Rechtssache C-15/04
Koppensteiner GmbH
gegen
Bundesimmobiliengesellschaft mbH
(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesvergabeamtes)
„Öffentliche Aufträge – Richtlinie 89/665/EWG – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge – Entscheidung über den Widerruf einer Ausschreibung nach Angebotsöffnung – Gerichtliche Nachprüfung – Umfang – Effektivitätsgrundsatz“
Schlussanträge der Generalanwältin C Stix‑Hackl vom 16. Dezember 2004
Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 2. Juni 2005
Leitsätze des Urteils
Rechtsangleichung – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge – Richtlinie 89/665 – Widerruf einer Ausschreibung – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ein Nachprüfungsverfahren vorzusehen – Fehlen eines solchen Verfahrens im nationalen Recht – Unzulässigkeit – Unmittelbare Wirkung der Artikel 1 Absatz 1 und 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie – Pflichten der nationalen Gerichte
(Richtlinie 89/665 des Rates, Artikel 1 Absatz 1 und 2 Absatz 1 Buchstabe b)
Nach den Artikeln 1 Absatz 1 und 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer‑ und Bauaufträge kann die Entscheidung eines Auftraggebers, die Ausschreibung für einen öffentlichen Auftrag zu widerrufen, in einem Nachprüfungsverfahren überprüft und gegebenenfalls aufgehoben werden, weil sie gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die nationalen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, verstößt.
Ist es also einem Bieter nach nationalem Recht, auch wenn es gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt wird, nicht möglich, eine Entscheidung über den Widerruf einer Ausschreibung mit der Begründung anzufechten, dass sie gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße, und aus diesem Grund ihre Aufhebung zu verlangen, so genügt das nationale Recht nicht den Anforderungen der Artikel 1 Absatz 1 und 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665.
Das zuständige Gericht ist daher verpflichtet, die nationalen Vorschriften unangewendet zu lassen, die es daran hindern, die Verpflichtung aus diesen Bestimmungen zu beachten.
Sie sind nämlich unbedingt und hinreichend genau, um ein Recht für einen Einzelnen zu begründen, auf das sich dieser gegebenenfalls gegenüber einer Vergabebehörde berufen kann.
(vgl. Randnrn. 30-31, 38-39 und Tenor)
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Zweite Kammer)
2. Juni 2005(*)
„Öffentliche Aufträge – Richtlinie 89/665/EWG – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge – Entscheidung über den Widerruf einer Ausschreibung nach Angebotsöffnung – Gerichtliche Nachprüfung – Umfang – Effektivitätsgrundsatz“
In der Rechtssache C‑15/04
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Bundesvergabeamt (Österreich) mit Entscheidung vom 12. Januar 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Januar 2004, in dem Verfahren
Koppensteiner GmbH
gegen
Bundesimmobiliengesellschaft mbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter C. Gulmann (Berichterstatter), P. Kūris und G. Arestis,
Generalanwältin: C. Stix-Hackl,
Kanzler: R. Grass,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Koppensteiner GmbH, vertreten durch die Rechtsanwälte D. Benko und T. Anker,
– der Bundesimmobiliengesellschaft mbH, vertreten durch Rechtsanwalt O. Sturm,
– der österreichischen Regierung, vertreten durch M. Fruhmann als Bevollmächtigten,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch K. Wiedner als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 16. Dezember 2004
