Rechtssache C‑352/09 P

ThyssenKrupp Nirosta GmbH, vormals ThyssenKrupp Stainless AG

gegen

Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Wettbewerb – Kartelle – Gemeinschaftsmarkt für Flacherzeugnisse aus nichtrostendem Stahl – Entscheidung, mit der nach dem Auslaufen des EGKS-Vertrags auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 ein Verstoß gegen Art. 65 KS festgestellt wird – Zuständigkeit der Kommission – Grundsatz nulla poena sine lege und Grundsatz der Rechtskraft – Verteidigungsrechte – Zurechnung der Zuwiderhandlung – Haftungsübergang durch eine Erklärung – Verjährung – Zusammenarbeit im Verwaltungsverfahren“

Leitsätze des Urteils

1.        Wettbewerb – Kartelle – Kartelle, die sachlich und zeitlich unter den EGKS-Vertrag fallen – Auslaufen des EGKS-Vertrags – Aufrechterhaltung einer Kontrolle durch die Kommission im Rahmen der Verordnung Nr. 1/2003

(Art. 65 § 1 KS; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates)

2.        Handlungen der Organe – Zeitliche Geltung – Auslaufen des EGKS-Vertrags – Entscheidung der Kommission, die nach dem Auslaufen des EGKS-Vertrags gegen ein Unternehmen erlassen wurde und einen davor liegenden Sachverhalt betrifft – Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von strafbaren Handlungen und Strafen – Grundsatz des Vertrauensschutzes – Tragweite – Haftung der Unternehmen für ihr gegen die Wettbewerbsregeln verstoßendes Verhalten im Kontext der Ersetzung des EKGS-Vertrags durch den EG-Vertrag – Materiell-rechtliche Vorschriften – Verfahrensvorschriften

(Art. 65 §§ 1 und 5 KS; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 49 Abs. 1; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 7 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 2)

3.        Nichtigkeitsklage – Nichtigkeitsurteil – Tragweite – Absolute Rechtskraft – Umfang

4.        Rechtsmittel – Gründe – Urteilsgründe, die gegen das Unionsrecht verstoßen – Urteilsformel, die aus anderen Rechtsgründen richtig ist – Zurückweisung

5.        Wettbewerb – Unionsvorschriften – Zuwiderhandlungen – Zurechnung – Zuwiderhandlung, die von einer weiter bestehenden Einheit begangen und von einer anderen, ihr in der wirtschaftlichen Tätigkeit auf dem betreffenden Markt nachgefolgten Einheit fortgesetzt wurde – Zurechnung der gesamten Zuwiderhandlung an diese andere Einheit

(Art. 81 Abs. 1 und Art. 230 Abs. 4 EG)

6.        Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Verfolgungsverjährung – Zurechnung der Zuwiderhandlung an eine andere juristische Person als die während der Zuwiderhandlung für den Betrieb des Unternehmens verantwortliche Person

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 25 Abs. 1 bis 6; allgemeine Entscheidung Nr. 715/78, Art. 1 Abs. 1 bis 3)

7.        Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für eine Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens – Voraussetzungen

(Mitteilung 96/C 207/04 der Kommission)

8.        Rechtsmittel – Gründe – Fehlerhafte Tatsachenwürdigung – Unzulässigkeit – Überprüfung der Tatsachenwürdigung des Gerichts durch den Gerichtshof – Ausschluss außer bei Verfälschung

(Art. 225 Abs. 1EG und Art. 229 EG; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 31)

1.        Nach einem den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen, auf das römische Recht zurückgehenden Grundsatz ist bei Änderungen der Gesetzgebung, soweit der Gesetzgeber nicht einen entgegenstehenden Willen zum Ausdruck gebracht hat, die Kontinuität der Rechtsstrukturen zu gewährleisten. Dieser Grundsatz gilt auch für Änderungen des Primärrechts der Union.

Es gibt diesbezüglich keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Unionsgesetzgeber Kartellverhalten, das nach dem EGKS-Vertrag verboten war, nach dem Auslaufen dieses Vertrags sanktionsfrei stellen wollte. Durch das Aufeinanderfolgen des EGKS-, des EG- und des AEU-Vertrags ist im Hinblick auf die Gewährleistung eines freien Wettbewerbs sichergestellt, dass die Kommission jedes dem Tatbestand des Art. 65 § 1 KS entsprechende Verhalten, gleichgültig, ob es vor oder nach dem Auslaufen des EGKS-Vertrags am 23. Juli 2002 stattgefunden hat, ahnden konnte bzw. ahnden kann.

Unter diesen Umständen liefe es dem Zweck und der Kohärenz der Verträge zuwider und wäre mit der Kontinuität der Unionsrechtsordnung unvereinbar, wenn die Kommission nicht befugt wäre, eine einheitliche Anwendung der Normen sicherzustellen, die im Zusammenhang mit dem EGKS-Vertrag stehen und weiterhin auch nach dessen Außerkrafttreten Wirkungen zeitigen. Das Gericht begeht daher keinen Rechtsfehler, wenn es die Verordnung Nr. 1/2003 dahin auslegt, dass sie die Kommission ermächtigt, Kartelle in Bereichen, die sachlich und zeitlich unter den EGKS-Vertrag fallen, nach dessen Auslaufen festzustellen und zu ahnden.

(vgl. Randnrn. 72-74, 77-78)

2.        Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Delikten und Sanktionen, wie er in Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist, verlangt, dass eine unionsrechtliche Regelung klar die Zuwiderhandlungen und die Sanktionen definiert. Zudem verlangt der Grundsatz der Rechtssicherheit, dass eine solche Regelung den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können. Da die Verträge die Zuwiderhandlungen sowie Art und Umfang der gegen Unternehmen wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln verhängbaren Sanktionen klar definieren, garantieren der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Delikten und Sanktionen und der Grundsatz der Rechtssicherheit den Unternehmen insoweit nicht, dass spätere Änderungen der Rechtsgrundlagen und der Verfahrensvorschriften ihnen ermöglichen, jeder Sanktion in Bezug auf ihr beendetes rechtswidriges Verhalten zu entgehen.

In Bezug auf eine Entscheidung der Kommission, die einen eindeutig vor dem Auslaufen des EGKS-Vertrags entstandenen Sachverhalt betrifft und nach dem Auslaufen dieses Vertrags gegen ein Unternehmen erlassen wurde, begeht das Gericht keinen Rechtsfehler, wenn es zum einen feststellt, dass es zur Einhaltung der Grundsätze über das intertemporale Recht und wegen der Erfordernisse im Zusammenhang mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes geboten ist, die materiell-rechtlichen Vorschriften des Art. 65 §§ 1 und 5 KS auf einen Sachverhalt anzuwenden, der sich vor dem Auslaufen des EGKS-Vertrags zugetragen hat und sachlich und zeitlich gesehen in den Geltungsbereich dieses Vertrags fällt. Art. 65 §§ 1 und 5 KS enthielt insoweit eine klare Rechtsgrundlage für die Verhängung einer Sanktion wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln, so dass ein sorgfältiges Unternehmen zu keinem Zeitpunkt über die Folgen seines Verhaltens in Unkenntnis sein oder sich darauf verlassen konnte, dass der Umstand, dass der rechtliche Rahmen des EG-Vertrags an die Stelle des rechtlichen Rahmens des EGKS-Vertrags trat, zur Folge haben werde, dass es jeder Ahndung beendeter Zuwiderhandlungen gegen Art. 65 KS entgehen könne.

Zum anderen hat das Gericht in Bezug auf die anwendbaren Verfahrensvorschriften zutreffend festgestellt, dass die Kommission befugt ist, das Verfahren gemäß Art. 7 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 zu führen. Die Bestimmung, die die Rechtsgrundlage eines Rechtsakts bildet und das Unionsorgan zum Erlass dieses Rechtsakts ermächtigt, muss nämlich zum Zeitpunkt seines Erlasses in Kraft sein, und Verfahrensvorschriften sind im Allgemeinen ab dem Zeitpunkt anwendbar, zu dem sie in Kraft treten.

(vgl. Randnrn. 79-83, 86-88)

3.        Der Grundsatz der Rechtskraft ist sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen von grundlegender Bedeutung. Die Rechtskraft erstreckt sich lediglich auf diejenigen Tatsachen- und Rechtsfragen, die tatsächlich oder notwendigerweise Gegenstand der betreffenden gerichtlichen Entscheidung waren.

Wenn sich der Unionsrichter darauf beschränken muss, den Inhalt einer Erklärung eines Unternehmens zu ermitteln, um feststellen, dass diese einen Haftungsübergang von einem Unternehmen auf ein anderes bewirken soll, bildet die Feststellung, ob dieser Vorgang rechtmäßig ist, ein vom Unionsrichter außerhalb des Rahmens des bei ihm anhängigen Rechtsstreits geäußertes obiter dictum, mit dem weder tatsächlich noch notwendigerweise eine Rechtsfrage entschieden worden ist. Es kann deshalb nicht von der Rechtskraft erfasst sein.

(vgl. Randnrn. 123, 131-132)

4.        Ein Rechtsmittel ist zurückzuweisen, wenn zwar die Gründe des Urteils des Gerichts eine Verletzung des Unionsrechts erkennen lassen, die Urteilsformel sich aber aus anderen Rechtsgründen als richtig erweist.

(vgl. Randnr. 136)

5.        Grundsätzlich muss die natürliche oder juristische Person, die ein Unternehmen leitete, als eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln begangen wurde, für diese einstehen, auch wenn sie zu dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung ergeht, mit der die Zuwiderhandlung festgestellt wird, nicht mehr für den Betrieb des Unternehmens verantwortlich ist. Was die Frage betrifft, unter welchen Umständen einer Einrichtung, obwohl sie nicht Urheberin der Zuwiderhandlung ist, dennoch dafür Sanktionen auferlegt werden können, liegt ein solcher Fall vor, wenn die Einrichtung, die die Zuwiderhandlung begangen hat, rechtlich oder wirtschaftlich nicht mehr besteht, da eine Sanktion gegen ein Unternehmen, das keine wirtschaftliche Tätigkeit mehr ausübt, unter dem Gesichtspunkt der Abschreckung kaum wirksam wäre.

Wenn ein Unternehmen, das aus einer Zusammenlegung der Tätigkeiten von zwei Gesellschaften entstanden ist, durch eine Erklärung ausdrücklich bestätigt, dass es als Unternehmen, das die von einem Kartell erfassten wirtschaftlichen Tätigkeiten fortführe, die Verantwortung für das rechtswidrige Verhalten einer zu einer dieser Gesellschaften gehörenden Einrichtung im Hinblick auf die Geldbuße übernehmen wollte, die die Kommission im Rahmen der wegen dieses Kartells eingeleiteten Verfolgung gegen sie verhängen kann, ist die Rechtsfolge der von dem Unternehmen mit dieser Erklärung bewirkten Haftungsübernahme völlig eindeutig und vorhersehbar für es.

Das Unternehmen, das diese Verantwortung übernommen hat, kann seine Erklärung auch nicht mehr widerrufen, wenn die Kommission auf ihrer Grundlage tatsächlich eine Geldbuße gegen es festgesetzt hat. Der Umstand, dass die Erklärung anschließend nicht mehr widerrufen werden kann, hindert das Unternehmen jedoch nicht daran, im Rechtsweg vor den Unionsgerichten die Auslegung des Inhalts der Erklärung oder das ausdrückliche oder stillschweigende Eingeständnis tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte während des Verwaltungsverfahrens vor der Kommission anzugreifen, da die fehlende Möglichkeit des Widerrufs nicht die Ausübung des Rechts natürlicher und juristischer Personen aus Art. 230 Abs. 4 EG, beim Gericht Klage zu erheben, an sich einschränken kann.

(vgl. Randnrn. 143-144, 149-150, 153-155)

6.        Sowohl nach Art. 1 Abs. 1 der allgemeinen Entscheidung Nr. 715/78 über die Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung im Geltungsbereich des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl als auch nach Art. 25 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 verjährt die Befugnis der Kommission, wegen Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften des Wettbewerbsrechts Geldbußen festzusetzen, grundsätzlich in fünf Jahren. Diese Frist beginnt nach Art. 1 Abs. 2 der Entscheidung Nr. 715/78 und Art. 25 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 mit dem Tag, an dem die Zuwiderhandlung begangen worden ist oder beendet ist, und kann nach den Art. 2 und 3 der Entscheidung Nr. 715/78 sowie Art. 25 Abs. 3 bis 6 der Verordnung Nr. 1/2003 unterbrochen werden und ruhen.

Hinsichtlich einer Entscheidung der Kommission, eine Geldbuße wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln gegen ein Unternehmen zu festzusetzen, das als Erwerber einer wirtschaftlichen Einheit die Verantwortung für das rechtswidrige Verhalten der betreffenden Einrichtung übernommen hat, ist die Verjährung nur in Bezug auf das Unternehmen, das die Verantwortung übernommen hat, zu prüfen, wenn die Kommission nur gegen dieses Unternehmen eine Geldbuße festsetzt. Insbesondere können zwar einige Handlungen der übergegangenen Einrichtung dem Unternehmen, das die Verantwortung übernommen hat, gegenüber weiterhin Wirkung entfalten und kann eine gegenüber dieser Einrichtung eingetretene Verjährung nicht durch eine Übertragung der Haftung umgangen werden, doch folgt daraus nicht, dass die Verjährung in Bezug auf die genannte Einrichtung zu prüfen ist.

(vgl. Randnrn. 166-168)

7.        Eine niedrigere Festsetzung der Geldbuße auf der Grundlage der Mitteilung der Kommission über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen kann nur gerechtfertigt sein, wenn die gelieferten Informationen und allgemeiner das Verhalten des betreffenden Unternehmens als Zeichen einer echten Zusammenarbeit des Unternehmens angesehen werden können.

(vgl. Randnr. 176)

8.        Wenn das Gericht entscheidet, dass die Kommission zu Recht davon ausgegangen sei, ein Unternehmen solle nicht in den Genuss einer zusätzlichen Herabsetzung der Geldbuße über die bereits gewährten 20 % hinaus kommen, nimmt es in Ausübung seiner nach Art. 229 EG durch Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 eingeräumten Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung eine Tatsachenbeurteilung vor, die im Rahmen eines Rechtsmittels der Kontrolle des Gerichtshofs entzogen ist.

Nach Art. 225 EG und Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs ist allein das Gericht zuständig für die Feststellung der Tatsachen – sofern sich nicht aus den Prozessakten ergibt, dass seine Feststellungen tatsächlich falsch sind – und für ihre Würdigung. Hat das Gericht die Tatsachen festgestellt oder gewürdigt, ist der Gerichtshof nach Art. 225 EG zur Kontrolle der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen und der Rechtsfolgen, die das Gericht aus ihnen gezogen hat, befugt. Die Tatsachenwürdigung stellt, sofern die dem Gericht vorgelegten Beweismittel nicht verfälscht werden, keine Rechtsfrage dar, die als solche der Kontrolle des Gerichtshofs unterliegt.

