Rechtssache C-385/02

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Italienische Republik

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Richtlinie 93/37/EWG – Öffentliche Bauaufträge – Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung“

Leitsätze des Urteils

1.        Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge – Richtlinie 93/37 – Ausnahmen von den gemeinsamen Vorschriften  – Enge Auslegung – Vorliegen außergewöhnlicher Umstände – Beweislast

(Richtlinie 93/37 des Rates, Artikel 7 Absatz 3)

2.        Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge – Richtlinie 93/37 – Ausnahmen von den gemeinsamen Vorschriften – Wiederholung gleichartiger Bauleistungen, die an den Unternehmer vergeben werden, der den ersten Auftrag erhalten hat – Dauer

(Richtlinie 93/37 des Rates, Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe e)

3.        Vertragsverletzungsverfahren – Objektiver Charakter – Entschuldbarer Irrtum – Unzulässigkeit

(Artikel 226 EG)

1.        Artikel 7 Absatz 3 der Richtlinie 93/37 zur Koordinierung der Verfahren für die Vergabe öffentlicher Bauaufträge, der Ausnahmen von den Vorschriften zulässt, die die Wirksamkeit der durch den EG-Vertrag im Bereich der öffentlichen Bauaufträge eingeräumten Rechte gewährleisten sollen, ist eng auszulegen; die Beweislast dafür, dass die außergewöhnlichen Umstände, die die Ausnahme rechtfertigen, tatsächlich vorliegen, obliegt demjenigen, der sich auf sie berufen will.

Aufgrund des Wortlauts von Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe b der Richtlinie, wonach die öffentlichen Auftraggeber Bauaufträge im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung vergeben können, „wenn die Arbeiten aus technischen oder künstlerischen Gründen oder aufgrund des Schutzes von Ausschließlichkeitsrechten nur von einem bestimmten Unternehmen ausgeführt werden können“, muss ein Mitgliedstaat beweisen, dass technische Gründe es erforderlich machen, die fraglichen Aufträge an das Unternehmen zu vergeben, mit dem der ursprüngliche Vertrag geschlossen worden war.

Zwar beruht das Ziel, die Kontinuität von Arbeiten sicherzustellen, die zu komplexen Vorhaben gehören und dem wasserbaulichen Schutz einer Region dienen, auf einer technischen Überlegung von Belang. Die bloße Behauptung, dass eine Gesamtheit von Arbeiten komplex und schwierig sei, genügt jedoch nicht als Beweis dafür, dass sie nur ein und demselben Unternehmen anvertraut werden könnte, zumal wenn die Arbeiten in Lose aufgeteilt sind, deren Ausführung sich über viele Jahre erstrecken soll.

(vgl. Randnrn. 19-21)

2.        Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe e der Richtlinie 93/37 zur Koordinierung der Verfahren für die Vergabe öffentlicher Bauaufträge lässt bei neuen Bauarbeiten, die in der Wiederholung gleichartiger Bauleistungen bestehen, die an den Unternehmer vergeben werden, der den ersten Auftrag erhalten hat, die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung nur „binnen drei Jahren nach Abschluss des ersten Auftrags“ zu.

Ein Vergleich der Sprachfassungen dieser Bestimmung ergibt, dass unter dem Ausdruck „Abschluss des ersten Auftrags“ der Abschluss des ersten Vertrages, nicht aber die Beendigung der Arbeiten zu verstehen ist, auf die sich der Auftrag bezieht.

Diese Auslegung wird durch den Gegenstand der fraglichen Bestimmung und ihren Platz im System der Richtlinie 93/37 bestätigt.

Zum einen ist, da es sich um eine Ausnahmebestimmung handelt, die eng auszulegen ist, die Auslegung zu wählen, die den Zeitraum, in dem die Ausnahme gilt, beschränkt, nicht aber die Auslegung, die ihn verlängert. Diesem Ziel entspricht die Auslegung, die den Fristbeginn auf den Zeitpunkt des Abschlusses des ersten Vertrages, nicht aber auf den zwangsläufig späteren Zeitpunkt der Beendigung der Arbeiten legt, die Gegenstand des Vertrages sind.