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 1 und 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer‑ und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33) in der durch die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. L 209, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 89/665).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Koppensteiner GmbH (im Folgenden: Koppensteiner) und der Bundesimmobiliengesellschaft mbH (im Folgenden: BIG) wegen der Entscheidung der BIG, eine Ausschreibung für einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag nach Ablauf der Angebotsfrist zu widerrufen.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsregelung
3 Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 89/665 lautet:
„Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, daß hinsichtlich der in den Anwendungsbereich der Richtlinien 71/305/EWG, 77/62/EWG und 92/50/EWG … fallenden Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge die Entscheidungen der Vergabebehörden wirksam und vor allem möglichst rasch nach Maßgabe der nachstehenden Artikel, insbesondere von Artikel 2 Absatz 7, auf Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können.“
4 Artikel 2 Absätze 1 und 6 der Richtlinie 89/665 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass für die in Artikel 1 genannten Nachprüfungsverfahren die erforderlichen Befugnisse vorgesehen werden,
a) damit so schnell wie möglich im Wege der einstweiligen Verfügung vorläufige Maßnahmen ergriffen werden können, um den behaupteten Rechtsverstoß zu beseitigen oder weitere Schädigungen der betroffenen Interessen zu verhindern; …
b) damit die Aufhebung rechtswidriger Entscheidungen, einschließlich der Streichung diskriminierender technischer, wirtschaftlicher oder finanzieller Spezifikationen in den Ausschreibungsdokumenten, den Verdingungsunterlagen oder in jedem sonstigen sich auf das betreffende Vergabeverfahren beziehenden Dokument vorgenommen oder veranlasst werden kann;
c) damit denjenigen, die durch den Rechtsverstoß geschädigt worden sind, Schadensersatz zuerkannt werden kann.
…
(6) Die Wirkungen der Ausübung der in Absatz 1 genannten Befugnisse auf den nach Zuschlagserteilung des Auftrags geschlossenen Vertrag richten sich nach dem einzelstaatlichen Recht.
Abgesehen von dem Fall, in dem eine Entscheidung vor Zuerkennung von Schadenersatz aufgehoben werden muss, kann ein Mitgliedstaat ferner vorsehen, dass nach dem Vertragsschluss im Anschluss an die Zuschlagserteilung die Befugnisse der Nachprüfungsinstanz darauf beschränkt werden, einer durch einen Rechtsverstoß geschädigten Person Schadenersatz zuzuerkennen.“
Nationale Regelung
5 Das Bundesvergabegesetz 2002 (BGBl. I, Nr. 99/2002, im Folgenden: BVergG) unterscheidet zwischen gesondert anfechtbaren und nicht gesondert anfechtbaren Entscheidungen.
6 Nach § 20 Ziffer 13 lit a sublit aa BVergG sind gesondert anfechtbare Entscheidungen im offenen Verfahren die Ausschreibung, sonstige Festlegungen während der Angebotsfrist und die Zuschlagsentscheidung.
7 § 20 Ziffer 13 lit b BvergG bestimmt:
„Nicht gesondert anfechtbare Entscheidungen sind alle übrigen, den gesondert anfechtbaren Entscheidungen zeitlich vorhergehenden Entscheidungen. Diese können nur gemeinsam mit der ihnen nächstfolgenden gesondert anfechtbaren Entscheidung angefochten werden.“
8 Nach § 166 Absatz 2 Ziffer 1 BvergG ist ein Nachprüfungsantrag unzulässig, wenn er sich nicht gegen eine gesondert anfechtbare Entscheidung richtet.
9 Aus § 162 Absatz 5 BvergG ergibt sich, dass das Bundesvergabeamt nach Widerruf einer Ausschreibung nur zuständig ist, festzustellen, ob der Widerruf rechtswidrig war.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
10 Öffentlicher Auftraggeber ist im vorliegenden Fall die BIG, die mit der Bau‑ und Liegenschaftsverwaltung des Bundes betraut ist und an der der Bund 100 % der Geschäftsanteile hält. Sie schrieb am 26. September 2003 die Vergabe des Loses Abbrucharbeiten im Rahmen des Neubaus einer Volksschule und dreier Turnhallen im Wege eines offenen Verfahrens aus. Der geschätzte Auftragswert des gesamten Vorhabens betrug 8 600 000 Euro, der der streitigen Abbrucharbeiten 95 000 Euro.