(vgl. Randnrn. 179-180)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

29. März 2011(*)

„Rechtsmittel – Wettbewerb – Kartelle – Gemeinschaftsmarkt für Flacherzeugnisse aus nichtrostendem Stahl – Entscheidung, mit der nach dem Auslaufen des EGKS-Vertrags auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 ein Verstoß gegen Art. 65 KS festgestellt wird – Zuständigkeit der Kommission – Grundsatz nulla poena sine lege und Grundsatz der Rechtskraft – Verteidigungsrechte – Zurechnung der Zuwiderhandlung – Haftungsübergang durch eine Erklärung – Verjährung – Zusammenarbeit im Verwaltungsverfahren“


Inhaltsverzeichnis


I –  Rechtlicher Rahmen

A –  Bestimmungen des EGKS-Vertrags

B –  Bestimmungen des EG-Vertrags

C –  Verordnung (EG) Nr. 1/2003

D –  Bestimmungen über die Bemessung der Geldbuße

II –  Vorgeschichte des Rechtsstreits

III –  Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

IV –  Anträge der Verfahrensbeteiligten

V –  Zum Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung

VI –  Zum Rechtsmittel

A –  Zum ersten Rechtsmittelgrund und zum ersten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes: Verstoß gegen den Grundsatz nulla poena sine lege und den „Bestimmtheitsgrundsatz“ sowie fehlende Zuständigkeit der Kommission

1.  Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

2.  Würdigung durch den Gerichtshof

B –  Zum zweiten Rechtsmittelgrund und zum zweiten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes

1.  Zum ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes: rechtsfehlerhafte Auslegung von Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission durch das Gericht

a)  Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

b)  Würdigung durch den Gerichtshof

2.  Zum ersten Argument zur Stützung des zweiten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes, mit dem eine Verkennung der Reichweite des Grundsatzes der Rechtskraft durch das Gericht und eine Verletzung der Verteidigungsrechte geltend gemacht wird

a)  Zur Zulässigkeit des Arguments

i)  Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

ii)  Würdigung durch den Gerichtshof

b)  Zur Begründetheit

i)  Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

ii)  Würdigung durch den Gerichtshof

3.  Zum zweiten Argument zur Stützung des zweiten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes und zum zweiten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes, mit denen geltend gemacht wird, dass die Erklärung vom 23. Juli 1997 nicht zu einem Haftungsübergang geführt habe und dass gegen den „Bestimmtheitsgrundsatz“ verstoßen worden sei

a)  Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

b)  Würdigung durch den Gerichtshof

C –  Zum vierten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen die Verjährungsvorschriften

1.  Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

2.  Würdigung durch den Gerichtshof

D –  Zum fünften Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen die Grundsätze der Bemessung der Geldbuße

1.  Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

2.  Würdigung durch den Gerichtshof

VII –  Kosten

In der Rechtssache C‑352/09 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs, eingelegt am 2. September 2009,

ThyssenKrupp Nirosta GmbH, vormals ThyssenKrupp Stainless AG, mit Sitz in Duisburg (Deutschland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwalt M. Klusmann und S. Thomas, Universitätsprofessor,

Rechtsmittelführerin,

andere Verfahrensbeteiligte:

Europäische Kommission, vertreten durch F. Castillo de la Torre und R. Sauer als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte im ersten Rechtszug,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot, K. Schiemann, A. Arabadjiev (Berichterstatter) und J.‑J. Kasel, der Richter E. Juhász, G. Arestis, A. Borg Barthet und T. von Danwitz sowie der Richterin C. Toader,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. Juni 2010,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Oktober 2010

folgendes

Urteil

1        Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die ThyssenKrupp Nirosta GmbH, vormals ThyssenKrupp Stainless AG, die Aufhebung des Urteils des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 1. Juli 2009, ThyssenKrupp Stainless/Kommission (T‑24/07, Slg. 2009, II‑2309, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem das Gericht sowohl ihren Antrag auf Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission vom 20. Dezember 2006 in einem Verfahren nach Artikel 65 EGKS-Vertrag (Sache COMP/F/39.234 − Legierungszuschläge, Neuentscheidung) (im Folgenden: streitige Entscheidung) als auch ihren Hilfsantrag auf Herabsetzung der mit dieser Entscheidung gegen sie verhängten Geldbuße abgewiesen hat.

2        Mit der streitigen Entscheidung stellte die Europäische Kommission fest, dass die Thyssen Stahl AG (im Folgenden: Thyssen Stahl) vom 16. Dezember 1993 bis zum 31. Dezember 1994 durch abgestimmte Änderung der Referenzwerte der Formel zur Berechnung des Legierungszuschlags und durch Anwendung dieser Änderung gegen Art. 65 § 1 KS verstoßen habe, und verhängte deshalb gegen die ThyssenKrupp Stainless AG eine Geldbuße in Höhe von 3 168 000 Euro.

I –  Rechtlicher Rahmen

A –  Bestimmungen des EGKS-Vertrags

3        Art. 65 KS sah vor:

„§ 1 Verboten sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, alle Beschlüsse von Verbänden von Unternehmen und alle verabredeten Praktiken, die darauf abzielen würden, auf dem Gemeinsamen Markt unmittelbar oder mittelbar den normalen Wettbewerb zu verhindern, einzuschränken oder zu verfälschen, insbesondere

a)      die Preise festzusetzen oder zu bestimmen;

b)      die Erzeugung, die technische Entwicklung oder die Investitionen einzuschränken oder zu kontrollieren;

c)      die Märkte, Erzeugnisse, Abnehmer oder Versorgungsquellen aufzuteilen.

§ 4   Nach Paragraf 1 dieses Artikels untersagte Vereinbarungen oder Beschlüsse sind nichtig; eine Berufung auf sie ist vor keinem Gericht der Mitgliedstaaten zulässig.

Vorbehaltlich der bei dem Gerichtshof zu erhebenden Klagen ist die Kommission ausschließlich zuständig, darüber zu entscheiden, ob die genannten Vereinbarungen oder Beschlüsse mit den Bestimmungen dieses Artikels in Einklang stehen.

§ 5      Gegen Unternehmen, die eine nichtige Vereinbarung getroffen oder im Wege eines Schiedsverfahrens, einer Vertragsstrafe, des Boykotts oder irgendeines anderen Mittels eine Vereinbarung oder einen nichtigen Beschluss oder eine Vereinbarung, deren Genehmigung abgelehnt oder widerrufen worden ist, angewendet oder anzuwenden versucht haben, oder die Vergünstigung einer Genehmigung durch vorsätzlich falsche oder entstellte Auskünfte erlangen, oder zu den Bestimmungen des Paragrafen 1 im Widerspruch stehende Praktiken anwenden, kann die Kommission Geldbußen und Zwangsgelder festsetzen; der Höchstbetrag dieser Geldbußen und Zwangsgelder darf das Doppelte des Umsatzes nicht überschreiten, der in den Erzeugnissen erzielt worden ist, die Gegenstand der Vereinbarung, des Beschlusses oder der Praktiken waren, die zu den Bestimmungen dieses Artikels im Widerspruch stehen; war eine Beschränkung der Produktion, der technischen Entwicklung oder der Investitionen beabsichtigt, so wird dieser Höchstbetrag bis auf höchstens 10 v. H. des Jahresumsatzes der betreffenden Unternehmen erhöht, soweit es sich um die Geldbuße handelt, und bis auf höchstens 20 v. H. des Tagesumsatzes, soweit es sich um die Zwangsgelder handelt.“

4        Der EGKS-Vertrag lief gemäß Art. 97 KS am 23. Juli 2002 aus.

B –  Bestimmungen des EG-Vertrags

5        Art. 305 Abs. 1 EG lautete:

„Dieser Vertrag ändert nicht die Bestimmungen des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, insbesondere hinsichtlich der Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten, der Befugnisse der Organe dieser Gemeinschaft und der Vorschriften des genannten Vertrags für das Funktionieren des gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl.“

C –  Verordnung (EG) Nr. 1/2003

6        Nach Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) verfügt die Kommission „[z]ur Anwendung der Artikel 81 [EG] und 82 [EG] … über die in dieser Verordnung vorgesehenen Befugnisse“.

7        Art. 7 („Feststellung und Abstellung von Zuwiderhandlungen“) der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:

„(1)      Stellt die Kommission auf eine Beschwerde hin oder von Amts wegen eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 81 [EG] oder Artikel 82 [EG] des Vertrags fest, so kann sie die beteiligten Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung verpflichten, die festgestellte Zuwiderhandlung abzustellen. … Soweit die Kommission ein berechtigtes Interesse hat, kann sie auch eine Zuwiderhandlung feststellen, nachdem diese beendet ist.

…“

8        Nach Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 kann die Kommission gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig gegen Art. 81 EG oder Art. 82 EG verstoßen.

D –  Bestimmungen über die Bemessung der Geldbuße

9        Abschnitt D der Mitteilung der Kommission über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 1996, C 207, S. 4, im Folgenden: Mitteilung über Zusammenarbeit) sieht vor:

„1.      Arbeitet ein Unternehmen mit der Kommission zusammen, ohne dass es alle Voraussetzungen erfüllt, so wird die Höhe der Geldbuße, die ohne seine Mitarbeit festgesetzt worden wäre, um 10 bis 50 % niedriger festgesetzt.

2.      Dies gilt insbesondere, wenn

–        ein Unternehmen der Kommission vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte Informationen, Unterlagen oder andere Beweismittel liefert, die zur Feststellung des Vorliegens eines Verstoßes beitragen;

–        ein Unternehmen der Kommission nach Erhalt der Mitteilung der Beschwerdepunkte mitteilt, dass es den Sachverhalt, auf den die Kommission ihre Einwände stützt, nicht bestreitet.“

II –  Vorgeschichte des Rechtsstreits

10      Der dem Rechtsstreit zugrunde liegende, in den Randnrn. 10 bis 32 des angefochtenen Urteils dargestellte Sachverhalt kann wie folgt zusammengefasst werden.

11      Die Krupp Thyssen Nirosta GmbH, eine Gesellschaft deutschen Rechts, entstand am 1. Januar 1995 aus der Zusammenlegung der Tätigkeiten von Thyssen Stahl und der Fried. Krupp AG Hoesch-Krupp im Bereich nichtrostender Flachstahlerzeugnisse. In anderen Sektoren setzte Thyssen Stahl ihre Tätigkeiten unabhängig fort. Aus der Krupp Thyssen Nirosta GmbH wurde nach mehreren Änderungen der Firmenbezeichnung die ThyssenKrupp Stainless AG und schließlich die ThyssenKrupp Nirosta GmbH.

12      Rostfreier Stahl ist ein Edelstahl, der aufgrund der Verwendung verschiedener Legierungselemente (Nickel, Chrom, Molybdän) korrosionsbeständig ist. Er wird für Flacherzeugnisse (Bleche oder Rollen; warm‑ oder kaltgewalzt) oder für Langerzeugnisse (Stäbe, Walzdraht, Profile; warmgewalzt oder fertig bearbeitet) eingesetzt, von denen die meisten unter den EGKS-Vertrag fielen.

13      Am 16. März 1995 ersuchte die Kommission eine Reihe von Herstellern von rostfreiem Stahl, ihr Informationen über einen Aufpreis zu übermitteln, der unter der Bezeichnung „Legierungszuschlag“ bekannt ist, entsprechend den Kursen der Legierungselemente berechnet wird und um den sich der Grundpreis für rostfreien Stahl erhöht. Die Kosten dieser Legierungselemente, die starken Schwankungen unterliegen, machen einen sehr hohen Anteil der gesamten Herstellungskosten aus. Aufgrund der eingegangenen Informationen sandte die Kommission am 19. Dezember 1995 an 19 Unternehmen eine Mitteilung der Beschwerdepunkte.

14      Im Dezember 1996 und Januar 1997 teilten einige Unternehmen, darunter die Rechtsmittelführerin und Thyssen Stahl, der Kommission ihren Wunsch nach Zusammenarbeit mit. Am 24. April 1997 übermittelte die Kommission jedem der betroffenen Unternehmen, darunter die Rechtsmittelführerin und Thyssen Stahl, eine neue Mitteilung der Beschwerdepunkte, die diese beiden Unternehmen getrennt beantworteten.

15      Mit Schreiben an die Kommission vom 23. Juli 1997 (im Folgenden: Erklärung vom 23. Juli 1997) erklärte die Rechtsmittelführerin:

„[I]m Zusammenhang mit dem im Betreff genannten Verfahren [Sache IV/35.814 – ThyssenKrupp Stainless] haben Sie gegenüber dem Rechtsvertreter [von Thyssen Stahl] um eine ausdrückliche Bestätigung der [Rechtsmittelführerin] gebeten, dass diese infolge der Übertragung des Geschäftsbereichs Rostfrei-Flach [von Thyssen Stahl] die Verantwortung für etwaige Verhaltensweisen [von Thyssen Stahl] übernimmt, soweit Rostfrei-Flachprodukte, die Gegenstand des genannten Verfahrens sind, und zwar auch, soweit sie bis ins Jahr 1993 zurückreichen, betroffen sind. Dies bestätigen wir Ihnen hiermit ausdrücklich.“

16      Mit der Entscheidung 98/247/EGKS vom 21. Januar 1998 in einem Verfahren nach Artikel 65 EGKS-Vertrag (Sache IV/35.814 – Legierungszuschlag) (ABl. L 100, S. 55, im Folgenden: ursprüngliche Entscheidung) stellte die Kommission fest, dass die Mehrheit der Hersteller von Flacherzeugnissen aus rostfreiem Stahl, darunter die Rechtsmittelführerin und Thyssen Stahl, bei einer Zusammenkunft in Madrid (Spanien) am 16. Dezember 1993 vereinbart habe, ihre Preise vom 1. Februar 1994 an in abgestimmter Weise durch eine Änderung der Berechnungsparameter für den Legierungszuschlag anzuheben. Sie leitete daraus ab, dass die betreffenden Unternehmen gegen Art. 65 § 1 KS verstoßen hätten.

17      Die ursprüngliche Entscheidung wurde der Rechtsmittelführerin, nicht aber Thyssen Stahl mitgeteilt, da die Kommission die Rechtsmittelführerin aufgrund der Erklärung vom 23. Juli 1997 als für das Verhalten von Thyssen Stahl verantwortlich ansah. Die Kommission verhängte daher gegen sie auch wegen des Thyssen Stahl zur Last gelegten Sachverhalts, der den Zeitraum von Dezember 1993 bis 1. Januar 1995 betraf, eine Geldbuße.

18      Am 11. März 1998 erhob die Rechtsmittelführerin Klage u. a. auf Nichtigerklärung der ursprünglichen Entscheidung.

19      Mit Urteil vom 13. Dezember 2001, Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission (T‑45/98 und T‑47/98, Slg. 2001, II‑3757), erklärte das Gericht die ursprüngliche Entscheidung für nichtig, soweit darin der Rechtsmittelführerin die Verantwortung für die von Thyssen Stahl begangene Zuwiderhandlung gegen Art. 65 § 1 KS auferlegt wurde, und setzte infolgedessen die Geldbuße herab. Nach Ansicht des Gerichts hatte die Kommission der Rechtsmittelführerin keine Gelegenheit gegeben, zu den Thyssen Stahl zur Last gelegten Handlungen Stellung zu nehmen, und daher die Verteidigungsrechte der Rechtsmittelführerin verletzt.

