61995C0028

Verbundene Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 17. September 1996. - A. Leur-Bloem gegen Inspecteur der Belastingdienst/Ondernemingen Amsterdam 2. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Gerechtshof Amsterdam - Niederlande. - Rechtssache C-28/95. - Bernd Giloy gegen Hauptzollamt Frankfurt am Main-Ost. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Hessisches Finanzgericht Kassel - Deutschland. - Rechtssache C-130/95. - Artikel 177 - Zuständigkeit des Gerichtshofes - Nationale Rechtsvorschriften, die Gemeinschaftsvorschriften übernehmen.

Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-04161


Schlußanträge des Generalanwalts


1 In der Rechtssache C-28/95, Leur-Blöm gegen Inspecteur der Belastingdienst/Ondernemingen Amsterdam, ersucht der Gerechtshof Amsterdam den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Auslegung der Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen (nachstehend: Steuerrichtlinie oder Richtlinie)(1). In der Rechtssache C-130/95, Bernd Giloy gegen Hauptzollamt Frankfurt am Main-Ost, ersucht das Hessische Finanzgericht um Entscheidung über die Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (nachstehend: Zollkodex)(2). Ich behandle in diesen Schlussanträgen beide Fälle, weil sie beide die Frage aufwerfen, ob der Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag für Vorabentscheidungen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zuständig ist, die ausserhalb des Geltungsbereichs des Gemeinschaftsrechts liegen, für die das Gemeinschaftsrecht aber durch nationale Rechtsvorschriften für anwendbar erklärt wird.

Hintergrund der Rechtssachen und Fragen der vorlegenden Gerichte

Rechtssache C-28/95, Leur-Blöm

2 Der Gerechtshof Amsterdam ersucht den Gerichtshof um eine erste Entscheidung über die Auslegung der Steuerrichtlinie, insbesondere des Begriffes "Austausch von Anteilen" in deren Artikel 2 Buchstabe d.

3 Die Richtlinie dient dazu, Steuerhindernisse für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensanteilen und den Austausch von Anteilen innerhalb der Gemeinschaft zu beseitigen. Nach den meisten Steuersystemen wird der Wertzuwachs, den Gesellschafter bei der Einbringung von Beteiligungen und Gesellschaften bei der Übertragung von Anteilen auf eine andere Gesellschaft erzielen, besteuert. Im innerstaatlichen Bereich wird häufig eine Steuererleichterung gewährt, wenn der Vorgang mit einer Maßnahme der Konzernbildung oder -umstrukturierung zusammenhängt. Die mögliche Erleichterung ist jedoch von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich, und vor Erlaß der Richtlinie waren innergemeinschaftliche Vorgänge davon manchmal gar nicht erfasst.

4 In den Begründungserwägungen der Richtlinie heisst es: "Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensanteilen und der Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, können notwendig sein, um binnenmarktähnliche Verhältnisse in der Gemeinschaft zu schaffen und damit die Errichtung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes zu gewährleisten. Sie dürfen nicht durch besondere Beschränkungen, Benachteiligungen oder Verfälschungen aufgrund von steuerlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten behindert werden. Demzufolge müssen wettbewerbsneutrale steuerliche Regelungen für diese Vorgänge geschaffen werden, um die Anpassung von Unternehmen an die Erfordernisse des Gemeinsamen Marktes, eine Erhöhung ihrer Produktivität und eine Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf internationaler Ebene zu ermöglichen."(3)

5 Weiter ist in den Begründungserwägungen ausgeführt, daß sich dieses Ziel nur durch Einführung eines gemeinsamen Steuersystems erreichen lässt. Dieses Steuersystem "muß eine Besteuerung anläßlich einer Fusion, Spaltung, Einbringung von Unternehmensteilen oder eines Austauschs von Anteilen vermeiden, unter gleichzeitiger Wahrung der finanziellen Interessen des Staates der einbringenden oder erworbenen Gesellschaft".(4)

6 Diese beiden Zielvorgaben werden im wesentlichen derart umgesetzt, daß die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, die Besteuerung des Wertzuwachses, der bei der Einbringung von Unternehmensanteilen oder Anteilen im Zusammenhang mit solchen Vorgängen anfällt, aufzuschieben, ihnen aber die Möglichkeit belassen wird, die aufgeschobene Steuer zu erheben, wenn die übernehmende Gesellschaft die Unternehmensanteile letztlich veräussert oder die Gesellschafter die bei einem Austausch von Anteilen hinzugewonnenen Anteile realisieren.

7 Nach Artikel 11 der Richtlinie brauchen die Mitgliedstaaten die Richtlinie nicht anzuwenden, wenn der hauptsächliche Beweggrund oder einer der hauptsächlichen Beweggründe eines Vorgangs die Steuerhinterziehung oder -umgehung ist.

8 An dem Vorgang, um den es im Ausgangsverfahren geht, sind nicht Gesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten beteiligt, er ist vielmehr rein auf die Niederlande beschränkt. Frau Leur-Blöm ist die Alleingesellschafterin und Geschäftsführerin der Phönix Uitzendorganisatie BV (Uitzendorganisatie) und der Phönix Industrial BV (Industrial). Beide Gesellschaften haben eine Erlaubnis zum Betreiben einer Leiharbeitsvermittlung. Diese Erlaubnisse haben einen Verkehrswert. Frau Leur-Blöm beabsichtigt, die Anteile einer bereits bestehenden Gesellschaft mit beschränkter Haftung, der Phönix Holding BV (Holding), zu erwerben. Das gezeichnete und eingezahlte Gesellschaftskapital dieser BV beträgt 35 000 HFL. Am 31. Dezember 1991 besaß die Gesellschaft kein Aktivvermögen und ihre kurzfristigen Schulden beliefen sich auf 2 779 HFL. Am 31. Dezember 1992 bestanden weder ein Aktivvermögen noch kurzfristige Verbindlichkeiten. Frau Leur-Blöm möchte ihre Anteile an den Gesellschaften Uitzendorganisatie und Industrial gegen Anteile der Holding tauschen, die damit Alleininhaberin der Anteile dieser Gesellschaften würde.

9 Im Ausgangsverfahren beanstandet Frau Leur-Blöm einen Vorbescheid der niederländischen Steuerbehörden zu dem Vorgang. Nach ihrer Auffassung stellt der beabsichtigte Anteilsaustausch eine Fusion von Anteilen dar, die die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung nach Artikel 14b Absatz 2 des niederländischen Einkommensteuergesetzes von 1964 erfuelle. Gemäß Artikel 14b Absatz 1 gilt der Wertzuwachs aus der Veräusserung von Anteilen im Rahmen einer "Fusion von Anteilen" (aandelenfusie) nicht als zu versteuernder Gewinn. Nach Artikel 14b Absatz 2 wird eine Fusion von Anteilen als gegeben angesehen, wenn:

a) eine in den Niederlanden ansässige Gesellschaft gegen Übertragung eigener Anteile oder Gewinnanteilscheine, gegebenenfalls mit einer Zuzahlung, einen Bestand an Anteilen an einer anderen in den Niederlanden ansässigen Gesellschaft erwirbt, der es ihr ermöglicht, in der letztgenannten Gesellschaft mehr als die Hälfte der Stimmrechte auszuüben, um das Unternehmen dieser Gesellschaft und das einer anderen in finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht dauerhaft zu einer Einheit zu verbinden.

10 Artikel 14b Absatz 2 Buchstabe b enthält eine gleichlautende Definition der Fusion von Anteilen für innergemeinschaftliche Vorgänge. Artikel 14b Absatz 2 Buchstabe c enthält eine ähnlich lautende Definition, jedoch mit einer strengeren Anforderung in bezug auf die Stimmrechte, für Fusionen von Anteilen unter Beteiligung eines oder mehrerer Unternehmen mit Sitz ausserhalb der Gemeinschaft.

11 Nach Artikel 14b Absatz 7 kann der Minister den Steuerbehörden gestatten, Artikel 14b entsprechend anzuwenden, wenn eine oder beide der zwei in Artikel 14b Absatz 2 Buchstaben a oder b genannten Gesellschaften kein Unternehmen betreibt bzw. betreiben.

12 Die Steuerbehörden sind der Auffassung, daß der beabsichtigte Vorgang den Anforderungen des Artikels 14b Absatz 2 Buchstabe a nicht genügt, weil der Erwerb der Anteile an den beabsichtigten Tochtergesellschaften durch die beabsichtigte Holding-Gesellschaft nicht dazu diene, die Tochtergesellschaften in finanzieller und wirtschaftlicher Sicht zu einer grösseren Einheit zu verbinden. Eine solche Einheit habe bereits bestanden, da beide Gesellschaften denselben Geschäftsführer und Alleingesellschafter hätten.

13 Da der Vorgang, um den es im Ausgangsverfahren geht, rein auf die Niederlande beschränkt ist, fällt er nicht unter die Richtlinie, die nach ihrem Artikel 1 nur für den "Austausch von Anteilen" Anwendung findet, "wenn daran Gesellschaften aus zwei oder mehr Mitgliedstaaten beteiligt sind". Das vorlegende Gericht meint aber, daß nach dem Willen des niederländischen Gesetzgebers Artikel 14b Absatz 2 Buchstabe a für innerstaatliche und Buchstabe b für innergemeinschaftliche Fusionen von Anteilen gleich auszulegen seien. Es stützt diese Auffassung auf den Wortlaut dieser Bestimmungen, der für innerstaatliche und innergemeinschaftliche Vorgänge derselbe sei, und auf ihre Entstehungsgeschichte, insbesondere den Teil 3.5 Absatz 2 der Begründung des Gesetzentwurfs durch den Finanzminister (Kamerstukken II, 1991-1992, 22 338, Nr. 3). Dort hat der Finanzminister nach Erläuterung der Änderungen, die zur Umsetzung der Richtlinie erforderlich seien, ausgeführt, daß es nach dem Gemeinschaftsrecht formal zwar nicht erforderlich sei, auf innerstaatliche Fusionen von Anteilen die gleichen (günstigen) Bedingungen anzuwenden wie auf innergemeinschaftliche Fusionen, daß es zur Verwirklichung des Binnenmarkts aber wünschenswert sei, die beiden Kategorien von Vorgängen gleich zu behandeln.