11 Koppensteiner legte in dem betreffenden Vergabeverfahren ein Angebot.
12 Mit Schreiben vom 29. Oktober 2003 teilte die BIG Koppensteiner mit, dass die Ausschreibung nach Ablauf der Angebotsfrist aus schwerwiegenden Gründen gemäß § 105 BVergG widerrufen werde.
13 Am 6. November 2003 forderte die BIG Koppensteiner auf, sich an einem Verhandlungsverfahren ohne vorherige Bekanntmachung für Abbrucharbeiten zu beteiligen, die im Wesentlichen die gleichen Leistungen umfassten wie die des ersten Verfahrens. Beim zweiten Verfahren betrug der geschätzte Auftragswert nunmehr 90 000 Euro.
14 Koppensteiner legte auch in diesem Verfahren ein Angebot.
15 Am 13. November 2003 stellte Koppensteiner zum ersten Vergabeverfahren einen Antrag auf Aufhebung des Widerrufs der Ausschreibung und auf Untersagung einer Ausschreibung in einem weiteren Vergabeverfahren sowie, in eventu, einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Widerrufs. Gleichzeitig beantragte Koppensteiner die Aufhebung des zweiten Vergabeverfahrens.
16 Mit Bescheid des Bundesvergabeamtes vom 20. November 2003 wurde der BIG die Öffnung der Angebote im zweiten Vergabeverfahren für die Dauer des Nachprüfungsverfahrens, längstens jedoch bis 13. Januar 2004, untersagt.
17 Die BIG erteilte am 28. Januar 2004 im zweiten Vergabeverfahren den Zuschlag an ein anderes Unternehmen, das die Abbrucharbeiten anschließend ausführte.
18 Vor dem Bundesvergabeamt trug die BIG als Grund für den Widerruf vor, dass sämtliche Angebotspreise wesentlich über dem geschätzten Auftragswert gelegen seien. So habe der geschätzte Auftragswert des Loses Abbrucharbeiten beim ersten Vergabeverfahren 95 000 Euro betragen. Das billigste Angebot sei jedoch bei 304 150 Euro gelegen, was wesentlich überhöht erschienen sei.
19 Koppensteiner machte insbesondere geltend, dass nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 18. Juni 2002 in der Rechtssache C‑92/00 (HI, Slg. 2002, I‑5553) „eine Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers, die Ausschreibung … zu widerrufen, in einem Nachprüfungsverfahren auf Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens … überprüft und gegebenenfalls aufgehoben werden kann“.
20 Das Bundesvergabeamt weist im Vorlagebeschluss darauf hin, dass es nach dem System des BVergG in einem offenen Vergabeverfahren nicht möglich sei, einen Widerruf nach Angebotsöffnung in einem Nachprüfungsverfahren zu überprüfen und gegebenenfalls aufzuheben. Das Bundesvergabeamt sei nach Widerruf einer Ausschreibung nur zuständig, festzustellen, ob der Widerruf wegen eines Verstoßes gegen das BVergG rechtswidrig gewesen sei. Diese Feststellungsentscheidung ermögliche es den übergangenen Bietern, den Auftraggeber auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen.
21 Das Bundesvergabeamt ist allerdings der Auffassung, dass nach den Artikeln 1 Absatz 1 und 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665 in der Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil HI ein nationales Rechtsschutzsystem eine Möglichkeit zur Aufhebung eines Widerrufs nach Angebotsöffnung in einem Vergabeverfahren vorsehen müsse. Die Befugnis der Nachprüfungsbehörde zur Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Widerrufs mit der anschließenden Möglichkeit, Schadensersatz zu verlangen, sei daher nicht ausreichend.
22 Das Bundesvergabeamt hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind die Bestimmungen des Artikels 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 lit b der Richtlinie 89/665/EWG … so unbedingt und hinreichend genau, dass sich ein Einzelner im Falle eines Widerrufs der Ausschreibung nach Angebotsöffnung vor den nationalen Gerichten unmittelbar auf diese Bestimmungen berufen und zulässigerweise darüber ein Nachprüfungsverfahren beantragen kann?