20      Mit Urteil vom 14. Juli 2005, ThyssenKrupp/Kommission (C‑65/02 P und C‑73/02 P, Slg. 2005, I‑6773), wies der Gerichtshof die Rechtsmittel der Rechtsmittelführerin und der Kommission gegen dieses Urteil zurück.

21      Nach einem Schriftwechsel mit der Rechtsmittelführerin und Thyssen Stahl übersandte die Kommission der Rechtsmittelführerin am 5. April 2006 eine Mitteilung der Beschwerdepunkte. Mit Schreiben vom 17. Mai 2006 beantwortete die Rechtsmittelführerin die Mitteilung der Beschwerdepunkte; eine öffentliche Anhörung fand am 15. September 2006 statt.

22      Am 20. Dezember 2006 erließ die Kommission die streitige Entscheidung. Laut ihrer Präambel ist diese Entscheidung u. a. auf den EGKS-Vertrag, insbesondere dessen Art. 65, sowie auf den EG-Vertrag und die Verordnung Nr. 1/2003 gestützt. Der verfügende Teil der Entscheidung sieht u. a. vor:

„Artikel 1

[Thyssen Stahl] hat zwischen 16. Dezember 1993 und 31. Dezember 1994 durch abgestimmte Änderung der Referenzwerte der Formel zur Berechnung des Legierungszuschlags und durch Anwendung dieser Änderung gegen Artikel 65 § 1 EGKS-Vertrag verstoßen, wobei diese Handlungsweise die Beschränkung und Verfälschung des normalen Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt sowohl zum Ziel als auch zur Folge hatte.

Artikel 2

1.      Wegen der in Artikel 1 genannten Verstöße wird eine Geldbuße in Höhe von 3 168 000 EUR festgesetzt.

2.      Da die [Rechtsmittelführerin] mit [Erklärung] vom 23. Juli 1997 die Verantwortung für das Verhalten [von Thyssen Stahl] übernommen hat, wird die Geldbuße der [Rechtsmittelführerin] auferlegt.“

III –  Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

23      Die Rechtsmittelführerin erhob mit Klageschrift, die am 6. Februar 2007 bei der Kanzlei des Gerichts einging, gemäß den Art. 225 EG und 230 EG Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung.

24      Mit ihrem ersten Klagegrund machte sie einen Verstoß gegen den Grundsatz nulla poena sine lege aufgrund der Anwendung von Art. 65 § 1 KS nach dem Auslaufen des EGKS-Vertrags geltend. Mit dem zweiten Klagegrund rügte sie die Rechtswidrigkeit der Anwendung der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 65 KS. Mit dem dritten Klagegrund beanstandete sie einen Verstoß gegen die Rechtskraft, weil der Gerichtshof in Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission entschieden habe, dass sie für das Verhalten von Thyssen Stahl nicht hafte.

25      Im Rahmen des vierten Klagegrundes machte die Rechtsmittelführerin geltend, die Erklärung vom 23. Juli 1997 könne ebenso wenig ihre Verantwortlichkeit wie die Übertragung der materiell-rechtlichen Bußgeldverantwortlichkeit begründen. Mit dem fünften Klagegrund machte sie geltend, die streitige Entscheidung verstoße gegen den „Bestimmtheitsgrundsatz“, da weder die Sanktionsgrundlage noch das Konzept einer „Haftungsübernahme durch private Erklärung“ hinreichend klar umrissen seien.

26      Mit dem sechsten Klagegrund rügte die Rechtsmittelführerin, dass mit der Haftungsübernahme durch private Erklärung gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen worden sei. Mit dem siebten Klagegrund machte sie geltend, die von Thyssen Stahl begangene Zuwiderhandlung sei verjährt. Mit dem achten und dem neunten Klagegrund machte sie eine Verletzung der Verteidigungsrechte geltend, die darin bestehe, dass zum einen gegen das Recht auf Akteneinsicht verstoßen worden sei und zum anderen die Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht ordnungsgemäß gewesen sei.

27      Hilfsweise trug die Rechtsmittelführerin im Rahmen eines zehnten Klagegrundes vor, dass die Bußgeldbemessung rechtswidrig sei, da die Kommission dem Umstand, dass sie den Verstoß in vollem Umfang eingeräumt habe, keine Bedeutung beigemessen habe.

28      In den Randnrn. 37 und 38 des angefochtenen Urteils wird festgestellt, dass die Parteien in der mündlichen Verhandlung vom 11. Dezember 2008 gehört worden seien und dass die Rechtsmittelführerin in dieser Sitzung mitgeteilt habe, dass sie die Erklärung vom 23. Juli 1997 widerrufe, was in das Protokoll der Sitzung aufgenommen worden sei.

29      Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht die Klage abgewiesen und der Rechtsmittelführerin die Kosten des Verfahrens auferlegt.

30      Das Gericht hat zunächst die Ansicht vertreten, dass die Anwendung des Art. 65 § 1 KS nach dem 23. Juli 2002 auf vor diesem Zeitpunkt liegende Sachverhalte nicht gegen den Grundsatz nulla poena sine lege verstoße und dass die Kommission ihre Zuständigkeit für diese Anwendung auf die Verordnung Nr. 1/2003 habe stützen können. Der Gerichtshof habe im Urteil ThyssenKrupp/Kommission, das rechtskräftig geworden sei, festgestellt, dass die Rechtsmittelführerin aufgrund der Erklärung vom 23. Juli 1997 für das Verhalten von Thyssen verantwortlich sei.

31      Sodann hat das Gericht ausgeführt, dass die Rechtsgrundlagen der Sanktion und des genannten Haftungsübergangs zum einen in Art. 7 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 und zum anderen in der Erklärung vom 23. Juli 1997 hinreichend klar umrissen seien. Die Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz ne bis in idem hat das Gericht mit der Begründung zurückgewiesen, dass die von Thyssen Stahl begangene Zuwiderhandlung aufgrund dieser Erklärung der Rechtsmittelführerin zuzurechnen gewesen sei. Diese Zuwiderhandlung sei auch nicht verjährt gewesen, da die Verjährung in Bezug auf die Rechtsmittelführerin zu prüfen sei und da sie während des die ursprüngliche Entscheidung betreffenden gerichtlichen Verfahrens geruht habe.

32      Schließlich hat das Gericht festgestellt, dass die Mitteilung der Beschwerdepunkte ordnungsgemäß gewesen sei und dass die Kommission weder das Recht der Rechtsmittelführerin auf Akteneinsicht verletzt noch einen Fehler begangen habe, als sie das Vorbringen, dass die Rechtsmittelführerin den Verstoß eingeräumt habe, unberücksichtigt gelassen habe.

IV –  Anträge der Verfahrensbeteiligten

33      Die Rechtsmittelführerin beantragt,

–        das angefochtene Urteil aufzuheben;

–        hilfsweise, die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen;

–        weiter hilfsweise, die in Art. 2 der streitigen Entscheidung gegen sie verhängte Geldbuße herabzusetzen;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

34      Die Kommission beantragt,

–        das Rechtsmittel unter Aufrechterhaltung des angefochtenen Urteils zurückzuweisen;

–        der Rechtsmittelführerin die Kosten aufzuerlegen.

V –  Zum Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung

35      Die Kommission hat mit am 28. Oktober 2010 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangenem Schriftsatz die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gemäß Art. 61 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs für den Fall beantragt, dass sich der Gerichtshof mit den Fragen befassen sollte, ob eine „Einschränkung des Grundsatzes res iudicata durch das ‚principe du contradictoire‘ [Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens]“ erfolge, ob die Kommission in einem nach Verkündung des vorliegenden Urteils liegenden Verwaltungsabschnitt eine Geldbuße wegen des streitigen Verhaltens gegen Thyssen Stahl verhängen könne und welche Auswirkungen die Nichtigerklärung der ursprünglichen Entscheidung auf das Ruhen der Verjährung habe. Diese Fragen habe der Generalanwalt in den Nrn. 155, 174 bis 176 und 198 bis 212 seiner Schlussanträge geprüft, sie seien jedoch nicht Gegenstand des Rechtsstreits und seien zwischen den Verfahrensbeteiligten auch nicht erörtert worden.

36      Der Generalanwalt ist gemäß Art. 61 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu diesem Antrag angehört worden.

37      Der Gerichtshof kann gemäß Art. 61 seiner Verfahrensordnung von Amts wegen, auf Vorschlag des Generalanwalts oder auf Antrag der Parteien die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung anordnen, wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen als entscheidungserheblich ansieht (vgl. Urteil vom 8. September 2009, Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, C‑42/07, Slg. 2009, I‑7633, Randnr. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass er im vorliegenden Fall über alle erforderlichen Angaben verfügt, um den Rechtsstreit zu entscheiden, und dass die Rechtssache nicht mit Blick auf ein vor ihm nicht erörtertes Vorbringen geprüft werden muss.

39      Daher besteht keine Veranlassung, die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung anzuordnen.

VI –  Zum Rechtsmittel

40      Die Rechtsmittelführerin stützt ihr Rechtsmittel auf fünf Rechtsmittelgründe. Mit dem ersten dieser Rechtsmittelgründe rügt sie einen Verstoß gegen den Grundsatz nulla poena sine lege, weil Art. 65 § 1 KS nach dem 23. Juli 2002 angewandt worden sei, die fehlerhafte Anwendung von Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 auf eine Zuwiderhandlung gegen Art. 65 § 1 KS, die Verletzung der Souveränität der EGKS-Signatarstaaten und die mangelnde Einschlägigkeit des Urteils des Gerichts vom 12. September 2007, González y Díez/Kommission (T‑25/04, Slg. 2007, II‑3121).

41      Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund macht die Rechtsmittelführerin geltend, ihre Haftung für das Verhalten von Thyssen Stahl sei im Urteil ThyssenKrupp/Kommission nicht rechtskräftig festgestellt worden, das Gericht habe die Reichweite des Grundsatzes res iudicata verkannt, es habe ihre Verteidigungsrechte verletzt und es habe zu Unrecht entschieden, dass die Erklärung vom 23. Juli 1997 einen Übergang der Haftung von Thyssen Stahl auf sie selbst bewirkt habe.

42      Mit dem dritten Rechtsmittelgrund wird die mangelnde Bestimmtheit sowohl der Rechtsgrundlage der streitigen Entscheidung als auch des Haftungsübergangs gerügt, die das Gericht zu Unrecht nicht festgestellt habe. Mit dem vierten Rechtsmittelgrund wirft die Rechtsmittelführerin dem Gericht vor, es habe gegen die Verjährungsvorschriften verstoßen. Mit dem fünften Rechtsmittelgrund rügt sie einen Verstoß gegen die Grundsätze der Bemessung der Geldbuße.

A –  Zum ersten Rechtsmittelgrund und zum ersten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes: Verstoß gegen den Grundsatz nulla poena sine lege und den „Bestimmtheitsgrundsatz“ sowie fehlende Zuständigkeit der Kommission

1.     Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

43      Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht die Rechtsmittelführerin erstens geltend, dass die Anwendung des Art. 65 § 1 KS nach dem 23. Juli 2002 gegen den Grundsatz nulla poena sine lege verstoße, da der EGKS-Vertrag und die dadurch der Kommission übertragenen Ermächtigungen nach Art. 97 KS zu diesem Datum erloschen seien. Nach dem im Gemeinschaftsrecht und im internationalen Recht verankerten Analogieverbot für straf‑ und bußgeldrechtliche Vorschriften müsse sich die gesetzliche Grundlage der Sanktion klar und unzweideutig aus dem geschriebenen Recht ergeben.

44      Aus dem Umstand, dass nach dem 23. Juli 2002 bestimmte Verhaltensweisen, die früher unter den EGKS-Vertrag gefallen wären, unter den EG-Vertrag fallen könnten, lasse sich nichts für die Beantwortung der Frage ableiten, inwieweit nach diesem Datum Verstöße nach Art. 65 § 1 KS geahndet werden könnten, die vor diesem Datum beendet worden seien.

45      Das Gericht habe die Begriffe der Einheit und der Kontinuität der gemeinschaftlichen Rechtsordnung verkannt, als es aus diesen Begriffen abgeleitet habe, dass der EGKS-Vertrag unter dem EG-Vertrag weiterhin angewandt werden könne. Da der EGKS-Vertrag und der EG-Vertrag völkerrechtliche Verträge seien, unterfielen sie den in Art. 70 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge aufgestellten Grundsätzen, wonach mit Außerkrafttreten eines völkerrechtlichen Vertrags aus ihm keine Vertragspflichten und auch keine Befugnisse mehr hergeleitet werden könnten.

46      Selbst wenn man annähme, dass die Gemeinschaftsverträge nach einheitlichen Grundsätzen auszulegen seien, bedeute dies nicht, dass die Kommission eine Allzuständigkeit für ihren Vollzug besäße, die vom Bestand der jeweiligen Vertragsrechtsordnung losgelöst wäre. Aus mehreren Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts folge nämlich, dass die Organe nur über die sich aus rechtlich selbständigen Verträgen ergebenden Einzelermächtigungen verfügten.

47      Da die Kommission nicht mehr über Befugnisse aus dem EGKS-Vertrag verfüge, sei die Frage, ob die Tatbestandsmerkmale des Art. 65 KS und des Art. 81 EG sich entsprochen hätten und in gleicher Weise ausgelegt worden seien, belanglos. So bedeute auch der Umstand, dass in bestimmten nationalen Rechtsordnungen Tatbestandsmerkmale von Kartellen ähnlich ausgelegt würden wie die Tatbestandsmerkmale der Art. 81 EG und 82 EG, nicht, dass die Kommission zur Anwendung dieser nationalen Vorschriften befugt sei.

48      Die Rechtsmittelführerin weist darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Gerichts die Tatsache, dass es sich beim EGKS- Vertrag um eine lex specialis zum EG-Vertrag gehandelt habe, nach Auslaufen des EGKS-Vertrags keine Befugnis der Kommission aus Art. 65 § 5 KS begründen könne. Sie ist der Ansicht, dass diese Aussage auf Art. 65 § 1 KS auszuweiten sei, da er Bestandteil der Sanktionsgrundlage sei. Deshalb lasse sich die Anwendbarkeit des außer Kraft getretenen Art. 65 § 1 KS nicht mit dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali begründen, da dieser Grundsatz nur das Verhältnis zweier anwendbarer Normen zueinander regle.

49      In Ermangelung von Übergangsregelungen mit Rechtsnormcharakter – der für die Mitteilung über bestimmte Aspekte der Behandlung von Wettbewerbsfällen nach Auslaufen des EGKS-Vertrags (ABl. C 152, S. 5), die von der Kommission am 18. Juni 2002 erlassen worden sei, zu verneinen sei –, die der Kommission die Ahndung von Verstößen gegen Art. 65 § 1 KS nach dem 23. Juli 2002 noch ermöglichen würden, sei weder im Primär‑ noch im Sekundärrecht an irgendeiner Stelle vorgesehen, dass die Kommission nach dem 23. Juli 2002 noch eine Entscheidung wie die streitige Entscheidung erlassen könne.

50      Zweitens gebe es nach dem Auslaufen des EGKS-Vertrags keine Rechtsnorm mehr, die Sanktionen für einen Verstoß gegen Art. 65 § 1 KS vorsehe, da § 5 dieser Bestimmung zusammen mit dem EGKS-Vertrag ausgelaufen sei, was das Gericht in seiner früheren Rechtsprechung anerkannt habe.