14 Das vorlegende Gericht kommt zu dem Ergebnis, daß der Beantwortung der Frage, ob im vorliegenden Fall eine Fusion von Anteilen im Sinne des Artikels 14b Absatz 2 Buchstabe a des Gesetzes gegeben sei, die Vorschriften und der Zweck der Richtlinie zugrunde zu legen seien. Es hat daher dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

Können dem Gerichtshof auch dann Fragen nach der Auslegung und dem Zweck einer Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vorgelegt werden, wenn die Richtlinie in dem konkreten Fall nicht unmittelbar anwendbar ist, der konkrete Fall nach dem Willen des nationalen Gesetzgebers aber in gleicher Weise zu behandeln ist wie ein Fall, auf den die Richtlinie sich bezieht?

Liegt ein Austausch von Anteilen im Sinne von Artikel 2 Buchstabe d der Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 vor, wenn die erwerbende Gesellschaft im Sinne von Artikel 2 Buchstabe h nicht selbst ein Unternehmen betreibt?

Liegt ein Austausch von Anteilen in dem genannten Sinne nicht vor, wenn dieselbe natürliche Person, die vor dem Austausch Alleingesellschafter und Geschäftsführer der erworbenen Gesellschaften war, nach dem Austausch Geschäftsführer und Alleingesellschafter der erwerbenden Gesellschaft ist?

Liegt ein Austausch von Anteilen in dem genannten Sinne nur vor, wenn der Austausch dazu dient, das Unternehmen der erwerbenden Gesellschaft und das einer anderen Gesellschaft in finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht dauerhaft zu einer Einheit zu verbinden?

Liegt ein Austausch von Anteilen in dem genannten Sinne nur vor, wenn der Austausch dazu dient, die Unternehmen von zwei oder mehr erworbenen Gesellschaften in finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht dauerhaft zu einer Einheit zu verbinden?

Ist der Austausch von Anteilen, der einem horizontalen steuerlichen Verlustausgleich zwischen den beteiligten Gesellschaften innerhalb einer steuerlichen Einheit im Sinne von Artikel 15 des Körperschaftsteuergesetzes (Wet op de Vennootschapsbelasting) von 1969 dient, ein hinreichender vernünftiger wirtschaftlicher Grund im Sinne von Artikel 11 der Richtlinie?

15 Die niederländische Regierung widerspricht der Auffassung des vorlegenden Gerichts, daß Artikel 14b Absatz 2 Buchstaben a und b des Gesetzes von 1964 in gleicher Weise auszulegen seien. Das vorlegende Gericht habe der Erläuterung des Ministers zuviel Gewicht beigemessen.

Rechtssache C-130/95, Giloy

16 In dieser Rechtssache ersucht das Hessische Finanzgericht den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 244 des Zollkodex, der folgendes bestimmt:

"Durch die Einlegung des Rechtsbehelfs wird die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung nicht ausgesetzt.

Die Zollbehörden setzen jedoch die Vollziehung der Entscheidung ganz oder teilweise aus, wenn sie begründete Zweifel an der Rechtmässigkeit der angefochtenen Entscheidung haben oder wenn dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte.

Bewirkt die angefochtene Entscheidung die Erhebung von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben, so wird die Aussetzung der Vollziehung von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht. Diese Sicherheitsleistung braucht jedoch nicht gefordert zu werden, wenn eine derartige Forderung aufgrund der Lage des Schuldners zu ernsten Schwierigkeiten wirtschaftlicher oder sozialer Art führen könnte."

17 In dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit geht es nicht um Einfuhrabgaben, sondern um Umsatzsteuer, für die der Zollkodex aufgrund deutscher Rechtsvorschriften gilt. Am 28. März 1990 erließen die deutschen Zollbehörden gegen Herrn Giloy einen Bescheid, mit dem dieser für eine Einfuhrumsatzsteuerschuld in Höhe von 293 870,76 DM in Anspruch genommen wurde. Die Anfechtungsklage von Herrn Giloy gegen diesen Bescheid ist noch nicht erledigt.

18 Am 16. August 1994 wurde die Pfändung des Arbeitseinkommens von Herrn Giloy verfügt. Als sein Arbeitgeber von der Höhe der Forderung erfuhr, kündigte er mit Schreiben vom 31. August 1994 das Arbeitsverhältnis. Seither bezieht Herr Giloy Sozialhilfe. Herr Giloy stellte bei dem vorlegenden Gericht einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Bescheides vom 28. März 1990. Er trägt vor, daß begründete Zweifel an der Rechtmässigkeit dieses Bescheides bestuenden und verweist insoweit auf das Klageverfahren. Unabhängig davon müsse eine Aussetzung der Vollziehung schon deswegen gewährt werden, weil ihm ein unersetzbarer Schaden entstehen könne und bereits entstanden sei: Infolge der Maßnahmen zur Vollstreckung der Forderung durch die Gehaltspfändung habe er seinen Arbeitsplatz verloren und sei nunmehr auf Sozialhilfe angewiesen. Sein früherer Arbeitgeber habe ihm versichert, er werde ihn wieder einstellen, wenn eine Vollstreckung aus dem angegriffenen Bescheid nicht drohe. Im übrigen könne von ihm gemäß Artikel 244 Absatz 3 des Zollkodex keine Sicherheitsleistung gefordert werden, weil er aufgrund seiner persönlichen wirtschaftlichen Lage eine solche Sicherheit nicht aufbringen könne.

19 Die deutschen Behörden erwidern, daß keine begründeten Zweifel an der Rechtmässigkeit der angefochtenen Entscheidung bestuenden. Es könne auch kein unersetzbarer Schaden entstehen, weil die bisherigen Ermittlungen ergeben hätten, daß weitere Vollstreckungsmaßnahmen derzeit erfolglos wären. Erst wenn Herr Giloy wieder erwerbstätig sei, könnten weitere Vollstreckungsmaßnahmen vorgenommen werden, denen dann allerdings infolge der deutschen Unpfändbarkeitsbestimmungen enge Grenzen gesetzt seien; damit sei sichergestellt, daß ihm, auch wenn er wieder arbeite, kein unersetzbarer Schaden entstehe.

20 Um bei der Lösung des Rechtsstreits Unterstützung zu erhalten, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

1. Stehen die beiden in Artikel 244 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften genannten Voraussetzungen

- begründete Zweifel an der Rechtmässigkeit

oder

- unersetzbarer Schaden für den Beteiligten

völlig unabhängig nebeneinander, so daß eine Aussetzung der Vollziehung auch dann zu gewähren ist, wenn wegen der Rechtmässigkeit des Abgabenbescheides, hinsichtlich dessen die Aussetzung der Vollziehung begehrt wird, keine Zweifel bestehen, die Möglichkeit des Eintritts eines unersetzbaren Schadens für den Beteiligten aber bejaht wird?

Falls die erste Frage bejaht wird:

2. Schließt das Vorliegen der im zweiten Anstrich genannten Voraussetzung zwangsläufig die Anforderung einer Sicherheitsleistung aus, oder bedarf es dazu weiterer - wenn ja welcher - Voraussetzungen?

3. Stellt der drohende - der eventuell infolge der Fälligkeit der Abgabenforderung schon eingetretene - Verlust des Arbeitsplatzes eines "ernste Schwierigkeit wirtschaftlicher oder sozialer Art" dar, auch wenn infolge der innerstaatlichen Gesetze das Existenzminimum z. B. durch Sozialhilfe gesichert wird?

4. Ist bei Gewährung von Aussetzung der Vollziehung die Sicherheitsleistung immer in Höhe des Abgabenbetrags festzusetzen, oder besteht die Möglichkeit, diese unter Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Situation des Antragstellers auf einen Teilbetrag zu beschränken?

21 Die Fragen beruhen auf der Annahme, daß Artikel 244 des Zollkodex für die im Ausgangsrechtsstreit fragliche Einfuhrumsatzsteuerschuld gilt. Die Annahme des vorlegenden Gerichts, Einfuhrumsatzsteuer sei eine Einfuhrabgabe im Sinne des Zollkodex, ist jedoch falsch. Gemäß Artikel 4 Absatz 10 des Zollkodex sind "Einfuhrabgaben" nur Zölle und Abgaben mit gleicher Wirkung sowie Abschöpfungen und sonstige bei der Einfuhr erhobene Abgaben, die im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik oder bestimmter landwirtschaftlicher Regelungen vorgesehen sind. Umsatzsteuer fällt nicht darunter.

22 Wie bereits erwähnt, scheint jedoch Artikel 244 des Zollkodex aufgrund deutscher Rechtsvorschriften für den vorliegenden Rechtsstreit zu gelten. Die einschlägigen Bestimmungen sind in § 69 der Finanzgerichtsordnung enthalten. § 69 Absatz 2 legt die Voraussetzungen fest, unter denen die Steuerbehörden die Vollziehung aussetzen können, und § 69 Absatz 3 sieht vor, daß diese Voraussetzungen für die Finanzgerichte sinngemäß gelten. Die Kommission weist in ihren schriftlichen Erklärungen darauf hin, daß der Wortlaut von § 69 Absatz 2, der auf die Zeit vor Inkrafttreten des Zollkodex zurückgehe, von Artikel 244 des Zollkodex etwas abweiche und angepasst hätte werden müssen, um dessen Wortlaut zu entsprechen. Jedoch bestehe in der deutschen Rechtsprechung und Literatur dahin gehend Einigkeit, daß die Zollbehörden Artikel 244 des Zollkodex anzuwenden hätten. Die deutsche Regierung führt in ihren Antworten auf zwei Fragen des Gerichtshofes aus, daß § 69 der Finanzgerichtsordnung für das Verfahren vor den Finanzgerichten auf die für die Finanzbehörden geltenden Vorschriften verweise; § 21 Absatz 2 des deutschen Umsatzsteuergesetzes sehe als allgemeine Regel vor, daß für die Einfuhrumsatzsteuer die Vorschriften für Zölle sinngemäß gälten.

23 Beide Fälle werfen die Frage auf, ob der Gerichtshof nach Artikel 117 EG-Vertrag zur Beantwortung von Fragen eines nationalen Gerichts nach der Auslegung von Gemeinschaftsrecht zuständig ist, die sich im Rahmen eines Rechtsstreits stellen, in dem Gemeinschaftsrecht nicht als solches Anwendung findet, sondern durch nationales Recht in einen aussergemeinschaftlichen Rahmen übertragen wird. Dieselbe Frage hat sich in einer Reihe früherer Rechtssachen gestellt, und es dürfte sinnvoll sein, zunächst einen kurzen Überblick über die früheren Entscheidungen des Gerichtshofes zu geben.