Zum anderen verlangt die in Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge wünschenswerte Rechtssicherheit, dass der Fristbeginn zuverlässig und objektiv bestimmt werden kann. Der Zeitpunkt des Abschlusses eines Vertrages ist gewiss; hingegen können zahlreiche Zeitpunkte als Abschluss der Arbeiten angesehen werden und damit für entsprechende Unsicherheit sorgen. Außerdem steht der Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrages bereits zu Beginn endgültig fest, während sich der Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeiten unabhängig davon, wie er zunächst bestimmt wurde, aufgrund zufälliger oder vom Willen abhängiger Faktoren während der gesamten Dauer der Ausführung des Auftrags verschieben kann.

(vgl. Randnrn. 33-34, 36-38)

3.        Das Vertragsverletzungsverfahren bietet namentlich bei Meinungsverschiedenheiten über Auslegungsfragen die Möglichkeit, den genauen Umfang der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zu ermitteln, und gilt der objektiven Feststellung eines Verstoßes gegen die Verpflichtungen, die einem Mitgliedstaat nach dem EG-Vertrag oder einem sekundären Rechtsakt obliegen. Ein Mitgliedstaat kann sich daher nicht auf einen entschuldbaren Irrtum berufen, um einen Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus einer Richtlinie zu rechtfertigen.

(vgl. Randnr. 40)




URTEIL DES GERICHTSHOFES (Zweite Kammer)
14. September 2004(1)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Richtlinie 93/37/EWG – Öffentliche Bauaufträge – Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung“

In der Rechtssache C-385/02betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Artikel 226 EG,eingereicht am 28. Oktober 2002,

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch K. Wiedner und R. Amorosi als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Italienische Republik, vertreten durch M. Fiorilli als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer),



unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, der Richter J.-P. Puissochet, J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) und R. Schintgen sowie der Richterin N. Colneric,

Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Múgica Arzamendi, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. März 2004,unter Berücksichtigung des Vorbringens der Parteien,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 29. April 2004,

folgendes



Urteil



1
Mit ihrer Klageschrift beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren für die Vergabe öffentlicher Bauaufträge (ABl. L 199, S. 54, im Folgenden: Richtlinie) und insbesondere aus deren Artikel 7 Absatz 3 verstoßen hat, dass der Magistrato per il Po di Parma, ein örtliches Organ des Ministeriums für öffentliche Arbeiten (nunmehr Ministerium für Infrastrukturen und Verkehr) Aufträge über die Fertigstellung des Baus eines Hochwasserrückhaltebeckens für den Fluss Parma im Ort Marano (Gemeinde Parma) sowie über Arbeiten zur Einrichtung und Fertigstellung eines Rückhaltebeckens für den Fluss Enza und zur Regulierung des Hochwassers des Flusses Terdoppio südwestlich von Cerano im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung vergeben hat, obwohl die Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt waren.


Rechtlicher Rahmen

2
Artikel 7 Absatz 3 Buchstaben b, c und e der Richtlinie sieht vor:

„Die öffentlichen Auftraggeber können in den folgenden Fällen Bauaufträge im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung vergeben.

b)
wenn die Arbeiten aus technischen oder künstlerischen Gründen oder aufgrund des Schutzes von Ausschließlichkeitsrechten nur von einem bestimmten Unternehmen ausgeführt werden können;

c)
soweit dies unbedingt erforderlich ist, wenn dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die die betreffenden öffentlichen Auftraggeber nicht voraussehen konnten, es nicht zulassen, die in den offenen, den nicht offenen oder den Verhandlungsverfahren gemäß Absatz 2 vorgeschriebenen Fristen einzuhalten. Die angeführten Umstände zur Begründung der zwingenden Dringlichkeit dürfen auf keinen Fall den öffentlichen Auftraggebern zuzuschreiben sein;

e)
bei neuen Bauarbeiten, die in der Wiederholung gleichartiger Bauleistungen bestehen, die durch den gleichen öffentlichen Auftraggeber an den Unternehmer vergeben werden, der den ersten Auftrag erhalten hat, sofern sie einem Grundentwurf entsprechen und dieser Entwurf Gegenstand des ersten Auftrags war, der nach den in Absatz 4 genannten Verfahren vergeben wurde.