51      Indem das Gericht befunden habe, dass Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 dahin auszulegen sei, dass er die Kommission zu einer Ahndung von Verstößen gegen den EGKS-Vertrag ermächtige, und dies obwohl diese Vorschrift nicht auf Art. 65 KS Bezug nehme, habe es gegen den Grundsatz nulla poena sine lege verstoßen, aus dem folge, dass der Wortsinn die äußerste Grenze strafrechtlicher Vorschriften bilde. Sie dürften nicht einer erweiternden historischen, systematischen oder teleologischen Auslegung unterworfen werden, da dies einer analogen Anwendung gleichkäme, die im Bereich des Sanktionsrechts verboten sei.

52      Hierzu verweist die Rechtsmittelführerin auf die Rechtsprechung, der zufolge eine Sanktion nur dann verhängt werden dürfe, wenn sie auf einer klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage beruhe, die ausdrücklich die Auferlegung einer Sanktion für den in Rede stehenden Fall vorsehe. Sie zieht daraus die Schlussfolgerung, dass der Gerichtshof im Bereich des Sanktionsrechts jede erweiternde systematische oder teleologische Auslegung über den Wortsinn der Bestimmungen hinaus abgelehnt habe. Das Gericht aber habe eine unzulässige Analogie vorgenommen.

53      Drittens lägen die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung des Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 auf eine Zuwiderhandlung gegen Art. 65 § 1 KS nicht vor. Es sei nämlich erforderlich, dass der Tatbestand eine Ähnlichkeit mit dem in Art. 23 geregelten Fall aufweise und dass im Hinblick auf die Ziele des Gesetzgebers eine planwidrige Regelungslücke vorliege.

54      Selbst unter der Annahme, dass Art. 65 § 1 KS in allen wesentlichen Punkten mit Art. 81 EG identisch sei – was nicht der Fall sei, da die Tatbestände in mehrfacher Hinsicht voneinander abwichen –, bestehe jedoch keine im Hinblick auf die Ziele des Gesetzgebers planwidrige Regelungslücke. Der Richter sei aus Gründen des Demokratieprinzips und der Gewaltenteilung nur zur Schließung von Gesetzeslücken befugt, die dem Gesetzgeber planwidrig unterlaufen seien. Er sei nicht dazu ermächtigt, den Gesetzgeber in der Weise zu korrigieren, dass er seine eigenen Vorstellungen von einer sinnvollen Regelung an die Stelle des geltenden Rechts setze.

55      Im vorliegenden Fall sprächen gegen das Vorliegen einer solchen Regelungslücke die Umstände, dass der Normgeber keine Übergangsregelung geschaffen habe, während in verschiedenen anderen Bereichen des EGKS-Vertrags Verlängerungs‑ oder Übergangsregelungen erlassen worden seien, und dass der Rat der Europäischen Union und die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten durch die Entschließung vom 20. Juli 1998 zum Ablauf der Geltungsdauer des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (ABl. C 247, S. 5) unter Hinweis darauf, dass sie bereit seien, alle notwendigen Maßnahmen aufgrund des Vertragsablaufs zu ergreifen, die Kommission ersucht hätten, Vorschläge für andere Bereiche, die von diesem Ablauf der Geltungsdauer betroffen seien, zu unterbreiten, ohne dass die Kommission diesem Ersuchen hinsichtlich des Kartellrechts entsprochen habe.

56      Viertens ist die Rechtsmittelführerin der Ansicht, die Anwendung des Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 auf Art. 65 § 1 KS verletze die Art. 5 EG, 7 Abs. 1 EG und 83 EG, da sie nicht weiter gehen könne, als es die Ermächtigungsgrundlage dieser Verordnung gestatte. Selbst wenn der Rat Art. 23 hätte dahin gehend ausgestalten wollen, dass er eine Ahndung von Verstößen gegen Art. 65 § 1 KS erlaube, wäre dies nicht möglich gewesen, da der EG-Vertrag nur zum Vollzug der Bestimmungen des EG-Vertrags ermächtige.

57      Aus den Art. 5 EG, 7 Abs. 1 Satz 2 EG und 211 EG gehe hervor, dass der EG-Vertrag die Zuständigkeiten und Befugnisse der Kommission im Rahmen der Wahrnehmung der aus ihm resultierenden Aufgaben der Gemeinschaftsorgane strikt auf diesen Vertrag beschränke. Da der materielle Tatbestand der Zuwiderhandlung und ihre Rechtsfolgen gemeinsam die Sanktionsgrundlage bildeten, gelte dies sowohl für die unmittelbaren Rechtsfolgen als auch für den materiellen Tatbestand der Zuwiderhandlung.

58      Art. 83 EG ermächtige den Rat nur dazu, eine Verordnung zum Vollzug der Art. 81 EG und 82 EG zu erlassen. Infolgedessen sei die Beschränkung des Anwendungsbereichs von Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 auf die Bestimmungen des EG-Vertrags kein redaktionelles Versehen, das einer Korrektur durch analoge Anwendung des Art. 23 auf Verstöße gegen Art. 65 § 1 KS bedürfte.

59      Das Gericht habe dadurch einen Rechtsfehler begangen, dass es Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 als eine Verfahrensvorschrift angesehen habe. Art. 23 sei nämlich eine materiell-rechtliche Regelung, die eine Sanktionsbefugnis einräume, indem sie die Kommission ermächtige, bei Zuwiderhandlungen gegen die Art. 81 EG und 82 EG Geldbußen zu verhängen, die nicht unmittelbar im EG-Vertrag vorgesehen seien.

60      In Randnr. 85 des angefochtenen Urteils sei dem Gericht dadurch ein logischer Fehler unterlaufen, dass es die Anwendbarkeit des Art. 65 § 1 KS mit den Regeln des intertemporalen Rechts habe begründen wollen, wonach das zur Tatzeit anwendbare materielle Recht gelten müsse. Die zeitliche Anwendbarkeit einer nicht mehr existenten Norm setze aber voraus, dass die Kommission noch zum Vollzug der Normen der betreffenden Rechtsordnung befugt sei, was in der vorliegenden Rechtssache nicht der Fall sei.

61      Fünftens verletze das angefochtene Urteil die Souveränität der EGKS-Signatarstaaten, weil nach Auslaufen des EGKS-Vertrags die Kompetenz zur Verhängung von Sanktionen in dem betreffenden Bereich an die Mitgliedstaaten zurückgefallen sei, da die Signatarstaaten der Kommission die Sanktionsbefugnis nur bis zu diesem Datum übertragen hätten.

62      Sechstens habe sich das Gericht zu Unrecht auf die Randnrn. 57 ff. seines Urteils González y Díez/Kommission berufen. Selbst wenn man die Richtigkeit dieses Urteils unterstellte, sei es doch im Bereich des Beihilferechts ergangen. Im Bereich des Kartellrechts gälten aber nach dem Grundsatz nulla poena sine lege für die Verhängung von Geldbußen strengere Regeln.

63      Zudem habe das Gericht darauf hingewiesen, dass die zeitlichen Wirkungen einer Wettbewerbsverzerrung, die sich aus der Nichtbeachtung der Regeln für staatliche Beihilfen ergebe, nach dem Auslaufen des EGKS-Vertrags zum Tragen kommen könnten. Dagegen betreffe die vorliegende Rechtssache eine Zuwiderhandlung gegen Art. 65 KS, die im Januar 1998 beendet worden sei und die daher zum Zeitpunkt der Bebußung am 20. Dezember 2006 keinerlei Wirkungen mehr gehabt habe, die erst durch die Verhängung einer Geldbuße hätten beseitigt werden können.

64      Mit dem ersten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes macht die Rechtsmittelführerin geltend, das Gericht habe mit der Feststellung, dass aus der streitigen Entscheidung hervorgehe, dass die Kommission Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 mit Art. 65 § 1 KS habe kombinieren wollen, den Grundsatz der Bestimmtheit der Rechtsgrundlage verkannt, wonach eine Sanktion nur dann verhängt werden dürfe, wenn sie auf einer klaren und unzweideutigen Rechtgrundlage beruhe, die für den konkreten Fall eine Sanktion vorsehe. Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 sehe aber Sanktionen nicht im Fall eines Verstoßes gegen Art. 65 § 1 KS vor, sondern nur im Fall eines Verstoßes gegen Art. 81 EG oder Art. 82 EG.

2.     Würdigung durch den Gerichtshof

65      Einleitend ist zunächst festzustellen, dass die Kommission wegen jeder dem Tatbestand des Art. 65 § 1 KS entsprechenden Vereinbarung, die vor dem Auslaufen des EGKS-Vertrags am 23. Juli 2002 getroffen oder durchgeführt wurde, bis zu diesem Datum eine auf Art. 65 § 5 KS gestützte Entscheidung erlassen konnte, mit der sie gegen die Unternehmen, die an der Vereinbarung oder ihrer Durchführung beteiligt waren, Geldbußen verhängte.

66      Sodann ist festzustellen, dass die Kommission wegen jeder dem Tatbestand des Art. 65 § 1 KS entsprechenden Vereinbarung, die zwischen dem 24. Juli 2002 und dem 30. November 2009 getroffen oder durchgeführt wurde, eine solche Entscheidung gestützt auf Art. 81 EG und Art. 15 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [81 EG] und [82 EG] (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), oder Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 erlassen konnte.

67      Schließlich steht ebenfalls fest, dass die Kommission wegen jeder dem Tatbestand des Art. 65 § 1 KS entsprechenden Vereinbarung, die seit dem 1. Dezember 2009 getroffen oder durchgeführt worden ist, eine solche Entscheidung gestützt auf die Art. 101 AEUV und 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 erlassen kann.

68      Im vorliegenden Fall widerspricht die Rechtsmittelführerin im Wesentlichen der Feststellung des Gerichts, dass ihr die Kommission mit der nach dem 23. Juli 2002 erlassenen streitigen Entscheidung aufgrund einer Kombination des Art. 65 §§ 1 und 5 KS und der Art. 7 Abs. 1 und 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 eine Geldbuße habe auferlegen können, weil sie vor dem 23. Juli 2002 am Abschluss und an der Durchführung einer dem Tatbestand des Art. 65 § 1 KS entsprechenden Vereinbarung beteiligt gewesen sei.

69      Was erstens die Zuständigkeit der Kommission betrifft, hat das Gericht in Randnr. 74 des angefochtenen Urteils die Auffassung vertreten, dass die Vorschrift, die die Rechtsgrundlage eines Rechtsakts bilde und das Organ der Europäischen Union zu seinem Erlass ermächtige, bei Erlass des Rechtsakts in Kraft sein müsse, was auf Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 zutreffe.

70      In den Randnrn. 76 bis 79 des angefochtenen Urteils hat das Gericht ausgeführt, dass der EGKS-Vertrag gemäß Art. 305 Abs. 1 EG eine lex specialis gewesen sei, die vom EG-Vertrag als lex generalis abgewichen sei, und dass wegen des Auslaufens des EGKS-Vertrags am 23. Juli 2002 der Geltungsbereich der allgemeinen Regelung des EG-Vertrags am 24. Juli 2002 auf die Bereiche ausgedehnt worden sei, die ursprünglich durch den EGKS-Vertrag geregelt gewesen seien.

71      In den Randnrn. 80 bis 82 des angefochtenen Urteils hat das Gericht erläutert, dass der Umstand, dass der rechtliche Rahmen des EG-Vertrags an die Stelle des rechtlichen Rahmens des EGKS-Vertrags getreten sei, im Zusammenhang mit der Kontinuität der Unionsrechtsordnung und ihrer Ziele zu sehen sei, wobei die Errichtung und die Erhaltung eines Systems des freien Wettbewerbs eines der Hauptziele sowohl des EG-Vertrags als auch des EGKS-Vertrags darstellten. Es hat insoweit unterstrichen, dass die Begriffe „Vereinbarung“ und „verabredete Praktiken“ nach Art. 65 § 1 KS den Begriffen „Vereinbarung“ und „abgestimmte Verhaltensweisen“ im Sinne des Art. 81 EG entsprächen und dass diese beiden Bestimmungen vom Unionsrichter in gleicher Weise ausgelegt würden.

72      In den Randnrn. 83 und 84 des angefochtenen Urteils ist das Gericht deshalb zu dem Schluss gelangt, dass die Kontinuität der Unionsrechtsordnung erfordere, dass die Kommission bei im Rahmen des EGKS-Vertrags entstandenen Situationen für die Einhaltung der seinerzeit sowohl für die Mitgliedstaaten als auch für Einzelpersonen nach dem EGKS-Vertrag geltenden Rechte und Pflichten Sorge trage, und dass Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 folglich dahin auszulegen sei, dass er die Kommission ermächtige, nach dem 23. Juli 2002 Kartelle in Bereichen, die sachlich und zeitlich unter den EGKS-Vertrag fielen, zu ahnden.

73      Diese Erwägungen sind rechtsfehlerfrei. Aus der Rechtsprechung geht nämlich hervor, dass nach einem den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen, auf das römische Recht zurückgehenden Grundsatz bei Änderungen der Gesetzgebung, soweit der Gesetzgeber nicht einen entgegenstehenden Willen zum Ausdruck gebracht hat, die Kontinuität der Rechtsstrukturen zu gewährleisten ist, und dass dieser Grundsatz auch für Änderungen des Primärrechts der Union gilt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 1969, Klomp, 23/68, Slg. 1969, 43, Randnr. 13).

74      Wie die Kommission zutreffend vorgetragen hat, gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Unionsgesetzgeber Kartellverhalten, das nach dem EGKS-Vertrag verboten war, nach dem Auslaufen dieses Vertrags sanktionsfrei stellen wollte.

75      Zum einen hat die Rechtsmittelführerin, wie aus Randnr. 55 des vorliegenden Urteils hervorgeht, selbst betont, dass der Rat und die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten darauf hingewiesen hatten, dass sie bereit seien, alle notwendigen Maßnahmen aufgrund des Ablaufs des EGKS-Vertrags zu ergreifen. Zum anderen hat die Kommission erläutert, dass sie Vorschläge für Übergangsregelungen nur habe unterbreiten sollen, soweit dies für erforderlich angesehen worden sei, und dass ihrer Auffassung nach im Bereich des Kartellrechts vor dem Hintergrund der geltenden allgemeinen Rechtsprinzipien ein solches Erfordernis nicht bestanden habe.

76      Daraus folgt, dass die Rechtsmittelführerin aus dem Fehlen einschlägiger Übergangsregelungen kein stichhaltiges Argument herleiten kann.

77      Darüber hinaus ergibt sich aus den Feststellungen in den Randnrn. 65 bis 67 des vorliegenden Urteils, dass durch das Aufeinanderfolgen des EGKS‑, des EG‑ und des AEU-Vertrags im Hinblick auf die Gewährleistung eines freien Wettbewerbs sichergestellt ist, dass die Kommission jedes dem Tatbestand des Art. 65 § 1 KS entsprechende Verhalten, gleichgültig, ob es vor oder nach dem 23. Juli 2002 stattgefunden hat, ahnden konnte bzw. ahnden kann.