Einschlägige Rechtsprechung

24 Der Gerichtshof ging auf die Frage erstmals im Jahr 1985 in der Rechtssache Thomasdünger(5) ein, in der er um Entscheidung über die Auslegung des Gemeinsamen Zolltarifs in einem Verfahren ersucht wurde, das die Einfuhr von Waren aus Frankreich nach Deutschland betraf, d. h. einem Sachverhalt, der nicht unter den GZT fällt. In seinen Schlussanträgen führte Generalanwalt Mancini aus, daß das Interesse der Firma Thomasdünger an einer Entscheidung über den Tarif daher rühre, daß bestimmte deutsche Verwaltungen, so die Bundesbahn, die Tarifierung zur Festsetzung von Kosten heranzögen. Er plädierte dafür, die Fragen des vorlegenden Gerichts nicht zu beantworten, weil "der Gerichtshof ... scheinbar die in diesen genannten Normen auslegen, in Wirklichkeit aber innerstaatliche Vorschriften beurteilen [würde], in die diese Normen übernommen worden sind, wobei sie ihren zwingenden Charakter gänzlich verloren haben."

25 Der Gerichtshof tat diesen Einwand mit dem blossen Hinweis auf den altbekannten Grundsatz ab, "daß der Gerichtshof eine solche Frage - von Ausnahmefällen, in denen die auszulegende Vorschrift des Gemeinschaftsrechts auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens offenkundig nicht anwendbar ist, abgesehen - dem vorlegenden Gericht überlässt; dessen Sache ist es, anhand des Sachverhalts zu prüfen, ob die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage zur Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits erforderlich ist".

26 Im Jahr 1990, in den Urteilen Dzodzi(6) und Gmurzynska-Bscher(7), ließ sich der Gerichtshof hingegen auf die Frage ein. Frau Dzodzi, eine togolesische Staatsangehörige, heiratete einen belgischen Staatsangehörigen, der kurz darauf starb. Nach dem Tod ihres Ehemanns beantragte Frau Dzodzi als Ehefrau des Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Gemeinschaft in Belgien die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Es war klar, daß der Sachverhalt ein rein innerstaatlicher war und keinen Berührungspunkt mit dem Gemeinschaftsrecht aufwies. Allerdings war nach einer belgischen Rechtsvorschrift der ausländische Ehegatte eines belgischen Staatsangehörigen einem Angehörigen der Gemeinschaft gleichzustellen. Das nationale Gericht legte diese Vorschrift offenbar dahin aus, daß sie die Anwendung der für Ehegatten von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten mit Wohnsitz in Belgien geltenden Gemeinschaftsvorschriften auf mit belgischen Staatsangehörigen verheiratete Ausländer erstrecke. Daher fragte das Gericht, um bei der Lösung des Rechtsstreits Unterstützung zu erhalten, ob Frau Dzodzi ein Recht zum Aufenthalt und Verbleiben in Belgien gehabt hätte, wenn ihr Ehemann Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats als Belgien gewesen wäre.

27 In der Rechtssache Gmurzynska-Bscher verhielt es sich ähnlich wie in der Rechtssache Giloy. Das deutsche Umsatzsteuerrecht verwies für die Gewährung von Steuerbefreiungen und -ermässigungen auf die Nomenklatur des Gemeinsamen Zolltarifs. Frau Gmurzynska-Bscher wollte aus den Niederlanden ein Kunstwerk nach Deutschland einführen und beantragte zur Feststellung ihrer Umsatzsteuerschuld eine Zolltarifauskunft.

28 Generalanwalt Darmon schloß sich der Auffassung von Generalanwalt Mancini in der Rechtssache Thomasdünger an und kam in beiden Fällen zu dem Ergebnis(8), daß der Gerichtshof für die Beantwortung der Fragen des nationalen Gerichts nicht zuständig sei. Der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens, die Einheitlichkeit der Wirkungen des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten, betreffe nur den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, so wie er in diesem und nur in diesem definiert werde; die Verweisung auf Gemeinschaftsrecht könne den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und damit die Zuständigkeit des Gerichtshofes nicht ausdehnen. Es dürfe nicht hingenommen werden, daß die Rolle des Gerichtshofes darauf beschränkt werde, Stellungnahmen oder Gutachten der Art zu liefern, die ein qualifizierter Rechtsgelehrter manchmal dem räumlich zuständigen Gericht zu liefern habe, wenn dieses ausländisches Recht anwenden müsse.

29 Der Gerichtshof wich aber ein zweites Mal von der Auffassung seines Generalanwalts ab und beantwortete in beiden Rechtssachen, Dzodzi und Gmurzynska-Bscher, die Fragen des nationalen Gerichts. Im Urteil Dzodzi stellte der Gerichtshof fest:

"Weder aus dem Wortlaut des Artikels 177 noch aus dem Zweck des durch diesen Artikel eingeführten Verfahrens ergibt sich, daß die Verfasser des Vertrages solche Vorlagen von der Zuständigkeit des Gerichtshofes ausschließen wollten, die eine Gemeinschaftsbestimmung in dem besonderen Fall betreffen, daß das nationale Recht eines Mitgliedstaats auf den Inhalt dieser Bestimmung verweist, um die auf einen rein internen Sachverhalt dieses Staates anwendbaren Vorschriften zu bestimmen.

Es besteht im Gegenteil für die Gemeinschaftsrechtsordnung ein offensichtliches Interesse daran, daß jede Bestimmung des Gemeinschaftsrechts unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden soll, eine einheitliche Auslegung erhält, damit künftige unterschiedliche Auslegungen verhindert werden."(9)

30 Der Gerichtshof wies darauf hin, daß sich seine Rolle darauf beschränke, aus Buchstaben und Geist der Gemeinschaftsvorschriften deren Bedeutung abzuleiten, und daß es allein den nationalen Gerichten obliege, die so ausgelegten Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts unter Berücksichtigung der tatsächlichen und rechtlichen Umstände des Rechtsstreits anzuwenden. Der Gerichtshof sei grundsätzlich nicht zur Prüfung der Umstände verpflichtet, die die nationalen Gerichte veranlasst hätten, ihm die Fragen vorzulegen, und unter denen sie die gemeinschaftsrechtliche Bestimmung, um deren Auslegung sie ihn ersucht hätten, anzuwenden beabsichtigten. Weiter führte er aus:

"Anders verhielte es sich nur dann, wenn entweder klar zutage läge, daß das Verfahren des Artikels 177 zweckentfremdet wurde und den Gerichtshof in Wirklichkeit veranlassen soll, aufgrund eines fiktiven Rechtsstreits zu entscheiden, oder aber offensichtlich wäre, daß die Gemeinschaftsbestimmung, deren Auslegung vom Gerichtshof begehrt wird, nicht anwendbar sein kann.

Wird das Gemeinschaftsrecht durch die Bestimmungen des nationalen Rechts für anwendbar erklärt, so hat allein das nationale Gericht die genaue Tragweite dieser Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht zu beurteilen. Ist es der Auffassung, daß der Inhalt einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung aufgrund dieser Verweisung auf einen rein internen Sachverhalt anwendbar ist, der dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit zugrunde liegt, kann es dem Gerichtshof unter den Voraussetzungen des Artikels 177 EWG-Vertrag, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofes ausgelegt worden sind, eine Frage zur Vorabentscheidung vorlegen.

Die Zuständigkeit des Gerichtshofes beschränkt sich jedoch auf die Prüfung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts. Er kann in seiner Antwort an das vorlegende Gericht nicht die allgemeine Systematik der Bestimmungen des nationalen Rechts berücksichtigen, die gleichzeitig mit der Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht den Umfang dieser Verweisung festlegen. Für die Berücksichtigung der Grenzen, die der nationale Gesetzgeber der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf rein interne Sachverhalte, auf die es nur mittelbar kraft des nationalen Gesetzes anwendbar ist, setzen wollte, gilt das innerstaatliche Recht, so daß dafür ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind."(10)

31 Den Urteilen Dzodzi und Gmurzynska-Bscher folgte bald darauf die Rechtssache Tomatis und Fulchiron(11), in der das nationale Gericht um Entscheidung über den Gemeinsamen Zolltarif ersuchte, um den nach nationalem Recht für bestimmte Waren geltenden Umsatzsteuersatz zu ermitteln. Unter etwas anderen Umständen kamen sie auch zum Tragen in den Rechtssachen Fournier(12) und Federconsorzi(13). In der Rechtssache Fournier wurde der Gerichtshof um Auslegung einer Richtlinie der Gemeinschaft ersucht, die - etwas ungewöhnlich - durch privatrechtliche Vereinbarungen für anwendbar erklärt worden war. Das nationale Gericht hatte darüber zu befinden, welches einer Reihe nationaler Versicherungsbüros den Fourniers endgültig in bezug auf einen Verkehrsunfall in Frankreich haftete. Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 72/166(14) sah zwischen den sechs nationalen Versicherungsbüros den Abschluß eines Übereinkommens vor, wonach sich jedes nationale Büro nach Maßgabe der eigenen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften betreffend die Pflichtversicherung zur Regelung von Schadensfällen verpflichtet, die sich in seinem Gebiet ereignen und durch den Verkehr von versicherten oder nicht versicherten Fahrzeugen verursacht werden, die ihren gewöhnlichen Standort im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats haben. Die meisten Bestimmungen der Richtlinie wurden erst nach Abschluß des Übereinkommens wirksam. Das nationale Gericht ersuchte um Entscheidung über die Bedeutung des Begriffes "Gebiet, in dem das Fahrzeug seinen gewöhnlichen Standort hat" in Artikel 1 Absatz 4 der Richtlinie, als Hilfestellung bei der Auslegung dieses Begriffes in dem von den Versicherungsbüros abgeschlossenen Übereinkommen.

