Rechtssache C-157/02
Rieser Internationale Transporte GmbH
gegen
Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-AG (Asfinag)
(Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofes [Österreich])
«Güterkraftverkehr – Maut – Brennerautobahn – Diskriminierungsverbot – Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit des Verkehrsunternehmers oder des Ausgangs- oder Zielpunktes des Verkehrs»
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Schlussanträge des Generalanwalts S. Alber vom 9. September 2003 |
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Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 5. Februar 2004 |
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Leitsätze des Urteils
- 1.
- Handlungen der Organe – Richtlinien – Unmittelbare Wirkung – Möglichkeit, sich gegenüber einer vom Staat kontrollierten juristischen Person des Privatrechts, die mit der Erhebung von
Mautgebühren für die Benutzung öffentlicher Verkehrswege betraut ist, auf eine Richtlinie zu berufen
(Artikel 249 Absatz 3 EG)
- 2.
- Verkehr – Straßenverkehr – Steuerrecht – Harmonisierung – Richtlinien 93/89 und 1999/62 – Erhebung von Maut- und Benutzungsgebühren für bestimmte Verkehrswege – Unmittelbare Wirkung des Verbots einer Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit des Verkehrsunternehmers oder
des Ausgangs- oder Zielpunktes des Verkehrs – Keine unmittelbare Wirkung des Grundsatzes, dass sich die Mautgebühren an den Kosten der Verkehrswege orientieren
(Richtlinien 93/89 des Rates, Artikel 7 Buchstaben b und h, 8 Absatz 2 Buchstabe e und 9, sowie 1999/62, Artikel 7 Absätze
4 und 9)
- 3.
- Verkehr – Straßenverkehr – Steuerrecht – Harmonisierung – Richtlinien 93/89 und 1999/62 – Erhebung von Maut- und Benutzungsgebühren für bestimmte Verkehrswege – Verbot einer Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit des Verkehrsunternehmers oder des Ausgangs- oder Zielpunktes
des Verkehrs – Anwendbarkeit auf die inländischen Verkehrsunternehmer
(Richtlinien 93/89 des Rates, Artikel 7 Buchstabe b, und 1999/62, Artikel 7 Absatz 4)
- 4.
- Verkehr – Straßenverkehr – Steuerrecht – Harmonisierung – Richtlinie 93/89 – Besteuerung bestimmter Kraftfahrzeuge zur Güterbeförderung und Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege – Urteil des Gerichtshofes, mit dem die genannte Richtlinie für nichtig erklärt wird – Wirkung
(Artikel 231 Absatz 2 EG; Richtlinien 93/89 und 1999/62 des Rates)
- 5.
- Verkehr – Straßenverkehr – Steuerrecht – Harmonisierung – Richtlinie 1999/62 – Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge – Auswirkungen der Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, keine Vorschriften zu erlassen, die das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel in Frage
stellen können – Keine unmittelbare Wirkung
(Artikel 10 Absatz 2 EG und 249 Absatz 3 EG; Richtlinie 1999/62 des Rates)
- 1.
- Einer juristischen Person des Privatrechts können bei der Abschließung von Verträgen mit Straßenbenutzern die unmittelbar
anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden, wenn der Staat dieser juristischen Person die Aufgabe übertragen
hat, Mautgebühren für die Benutzung öffentlicher Verkehrwege einzuheben, und wenn er die juristische Person unmittelbar oder
mittelbar kontrolliert.
(vgl. Randnr. 29, Tenor 1)
- 2.
- Ein Einzelner kann sich bei unterbliebener oder unvollständiger Umsetzung der Richtlinien 93/89 über die Besteuerung bestimmter
Kraftfahrzeuge zur Güterbeförderung sowie die Erhebung von Maut- und Benutzungsgebühren für bestimmte Verkehrswege durch die
Mitgliedstaaten und 1999/62 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge
vor den nationalen Gerichten gegenüber einer staatlichen Stelle in Bezug auf die Berechnung einer Mautgebühr für die zur Güterbeförderung
eingesetzten Kraftfahrzeuge mit einem zulässigen Gesamtgewicht von mindestens 12 Tonnen auf die Artikel 7 Buchstabe b der
Richtlinie 93/89 und 7 Absatz 4 der Richtlinie 1999/62 berufen, die bei der Anwendung von Maut- und Benutzungsgebühren jede
mittelbare oder unmittelbare unterschiedliche Behandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit des Verkehrsunternehmers oder des
Ausgangs- oder Zielpunktes des Fahrzeugs ausschließen.
- Dagegen kann sich ein Einzelner gegenüber einer staatlichen Stelle nicht auf die Artikel 7 Buchstabe h der Richtlinie 93/89
und 7 Absatz 9 der Richtlinie 1999/62 berufen, die vorsehen, dass sich die Mautgebühren bzw. die gewogenen durchschnittlichen
Mautgebühren an den Kosten für Bau, Betrieb und weiteren Ausbau des betreffenden Straßennetzes orientieren, da sie den Mitgliedstaaten
zwar eine allgemeine Leitlinie für die Berechnung der Mautgebühren vorgeben, aber keine konkrete Berechnungsmethode enthalten
und den Mitgliedstaaten insoweit einen sehr weiten Spielraum belassen.
