLT‑UFA machen zunächst geltend, dass das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel nicht hinreichend unabhängig von der Exekutive sei, insbesondere weil die belgische Regierung ein Übergewicht bei der Ernennung von dessen Mitgliedern habe. Diese Mitglieder würden im Übrigen ausgewählt, um ideologischen und philosophischen Tendenzen Rechnung zu tragen, was verhindere, dass sie völlig unabhängig seien. Außerdem gebe es keine funktionale Trennung zwischen der Untersuchung und der Entscheidungsfindung. Schließlich habe das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel weder gegenüber einem Beschwerdeführer, den es nicht anzuhören verpflichtet sei, noch gegenüber dem Sekretariat für Untersuchungen, das der Aufsicht des Präsidiums unterliege, die Eigenschaft eines Dritten.

35      Die luxemburgische Regierung macht geltend, dass das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel Partei des Rechtsstreits sei und somit nicht die erforderliche Unabhängigkeit besitze, wie der Umstand belege, dass es Partei im Rahmen eines Rechtsstreits über eine Klage gegen seine Entscheidungen vor dem Conseil d’État sei.

 Würdigung durch den Gerichtshof

36      Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Gerichtshof zur Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob es sich bei der vorlegenden Einrichtung um ein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV handelt, auf eine Reihe von Gesichtspunkten ab, wie gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch diese Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit (vgl. u. a. Urteile vom 17. September 1997, Dorsch Consult, C-54/96, Slg. 1997, I-4961, Randnr. 23, vom 31. Mai 2005, Syfait u. a., C-53/03, Slg. 2005, I-4609, Randnr. 29, und vom 14. Juni 2007, Häupl, C-246/05, Slg. 2007, I‑4673, Randnr. 16, sowie Beschluss vom 14. Mai 2008, Pilato, C‑109/07, Slg. 2008, I‑3503, Randnr. 22).

37      Als Erstes ist das Kriterium der Unabhängigkeit des Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel zu prüfen.

38      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bedeutet der Begriff der Unabhängigkeit, die dem Auftrag des Richters innewohnt, vor allem, dass die betreffende Stelle gegenüber der Stelle, die die mit einem Rechtsbehelf angefochtene Entscheidung erlassen hat, die Eigenschaft eines Dritten hat (vgl. Urteile vom 30. März 1993, Corbiau, C‑24/92, Slg. 1993, I‑1277, Randnr. 15, und vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, Slg. 2006, I‑8613, Randnr. 9).

39      Dieser Begriff umfasst zwei Aspekte. Der erste, externe, Aspekt setzt voraus, dass die Stelle vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder im Hinblick auf die ihnen unterbreiteten Streitigkeiten gefährden könnten (Urteil Wilson, Randnrn. 50 und 51).

40      Der zweite, interne, Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit im Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass hinsichtlich der Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen an dessen Gegenstand ein gleicher Abstand gewahrt wird (Urteil Wilson, Randnr. 52).

41      Es ist festzustellen, dass das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel dieses Kriterium der Unabhängigkeit nicht erfüllt.

42      Weder die strukturelle Organisation des Conseil supérieur de l’audiovisuel und der Organe, aus denen er sich zusammensetzt, noch die diesen übertragenen Aufgaben erlauben die Annahme, dass dieses Collège als unparteiischer Dritter zwischen dem der Zuwiderhandlung Verdächtigen auf der einen und der mit der Überwachung des audiovisuellen Sektors betrauten Behörde auf der anderen Seite tätig wird.

43      Zur strukturellen Organisation des Conseil supérieur de l’audiovisuel ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich dessen Präsidium aus vier Mitgliedern, nämlich dem Präsidenten sowie dem ersten, dem zweiten und dem dritten Vizepräsidenten zusammensetzt. Sodann sind die Letztgenannten auch Mitglieder des Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel, bei dem sie einen signifikanten Anteil, nämlich vier von zehn Mitgliedern, ausmachen.

44      In Bezug auf die den verschiedenen Organen des Conseil supérieur de l’audiovisuel übertragenen Aufgaben geht aus dem Dekret hervor, dass innerhalb dieser Verwaltungsbehörde das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel mit der Beaufsichtigung der Einhaltung der Bestimmungen im audiovisuellen Bereich durch die betreffenden Mediendiensteherausgeber und der Ahndung von Zuwiderhandlungen betraut ist. Es stützt sich bei dieser Aufgabe auf die Arbeit des Sekretariats für Untersuchungen, das vom Sekretär für Untersuchungen unter Aufsicht des Präsidiums geleitet wird.

45      Es ist festzustellen, dass das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel als Entscheidungsorgan eine durch das Präsidium vermittelte funktionale Verbindung mit dem Conseil insgesamt und mit dessen Sekretariat für Untersuchungen aufweist, auf dessen Vorschlag es entscheidet. Daraus folgt, dass sich das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel beim Erlass einer Entscheidung nicht eindeutig von dem Aufsichtsorgan der Verwaltung unterscheidet, das eher einer Partei in einem Verfahren im audiovisuellen Bereich ähnelt (vgl. entsprechend Urteil Syfait u. a., Randnr. 33).

46      Diese Feststellung wird im Übrigen durch den Umstand bestätigt, dass das Präsidium den Conseil supérieur de l’audiovisuel gerichtlich und gegenüber Dritten vertritt.

47      Somit hatte das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel beim Erlass der streitigen Entscheidung nicht die Eigenschaft eines Dritten im Verhältnis zu den beteiligten Interessen und besitzt somit nicht die erforderliche Unparteilichkeit gegenüber dem möglichen Zuwiderhandelnden, im vorliegenden Fall der Gesellschaft RTL Belgium, um ein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV darzustellen.

48      Deshalb braucht nicht geprüft zu werden, ob das Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel die übrigen Kriterien erfüllt, die die Beurteilung erlauben, ob eine vorlegende Einrichtung den Charakter eines „Gerichts“ im Sinne von Art. 267 AEUV besitzt.

49      Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof für die Beantwortung der vorgelegten Frage nicht zuständig.

 Kosten

50      Für die Beteiligte des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Der Gerichtshof ist für die Beantwortung der vom Collège d’autorisation et de contrôle du Conseil supérieur de l’audiovisuel mit dessen Entscheidung vom 3. Dezember 2009 vorgelegten Frage nicht zuständig.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.