2. Für den Fall, dass die Frage 1 zu verneinen ist: Ist Artikel 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 lit b der Richtlinie 89/665/EWG … dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die dem Widerruf der Ausschreibung vorangehende Entscheidung des Auftraggebers, die Ausschreibung widerrufen zu wollen (Widerrufsentscheidung ähnlich der Zuschlagsentscheidung), in jedem Fall einem Nachprüfungsverfahren zugänglich zu machen, indem der Antragsteller, unabhängig von der Möglichkeit, nach dem Widerruf Schadensersatz zu erlangen, die Aufhebung der Entscheidung erwirken kann, wenn die Voraussetzungen hierfür erfüllt sind?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
23 Die österreichische Regierung macht insbesondere geltend, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Auftrag nach dem zweiten Vergabeverfahren an ein anderes Unternehmen vergeben worden sei und die Abbrucharbeiten bereits abgeschlossen seien. Daher bestehe kein Interesse mehr an einer Antwort auf die Fragen, denn Koppensteiner könne nunmehr nur noch Schadensersatz erhalten, was im BVergG ohnehin vorgesehen sei. Außerdem habe das vorlegende Gericht keine Befugnis zur Aufhebung des Widerrufs, und die Antwort auf die Fragen helfe ihm nicht bei der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits.
24 Nach Auffassung der BIG ist die zweite Frage rein hypothetisch und daher unzulässig. Da der genannte Auftrag vergeben worden sei, sei die Frage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits ohne Bedeutung, denn der Auftraggeber könne nicht nachträglich die Entscheidung treffen, die Ausschreibung zu widerrufen.
25 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass allein die nationalen Gerichte, die mit Rechtsstreitigkeiten befasst sind und die Verantwortung für die zu erlassenden gerichtlichen Entscheidungen übernehmen müssen, im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls zu beurteilen haben, ob eine Vorabentscheidung erforderlich ist, damit sie ihr Urteil erlassen können, und ob die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen erheblich sind. Betreffen also die vorgelegten Fragen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, so ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (vgl. u. a. Urteil vom 27. Februar 2003 in der Rechtssache C‑373/00, Adolf Truley, Slg. 2003, I‑1931, Randnr. 21).
26 Die österreichische Regierung und die BIG haben zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof die Entscheidung über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts ablehnen muss, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht oder das Problem hypothetischer Natur ist (vgl. u. a. Urteil Adolf Truley, Randnr. 22); die in dieser Rechtssache vorgelegten Fragen weisen aber nicht offensichtlich derartige Merkmale auf.
27 Das Vorlagegericht hat nämlich in seinem Beschluss ausgeführt, dass die Fragen vorgelegt würden, damit es dazu Stellung nehmen könne, ob und gegebenenfalls aus welchen Gründen der Antrag auf Aufhebung des Widerrufs des ersten Vergabeverfahrens unzulässig sei.
28 Das Vorabentscheidungsersuchen ist folglich zulässig.
Zur Sache
29 Vor der Prüfung der Fragen, die zusammen zu behandeln sind, ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof in seinem Urteil HI festgestellt hat,
– dass die Entscheidung über den Widerruf der Ausschreibung eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags zu den Entscheidungen gehört, für die die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 89/665 Nachprüfungsverfahren einführen müssen, um sicherzustellen, dass die Regelungen des Gemeinschaftsrechts im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, beachtet werden (Randnr. 54), und
– dass die vollständige Verwirklichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Zieles vereitelt würde, wenn die öffentlichen Auftraggeber die Ausschreibung für einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag widerrufen könnten, ohne dass dies den Verfahren der gerichtlichen Nachprüfung unterläge, mit denen in jeder Hinsicht sichergestellt werden soll, dass die Vergaberichtlinien und die Grundsätze, auf die sie sich stützen, tatsächlich beachtet werden (Randnr. 53).