32 In meinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache schlug ich vor, daß der Gerichtshof seine Zuständigkeit entsprechend dem im Urteil Dzodzi niedergelegten Grundsatz bejahen sollte. Zwar würde sich dieser Grundsatz nicht notwendigerweise auf alle Fälle erstrecken, in denen es um die Auslegung eines privatrechtlichen Vertrages ging, der Begriffe des Gemeinschaftsrechts enthielt, doch stellte in diesem Fall das fragliche Abkommen einen wesentlichen Teil des von der Richtlinie 72/166 eingeführten Systems dar. Der Abschluß des Abkommens war nicht nur in der Richtlinie vorgesehen, sondern Bedingung für das Inkrafttreten der meisten ihrer Bestimmungen.(15)

33 Der Gerichtshof beantwortete in seinem Urteil die Frage des nationalen Gerichts, ohne auf die Frage der Zuständigkeit besonders einzugehen. Er wies jedoch in bezug auf ein Vorbringen zur Auslegung der Richtlinie darauf hin, daß es "Sache des vorlegenden Gerichts [ist], das allein für die Auslegung des zwischen den nationalen Büros geschlossenen Abkommens zuständig ist, die darin verwendeten Begriffe in dem von ihm für angemessen erachteten Sinne auszulegen, ohne daß es dabei an die Bedeutung gebunden wäre, die dem identischen Ausdruck der Richtlinie zukommt"(16).

34 In der Rechtssache Federconsorzi ersuchte ein italienisches Gericht um Entscheidung über die Auslegung mehrerer Bestimmungen von Verordnungen des Rates und der Kommission im Agrarsektor, und zwar im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der italienischen Interventionsstelle und der Federconsorzi, einer Auftragnehmerin für Interventionsmaßnahmen im Olivenölsektor, bei dem es um die Höhe des Betrages ging, den die Federconsorzi der Interventionsstelle für eine bestimmte Menge Olivenöl, die aus einem der Lager der Federconsorzi gestohlen worden war, schuldete. Nach dem Vertrag zwischen den Parteien haftete der Auftragnehmer für "Verluste, ... die er zu vertreten hat, in Höhe des Wertes, der in den zu diesem Zeitpunkt geltenden gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften festgelegt ist".

35 Der Gerichtshof folgte den Schlussanträgen des Generalanwalts Van Gerven und entschied, daß der im Urteil Dzodzi niedergelegte Grundsatz gelte; die fragliche Vertragsbestimmung verweise für die Ermittlung des Umfangs der Haftung einer der beiden Parteien auf den Inhalt von Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts.

36 In seiner letzten Entscheidung zu dieser Frage im Urteil Kleinwort Benson(17), einer dem Gerichtshof nicht gemäß Artikel 177 EG-Vertrag, sondern gemäß dem Protokoll betreffend die Auslegung des Brüsseler Übereinkommens(18) vorgelegten Rechtssache, hat der Gerichtshof die Grenzen seiner Zuständigkeit enger gezogen. Der englische Court of Appeal hatte um Auslegung der Wendungen "matters relating to a contract" ("wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden") in Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens und "matters relating to tort, delict or quasi-delict" ("wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden") in Artikel 5 Nummer 3 des Übereinkommens ersucht. Es ging ihm mit seiner Frage um Unterstützung bei der Auslegung nicht des Übereinkommens selbst, sondern des Anhangs 4 des Civil Jurisdiction and Judgement Act 1982 (Gesetz von 1982 über die gerichtliche Zuständigkeit und Urteile in Zivilsachen), das in enger Anlehnung an das Übereinkommen gestaltete Bestimmungen über die Aufteilung der Zuständigkeit zwischen den Gerichten der verschiedenen Teile des Vereinigten Königreichs enthielt. Die Bestimmungen des Anhangs 4 waren jedoch nicht immer mit denen der jeweils geltenden Fassung des Übereinkommens identisch. So wich Artikel 5 (3) des Anhangs 4 ab (die Wendung "matters relating to tort, delict or quasi-delict" des Artikels 5 Nummer 3 des Übereinkommens, nach deren Auslegung gefragt war, war darin jedoch enthalten). Section 47 (1) und (3) des Gesetzes von 1982 sah die Möglichkeit vor, Änderungen von Anhang 4 vorzunehmen, darunter auch "Änderungen, die eine Divergenz zwischen Vorschriften des Anhangs 4 ... und den entsprechenden Vorschriften des Titels II des Übereinkommens von 1968 ... herbeiführen sollen". Das Gesetz von 1982 sah auch mehrere Regeln zur Auslegung des Übereinkommens und des Anhangs 4 vor. Section 3 (1) des Gesetzes sah vor, daß "jede Frage nach der Bedeutung oder Wirkung einer Vorschrift des Übereinkommens, die nicht dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach dem Protokoll von 1971 vorgelegt wird, ... gemäß den vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätzen und allen einschlägigen Entscheidungen des Gerichtshofes entschieden" wird. Dagegen waren nach Section 16 (3) (a) des Gesetzes von 1982, wenn es um Fragen nach der Bedeutung oder Wirkung einer Vorschrift des Anhangs 4 ging, "alle vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Zusammenhang mit Titel II des Übereinkommens von 1968 aufgestellten einschlägigen Grundsätze und alle einschlägigen Entscheidungen dieses Gerichtshofes zur Bedeutung oder Wirkung einer Vorschrift dieses Titels zu berücksichtigen".

37 Generalanwalt Tesauro vertrat nach einer detaillierten Untersuchung der Thematik den Standpunkt, daß der Gerichtshof für eine Entscheidung über die Fragen des Court of Appeal nach der Auslegung des Übereinkommens nicht zuständig sei, und er schlug dem Gerichtshof darüber hinaus vor, seine Rechtsprechung Dzodzi zu überprüfen. Ich werde im folgenden eine Reihe der von Generalanwalt Tesauro erörterten Punkte unmittelbar oder mittelbar aufgreifen.

38 Der Gerichtshof folgte zwar der Aufforderung des Generalanwalts, seine Rechtsprechung zu überprüfen, nicht, entschied aber, daß er für die Entscheidung über die Fragen des Court of Appeal nicht zuständig war. Der Gerichtshof wies darauf hin, daß die Regelung des Vereinigten Königreichs keine unmittelbare und unbedingte Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht enthalte, die dieses Recht in der internen Rechtsordnung anwendbar gemacht hätte, sondern das Übereinkommen nur als Muster genommen und dessen Wortlaut nicht völlig übernommen habe. Zudem habe das Gesetz von 1982 ausdrücklich die Möglichkeit vorgesehen, Änderungen vorzunehmen, die eine Divergenz zwischen den nationalen Vorschriften und den entsprechenden Vorschriften des Übereinkommens hätten herbeiführen sollen. Unter diesen Umständen seien die Vorschriften des Übereinkommens durch das Recht des betreffenden Vertragsstaats nicht als solche, und sei es auch ausserhalb des Geltungsbereichs dieses Übereinkommens, für anwendbar erklärt worden.

39 Nach dem Gesetz von 1982 seien die Gerichte des Vereinigten Königreichs nicht verpflichtet gewesen, die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten unter absoluter und unbedingter Anwendung der ihnen vom Gerichtshof gegebenen Auslegung des Übereinkommens zu entscheiden. Soweit das Übereinkommen nicht anwendbar sei, hätten sie frei entscheiden können, ob die vom Gerichtshof gegebene Auslegung auch bei der Anwendung des diesem Übereinkommen entnommenen nationalen Rechts gelte. Folglich wäre die Auslegung des Gerichtshofes für das Gericht des Vereinigten Königreichs nicht verbindlich gewesen. Unter Hinweis auf das Gutachten 1/91(19) erklärte der Gerichtshof, daß nicht hingenommen werden könne, daß die Antworten, die er den Gerichten der Vertragsstaaten gebe, eine blosse Auskunfts- und keine Bindungswirkung hätten; dies würde die Aufgabe des Gerichtshofes, wie sie im Protokoll von 1971 verstanden werde, nämlich die eines Gerichts, dessen Entscheidungen verbindlich seien, verfälschen.

Vorbringen in den vorliegenden Rechtssachen

Rechtssache Leur-Blöm

40 Schriftliche Erklärungen haben in dieser Rechtssache eingereicht Frau Leur-Blöm, die deutsche und die niederländische Regierung sowie die Kommission.

41 Frau Leur-Blöm hält das Ersuchen für zulässig. Da der Zweck der Richtlinie darin bestehe, "binnenmarktähnliche Verhältnisse in der Gemeinschaft zu schaffen", dürften innerstaatliche Vorgänge nicht schlechter behandelt werden als innergemeinschaftliche. Die niederländischen Rechtsvorschriften folgten dem Grundsatz, daß beide Kategorien von Vorgängen gleich zu behandeln seien.

42 Nach Ansicht der deutschen und der niederländischen Regierung sowie der Kommission ist der Gerichtshof zur Entscheidung über die Fragen nicht zuständig. Die niederländische Regierung führt aus, daß die fraglichen nationalen Rechtsvorschriften zwar auch innerstaatliche Vorgänge erfassten, doch werde in der Gesetzesbegründung des Ministers nur darauf hingewiesen, daß es wünschenswert sei, innerstaatliche Vorgänge der gleichen Behandlung zu unterziehen wie innergemeinschaftliche. Weder diese Begründung noch die Vorschrift selbst sähen ausdrücklich die Anwendung der Richtlinienbestimmungen auf innergemeinschaftliche Vorgänge vor. Daher solle sich der Gerichtshof aus den Gründen, die er im Urteil Kleinwort Benson gegeben habe, für unzuständig erklären.

43 Die Kommission hält es zwar für wünschenswert, daß Mitgliedstaaten für ihre nationalen Vorschriften das Gemeinschaftsrecht zum Vorbild nähmen und dadurch von sich aus für eine Harmonisierung sorgten, doch bedeute dies nicht, daß für die nationalen Vorschriften die institutionellen Regeln des EG-Vertrages, insbesondere Artikel 177 gälten, auch wenn die Auslegung des Begriffes des Austausches von Anteilen für die Beilegung des Rechtsstreits erforderlich sei. Artikel 14b Absatz 2 des Gesetzes von 1964 verweise nicht auf die Richtlinie und erkläre sie auch nicht für anwendbar, sondern gebe nur - nicht einmal wortgetreu - Artikel 2d der Richtlinie wieder. Nichts könne die Niederlande von einer Änderung ihres Rechts abhalten. Anders als die Rechtsvorschriften, um die es in der Rechtssache Kleinwort Benson gegangen sei, würden die niederländischen Rechtsvorschriften das nationale Gericht nicht einmal verpflichten, die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu berücksichtigen.