78      Unter diesen Umständen liefe es dem Zweck und der Kohärenz der Verträge zuwider und wäre mit der Kontinuität der Unionsrechtsordnung unvereinbar, wenn die Kommission nicht befugt wäre, eine einheitliche Anwendung der Normen sicherzustellen, die im Zusammenhang mit dem EGKS-Vertrag stehen und weiterhin auch nach dessen Außerkrafttreten Wirkungen zeitigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2007, Lucchini, C‑119/05, Slg. 2007, I‑6199, Randnr. 41).

79      Zweitens hat das Gericht zum letztgenannten Gesichtspunkt in den Randnrn. 85, 86 und 89 des angefochtenen Urteils zutreffend festgestellt, dass es zur Einhaltung der Grundsätze über das intertemporale Recht und wegen der Erfordernisse im Zusammenhang mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes geboten sei, die materiell-rechtlichen Vorschriften des Art. 65 §§ 1 und 5 KS auf den Sachverhalt des vorliegenden Falles anzuwenden, der sachlich und zeitlich gesehen in den Geltungsbereich des EGKS‑Vertrags falle.

80      Soweit die Rechtsmittelführerin beanstandet, dass die streitige Entscheidung gegen den Grundsatz nulla poena sine lege und einen geltend gemachten „Bestimmtheitsgrundsatz“ verstoße, insbesondere weil weder die Verordnung Nr. 1/2003 noch Art. 83 EG auf Art. 65 KS verweise, ist zu beachten, dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Delikten und Sanktionen (nullum crimen, nulla poena sine lege), wie er in Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist, verlangt, dass eine unionsrechtliche Regelung klar die Zuwiderhandlungen und die Sanktionen definiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld, C‑303/05, Slg. 2007, I‑3633, Randnrn. 49 und 50).

81      Zudem verlangt der Grundsatz der Rechtssicherheit, dass eine solche Regelung den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 10. März 2009, Heinrich, C‑345/06, Slg. 2009, I‑1659, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

82      In diesem Zusammenhang ist zu unterstreichen, dass Art. 65 §§ 1 und 5 KS zur Tatzeit eine klare Rechtsgrundlage für die im vorliegenden Fall verhängte Sanktion enthielt, so dass die Rechtsmittelführerin über die Folgen ihres Verhaltens nicht in Unkenntnis sein konnte. Im Übrigen ergibt sich aus den Feststellungen in den Randnrn. 65 bis 67 des vorliegenden Urteils, dass die Kommission ein gleiches Verhalten auch zu jedem späteren Zeitpunkt durch eine solche Sanktion hätte ahnden können.

83      Da die Verträge bereits vor dem Tatzeitpunkt die Zuwiderhandlungen sowie Art und Umfang der ihretwegen verhängbaren Sanktionen klar definierten, garantieren die genannten Grundsätze den Unternehmen nicht, dass spätere Änderungen der Rechtsgrundlagen und der Verfahrensvorschriften ihnen ermöglichen, jeder Sanktion in Bezug auf ihr beendetes rechtswidriges Verhalten zu entgehen.

84      Überdies hat die Kommission bereits vor dem Auslaufen des EGKS-Vertrags darauf hingewiesen, dass keine Möglichkeit besteht, einer solchen Ahndung zu entgehen, indem sie in Nr. 31 ihrer am 18. Juni 2002 erlassenen Mitteilung über bestimmte Aspekte der Behandlung von Wettbewerbsfällen nach Auslaufen des EGKS-Vertrags klargestellt hat, dass, wenn sie in einem unter den EGKS-Vertrag fallenden Bereich einen Verstoß feststellt, unabhängig vom Zeitpunkt der Anwendung die materiellen Rechtsvorschriften anwendbar sind, die bei Vornahme der tatbestandlichen Handlung in Kraft waren, und dass nach Auslaufen des EGKS-Vertrags das Verfahrensrecht des EG-Vertrags gilt.

85      Auch der Grundsatz lex mitior steht im vorliegenden Fall der Anwendung von Art. 65 § 5 KS nicht entgegen, weil die durch die streitige Entscheidung verhängte Geldbuße jedenfalls unterhalb der Höchstgrenze liegt, die in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 für die Verhängung von Geldbußen wegen Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln der Union festgelegt ist.

86      Nach alledem konnte ein sorgfältiges Unternehmen in der Lage der Rechtsmittelführerin zu keinem Zeitpunkt über die Folgen seines Verhaltens in Unkenntnis sein oder sich darauf verlassen, dass der Umstand, dass der rechtliche Rahmen des EG-Vertrags an die Stelle des rechtlichen Rahmens des EGKS-Vertrags trat, zur Folge haben werde, dass es jeder Ahndung beendeter Zuwiderhandlungen gegen Art. 65 KS entgehen werde.

87      Zur Rechtsgrundlage und zu den anwendbaren Verfahrensvorschriften hat das Gericht ferner in den Randnrn. 84 und 87 des angefochtenen Urteils zutreffend festgestellt, dass sich die Befugnis der Kommission, durch die streitige Entscheidung die fragliche Geldbuße zu verhängen, aus Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 ergebe und dass das Verfahren gemäß dieser Verordnung habe geführt werden müssen.

88      Aus der Rechtsprechung geht nämlich hervor, dass die Bestimmung, die die Rechtsgrundlage eines Rechtsakts bildet und das Unionsorgan zum Erlass dieses Rechtsakts ermächtigt, zum Zeitpunkt seines Erlasses in Kraft sein muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. April 2000, Kommission/Rat, C‑269/97, Slg. 2000, I‑2257, Randnr. 45) und dass Verfahrensvorschriften im Allgemeinen ab dem Zeitpunkt, zu dem sie in Kraft treten, anwendbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. November 1981, Meridionale Industria Salumi u. a., 212/80 bis 217/80, Slg. 1981, 2735, Randnr. 9, und vom 23. Februar 2006, Molenbergnatie, C‑201/04, Slg. 2006, I‑2049, Randnr. 31).

89      Zu ergänzen ist, dass die Anwendung der Verordnung Nr. 1/2003 durch die Kommission die Verfahrensgarantien, die den betroffenen Unternehmen durch den rechtlichen Rahmen des EGKS-Vertrags eingeräumt werden, nicht eingeschränkt, sondern eher erweitert hat, was die Rechtsmittelführerin auch nicht bestreitet.

90      Das Gericht konnte daher in den Randnrn. 87 und 89 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei zum einen folgern, dass sich die Befugnis der Kommission, durch die streitige Entscheidung die fragliche Geldbuße zu verhängen, aus Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 ergebe und dass das Verfahren gemäß dieser Verordnung habe geführt werden müssen, und zum anderen, dass Art. 65 §§ 1 und 5 KS das die Sanktion vorsehende anwendbare materielle Recht sei.

91      Somit sind der erste Rechtsmittelgrund und der erste Teil des dritten Rechtsmittelgrundes zurückzuweisen.

B –  Zum zweiten Rechtsmittelgrund und zum zweiten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes

1.     Zum ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes: rechtsfehlerhafte Auslegung von Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission durch das Gericht

a)     Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

92      Nach Ansicht der Rechtsmittelführerin ist das Gericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Gerichtshof in Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission angenommen habe, sie hafte für die von Thyssen Stahl begangenen Zuwiderhandlungen. In diesem Urteil habe der Gerichtshof mit einer ergänzenden Begründung ihre materielle Verantwortlichkeit gerade abgelehnt. Der prozessuale Kontext, auf den sich das Gericht zur Stützung seiner Auslegung bezogen habe, erlaube es nicht, dem Wortlaut von Randnr. 88 eine andere Bedeutung zu geben. Um seine eigene Auslegung zugrunde legen zu können, hätte das Gericht zunächst einen Antrag auf Auslegung nach Art. 102 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs stellen müssen.

93      Im Übrigen hält die Rechtsmittelführerin den vom Gericht vorgenommenen Ausschluss der Erklärung vom 23. Juli 1997 für unverständlich, da Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission auf alle in den Randnrn. 85 und 86 des Urteils genannten Erklärungen verweise und sich in dieselbe Aussage einfüge. Desgleichen macht die Rechtsmittelführerin in Bezug auf die vom Gericht vertretene Ansicht, die Erklärung vom 23. Juli 1997 könne deshalb nicht gemeint sein, weil sie sich nicht auf die Geschäftstätigkeiten von Thyssen Stahl bezogen habe, geltend, dass sich diese Erklärung gerade auf deren Geschäftstätigkeiten bezogen habe.

94      In Bezug auf die im angefochtenen Urteil gegebene Begründung, dass für den Gerichtshof kein Anlass bestanden hätte, sich noch zum zweiten und zum dritten Anschlussrechtsmittelgrund zu äußern, wenn Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission in dem von der Rechtsmittelführerin vorgeschlagenen Sinne auszulegen sei, betont die Rechtsmittelführerin schließlich, dass die Unionsgerichte neben einem Klage- oder Rechtsmittelgrund, der durchgreife, regelmäßig noch weitere Gründe prüften.

b)     Würdigung durch den Gerichtshof

95      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission entschieden hat, dass zu den in Randnr. 79 des Urteils genannten außergewöhnlichen Umständen, die von der Kommission geltend gemacht worden waren, der Hinweis genügt, dass die Rechtsmittelführerin nicht der wirtschaftliche Nachfolger von Thyssen Stahl ist, da Thyssen Stahl weiterhin als eigenständige juristische Person bis zum Erlass der streitigen Entscheidung bestand, und dass die Handlungseinheit, die möglicherweise das Verhalten von Thyssen Stahl und der Rechtsmittelführerin nach dem 1. Januar 1995 kennzeichnete, wegen des in Randnr. 82 des Urteils angeführten Grundsatzes, dass eine juristische Person nur für die Handlungen mit einer Sanktion belegt werden kann, die ihr individuell zur Last gelegt worden sind, nicht genügt, um der Rechtsmittelführerin die Handlungen von Thyssen Stahl vor diesem Zeitpunkt zurechnen zu können. Der Gerichtshof hat ergänzt, dass zu den Erklärungen der Rechtsmittelführerin im Verwaltungsverfahren bezüglich der Geschäftstätigkeiten von Thyssen Stahl in den Randnrn. 85 und 86 des Urteils bereits festgestellt worden ist, dass sie es nicht erlauben, der Rechtsmittelführerin die Verantwortung für die Handlungen von Thyssen Stahl vor diesem Zeitpunkt aufzuerlegen.

96      Das Gericht hat in Randnr. 118 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass sich das Rechtsmittel der Rechtsmittelführerin, das zum Urteil ThyssenKrupp/Kommission geführt habe, nicht auf die vom Gericht vorgenommene Beurteilung des Haftungsübergangs von Thyssen auf die Rechtsmittelführerin bezogen habe. Diese vom Gericht im angefochtenen Urteil getroffene Feststellung ist im vorliegenden Verfahren nicht angegriffen worden.

97      In den Randnrn. 119 bis 121 des angefochtenen Urteils hat das Gericht ausgeführt, dass die Kommission auf dieses Rechtsmittel hin ein Anschlussrechtsmittel eingelegt habe, mit dem sie u. a. die Verfälschung bestimmter Beweisunterlagen und Rechtsfehler bei der Beurteilung des Übergangs der Verantwortlichkeit geltend gemacht habe. Das Gericht hat erläutert, dass die Parteien darüber stritten, wie die in Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission enthaltene Antwort des Gerichtshofs auf diesen Anschlussrechtsmittelgrund auszulegen sei. Diese Auslegung hänge mit der Tragweite des genannten Rechtsmittelgrundes und dem genauen Wortlaut der von der Kommission zu seiner Stützung entwickelten Argumentation zusammen.

98      In Randnr. 122 des angefochtenen Urteils hat das Gericht die Auffassung vertreten, aus den Randnrn. 73 bis 79 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission ergebe sich, dass die Kommission mit dem genannten Anschlussrechtsmittelgrund nicht die Feststellung des Gerichts in Frage habe stellen wollen, dass aufgrund der Erklärung vom 23. Juli 1997 die Verantwortlichkeit übergegangen sei, sondern lediglich seine anschließende Schlussfolgerung, nach der die genannte Erklärung nicht so habe verstanden werden können, dass die Rechtsmittelführerin damit auch auf ihr Recht verzichtet hätte, zu den Thyssen Stahl vorgeworfenen Handlungen gehört zu werden.

99      In den Randnrn. 126 bis 128 des angefochtenen Urteils hat das Gericht ausgeführt, dass der Gerichtshof in den Randnrn. 81 und 82 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission auf die Schlussfolgerung des Gerichts, dass die Erklärung vom 23. Juli 1997 keinen Verzicht der Rechtsmittelführerin auf ihr Anhörungsrecht enthalte, hingewiesen und sie bestätigt habe und dass er in den Randnrn. 83 bis 86 des Urteils das Argument der Kommission, das Gericht habe andere Beweismittel im Zusammenhang mit dieser Erklärung außer Acht gelassen und damit verfälscht, geprüft und zurückgewiesen habe. Dem Gericht zufolge kam der Gerichtshof daher in Randnr. 87 des Urteils zu dem Ergebnis, dass das Gericht weder die Erklärung vom 23. Juli 1997 noch andere Beweismittel verfälscht habe.

100    In Randnr. 129 des angefochtenen Urteils hat das Gericht unterstrichen, dass es in Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission nur darum gegangen sei, dass der Gerichtshof „ein weiteres Argument der Kommission [prüfte und verwarf], das sich auf das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände bezog, die nach Ansicht der Kommission darin bestanden, dass [die Rechtsmittelführerin] angeblich die wirtschaftliche Nachfolgerin von Thyssen [Stahl] sei, eine offensichtliche Handlungseinheit zwischen den beiden Wirtschaftsteilnehmern bestanden habe und [die Rechtsmittelführerin] im Verwaltungsverfahren Erklärungen im Namen von Thyssen [Stahl] abgegeben habe“.

101    In den Randnrn. 131 bis 135 des angefochtenen Urteils hat das Gericht die Auffassung vertreten, dass sich im Licht des Gegenstands des ersten Anschlussrechtsmittelgrundes der Kommission aus einer Lektüre des dritten Satzes von Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission ergebe, dass dieser Satz lediglich auf die in den Randnrn. 85 und 86 des Urteils vorgenommene Prüfung anderer von der Rechtsmittelführerin im Verwaltungsverfahren abgegebener Erklärungen zu den Geschäftstätigkeiten von Thyssen Stahl als der Erklärung vom 23. Juli 1997 verweise, nämlich die Stellungnahmen der Rechtsmittelführerin zu den beiden Mitteilungen der Beschwerdepunkte und ihr Schreiben vom 17. Dezember 1996.

102    Aus diesen Erwägungen ist das Gericht in Randnr. 136 des angefochtenen Urteils zu dem Schluss gelangt, dass die von der Rechtsmittelführerin vertretene Auslegung von Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission auf die Annahme „hinaus[liefe], der Gerichtshof hätte eine Feststellung zur Verletzung des Anhörungsrechts ohne Begründung und durch einen einfachen Verweis in eine Schlussfolgerung hinsichtlich des Haftungsübergangs umgeändert, wovon nicht ausgegangen werden kann“, und hat daher in Randnr. 138 des angefochtenen Urteils den dritten Klagegrund der Rechtsmittelführerin zurückgewiesen, da er auf einer unzutreffenden Lektüre von Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission beruhe.