Die Möglichkeit der Anwendung dieses Verfahrens muss bereits bei der Ausschreibung des ersten Bauabschnitts angegeben werden; der für die Fortsetzung der Bauarbeiten in Aussicht genommene Gesamtauftragswert wird vom öffentlichen Auftraggeber für die Anwendung von Artikel 6 berücksichtigt. Dieses Verfahren darf jedoch nur binnen drei Jahren nach Abschluss des ersten Auftrags angewandt werden.“

3
Artikel 7 Absatz 4 der Richtlinie bestimmt:

„In allen anderen Fällen vergibt der öffentliche Auftraggeber seine Bauaufträge im offenen oder nicht offenen Verfahren.“


Sachverhalt

4
Der Magistrato per il Po di Parma genehmigte mit den Dekreten Nrn. 11414 und 11416 vom 9. Oktober 1997 und Nr. 11678 vom 15. Oktober 1997 Verträge über folgende Arbeiten:

Fertigstellung des Baus eines Hochwasserrückhaltebeckens für den Fluss Parma im Ort Marano (Gemeinde Parma),

Einrichtung und Fertigstellung eines Rückhaltebeckens für den Fluss Enza und

Regulierung des Hochwassers des Flusses Terdoppio südwestlich von Cerano.

5
Der Wert dieser Arbeiten belief sich gerundet auf 37, 21 und 19,5 Milliarden Lire.

6
Die ursprünglichen Aufträge für die genannten Bauleistungen waren zu folgenden Zeitpunkten vergeben worden:

am 22. Dezember 1988 für den Fluss Parma,

am 26. Oktober 1982 für den Fluss Enza und

am 20. Mai 1988 für den Fluss Terdoppio.


Vorverfahren

7
Die Kommission ersuchte Italien mit Schreiben vom 27. September 2000 um Auskünfte zu dem Verfahren, das bei der Vergabe der in Randnummer 4 dieses Urteils genannten Aufträge (im Folgenden: die fraglichen Aufträge) befolgt wurde.

8
Italien antwortete mit Schreiben vom 19. Oktober 2000 und 26. März 2001, dass das befolgte Verfahren den Anforderungen des Artikels 7 Absatz 3 Buchstabe e der Richtlinie entspreche, da die fraglichen Arbeiten in der Wiederholung von Bauleistungen bestünden, die denen glichen, die der Magistrato per il Po di Parma bereits den Unternehmen anvertraut habe, die die ursprünglichen Aufträge erhalten hätten, und da sie einem Grundentwurf entsprächen, der bereits Gegenstand eines ersten, im Verfahren nach Artikel 7 Absatz 4 der Richtlinie vergebenen Auftrags gewesen sei. Außerdem sei in den ursprünglichen Vergabebekanntmachungen vorgesehen gewesen, dass der Bauherr das Verhandlungsverfahren anwenden könne; der geschätzte Gesamtwert der Erbringung der einzelnen Bauleistungen sei vom Magistrato per il Po di Parma bei der Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften berücksichtigt worden. Schließlich sei das Verhandlungsverfahren binnen drei Jahren nach Abschluss des ersten Auftrags angewandt worden.

9
Die Kommission forderte die Italienische Republik mit Schreiben vom 23. April 2001 zur Äußerung auf.

10
Italien antwortete mit Schreiben vom 8. Juni und 17. Dezember 2001 insbesondere, dass der in Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe e der Richtlinie genannte Zeitraum von drei Jahren nach Abschluss des ersten Auftrags mit dem Zeitpunkt der Abnahme der sich auf den ersten Auftrag beziehenden Arbeiten beginne, da dieser Zeitpunkt das Ende des Vertrages markiere.

11
Da die Kommission diese Antwort nicht für zufrieden stellend hielt, gab sie am 21. Dezember 2001 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie die Italienische Republik aufforderte, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dieser Stellungnahme innerhalb von zwei Monaten nach ihrer Zustellung nachzukommen. Die Italienische Republik antwortete auf diese Stellungnahme nicht; daraufhin hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.


Anträge

12
Die Kommission beantragt,

festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie und insbesondere aus deren Artikel 7 Absatz 3 verstoßen hat, dass der Magistrato per il Po di Parma Aufträge über die Fertigstellung des Baus eines Hochwasserrückhaltebeckens für den Fluss Parma im Ort Marano (Gemeinde Parma) sowie über Arbeiten zur Einrichtung und Fertigstellung eines Rückhaltebeckens für den Fluss Enza und zur Regulierung des Hochwassers des Flusses Terdoppio südwestlich von Cerano im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung vergeben hat,

der Italienischen Republik die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

13
Die Italienische Republik beantragt, unbeschadet der wettbewerbsrechtlichen Auslegung des Artikels 7 Absatz 3 der Richtlinie und mit Bezug auf die Auslegung dieser Bestimmung auf der Grundlage des Wortlauts der Mehrzahl der Sprachfassungen festzustellen, dass die Italienische Republik aufgrund der italienischen Fassung der Bestimmung einem entschuldbaren Irrtum unterlegen ist.