(vgl. Randnrn. 35-36, 38, 40-41, 44, Tenor 2)
- 3.
- Die inländischen Verkehrsunternehmer können sich gegenüber ihrem Staat ebenso wie die Verkehrsunternehmer aus anderen Mitgliedstaaten
auf das in Artikel 7 Buchstabe b der Richtlinie 93/89 über die Besteuerung bestimmter Kraftfahrzeuge zur Güterbeförderung
sowie die Erhebung von Maut- und Benutzungsgebühren für bestimmte Verkehrswege durch die Mitgliedstaaten und in Artikel 7
Absatz 4 der Richtlinie 1999/62 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge
aufgestellte Verbot einer mittelbaren oder unmittelbaren unterschiedlichen Behandlung berufen. Zur Verhinderung jeglicher
Wettbewerbsverzerrung zwischen Verkehrsunternehmen aus den Mitgliedstaaten verbieten diese Bestimmungen nämlich bei der Erhebung
von Maut- und Benutzungsgebühren mittelbare und unmittelbare unterschiedliche Behandlungen nicht nur aufgrund der Staatsangehörigkeit
der Verkehrsunternehmer, sondern auch aufgrund des Ausgangs- oder Zielpunktes des Verkehrs.
(vgl. Randnrn. 51-52, 54, Tenor 3)
- 4.
- Auch wenn nach dem Wortlaut des Urteils vom 5. Juli 1995 in der Rechtssache C‑21/94 (Parlament/Rat), mit dem die Richtlinie
93/89 über die Besteuerung bestimmter Kraftfahrzeuge zur Güterbeförderung sowie die Erhebung von Maut- und Benutzungsgebühren
für bestimmte Verkehrswege durch die Mitgliedstaaten für nichtig erklärt wurde, die Wirkungen dieser Richtlinie bis zum Erlass
einer Neuregelung in diesem Bereich aufrechterhalten wurden, ist es dahin auszulegen, dass die Wirkungen der Richtlinie 93/89
bis zum Tag des Inkrafttretens der an ihre Stelle getretenen Richtlinie 1999/62 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung
bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge aufrecht blieben, d. h. bis zum 20. Juli 1999. Im Rahmen einer Nichtigkeitsklage
bezweckt nämlich die Aufrechterhaltung der Wirkungen eines vom Gerichtshof für nichtig erklärten Rechtsakts, keinen regelungsfreien
Zustand entstehen zu lassen, bis ein neuer Rechtsakt an die Stelle des für nichtig erklärten getreten ist. Dies ist nur gewährleistet,
wenn der für nichtig erklärte Rechtsakt so lange fortwirkt, bis der neue Rechtsakt seine Wirkungen entfaltet.
(vgl. Randnrn. 59-61, Tenor 4)
- 5.
- Wie sich aus Artikel 10 Absatz 2 EG in Verbindung mit Artikel 249 Absatz 3 EG ergibt, muss der Mitgliedstaat, an den eine
Richtlinie gerichtet wird, während der in dieser Richtlinie festgelegten Frist für ihre Umsetzung in nationales Recht den
Erlass von Vorschriften unterlassen, die geeignet sind, die Verwirklichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Zieles ernstlich
in Frage zu stellen. Gleichwohl sind die nationalen Gerichte in Verfahren, in denen sich ein Einzelner auf die unmittelbare
Wirkung einer Richtlinie beruft, erst nach Ablauf ihrer Umsetzungsfrist gehalten, bestehende nationale Vorschriften, die gegen
diese Richtlinie verstoßen, nicht mehr anzuwenden. Da diese Frist den Mitgliedstaaten insbesondere die für den Erlass der
Umsetzungsmaßnahmen erforderliche Zeit geben soll, kann ihnen kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie die Richtlinie nicht vor
Ablauf der Frist in ihre Rechtsordnung umsetzen.
- Was speziell die Richtlinie 1999/62 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere
Nutzfahrzeuge betrifft, so mussten die Mitgliedstaaten in der Zeit von ihrem Inkrafttreten bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist,
d. h. vom 20. Juli 1999 bis zum 1. Juli 2000, den Erlass von Vorschriften unterlassen, die geeignet waren, die Verwirklichung
des in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Zieles ernstlich in Frage zu stellen; ein Einzelner konnte sich gegenüber den Mitgliedstaaten
vor den nationalen Gerichten aber nicht auf diese Richtlinie berufen, um die Nichtanwendung einer bestehenden nationalen Vorschrift
zu erreichen, die gegen die Richtlinie verstößt.
(vgl. Randnrn. 66-69, Tenor 5)