103    Diese im angefochtenen Urteil enthaltenen Erwägungen sind rechtsfehlerfrei. Erstens hat nämlich das Gericht entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführerin im angefochtenen Urteil nicht festgestellt, dass es der Gerichtshof in Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission für zulässig gehalten habe, dass ihr die Verantwortung für die von Thyssen Stahl begangenen Zuwiderhandlungen auferlegt werde. Es hat vielmehr in den Randnrn. 118 und 122 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass sich das Rechtsmittel der Rechtsmittelführerin, das zum Urteil ThyssenKrupp/Kommission geführt habe, nicht auf die vom Gericht vorgenommene Beurteilung des Übergangs der Haftung für das Thyssen Stahl vorgeworfene rechtswidrige Verhalten auf die Rechtsmittelführerin bezogen habe und dass sich Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission auf das Anschlussrechtsmittel der Kommission beziehe, mit dem ein solcher Haftungsübergang ebenfalls nicht in Frage gestellt worden sei.

104    Zweitens ist der Gerichtshof, wie das Gericht zutreffend festgestellt hat, in Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission speziell auf das in Randnr. 79 des Urteils dargestellte Vorbringen der Kommission eingegangen. In dieser Randnr. 79 wird aber lediglich das Vorbringen in den Randnrn. 84 bis 87 der Anschlussrechtsmittelschrift zusammengefasst, in denen auf die Randnrn. 60 bis 64 der Anschlussrechtsmittelschrift verwiesen wird.

105    Hierzu lässt sich den Verfahrensakten entnehmen, dass das gesamte Vorbringen der Kommission in den genannten Randnummern der Anschlussrechtsmittelschrift ausschließlich andere von der Rechtsmittelführerin im Verwaltungsverfahren abgegebene Erklärungen als die Erklärung vom 23. Juli 1997 betraf.

106    Demnach haben weder die Kommission noch die Rechtsmittelführerin vor dem Gerichtshof erörtert, ob der Rechtsmittelführerin aufgrund der Erklärung vom 23. Juli 1997 die Verantwortung für das streitige Verhalten von Thyssen Stahl auferlegt werden könne. Außerdem hat der Gerichtshof in Randnr. 83 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission festgestellt, dass zu prüfen ist, ob es andere Beweismittel als die genannte Erklärung gibt. Der Verweis im letzten Satz von Randnr. 88 des Urteils auf die in den Randnrn. 85 und 86 des Urteils erwähnten Erklärungen bezieht sich damit ausschließlich auf andere Erklärungen der Rechtsmittelführerin als die vom 23. Juli 1997.

107    Folglich ist der erste Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes zurückzuweisen.

2.     Zum ersten Argument zur Stützung des zweiten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes, mit dem eine Verkennung der Reichweite des Grundsatzes der Rechtskraft durch das Gericht und eine Verletzung der Verteidigungsrechte geltend gemacht wird

a)     Zur Zulässigkeit des Arguments

i)     Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

108    Nach Ansicht der Kommission steht die Argumentation der Rechtsmittelführerin im Gegensatz zu ihren Ausführungen im ersten Rechtszug, wo sie geltend gemacht habe, dass der Unionsrichter die Frage der Haftungsübernahme bereits rechtskräftig entschieden habe. Dieses Angriffsmittel sei neu und deshalb im Stadium des Rechtsmittels nicht mehr zulässig.

ii)  Würdigung durch den Gerichtshof

109    Aus den Randnrn. 105 bis 109 des angefochtenen Urteils geht hervor, dass die Rechtsmittelführerin vor dem Gericht mit dem vierten Klagegrund, den sie zur Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung vorgebracht hatte, geltend gemacht hatte, dass die Erklärung vom 23. Juli 1997 nicht zum Übergang der Verantwortung für das streitige Verhalten von Thyssen Stahl auf sie selbst habe führen können.

110    Die Rechtsmittelführerin hatte diesen Klagegrund aber eindeutig für den Fall vorgebracht, dass das Gericht die von ihr im Rahmen ihres dritten Klagegrundes vertretene Auslegung von Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission verwerfen sollte und dass weder dieses Urteil noch das Urteil Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission insoweit Rechtskraft erlangt haben sollte.

111    In den Randnrn. 139 bis 147 des angefochtenen Urteils hat das Gericht unter Berufung auf die Rechtskraft seiner Feststellung in Randnr. 62 des Urteils Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission, wonach die Kommission wegen der Erklärung vom 23. Juli 1997 ausnahmsweise berechtigt gewesen sei, der Rechtsmittelführerin die Verantwortung für das streitige Verhalten aufzuerlegen, den vierten Klagegrund ohne Prüfung seiner Begründetheit zurückgewiesen.

112    Der Rechtsmittelführerin kann daher nicht verwehrt werden, diese Beurteilung, die das Gericht im angefochtenen Urteil erstmals vorgenommen hat und die die Grundlage für seine Zurückweisung des vierten Klagegrundes zur Stützung des Antrags auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung bildete, mit ihrem Rechtsmittel in Frage zu stellen.

113    Folglich ist das erste Argument, das zur Stützung des zweiten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes angeführt wird, zulässig.

b)     Zur Begründetheit

i)     Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

114    Die Rechtsmittelführerin macht erstens geltend, dass das Gericht den Grundsatz der Rechtskraft verkannt habe. Da dieser Grundsatz die gerichtliche Unangreifbarkeit des Streitgegenstands bezeichne, könne sein Umfang nicht weiter reichen als der Streitgegenstand des früheren Verfahrens. Da der Streitgegenstand durch den gestellten Antrag und den zugrunde liegenden Lebenssachverhalt bestimmt werde, betreffe dieser Grundsatz im Fall der Anfechtung einer behördlichen Entscheidung ausschließlich die angefochtene Entscheidung. Daraus folge, dass der Grundsatz der Rechtskraft einer Klage gegen eine neue Entscheidung nicht entgegenstehen könne, selbst wenn sich die beiden Entscheidungen auf dieselben Tatsachen bezögen.

115    Im vorliegenden Fall beziehe sich somit die Rechtskraft jedenfalls nur auf die ursprüngliche Entscheidung. Die Frage, ob der Rechtsmittelführerin die Haftung für das Verhalten von Thyssen Stahl auferlegt werden könne, habe daher in der streitigen Entscheidung erneut geprüft werden müssen. Hierbei betont die Rechtsmittelführerin, dass sie in den vorhergehenden Gerichtsverfahren nur die Verletzung ihrer Verteidigungsrechte gerügt habe. Die vom Gericht vertretene Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft würde ihr infolgedessen Klagegründe abschneiden, die sie noch nicht geltend gemacht habe.

116    Außerdem habe sich der Sachverhalt in Bezug auf die angebliche Übertragung der Haftung von Thyssen Stahl auf sie selbst in der Zeit zwischen der ursprünglichen Entscheidung und der streitigen Entscheidung geändert, da sie die Erklärung vom 23. Juli 1997 widerrufen habe. Eine nachträgliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse könne aber, anders als das Gericht in Randnr. 147 des angefochtenen Urteils entschieden habe, niemals von einer Rechtskraftwirkung überlagert werden.

117    Zweitens macht die Rechtsmittelführerin geltend, dass die vom Gericht vertretene Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte darstelle. Da die ursprüngliche Entscheidung deshalb aufgehoben worden sei, weil ihr in Bezug auf die Auferlegung der Haftung für die Handlungen von Thyssen Stahl kein rechtliches Gehör gewährt worden sei, habe dieses rechtliche Gehör durch das neue Verfahren erstmals gewährt werden sollen. Wenn nun aber ihre Haftung für dieses Verhalten bereits aufgrund der Rechtskraft feststünde, wäre die Durchführung eines neuen Verfahrens ohne jeglichen Sinn und ihr Anspruch auf rechtliches Gehör somit bedeutungslos.

118    Die Kommission macht geltend, es entspreche der ständigen Rechtsprechung, dass sich die Rechtskraft auf diejenigen Tatsachen- und Rechtsfragen erstrecke, die tatsächlich oder notwendigerweise Gegenstand des betreffenden Urteils gewesen seien. Sowohl das gerichtliche Verfahren gegen die ursprüngliche Entscheidung als auch das Verfahren, das zu dem angefochtenen Urteil geführt habe, hätten die Prüfung der Frage erfordert, ob sie auf der Grundlage der Erklärung vom 23. Juli 1997 die Rechtsmittelführerin für die Zuwiderhandlung von Thyssen Stahl zur Verantwortung habe ziehen können.

119    Diese Erklärung sei damit in diesen Verfahren Gegenstand des Rechtsstreits gewesen, und das Gericht habe in den Randnrn. 59 und 62 des Urteils Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission die Feststellung, dass die fragliche Zurechenbarkeit gegeben sei, getroffen, die im Rechtsmittelverfahren nicht angegriffen und außerdem vom Gerichtshof inhaltlich bestätigt worden sei. Da die Kommission nach Art. 233 EG die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergebenden Maßnahmen habe ergreifen müssen, sei sie verpflichtet gewesen, diese Feststellungen zu berücksichtigen. Da zudem der Erlass der streitigen Entscheidung in demselben Verwaltungsverfahren erfolgt sei, das auch zum Erlass der ursprünglichen Entscheidung geführt habe, könne die Rechtsmittelführerin nicht zu denselben Tatsachen unterschiedliche Behauptungen aufstellen.

120    Die Kommission hebt außerdem hervor, dass die Rechtskraft, falls sie nur gegen eine erneute Anfechtung derselben Entscheidung geltend gemacht werden könnte, allein im Fall einer Bestätigung der Entscheidung im ersten Verfahren Wirkung entfalten würde. Dieser Grundsatz gelte aber auch bei Aufhebung wegen eines Verfahrensfehlers, soweit in diesem Rahmen bereits bestimmte Vorfragen entschieden worden seien.

121    Der erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht erklärte Widerruf der Erklärung vom 23. Juli 1997 sei rechtlich nicht mehr möglich gewesen, da in der Zwischenzeit die streitige Entscheidung erlassen worden sei. Deshalb könne die Haftungsübernahme als Grundlage dieser Entscheidung nicht mehr beseitigt werden. Außerdem widerspreche sich die Rechtsmittelführerin, wenn sie einerseits argumentiere, die Rechtskraft erstrecke sich nur auf die Folgen der vorhergehenden Urteile für die streitige Entscheidung, und andererseits, der Gerichtshof habe in Randnr. 88 des Urteils ThyssenKrupp/Kommission rechtskräftig entschieden, dass sie materiell-rechtlich nicht hafte.

122    Schließlich sei zwar die ursprüngliche Entscheidung wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben worden; für eine wirksame Übernahme der Verantwortlichkeit von Thyssen Stahl habe aber kein rechtliches Gehör gewährt zu werden brauchen, weil die Rechtsmittelführerin selbst und in Kenntnis der Folgen erklärt habe, dass sie die Haftung übernehme.

ii)  Würdigung durch den Gerichtshof

123    Der Gerichtshof hat wiederholt zum einen auf die große Bedeutung hingewiesen, die dem Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt (Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, Slg. 2003, I‑10239, Randnr. 38, vom 16. März 2006, Kapferer, C‑234/04, Slg. 2006, I‑2585, Randnr. 20, und vom 29. Juni 2010, Kommission/Luxemburg, C‑526/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 26), und zum anderen betont, dass sich die Rechtskraft lediglich auf diejenigen Tatsachen‑ und Rechtsfragen erstreckt, die tatsächlich oder notwendigerweise Gegenstand der betreffenden gerichtlichen Entscheidung waren (Urteil Kommission/Luxemburg, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

124    Im vorliegenden Fall hat das Gericht in Randnr. 62 des Urteils Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission festgestellt:

„Es ist unstreitig, dass die Kommission wegen der Erklärung [der Rechtsmittelführerin] vom 23. Juli 1997 ausnahmsweise berechtigt war, diesem Unternehmen die Verantwortung für das rechtswidrige Verhalten von Thyssen Stahl für die Zeit von Dezember 1993 bis 1. Januar 1995 aufzuerlegen. Eine solche Erklärung, die insbesondere auf wirtschaftlichen Gründen bei Zusammenschlüssen von Unternehmen beruht, führt nämlich dazu, dass die juristische Person, die die Verantwortung für die Geschäftstätigkeiten einer anderen juristischen Person übernommen hat, nach dem Ende der aus diesen Tätigkeiten resultierenden Zuwiderhandlung für diese einstehen muss, obwohl für diese grundsätzlich die natürliche oder juristische Person verantwortlich ist, die das betreffende Unternehmen zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung leitete.“

125    Das Gericht hat sich somit in Randnr. 62 des Urteils Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission zur Rechtmäßigkeit des durch die Erklärung vom 23. Juli 1997 erfolgten Übergangs der Verantwortung für das rechtswidrige Verhalten geäußert.

126    In den Randnrn. 139 und 140 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, dass diese Rechtsfrage daher von der Rechtskraft erfasst sei, da sie vom Unionsrichter tatsächlich entschieden worden sei.

127    Wie aus Randnr. 115 des vorliegenden Urteils hervorgeht, argumentiert die Rechtsmittelführerin jedoch, dass sie in den Rechtssachen, in denen die Urteile Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission sowie ThyssenKrupp/Kommission ergangen seien, nur die Verletzung ihrer Verteidigungsrechte gerügt habe und dass ihr die vom Gericht im angefochtenen Urteil vertretene Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft infolgedessen Klagegründe abschneide, die sie noch nicht geltend gemacht habe.

128    Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht selbst in Randnr. 51 des Urteils Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission festgestellt hatte, die Rechtsmittelführerin habe lediglich vorgetragen, dass „ihr Recht auf Anhörung zu den Thyssen Stahl vorgeworfenen Handlungen nicht beachtet worden sei“ und dass sie „sich damit einverstanden erklärt [habe], als Erwerberin die Verantwortung für etwaige Zuwiderhandlungen [von Thyssen Stahl] zu übernehmen“. Im Übrigen hat das Gericht in Randnr. 62 dieses Urteils unterstrichen, dass der Übergang der Verantwortlichkeit von Thyssen Stahl durch die Erklärung vom 23. Juli 1997 unstreitig sei.

129    Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Rechtmäßigkeit des durch die Erklärung vom 23. Juli 1997 erfolgten Haftungsübergangs nicht Gegenstand des Rechtsstreits war, der zum Urteil Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission geführt hat.

130    Angesichts der Argumente, die in jener Rechtssache vor dem Gericht vorgetragen wurden, beschränkte sich dessen Aufgabe nämlich darauf, zu prüfen, ob die Rechtsmittelführerin durch die Erklärung vom 23. Juli 1997 auf ihr Recht auf Anhörung speziell zum rechtswidrigen Verhalten von Thyssen Stahl verzichtet hatte.

131    Zwar musste das Gericht im Rahmen dieser Prüfung den Inhalt der Erklärung ermitteln und konnte daher feststellen, dass diese den Haftungsübergang bewirken sollte, doch durfte es nicht über die Rechtmäßigkeit dieses Vorgangs befinden, da es sonst möglicherweise ultra petita entschieden hätte.