Zur Vertragsverletzung

14
Die fraglichen Aufträge fallen unstreitig unter die Richtlinie und wurden im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung vergeben. Dieses Verfahren ist nur in den in Artikel 7 Absatz 3 der Richtlinie abschließend aufgezählten Fällen zulässig. Die italienische Regierung bringt in ihrer Klagebeantwortung drei Verteidigungsmittel vor, mit denen aufgezeigt werden soll, dass die fraglichen Aufträge zu diesen Fällen gehören.

15
Erstens trägt die italienische Regierung vor, dass der Magistrato per il Po di Parma zwischen 1981 und 1990 Verfahren zur Vornahme von Eingriffen, die dem wasserbaulichen Schutz der von den Hochwässern des Flusses Po und seiner Nebenflüsse betroffenen Gebiete dienten, durch die Vergabe von Aufträgen über die Erstellung eines Gesamtentwurfs und über die Ausführung von Arbeiten aufgrund von Losen nach Maßgabe der jeweils verfügbaren Mittel eingeleitet habe. Die Aufträge über die Erstellung des Entwurfes und über das erste Baulos seien im Anschluss an ein dem Gemeinschaftsrecht entsprechendes Verfahren vergeben worden. Die dazugehörigen Vergabebekanntmachungen hätten eine Klausel enthalten, die es der Vergabebehörde erlaubt habe, die Ausführung der späteren Baulose an dasselbe Unternehmen zu vergeben.

16
Angesichts der Komplexität und Schwierigkeit der Arbeiten habe der Oberste Rat für öffentliche Arbeiten in einem technischen Gutachten erläutert, dass diese Arbeiten von einem einzigen geeigneten Auftragnehmer auszuführen seien und dass, wenn sie aufgrund von Losen ausgeführt würden, ihre Kontinuität sicherzustellen sei. Die Klausel, die in der Vergabebekanntmachung und in den Verträgen über die Erstellung des Entwurfes und über das erste Baulos enthalten sei, habe diesen technischen Vorschlag umgesetzt. Die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung für die fraglichen Aufträge stelle die Erfüllung einer vertraglichen Verpflichtung dar.

17
Nach dem Vortrag der italienischen Regierung wollte der öffentliche Auftraggeber technischen Erfordernissen bezüglich der Ausführung sämtlicher Arbeiten durch einen einzigen Auftragnehmer nachkommen. Die Ausführung aufgrund von Teillosen führe oft zu Problemen im Zusammenhang mit der Kompatibilität der Leistungen und damit zu Schwierigkeiten, im Fall der Vernichtung oder Verschlechterung der Bauwerke die jeweilige Haftung für die daraus folgenden Schäden festzustellen.

18
Dieses erste Verteidigungsmittel ist dahin zu verstehen, dass es auf Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe b der Richtlinie gestützt wird, soweit diese Bestimmung die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung zulässt, wenn die Arbeiten aus technischen Gründen nur von einem bestimmten Unternehmen ausgeführt werden können.

19
Artikel 7 Absatz 3 der Richtlinie, der Ausnahmen von den Vorschriften zulässt, die die Wirksamkeit der durch den EG-Vertrag im Bereich der öffentlichen Bauaufträge eingeräumten Rechte gewährleisten sollen, ist eng auszulegen; die Beweislast dafür, dass die außergewöhnlichen Umstände, die die Ausnahme rechtfertigen, tatsächlich vorliegen, obliegt demjenigen, der sich auf sie berufen will (in diesem Sinne Urteile vom 18. Mai 1995 in der Rechtssache C‑57/94, Kommission/Italien, Slg. 1995, I‑1249, Randnr. 23, und vom 28. März 1996 in der Rechtssache C‑318/94, Kommission/Deutschland, Slg. 1996, I‑1949, Randnr. 13).

20
Demnach muss Italien beweisen, dass technische Gründe es erforderlich machten, die fraglichen Aufträge an das Unternehmen zu vergeben, mit dem der ursprüngliche Vertrag geschlossen worden war (in diesem Sinne Urteil Kommission/Italien, Randnr. 24).

21
Zwar beruht das Ziel, die Kontinuität von Arbeiten sicherzustellen, die zu komplexen Vorhaben gehören und dem wasserbaulichen Schutz einer Region dienen, auf einer technischen Überlegung von Belang. Die bloße Behauptung, dass eine Gesamtheit von Arbeiten komplex und schwierig sei, genügt jedoch nicht als Beweis dafür, dass sie nur ein und demselben Unternehmen anvertraut werden könnte, zumal wenn die Arbeiten in Lose aufgeteilt sind, deren Ausführung sich über viele Jahre erstrecken soll.