30 Im selben Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass nach den Artikeln 1 Absatz 1 und 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665 die Entscheidung eines Auftraggebers, die Ausschreibung für einen öffentlichen Auftrag zu widerrufen, in einem Nachprüfungsverfahren überprüft und gegebenenfalls aufgehoben werden kann, weil sie gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die nationalen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, verstößt.
31 Ist es also einem Bieter nach nationalem Recht, auch wenn es gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt wird, nicht möglich, eine Entscheidung über den Widerruf einer Ausschreibung mit der Begründung anzufechten, dass sie gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße, und aus diesem Grund ihre Aufhebung zu verlangen, so genügt das nationale Recht nicht den Anforderungen der Artikel 1 Absatz 1 und 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665.
32 Ein nationales Gericht, bei dem ein Bieter die Aufhebung einer Entscheidung über den Widerruf einer Ausschreibung beantragt, weil sie gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße, und dessen nationales Recht eine Entscheidung über diesen Antrag nicht zulässt, ist daher mit der Frage konfrontiert, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen es aufgrund des Gemeinschaftsrechts einen solchen Aufhebungsantrag für zulässig zu erklären hat.
33 Dazu ist festzustellen, dass die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das Ziel dieser Richtlinie zu erreichen, und ihre Aufgabe gemäß Artikel 10 EG, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten obliegen (vgl. u. a. Urteil vom 4. März 1999 in der Rechtssache C‑258/97, HI, Slg. 1999, I‑1405, Randnr. 25).
34 Zwar sind die Nachprüfungsinstanzen, die in den Mitgliedstaaten im Bereich der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten über die aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleiteten Individualrechte zuständig sind, in der nationalen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats zu benennen (vgl. u. a. Urteile vom 24. September 1998 in der Rechtssache C‑76/97, Tögel, Slg. 1998, I‑5357, Randnr. 28, und vom 28. Oktober 1999 in der Rechtssache C‑81/98, Alcatel Austria u. a., Slg. 1999, I‑7671, Randnr. 49); im Ausgangsrechtsstreit stellt sich jedoch ein derartiges Problem der gerichtlichen Zuständigkeit nicht.
35 Im vorliegenden Fall steht nämlich fest, dass nach dem anwendbaren nationalen Recht das Bundesvergabeamt für die Nachprüfung von „Entscheidungen“ im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 89/665 zuständig ist, die von Vergabebehörden in Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge getroffen werden.
36 Außerdem hat das Vorlagegericht ausgeführt (vgl. Randnr. 20 des vorliegenden Urteils), dass es bei einem offenen Vergabeverfahren nach nationalem Recht ausgeschlossen sei, in einem Nachprüfungsverfahren vor dem Bundesvergabeamt Entscheidungen zu überprüfen und gegebenenfalls aufzuheben, mit denen eine Ausschreibung nach der Angebotsöffnung widerrufen werde.
37 Wie aber in Randnummer 30 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Artikel 1 Absatz 1 und 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665 einem solchen Ausschluss entgegenstehen.
38 Diese Bestimmungen der Richtlinie 89/665 sind unbedingt und hinreichend genau, um ein Recht für einen Einzelnen zu begründen, auf das sich dieser gegebenenfalls gegenüber einer Vergabebehörde wie der BIG berufen kann.
39 Das zuständige Gericht ist daher verpflichtet, die nationalen Vorschriften unangewendet zu lassen, die es daran hindern, die Verpflichtung aus den Artikeln 1 Absatz 1 und 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665 zu beachten.
Kosten
40 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Das zuständige Gericht ist verpflichtet, die nationalen Vorschriften unangewendet zu lassen, die es daran hindern, die Verpflichtung aus den Artikeln 1 Absatz 1 und 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer‑ und Bauaufträge in der durch die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge geänderten Fassung zu beachten.
Unterschriften.
* Verfahrenssprache: Deutsch.