132    Da die Rechtmäßigkeit des Haftungsübergangs durch die Erklärung vom 23. Juli 1997 somit nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Gericht war, bildet die Feststellung in Randnr. 62 des Urteils Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission folglich ein vom Gericht außerhalb des Rahmens des bei ihm anhängigen Rechtsstreits geäußertes obiter dictum, und mit ihr ist daher weder tatsächlich noch notwendigerweise eine Rechtsfrage entschieden worden. Diese Feststellung kann deshalb nicht von der Rechtskraft erfasst sein.

133    Darüber hinaus ist in den Randnrn. 96 und 102 bis 106 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden, dass weder das Rechtsmittel der Rechtsmittelführerin noch das Anschlussrechtsmittel der Kommission, die zum Urteil ThyssenKrupp/Kommission geführt haben, die Frage der Rechtmäßigkeit des durch die Erklärung vom 23. Juli 1997 erfolgten Haftungsübergangs betrafen. Der Gerichtshof hat diese Rechtsfrage mithin bis jetzt nicht entschieden.

134    Aus diesen Erwägungen ist festzustellen, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, als es in den Randnrn. 139 bis 145 des angefochtenen Urteils entschieden hat, dass seine Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Haftungsübergangs in Randnr. 62 des Urteils Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission von der Rechtskraft erfasst sei.

135    Nach alledem ist das erste Argument zur Stützung des zweiten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes für begründet zu erklären, ohne dass die weiteren Argumente der Rechtsmittelführerin geprüft werden müssten.

136    Ein Rechtsmittel ist jedoch zurückzuweisen, wenn zwar die Gründe eines Urteils des Gerichts eine Verletzung des Unionsrechts erkennen lassen, die Urteilsformel sich aber aus anderen Rechtsgründen als richtig darstellt (Urteil vom 13. Juli 2000, Salzgitter/Kommission, C‑210/98 P, Slg. 2000, I‑5843, Randnr. 58).

137    In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass das Gericht mit der Feststellung, dass seine Beurteilung der Rechtmäßigkeit des fraglichen Haftungsübergangs in Randnr. 62 des Urteils Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission von der Rechtskraft erfasst sei, den vierten vor ihm vorgebrachten Klagegrund zurückgewiesen hat, der die Rechtmäßigkeit dieses Haftungsübergangs auf der Grundlage der Erklärung vom 23. Juli 1997 betraf.

138    Unter diesen Umständen ist das zweite Argument zur Stützung des zweiten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes zu prüfen, mit dem die Rechtsmittelführerin ihren vor dem Gericht vorgebrachten vierten Klagegrund im Wesentlichen wieder aufgreift.

3.     Zum zweiten Argument zur Stützung des zweiten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes und zum zweiten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes, mit denen geltend gemacht wird, dass die Erklärung vom 23. Juli 1997 nicht zu einem Haftungsübergang geführt habe und dass gegen den „Bestimmtheitsgrundsatz“ verstoßen worden sei

a)     Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

139    Mit ihrem zweiten Argument zur Stützung des zweiten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes trägt die Rechtsmittelführerin vor, sie habe vor dem Gericht geltend gemacht, dass sie nach der Rechtsprechung nicht als Unternehmen, das in die Rechte und Pflichten von Thyssen Stahl eingetreten sei, haftbar gemacht werden könne, da diese noch existiere. Soweit das Gericht ihr diese Haftung aufgrund der Erklärung vom 23. Juli 1997 auferlegt habe, macht die Rechtsmittelführerin geltend, dass sie lediglich erklärt habe, sie habe zivilrechtlich für die Verbindlichkeiten von Thyssen Stahl einzustehen, und dass diese Erklärung, selbst wenn sie noch Bestand hätte – was nicht der Fall sei –, nicht erlaube, ihr die bußgeldrechtliche Haftung aufzuerlegen.

140    Die Rechtsmittelführerin stellt klar, dass sie von der Kommission um die Abgabe einer Erklärung gebeten worden sei, ohne darüber informiert zu werden, dass die Kommission diese Erklärung zur Grundlage für eine transferierte Bußgeldhaftung machen wollte. Diese Bitte sei so verstanden worden, dass sie allein die zivilrechtliche Haftung betreffe. Um der Fehlinterpretation der Erklärung durch die Kommission ein Ende zu setzen, habe die Rechtsmittelführerin die Erklärung in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll des Gerichts widerrufen.

141    Jedenfalls könne eine solche von einem Unternehmen abgegebene private Erklärung nicht die Verantwortlichkeit für einen Kartellverstoß übertragen, weil es sich bei der Bußgeldpflicht um eine hoheitliche Sanktion handele, die sich einschließlich der Benennung der mit der Sanktion belegten Person allein aus dem Gesetz ergebe. Nach dem Grundsatz ius publicum privatorum pactis mutari non potest könnten weder die Behörde noch die Unternehmen durch eine Haftungsübertragung von der gesetzlichen Bußgeldpflicht abweichen.

142    Schließlich vertritt die Rechtsmittelführerin im Rahmen des zweiten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes die Auffassung, dass das Gericht mit der Feststellung, aus der streitigen Entscheidung gehe hervor, dass die Kommission die Haftung der Rechtsmittelführerin auf die Erklärung vom 23. Juli 1997 gestützt habe, den „Bestimmtheitsgrundsatz“ verletzt habe, da es in der lex lata keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass eine private Erklärung eines Unternehmens zu einem Übergang der Haftung für die Zahlung einer Geldbuße führen könne, und da auch die Reichweite und die Grenzen eines solchen Übergangs nicht definiert seien.

b)     Würdigung durch den Gerichtshof

143    Nach ständiger Rechtsprechung muss grundsätzlich die natürliche oder juristische Person, die das fragliche Unternehmen leitete, als die Zuwiderhandlung begangen wurde, für diese einstehen, auch wenn sie zu dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung ergeht, mit der die Zuwiderhandlung festgestellt wird, nicht mehr für den Betrieb des Unternehmens verantwortlich ist (Urteile vom 16. November 2000, KNP BT/Kommission, C‑248/98 P, Slg. 2000, I‑9641, Randnr. 71, Cascades/Kommission, C‑279/98 P, Slg. 2000, I‑9693, Randnr. 78, Stora Kopparbergs Bergslags/Kommission, C‑286/98 P, Slg. 2000, I‑9925, Randnr. 37, und SCA Holding/Kommission, C‑297/98 P, Slg. 2000, I‑10101, Randnr. 27).

144    Hinsichtlich der Frage, unter welchen Umständen einer Einrichtung, obwohl sie nicht Urheberin der Zuwiderhandlung ist, dennoch dafür Sanktionen auferlegt werden können, hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass ein solcher Fall vorliegt, wenn die Einrichtung, die die Zuwiderhandlung begangen hat, rechtlich oder wirtschaftlich nicht mehr besteht, da eine Sanktion gegen ein Unternehmen, das keine wirtschaftliche Tätigkeit mehr ausübt, unter dem Gesichtspunkt der Abschreckung kaum wirksam wäre (Urteil vom 11. Dezember 2007, ETI u. a., C‑280/06, Slg. 2007, I‑10893, Randnr. 40).

145    Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Einrichtung, der das streitige rechtswidrige Verhalten angelastet wurde, zum Tatzeitpunkt zu Thyssen Stahl gehörte und unter deren Kontrolle tätig war. Außerdem ist unstreitig, dass Thyssen Stahl zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Entscheidung rechtlich weiter bestand und ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten weiter ausübte. Nach der in den Randnrn. 143 und 144 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung war die Kommission somit grundsätzlich verpflichtet, die fragliche Geldbuße gegen Thyssen Stahl zu verhängen.

146    Aus den Verfahrensakten geht hierzu hervor, dass die von der Kommission wegen des fraglichen rechtswidrigen Verhaltens eingeleitete Verfolgung ursprünglich Thyssen Stahl betraf und dass die Kommission auch nach der Übertragung der betreffenden Einrichtung auf die Rechtsmittelführerin weiter Thyssen Stahl wegen des genannten Verhaltens verfolgte.

147    Die Kommission hat erläutert, dass nach der Übertragung der genannten Einrichtung auf die Rechtsmittelführerin sowohl diese als auch Thyssen Stahl sie gedrängt hätten, das Verfahren nur noch gegen die Rechtsmittelführerin zu richten. Sie sei aber der Ansicht gewesen, dass eine Einstellung der Ermittlungen gegen Thyssen Stahl nur in Betracht komme, wenn die Rechtsmittelführerin schriftlich die Verantwortung für die Zuwiderhandlung übernehme.

148    Wie sich bereits aus dem Wortlaut der in Randnr. 15 des vorliegenden Urteils zitierten Erklärung vom 23. Juli 1997 ergibt, gab die Rechtsmittelführerin diese Erklärung in Antwort auf die Bitte zur schriftlichen Übernahme der Verantwortung für das Thyssen Stahl vorgeworfene rechtswidrige Verhalten ab. Diese Erklärung wurde nach ihrem eigenen Wortlaut zum einen in Bezug auf das Verfahren wegen der Verfolgung des in Rede stehenden Kartells und auf die Bitte der Kommission hin abgegeben und betraf zum anderen die Verantwortung der Rechtsmittelführerin für die Verhaltensweisen von Thyssen Stahl infolge der Übertragung des fraglichen Geschäftsbereichs.

149    Angesichts dieses Wortlauts ist das Vorbringen der Rechtsmittelführerin zurückzuweisen, dass sie von der Kommission um die Abgabe einer Erklärung gebeten worden sei, ohne darüber informiert zu werden, dass die Kommission diese Erklärung zur Grundlage für eine transferierte Bußgeldhaftung machen wollte, weshalb diese Bitte so verstanden worden sei, dass sie allein die zivilrechtliche Haftung betreffe. Die Rechtsmittelführerin hatte nämlich mit dieser Erklärung ausdrücklich bestätigt, dass sie als Unternehmen, das die vom Kartell erfassten wirtschaftlichen Tätigkeiten fortführe, die Verantwortung für das rechtswidrige Verhalten im Hinblick auf die Geldbuße übernehmen wollte, die die Kommission im Rahmen der wegen dieses Kartells eingeleiteten Verfolgung verhängen konnte.

150    Unter diesen Umständen war die Rechtsfolge der von der Rechtsmittelführerin mit Erklärung vom 23. Juli 1997 bewirkten Haftungsübernahme entgegen ihrem eigenen Vorbringen völlig eindeutig und vorhersehbar für sie.

151    Darüber hinaus geht aus den Verfahrensakten zum einen hervor, dass sich die Kommission auf diese Erklärung gestützt hat, um gegen die Rechtsmittelführerin die Geldbuße zu verhängen, mit der grundsätzlich Thyssen Stahl belegt werden konnte, und zum anderen, dass die Rechtsmittelführerin weder mit ihrer Klage gegen die ursprüngliche Entscheidung dieses rechtliche Vorgehen der Kommission angegriffen hat noch mit ihrem Rechtsmittel gegen das Urteil Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission die Feststellung des Gerichts in Randnr. 62 dieses Urteils in Frage gestellt hat, dass die Kommission wegen dieser Erklärung ausnahmsweise berechtigt gewesen sei, ihr die Verantwortung für das rechtswidrige Verhalten von Thyssen Stahl aufzuerlegen.

152    Wie von der Kommission vorgetragen, hat nämlich die Rechtsmittelführerin eindeutig erstmals in ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte in dem Verfahren, das zur streitigen Entscheidung geführt hat, und damit in einem Stadium, in dem die Verfolgung des rechtswidrigen Verhaltens von Thyssen Stahl dieser gegenüber verjährt war, geltend gemacht, dass sie durch die Erklärung vom 23. Juli 1997 nicht die Verantwortung für dieses Verhalten übernommen habe. Darüber hinaus hat die Rechtsmittelführerin erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht in dem Verfahren, das zum angefochtenen Urteil geführt hat, erklärt, dass sie die Erklärung widerrufe.

153    Unter diesen besonderen und spezifischen Umständen des vorliegenden Falles – erstens die Übertragung der zu Thyssen Stahl gehörenden Einrichtung, die auf dem Markt für nichtrostende Flachstahlerzeugnisse tätig war, auf die Rechtsmittelführerin, zweitens die Erklärung vom 23. Juli 1997, mit der die Rechtsmittelführerin der Kommission ausdrücklich bestätigte, dass sie als Käuferin der genannten Einrichtung die Verantwortung für das rechtswidrige Verhalten im Hinblick auf die Geldbuße übernehmen wolle, die die Kommission verhängen konnte, und drittens der Umstand, dass die Rechtsmittelführerin trotz mehrfacher Gelegenheit keine Einwände gegen die Auslegung dieser Erklärung durch die Kommission erhob, bevor die Verfolgung des rechtswidrigen Verhaltens gegenüber Thyssen Stahl verjährt war – konnte die Kommission der Rechtsmittelführerin die Verantwortung für das Thyssen Stahl vorgeworfene Verhalten auferlegen und die fragliche Geldbuße gegen sie verhängen.

154    Im Übrigen ist festzustellen, dass der Widerruf der Erklärung vom 23. Juli 1997 entgegen der Auffassung der Rechtsmittelführerin im Stadium der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht nicht mehr möglich war. Der Inhalt dieser Erklärung, die der Kommission ermöglichen sollte, die Geldbuße gegen die Rechtsmittelführerin statt gegen Thyssen Stahl zu verhängen, schloss aus, dass eine solche Möglichkeit zu einem Zeitpunkt bestand, zu dem die Kommission auf der Grundlage dieser Erklärung durch den Erlass der streitigen Entscheidung tatsächlich eine Geldbuße gegen die Rechtsmittelführerin festgesetzt hatte.

155    In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass der Umstand, dass die Erklärung vom 23. Juli 1997 anschließend nicht mehr widerrufen werden konnte, die Rechtsmittelführerin nicht daran hindert, im Rechtsweg vor den Unionsgerichten die Auslegung des Inhalts der Erklärung, wie er aus den Randnrn. 64 bis 66 des Urteils Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission hervorgeht, oder das ausdrückliche oder stillschweigende Eingeständnis tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte während des Verwaltungsverfahrens vor der Kommission anzugreifen, da dieses Eingeständnis nicht die Ausübung des Rechts natürlicher und juristischer Personen aus Art. 230 Abs. 4 EG, beim Gericht Klage zu erheben, an sich einschränken kann (Urteil vom 1. Juli 2010, Knauf Gips/Kommission, C‑407/08 P, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 90).

156    Nach alledem sind das zweite Argument zur Stützung des zweiten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes, mit dem die Rechtsmittelführerin ihren vor dem Gericht vorgebrachten vierten Klagegrund im Wesentlichen wieder aufgreift, und der zweite Teil des dritten Rechtsmittelgrundes zurückzuweisen.

157    Unter diesen Umständen bleibt der in Randnr. 134 des vorliegenden Urteils festgestellte Rechtsfehler des Gerichts ohne Folgen für die Prüfung des vorliegenden Rechtsmittels, da zwar die Gründe des angefochtenen Urteils eine Verletzung des Unionsrechts erkennen lassen, die Urteilsformel aber aus anderen Rechtsgründen richtig ist, so dass das Rechtsmittel zurückzuweisen ist (vgl. in diesem Urteil Salzgitter/Kommission, Randnr. 58).