22
Im vorliegenden Fall hat die italienische Regierung aber nur allgemein auf ein Gutachten des Obersten Rates für öffentliche Arbeiten verwiesen, ohne näher darzulegen, warum nur ein Unternehmen herangezogen werden könne.

23
Die italienische Regierung bringt weiter vor, die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung für die fraglichen Aufträge stelle die Erfüllung einer vertraglichen Verpflichtung dar. Ob dieses Vorbringen erheblich ist, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls hat die italienische Regierung nicht bewiesen, dass es eine solche Verpflichtung gab. Vielmehr war der Magistrato per il Po di Parma nach den vor dem Gerichtshof gemachten Angaben nicht verpflichtet, sondern nur berechtigt, den Empfängern der ersten Baulose den Zuschlag für die späteren Lose zu erteilen.

24
Demnach ist das Verteidigungsmittel, das auf Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe b der Richtlinie gestützt wird, unbegründet und zurückzuweisen.

25
Zweitens waren nach dem Vortrag der italienischen Regierung die Arbeiten im vorliegenden Fall dringend abzuschließen, um zu vermeiden, dass ihre Unvollständigkeit die Gefahr von Überschwemmungen erhöhe.

26
Dieses zweite Verteidigungsmittel ist dahin zu verstehen, dass es auf Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe c der Richtlinie gestützt wird, der die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung erlaubt, wenn dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die die öffentlichen Auftraggeber nicht voraussehen konnten, es nicht zulassen, die in den normalen Verfahren vorgeschriebenen Fristen einzuhalten. Satz 2 dieser Vorschrift bestimmt, dass die angeführten Umstände zur Begründung der zwingenden Dringlichkeit auf keinen Fall den öffentlichen Auftraggebern zuzuschreiben sein dürfen.

27
In der vorliegenden Rechtssache waren aber die ursprünglichen Aufträge über die Arbeiten zum Schutz vor Überschwemmungen in den 1980er Jahren erteilt worden. Außerdem war gleich zu Beginn vorgesehen worden, dass die Arbeiten aufgrund von Losen nach Maßgabe der jeweils verfügbaren Mittel ausgeführt würden.

28
Diese Umstände begründen keine zwingende Dringlichkeit. Vielmehr fallen sie unter die vom öffentlichen Auftraggeber vorgenommene Organisation.

29
Folglich ist das zweite Verteidigungsmittel, das auf Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe c der Richtlinie gestützt wird, unbegründet und zurückzuweisen.

30
Drittens beruft sich die italienische Regierung auf Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe e der Richtlinie, der bei neuen Bauarbeiten, die in der Wiederholung gleichartiger Bauleistungen bestehen, die durch den gleichen öffentlichen Auftraggeber an den Unternehmer vergeben werden, der den ersten Auftrag erhalten hat, unter bestimmten Voraussetzungen die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Vorgabebekanntmachung zulässt.

31
Nach dem Wortlaut von Satz 3 dieser Bestimmung besteht diese Möglichkeit nur während eines Zeitraums von drei Jahren nach Abschluss des ersten Auftrags. Die italienische Regierung macht geltend, dass dieser Zeitraum mit dem Abschluss der Arbeiten im Rahmen des ersten Auftrags und nicht mit der Vergabe dieses Auftrags beginne.

32
Hilfsweise beantragt die italienische Regierung, festzustellen, dass sie aufgrund der italienischen Fassung des Artikels 7 Absatz 3 der Richtlinie einem entschuldbaren Irrtum unterlegen ist.

33
Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe e der Richtlinie lässt bei neuen Bauarbeiten, die in der Wiederholung gleichartiger Bauleistungen bestehen, die an den Unternehmer vergeben werden, der den ersten Auftrag erhalten hat, die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung zu. Satz 3 dieser Vorschrift bestimmt jedoch, dass dieses Verfahren nur „binnen drei Jahren nach Abschluss des ersten Auftrags“ angewandt werden darf.

34
Ein Vergleich der Sprachfassungen dieser Bestimmung ergibt, dass unter dem Ausdruck „Abschluss des ersten Auftrags“ der Abschluss des ersten Vertrages, nicht aber die Beendigung der Arbeiten zu verstehen ist, auf die sich der Auftrag bezieht.