44 Für die Kommission ist das Gegenargument, das auf das Erfordernis einer einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts abstellt, weder theoretisch noch praktisch überzeugend. Die Grenzen der Zuständigkeit des Gerichtshofes fielen zwangsläufig mit den Grenzen des Gemeinschaftsrechts zusammen. Die Gegenauffassung begegne schwerwiegenden Bedenken institutioneller Art. Die Zuständigkeit des Gerichtshofes würde sich nach der gesetzgeberischen Entscheidung eines Mitgliedstaats richten. Da das niederländische Recht überdies für Vorgänge unter Beteiligung von ausserhalb der Gemeinschaft ansässigen Gesellschaften die gleiche Definition des Austausches von Anteilen verwende, würde die Zuständigkeit des Gerichtshofes auch einen Austausch von Anteilen erfassen, an dem eine oder mehrere Gesellschaften aus Nichtmitgliedstaaten beteiligt seien. Schließlich könnte die Kommission wohl kaum bloß wegen einer Entscheidung des niederländischen Gesetzgebers gegen die Niederlande gemäß Artikel 169 EG-Vertrag vorgehen.

Rechtssache Giloy

45 In dieser Rechtssache hat nur die Kommission schriftliche Erklärungen abgegeben. Entgegen ihrer Auffassung in der Rechtssache Leur-Blöm hält sie es hier ungeachtet des Fehlens eines ausdrücklichen Verweises auf Artikel 244 des Zollkodex in den deutschen Rechtsvorschriften für klar, daß Artikel 244 des Zollkodex in der deutschen Rechtsordnung anwendbar sei. Das deutsche Recht enthalte deshalb eine unmittelbare und unbedingte Verweisung auf die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift, wie es im Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache Kleinwort Benson verlangt werde.

46 Auch die deutsche Regierung vertritt in ihren Antworten auf die schriftlichen Fragen des Gerichtshofes eine andere Auffassung als in der Rechtssache Leur-Blöm. Zwischen den deutschen Rechtsvorschriften und den in der Rechtssache Leur-Blöm fraglichen niederländischen Rechtsvorschriften bestehe ein Unterschied, weil der Zollkodex aufgrund von § 21 Absatz 2 des deutschen Umsatzsteuergesetzes dynamischer Bestandteil des deutschen Rechts sei. Der nationale Gesetzgeber habe sich für die Anwendung des Zollkodex entschieden und bejahe eine Auslegungszuständigkeit des Gerichtshofes, weil die Einfuhrumsatzsteuer und die Zollschuld regelmässig in einem Verfahren und einem Abgabenbescheid festgesetzt würden. Es sei daher erforderlich, daß die Vorschriften über die Zölle und die Umsatzsteuer einheitlich ausgelegt würden.

Beurteilung der Zuständigkeitsfrage

47 Auf den ersten Blick mag es überraschend erscheinen, daß der Gerichtshof, der nach dem EG-Vertrag die Aufgabe hat, "die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages [zu sichern]" (Artikel 184), seine Zuständigkeit in Fällen bejaht hat, in denen Gemeinschaftsrecht nicht anwendbar ist. Wie andere Rechtssysteme bestimmt das Gemeinschaftsrecht seinen Anwendungsbereich selbst, und es mag sachgerecht erscheinen, anzunehmen, daß das gesamte Gemeinschaftsrecht einschließlich Artikel 177 nur in diesem Bereich gilt. Artikel 177 soll innerhalb des Vertragssystems die Einheitlichkeit der Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherstellen. Es ist nicht unmittelbar ersichtlich, inwiefern diesem Zweck gedient wäre, wenn der Gerichtshof in Rechtsstreitigkeiten entscheiden würde, in denen ein Mitgliedstaat eine Gemeinschaftsvorschrift übernimmt und in einen aussergemeinschaftlichen Rahmen überträgt. Die von nationalen Gerichten in solchen Rechtsstreitigkeiten anzuwendenden Vorschriften sind nationales Recht und nicht Gemeinschaftsrecht; deshalb kann die Einheitlichkeit der Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht gefährdet sein.

48 Dieser Schwierigkeit wollte der Gerichtshof im Urteil Dzodzi wie folgt Rechnung tragen: "Es besteht ... für die Gemeinschaftsrechtsordnung ein offensichtliches Interesse daran, daß jede Bestimmung des Gemeinschaftsrechts unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden soll, eine einheitliche Auslegung erhält, damit künftige unterschiedliche Auslegungen verhindert werden"(20). Anders ausgedrückt: Wenn der Gerichtshof in Rechtsstreitigkeiten entscheidet, die in einem aussergemeinschaftlichen Rahmen auftreten, kann er die künftige falsche Anwendung von Gemeinschaftsrecht verhindern. Auf den ersten Blick hat dieses Argument einiges für sich. Wenn ein nationales Gericht meint, es benötige für seine Entscheidung die Auslegung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts, wird es mangels einer bindenden Anleitung seitens des Gerichtshofs gezwungen sein, die Auslegung der Bestimmung selbst zu suchen. Würde es zu einer falschen Auslegung dieser Bestimmung gelangen, so könnte die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts mittelbar gefährdet sein. Es ist nämlich durchaus möglich, daß andere Gerichte und Behörden des betreffenden Mitgliedstaats dieser Auslegung, obwohl sie in einem aussergemeinschaftlichen Rahmen vorgenommen wurde, bei der Anwendung der fraglichen Bestimmung in einem gemeinschaftlichen Rahmen folgen.

49 Letzten Endes ist dieses Argument aber nicht überzeugend. Die Gefahr für die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts wäre in einer solchen Situation höchstens mittelbar und vorübergehend gegeben. Es wäre klar, daß die Auslegung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts durch ein nationales Gericht nicht auf einer Entscheidung des Gerichtshofes beruht und daß diese Auslegung, sobald sie in einem gemeinschaftlichen Rahmen angewendet würde, in Frage gestellt werden könnte. Überdies lässt sich die Befürchtung des Gerichtshofes wegen derart fernliegender Gefahren für die Einheitlichkeit der Anwendung des Gemeinschaftsrechts schwer mit der Tatsache vereinbaren, daß Artikel 177 die Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in erster Linie durch nationale Gerichte will. Gemeinschaftsrecht wird täglich von nationalen Gerichten angewendet; nur in den relativ wenigen Fällen, in denen oberste Gerichte entscheiden, besteht eine Vorlagepflicht.

50 Überdies ist nicht ohne weiteres ersichtlich, wie eine Rechtsvorschrift ausserhalb ihres Rahmens, oder, um die im Urteil Dzodzi gewählte Ausdrucksweise zu verwenden, "unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden soll", ausgelegt werden kann. Die Entscheidung des Gerichtshofes im Urteil Dzodzi lässt sich vielleicht zum Teil durch die tolerante Haltung erklären, mit der der Gerichtshof damals allgemein den Ersuchen nationaler Gerichte begegnete. Der Gerichtshof pflegte die Erforderlichkeit der begehrten Entscheidung nur ganz ausnahmsweise in Frage zu stellen, insbesondere wenn klar zutage lag, daß die Entscheidung in unzulässiger Weise, d. h. mit Hilfe eines fiktiven Rechtsstreits oder in bezug auf eine Bestimmung, die offensichtlich nicht anwendbar sein konnte, eingeholt wurde.

51 Die Entscheidung im Urteil Dzodzi entspricht jedoch heute nicht mehr dem Standpunkt des Gerichtshofes. In einer Reihe jüngerer Rechtssachen seit dem im Jahr 1993 ergangenen Urteil Telemarsicabruzzo(21), maß der Gerichtshof dem Erfordernis mehr Bedeutung zu, den tatsächlichen Rahmen einer Rechtssache bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen, und verlangte dementsprechend von den vorlegenden Gerichten mit grösserer Strenge, den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen ihrer Vorabentscheidungsersuchen klar darzulegen(22). Das ist nicht nur wichtig, um zu gewährleisten, daß die vom Gerichtshof einem nationalen Gericht zu gebende Antwort für den vor diesem anhängigen Rechtsstreit erheblich ist, sondern auch deswegen, weil es häufig schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, eine Bestimmung abstrakt auszulegen.

Der unterschiedliche Rahmen von Vorschriften des Gemeinschafts- und des nationalen Rechts

52 Die Entscheidung im Urteil Dzodzi ist mit der vorgenannten Rechtsprechung unvereinbar. Wird der einem Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegende Sachverhalt nicht einmal vom Regelungszweck einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts erfasst, so wird der Gerichtshof hypothetisch um eine Auslegung der Bestimmung ausserhalb ihres eigentlichen Rahmens ersucht. Folglich geht der Gerichtshof nicht nur das Risiko ein, nicht alle erheblichen Punkte zu berücksichtigen, sondern auch durch sachfremde Faktoren irregeleitet zu werden.

53 Selbst wo zwischen Vorschriften des Gemeinschafts- und des nationalen Rechts ein enger Zusammenhang besteht, können zwischen dem Rahmen, innerhalb dessen die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts begehrt wird, und deren eigentlichem Rahmen tatsächliche Unterschiede bestehen. Z. B. ist in der Rechtssache Leur-Blöm, in der das nationale Gericht annimmt, daß die niederländische Gesetzgebung der Sache nach den Anwendungsbereich der Gemeinschaftsbestimmung ausgedehnt hat, der fragliche Vorgang innerstaatlicher Natur und bedeutet nur eine rechtliche Änderung des Eigentums an Unternehmen, die möglicherweise aus Gründen vorgenommen wurde, die mit dem niederländischen Steuerrecht zusammenhängen. Ich hätte erhebliche Bedenken dagegen, Begriffe in der Steuerrichtlinie auszulegen - noch dazu zum ersten Mal -, wenn dies vor dem Hintergrund eines Vorgangs geschieht, der offensichtlich mit der Art von Vorgängen wenig zu tun hat, die die Richtlinie regeln soll, nämlich grenzueberschreitenden Fusionen und dem Austausch von Anteilen, die dazu dienen, die Bildung grenzueberschreitender Konzernen zu fördern. Bei der Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts müsste, um die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie in ihren angemessenen Rahmen zu stellen, berücksichtigt werden, inwieweit die durch die niederländischen Vorschriften aufgestellten Voraussetzungen die Bildung grenzueberschreitender Gesellschaftsstrukturen behindern, die etwa im Fall von Unternehmen gewählt werden, die aus geschäftlichen Gründen einen Konzern bilden. Der Sachverhalt der Rechtssache Leur-Blöm bietet wohl kaum eine Grundlage für die Erörterung solcher Punkte, wie die schriftlich und mündlich vorgetragenen Ausführungen zeigen.