C –  Zum vierten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen die Verjährungsvorschriften

1.     Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

158    Die Rechtsmittelführerin macht geltend, das Gericht habe durch die Zurückweisung ihres siebten Klagegrundes in den Randnrn. 193 bis 214 des angefochtenen Urteils Art. 1 Abs. 1 der Entscheidung Nr. 715/78/EGKS der Kommission vom 6. April 1978 über die Verfolgungs‑ und Vollstreckungsverjährung im Geltungsbereich des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (ABl. L 94, S. 22) verletzt.

159    Da diese Bestimmung den Eintritt der Verjährung fünf Jahre nach Beendigung der Zuwiderhandlung vorsehe und die in Rede stehende Zuwiderhandlung am 31. Dezember 1994 mit der Übertragung des Geschäftsbereichs der Thyssen Stahl auf die Rechtsmittelführerin geendet habe, sei die Zuwiderhandlung 1999 verjährt. Wenn der Zeitpunkt der Beendigung auf den Zeitpunkt festgelegt würde, zu dem die anderen Teilnehmer die Zuwiderhandlung beendet hätten, nämlich 1998, wäre die Verjährung 2003 eingetreten. Dasselbe gälte bei Anwendung des Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 oder der Verordnung (EWG) Nr. 2988/74 des Rates vom 26. November 1974 über die Verfolgungs‑ und Vollstreckungsverjährung im Verkehrs‑ und Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (ABl. L 319, S. 1).

160    Gegenüber Thyssen Stahl sei keine die Verjährung unterbrechende Handlung nach Art. 2 der Entscheidung Nr. 715/78 vorgenommen worden. Es sei auch nicht zu einem Ruhen der Verjährung nach Art. 3 dieser Entscheidung gekommen, da Thyssen Stahl gegen die ursprüngliche Entscheidung keinen Rechtsbehelf eingelegt habe und die von der Rechtsmittelführerin erhobene Klage gegenüber Thyssen Stahl nicht zum Ruhen der Verjährung geführt habe, weil das Ruhen nur inter partes wirke.

161    Soweit das Gericht befunden habe, dass hinsichtlich des Ruhens der Verjährung auf die Rechtsmittelführerin abzustellen sei, da sie wegen der Erklärung vom 23. Juli 1997 so anzusehen sei, als habe sie die fragliche Zuwiderhandlung selbst begangen, weist die Rechtsmittelführerin darauf hin, dass die Haftung, die ihr auferlegt worden sei, keine Haftung sei, die ein Unternehmen treffe, das auf ein anderes Unternehmen nachfolge, sondern allenfalls eine ersatzweise Haftung. Demgegenüber sei die von Thyssen Stahl begangene Zuwiderhandlung eine separate Zuwiderhandlung, für die die Haftung anschließend auf die Rechtsmittelführerin übergegangen sei.

162    Das Gericht selbst habe festgestellt, dass die Übernahme der Haftung von Thyssen Stahl durch die Erklärung vom 23. Juli 1997 nicht erlaube, die beiden von der Rechtsmittelführerin und Thyssen Stahl begangenen Zuwiderhandlungen als eine einzige anzusehen. Folglich könnten die beiden Zuwiderhandlungen auch im Hinblick auf die Verjährung nicht als eine einzige angesehen werden, deren rechtliches Schicksal sich nur noch nach den Verfahrenshandlungen der Rechtsmittelführerin richte.

163    Auch der Verweis des Gerichts auf das Urteil vom 16. November 2000, Metsä-Serla u. a./Kommission (C‑294/98 P, Slg. 2000, I‑10065), gehe fehl, da der Gerichtshof in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen sei, über die Möglichkeit zu entscheiden gehabt habe, zwei Unternehmen aufgrund des Vorliegens einer wirtschaftlichen Einheit zwischen ihnen eine gesamtschuldnerische Geldbuße aufzuerlegen. Zwischen diesem Sachverhalt und dem Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache, bei dem es um die Auferlegung der Verantwortung allein aufgrund der Erklärung vom 23. Juli 1997 gehe, bestehe jedoch keinerlei Ähnlichkeit.

164    Selbst wenn aber die Rechtsmittelführerin so angesehen werden könnte, als habe sie die fragliche Zuwiderhandlung selbst begangen, hätte dies keine Auswirkung auf die Verjährung. Aus der Rechtsprechung folge, dass im Kartellrecht der Haftungsübergang bedeute, dass einer Person die Verantwortung für das wettbewerbswidrige Verhalten einer anderen Person auferlegt werde. Die Rechtsmittelführerin schließt daraus, dass selbst bei einer Übertragung der Bußgeldpflicht das rechtliche Schicksal dieser Fremdhaftung weiterhin an das verfahrensrechtliche Verhalten des ursprünglich Zuwiderhandelnden anknüpfe.

165    Die Rechtsmittelführerin ist der Ansicht, dass aufgrund dieses Umstands Tatbestände, die in der Person des ursprünglich Handelnden verwirklicht worden seien und dessen Verantwortlichkeit beseitigten oder mitigierten, wie beispielsweise Leniency-Anträge, denjenigen, auf den die Haftung übergegangen sei, bänden und ihm gegenüber Wirkungen entfalteten. Ebenso könne in dem Fall, dass die vom ursprünglich Handelnden begangene Zuwiderhandlung diesem gegenüber verjährt sei, diese Rechtsfolge nicht durch eine Übertragung der Haftung auf einen Dritten umgangen werden.

2.     Würdigung durch den Gerichtshof

166    Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass die Befugnis der Kommission zur Festsetzung von Geldbußen wegen Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften des Wettbewerbsrechts sowohl nach Art. 1 Abs. 1 der Entscheidung Nr. 715/78 als auch nach Art. 25 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 einer Verjährungsfrist von fünf Jahren unterliegt, die nach Art. 1 Abs. 2 der Entscheidung Nr. 715/78 und Art. 25 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 mit dem Tag beginnt, an dem die Zuwiderhandlung begangen worden ist oder beendet ist und die nach den Art. 2 und 3 der Entscheidung Nr. 715/98 sowie Art. 25 Abs. 3 bis 6 der Verordnung Nr. 1/2003 unterbrochen werden und ruhen kann.

167    Zum anderen ist festzustellen, dass in der streitigen Entscheidung eine Geldbuße nur gegen die Rechtsmittelführerin festgesetzt worden ist. Nur in Bezug auf diese ist daher die Verjährung zu prüfen.

168    Zwar ist die Feststellung der Rechtsmittelführerin zutreffend, dass einige Handlungen von Thyssen Stahl ihr gegenüber weiterhin Wirkung entfalten könnten und dass eine gegenüber diesem Unternehmen eingetretene Verjährung nicht durch eine Übertragung der Haftung umgangen werden könne, doch folgt daraus nicht, dass die Verjährung in Bezug auf das genannte Unternehmen zu prüfen ist.

169    Das Vorbringen der Rechtsmittelführerin, dass das Gericht bezüglich der Verjährung auf Thyssen Stahl hätte abstellen müssen, ist demnach zurückzuweisen.

170    Da die Rechtsmittelführerin nicht bestreitet, dass die Kommission die ursprüngliche Entscheidung ihr gegenüber innerhalb der Verjährungsfrist von fünf Jahren erlassen hat, und da sie zu angeblichen Fehlern des Gerichts bei der Beurteilung der Zeitspannen der Unterbrechung und des Ruhens der Verjährung ihr gegenüber keine Argumente angeführt hat, ist folglich der vierte Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.

D –  Zum fünften Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen die Grundsätze der Bemessung der Geldbuße

1.     Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

171    Die Rechtsmittelführerin macht geltend, das Gericht habe durch seine Zurückweisung des zehnten Klagegrundes in den Randnrn. 295 bis 315 des angefochtenen Urteils die Mitteilung über Zusammenarbeit verletzt. Ihr hätte wegen ihrer vollumfänglichen Zusammenarbeit in dem Verfahren eine weiter gehende Bußgeldermäßigung eingeräumt werden müssen, die über die 20 % hinausgehe, die ihr nach Abschnitt D der Mitteilung für ihre Zusammenarbeit im Rahmen des Verfahrens, das zum Erlass der ursprünglichen Entscheidung geführt habe, gewährt worden seien. Sie betont in dieser Hinsicht, dass sie den Sachverhalt und den Verstoß gegen Art. 65 § 1 EGKS eingeräumt habe.

172    Keine der Erwägungen, die das Gericht zu dem Schluss geführt hätten, dass das Verhalten der Rechtsmittelführerin nicht Ausdruck einer echten Zusammenarbeit sei, könne diese Einschätzung entkräften.

173    In Bezug auf das Argument, dass sich das Nichtbestreiten des Sachverhalts nicht auf den Zeitraum 1993/1994 bezogen habe und ohne jeden Nutzen gewesen sei, da die Rechtsmittelführerin ihre Verantwortung für die von Thyssen Stahl begangene Zuwiderhandlung nicht anerkannt habe, weist die Rechtsmittelführerin zum einen darauf hin, dass sie vor dem Gericht vorgetragen habe, dass sich ihr Nichtbestreiten auf diesen Zeitraum beziehe. Zum anderen macht sie geltend, der Nachweis der fraglichen Zuwiderhandlung habe im Zweitverfahren neu geführt werden müssen und dieses Nichtbestreiten habe daher der Kommission den Tatnachweis erleichtert.

174    In Bezug auf die Erwägung, die Rechtsmittelführerin habe die Befugnis der Kommission bestritten, nach dem 23. Juli 2002 noch eine Sanktion gemäß Art. 65 § 1 KS zu verhängen, betont die Rechtsmittelführerin, dass diese Frage nicht den Nachweis der Tat betreffe, sondern eine rechtliche Bewertung und somit eine Rechtsfrage. Da die Kommission aber auf jeden Fall den feststehenden Sachverhalt rechtlich richtig zu bewerten habe, könne das Bestreiten oder Nichtbestreiten dieser Bewertung durch die Betroffenen weder nachteilig sein noch einen Nutzen erbringen.

175    In Bezug auf die Aussage, sie habe erstmals seit der Einleitung des ursprünglichen Verfahrens der Erklärung vom 23. Juli 1997 die Wirksamkeit abgesprochen, weist die Rechtsmittelführerin zum einen darauf hin, dass sie die Existenz der Erklärung nicht bestritten habe, sondern lediglich den Rechtsstandpunkt vertreten habe, dass diese Erklärung es nicht erlaube, ihr die Haftung für die von Thyssen Stahl begangene Zuwiderhandlung aufzuerlegen. Zum anderen macht sie geltend, sie habe vor dem Gericht vorgetragen, dass sie bereits in dem Verfahren, das zur ursprünglichen Entscheidung geführt habe, klargestellt habe, dass diese Erklärung nicht im Sinne einer Übernahme der Bußgeldverpflichtung verstanden werden dürfe.

2.     Würdigung durch den Gerichtshof

176    Nach der Rechtsprechung kann eine niedrigere Festsetzung der Geldbuße auf der Grundlage der Mitteilung über Zusammenarbeit nur gerechtfertigt sein, wenn die gelieferten Informationen und das Verhalten des betreffenden Unternehmens als Zeichen einer echten Zusammenarbeit des Unternehmens angesehen werden können (Urteil des Gerichtshofs vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, Slg. 2005, I‑5425, Randnrn. 395).

177    Ferner ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht nach den Art. 229 EG und 31 der Verordnung Nr. 1/2003 die festgesetzte Geldbuße oder das festgesetzte Zwangsgeld aufheben, herabsetzen oder erhöhen kann, da es bei Klagen gegen Entscheidungen, mit denen die Kommission eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld festgesetzt hat, eine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Entscheidung hat.

178    Wenn also das Gericht in den Randnrn. 305 bis 314 des angefochtenen Urteils entschieden hat, dass die Kommission zu Recht davon ausgegangen sei, die Rechtsmittelführerin solle nicht in den Genuss einer zusätzlichen Herabsetzung der Geldbuße über die bereits gewährten 20 % hinaus kommen, hat es in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung eine Tatsachenbeurteilung vorgenommen. Die Kommission macht deshalb zu Recht geltend, dass die Rechtsmittelführerin mit dem vorliegenden Rechtsmittelgrund die Tatsachenfeststellungen und die Beweiswürdigungen des Gerichts in Frage stelle.

179    In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 225 EG und Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs allein das Gericht zuständig ist für die Feststellung der Tatsachen – sofern sich nicht aus den Prozessakten ergibt, dass seine Feststellungen tatsächlich falsch sind – und für ihre Würdigung. Hat das Gericht die Tatsachen festgestellt oder gewürdigt, ist der Gerichtshof gemäß Art. 225 EG zur Kontrolle der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen und der Rechtsfolgen, die das Gericht aus ihnen gezogen hat, befugt (Urteil vom 6. April 2006, General Motors/Kommission, C‑551/03 P, Slg. 2006, I‑3173, Randnr. 51, und Beschluss vom 29. September 2010, EREF/Kommission, C‑74/10 P und C‑75/10 P, Randnr. 41).

180    Der Gerichtshof hat außerdem klargestellt, dass die Tatsachenwürdigung, sofern die dem Gericht vorgelegten Beweismittel nicht verfälscht werden, keine Rechtsfrage darstellt, die als solche der Kontrolle des Gerichtshofs unterliegt (Urteil vom 18. Mai 2006, Archer Daniels Midland und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission, C‑397/03 P, Slg. 2006, I‑4429, Randnr. 85, und Beschluss EREF/Kommission, Randnr. 42).

181    Die Rechtsmittelführerin hat aber nichts vorgetragen, was eine Verfälschung der Beweismittel durch das Gericht belegen könnte.

182    Zum Vorbringen, das Gericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass sich das Nichtbestreiten des Sachverhalts nicht auf den Zeitraum 1993/1994 bezogen habe, ist festzustellen, dass aus Randnr. 306 und dem ersten Satz von Randnr. 307 des angefochtenen Urteils hervorgeht, dass das Gericht nicht der Auffassung war, Randnr. 75 der Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte habe sich nicht auf diesen Zeitraum erstreckt, sondern, dass diese Randnr. 75 nicht hinreichend konkret und klar sei, um für die Kommission von Nutzen zu sein.

183    Soweit die Rechtsmittelführerin geltend macht, dass sie schon nach der Einleitung des Verfahrens, das zur ursprünglichen Entscheidung geführt habe, darauf hingewiesen habe, dass die Erklärung vom 23. Juli 1997 nicht im Sinne einer Übernahme der Bußgeldverpflichtung verstanden werden dürfe, ist bereits in Randnr. 152 der vorliegenden Urteils festgestellt worden, dass dies nicht der Fall war.

184    Demnach ist der fünfte Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.

185    Folglich ist das Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen.

VII –  Kosten

186    Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung, der nach Art. 118 der Verfahrensordnung auf das Rechtsmittelverfahren entsprechende Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Rechtsmittelführerin beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten im Zusammenhang mit dem Rechtsmittel aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.

2.      Die ThyssenKrupp Nirosta GmbH trägt die Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.