35
Insbesondere die dänische Fassung („indgaaelsen af den orprindelige kontrakt“), die englische Fassung („the conclusion of the original contract“), die spanische Fassung („formalización del contrato inicial“) und die portugiesische Fassung („celebração do contrato inicial“) sprechen unzweideutig vom Vertrag und können nicht so verstanden werden, dass sie sich auf die Arbeiten beziehen, die Gegenstand dieses Vertrages sind.

36
Diese Auslegung wird durch den Gegenstand der fraglichen Bestimmung und ihren Platz im System der Richtlinie bestätigt.

37
Zum einen ist, da es sich um eine Ausnahmebestimmung handelt, die eng auszulegen ist, die Auslegung zu wählen, die den Zeitraum, in dem die Ausnahme gilt, beschränkt, nicht aber die Auslegung, die ihn verlängert. Diesem Ziel entspricht die Auslegung, die den Fristbeginn auf den Zeitpunkt des Abschlusses des ersten Vertrages, nicht aber auf den zwangsläufig späteren Zeitpunkt der Beendigung der Arbeiten legt, die Gegenstand des Vertrages sind.

38
Zum anderen verlangt die in Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge wünschenswerte Rechtssicherheit, dass der Fristbeginn zuverlässig und objektiv bestimmt werden kann. Der Zeitpunkt des Abschlusses eines Vertrages ist gewiss; hingegen können zahlreiche Zeitpunkte als Abschluss der Arbeiten angesehen werden und damit für entsprechende Unsicherheit sorgen. Außerdem steht der Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrages bereits zu Beginn endgültig fest, während sich der Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeiten unabhängig davon, wie er zunächst bestimmt wurde, aufgrund zufälliger oder vom Willen abhängiger Faktoren während der gesamten Dauer der Ausführung des Auftrags verschieben kann.

39
Somit begann der Zeitraum von drei Jahren, der in Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe e Satz 3 der Richtlinie vorgesehen ist, mit dem Abschluss der ursprünglichen Verträge in den Jahren 1982 und 1988. Da die fraglichen Aufträge 1997 vergeben wurden, war die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme nicht anwendbar.

40
Was den Antrag der italienischen Regierung auf Anerkennung eines entschuldbaren Irrtums angeht, so ist daran zu erinnern, dass das Vertragsverletzungsverfahren namentlich bei Meinungsverschiedenheiten über Auslegungsfragen die Möglichkeit bietet, den genauen Umfang der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zu ermitteln, und der objektiven Feststellung eines Verstoßes gegen die Verpflichtungen gilt, die einem Mitgliedstaat nach dem EG-Vertrag oder einem sekundären Rechtsakt obliegen (in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 2001 in der Rechtssache C‑83/99, Kommission/Spanien, Slg. 2001, I‑445, Randnr. 23). Ein Mitgliedstaat kann sich daher nicht auf einen entschuldbaren Irrtum berufen, um einen Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus einer Richtlinie zu rechtfertigen.

41
Demnach ist das dritte Verteidigungsmittel, das auf Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe e der Richtlinie gestützt wird, als unbegründet zurückzuweisen.

42
Nach alledem ist festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie verstoßen hat, dass der Magistrato per il Po di Parma Aufträge über die Fertigstellung des Baus eines Hochwasserrückhaltebeckens für den Fluss Parma im Ort Marano (Gemeinde Parma) sowie über Arbeiten zur Einrichtung und Fertigstellung eines Rückhaltebeckens für den Fluss Enza und zur Regulierung des Hochwassers des Flusses Terdoppio südwestlich von Cerano im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung vergeben hat, obwohl die Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt waren.


Kosten

43
Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Italienischen Republik beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.
Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren für die Vergabe öffentlicher Bauaufträge verstoßen, dass der Magistrato per il Po di Parma, ein örtliches Organ des Ministeriums für öffentliche Arbeiten (nunmehr Ministerium für Infrastrukturen und Verkehr) Aufträge über die Fertigstellung des Baus eines Hochwasserrückhaltebeckens für den Fluss Parma im Ort Marano (Gemeinde Parma) sowie über Arbeiten zur Einrichtung und Fertigstellung eines Rückhaltebeckens für den Fluss Enza und zur Regulierung des Hochwassers des Flusses Terdoppio südwestlich von Cerano im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung vergeben hat, obwohl die Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt waren.

2.
Die Italienische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Unterschriften.


1
Verfahrenssprache: Italienisch.