54 Was insbesondere die letzte Frage des vorlegenden Gerichts nach der Auslegung des Begriffes der Steuerumgehung betrifft, erregt Bedenken, daß sich aus den Akten nicht ergibt, ob der erwähnte Steuervorteil, nämlich der horizontale Verlustausgleich, in einem innergemeinschaftlichen Rahmen ein Problem darstellen würde. Um die gestellte Auslegungsfrage richtig zu würdigen, müsste wohl eine vergleichbare Situation erdacht werden, die sich zweifellos in einem innergemeinschaftlichen Rahmen ergeben könnte, vergleichbar in dem Sinne, daß der Steuervorteil nicht durch den Austausch der Anteile selbst, sondern durch die daraus resultierende Gesellschaftsstruktur entstuende. Z. B. wäre eine Situation denkbar, in der als Teil einer geschäftlich motivierten grenzueberschreitenden Konzernbildung in einem Mitgliedstaat auch aus steuerlichen Gründen eine Holding-Gesellschaft gegründet würde, z. B. um die Höhe der Steuer, die auf die Gewinne von Tochtergesellschaften in verschiedenen Ländern anfällt, zu mitteln oder um die Anwendung eines Steuerabkommens zu erreichen, das der betreffende Mitgliedstaat abgeschlossen hat. Wieder zeigt sich, daß der Sachverhalt in der Rechtssache Leur-Blöm kaum eine Grundlage bietet, alle Punkte zu erörtern, die für die Auslegung des Begriffes der Steuerumgehung im Sinne des Artikels 11 erheblich sein könnten, eines Begriffes, dessen Tragweite für die Anwendung der Richtlinie erhebliche Folgen nach sich zieht.

55 Zwar wird es nie eine Garantie dafür geben, daß der Sachverhalt einer Rechtssache die Beurteilung aller maßgeblichen Punkte zulässt. In Fällen, in denen der Gerichtshof eine Einschränkung oder ein Abweichen von früheren Entscheidungen für geboten hielt, lag dies oft daran, daß nicht alle Auswirkungen einer Entscheidung vorhersehbar waren. Diese Gefahr wäre jedoch erheblich grösser, wenn der Gerichtshof sich für eine Gruppe von Fällen für zuständig erklären würde, in denen er generell Vorschriften ausserhalb ihres eigentlichen Rahmens auslegen müsste. Es wäre meines Erachtens von Grund auf unbefriedigend, ohne tatsächlichen Bezug zu dem Sachverhalt des Verfahrens auf fiktive, nur gedanklich erschlossene Situationen abstellen zu müssen, um die erforderliche Entscheidungsgrundlage zu finden. In manchen Fällen mag es einfacher sein als in anderen, sich einen wirklichen gemeinschaftlichen Rahmen vorzustellen. Dennoch bestuende immer noch die Gefahr, erhebliche Faktoren zu übersehen oder durch sachfremde Faktoren irregeleitet zu werden. So können z. B., wie ich unten ausführen werde, sogar in den offensichtlich miteinander verwandten Tatbeständen von Einfuhrabgaben und Umsatzsteuern unterschiedliche Überlegungen gelten. Ausserdem wird es oft erforderlich sein, den Ablauf des Verfahrens vor dem Gerichtshof abzuwarten, bis der Gerichtshof mit hinreichender Sicherheit feststellen kann, ob er entscheiden kann.

Die Bedeutung der Entscheidung des Gerichtshofes für die Auslegung einer nationalen Rechtsvorschrift

56 Selbst wenn man annimmt, daß der Gerichtshof in der Lage ist, eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in einem Rechtsstreit ausserhalb eines gemeinschaftlichen Rahmens richtig auszulegen, bleibt ungewiß, ob die Entscheidung des Gerichtshofes für diesen Rechtstreit erheblich sein wird. Der Gerichtshof hat stets betont, daß es darauf ankommt, Gemeinschaftsvorschriften in ihrem Zusammenhang auszulegen, und es ist klar, daß sogar zwei gleichlautende Vorschriften des Gemeinschaftsrechts aufgrund ihres unterschiedlichen Zusammenhangs unterschiedlich auszulegen sein können. Der Gerichtshof hat im Urteil Metalsa(23) festgestellt:

"... ergibt sich ... daß die Übertragung der Auslegung einer Vertragsbestimmung auf eine vergleichbar, ähnlich oder übereinstimmend gefasste Bestimmung eines Abkommens zwischen der Gemeinschaft und einem Drittland insbesondere davon abhängt, welchen Zweck diese Bestimmungen in dem ihnen je eigenen Rahmen verfolgen; insoweit kommt dem Vergleich von Zweck und Kontext des Abkommens mit demjenigen des Vertrages erhebliche Bedeutung zu."

57 Meines Erachtens gilt dasselbe erst recht für ähnliche oder gleichlautende Vorschriften des Gemeinschafts- und des nationalen Rechts. Für die Auslegung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts maßgebliche Erwägungen, wie z. B. ihr Zweck und ihre Stellung im System und unter den Zielen des Vertrages, können bei der Auslegung der nationalen Vorschrift bedeutungslos sein.

58 So bestehen z. B. die beiden Zielvorgaben der in der Rechtssache Leur-Blöm fraglichen Richtlinie in der Beseitigung von Steuerhindernissen für die grenzueberschreitende Konzernbildung durch Aufstellung gemeinsamer Regeln für Steuererleichterungen und in der Wahrung der finanziellen Interessen der Mitgliedstaaten, indem ihnen unabhängig von der grenzueberschreitenden Komponente die Möglichkeit belassen wird, die aufgeschobene Steuer später zu erheben. Diese Zielvorgaben sind im innerstaatlichen Rahmen ohne Bedeutung.

59 Das gleiche gilt für die Erstreckung von Gemeinschaftsvorschriften, die für ein Rechtsgebiet gelten, auf ein anderes, auf Gemeinschaftsebene nicht harmonisiertes Rechtsgebiet. In der Rechtssache Giloy stellen die deutschen Rechtsvorschriften einen engen Zusammenhang zwischen den Einfuhrabgaben und der Einfuhrumsatzsteuer her. Sogar hier können jedoch, wie das vor kurzem ergangene Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache Pezzullo(24) zeigt, unterschiedliche Überlegungen gelten. In dieser Rechtssache hat der Gerichtshof entschieden, daß die maßgebliche Gemeinschaftsrichtlinie(25) es einem Mitgliedstaat für den Fall der Überführung von zuvor zum aktiven Veredelungsverkehr abgefertigten Waren in den freien Verkehr in der Gemeinschaft erlaubt, auf die zu entrichtende Agrarabschöpfung für den Zeitraum zwischen der vorübergehenden und der endgültigen Einfuhr Verzugszinsen zu erheben. Dagegen konnten nach der sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie Verzugszinsen erst von dem Zeitpunkt an berechnet werden, zu dem die Gegenstände nicht mehr der betreffenden Regelung unterlagen und zur Überführung in den freien Verkehr angemeldet wurden. In meinen Schlussanträgen wies ich darauf hin, daß der Unterschied möglicherweise auf der Vorsteuerabzugsregelung beruhen könnte, die zwar für die Mehrwertsteuer, nicht aber für die Einfuhrabgaben gilt. Das Urteil macht auch deutlich, daß sich der unterschiedliche Rahmen möglicherweise erst nach einer Auslegung der fraglichen Bestimmung durch den Gerichtshof zeigt.

60 Daß ein nationales Gericht nach Einholung einer Entscheidung des Gerichtshofes beschließen könnte, diese nicht zu beachten, war ein Faktor, der den Gerichtshof in seinem Urteil Kleinwort Benson beeinflusste. Der Gerichtshof wies in diesem Urteil darauf hin, daß der Gesetzgeber des Vereinigten Königreichs die Vorschriften des Brüsseler Übereinkommens nicht als solche für innerstaatliche Sachverhalte für anwendbar erklärt hatte, so daß die Gerichte des Vereinigten Königreichs frei entscheiden konnten, ob die vom Gerichtshof gegebene Auslegung auch bei der Anwendung der innerstaatlichen Vorschriften galt. Der Gerichtshof wies in diesem Zusammenhang auf die folgende Stelle des Gutachtens 1/91 hin:

"Dagegen kann nicht hingenommen werden, daß die Antworten, die der Gerichtshof den Gerichten der EFTA-Staaten gibt, eine blosse Auskunftswirkung und keine Bindungswirkung haben. Eine solche Situation würde die Aufgabe des Gerichtshofes, die im EWG-Vertrag als die eines Gerichts ausgestaltet ist, dessen Entscheidungen verbindlich sind, verfälschen. Selbst in dem ganz besonderen Fall des Artikels 228 kommt dem Gutachten des Gerichtshofes die in diesem Artikel präzisierte verbindliche Wirkung zu."

61 Auch wenn die Analogie zum EWR-Abkommen nicht vollständig ist, lässt sich nicht leugnen, daß der Grundsatz, daß die Urteile des Gerichtshofes für die nationalen Gerichte verbindlich sind, für die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts von grundlegender Bedeutung ist. Dieser Grundsatz würde in ernsthafter Weise untergraben, wenn der Gerichtshof es hinnähme, daß ein nationales Gericht praktisch frei ist, seine Entscheidungen in bestimmten Kategorien von Fällen wegen des verschiedenen Rahmens nicht zu beachten.

62 Weitere schwerwiegende Argumente gegen eine Erstreckung des Verfahrens des Artikels 177 - das zu einer Verzögerung der Beilegung des Rechtsstreits und zu Kosten für die Parteien, die Kommission und die Mitgliedstaaten und den Gerichtshof führt - auf die potentiell grosse Zahl von Fällen, in denen Mitgliedstaaten Gemeinschaftsvorschriften übernehmen mögen, sind das Fehlen einer Garantie, daß die Entscheidung des Gerichtshofes für den Rechtsstreit erheblich ist, und die Tatsache, daß keine unmittelbare Gefahr für die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts besteht.

63 Schließlich könnte insoweit gefragt werden, welche Bedeutung eine Entscheidung hätte, wenn sich herausstellen sollte, daß die nationale Bestimmung die vom Gerichtshof für die entsprechende Gemeinschaftsbestimmung gegebene Auslegung nicht trägt. Die Rechtssache Leur-Blöm ist ein solcher Fall. Nehmen wir an, der Gerichtshof würde dem Vorbringen von Frau Leur-Blöm folgen und die Steuerrichtlinie derart auslegen, daß die Voraussetzungen der niederländischen Rechtsvorschriften für die Fusion von Anteilen zu restriktiv sind. Bei einem innergemeinschaftlichen Vorgang, der unter die Richtlinie fällt, wäre das nationale Gericht, die unmittelbare Wirkung der betreffenden Richtlinienbestimmungen vorausgesetzt, verpflichtet, das niederländische Recht unbeachtet zu lassen und die Gemeinschaftsbestimmungen anzuwenden. Eine solche Verpflichtung würde unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache nicht bestehen. Wir stuenden dann vor der sonderbaren Situation, daß eine Entscheidung des Gerichtshofes für das nationale Gericht nur dann Bedeutung hätte, wenn die nationale Bestimmung entsprechend den Auslegungsgrundsätzen des nationalen Rechts die vom Gerichtshof gegebene Auslegung trägt.

Weitere begriffliche und praktische Probleme bei der Anwendung von Artikel 177

64 Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Probleme im Zusammenhang mit einer Erstreckung des Verfahrens des Artikels 177 auf Rechtsstreitigkeiten ausserhalb des gemeinschaftlichen Rahmens. Erstens lässt sich für Gerichte, gegen deren Entscheidung kein Rechtsmittel gegeben ist, in solchen Fällen eine Vorlagepflicht gemäß Artikel 177 Absatz 3 nur mit rechtlichen Verrenkungen begründen. Man müsste vertreten, Artikel 177 begründe eine solche Verpflichtung, obwohl die Notwendigkeit einer Auslegung von Gemeinschaftsrecht nicht auf Gemeinschaftsrecht, sondern auf nationalem Recht beruht. Ausserdem würde bei den obersten Gerichten wahrscheinlich beträchtliche Unsicherheit herrschen, inwieweit sie zur Vorlage verpflichtet sind.

65 Zweitens sieht Artikel 177 auch Entscheidungen über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaft vor. Es wäre unsinnig, wenn der Gerichtshof eine solche Entscheidung in einem Rechtsstreit fällen würde, der ausserhalb des Anwendungsbereichs einer solchen Handlung liegt. Überdies wäre eine solche Entscheidung für den Rechtsstreit in noch höherem Masse nur mittelbar erheblich, als dies bei einer Entscheidung über die Auslegung der Fall ist.

66 Was schließlich die praktische Seite anbelangt, so teile ich die Befürchtungen, die Generalanwalt Tesauro(26) in bezug auf die möglicherweise hohe Zahl der Fälle zum Ausdruck brachte, in denen ein nationales Gericht zwischen nationalen und Gemeinschaftsbestimmungen einen Zusammenhang feststellen und beschließen könnte, eine Vorabentscheidung einzuholen. Ihm zufolge kommt es immer häufiger vor, daß nationale Vorschriften oder Übereinkommen mit Nichtmitgliedstaaten auf Gemeinschaftsrecht beruhen oder daran angelehnt sind.

Das Urteil Kleinwort Benson

67 Im Urteil Kleinwort Benson suchte der Gerichtshof nach einer Zwischenlösung, indem er das Erfordernis einführte, daß die nationale Vorschrift eine unmittelbare und unbedingte Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht enthält, die dieses Recht in der internen Rechtsordnung anwendbar macht. Dieser Prüfstein mag einige Vorteile haben: er schützt den Gerichtshof vor Fällen, die nur eine dürftige Verbindung zum Gemeinschaftsrecht aufweisen und in denen die Ungleichheit der Rahmen am auffälligsten ist.

68 Der in der Rechtssache Kleinwort Benson gefundene Kompromiß bereitet jedoch ein gewisses Unbehagen. Er entbehrt erstens einer verläßlichen theoretischen Grundlage. Meines Erachtens wird durch die festgelegten Kriterien nicht zwischen begrifflich getrennten Kategorien unterschieden. Wo die Verfasser des EG-Vertrages oder der Gemeinschaftsgesetzgeber sich entschieden, das Gemeinschaftsrecht nicht auf ein bestimmtes Gebiet zu erstrecken, können die Mitgliedstaaten die Notwendigkeit, diese Erstreckung durch innerstaatliches Recht vorzunehmen, unterschiedlich beurteilen. Gibt für den einen Mitgliedstaat eine Gemeinschaftsvorschrift den Inhalt verwandter nationaler Vorschriften zwingend vor, so wird ein anderer darin vielleicht nur ein möglicherweise interessantes Vorbild erblicken, zu dem es praktischerweise bereits Rechtsprechung gibt.

69 Welche gesetzgeberische Entscheidung ein Mitgliedstaat auch trifft, die Gemeinschaftsrechtsordnung und die nationalen Rechtsordnungen bleiben getrennt. Da Artikel 177 dazu keine ausdrückliche Aussage enthält, sollte der Gerichtshof meines Erachtens nicht zulassen, daß seine Zuständigkeit durch nationale Rechtsvorschriften bestimmt wird. Andernfalls wäre seine Zuständigkeit je nach Mitgliedstaat sehr unterschiedlich.

70 Zweitens glaube ich nicht, daß die Entscheidung in der Rechtssache Kleinwort Benson das gesteckte Ziel erreicht, die Anwendung der Entscheidung des Gerichtshofes durch das nationale Gericht sicherzustellen. Selbst wenn nationale Rechtsvorschriften ausdrücklich auf das Gemeinschaftsrecht verweisen, so daß die Vorschriften des Gemeinschafts- und des nationalen Rechts denselben Wortlaut haben, könnte das nationale Gericht immer noch zu dem Ergebnis gelangen, daß die unterschiedlichen Rahmen der beiden Vorschriften eine unterschiedliche Auslegung erfordern. Wie bereits erwähnt, kann sogar bei zwei gleichlautenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts aufgrund ihrer unterschiedlichen Rahmen eine unterschiedliche Auslegung geboten sein.

71 Drittens bestehen, wie ich bereits dargelegt habe, trotz des engen Zusammenhangs zwischen den Vorschriften des Gemeinschafts- und des nationalen Rechts noch die Risiken und Schwierigkeiten, die mit einer Auslegung von Gemeinschaftsvorschriften ausserhalb ihres eigentlichen Rahmens verbunden sind.

72 Viertens ist das Erfordernis einer unmittelbaren und unbedingten Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht, wie die vorliegenden Rechtssachen zeigen, schwierig anzuwenden und willkürlich. In der Rechtssache Giloy scheint unstreitig zu sein, daß die deutschen Zollbehörden verpflichtet sind, Artikel 244 des Zollkodex bei der Erhebung von Einfuhrumsatzsteuern anzuwenden. Diese Verpflichtung ist jedoch nicht in den Rechtsvorschriften eindeutig festgeschrieben, sondern ergibt sich zum Teil aus Rechtsprechung und Literatur. Jedenfalls ist es nicht Sache des Gerichtshofes, die deutschen Rechtsvorschriften auszulegen - dies ist allein Sache des nationalen Gerichts. In der Rechtssache Leur-Blöm steht fest, daß die niederländischen Rechtsvorschriften keine unmittelbare und unbedingte Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht enthalten. Dies kann jedoch einfach an der Natur der Gemeinschaftshandlung liegen. Während es denkbar ist, daß eine nationale Vorschrift ausdrücklich auf eine Verordnung oder ein Abkommen der Gemeinschaft verweist, wird ein Mitgliedstaat, der Bestimmungen einer Richtlinie in einen aussergemeinschaftlichen Rahmen übertragen will, möglicherweise einfach den Anwendungsbereich seiner nationalen Durchführungsvorschrift erstrecken. Wie in der Rechtssache Leur-Blöm kann der Zusammenhang vom nationalen Gericht aus Wortlaut und Zweck der nationalen Bestimmungen, etwa unter Bezugnahme auf ihre Materialien, hergeleitet werden. Daß Artikel 14b Absatz 2 Buchstabe a des niederländischen Gesetzes von 1964, wie die Kommission bemerkt, die Steuerrichtlinie nicht wortgetreu wiedergibt, kann kaum überraschen - dies tut auch Artikel 14b Absatz 2 Buchstabe b nicht, der die Richtlinie durchführen soll.

73 Ganz generell halte ich eine Unterscheidung danach für willkürlich, in welcher Weise ein Mitgliedstaat eine Gemeinschaftsvorschrift in einen nationalen Rahmen überträgt. Beispielsweise könnte das Ergebnis, das durch die Erstreckung bestimmter Vergünstigungen, die in einer nur für innergemeinschaftliche Sachverhalte anwendbaren Richtlinie gewährt werden, auf innerstaatliche Sachverhalte erreicht worden ist, auch mittels einer Vorschrift erreicht werden, die die umgekehrte Diskriminierung verbietet. Welches Mittel auch eingesetzt wird, es bleibt bei der Tatsache, daß bei Rechtsstreitigkeiten der vorliegenden Art die anzuwendende Vorschrift letztlich eine nationale Rechtsvorschrift ist. Solche Rechtsstreitigkeiten betreffen nicht Rechte oder Pflichten, die auf Gemeinschaftsrecht beruhen.

74 Schließlich zieht, wie wir in den vorliegenden Rechtssachen gesehen haben, eine Zwischenlösung der Art, wie sie in der Rechtssache Kleinwort Benson gewählt wurde, die Gefahr einer erheblichen Unsicherheit nach sich. Dies wird unvermeidlich zu systematischen Fragen hinsichtlich der Zuständigkeit des Gerichtshofes führen, deren Klärung in vielen Fällen erst möglich sein wird, wenn das Verfahren vor dem Gerichtshof bis zum Ende durchgeführt worden ist. Bejaht der Gerichtshof seine Zuständigkeit, ist wegen der unterschiedlichen Rahmen ausserdem unsicher, ob das nationale Gericht die Entscheidung anzuwenden hat.

Die Grenzen der Zuständigkeit des Gerichtshofes nach Artikel 177

75 Ich komme daher zu dem Ergebnis, daß der Gerichtshof nur in Fällen entscheiden sollte, in denen ihm der tatsächliche und rechtliche Rahmen des Rechtsstreits bekannt ist und in denen dieser Rahmen innerhalb des Regelungszwecks der Gemeinschaftsvorschrift liegt. Meines Erachtens entspricht nur diese Auffassung rechtlichen Grundsätzen und dem Zweck des Artikels 177; sie stellt sicher, daß die Entscheidung des Gerichtshofes der Entscheidung des Rechtsstreits dient, und vermeidet die Gefahr, daß der Gerichtshof um Auslegung einer Gemeinschaftsvorschrift ausserhalb ihres eigentlichen Rahmens ersucht wird. Ausserdem liefert sie ein brauchbares und klares Kriterium, das den nationalen Gerichten das erforderliche Maß an Sicherheit hinsichtlich des Bereichs der Zuständigkeit des Gerichtshofes gibt.

76 Ich bin daher der Auffassung, daß der Gerichtshof in keiner der beiden vorliegenden Rechtssachen entscheiden sollte. In beiden hat der nationale Gesetzgeber eine Gemeinschaftsvorschrift herangezogen und in einen Rahmen ausserhalb ihres Regelungszwecks übertragen.

77 Was frühere Rechtssachen anbelangt, so teile ich die Auffassung von Generalanwalt Tesauro, daß der Gerichtshof in Fällen wie den Rechtssachen Thomasdünger, Dzodzi, Gmurzynska-Bscher sowie Tomatis und Fulchiron nicht mehr entscheiden sollte. Dagegen ist in den Rechtssachen Fournier und Federconsorzi richtig entschieden worden. Diese weisen den grundlegenden Unterschied auf, daß die fraglichen vertraglichen Abmachungen gemäß Gemeinschaftsvorschriften eingegangen worden waren. In beiden Rechtssachen lag daher der Sachverhalt eindeutig innerhalb des Regelungszwecks der Gemeinschaftsvorschriften, und es entsprach sowohl dem Zweck des Artikels 177 als auch dem Erfordernis, daß die Entscheidung in einem einschlägigen Rahmen ergehen muß, daß der Gerichtshof auf die Fragen des nationalen Gerichts antwortete.

78 Generalanwalt Tesauro hat in der Rechtssache Kleinwort Benson zu Recht festgestellt, daß die Auslegung der Verträge, um die es in den Rechtssachen Fournier und Federconsorzi ging, dem nationalen Recht zuzuordnen war. Dies gilt aber auch, wenn die Auslegung einer Gemeinschaftsvorschrift für die Auslegung einer nationalen Durchführungsvorschrift erheblich ist. Beiden Fällen ist jedoch gemeinsam, daß die Vorschrift bzw. die Vertragsbestimmung in einem gemeinschaftlichen Rahmen Anwendung findet.

79 Ich muß betonen, daß mein Vorschlag nicht etwa dahin geht, daß der Gerichtshof seine Zuständigkeit immer dann verneinen sollte, wenn die Erheblichkeit einer Frage auf einem möglichen Verstoß gegen nationales Recht beruht. Nehmen wir z. B. den Fall, daß ein Mitgliedstaat eine durch eine Richtlinie in sein Ermessen gestellte Befugnis ausgeuebt hat, strengere Anforderungen als die in der Richtlinie vorgesehenen aufzustellen, die nationale Durchführungsvorschrift aber die zuständigen Behörden nur zum Erlaß von Vorschriften ermächtigt, soweit diese aufgrund von Gemeinschaftsrecht unbedingt zur Durchführung der Richtlinie erforderlich sind (eine Situation ähnlich der Rechtssache RTI(27)). In einer solchen Situation wird sich das nationale Gericht vielleicht vergewissern wollen, welches die Mindesterfordernisse gemäß der Richtlinie sind, und dem Gerichtshof insoweit eine Frage vorlegen, um ein Vorbringen zu behandeln, daß der Mitgliedstaat seine nach nationalem Recht bestehenden Befugnisse überschritten habe. Unter derartigen Umständen sollte der Gerichtshof meines Erachtens seine Zuständigkeit bejahen, da das nationale Recht die Gemeinschaftsvorschriften nicht in einen anderen Rahmen übertragen hat; der Gerichtshof läuft also nicht Gefahr, eine Frage ausserhalb des einschlägigen Rahmens zu beantworten.

80 Es ist vielleicht sinnvoll, zwischen "vertikalen" und "horizontalen" Wirkungen von Gemeinschaftsvorschriften in einem nationalen Rechtssystem zu unterscheiden. In Fällen, in denen das nationale Recht Gemeinschaftsvorschriften in einen innerstaatlichen Rahmen übertragen hat, für den das Gemeinschaftsrecht selbst nicht gilt, hat man es mit einer Situation zu tun, die als "horizontal" bezeichnet werden könnte: Das Gemeinschaftsrecht ist nur von Bedeutung, weil es aufgrund einer Entscheidung des nationalen Rechts auf einen innerstaatlichen Sachverhalt erstreckt wurde, für den es nicht gedacht war. Eine solche Erstreckung kann ausdrücklich oder durch wortgetreue Wiedergabe der Gemeinschaftsvorschriften oder durch eine allgemeine nationale Rechtsvorschrift erfolgen, die die umgekehrte Diskriminierung oder den unlauteren Wettbewerb verbietet. Wenn dagegen Gemeinschaftsrecht nur in dem Umfang durchgeführt wird, wie dies durch die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften beabsichtigt ist, können die Wirkungen, die durch das nationale Recht aufgrund dieser Durchführung vorhersehbar nach unten durchschlagen, selbst wenn es entfernte Wirkungen sind, als innerhalb des Regelungszwecks der Gemeinschaftsvorschrift liegend angesehen werden. Diese Wirkungen können als "vertikale" Wirkungen bezeichnet werden. In meinen Augen wäre der Gerichtshof z. B. in einem Fall wie in der Rechtssache Federconsorzi selbst dann zuständig, wenn der Rechtsstreit in der Kette der Ereignisse eine Stufe tiefer angesiedelt wäre, d. h. wenn eine Gesellschaft unter ähnlichen Umständen, ohne einen Rechtsstreit zu führen, geleistet hätte, aber ihre Versicherer bei der Geltendmachung ihres Versicherungsvertrags der Höhe des bezahlten Betrages widersprochen hätten, und dies dann wegen der Auslegung der in der Rechtssache Federconsorzi erheblichen Gemeinschaftsvorschrift zu einer Vorlage an den Gerichtshof geführt hätte.

81 Mit den Worten "innerhalb des Regelungszwecks einer Gemeinschaftsvorschrift" will ich die Kategorie der Vorlagen, über die der Gerichtshof entscheiden kann, nicht auf die Sachverhalte beschränken, die der Gemeinschaftsgesetzgeber im Sinn hatte. Es darf angenommen werden, daß dieser z. B. nicht daran gedacht hatte, daß in der Rechtssache Federconsorzi infolge eines Diebstahls von Olivenöl ein Begriff aus einem Vertrag, der auf die Gemeinschaftsvorschrift verwies, der Auslegung bedurfte. Es geht mir nur darum, die Situationen zu erfassen, die sich auf natürliche Weise aus der Durchführung der Gemeinschaftsvorschrift ergeben und nicht aus ihrer Erstreckung auf eine Situation, für die ihre Anwendung niemals gedacht war.

Ergebnis

82 Ich bin daher der Auffassung, daß der Gerichtshof auf die Fragen des Gerechtshof Amsterdam in der Rechtssache C-28/95 (Leur-Blöm) und des Hessischen Finanzgerichts in der Rechtssache C-130/95 (Giloy) wie folgt antworten sollte:

Der Gerichtshof ist nach Artikel 177 EG-Vertrag nicht zuständig, auf die ihm vorgelegten Fragen zu antworten.

(1) - ABl. 1990, L 225, S. 1.

(2) - ABl. 1992, L 302, S. 1.

(3) - Erste Begründungserwägung.

(4) - Vierte Begründungserwägung.

(5) - Rechtssache 166/84 (Thomasdünger, Slg. 1985, 3001).

(6) - Verbundene Rechtssachen C-297/88 und C-197/89 (Slg. 1990, I-3763).

(7) - Rechtssache C-231/89 (Slg. 1990, I-4003).

(8) - Schlussanträge vom 3. Juli 1990 in der Rechtssache Dzodzi (angeführt in Fußnote 6, Slg. 1990, I-3763) und in der Rechtssache Gmurzynska-Bscher (angeführt in Fußnote 7, Slg. 1990, I-4003, 4009).

(9) - Randnrn. 36 und 37.

(10) - Randnrn. 40 bis 42.

(11) - Rechtssache C-384/89 (Slg. 1991, I-127).

(12) - Rechtssache C-73/89 (Fournier, Slg. 1992, I-5621).

(13) - Rechtssache C-88/91 (Slg. 1992, I-4035).

(14) - Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezueglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. L 103, S. 1).

(15) - Schlussanträge, Nr. 19.

(16) - Urteil, Randnr. 23.

(17) - Rechtssache C-346/93 (Kleinwort Benson, Slg. 1995, I-615).

(18) - bereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen.

(19) - Slg. 1991, I-6079.

(20) - Randnr. 37.

(21) - Verbundene Rechtssachen C-320/90 bis C-322/90 (Slg. 1993, I-393); vgl. auch Rechtssache C-157/92 (Banchero, Slg. 1993, I-1085), Rechtssache C-386/92 (Monin Automobiles, Slg. 1993, I-2049), Rechtssache C-378/93 (La Pyramide, Slg. 1994, I-3999) und Rechtssache C-458/93 (Saddik, Slg. 1995, I-511).

(22) - Vgl. zuletzt den Beschluß des Gerichtshofes vom 19. Juli 1996 in der Rechtssache C-191/96 (Mario Modesti).

(23) - Rechtssache C-312/91 (Slg. 1993, I-3751, Randnr. 11). Siehe auch Rechtssache 270/80 (Polydor, Slg. 1982, 329).

(24) - Urteil vom 8. Februar 1996 in der Rechtssache C-166/94 (Pezzullo Molini Pastifici Mangimifici).

(25) - Richtlinie 69/73/EWG des Rates vom 4. März 1969 zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über den aktiven Veredelungsverkehr (ABl. L 58, S. 1).

(26) - Vgl. Schlussanträge in der Rechtssache Kleinwort Benson, Nr. 26 (angeführt in Fußnote 17).

(27) - Vgl. meine Schlussanträge vom 11. Juli 1996 in den verbundenen Rechtssachen C-320/94, C-328/94, C-329/94, C-337/94, C-338/94 und C-339/94 (RTI u. a./Ministero delle Poste e Telecomunicazioni und Garante per al Radiodiffusione e l'Editoria).